Sport und Gesellschaft e.V.

Volltext Gesamtbeiträge Sportgeschichte

Heft-Sammlung von Sport und Gesellschaft

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 1/ 1995
INHALT:
Irene Salomon: 4
DER LANGE WEG DER VIKTORIA
Kurt Edel: 22
EIN OLYMPISCHES KAPITEL
Klaus Huhn: 59
ZU EINER EXPERTISE
Helmut Westphal: 67
DR. WILLIBALD GEBHARDT - EIN OPFER SEINES FRIEDENSENGAGEMENTS?
ZUR EINFÜHRUNG
Es ist ein gewisses Wagnis, in dieser Zeit ein Periodikum "Beiträge zur Sportgeschichte" zu starten. Information und Literatur auf dem Gebiet des Sports widmet sich fast nur mehr den Stars und ihrer Umwelt. Bei einem Tennisturnier rangiert die Preissumme vor dem Namen des Siegers.
Dennoch glauben wir, daß Beiträge zur Sportgeschichte von Belang sind, interessant für alle, die jüngste Geschichte selbst erlebten, und reizvoll für junge Menschen, die sich mit der Geschichte des Sports befassen.
Heftiger Streit ist entbrannt um die Darstellung des Sports der DDR, die bekanntlich ein beachtliches Kapitel zur Geschichte des Sports des 20.Jahrhunderts beitrug. 1991 formulierte Andreas Höfer (Köln) auf dem ISPHES-Kongreß in Las Palmas: "So wird auch die ohne Zweifel reizvolle Aufgabe, auf der Grundlage der neuen Quellenlage eine Neubewertung der politischen Bedeutung und Funktion des Sports in der DDR zu versuchen, die Historiker aus Ost und West des vereinten Deutschland, aber auch aus-ländische Kollegen, noch geraume Zeit zu beschäftigen haben." In den seitdem vergangenen vier Jahren erwies sich, daß "Historiker aus Ost" abgewickelt, degradiert und ihre Kenntnisse oft negiert wurden. Es begann die "Akten-Epoche".
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Unsere "Beiträge zur Sportgeschichte" wollen zu den Gewohnhei-ten der Historiker zurückkehren, Meinungen publizieren, Fakten vermitteln und möglicherweise konträren Standpunkten die Mög-lichkeit sachlichen Austauschs bieten. Dieses ungesponserte Vorhaben ist in der Marktwirtschaft mit beträchtlichen Risiken verbunden. Wir wagen es dennoch.
Im Mittelpunkt dieser Ausgabe steht der erste Teil einer neuen "Chronik des DDR-Sports", die gemeinsam von Prof. Dr. Won-neberger, Dr. Hans Simon und Dr. Lothar Skorning erarbeitet wird. Alles in allem wird also eine umfassende Chronik von den Anfängen bis zum Ende des DDR-Sports präsentiert.
Unsere Autoren
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte für Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972, Präsident des ICOSH (Internationales Komitee für Sportgeschichte),1971 bis 1983, Mitglied der DVS.
IRENE SALOMON, geboren 1940, 74fache Basketball-nationalspielerin der DDR, Lehrerstudium an der Humboldt-Universität Berlin, bis Ende 1991 Leiterin des Sportmuseums Berlin, Mitglied der DVS.
KURT EDEL (1920 - 1987), Leichtathlet, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR von 1951 bis 1955. Danach Generalsekretär der Gesellschaft zur Förderung des olympischen Gedankens in der DDR.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, publizierte unter dem Namen Klaus Ullrich. Mitglied der DVS.
HELMUT WESTPHAL, Dr. paed. geboren 1928, Prof. für Theorie und Sportgeschichte an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam 1958 - 1988.
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CHRONIK DES DDR-SPORTS
EINE WEITERE VORBEMERKUNG DES VERLAGES
Um den in den letzten Jahren zu spürenden Mangel an Sachinformationen und den auch reichlich anzutreffenden Verzerrungen zur DDR-Sportgeschichte entgegenzuwirken, hat der SPOTLESS-Verlag in Vorbereitung seiner neuen Reihe "Beiträge zur Sportgeschichte" mehrere Sporthistoriker, die in der DDR als Hochschullehrer tätig waren, dafür gewonnen, eine relativ ausführliche Chronik des Sports der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik in Form einer Zeittafel zusammenzustellen. Auf Quellen und Besonderheiten der einzelnen Abschnitte verweisen die jeweili-gen Autoren an Ort und Stelle. Die Gliederung folgt ohne Rück-sicht auf historische Periodisierungen den Kalenderjahren. Wir beginnen mit der Zeit von 1945 bis Ende 1949 und lassen in Heft 2 den Zeitabschnitt 1950 - 1960 folgen.
Auf die Wiedergabe des Textes wurde verzichtet, weil die in den „Beiträgen zur Sportgeschichte“ erschienenen Fortsetzungen später gesammelt in dem „Spotless“-Buch „Chronik des DDR-Sports“ erschienen.
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Der lange Weg der Victoria
Von IRENE SALOMON
Die Autorin war bis Dezember 1990 Leiterin des Sammlungs-zentrums für das Sportmuseum und des Sportmuseums Berlin bis zu ihrer Kündigung am 31. Dezember 1991.
Wer heute das Foyer des Hauses des Deutschen Fußballbundes in Frankfurt (Main) betritt, kann sie kaum übersehen: Die Victoria, einst Pokal des deutschen Fußballmeisters, heute nur mehr Ausstellungsstück von allerdings wohl höherem musealen Wert als alle anderen deutschen Sporttrophäen. Als ich noch Leiterin des Sammlungszentrums war, bat ich den damals noch studierenden Marcus Köhler um eine Expertise, die dann in einer Museums-zeitschrift den fast respektlosen Titel "Karriere einer Ladenbronze" erhielt. Darin hieß es: "Im antiken Rom wurde der Sieg durch die weibliche Figur der Viktoria personifiziert, die sich auf die geflügelte Siegesgöttin Nike im alten Hellas zurückführen läßt. Sie ist es, die nicht nur den ruhmreichen Herakles auf den Olymp begleitet, sondern auch den Siegerkranz für die Gewinner im freundschaftlichen Wettkampf oder kriegerischen Feld bereithält. Mit dem Aufleben antiker Gedanken taucht die Göttin Viktoria in der klassischen Kunst des 18. Jahrhunderts auf, wie etwa bei Schadow, der sie 1791, den Lenkern der Quadrigen im antiken Olympia ähnlich, als Lenkerin eines Viergespannes auf das Brandenburger Tor setzte. In den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Armee 1813/15 wird die Viktoria zu einem preußischen Siegessymbol stilisiert. Sichtbaren Ausdruck findet dieses in der Figur der Königin Luise als Viktoria an dem 1821 von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Kreuzbergdenkmal, die Preußenadler und Siegeskranz über Berlin hält. Auch die Herr-scherhäuser Europas nennen ihren weiblichen Nachwuchs in zu-nehmenden Maße Viktoria: Die Gemahlin des zweiten deutschen Kaisers, eine Tochter der Königiri Viktoria von England, heißt Viktoria, ihre Schwiegermutter Auguste Viktoria und ihre Enkelin Viktoria-Luise.
Eine nationale Bedeutung erhält die Figur der Viktoria, als König Ludwig I. von Bayern bei dem bekannten Berliner Bildhauer
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Christian Daniel Rauch sechs überlebensgroße Viktorien zu einem 'Tempel deutscher Ehren', der Walhalla (1831-43 von Leo von Klenze bei Regensburg errichtet), in Auftrag gibt. Die vierte der Viktorien soll, dem Auftrag zufolge, das aufmerksame Beobachten des Kampfes von höherer Warte darstellen. Die etwas unbeklei-dete erste Version einer sitzenden Viktoria gefiel der katholischen Majestät - Antike hin, Antike her - nicht sonderlich, so daß Rauch eine zweite Fassung mit bedeckter Brust zur Begutachtung nach München sandte. Die sitzende Viktoria, die bereits König Ludwig als 'schönste der bis jetzt gemachten Viktorienstatuen' bezeichnete, errang bald große Beliebtheit, so daß Rauch zahlreiche Kopien in verschiedensten Materialien herstellte."1)
Bloch, Einholz und von Simson befaßten sich in ihrem zweibändigen Ausstellungs-Katalog "Ethos und Pathos" ebenfalls mit der "Sitzenden Victoria": "Diese Victoria, die sogenannte Kranzwerfende,... gehörte zu den bewundertsten Schöpfungen Rauchs. Repliken, Kopien und Nachgüsse, von Originalgröße bis hin zum Tischformat, mit und ohne Flügel und in verschiedenen Materialien ausgeführt, fanden weite Verbreitung. In einer vom Rauch-Mitarbeiter Julius Franz 1846 ausgeführten Verkleinerung fand sie später eine höchst profane Bestimmung: Sie diente - einer alten Zeitungsnotiz zufolge - als 1903 vom deutschen Kronprinzen gestiftete Trophäe für deutsche Fußballmeisterschaften." 2)
Hier irrten die Autoren, denn nach gesicherten Erkenntnissen hatte der Kronprinz mit der Stiftung des Victoria-Pokals nichts zu tun. Zu erwähnen aber wäre noch: "Das von Julius Franz 1846 nach Rauch kopierte kleine Gipsmodell (im Depot der Nationalgalerie Berlin/Ost) wurde später Eigentum der Gebrüder Micheli, deren Firma davon weiterhin Abgüsse in Gips, Carrarit und Elfenbeinmasse vertrieb."3)
Marcus Köhler versuchte dem Weg nachzugehen, den die Rauch-Kopie zur Pariser Weltausstellung 1900 nahm: "Eine der führenden Firmen jener Branche war Hermann Gladenbeck & Sohn, ab 1888 Aktiengesellschaft in Berlin-Friedrichshagen. Neben zahlreichen Aufträgen in der staatlichen und später eigenen Gießerei vervielfältigten sie zahlreiche Figuren... In den 1890er Jahren kam vermutlich auch die sitzende Viktoria von Rauch ins Programm, die in einem Katalog von 1905 in den Größen von 38 und 57 cm
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angeboten wird. Die hehre Siegesgöttin schrumpft damit auf das handliche Format einer sogenannten Ladenbronze. Gladenbecks Erfolg waren Zinkplastiken, die als sogenannte Spritz- und Stürzgüsse in Massen und durch Reduktionsmaschinen in etlichen Größen hergestellt werden konnten. Durch galvanische Bronzierurg und anschließende Patinierung sahen diese Produkte echten Bronzen täuschend ähnlich. Der besondere Verkaufsschlager der Firma waren in diesen Jahren vor allem Bronzen mit vaterländisch-patriotischen Themen."4)
Ursel Berger hatte allerdings schon 1988 festgestellt, daß bei der Weltausstellung zwei Gladenbeck-Gießereien präsent waren: "Im vierten Jahr nach der Gründung der Aktiengesellschaft gab es zwischen Vorstand und dem Aufsichtsrat Unstimmigkeiten über die Bilanzen von 1891... Gegen den Widerspruch der Gladenbecks, aber auf einstimmigen Beschluß aller anderen Aktionäre, wurde eine Revisionskommission eingesetzt... Ihr Bericht zählt zahlreiche Mißstände auf... Eine außerordentliche Generalversammlung beschloß am 29.9.1892 den gesamten Vorstand zu entlassen. Zwar gingen die Mißstände mehr auf die Tätigkeit seiner Söhne zurück, aber auch Hermann Gladenbeck trug die Mitverantwortung - ihm, dem Gründer der Firma, dem hoch berühmten, hoch geehrten Bronzegießer wurde nun der Stuhl vor die Tür gesetzt. Alle fünf in der Firma tätigen Familienmitglieder verließen die Aktiengesellschaft. Sofort gründete man eine neue Gießerei. Damit verstieß Hermann Gladenbeck jedoch gegen das Wettbewerbsverbot, das ihm für zehn Jahre die Beteiligung an einem Konkurrenzunternehmen verbot... Um 1900 arbeiteten in Berlin zwanzig größere und viele kleinere Gießereien. Zwar gab es so viele Gußaufträge wie nie vorher oder nachher, dennoch war der Konkurrenzkampf hart, dies besonders zwischen den beiden großen Gladenbeck-Firmen in Friedrichshagen. Beide Unternehmen waren auf den Weltausstellungen von Paris 1900 und St. Louis 1904 in jeweils verschiedenen Räumen vertreten; in Paris wurden beide für ihre Produkte ausgezeichnet."5)
Marcus Köhler merkte noch an: "Die Olympischen Spiele waren anfangs nur Anhängsel an die Weltausstellungen. Es ist deshalb vorstellbar, daß die Firma Gladenbeck, die auf der Weltausstellung 'Reproduktionen in echtem Bronceguß und Imitation nach Modellen
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hervorragender deutscher Künstler' präsentierte - und dafür auch einen Grand Prix erhielt - die vielfältige Verwendungsfähigkeit ihrer Figuren durch Anregung zu einem Wanderpreis unter Beweis stellte. Da die Größe der Figur von 75 cm nicht den Katalognormen entspricht, ist die Viktoria wahrscheinlich speziell für die Weltausstellung hergestellt worden."6)
VOM RUGBY- ZUM FUSSBALLPOKAL
Bis heute aber weiß niemand, aus welcher Gladenbeckschen Gießerei die Viktoria stammte, die bald darauf mehr durch einen Zufall zum deutschen Meisterpokal avancieren sollte. Dieser Zufall bestand darin, daß bei sich bei der Abrechnung für die Reisen der Olympiateilnehmer zu den II. Spielen 1900 in Paris ein Überschuß ergab. (Solche Zufälle waren damals wirklich selten, denn meist suchte man verzweifelt nach Freunden, die die obligatorischen Löcher in den Kassen füllten.) Willibald Gebhardt - einziges deutsches IOC-Mitglied seit den Spielen 1896 in Athen - schlug vor, die Summe zu nutzen, um Pokale für Verbände zu erwerben, die sich um die Teilnahme an den Spielen verdient gemacht hatten.
Karl Lennartz, der wohl beste Kenner der Geschichte deutscher Beteiligungen an Olympischen Spielen schrieb dazu: "Im Herbst fanden einige Sitzungen statt und am 11.2.1901 die letzte Hauptversammlung. Ihr trugen Gebhardt den Tätigkeits- und von Hünefeld den Kassenbericht vor. Gebhardts Vorlage wurde angenommen und ihr Druck beschlossen... Die Kasse enthielt einen Überschuß von ca.1650 Mark. Man beschloß, 1000 Mark an die Reichskasse zurückzuzahlen und für die restlichen 650 Mark vier Wanderpreise mit dem Namen 'Weltausstellungspreise' zu kaufen. Die vier Preise gingen an die deutsche Abteilung des Deutsch-Österreichischen Fechterbundes, die Deutsche Sportbehörde für Athletik, den Deutschen Schwimmverband und den Deutschen Fußballbund"7).
In einer Fußnote ergänzte Lennartz: "Für den DFB - also für das Rugbyspiel in Paris - gestaltete Professor RAUCH eine Siegesgöttin, die 'Viktoria". (Ein Irrtum, denn die Gladenbecksche Figur stammte bekanntlich von Julius Franz. Anm. I.S.) "'Der Preis bleibt im dauernden Besitz des deutschen Fußballbundes und wird
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alljährlich abwechselnd von den Rugby-Fußballvereinen bzw. den Association-Fußball-Vereinen Deutschlands' errungen. Die erste Ausschreibung sollte von den Rugbyvereinen erfolgen (Fußball-Jahrbuch 1/2, 1904/05, S. 39-40, vgl. auch Koppehel, Geschichte des deutschen Fußballsports S. 95). Die Rugbyvereine hatten sich schon 1898 zusammengeschlossen. Sie organisierten sich aber erst auf dem 6. Rugbytag am 4.11.1900 in Kassel zum Deutschen Rugby-Verband, der aber geschlossen dem DFB angehörte. Auf dem 7. Rugbytag am 4.11.1901 trennte man sich vom DFB und nannte sich später Deutscher Rugby-Fußball-Verband. Der DFB strich auf seinem 5. Bundestag am 17.l0. und 18.l0.1902 alle Bestimmungen über das Rugbyspiel aus seiner Satzung und benutzte später den Wanderpreis als Siegespreis für seine deutsche Meisterschaft, die seit 1903 ausgespielt wurde. Seit Ende des 2. Weltkrieges ist die 'Viktoria' verschollen. Auch die beiden anderen Verbände erhielten eine solche Viktoria (Schwimmsport 9, 4.4.1901, H.8. S. 71)" 8)
Damit wäre die Frage beantwortet, wie es dazu kam, daß die Vikto-ria ursprünglich für den Rugbymeister gestiftet worden war, dann aber von den Fußballern übernommen wurde. Wichtig wäre noch der Hinweis darauf, daß nur eine deutsche Rugbymannschaft, aber keine Fußballmannschaft an den Spielen 1900 in Paris teilgenommen hatte. Von diesen Olympiateilnehmern haben sich nur der Name des Vereins - Rugby-Fußballverein Frankfurt/Main -, die Namen der Spieler und ihr einziges Resultat überliefert: Sie sicherten sich mit einem 17:27 (andere Quellen geben 16:25 an) gegen Frankreich die Silbermedaille. Aus heutiger Sicht aber wichtiger: Ihre Teilnahme und die Idee Gebhardts bescherte dem deutschen Fußball eine attraktive Meisterschaftstrophäe. Sie ging 1903 an den VfB Leipzig, der den DFC Prag mit 7:2 bezwungen hatte.
Die Namen der Teilnehmer und Sieger wechselten, je nach der Größe der Gebiete, die deutsch waren oder sein sollten: etwa Prag, Wien, Straßburg. Als Deutsche Meister erhielten den Wanderpokal: VfB Leipzig (1903, 1906, 1913), Union 92 Berlin (1905), Freiburger FV (1907), Viktoria 89 Berlin (1908, 1911), Phönix Karlsruhe (1909), Karlsruher FV (1910), Holstein Kiel (1912), SpVgg Fürth (1914,1926, 1929), 1. FC Nürnberg (1920, 1921, 1924, 1925, 1927, 1936), Hamburger SV (1922, 1923, 1928),
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Hertha BSC Berlin (1930, 1931), FC Bayem München (1932), Fortuna Düsseldorf (1933), FC Schalke 04 (1934, 1935, 1937, 1939, 1940, 1942), Hannover 96 (1938), Rapid Wien (1941), Dresdner SC (1943, 1944).
Das letzte Spiel um die 'Viktoria' (18 von den 22 Spielern waren Soldaten) wurde am 18. Juni 1944 zwischen dem Dresdner SC und LSV Hamburg im Berliner Olympiastadion ausgetragen und endete 4:0 für die Dresdner. Helmut Schön, der in der Siegermann-schaft spielte, schrieb in seinen Memoiren: "1944 stand der Dresdner Sport-Club wieder im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Inzwischen war das längst ein irrwitziger Wett-bewerb: Während das Land in Trümmer fiel, Millionen hungerten und starben, sollte noch ein 'Deutscher Fußball-Meister' ermittelt werden.
Aber 'die Führung' wollte gegenüber der Zivilbevölkerung Stärke demonstrieren: Uns kann nichts erschüttern, wir spielen sogar weiter Fußball... Endspiel-Gegner war der 'Luftwaffen-Sport-Verein Hamburg' das stand fest. Aber wo und wann dieses Endspiel stattfinden sollte - das wußte offiziell niemand. Jetzt hatte man tatsächlich Angst, die Alliierten können das vollbesetzte Olympiastadion bombardieren, am hellichten Tage.
Es kommt mir heute noch wie ein Wunder vor, daß dann am 18. Juni 1944 doch 70.000 Menschen im Stadion saßen, schrieen, stöhnten, für eineinhalb Stunden den Krieg vergaßen. Es waren viele Soldaten dabei, Urlauber mit grauen Skimützen auf dem Kopf, mit blassen Gesichtern - die Erschöpfung hinterließ überall Spuren.
Die durch das Radio ins Stadion gelockten Zuschauer sahen noch einmal ein mitreißendes Spiel. Wir gewannen 4: 0, was bedeutete das alles noch in jenen Tagen?" 9)
Es bedeutete zumindest, daß die Dresdner die Viktoria mit nach Dresden nahmen. Wo sie sie verbargen, ist nie ganz geklärt worden. Am glaubwürdigsten ist die Version, daß man sie bei einem Gärtner namens August Stark unterstellte, der als fanatischer DSC-Fan galt.
Der "Beitritt" 1990 rückte die fast schon vergessene Weltausstellungsfigur - Lennartz hatte bekanntlich vermutet, sie sei "verschollen" - wieder ins Rampenlicht.
Die erste Frage, die aufgeworfen wurde, lautete: Sollte man sie künftig wieder dem deutschen Meister überreichen oder sie in
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einem Museum plazieren? Über Einzelheiten dieses Streits, in die ich auf fast dramatische Weise verwickelt wurde, an anderer Stelle. Zunächst zu der Frage: Wo befand sie sich zwischen 1945 und 1990? Von 1945 bis 1949 mit Sicherheit in Dresden. Volker Kluge widmete sich zusammen mit Helmut Schön dem Schicksal des Pokals und gelangte zu folgenden Resultaten: "Am 13. Februar 1945 sank Dresden in Schutt und Asche. Damit verliert sich aber noch nicht die 'Viktoria'-Spur im Nebel, wie lange Zeit ange-nommen wurde. Der heute beinahe 75jährige Alt-Bundestrainer Helmut Schön bezeichnete sie zwar erst kürzlich in einem Interview als verloren, jetzt aber konnten wir ihm, der 1943 und 1944 die Göttin mitgewonnen hatte, ein besonderes 'Osterei' überreichen - wenn auch nur telefonisch. Die 'Viktoria' ist wieder da. Die Re-aktion: 'Die >Germania< - das kann nicht wahr sein.' Schön, der sich gegenwärtig seines schlechten Gesundheitszustandes wegen zur Kur befindet half uns, den Verbleib der 'Viktoria' für die ersten Nachkriegsjahre zu rekonstruieren. Danach wurde die metallische Dame - um sie vor Diebstahl oder Vernichtung zu bewahren - be-reits bei Kriegsende einem fanatischen DSC-Anhänger in Verwah-rung gegeben: dem Gärtner August Stark in Cossebaude. Dort be-fand sich die Skulptur bis 1948, jenem Jahr, in dem in allen Besatzungszonen wieder Fußballmeisterschaften stattfanden. In den Westzonen stand das Finale mit dem 1. FC Nürnberg und dem 1. FC Kaiserslautern bevor, als sich bei dem Gärtner ein Unbekannter vorstellte und sich unter dem Vorwand, für den zukünftigen deutschen Fußballmeister die 'Viktoria', abholen zu wollen, die Figur aushändigen ließ. Dieser Coup gelang, gleichzeitig aber bekam der bekannte Dresdner Fußball-Funktionär Gerhard Schulz Wind von der Sache und veranlaßte die Verfolgung. Es heißt, König Richard Hofmann sei dieses wache Auge zu danken." 10)
DER IRRTUM MIT DER JAHRESZAHL
Die Recherchen von Kluge und Schön zur Viktoria waren entweder mangelhaft oder sollten bewußt einige Fakten kaschieren.
Zunächst: Die Affäre in Dresden spielte sich 1949 und nicht 1948 ab und im Westzonenendspiel standen nicht Kaiserslautern und Nürnberg, sondern der VfR Mannheim und Borussia Dortmund.
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Glaubt man Schöns Memoiren, dann war der 1990 angeblich so Ahnungslose 1949 aktiv an dem Coup beteiligt gewesen. Wörtlich schrieb er nämlich: "Damals versuchte man, die 'Viktoria'-Statue, seit 1903 Wanderpreis für den jeweiligen Deutschen Meister, von Dresden in den Westen zu bringen, damit sie dort wieder den neuen Meistern überreicht werden konnte. Unsere Aktion ging schief." 11)
"Unsere?" Anders als ein Geständnis, an dieser Aktion aktiv beteiligt gewesen zu sein, läßt sich diese Formulierung nicht deuten. Schöns Beteiligung wird auch durch die Aussage eines beteiligten Zeitzeugen gestützt. Der Sportjournalist Klaus Huhn amtierte damals als Pressechef im Deutschen Sportauschuß und war in der Nacht zum Freitag vor dem Spiel von Schön in der Sportschule Grünau angerufen worden. "Schön hatte zuvor versucht, andere Funktionäre des DS zu erreichen und dabei erfahren, daß die bereits auf der Reise zum Endspiel waren. Es hatte nämlich zuvor bereits Verhandlungen über ein gesamtdeutsches Endspiel gegeben, die allerdings gescheitert wa-ren. Immerhin hatte man eine Delegation des DS zum Endspiel eingeladen. Schön sagte mir am Telefon, die Viktoria sei gestohlen worden. Ein Unbekannter hätte behauptet, er wollte sie nur foto-grafieren und dem Mann, bei dem sie aufbewahrt wurde, eine Stange Zigaretten für diesen Gefallen geboten. Als der angebliche Fotograf nicht wieder auftauchte, hatte der DSC-Fan Verdacht geschöpft und nach dem Fotografen Ausschau gehalten. Doch weder von ihm noch von der Viktoria war etwas zu sehen. Daraufhin habe er Schön angerufen. Ich erinnere mich, daß außer mir von der Leitung des DS nur noch die für Finanzen zuständige Anneliese Emminger erreichbar war, die ebenfalls in Grünau wohn-te. Ich beriet mich mit ihr, informierte die Polizei, die uns allerdings keine Hoffnungen machte und begab mich dann nach Dresden. Dort traf ich Helmut Schön, den ich von den Sitzungen des Deut-schen Sportausschusses her kannte, denn Schön war ordentliches Mitglied des damals höchsten Sportgremiums der Sowjetischen Besatzungszone. Ich fragte ihn, ob es denn überhaupt noch einen Sinn habe, nach der Viktoria zu suchen und wenn er meine, es habe einen Sinn, wo die Suche beginnen wolle. Er schien mir sehr aufgeregt und machte plötzlich den Vorschlag die Gepäckaufbewahrungen beider Dresdner Bahnhöfe zu
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inspizieren." 12) Kluge stellte das so dar: "Wie auch immer: Noch auf dem Dresdner Hauptbahnhof wurde dem Dieb das Paket wieder abgenommen." 13) Das muß schon angesichts der Größe der Viktoria als unglaubwürdige Version abgetan werden. Niemand wäre imstande gewesen, die Figur in ein "Paket" zu packen und damit zum Hauptbahnhof zu fahren. Weiter aus dem Protokoll Klaus Huhns: "Der Vorschlag, ausgerechnet die Gepäckaufbewahrungen zu kontrollieren, überraschte mich. Wieso sollte jemand, der den Pokal gestohlen hatte, ihn ausgerechnet bei der Gepäckaufbewahrung deponieren? Dennoch begaben wir uns dorthin. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war es in der Aufbewahrung des Bahnhofs Dresden-Neustadt, wo wir sehr bald die in Sackleinewand eingenähte Viktoria fanden. Die Polizei, die uns bei der Suche begleitete, wartete auf die Person, die die Viktoria abholen wollte und nahm sie fest. Es handelte sich um einen Fan von Borussia Dortmund, der überzeugt war, daß seine Mannschaft gewinnen würde. Vermutlich wollte er als Held im Stadion auftauchen und die Viktoria übergeben. Aus meiner Sicht war es wirklich die Aktion eines Fanatikers, denn als ich später einmal über diese Affäre geschrieben hatte, schickte er mir einen Brief und beteuerte, daß keinerlei politische Motive hinter seinem Abenteuer gesteckt hätten. Damit dürfte also klar sein, daß Richard Hofmann mit der Affäre ebensowenig zu tun hatte, wie der von Kluge bezichtigte Gerhard Schulz." 14)
"Als sicher kann gelten, daß er (Schulz. Anm. I.S.) als Vertreter der neuen Sportbewegung diesen Pokal deswegen aus dem Verkehr ziehen wollte, weil gerade mit ihm die Traditionen des damals ver-pöhnten bürgerlichen Sports verbunden waren. Helmut Schön fungierte im DS zwar als erster Auswahltrainer, er galt aber als ein Mann von gestern. Verschärfend kam eine Affäre hinzu, die mit dem Finale der ersten DDR-Fußballmeisterschaft am 16. April 1950 in Dresden zusammenhing." 15)
IM "KOHLENKELLER"
Gemeint war der Skandal nach dem Zonenendspiel zwischen der SG Dresden Friedrichstadt - in deren Mannschaft Schön spielte - und der ZSG Horch Zwickau, doch kann das nur auf kaum
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belegbaren Umwegen mit dem Schicksal der Viktoria in Verbindung gebracht werden, denn zwischen dem Verschwinden des Pokals und dem Skandal im Dresdner Ostragehege lag fast ein ganzes Jahr und Kluge müßte sich schon die Frage stellen lassen, wo denn die Figur während dieses Jahres verblieben war. Als sicher darf gelten, daß sie auf schnellem Wege von Dresden nach Berlin transportiert wurde und fortan im Hause des Deutschen Sportausschusses in der Brüderstraße aufbewahrt wurde. Kluge: "Dort soll die 'Viktoria' in den Kohlenkeller gekommen sein."16) Die Behauptung von dem "Kohlenkeller" fand man schon früher in Berichten westlicher Medien. Zeitzeugen, die noch in dem Haus gearbeitet haben, bestätigten mir, daß in dem Keller alles Mögliche aufbewahrt wurde - auch Kohlen.
Noch ein Wort zu Helmut Schön. Er behauptete in seinen Erinnerungen: "Unsere Aktion ging schief. Ich bekam einen harten Rüffel aus Ostberlin. Der Sportausschuß-Vorsitzende und damalige FDJ-Chef, ein gewisser Erich Honecker, drohte mir mit Konsequenzen."17) Diese Darstellung ist auch höchst unglaubwürdig, weil ja Schön selbst die "Zentrale" alarmiert hatte. Und warum sollte sich Honecker - der auch nicht "Sportauschuß-Vorsitzender" war - damit befaßt haben, zumal ja die Figur gefunden wurde? Hinzu kommt, daß sich der Raub der Viktoria im Sommer 1949 zugetragen hatte und Schön bald darauf den Antrag stellte, an der Kölner Sporthochschule bei Sepp Herberger studieren zu dürfen. "Ewald fragte Honecker und der gab grünes Licht. Im Winter 1949/50 war ich in Köln, endlich wieder im vertrauten Kreis unter Herbergers Fittichen. Hier fühlte ich mich wohl, hier gehörte ich hin."18)
Die Schön-Version wird also immer unglaubwürdiger, denn der Rüffel und die Erlaubnis, in Köln studieren zu dürfen, sind schwer unter einen Hut zu bringen.
Weit wahrscheinlicher ist ein ganz anderer Grund, warum der Deut-sche Sportausschuß nicht bereit war, die Viktoria herauszurücken: Zu jener Zeit bemühte man sich noch intensiv - im Rahmen der Gesamtpolitik der DDR - um gesamtdeutsche Kontakte und betrachtete den Pokal als eine Art Faustpfand zu gesamtdeutschen Fußballmeisterschaften zu kommen. Immerhin hatte man mit der Viktoria eine gute Offerte und es war auch in gewisser Hinsicht
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logisch, daß man sich auf den Standpunkt stellte, die Viktoria sei für einen deutschen Meister ausgeschrieben worden und könne nun nicht an den westdeutschen Meister ausgehändigt werden.
Mit der Gründung des Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport 1952 wurde die Viktoria in dessen Archiv eingelagert. Leider unsachgemäß, so daß irgendwann der ohnehin brüchigen Zinkplastik ein Flügel abbrach. 1984 wurde durch den damals zu-ständigen Staatssekretär für Körperkultur und Sport die Restaurie-rung veranlaßt. Die Arbeit übernahm die Berliner Restauratorin Renate Lehmann und man sollte ihr im Nachhinein bestätigen, daß sie eine Meisterleistung vollbrachte. Allerdings verblieb die Figur danach - bei der Restaurierung hatte man auch einen Kasten zim-mern lassen, der sie vor weiteren Beschädigungen schützen sollte - ungeachtet des Kulturgutschutzgesetzes der DDR vom 3.Juli 1980 beim Staatssekretariat, obwohl sie in die Obhut eines Museums hätte übergeben werden müssen. Erst zu Beginn des Jahres 1990 - genau am 16. Februar 1990 wurde sie vom damaligen Staatssekretär Prof. Dr. Erbach, der in Personalunion Staatssekretär und Präsident des Fußballverbandes der DDR war, dem Sammlungszentrum Zentrales Sportmuseum der DDR und damit meiner Obhut übergeben. Dort wurde sie unter der Nummer 3/90 katalogisiert und durch ein kunsthistorisches Gutachten in ihrem Wert beurteilt. Die damals ermittelten Maße ergaben: Gesamthöhe 106,5 cm. Die Figur ist 75 cm hoch und ist auf einem achteckigen Sockel plaziert. Gesamtgewicht: 15 kg. Die Höhe des Sockels mißt 31,5 cm Höhe, der untere Durchmesser 32 cm, der obere 22 cm. Am Sockel sind silberne Plättchen mit den eingravierten Namen der deutschen Fußballmeister von 1903 bis 1943 befestigt. Ältere Abbildungen - zum Beispiel aus dem Jahre 1925 - zeigen einen viereckigen Sockel mit silberbeschlagenen Holzplatten für die Sieger, eine Inschrift und den Reichsadler im Zentrum der Vorderansicht unterhalb der Statue.
Das Motiv für die Sockelveränderung könnte gewesen sein, daß kein Platz mehr für die Schildchen weiterer Mannschaften war. Nicht auszuschließen ist auch, daß man nach der Umwandlung des DFB zu Beginn der Hitler-Ära in das "Fachamt Fußball" die alten Symbole beseitigen wollte. Deshalb ist auch eine Veränderung des Orginaltextes nicht auszuschließen, aber das
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könnten Historiker am jetzigen Standort der Viktoria ohne großen Aufwand ermitteln .
Das öffentliche Aufsehen begann mit Udo Latteks Vorschlag, die Viktoria wieder als Meisterpokal zu vergeben (25.7.1990). Am 17.10.1990 wandte sich der Generalsekretär des DFB, Dr. Wilfried Gerhardt an den Senat von Berlin und forderte die Rückgabe der Viktoria an den DFB. Staatssekretär Kirchner antwortete darauf: "Denkbar wäre allenfalls, daß die Trophäe als Bestandteil des Sportmuseums Berlin aus besonderen Anlässen vorübergehend in den aktiven Gebrauch zurückgeführt werden kann, vergleichbar li-turgischen Geräten aus Domschatzkammem..."
FÜR ZIRZENSISCHE DARBIETUNGEN UNGEEIGNET
Bereits in den ersten Oktobertagen des Jahres 1990 war ein Herr Fuchs vom DDR-Fußballverband im Sammlungszentrum erschienen und forderte von mir als Leiterin die Herausgabe der Viktoria. Die "Begründung": sie sollte anläßlich des Zusammenschlusses der beiden deutschen Fußballverbände - geplant war für diesen Anlaß bekanntlich ein Spiel beider Auswahlmannschaften in Leipzig, was jedoch nie stattfand - auf dem Dach eines Trabants ins Stadion gefahren werden. Es läßt sich heute nicht mehr mit letzter Sicherheit belegen, wer auf diese abenteuerliche Idee gekommen war, denn verständlicherweise hat bei allen Beteiligten die Erinnerung zu diesem Punkt stark nachgelassen. Schriftliche Unterlagen sind nicht vorhanden. Als Leiterin des Sammlungszentrums lehnte ich das absurde Projekt ab. Immerhin war die Viktoria inzwischen Museumsgut und für zirzensische Darbierungen denkbar ungeeignet.
Generalsekretär Gerhardt wandte sich am 17.11.1990 erneut an die Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten und wiederholte die Eigentumsansprüche des DFB. Er verlangte die sofortige Herausgabe.
24 Stunden später begann der vorläufig letzte Akt der an Turbulenzen reichen Geschichte der Viktoria. Der "Beitritt" der DDR war inzwischen vollzogen und das Westberliner Forum für Sportgeschichte - Geschäftsführer war dort ein gewisser Gerd Steins - und das Sportmuseum Berlin, dessen Leiterin ich noch war, arbeiteten in gewissen Bereichen zusammen. Am Sonntag,
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dem 18. November 1990 alarmierte mich Steins telefonisch, die Viktoria sei durch eine zu erwartende einstweilige Verfügung des DFB in Gefahr und müsse aus Sicherheitsgründen nach West-Berlin verbracht werden.
Am 19. November holten wir den Kasten mit der Figur aus dem Fundus des Sammlungszentrum in Niederlehme und transportierten sie mit dem Auto in ein Haus des Jugendaufbauwerkes in Spandau. Dort war Herr Steins als Lehrer tätig.
Nachdem ich mich eingehend mit der Rechtslage vertraut gemacht und Zweifel an der - so Steins - "drohenden Beschlagnahme" der Viktoria durch den DFB hatte, wandte ich mich in einem Brief direkt an den DFB-Präsidenten Hermann Neuberger und teilte ihm mit: "Da sich die Trophäe derzeit im Besitz der Sammlung des künftigen Berliner Sportmuseums befindet, müßte nach Ansicht der von mir konsultierten Anwälte ein formloses Übergabeprotokoll gefertigt werden und dann könnte die Figur dem DFB ausgehändigt werden."19) Hermann Neuberger bedankte sich am 13.12. 1990 für meine Bemühungen und lud mich sogar als Ehrengast zum DFB-Pokalendspiel 1991 ins Berliner Olympiastadion ein.20)
Bald darauf fand sich die Viktoria in den Schlagzeilen der Boule-vardblätter - und ich als ihre angebliche Diebin. Man wird verstehen, wenn ich mich persönlicher Kommentare dazu enthalte und die Ereignisse aus Agenturmeldungen zu rekonstruieren versuche.
DAS ENDE EINER PROVINZ-POSSE
Beginnen wir mit dem Ende. SID meldete am 28. Februar 1991:
"Berlin (sid) Die Siegesgöttin 'Viktoria' ist wieder da. Am Montag mittag wird der Berliner Amateur-Historiker Gerd Steins, Geschäfts-führer des Forums für Sportgeschichte e.V., der Polizei die 1,15 m große Trophäe aushändigen. Damit endet eine Provinz-Posse: Seit drei Wochen fahnden Museumswärter, Kultur-Beamte und Polizisten nach dem Kunstobjekt, das als Wanderpreis des Deutschen-Fußball-Bundes (DFB) von 1903 bis 1944 den Meistermannschaften überreicht wurde.
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Die 'Viktoria' war seit dem 19. November 1990 verschwunden. An diesem Tag wurde der Kunstschatz aus verkupfertem Zink auf Vor-schlag von Steins aus dem Sammlungszentrum des damaligen DDR-Sportmuseums Niederlehme/Kreis Königs Wusterhausen nach Berlin gebracht. Die Siegesgöttin wurde in eine Holzkiste gepackt und einige Zeit im Jugendaufbauwerk Berlin-Spandau versteckt.
Grund für die Bergung war das Tauziehen zwischen dem Land Berlin, dem DFB und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Alle drei machten Eigentumsansprüche geltend, auch das Deutsche Sportmuseum in Köln wollte sich die heißbegehrte Trophäe einverleiben.
Der DFB scheint die besten Karten zu haben, weil ihn eine Besitzurkunde von 1925 als Eigentümer ausweist. Dieses Testat sandte die ehemalige Sportmuseums-Leiterin Irene Salomon, die einige Tage als Kunsträuberin verdächtigt wurde, bereits vor drei Monaten an DFB-Präsident Hermann Neuberger.
'Wir wollen die Viktoria haben', erklärt DFB-Pressesprecher Wolf-gang Niersbach. 'Sie hat einen sehr hohen ideellen Wert, ist ein Kulturgut des deutschen Fußballs.' Die 'Viktoria' soll alljährlich neben der Meisterschale als Wanderpreis an den Bundesliga-Sieger verliehen werden.
Bereits am 9. Oktober 1990 hatte der damals noch bestehende DDR-Fußballverband im Auftrag des DFB um Herausgabe der Trophäe gebeten. Sie sollte vor Anpfiff des Länderspiels von Weltmeister Deutschland gegen die ostdeutsche Verbands-Auswahl am 21. November 1990 vom Dach eines Autos strahlend durchs Leipziger Zentralstadion gefahren werden. Frau Salomon lehnte dies ab.
Der DFB und der Berliner Senat starteten einen langwierigen Schriftwechsel, um sich über Eigentums-Vorbehalte zu streiten. Für die 50jährige Museumspädagogin Salomon, die von 1960 bis 1968 für die damalige DDR 76 Basketball-Länderspiele bestritt, begann der Ärger erst, als sie am 3. Januar von ihrem Amt als Museumsleiterin abberufen wurde. 'Ich erhielt sofort Hausverbot. Ein Übergabe-Protokoll, auf dessen Erstellung ich bestand, wollte niemand haben.'
Nachfolger Jürgen Lüttke stellte den Verlust der Trophäe erst fest, als am 31. Januar das Zweite Deutsche Fernsehen eine Lichtprobe
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für den Glücksengel machen wollte. Schriftliche Unterlagen, daß es die 'Viktoria' überhaupt gibt, fand er nicht.
Die Viktoria ist bereits zum drittenmal verschwunden, seitdem sie um die Jahrhundertwende gegossen wurde: 1945 hatte sie ein Gärtner, Fan des letzten Preisträgers Dresdner SC, versteckt und fiel dann auf einen Trickbetrüger herein: In höchster Eile konnte die Figur auf dem Dresdner Hauptbahnhof sichergestellt werden. Dann verschwand sie bis zur politischen Wende in der damaligen DDR als 'bürgerliches Relikt' in einem Kohlenkeller des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport."21)
72 Stunden vor dieser Nachricht hatten Lüttke für das Sportmuseum Berlin und Steins für das Forum für Sportgeschichte eine ungewöhnliche "Gemeinsame Presseerklärung" abgegeben: Es stimmten allenfalls die angegeben Adressen und das Datum! Hier der Wortlaut - und nun doch einige kommentierende Sätze von mir- :
"Viktoria war nie 'verschwunden'!
1. Aufgrund der zwischen dem Sammlungszentrum Zentrales Sportmuseum der DDR, dem heutigen Sport Museum Berlin und dem Forum für Sportgeschichte in Berlin geschlossenen Rahmen-Arbeitsvereinbarung vom 14. Mai 1990. Absatz 3.: Austausch von Leihgaben, ist im November 1990 dem Geschäftsführer des Forums für Sportgeschichte auf Ersuchen der damaligen Leiterin Frau I. Salomon der Fußballpokal Viktoria übergeben worden, um folgende Aufgaben für das Sportmuseum Berlin durchzuführen
a. Erstellung eines kunst- bzw. sporthistorischen Gutachtens über den Pokal,
b. Finanzierung und Beibringung eines Materialgutachtens zur Klä-rung der Transport- und Aufbewahrungsbedingungen,
c. im Jugendaufbauwerk Berlin auf Kosten des Sportmuseums eine spezielle Klimakiste anfertigen zu lassen,
d. die Viktoria an einem den Materialbedingungen entsprechenden Ort sicher aufzubewahren,
Frau Salomon wurde Anfang Januar 1991 von der Leitungsfunktion im Sportmuseum entbunden und hatte ihren Nachfolger, Herrn Dr. J. Lüttke, weder mündlich über diesen Tatbestand informiert noch die in ihrem Besitz befindlichen Geschäftsunterlagen übergeben.
Aufgrund dieses lnformationsdefizites kam es zu der bekannten "Anzeige wegen eines angeblichen Diebstahls", der dann weitere
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verschiedene "Sensationsmeldungen" in den Medien folgten, die durch widerspruchsvolle Auskünfte der ehemaligen Leiterin Frau Salomon erheblich aufgebauscht wurden.
Alle in diesem Zusammenhang geäußerten Spekulationen über den "Verlust" und jetzigen Standort der Viktoria entsprechen nicht den Tatsachen.
Der Geschäftsführer des Forums für Sportgeschichte, Herr G. Steins, hat aufgrund eines Artikels im Tagesspiegel vom 20. Februar 1991 sofort versucht, Herrn Dr. Lüttke zu erreichen, was aber erst am 21.2. gelang. Es ist in Kulturgutangelegenheiten selbstverständlich, daß zuerst die Betroffenen unmittelbar informiert werden und nicht der mittelbare Weg über die Medien gesucht wird.
2. Es besteht zwischen dem Sportmuseum Berlin und dem Forum für Sportgeschichte darüber Einvernehmen, daß der Fußballpokal bis zum Abschluß der unter a. und b. genannten Maßnahmen weder der Öffentlichkeit präsentiert werden kann noch der Aufbewahrungsort des streitbefangenen Objektes bekanntgegeben wird.
Die Viktoria wird neben zahlreichen anderen Schätzen des Sportmuseums zu gegebener Zeit anläßlich der öffentlichen Vorstellung des Buches:
Das Sportmuseum Berlin.
Schätze aus der Olympiastadt Berlin.
144 Seiten, 180 Abbildungen, davon 100 farbig. Ladenpreis: 24,80 DM.
Vorbestellpreis beim Sportmuseum bis zum 30. April: 19,80 DM.
in Berlin in einer Sonderausstellung präsentiert werden."22)
Dazu von meiner Seite:
1. Ich habe niemanden ersucht, weder die Viktoria zu übernehmen, noch ein Gutachten anzufertigen, noch für die Finanzierung der Aufbewahrungsbedingungen oder eine spezielle Klimakiste zu sorgen.
Wahr ist dagegen: Herr Steins hat mich dringend ersucht, ihm die Viktoria auszuhändigen und sie in meinem Beisein und mit dem Kommentar: "Dort ist sie sicher!" in Spandau entgegengenommen.
2. Das Informationsdefizit - so es überhaupt entstanden sein sollte - ergab sich daraus, daß mir Herr Lüttke Hausverbot erteilte. Wie sollte ich ihn über irgendetwas informieren, wenn ich das Haus, in dem er saß, nicht mehr betreten durfte. Im übrigen wußte Herr
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Lüttke natürlich sehr gut, daß die Viktoria in unserem Register stand.
3. Daß ich die in Umlauf gesetzte Behauptung, ich hätte die Viktoria "gestohlen" dementierte, wurde nach Klärung des Sachverhalts auch von der Polizei nicht nur akzeptiert, sondern als meine Pflicht betrachtet.
4. Nach dieser Erklärung waren Lüttke-Steins noch am 25. Februar nicht bereit, den Aufbewahrungsort zu offenbaren. Für Museums-"Direktoren" eine einmalige Haltung.
5. Offen blieb bis heute die nie beantwortete Frage, warum die Viktoria ausgerechnet zusammen mit einem Buch präsentiert werden sollte. Vielleicht sollte man hinzufügen, daß der Autor dieses Buches niemand anders als Herr Steins war. So ist der Verdacht nicht auszuräumen, daß die Viktoria in ihrer bewegten Geschichte in betagtem Alter auch noch einem ehrgeizigen Buchautoren als Werbehelfer dienen sollte.
EIN SENATOR INTERVENIERT
Daß es dazu nicht kam, war der Intervention des Berliner Kultursenators Ulrich Roloff-Momin zuzuschreiben, der noch am gleichen Tag, da Lüttke und Steins mitgeteilt hatten, daß der Aufbewahrungsort der Viktoria vorerst nicht gelüftet werde, in einer Presseerklärung forderte: "Die Versteckspiel-Posse... muß schleunigst ein Ende finden." 24 Stunden später wurde mitgeteilt, daß die Viktoria für einen Fototermin am 26. Februar zwischen 11 und 14 Uhr zur Verfügung steht.
Beim DFB-Pokalendspiel 1992 wurde die Viktoria dann vom Senat an den DFB übergeben und seitdem kann man sie im Foyer des DFB-Hauses bewundern. Man darf wohl einigermaßen sicher sein, daß die bewegtesten Jahre der so karg bekleideten Dame endgültig vorüber sind. In fünf Jahren kann man ihren hundertsten Geburtstag feiern!
ANMERKUNGEN
1) Museumsjournal, Berlin 1/1991 S. 33
2) "Ethos und Pathos", Katalog 1990, 2. Band S. 230
3) Ebenda, S. 231
4) Museumsjournal, Berlin 1/1991 S. 34
5) Ursel Berger im Katalog zur "Antigua '88" Berlin.
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6) Museumsjournal, Berlin 1/1991 S. 34
7) Lennartz, Geschichte des Reichsausschusses für Olympische
Spiele, Heft 2, Bonn 1983; S. 55
8) Ebenda
9) Schön, Fußball; Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1978, S. 122
10) Junge Welt 14./15. April 1990, S. 12
11) Schön, Fußball; Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1978, S. 140
12) Aussageprotokoll vom 1. Mai 1995 von Dr. Klaus Huhn im
Privatbesitz der Autorin
13) Junge Welt 14./15. April 1990, S. 12
14) Aussageprotokoll vom 1. Mai 1995 von Dr. Klaus Huhn im
Privatbesitz der Autorin
15) Junge Welt 14./15. April 1990, S. 12
16) Junge Welt 14./15. April 1990, S. 12
17) Schön, Fußball; Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1978, S. 140
18) Schön, Fußball; Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1978, S. 141
19) Brief im Privatbesitz der Autorin
20) Antwort Neubergers im Privatbesitz der Autorin
21) SID-Nachricht 404 vom 28. Februar 1991
22) Gemeinsame Presseerklärung des Sportmuseums Berlin und des
Forums für Sportgeschichte vom 25. Februar 1991.
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Ein olympisches Kapitel
Von KURT EDEL (1920 - 1987)
Kurt Edel war ein erfolgreicher Leichtathlet, übernahm nach Kriegsende Funktionen im kommunalen Sport, später in der neugegründeten demokratischen Sportbewegung und im DTSB. Er war von 1951 bis 1955 Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR und erlebte hautnah den Kampf um die internationale Anerkennung des DDR-Sports. Freunden hinterließ er seine 1982 geschriebenen Erinnerun-gen an diese Zeit. Da von Sporthistorikern - vornehmlich aus den alten Bundesländern - Zweifel an der Echtheit der Edel-Papiere geübt wurde, entschloß sich die Redaktion, die hier vorliegende Fassung von Kurt Edels Witwe als die einzig legitimierte Fassung bestätigen zu lassen.
In meiner Heimatstadt, in Weißenfels, gab es nach dem Abzug der USA-Truppen (August 1945) die ersten kleinen Ansätze für eine antifaschistische Volkssportbewegung. Unter Führung von antifaschistischen Sportlern entstand damals in Weißenfels ein kommunales Sportamt - Mitarbeiter war u. a. Gerhard Michael. Unter seiner Anleitung wurden die städtischen Sportanlagen wiederhergestellt. Am 19. April 1946 fand in Berlin gegen Weißenfels das Städtespiel im Handball (10:6) vor 30.000 Zuschauern statt.
Mit der Gründung von Spartenleitungen wurde der Spiel- und Sportbetrieb immer organisierter durchgeführt. Es muß festgestellt werden, daß dieser Sportbetrieb nur möglich wurde durch die Un-terstützung der sowjetischen Freunde (Sportoffiziere).
Bei Leichtathletik-Wettkämpfen erzielte ich 1945 über 100 m eine Zeit von 11,5 s und über 200 m 23.8 s.
Im September 1945 nahm ich am Hochschulinstitut für Leibesübung der Universität Halle ein Turnlehrerstudium auf. Die Situation war Anfang Januar 1946 dadurch gekennzeichnet, daß das Hochschulinstitut erst einmal für unbestimmte Zeit geschlossen wurde. Trotz vieler Schwierigkeiten gelang es mir Anfang April 1946, eine Aufnahme am Institut für Leibesübungen in Hamburg mit Unterstützung der Leichtathletik-Abteilung des HSV zu
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erreichen. Im weiteren Verlauf meiner Turnlehrerausbildung in Hamburg war ich aktiv in der Leichtathletik für den Hamburger Sportverein tätig. Meine besten Leistungen in der Saison 1946 waren 22,8 s. über 200 m, 49,0 s. über 400 m und 1:58,4 min. über 800 m.
In der weiteren Folge meines Aufenthalts in Hamburg (meine Familie war in Weißenfels) kam es zu einer wichtigen persönlichen Entscheidung: aufgrund von persönlichen Motiven und der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage kehrte ich Anfang September 1946 wieder nach Weißenfels zurück. Hinzu kam, daß ich die politische Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen illusionslos einschätzte und mir darüber eigene Gedanken machte. Diese Konsequenz sollte die Grundlage für meine weitere persönliche Entwicklung werden.
In der Folgezeit erhielt ich eine Reihe von Einladungebriefen aus Westdeutschland (1860 München, Eintracht Frankfurt und Werder Bremen), die von mir abschlägig beantwortet wurden. Während meines Aufenthaltes in Hamburg und bei meinen Starts in den drei westlichen Besatzungszonen hatte ich eine ganze Reihe von Funk-tionären und Spitzensportlern kennengelernt, u.a. Dr. Max Danz (war zu dieser Zeit Kreisvorsitzender Leichtathletik in Kassel), Gerhard Stöck, August Kirsch (startete für Rot-Weiß Oberhausen). Prof. Dr. Reindell und den späteren hauptamtlichen Leiter des Sportreferats der BRD-Regierung, Hansheinrich Sievert, sowie zahlreiche Sportjournalisten.
In April 1947 trat ich in die Reihen der Deutschen Volkspolizei ein. Ich wurde verantwortlicher Mitarbeiter für die körperliche Ausbildung bei der Landespolizeibehörde Brandenburg mit Sitz in Potsdam. Vor der Gründung den Deutschen Sportausschusses existierten nur in einzelnen Dienststellen und Diensteinheiten der Volkspolizei, wie in Leipzig, Potsdam, Schwerin, Chemnitz (Karl-Marx-Stadt), Cottbus, Magdeburg und Merseburg Sportorganisationen. Nach dem Aufruf der Deutschen Verwaltung des Innern, in allen Dienststellen und Diensteinheiten der Volks-polizei Sportgemeinschaften zu gründen, wurden Ende 1949 über 200 Volkspolizeisportgemeinschaften registriert. Die zahlreichen Vergleichskämpfe, Polizeisportfeste und Meisterschaften ab 1947 halfen wirksam, das Vertrauensverhältnis zwischen der Volkspolizei und den demokratischen Kräften zu stärken. In Vor-
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bereitung auf ein großes Sportfest der Roten Armee erhielt ich von der SMAD Land Brandenburg den Auftrag (Mai 1949), die Vorbereitung der sowjetischen Sportler in der Leichtathletik in Potsdam zu übernehmen. Aufgrund meiner eigenen Vorbereitung auf die II. Weltfestspiele in Budapest (14. - 28. August 1949) übernahm mein damaliger Mitstreiter Willi Lehmann das Vorbereitungstraining der sowjetischen Sportler.
Anläßlich des III.Parlaments der FDJ in Leipzig (1. - 6. Juni 1949) fand ein großes Sportfest der Jugend statt. Hier gewann unsere Vertretung der VP-SG Potsdam die 10 x 200-m-Staffel der Landes-sportausschüsse für das Land Brandenburg.
Nach meiner Heimkehr von Leipzig wurde ich am 8. Juni 1949 zum Chefinspektor Richard Staimer (Chef der Landespolizeibehörde Land Brandenburg) bestellt. Hier wurde mir mitgeteilt, daß eine gezielte Meldung in der Westberliner Zeitung "Kurier" vom 3. Juni 1949, Nr. 128, enthalten war. Es hieß darin: "Oberst Edel hat es satt - Brandenburg (Eigener Bericht). Der Organisationsleiter des Sportausschusses der Ostzonenpolizei, Oberst Edel, hat seinen Posten aufgegeben und ist in die Westzonen geflüchtet. Zu Sportlern äußerte er vor seine Abreise, er habe es satt, sich ständig vom SMAD kommandieren zu lassen."...
Es ist nur sehr wenigen bekannt geworden, daß die Aktivitäten der CIA und ihrer damaligen deutschen Handlanger gerade von Westberlin aus Anfang der 50er Jahre dazu beitragen sollten, den im Aufbau befindlichen "Deutschen Sportausschuß" zu "unterwandern"...
Der Höhepunkt meiner dreijährigen Tätigkeit bei der Deutschen Volkspolizei war, als auf dem damaligen Potsdamer Lustgarten das neuerbaute "Ernst-Thälmann-Stadion" am 4. Juli 1949 eingeweiht wurde.
Besonders erfreulich war für mich, daß die Leichtathleten der VP-SG Potsdam bei den 2. Zonenmeisterschaften in der Leichtathletik in Jena erneut ihre Leistungsstärke demonstrieren konnten. Am 28. November 1949 erfolgte auf Anforderung des Amtes für Jugendfragen und Leibesübungen meine Freigabe von seiten der Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei. Zum letzten Mal zog ich meine Rennschuhe bei den Wettkämpfen mit internationaler Beteiligung anläßlich des I. Deutschlandtreffens der Jugend an.
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Seit Anfang Mai 1950 war ich beim Deutschen Sportausschuß als Spartenleiter Leichtathletik tätig.
Auf Einladung des Allunions-Komitees für Körperkultur und Sport der UdSSR weilte ich 1950 von 31.10. bis 14. 12. mit der ersten Studiendelegation 46 Tage in der Sowjetunion zu einem Erfah-rungsaustausch. Reich an Erfahrungen und Erkenntnissen kehrte ich in die Republik zurück.
Der damalige stellv. Leiter das Allunions-Komitees, Genosse Konstantin Adrianow, und der Leiter der Abteilung Internationale Verbindung, Genosse P. Sobolew haben uns mehrfach während unseres Aufenthaltes in der UdSSR bei Gesprächen sehr eindringlich darauf hingewiesen, daß es für die Sportleitung der DDR an der Zeit ist, sich Gedanken über die Gründung eines Nationalen Olympischen Komitees (das westdeutsche NOK war bereits am 24. 9. 1949 gegründet worden) zu machen. Genosse Adrianows zielbewußte Empfehlung und Hinweise an die Sportleitung der DDR machten schnelles Handeln notwendig, weil der IOC-Kongreß vom 3. 5. bis 7. 5. 1951 in Wien stattfand. Bis zu diesem Zeitpunkt (Ende 1950) hatte sich die Sportleitung der DDR noch nicht mit diesem wichtigen Problem befaßt. Das westdeutsche NOK wurde bereits in Kopenhagen 1950 pro-visorisch vom IOC anerkannt - 1951 in Wien stand die vollgültige Anerkennung bevor.
In der Entschließung der 5.Tagung des ZK der SED vom 15. bis 17. 3. 1951 über "Die Aufgaben auf dem Gebiet der Körperkultur und des Sports" wurde u. a. gesagt: "Im Interesse eines gesamtdeutschen Sportverkehrs mit der gesamtdeutschen Vertretung im internationalen Maßstab mit dem Ziel, auf einer gemeinsamen Grundlage enge, freundschaftliche Beziehungen zu den Sportlern aller Völker herzustellen und zu vertiefen, ist die Bildung eines gesamtdeutschen Nationalen Olympischen Komitees (NOK) anzustreben.' 1)
Mit dieser Entschließung wurde der Deutsche Sportausschuß (DS) zu einer selbständigen Organisation erklärt. Gleichzeitig erhielten die Sportler den Auftrag, friedliche und freundschaftliche Beziehungen mit der Sowjetunion und den volksdemokratischen Ländern und allen friedlichen Völkern zu pflegen, um die Aufnahme der Sektionen in die internationalen Sportfachverbände (das ist die
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Grundlage für die Anerkennung eines NOK) in die Wege zu leiten. 2)
Die demokratische Entwicklung der Sportbewegung der DDR nach der Zerschlagung des Faschismus und der Beseitigung seiner Grundlagen machte den Weg frei für eine freundschaftliche Zusammenarbeit mit den Sportlern aller Länder.
Der Friedenswillen unserer Sportler und die Anerkennung der DDR durch die friedlichen Nationen schufen damals die Grundlage, daß die Sportler der DDR nach Jahren der Isolierung in den Kreis der olympischen Bewegung eintraten und die Teilnahme an den XV. Olympischen Spielen in Helsinki vorbereiten konnten. Diese Situation machte die Gründung des NOK der DDR notwendig, um damit die Grundlagen für die Bildung eines gesamtdeutschen NOK zu schaffen.
DIE VERSUCHE DER BRD-SPORTFÜHRUNG, DIE ANERKENNUNG DES NOK DER DDR ZU VERHINDERN
In Westdeutschland vollzog sich nach 1945 eine grundsätzlich an-dere Entwicklung des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Nach der Bildung der Bundesrepublik Deutschland verkündeten die westdeutschen Imperialisten ihr Programm der Revanche und Auf-rüstung. Die Zielstellung war die gewaltsame Eroberung der DDR und die Wiederherstellung der kapitalistischen Verhältnisse. Der Bonner Regierungschef Adenauer legte bereits am 20. 9. 1949 vor dem Bonner Bundestag die Grundlage seiner außenpolitischen Konzeption wie folgt dar: "Die Bundesrepublik Deutschland ist allein befugt, für das deutsche Volk zu sprechen." 3)
Die große Mehrheit der westdeutschen Sportführung unterstützte vom ersten Tage ihres Bestehens an die Politik der Bonner Regie-rung,
Im Gegensatz zur damaligen sowjetischen Besatzungszone, in der auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens alle nazistischen Organisationen verboten und zerschlagen wurden, blieben in den drei westlichen Besatzungszonen die Organe des NSRL in ihren untersten Zellen erhalten. Gleichzeitig wurde die Organisationsform des faschistischen Sports unter Duldung der westlichen Besatzungsmächte mit dem alten Namen, den alten Satzungen und zum großen Teil den alten Vorständen beibehalten.
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Die damit verfolgten Absichten, die mit dem Wiederaufbau der al-ten Vereine verbunden waren, traten erst an die Öffentlichkeit in den Jahren von 1947 - 1949, als die antifaschistisch-demkokratischen Kräfte beiseitegedrängt und der westdeutsche Sport nach den Vorstellungen der Bonner reaktionären Kräfte umorganisiert wurde. Der Sporthistoriker Prof. Dr. Arnd Krüger skizziert in seinem Buch "Sport und Politik" die neuen "alten" Vereine im damaligen Westdeutschland: "So änderte sich im Sport der Westzonen relativ wenig. Die Vereine wurden wieder aufgebaut, vom selben Personenkreis, ja nach einer kurzen Übergangezeit, die meist nicht länger als bis 1948 dauerte, sogar personell unter der alten 'Führung', mit der sie bis 1945 im NS-Reichsbund agiert hatten."4)
An gleicher Stelle berichtet A. Krüger über die "Männer der ersten Stunde in Westdeutschland. Hier schreibt er: "Hier setzten sich in den Westzonen die 'Männer der ersten Stunde' durch. Ihr Vorteil war es, eine positive Antwort für ihre örtliche Situation zu haben und dazu noch - was besonders wichtig war - im damaligen Rahmen finanzielle Unabhängigkeit, Initiative und später auch Ellenbogen. Zu diesen 'Männern der ersten Stunde' zählte auch Willi Daume. Zu Kriegsende befand er sich in Dortmund, war ehemals prominenter Aktiver des TV Einigkeit Dortmund. Er besaß ein kleineres Eisenwerk, war finanziell nicht wohlhabend, aber in der Zeit, in der der Tauschhandel blühte, unabhängig. Er konnte als politisch relativ unbelastet gelten, da er seit 1944 als Gau-Fachwart für Handball eine untergeordnete Stellung in NS-Reichsbund eingenommen hatte.
Als Handballer pflegte er einen, was den militärischen Wert betraf, harmlosen Sport, den niemand zu verbieten trachtete, wie Schießen, Fechten, Boxen, und der mit bescheidenen Mitteln, einem Ball, auskam. Außerdem hatte Daume schon bei früheren Gelegenheiten die Fähigkeit entwickelt, 'Marktlücken' geschickt zu nutzen,
Als für die Olympischen Spiele 1936 relativ kurzfristig eine Basket-Nationalmannschaft für die Olympiateilnahme benötigt wurde, stellte sich Handballer-Daume neben anderen zur Verfügung. Er verfügte zwar nicht über die wünschenswerte Körpergröße, aber über genügend finanzielle Unabhängigkeit." 5)
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Die Spaltung des deutschen Sports wurde damit schon vor der Gründung des westdeutschen Staates durch die herrschenden Kreise der Westzonen Deutschlands und der westlichen Besat-zungsmächte eingeleitet. Mit der Bildung des Bonner Staates in September 1949 waren im Widerspruch zu den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens die Vorbereitungen zum Wiederaufbau der bürgerlichen Sportverbände abgeschlossen.
Willi Ph. Knecht, der in den letzten zwei Jahrzehnten als "Spezialist für den DDR-Sport" auftritt, berichtet in seiner Dokumentation "Entwicklungen des Sports in Deutschlands über den Aufbau des BRD-Sports nach 1945." Hier heißt es: "Berücksichtigt man die ausgesprochene Vorliebe der Deutschen für Organisation, dann erscheint es bemerkenswert, wie lange der westdeutsche Sport gerade während der Periode seines Neubeginns nach der Auflösung aller Turn-und Sportvereine durch die Kontrollrats-Direktive Nr. 23 von 17. Dezember 1946 ohne festgefügten Apparat auskam. In den meisten Sportarten war der Meinterschaftsbetrieb längst im vollen Gange, als sich am 17. und 18. April 1948 in München die Vertreter aller Landessportbünde der britischen und amerikanischen Besatzungszone mit den Führungsgremien der schon bestehenden 15 Arbeitsgemein-schaften der Fachverbände trafen.
Die Sportoffiziere erlaubten die Gründung einer Arbeitsgemein-schaft für den deutschen Sport. Damit war der Grundstein für die künftige Selbstverwaltung des bundesdeutschen Sports gelegt." 6)
Durch Einsprüche der westlichen Alliierten und besondere Quere-len (Machtkämpfe zwischen den alten faschistischen Sportfunktionären - hier besonders Dr. Diem und der jüngeren Generation vertreten durch Dr. Danz und Willi Daume) verzögerte sich die Gründung des Deutschen Sportbundes (DSB) bis zum 10.Dezember 1950 in Hannover.
Knecht schildert in seiner Dokumentation "Entwicklung des Sports in Deutschland" die Gründung des DSB: "Hannover war am 10. Dezember 1950 Schauplatz der Gründung des Deutschen Sportbundes, zu dessen ersten Präsidenten die Delegierten Willi Daume wählten, Basketball-Olympionike von 1936 und am Tage des Festaktes von Hannover Präsident des Deutschen Handballbundes. Zwanzig Jahre später, bei seiner Abschiedsrede in Mainz, resümierte Willi Daume: 'Der Gründungsakt des DSB war
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fast eine Hochstapelei. Niemand wußte, was aus dem neuen Dachverband werden sollte. Und es wußte auch keiner, was aus ihm werden könnte. Die Delegierten, die damals zusammenkamen, waren die Führungskräfte der früher politisch neutralen Sportorganisationen - also der sogenannten bürgerlichen Sportverbände von früher, dann aber auch die Vertreter der von den Nationalsozialisten verbotenen und aufgelösten Deutschen Ju-gendkraft und des Deutschen Arbeiter-Turn-und Sportbundes."7)
Die führenden Kreise des westdeutschen Imperialismus, die zur damaligen Zeit wieder in den vollen Besitz der ökonomischen und staatlichen Macht gelangten, meldeten auch auf sportpolitischem Gebiet ihre alten Herrschaftsansprüche an.
So schrieb "Die Welt" vom 27. 9. 1949: "Die staatspolitische Ent-wicklung der Bundesrepublik verlangt vom Sport als ein integrierender Bestandteil unseres heutigen Kulturlebens notwendigerweise eine möglichst rasche Anpassung an die staatlichen Gegebenheiten." 8)
Es ist bezeichnend für die damalige Situation, daß der Reaktionär Dr. Carl Diem (Sportreferent der Bundesregierung und Schriftführer des westdeutschen NOK) die oben angeführte Grundkonzeption in die Tat umzusetzen versuchte.
Man hatte erkannt: Diem war genau der geeignete Mann, um durch seine Verbindungen die Wiedereinbeziehung der westdeutschen Sportorganisationen in den Kreis der internationalen Sportwelt auch gegen die Meinung der internationalen Sportöffentlichkeit durchzusetzen.
Trotz der Parteinahme des sich so gern "politisch neutral" geben-den IOC-Präsidenten Sigfrid Edström für C. Diem gab es zu dieser Zeit auch Kräfte, die zwar für die Wiederaufnahme des westdeut-schen Sports in die internationalen Sportorganisationen eintraten, aber gegen eine Wiedereinbeziehung ehemaliger faschistischer Sportführer in die Leitungen der westdeutschen Sportorganisationen waren.
Die auf der Gründungsversammlung dem NOK für Westdeutschland vorgelegten Satzungen (Statut) von 24. September 1949, die durch die 1. Hauptversammlung des NOK vom 6. November 1949 ergänzt wurden, sowie das Rundschreiben Nr. 1 vom 30. September 1949 enthalten keinerlei Angaben über
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die offizielle staatliche Bezeichnung (z. B. NOK der BRD) des Gebietes Westdeutschland. Hier heißt es u. a.:
"§ 1 Name und Aufgaben
Das am 24. September 1949 zu Bonn gegründete Nationale Olympische Komitee (NOK) hat die Teilnahme des deutschen Sports an Olympischen Spielen vorzubereiten und die übrigen Aufgaben zu übernehmen, die dem NOK vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) zur Verbreitung des Olympischen Gedankens gestellt wurden."9)
Aufgrund besonderer Schwierigkeiten begab sich Dr. C. Diem Ende des Jahres 1949 auf eine Informationsreise in die Schweiz, um an Ort und Stelle mit offiziellen Kreisen des IOC eine taktische Linie für das weitere Vorgehen das westdeutschen NOK im Hinblick auf den IOC-Kongreß (1950) in Kopenhagen festzulegen.
In seinem Bericht über diese Reise schreibt er u. a.:"Das schweizerische olympische Komitee gab mir ein Essen, zu dem der Vorstand, Präsident Henninger, Sekretär Dr. Weymann und Schatzmeister Dr. Hafner, aus Genf herübergekommen war. Aus der Unterhaltung mit den Herren und den Brüdern Mayer (Otto Mayer, Kanzler des IOC und Albert Mayer, IOC-Mitglied) ergab sich, daß man bei der bevorstehenden Abstimmung über die Anerkennung des deutschen olympischen Komitees auf der Sitzung zu Kopenhagen mit einer Mehrheit für die deutsche Aufnahme rechnen kann.
Mayer bezeichnete dies als logische Folge des Beschlusses von Rom, die internationalen Fachverbände zur Aufnahme Deutschlands aufzufordern. (Mir - Diem - war bisher nicht bekannt, daß die Vollversammlung diesen Beschluß des Vorstandes angenommen hatte). Als unversöhnlicher Gegner wird immer wieder Seldrayers, Brüssel, benannt. Scharoo (Amsterdam) erklärt sich zwar auch gegen eine deutsche Aufnahme, beteiligt sich aber nicht an der Agitation. Das jetzige Argument gegen die Aufnahme ist die Zweiteilung Deutschlands. Man könnte nur ein wirklich deutsches Komitee aufnehmen, und zur Zeit sei Ostdeutschland nicht von dem jetzigen Nationalen Olympischen Komitee erfaßt. Hier scheint sich der Einfluß russischer Politik zu zeigen, der von den Satellitenstaaten aufgenommen und von den westlichen Mächten, soweit sie Deutschland ablehnen, verwendet wird." 10)
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Abschließend heißt es in Diems Reisebericht: "Als Gesamteindruck nahm ich den festen Willen des Schweizer Sports mit nach Hause, sich für eine Wiedereingliederung des deutschen Sports einzusetzen und ferner, daß wir eine europäische Akademie für Körpererziehung benötigen, in der alle europäischen Erfahrungen von Wissenschaft und Praxis zusammenfließen. Noch immer genießt Deutschland in dieser Hinsicht das größte Ver-trauen. Die äußeren Umstände für eine solche Einrichtung wären zwar in der Schweiz gegeben, doch fehlt es ihnen an Mut und Selbstvertrauen. Vorläufig könnten wir diese Aufgabe lösen, wenn wir sie nur anpacken wollten. Ebenso bedarf der europäische Sport einer losen Zusammenfassung, für die Deutschland der natürliche Mittelpunkt wäre."11)
Mit dieser Einschätzung Dr. Diems bestätigt sich, daß die west-deutschen Imperialisten schon 1949 erneut ihren Führungsanspruch in Europa auf dem Gebiete des Sports anmeldeten.
In Auswertung der Schweizer Beratungen zog das Präsidium des westdeutschen NOK eine Reihe von Schlußfolgerungen für seine weitere Arbeit. Es wurden u. a. die Durchführung eines Olympischen Werbetages und die Gründung einer Olympischen Gesellschaft für die BRD vorgesehen. 12)
Auf der Gründungsversammlung des Sommersportausschusses des NOK für Westdeutschland am 14. Januar 1950 in Frank-furt/Main erstattete Dr. Diem einen Bericht zur internationalen Lage. Er sagte: "Die Nichteinbeziehung der Ostzone in das NOK ebenso wie in die deutschen Sport-Fachverbände kann einen formellen Grund für die Nichtaufnahme Deutschlands in die internationalen Fachorganisationen ergeben. Es ist daher auf Verbindungen mit der Ostzone hinzuarbeiten. Die Aufnahme Deutschlands in das IOC (es gibt nur eine Anerkennung, d. A.) ist für die Wiederzulassung Deutschlands zum internationalen Sportverkehr von größter Bedeutung. Die Entscheidung darüber, ob ein Antrag auf Wiederzulassung an die betreffenden internationalen Verbände zu stellen ist oder ob ihnen nur die vollzogene Gründung des nationalen Sportverbandes mitzuteilen ist, muß den deutschen Fachverbänden überlassen bleiben, da die Verhältnisse im einzelnen sehr verschieden sind.
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Auf alle Fälle sollte nur dann ein Antrag auf Zulassung gestellt werden, wenn Deutschland aus dem betreffenden internationalen Verband ausgeschlossen wurde und nicht, wenn die Mitgliedschaft nur ruht." 13)
Die auf dieser Tagung entwickelte taktische Linie, mit den damali-gen Sektionen der DDR in Verbindung zu treten, sollte bei den internationalen Sportverbänden den Eindruck erwecken, daß die westdeutschen Aufnahmeanträge gesamtdeutschen Charakter tragen. Als Beispiel dafür sei angeführt, daß der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) der BRD Anfang April 1950 an den Deutschen Sportausschuß der DDR mit der Bitte herantrat, eine Beratung durchzuführen, die zum Ziele haben sollte, einen gesamt-deutschen Arbeitsausschuß in der Leichtathletik zu gründen. Dieser Arbeitsausschuß, der sich paritätisch zusammensetzte, wurde dann auch tatsächlich gegründet.14)
Es muß hier festgestellt werden, daß der DLV (BRD) auf dieser Beratung die DDR-Vertreter nicht darüber informierte, daß sein Aufnahmeantrag bereits gestellt wurde und Ende 1960 vor dem IAAF-Kongreß in Brüssel behandelt wurde. Auf der Brüsseler IAAF-Tagung trat Dr. Danz auf und erklärte, daß der Aufnahmeantrag des DLV (BRD) die Interessen aller deutschen Leichtathleten voll berücksichtige. Daraufhin erhob der sowjetische Vertreter Adrianow Einspruch und erklärte, daß seines Wissens die Leichtathleten der DDR nicht zum Bereich des DLV (BRD) gehörten und demzufolge die IAAF zwei deutsche Verbände (Aufnahmeantrag der Sektion Leichtathletik war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gestellt) aufnehmen müsse.
Dr. Danz entgegnete, daß der in Berlin am 13. Mai 1950 gebildete gesamtdeutsche Arbeitsausschuß beiden Verbänden die Grundlage für ihre internationale Arbeit gibt. So beschloß die IAAF die Aufnahme des DLV (BRD). Entsprechend der am 14.1.1950 durch Dr. Diem gegebenen taktischen Linie hat der DLV (BRD) seine internationale Aufnahme unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die IAAF erschlichen.
Die führenden Kreise des westdeutschen Sports setzten Anfang des Jahres 1951 alles daran, mit Hilfe ihrer Freunde im IOC ihren Ausschließlichkeitsanspruch für ganz Deutschland durchzusetzen. Das ging sogar soweit, daß die bis dahin entwickelte taktische Linie
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- Verbindungen zu den Sektionen der DDR herzustellen - fallengelassen wurde. Hier zeigte sich besonders, daß die sogenannten Sonntagsreden über "Verständigungsbereitschaft" nie ernst gemeint waren...
Es ist sicher auch kein Zufall, daß von der westdeutschen Sportführung alles getan wurde, um zu verhindern, daß sich die echte Verständigungsbereitschaft des DDR-Sports, verbunden mit den Aktivitäten des damaligen Komitees für Einheit und Freiheit im deutschen Sport, weiterhin ausbreitete.
Angesichts dieser Tatsache ist ein Schreiben des 1. Vorsitzenden des DLV, Dr. Max Danz, von besonderem Interesse. Darin heißt es: "Der Oberweseler Beschluß war dringend notwendig; das verlangte schon die Selbstachtung des deutschen Sports (gemeint ist der BRD-Sport, d. A.). Die ostzonalen Sportfunktionäre irren sich, wenn sie nun glauben, daß die Aktiven nicht hinter diesem Beschluß ständen und der Sportverkehr trotzdem weiterginge. Es wird keinem Zweifel unterliegen, daß, so lange nicht drüben die Vernunft siegt und die wüsten Beschimpfungen, politischen Beeinflussungen sowie der Mißbrauch des Sports aufhören, es Gott sei's geklagt keinen gemeinsamen Sportverkehr mehr geben wird."15)
Heute, 1982, lamentieren die BRD-Medien in engen Einvernehmen mit der BRD-Sportführung, daß der gegenwärtige Sportverkehr zwischen der BRD und der DDR einen zu geringen Umfang hat - vor 30 Jahren waren die BRD-Sportführer sogar bereit (siehe Dr. Danz) den gemeinsamen Sportverkehr zu liquidieren. Der Schwerpunkt aller gegenwärtigen BRD-Aktivitäten im Sportverkehr mit der DDR liegt nicht bei Länderkämpfen oder sonstigen repräsentativen Sportaustauschen, sondern in den Plänen, Absichten und Methoden der DDR und ihrer sozialistischen Sportbewegung ständig Schaden zuzufügen.
In Auswertung der Diskussion über die Anerkennung des NOK der BRD in Kopenhagen (1950) ergaben sich im BRD-Lager eine ganze Reihe von Schlußfolgerungen, die zum Ergebnis hatten, daß der Vizepräsident, Dr. Max Danz, und der damalige Schatzmeister des NOK, Willi Daume, sich stärker in die Führungsarbeit einschalteten.
Die jüngeren Kräfte im NOK der BRD, die die gleichen Ziele verfolgten, aber unbelastet erschienen, waren sich einig, daß nicht
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nur international, sondern auch innerhalb des Sports in der BRD eine personelle Änderung in der Führung erfolgen müsse. Demzufolge versuchte man, Dr. Diem davon zu überzeugen, daß seine Mitwirkung (Abgabe einer Stellungnahme über die Verbrechen des deutschen Faschismus vor der Exekutive des IOC in Lausanne dem NOK der BRD in der internationalen Öffentlich-keit schaden werde. Dr. Diem, der zu dieser Zeit die gesamte Führungsarbeit des NOK der BRD auf seine Person konzentrierte, ließ sich nicht überzeugen, sondern verlangte, daß die NOK-Delegation nach Lausanne unter seiner Leitung stehen sollte.
Aus dem weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen mit Dr. Diem ergab sich immer eindeutiger, daß die personelle Situation im NOK der BRD einer Klärung entgegenging. Im Dezember 1950 wurden in rascher Folge zahlreiche Angriffe gegen die Vergangenheit von Dr. Diem intern dem Kanzler des IOC, Otto Mayer, übermittelt. Mit großer Hektik wurde von den jüngeren Kräften im NOK der BRD eine Aktion gestartet, die zur Folge hatte, daß Dr. Diem (trotz der Freundschaft zum IOC-Präsidenten Sigfrid Edström) sich mit ungewöhnlichen Maßnahmen zur Wehr setzte. Noch bevor Gegenmaßnahmen von Dr. Diem anliefen, entschlossen sich die jüngeren Kräfte im NOK der BRD zu einem höchst ungewöhnlichen Schritt: Sie teilten dem Kanzler des IOC, Otto Mayer, mit, daß sich ein Machtkampf zwischen der älteren Generation und den jungen unbelasteten Kräften im NOK der BRD abspielt. Diese Situation wäre aus dem Schicksal und dem tragischen Zusammenbruch des deutschen Volkes geboren worden. Wir müssen in Deutschland allein den Weg finden, um das uneingeschränkte Vertrauen und die Anerkennung aller Nationen wiederzufinden.16)
Die Widersprüche zwischen den BRD-Sportführern wurden mit der Aufstellung der Lausanner Delegation immer größer. In Berichten über vertrauliche Aussprachen zwischen jüngeren Präsidiumsmit-gliedern des NOK der BRD und dem Kanzler des IOC, Otto Mayer, heißt es: "Nach seinem Überblick werde Deutschland (BRD) be-stimmt in Helsinki dabei sein. In Kopenhagen wäre auch die Mit-arbeit belasteter Persönlichkeiten im deutschen Sport zur Sprache gekommen. Dies könne man aus dem Originalprotokoll entnehmen, das im Besitz der damaligen IOC-Mitglieder ist. Mayer war bekannt, daß im NOK eine jüngere und eine ältere Gruppe vertreten sei. Er betonte, daß weite Kreise des IOC Wert darauf
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legten, daß die jungen Kräfte nunmehr in Deutschland (BRD) in die Schlüsselstellungen vorrückten.
"Solange dies nicht der Fall wäre, würden immer noch internationale Fachverbände und einzelne Nationen Schwierigkeiten zur Aufnahme Deutschlands (BRD) bereiten. Otto Mayer hätte auch für 1948 die Sitte aufrecht erhalten, den Generalsekretär der vorhergehenden Spiele nach London einzuladen. Lord Burghley hätte die Einladung abgelehnt und da-raufhin hätte Präsident Edström die Einladung direkt übernommen. Der Präsident Edström vertrete gegenüber den älteren verdienten Persönlichkeiten in der deutschen olympischen Bewegung den Standpunkt größtmöglichster Toleranz.
Otto Mayer vertrat auch die Meinung, daß das IOC, falls ein Sitz für Deutschland (BRD) einmal frei werden würde, aus den Reihen der jungen Sportführergeneration ein unbelastetes Mitglied hinzuwählen müßte.
Aus dem weiteren Verlauf der vetraulichen Aussprachen ergab sich, daß auch über die Lage der sportlichen Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone gesprochen wurde. Dabei wurde die persönliche Meinung und Überzeugung von Otto Mayer bekräftigt, daß die in der BRD gegründeten deutschen Fachverbände die einzig legalen Vertreter für den deutschen Sport sein können."17)
Nach eingehender Beratung mit seinen engsten Mitarbeitern ent-schloß sich Dr. Diem, sich wegen der persönlichen Angriffe gegen seine Person seinem Freund, dem Präsidenten des IOC, Sigfrid Edström, anzuvertrauen. Der in seiner Zielrichtung eindeutige Versuch ließ jedoch erkennen, daß Dr. Diem trotz seiner politischen Aktivität in dem Führungsbereich des NOK der BRD keine große Unterstützung mehr fand. Besonderer Wert wurde von Dr. Diem darauf gelegt, den Methoden und Mitteln bestimmter Kreise im Sport der BRD zu begegnen. In seiner "Gegendar-stellung" beschuldigte er den damaligen Sportreferenten im Bundesvorstand der SPD, Heinrich Sorg (englische Emigration), der Denunziation bei den westlichen Alliierten.
Aufgrund dieser Situation entschloß sich Willi Daume (Präsident des DSB der BRD), den Anfang des Jahres 1950 aus einem sowjetischen Internierungelager zurückgekehrten Dr. von Halt zu bitten, im Interesse des Sports der BRD wieder mitzuarbeiten. Dr. von Halt hatte im Gegensatz zu Dr. Diem in den Kreisen des IOC
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und des BRD-Sports eine große Resonanz trotz seiner faschistischen Vergangenheit. Willi Daume hatte durch eine Anfrage beim Kanzler Mayer festgestellt, daß bis auf wenige Aus-nahmen alle IOC-Mitglieder mit großer Freude die Rückkehr Dr. von Halts in das internationale Sportleben erwarteten. Aufgrund des eindringlichen Appells erklärte sich Dr. von Halt bereit, in dieser für den BRD-Sport so entscheidenden Stunde wieder mitzuarbeiten und kurze Zeit später auch wieder die Leitung des NOK der BRD zu übernehmen.
Für die Delegation nach Lausanne wurde ein Kompromiß gefun-den: Dr. von Halt sollte die Leitung der Delegation übernehmen und Dr. Diem, Dr. Peco Bauwens, Willi Daume sowie Dr. Danz sollten ihn begleiten. Dazu kam es nicht, weil einige Delegierte von der Militärregierung die Pässe nicht bekamen.18)
Die vom IOC geforderte Erklärung wurde nun von den weniger belasteten Vertretern des NOK der BRD, Dr. Bauwens, dem Frankfurter Oberbürgermeister Dr. Kolb und dem Box-Präsidenten G. Dietrich, auf der Tagung der Exekutive des IOC an 20. 8. 1950 in Lausanne übergeben. Sie hatte folgenden Wortlaut: "Die deutsche Jugend mißbilligt die von den Verbrechern des Nazi-Regimes begangenen Grausamkeiten, die fast in der ganzen Welt so viel Leid verursacht haben. Sie drückt an dieser Stelle darüber ihr tiefes Bedauern aus. Sie hofft, sich bald mit der Sportjugend der ganzen Welt verbinden zu können, um den Beweis ihres Willens, für die Herstellung des Friedens zu arbeiten, das Endziel der Bemühungen des Wohltäters der Menschheit, des Barons de Coubertin, zu erbringen." 19)
Der geistige Vater dieser Erklärung allerdings war der inzwischen zum ehrenamtlichen Leiter des Sportreferats der Bonner Regierung berufene Dr. C. Diem.
Das Exekutiv-Komitee des IOC beschloß aufgrund dieser nichtssagenden Erklärung, dem 45. IOC-Kongreß eine Empfehlung zu unterbreiten. In dieser Erklärung heißt es:
"1. Die Exekutive nimmt das von der deutschen (BRD) Delegation zum Ausdruck gebrachte Bedauern an und wird in Übereinstimmung mit der deutschen Delegation den Text sowohl in seinem Bulletin veröffentlichen als auch der Presse übergeben.
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2. Die Exekutive wird einstimmig den IOC-Mitgliedern im Mai 1951 in Wien die endgültige Anerkennung des Deutschen Olympischen Komitees empfehlen.
3. Sie wird ebenfalls die Teilnahme deutscher Sportler an den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki, nicht aber an den Olvmpi-schen Spielen (Winter) in Oslo empfehlen." 20)
Diese Empfehlung der Exekutive des IOC schuf dem imperialisti-schen Bonner Staat eine Plattform für seine außenpolitischen Ziele auf dem Gebiete des Sports.
Als mit der provisorischen Anerkennung in Kopenhagen das größte Hindernis aus dem Wege geräumt worden war, fand auch die erwartete Umgruppierung im NOK der BRD statt. Die Gruppe um Willi Daume hatte das Spiel der Intrigen für sich entschieden. Die hier behandelten Dokumente und Erkenntnisse beweisen eindeutig, daß es in diesem Intrigenspiel stets um Personen möglicherweise auch um bestimmte außerhalb des Sports stehende einflußreiche Gruppen, aber nicht um die Sache des BRD-Sports und der Sportler ging.
Die Entscheidung von Kopenhagen und die mit ihr in untrennbarem Zusammenhang stehende Umgruppierung der Leitungsmitglieder im NOK der BRD waren daqnn auch die Voraussetzung. um den "jungen Mann" des BRD-Sports, Willi Daume, der sich das Vertrauen der BRD-Regierung erworben hatte, im Dezember 1950 auf den Präsidentenstuhl des neugegründeten Deutschen Sportbundes (DSB) zu schieben.
DIE GRÜNDUNG DES NOK DER DDR
Am 22. 4. 1951 fanden sich in Stadthaus zu Berlin zahlreiche Persönlichkeiten, deren demokratische Gesinnung und Haltung be-kannt waren und die Vertreter der nationalen Sportsektionen zur Gründung des NOK der DDR zusammen. Dieses neu gebildete NOK der DDR stellte sich die Aufgabe, als olympische Vertretung eines souveränen und rechtmäßigen deutschen Staates die Interessen der Sportler beim IOC wahrzunehmen und auf der Basis der Gleichberechtigung mit dem westdeutschen NOK zusammenzuarbeiten. Im Statut des NOK der DDR hieß es unter § 1 "Name und Aufgaben": "Das am 22. 4. 1951 in Berlin gegründete Nationale Olympische Komitee der Deutschen Demokratischen
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Republik ist der Repräsentant des olympischen Gedankengutes in der DDR. Seine Aufgabe sieht es darin, im Sinne der olympischen Ideen des Begründers der Olympischen Spiele der Neuzeit, Baron de Coubertin, die Jugend über den sportlichen Wettstreit zur Völkerfreundschaft und für den Frieden zu erziehen.
Darum obliegt die verantwortungsvolle Mission, alle Kräfte einzu-setzen, um in Zusammenarbeit mit dem NOK der Bundesrepublik ein gemeinsames Olympisches Komitee für Gesamtdeutschland zu bilden." 21)
In Ergänzung des auf der Gründungsversammlung am 22.4.1961 zu Berlin beschlossenen Statuts wurde in der Zwischenzeit das Statut des NOK der DDR am 26.5.1967 und am 14.11.1979 überarbeitet. Das NOK der DDR informierte sowohl den Kanzler des IOC, Herrn Otto Mayer, sowie den Präsidenten des in der BRD bereits bestehenden NOK. Von der Gründungeversammlung wandte sich das NOK der DDR an das NOK der BRD und unterbreitete diesem den Vorschlag, über die Bildung eines gesamtdeutschen NOK zu beraten.
Entsprechend dem Bonner Ausschließlichkeitsanspruch lehnte das damals bereits provisorisch anerkannte olympische Komitee der BRD eine Beantwortung des Schreibens ab. Gleichzeitig wandte sich das NOK der DDR mit dem Antrag, international anerkannt zu werden, an das IOC.
Als der Antrag des NOK der DDR auf Anerkennung beim IOC ein-ging, wurde vom Präsidenten des NOK der BRD öffentlich darauf verwiesen, daß dieser Antrag nie Zustimmung finden könne, weil nach den olympischen Regeln in jedem Land nur ein NOK existieren dürfe. Mit dieser Äußerung sprach sich Dr. von Halt eindeutig gegen das von Coubertin stets durchgesetzte Prinzip der Gleichberechtigung aus. So wie er (von Halt) sich in der Zeit des Faschismus bedingungslos den verbrecherischen Zielen Hitlers unterworfen hatte, zeigte er sich auch jetzt in der BRD bereit, den Ausschließlichkeitsanspruch im internationalen Sport durchzu-setzen. Durch dieses provokatorische Auftreten bestätigte er die Meinung des NOK der DDR, daß er als IOC-Mitglied nicht nach olympischen Grundsätzen handelte.
In den Statuten des IOC wurde im Abschnitt 10 über die Mitglied-schaft eines IOC-Mitgliedes folgendes gesagt:
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"Die Mitglieder des IOC sind Vertreter des Komitees in ihren jeweiligen Ländern und nicht Delegierte ihrer Länder im Komitee. Sie können weder von den Regierungen ihrer Länder noch von anderer Seite irgendwelche Aufträge entgegennehmen, die geeignet sind, sie zu binden oder die Unabhängigkeit ihres Stimmrechte zu beeinträchtigen." 22)
Man muß hier feststellen, daß das langjährige IOC-Mitglied Dr. von Halt ständig die olympischen Regeln verletzte und damit die internationale olympische Bewegung diskreditierte.
Zur Charakterisierung Dr. von Halts: 1929 - Mitglied des IOC; 1933 - Mitglied des Organisationsausschusses, der die Aufgabe hatte, den deutschen Reichsausschuß für Leibesübungen zu liquidieren; 1936 - Präsident des Organisationskomitees der Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen; 1937 - Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bank; 1944 - Kommissarischer Reichssportführer; 1945 Kommandeur einer Volkssturmeinheit, die auf dem olympischen Reichssportfeld zusammengestellt wurde und Berlin mit verteidigen sollte. Außerdem war Dr. von Halt Brigadeführer der SA und gehörte zum Freundeskreis des Reichsführers SS Himmler. 23)
Aufgrund seiner faschistischen Vergangenheit war die Wiederauf-nahme Dr. von Halts in das IOC unvereinbar mit den Grundsätzen der internationalen olympischen Bewegung. Bezeichnend für die damalige Situation im IOC ist, daß maßgebliche Vertreter dieses Gremiums, u. a. der Amerikaner A. Brundage, die Rückkehr des Dr. von Halt stark förderten. Aufschlußreich ist. was die "Internationale Sportkorrespondenz Hamburg" (Herausgeber Friedrich Treder) am 15.4.1953 hierzu schrieb: "Avery Brundage hat nach dem Kriege die Verbindung mit Ritter von Halt schon vor der Wiederaufnahme Deutschlands in das Internationale Olympische Komitee wieder aufgenommen und ist dann auch 1951 bei dem IOC-Kongreß in Wien in erster Linie mit für eine Zusammenarbeit mit dem deutschen Sport eingetreten." 24)
So wurde Dr. von Halt 1951 wieder in das IOC aufgenommen.
Die Arbeitsergebnisse unserer Sporthistoriker wurden, so beweis-kräftig und schlüssig sie in der Einschätzung auch sein mochten, von Dr. Arnd Krüger als stark überzogen betrachtet. Folgende Ge-genüberstellung zeigt hier die Position eines BRD-Sporthistorikers:
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"Im Gegensatz zu den Historikern der BRD konnten sich die Sport-historiker der DDR auf das Olympiaarchiv Potsdam stützen, in dem die Akten des Olympischen Komitees der Spiele 1936 ruhen. So schrieben besonders Horst Wetzel und Helmuth Westphal über die Olympischen Spiele und den 'Mißbrauch des Sports für die Interes-sen der Bourgeoisie', wobei sie sich weitgehend der Argumentation der Arbeitersportbewegung vor dem Kriege anschlossen. So gut dokumentiert die Arbeiten auch teilweise sind, so muß man ihnen doch häufig vorwerfen, daß sie nicht sine ira et studio geschrieben sind; denn in älteren Publikationen haben sie die Tendenz, besonders Diem, von Halt und von Mengden persönlich zu diskreditieren, die in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik ihre Karrieren in der Sportführung fortsetzen konnten. Allerdinge hüteten sich die Historiker aus der DDR davor, das IOC anzugreifen, das die olympischen Spiele 1936 Deutschland nicht wegnahm, um sie einem anderen Land zu übertragen. Im Gegenteil. Schöbel verfaßte sogar eine Laudatio auf den IOC-Präsidenten Brundage, den damaligen Präsidenten des IOC, das durch seine Olympiateilnahme doch erst den Propaganda-Erfolg der Spiele möglich gemacht hat." 25)
Auf der Tagung des IOC vom 7. bis 9.5.1961 standen erstmalig zwei deutsche Anträge auf Anerkennung auf der Tagesordnung. Das NOK der BRD war seit dem 44. IOC-Kongreß (1950) proviso-risch anerkannt.
Das NOK der DDR, erst 14 Tage vor den IOC-Kongreß gegründet, hatte vor der Wiener Tagung nichts unversucht gelassen, um eine Einigung zwischen beiden deutschen NOK auf gleichberechtigter Grundlage herbeizuführen. Alle Vorschläge des NOK der DDR wurden vom NOK der BRD unbeantwortet gelassen. Die Erklärung Dr. von Halts gegenüber der Presse, daß der Antrag des NOK der DDR im IOC nie Zustimmung finden könne, stand im völligem Widerspruch zum Artikel 1 der olympischen Grundprin-zipien, in dem gesagt wird: "Keinerlei Unterschied wird einem Lande oder einer Person gegenüber aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen geduldet." 26)
Die Delegation des NOK der DDR versuchte trotz aller Störmaß-nahmen des NOK der BRD im Interesse der deutschen Sports eine Einigung zu erzielen. Am ersten Tage des Kongresses baten
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unsere Delegierten den IOC-Präsidenten Edström keine Be-schlüsse zu fassen, die einer Lösung des deutschen Problems ent-gegenstehen. Offensichtlich wurde aber in Wien, daß die Mehrheit der damaligen IOC-Mitglieder nicht bereit war, das neue demokrati-sche Deutschland (DDR) anzuerkennen. Am 8. 5. 1951 über-reichte der IOC-Präsident den Vertretern unseres NOK einen 4-Punkte-Vorschlag über die Lösung der deutschen olympischen Frage und die Entsendung einer gemeinsamen Mannschaft nach Helsinki. Die Vertreter unseres NOK machten Präsident Edström darauf aufmerksam, daß eine einseitige Anerkennung des NOK der BRD eine gemeinsame Mannschaft für Helsinki ausschließt. Präsident Edström versicherte uns, daß nur die Bildung eines gemeinsamen NOK die Voraussetzung für die Entsendung einer gesamtdeutschen Mannschaft zu den Olympischen Spielen schaffen kann. Er setzte am gleichen Tage, trotz der unserer Ver-tretung gegebenen Zusicherung, mit einem parlamentarischen Manöver die endgültige Anerkennung des NOK der BRD durch.
Die beiden IOC-Mitglieder Dr. von Halt und Herzog von Mecklen-burg (BRD) hatten ihre alten Verbindungen ausgenutzt und beim Kongreß die gezielte Falschmeldung verbreitet, daß die Deutschen sich geeinigt hätten und einer Anerkennung der BRD nichts mehr im Wege stünde. Damit wurde der Beschluß über die Anerkennung des NOK der BRD ein großes Betrugsmanöver. Der Beschluß lautete: "Anerkennung des Olympischen Komitees von Westdeutschland. Herr Edström informierte über die Aussprache, die das Exekutiv-Komitee entsprechend der in Kopenhagen getrof-fenen Entscheidung im August des vorigen Jahres in Lausanne geführt hat. Das Exekutiv-Komitee empfiehlt die vollgültige Anerkennung des Olympischen Komitees von Westdeutschland. Dieser Vorschlag wird angenommen und das Olympische Komitee von Westdeutschland ist somit endgültig anerkannt." 27)
Die Behandlung des Antrages des NOK der DDR verfiel anschlie-ßend der Ablehnung. Als Begründung gab man an, daß nur ein NOK anerkannt worden könne. Die Vertreter unseres NOK stellten daraufhin Präsident Edström wegen seiner einseitigen Entscheidung zur Rede. Er erklärte: "Dr. Ritter von Halt ist mein Freund. Ich kann mein gegebenes Wort nicht zurückziehen." 28)
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In einer Stellungnahme schrieb der bekannte BRD-Journalist Ri-chard Kirn in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Der Wiener Beschluß war, wie sich zeigt, zweideutig. Konnte das anders sein?...Nun, liebe Leser, wer von Ihnen kennt die Mitglieder des IOC?... Die Wortführer sind der Schwede Edström, der Amerikaner Brundage, der Schweizer Mayer. Die beiden ersten sind dicke Freunde des Herrn von Halt. Jeder von beiden hat 1936 nur den Glanz der Olympischen Spiele gesehen, und sich den Teufel um die erstickten Schreie aus Oranienburg und Sachsenhausen geschert. Das ist die Lösung des Rätsels von Wien... Sie fühlen sich einander zugehörig." 29)
Die IOC-Vertreter der sozialistischen Länder erhoben, nachdem sie dieses Ränkespiel durchschaut hatten, nachträglich Protest gegen diesen Beschluß des IOC. Sie zogen ihre 4 Stimmen zurück. so daß dann ein Ergebnis von 31 zu 4 Stimmen für die Anerkennung des NOK der BRD herauskam.
Nach einer mehrstündigen Diskussion entschloß sich das IOC die beiden NOK aufzufordern, gemeinsame Verhandlungen zur Bildung eines gesamtdeutschen olympischen Komitees zu führen und beide NOK für den 21. und 22.6.1951 noch Lausanne zu einer Besprechung einzuladen.
Das NOK der DDR hatte schon an seinem Gründungstag den Vorschlag gemacht, in Zusammenarbeit mit dem NOK der BRD ein gemeinsames NOK für Gesamtdeutschland zu bilden, um auf diesem Wege einen wesentlichen Beitrag zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands auf friedlichem Wege zu leisten und die Grundlage für die Entsendung einer gemeinsamen Olympiamannschaft zu den Spielen 1952 zu schaffen.
Die Stellungnahme der Vertreter des NOK der BRD zeigte, daß es ihnen niemals um eine Einigung der deutschen Sportler ging, son-dern daß sie ihren Führungsanspruch gegenüber der DDR durchsetzen wollten.
Das IOC hätte damals als Sachwalter olympischer Prinzipien die Existenz zweier selbständiger Staaten berücksichtigen müssen, um der Situation in Deutschland gerecht zu worden. Die alten Kräfte in der BRD hatten zu dieser Entscheidung von Wien beigetragen und eindeutig unter Beweis gestellt, daß sie hinter dem Schleier des unpolitischen Sports eine gegen die DDR gerichtete Politik betrieben.
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Der BRD-Ausschließlichkeitsanspruch wurde bei den Verhandlun-gen in Lausanne demonstriert.
Als in Wien das NOK der BRD entsprechend des IOC-Beschlusses die Auflage erhielt, mit dem NOK der DDR über die Bildung eines gemeinsamen NOK zu verhandeln, löste diese IOC-Entscheidung eine breite durch die BRD-Regierung gelenkte Pressepolemik aus. In der BRD wurde die Entscheidung von Wien als eine Gefahr angesehen, denn möglicherweise konnte es mit dem NOK der DDR zur Bildung eines gemeinsamen NOK kommen.
Der Präsident des NOK der BRD. Dr. von Halt, bestätigte damals ganz offen in einem Interview, daß die BRD-Regierung auf die Arbeit des NOK der BRD Einfluß nahm.
Der "Sportbericht" Stuttgart schrieb dazu: "Ritter von Halt hatte bereits eine Besprechung mit Kurt Edel, dem Präsidenten des NOK der Ostzone (DDR). Er erklärte nach seiner Rückkehr nach München dem 'Münchner Merkur', daß er sehr optimistisch bezüglich der vom IOC gewünschten Einigung mit den Sportlern der Ostzone sei. Es wäre ein Fehler, die Einigung durch Direktiven aus Bonn zu gefährden.'" 30)
Mit dieser Erklärung versuchte Dr. von Halt gleichzeitig, seine eigene Haltung vor den Augen den IOC zu verschleiern. Die BRD-Regierung sah durch den Beschluß von Wien für ihre Politik Gefahr. In der Westberliner Zeitung "Der Abend" hieß es: "Daß die Vertreter des Sports in der BRD gemeinsam mit den politischen Funktionären der Sowjetzone Deutschlands ein Olympisches Komitee repräsentieren wollen, halten BRD-Regierungskreise für kaum tragbar. Sie bedauern deshalb die Entscheidung des IOC über die Aufnahmebedingungen." 31)
Adenauer sprach ganz offen aus, daß es ihm nicht um Verständi-gung, sondern um seine Ziele ging. Er erklärte: "Sprechen wir nicht von Wiedervereinigung, sondern besser von der Befreiung der Ost-gebiete."32)
Die Bonner Regierung griff rücksichtslos in die Belange des "unabhängigen" BRD-NOK ein. Die NOK-Vertreter mußten zur Be-richterstattung nach Bonn. Hier erhielten sie auch die weitere Linie für ihr Vorgehen.
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Die Westberliner Zeitung "Der Tag" schrieb dazu: "Das deutsche NOK (BRD) hat sich auf seiner Präsidialsitzung am Mittwochabend gegen die Bildung eines zweiten Komitees in der Sowjetzone aus-gesprochen." 33)
Trotz dieser Kampagne ergriff das NOK der DDR im Interesse der deutschen Sportler wieder die Initiative und machte dem NOK der BRD erneut Vorschläge zur Beratung über die Bildung eines ge-meinsamen NOK und die Entsendung einer gemeinsamen Mannschaft zu den Olympischen Spielen 1952.
Für die vom NOK der DDR vorgeschlagene Beratung am 17.5.1951 in Berlin bekamen die BRD-Vortreter plötzlich keine Pässe, was zumindest den Verdacht aufkommen ließ, daß die Bon-ner Regierung an einer Lösung des Problems auf gleichberechtigter Grundlage nicht interessiert war.
Nachdem sich unser NOK bereit erklärte, im Interesse der Verständigung und Einheit im deutschen Sport auch in die BRD zu fahren, bequemten sich die BRD-Vertreter zu einer solchen Beratung in Hannover (17.5.1951). Eine Einigung erfolgte nicht, obwohl unser NOK akzeptable Vorschläge gemacht hatte.
Es handelte sich konkret um folgende:
"1. Bildung eines gesamtdeutschen Olympischen Komitees auf gemeinsamer Grundlage.
2. Bildung eines Präsidiums, das 5 Vertreter der DDR und 6 Vertreter der BRD umfaßt.
3. Als Präsident Dr. Ritter von Halt.
4. Der Generalsekretär soll ein Vertreter aus dem Gebiet der DDR sein und der Sitz des Generalsekretariats in den alten olympischen Stätten auf dem olympischen Gelände von Berlin eingerichtet wer-den.
5. Das Komitee soll sich aus den Präsidenten der jeweiligen Fachverbände der BRD und den Präsidenten der Nationalen Fachverbände der BRD und den Präsidenten der Nationalen Sektionen der DDR zusammensetzen.
6. Persönliche Mitglieder sollen nach Vorschlag ebenfalls auf pari-tätischer Grundlage gewählt werden." 34)
Das NOK der BRD lehnte die Vorschläge als unannehmbar ab und verlangte in provokatorischer Form die Auflösung des NOK der DDR. Man war nur bereit, 2 bis 3 Vertreter des NOK der DDR in
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das NOK der BRD aufzunehmen. Der vom westdeutschen NOK gemachte Vorschlag wurde von unserem NOK abgelehnt, weil er die Existenz der DDR ignorierte und die Eingliederung des DDR-Sports in den Bereich des BRD-Sports bedeutet hätte.
Die massiven Eingriffe des NOK der BRD in die Belange des DDR-Sports erreichten schon Anfang April (also noch vor der Gründung des NOK der DDR) ihren Höhepunkt. Dr. Max Danz, machte am 3. April 1951 den internen Vorschlag, eine besondere BRD-Persönlichkeit mit der Vertretung der ostzonalen Interessen im NOK der BRD zu beauftragen.
Am 21.5.1951 fand in Lausanne erneut ein Gespräch statt. Die Vertreter des NOK der BRD schwenkten hier ganz auf die Linie der Adenauer-Politik ein und erklärten, daß ihr NOK für Gesamtdeutschland anerkannt sei und demzufolge von der Bildung eines gesamtdeutschen NOK nicht mehr die Rede sein könne. Als den Vertretern des NOK der BRD nachgewiesen wurde, daß der 45. IOC-Kongreß ihr NOK nur für das Gebiet der BRD anerkannt hatte, trat Willi Daume auf und erklärte, daß ihr NOK in Wien als Deutsches Olympisches Komitee anerkannt worden sei. Dr. von Halt verwies dabei auf das Protokoll des IOC-Kongresses in Kopenhagen, wo der Antrag unter "Deutsches Olympisches Komitee" vorgelegen hatte und behandelt worden war.
Der Vizepräsident des NOK der BRD, Dr. Bauwens, schaltete sich hier in die Diskussion ein und erklärte: "Ich möchte hier feststellen, daß damals der Antrag von uns gestellt wurde, daß das NOK um Aufnahme bittet, vom IOC aber die Begrenzung der BRD verlangt wurde. Ich habe die Grenzführung vorgetragen. Demnach haben die Herren der DDR recht, wenn sie sagen, daß das Komitee nur für Westdeutschland besteht." 35)
Nachdem die BRD-Vertretung merkte, daß sie mit ihrer anmaßen-den Haltung keinen Erfolg hatte, argumentierte sie, daß die DDR-Sektionen zum größten Teil von den internationalen Fachverbänden nicht anerkannt wären und demzufolge an den olympischen Spielen nicht teilnehmen könnten.
Zur weiteren "Beweisführung" legte Dr. von Halt ein Schreiben des IAAF-Präsidenten Burghley vor, in dem zum Ausdruck gebracht wurde, daß bei der Tagung des IOC-Kongresses in Wien dieser wichtigen Frage zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet
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wurde.36) Die Vertreter des NOK der BRD versuchten auf dieser Beratung, der Bildung eines gemeinsamen NOK als Grundlage für die Entsendung einer gesamtdeutschen Mannschaft auszu-weichen. Sie wurden dabei direkt oder indirekt von der Exekutive des IOC unterstützt. Bis in das Jahr 1955 hatten sich immer wieder Wirkungen ergeben, die den großen Einfluß der Geschehnisse durch A. Brundage und der weiteren Mitglieder der Exekutive erkennen ließen.
Der Kampf unserer nationalen Sektionen um ihre gerechte Auf-nahme in die internationalen Sportverbände hatte zu diesem Zeit-punkt erst begonnen. Das IOC hatte nach Wien 1951 den internationalen Sportverbänden mitgeteilt, daß es nur ein anerkanntes NOK in Deutschland gäbe, und zwar das der BRD. Die Mitteilung des IOC erschwerte die Aufnahme der Sektionen der DDR in die internationalen Sportverbände. Die Sportführer der BRD und einige maßgebliche Vertreter des IOC trieben zu dieser Zeit ein falsches Spiel, um ein selbständiges Auftreten der Sportorganisation der DDR international zu verhindern.
Nachdem auch die letzte Beratung mit den Vertretern der BRD gescheitert war, fand am 22.5.1951 im Sitz des IOC eine Zusammenkunft beider NOK mit der Exekutive das IOC statt. In Vertretung des Präsidenten des IOC, Edström, fungierte der Ameri-kaner Brundage als Vorsitzender der Beratung. Die Exekutive des IOC hatte für beide Delegationen je 15 Minuten zur Behandlung des gesamten Problems vorgesehen. Dadurch bekam die Zusam-menkunft den Charakter eines Befehlsempfangs. Den Vertretern unseres NOK wurde ein Schriftstück in französischer Sprache vorgelegt, das mit den westdeutschen Vertretern einen Tag früher ausgearbeitet worden war.
Kanzler Mayer machte die Bemerkung, daß die BRD schon unter-schrieben hätte, und wenn die Vertreter des NOK der DDR die Teil-nahme unserer Sportler an den Olympischen Spielen nicht verhin-dern wollten, müßten sie ebenfalls unterschreiben. Die von unserer Delegation gemachten sachlichen Einwände wurden ignoriert.
Angeblich stand die IOC-Delegation unter einem großen Zeitdruck. Nachdem die DDR-Delegation noch einmal grundsätzlich über die Entwicklung des Sports in Deutschland gesprochen und die Bildung eines gemeinsamen NOK als Voraussetzung für die Entsendung einer gemeinsamen Mannschaft
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noch Helsinki charakterisiert hatte, versuchte A. Brundage die Diskussion abzubrechen. Er stellte die Angelegenheit mit einem Male so dar, daß das IOC für die Bildung des gesamtdeutschen Komitees nicht zuständig sei und daß die Zusammenkunft einzig und allein der Aufstellung einer gemeinsamen deutschen Mannschaft zu den Olympischen Spielen dienen solle. Diese Feststellung machte deutlich, daß die Exekutive von den Wiener Beschlüssen abgerückt war und sich die Linie des NOK der BRD völlig zu eigen gemacht hatte. In dem von Kanzler Mayer ver-lesenen "Übereinkommen" heißt es: "Es wurde festgestellt, daß gemäß der olympischen Richtlinien nur ein NOK anerkannt werden kann und demzufolge schon früher das Deutsche Olympische Komitee als allein verantwortlich für die Durchführung der Anordnung des Artikels 25 der olympischen Richtlinien anerkannt wurde. Das Exekutiv-Komitee des IOC hat mit Befriedigung eine Urkunde über diese Erklärung angefertigt und hofft, daß eine vollständige Übereinstimmung in naher Zukunft verwirklicht werden kann. Das Exekutiv-Komites rechnet darauf, einen Bericht über die Frage anläßlich der Tagung in Juli 1952 betreffend der Empfehlung, ein deutsches Olympisches Komitee für ganz Deutschland zu erhalten." 37)
Die Vertreter unseres NOK unterzeichneten das Übereinkommen in dem Glauben, daß die Delegation der BRD das Abkommen ehrlich zur Verwirklichung bringen würde, aber diese Annahme erwies sich als falsch. Alle Versuche des NOK der DDR, mit dem NOK der BRD zu einer Einigung zu kommen, scheiterten an dem antinationalen Verhalten der westdeutschen Vertreter. Die BRD-Sportführung unternahm alles, um den gesamtdeutschen Sportverkehr zu verhindern. Unter dem Druck der BRD-Regierung wurde am 27.5.1951 in Stuttgart vom BRD-Sportbund und NOK eine Reihe von einschränkenden Maßnahmen gegen den gesamtdeutschen Sport- verkehr beschlossen.
Im Bericht des Präsidiums des NOK der DDR auf der II. Außeror-dentlichen Tagung in Berlin wurde festgestellt: "Das NOK West-deutschlands hat im Gegenteil in seiner, auf die Spaltung des deut-schen Sports gerichteten Politik nach Lausanne eine Reihe von Maßnahmen ergriffen... Das NOK Westdeutschlands hat in Auswertung des Lausanner Übereinkommens im Mai 1951 in Stuttgart gemeinsam mit dem westdeutschen Sportbund konferiert
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und Maßnahmen zur Einschränkung des Sportverkehrs mit der DDR beschlossen." 38)
Die Stuttgarter Beschlüsse zeigten das wahre Gesicht der Sport-führung der BRD. Kaum war die Unterschrift unter das Lausanner Abkommen gesetzt, ging das NOK der BRD daran, die Olympischen Spiele 1952 selbständig vorzubereiten, wobei das NOK der DDR völlig ausgeschaltet wurde. Das NOK der BRD legte folgende Maßnahmen fest:
"1. Dr. Diem als Delegationsleiter der deutschen Mannschaft für Oslo und Helskinki.
2. Stärke der Mannschaft.
3. Aufstellung des Planes zur Finanzierung der Delegation nach Oslo und Helsinki.
4. Berufung der Ausschüsse für die Winter- und Sommerspiele.
5. Vorbereitung zur Berufung eines Inspekteurs als Berater der Fachverbände.
6. Festlegung einer einheitlichen olympischen Kleidung der deut-schen Teilnehmer der XV. Olympischen Spiele. 39)
Im Kommunique der II. Außerordentlichen Mitgliederversammlung des NOK der DDR heißt es dazu: "Die Vertreter des NOK der DDR haben ihre Unterschrift unter das Übereinkommen gesetzt in dem guten Glauben, der olympischen Idee zu dienen, dem nationalen Empfinden der deutschen Sportler Rechnung zu tragen und in der Hoffnung, durch ehrliche Zusammenarbeit beider NOK somit zu ei-ner gesamtdeutschen Delegation nach Helsinki zu kommen." 40)
Da das NOK der BRD das Lausanner Abkommen nicht einhielt, erklärte die Mitgliederversammlung des NOK der DDR am 2.9.1951 in Berlin: "... daß es sich nicht mehr an die von seinen Vertretern in Lausanne gegebene Unterschrift gebunden fühlt und das Übereinkommen von Lausanne für sich nicht mehr als bindend betrachtet." 41)
Das NOK der BRD hatte durch seine Politik den Sportlern der DDR jede Möglichkeit genommen, mit den Sportlern der Welt bei den Olympischen Spielen 1952 an den Start zu gehen.
Der ehemalige Geschäftsführer des DSB, G. von Mengden, bestätigte die Richtigkeit dieser Feststellung. Im Jahrbuch des DSB 1959/60 schrieb er dazu: "Eine spätere Geschichtsschreibung wird wohl zu dem Ergebnis kommen, daß eine Zusammenlegung der
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beiden deutschen NOK damals an der Haltung der Vertreter der Bundesrepublik gescheitert ist." 42)
Diese Feststellung beweist eindeutig, daß die Schuld einzig und allein bei der BRD-Sportführung gelegen hat. Für die Teilnahme an den Olympischen Spielen blieb für unsere Sportler nur ein Weg of-fen: die selbständige internationale Anerkennung des NOK der DDR.
Das NOK der DDR wandte sich, nachdem alle Versuche, mit dem NOK der BRD zu einer Verständigung zu kommen, gescheitert wa-ren, erneut an das IOC mit dem Antrag, als olympische Körperschaft für das Territorium der DDR anerkannt zu werden. Mit diesem Antrag wurde eine neue Phase um die internationale Anerkennung der DDR auf dem Gebiete des Sports eingeleitet.
DIE RECHTMÄßIGE ANERKENNUNG
DES NOK DER DDR WIRD VERSCHLEPPT
Das NOK der DDR hatte mit der Aufkündigung des Lausanner Ab-kommens eine völlig neue Situation geschaffen.
Die sachlichen Argumente und das konsequente Auftreten unserer Delegation veranlaßten Dr. von Halt, Vorschläge für eine gemeinsame Beratung zu machen. In Kassel und Hamburg fanden zwei Beratungen beider NOK's statt. Hier traten die Vertreter des NOK der BRD wieder mit der alten Forderung auf, das Lausanner Abkommen anzuerkennen. Die Vertreter unseres NOK wiesen die Forderung zurück, da das Abkommen ja von seiten der BRD gebrochen worden war.
Zu der vom NOK der DDR vorgeschlagenen Beratung im Dezember reisten die BRD-Vertreter nicht an. Sie richteten vielmehr einen Aufruf an die Sportler der DDR, sich der westdeutschen Olympiamannschaft anzuschließen. Deutlicher als mit diesem Versuch, Leistungssportler der DDR abzuwerben, kann der Mißbrauch der olympischen Idee durch die BRD-Sportführung in der damaligen Zeit nicht nachgewiesen werden.
Von seiten der Exekutive des IOC wurde, nachdem das NOK der DDR erneut einen Antrag auf Anerkennung beim IOC gestellt hatte, ein weiterer Versuch unternommen, eine gemeinsame Beratung zustande zu bringen. Die Einladung zu einer Beratung in Kopenhagen erfolgte aber so spät, daß unsere Delegation nach
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einer beschwerlichen Reise mit Verspätung in Kopenhagen eintraf. Die Exekutive des IOC war nicht bereit, aufgrund der besonderen Umstände die Beratung um eine bestimmte Zeit zu verschieben. Die Mitglieder des Exekutiv-Komitees fühlten sich durch die Dele-gation der DDR angeblich brüskiert und reisten, ohne daß es zu einer Zusammenkunft gekommen war, von Kopenhagen wieder ab. Die Delegation des NOK der BRD, die noch in Kopenhagen anwesend war, lehnte es ab, mit der DDR-Delegation eine Beratung durchzuführen. Aufgrund dieser Situation mußte der Eindruck entstehen, daß von seiten der Exekutive des IOC kein Interesse vorgelegen hat, das deutsche Problem auf der Grundlage der Gleichberechtigung für beide NOK zu lösen, sondern daß es vielmehr die Durchsetzung der damaligen Hallstein-Doktrin im Sport unterstützte.
Diese Linie zeigte sich auch auf den Kongressen des IOC in Oslo und Helsinki 1952. Die rechtmäßige Anerkennung des NOK der DDR wurde von einem Kongreß auf den anderen verschoben.
Ich habe diese Beispiele vor allem auch deshalb erwähnt, weil es nach meiner Ansicht die vielschichtigen Praktiken der Zusammenarbeit zwischen Dr. von Halt und der Exekutive des IOC in der damaligen Zeit aufzeigt.
Beim Kongreß des IOC 1953 in Mexiko-City versuchte man, den Antrag unseres NOK, weil er angeblich zu spät eingereicht wurde, nicht auf die Tagesordnung zu bringen.
Die BRD-Tageszeitung "Die Welt" schrieb: "Obwohl es auf der Ta-gesordnung nicht vorgesehen war, kam beim Kongreß des IOC in Mexiko-City auch das Problem der Anerkennung des ostzonalen olympischen Komitees zur Sprache. Das NOK (Ost), dessen Vertreter vergebens um die Einreise nach Mexiko-City nachgesucht hatten, machten dem IOC-Präsidenten Brundage einen Strich durch sein Tagungsprogramm. Schuld daran trug ein offener Brief, der aus der Ostzone an alle in Mexiko anwesenden IOC-Mitglieder gerichtet war. Beigefügt war die Abschrift eines Schreibens von Otto Mayer, in dem dieser im August 1952 den ostzonalen Sportfunktionären versichert hatte, das IOC würde sich auf seiner Vollversammlung in Mexiko bestimmt der Frage des NOK (Ost) annehmen. Avery Brundage hatte also keine Wahl. Er mußte den Ostzonen-Antrag am letzten Tag in die Tagesordnung einbauen."43)
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Dieser Bericht des Korrespondenten der westdeutschen Zeitung zeigt deutlich, daß die damaligen führenden Kreise des IOC keine Mittel scheuten, um die gerechte Anerkennung unseres NOK zu verhindern. Der sowjetische Delegierte Adrianow trat auf dem IOC-Kongreß auf und stellte fest, daß es endlich an der Zeit wäre, das NOK der DDR anzuerkennen. Das Mitglied das IOC, der Präsident des NOK der BRD, Dr. von Halt, machte bei der Aussprache über den Antrag erneut provokatorische Vorschläge, um die Anerkennung der DDR zu verhindern.
In der westdeutschen Tageszeitung "Die Welt' wird darüber folgendes geschrieben: "Ritter von Halt erklärte noch einmal, es müsse eingehend untersucht werden, ob das NOK (Ost) und seine Führer
1. frei und unabhängig wären.
2. Amateure seien.
3. nach den olympischen Regeln arbeite.' 44)
Die von Dr. von Halt gemachten und von dem Präsidenten des IOC, Avery Brundage, zum Beschluß erhobenen Vorschläge zeigten die Absicht, die Anerkennung des NOK der DDR weiterhin zu verhindern. Das ganze war so ungeheuerlich, daß dem Zusammenspiel über die Hinhaltetaktik auch zahlreiche skeptische Presseberichte folgten. Sie gipfelten in der Feststellung, daß es Aufgabe des IOC ist, internationale Verständigung zu fördern, nicht aber "eiserne Vorhänge innerhalb der Sportwelt zu schaffen." Letzeres scheine leider bei dem Zusammenspiel zwischen IOC und dem NOK der BRD geschehen zu sein.45)
Im April 1964 nahmen die Mitglieder des IOC, Dr. Mezö (Ungarn) und Prof. Gruß (CSSR), die Gelegenheit wahr, sich bei einem Be-such in der DDR über die Entwicklung des Sports zu informieren. Am Ende des Besuches erklärten sie: "Wir haben bei unserem Besuch in der DDR keine Gründe gesehen, die gegen die Aufnahme des NOK der DDR in das IOC sprechen oder unseren früheren Standpunkt verändern könnten. Im Gegenteil, alle Gründe sprechen dafür."46)
In einer Werbepublikation des NOK der DDR wurde den Vertretern des IOC und der internationalen Sportverbände ein Einblick in die Arbeit der Sektionen der DDR gegeben und gleichzeitig ein Appell an sie gerichtet, die Anerkennung unseres
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NOK zu unterstützen. In der Publikation heißt es dazu: "Die DDR ist ein selbständiges Land, das de fakto und de jure von zahlreichen Ländern der Welt anerkannt ist. Die Sportjugend dieses Landes wird im Sinne des olympischen Gedankengutes und des Amateur-Statuts erzogen. Bisher haben 16 internationale Sportverbände 16 Sektionen der DDR in ihre Reihen als gleichberechtigt aufgenommen. Erwartungsvoll blicken sie deshalb nach Athen, wo im Mai 1954 entsprechend eines Beschlusses in Mexiko-City und einer Zusage des IOC-Präsidenten Brundage sich der IOC-Kongreß mit dem Antrag unseres NOK um Anerkennung befassen wird." 47)
Nach der Versendung der Werbeschrift meldete sich vom DSB-Bundestag am 5. und 6.2.1954 in Düsseldorf das Mitglied des IOC und Präsident des NOK der BRD, Dr. von Halt, mit einer neuen scharfen Absage gegen unsere Anerkennung. Er führte folgendes dazu aus: "Wir.werden diesen Antrag auf Anerkennung des ostzonalen Komitees nicht unterstützen, wir werden uns diesem Antrag widersetzen. Wir sagen, es besteht bereits ein Olympisches Komitee für Deutschland, denn wir wollen mit einer Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Melbourne erscheinen." 48)
Vor dem Hintergrund dieser dieser Situation läßt es sich besser verstehen, daß Dr. von Halt mit der Durchsetzung des Ausschließlichkeitsanspruchs eine höchst willkommene Gelegenheit hatte, seine antinationale Haltung zu demonstrieren.
In zahlreichen Analysen hatte das NOK der DDR zu dieser Konfrontationspolitik der BRD Stellung genommen.
Auf dem Kongreß des IOC 1954 in Athen, zu dem die Vertreter unseres NOK wiederum keine Einreise bekamen, mußte der Präsident des IOC, Avery Brundage, auf der Grundlage des Beschlusses von Mexiko den Antrag unseres NOK zur Abstimmung stellen. Das Ergebnis der Abstimmung lautete 31:14 Stimmen gegen unseren Antrag. Damit war erstmalig eine Ab-stimmung über unseren Antrag erfolgt, und in der Einschätzung konnte man feststellen, daß eine Reihe der IOC-Mitglieder für eine Anerkennung unseres NOK eingetreten war bzw. sich aufgeschlossen verhielt.
DIE INTERNATIONALE ANERKENNUNG
DES NOK DER DDR DURCH DAS IOC
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Das NOK der DDR hatte Anfang der fünfziger Jahre seine Bemü-hungen um die internationale Anerkennung durch das IOC weiter verstärkt. Die Unterstützung, die die Sowjetunion mit ihrer Erklärung über die Souveränität der DDR gab und ihr Eintreten auf der Berliner Konferenz der Außenminister, schufen gute Voraussetzungen für die internationale Stärkung des Ansehens der DDR. Gestützt auf diese internationale Autorität unserer Republik stellte das Präsidium des NOK der DDR nach dem IOC-Kongreß von Athen 1954 einen neuen Antrag an das IOC.
Anläßlich der Spartakiade des sowjetischen Sports konnte das Mitglied des Präsidiums des NOK der DDR, Erich Riedeberger, mit dem als Ehrengast in Moskau weilenden Präsidenten des IOC Avery Brundage eine erste Unterredung führen. Erich Riedeberger legte die Auffassungen unseres NOK über die Lösung des olympischen Probleme in Deutschland dar. Er erwähnte dabei, daß die Leistungen der Sportler der DDR in aller Welt Achtung und Anerkennung gefunden haben. Es gäbe demzufolge keinen Grund, das NOK der DDR aus der olympischen Familie fernzuhalten. Die Antwort des IOC-Präsidenten ließ erkennen, daß er eine gemeinsame Arbeit beider NOK und die Entsendung einer gemeinsamen deutschen Mannschaft zu den Olympischen Spielen auf der Grundlage des Lausanner Abkommens anstrebe.
Auf der Rückreise des IOC-Präsidenten aus Moskau hatten Erich Riedeberger und ich bei einem Zwischenaufenthalt in Helsinki Gelegenheit, nochmals mit Avery Brundage zu sprechen. Er vertrat dabei die Auffassung, daß die Sportler der DDR sich an den Olympischen Spielen beteiligen sollen, und zwar im Rahmen einer gesamtdeutschen Mannschaft, die unter Leitung eines Organisationskomitees stehen sollte.
Nach eingehender Diskussion, in der unsere Delegation die Aner-kennung des NOK der DDR als Grundlage für eine Beteiligung unserer Sportler an den Olympischen Spielen forderte, ließ Avery Brundage erkennen, daß er eine Anerkennung des NOK der DDR befürworten würde, vorausgesetzt, es würde eine gemeinsame Mannschaft gebildet. Die Tatsache, daß Präsident Avery Brundage trotz enger Freundschaft mit Dr. von Halt nicht mehr umhin kam, den Realitäten Rechnung zu tragen, beweist eindeutig, daß die internationale Autorität der DDR die Grundlage für die
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Anerkennung unseres NOK war. Der Vorschlag von Brundage, das NOK der DDR anzuerkennen, deckte sich natürlich in keiner Weise mit dem Ausschließlichkeitsanspruch der BRD-Sportführung. Am 11.9.1954 legte Avery Brundage nochmals schriftlich seinen Vorschlag dar. In diesem Schreiben heißt es: "Auf unserer nächsten Zusammenkunft in Paris werde ich die Anerkennung des Olympischen Komitees der DDR empfehlen, unter der Voraussetzung, daß es nur eine einzige deutsche Gruppe als Ver-treter Ost- und Westdeutschlands gibt." 49)
Brundage machte die Anerkennung des NOK der DDR von einer grundlegenden personellen Veränderung abhängig, um nach außen hin sein Gesicht zu wahren. 50)
Die Mitgliederversammlung unseres NOK beschäftigte sich am 26. 2. 1954 eingehend mit dem Vorschlag des Präsidenten des IOC und gab der Hoffnung Ausdruck, daß sich das IOC auf seiner nächsten Tagung zu einer Anerkennung des NOK der DDR entscheiden würde. Die Mitgliederversammlung beschloß, einen erneuten Antrag auf Anerkennung zu stellen. Ich reichte im Interesse der olympischen Anerkennung der DDR meinen Rücktritt ein, und an meine Stelle trat Heinz Schöbel.
Das NOK der BRD hatte von Brundage erfahren, daß er beab-sichtige, auf dem nächsten IOC-Kongreß in Paris (1955) die Anerkennung des NOK der DDR zu empfehlen, aber nur unter der Maßgabe, daß eine gemeinsame deutsche Mannschaft an den Start gehe. Das NOK der BRD führte unmittelbar vor Paris eine Umfrage bei seinen Verbänden durch, mit der Absicht, sich einen Überblick über die Mitgliedschaft der DDR-Sportverbände in den internationalen Sportverbänden zu verschaffen. Die Tatsache, daß das BRD-Mitglied des IOC, Dr. von Halt, zunächst allein nach Paris reiste, bewies, daß man in der BRD-Sportführung fest überzeugt war, bei den Verhandlungen die eigene Linie noch einmal durch-setzen zu können. Am 12.6.1955 fand in Paris die erste Bespre-chung beider deutscher NOK mit dem IOC-Präsidenten Avery Brundage statt. Das NOK der DDR war vertreten durch H. Schöbel, G. Heinze, Prof. Dr. Meinel und E. Riedeberger. Als Berater für die DDR-Delegation fungierten R. Reichert und H. Behrendt. Seitens des NOK der BRD waren Dr. von Halt, Bob-Präsident Hans Kilian und Heinz Lorenz als Sekretär vertreten. Ursprünglich wollte Dr.
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von Halt die Pariser Besprechungen allein führen, aber aufgrund der schwierigen Situation zog er Kilian und Lorenz, die sich zur damaligen Zeit in Paris aufhielten, aber keine Mitglieder des NOK waren, zur Verstärkung hinzu. Kilian vertrat die Interessen der Stadt Garmisch bei der Bewerbung für die VIII. Olympischen Winterspiele, Lorenz weilte als Vertreter Westberliner Zeitungen beim IOC-Kongreß.
Obwohl Avery Brundage uns seine Zustimmung gegeben hatte, die Anerkennung des NOK der DDR dem IOC-Kongreß zu empfehlen, versuchte er - beeinflußt durch Dr. von Halt - erst die Bildung einer gemeinsamen Mannschaft vorzunehmen, um angeblich danach die Anerkennung der DDR zu erwägen. Die plötzliche Annäherung der Standpunkte zwischen Brundage und Dr. von Halt ließ erkennen, daß Dr. von Halt um jedem Preis versuchte, auch in Paris die Linie der Bonner Politik zu vertreten.
Von seiten unserer Delegation wurde dargelegt, daß die einseitige Anerkennung des NOK der BRD eine gemeinsame Mannschaft un-möglich mache. Nach Auffassung der DDR-Delegation sei die Anerkennung des NOK der DDR und damit die Gleichberechtigung beider NOK die Grundlage für die Bildung einer gemeinsamen Mannschaft. Der von Avery Brundage neu unterbreitete Vorschlag würde der BRD-Sportführung die Möglichkeit geben, ihren Führungsanspruch durchzusetzen bzw. die Anerkennung des NOK der DDR ganz zu verhindern.
Die konsequente Haltung unserer Delegation veranlaßte Avery Brundage, von der Hallstein-Linie abzugehen und uns einen neuen Vorschlag zu unterbreiten. Er schlug vor, dem IOC zu empfehlen, das NOK der DDR provisorisch anzuerkennen, diese Anerkennung aber zurückzuziehen, wenn keine gemeinsame Mannschaft zustan-dekomme. Darauf versuchte von Halt, die Beratung ohne Ergebnis zu beenden. Die Sitzung wurde denn auch durch Avery Brundage abgebrochen, ohne daß eine Entscheidung gefallen war. Einen Tag später teilte Avery Brundage unserer Delegation mit, daß er bereit wäre, die Anerkennung des NOK der DDR zu empfehlen, wenn er eine verbindliche Erklärung unseres NOK über die Teilnahme an einer gemeinsamen Mannschaft erhalten würde. Die Delegation des NOK der DDR gab diese Zusicherung und am 18.6.1955 erfolgte die Abstimmung über unseren Antrag. 27 Delegierte stimmten für die Anerkennung. 7 beharrten auf ihren
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ablehnenden Standpunkten und 4 enthielten sich der Stimme. Unter den wenigen Gegenstimmen befand sich die Ritter von Halts.
Der Beschluß des IOC wurde dem NOK der DDR vom IOC-Kanzler Mayer wie folgt übermittelt: "Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß Ihnen unser Komitee während der Tagung in Paris die provisorische Anerkennung zuerkannt hat unter den Bedingungen, daß nur eine deutsche Mannschaft an den Spielen der XVI. Olympiade in Melbourne teilnimmt.
Wir behalten uns das Recht vor, diese provisorische Anerkennung zurückzuziehen für den Fall, daß die oben geforderte Bedingung nicht erfüllt würde." 51)
In einem weiteren Schreiben von Kanzler Mayer hieß es: "In Ergänzung unseres letzten Schreibens möchte ich Ihnen noch mitteilen, daß es selbstverständlich ist, daß, sobald Deutschland politisch wiedervereinigt ist, das Internationale Olympische Komitee nur noch ein einziges deutsches Olympisches Komitee anerkennt." 52)
Der Beschluß des IOC wurde in Bonn heftig kritisiert. Willi Daume stellte offen die Frage, die in Bonn immer wieder gestellt worden war: "Wenn aber eine gesamtdeutsche Mannschaft, warum dann überhaupt eine Anerkennung der Sowjetzone vor dem IOC" 53)
Die großbürgerliche "Welt" griff die Entscheidung des IOC-Kon-gresses mit den Worten an: "Ahnungslos und weltfremd wie sie sind, werden sich die Herren (des IOC) einiges auf ihren Kunstgriff einbilden... Sie sind, wie immer, den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, weil sie ihre internationalen Probleme nicht mit Rücksicht auf politischen Takt behandeln.' 54)
Die BRD Regierung ließ schließlich sogar durch den Leiter des Bundespresseamtes, Forschbach, erklären: "...daß bei kommenden Verhandlungen jegliche Konzession zu unterbleiben hätte, die alleinige Führung der olympischen Seite gesichert und im übrigen erreicht werden müsse, daß die gleichberechtigte Anerkennung des NOK der DDR rückgängig gemacht werden müsse."55)
Diese Äußerungen, im Auftrage der BRD-Regierung, sind bezeichnend für die offizielle Sportpolitik des NOK der BRD und des Deutschen Sportbundes. Das Wirken der BRD-Sportführung in
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dieser Periode hatte zum Ziel, die These von der Nichtexistenz der DDR im internationalen Sport durchzusetzen.
Es dient der historischen Wahrheit, wenn ich nach 37jähriger Sportgeschichte meine Erinnerungen und Erfahrungen zu diesem kurzen, aber inhaltsreichen Zeitabschnitt niederschreibe.
ANMERKUNGEN
1) Dokumente der SED, Band III, S. 415
2) ebenda, S. 429/430
3) Kröger. H.: "Staat und Recht". Nr. 6/61. S. 967. zitiert nach E. Kaufmann in Bulletin
des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 3/55. S.18
4) Krüger. A... 'Politik und Sport". S. 88. 1975 Fackelträger-Verlag. Schmidt-Küster
GmbH. Hannover
5) ebenda S. 88
6) Knecht. Willi: 'Entwicklung des Sports in Deutschland. S. 17. Fritz Busche
Druckereigesellschaft
7) ebenda. S. 18
8) vgl. "Die Welt" vom 27. 9. 1949
9) vgl. Satzungen des NOK für Westdeutschland vom 24. 9. 1949 und Rund-schreiben
Nr. 1 des NOK fürWestdeutschland vom 30. 9. 1949
10) vgl. Rundschreiben Nr. 6 des NOK für Westdeutschland von 8. 12. 1949
11) vgl. ebenda
12) vgl. ebenda
13) Rundschreiben Nr. 8 des NOK für Westdeutschland vom 17. 4. 50
14) vgl. Protokoll über die am 13. 50 1950 stattgefundene Besprechung zwi-schen DS und
DLV
15) vgl. Schreiben von Dr. Danz von 1. 10. 1952
16) vgl. Schriftverkehr das Kanzlers des ICC. Otto Mayer. Dezember 1950
17) vgl. Berichte über vertrauliche (private) Unterhaltungen mit dem Kanzler des ICC. Otto
Mayer vom 11. 8. 50 in Lausanne
18) vgl. Bericht den NOK der BRD zur Situation - Lausanner Erklärung 1950
19) Bulletin des IOC Nr. 23 - 24 von Oktober 1950.
20) Bulletin des IOC Nr. 23 - 24 von Oktober 1950. S. 21
21) vgl. Statut des NOK der DDR. S. 1
22) vgl. Regeln des IOC. Abschnitt 10. Sonderdruck 1960
23) vgl. Marktanner. G.: "Deutsche Sportführer" Archiv - Olympische Gesell-schaft der DDR
24) vgl."Internationale Sportkorrespondenz Hamburg" von 15. 4. 1953 - Archiv
25) vgl. Krüger. A.: Die Olympischen Spiele 1936 und die Weltmeinung. Verlag
Bartels & Wernitz. Berlin S. 19
26) vgl. IOC-Regeln. S. 1. Sonderdruck 1960
27) vgl. IOC-Bulletin Nr. 27. 1951. S. 10
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28) vgl. Bericht der Delegation des NOK der DDR über den Wiener IOC-Kongreß 1951.S.3
29) vgl. "Frankfurter Allgemeine Zeitung" 1951. Archiv NOK der DDR
30) vgl. "Sportbericht" Stuttgart von 15.6.1951
31) vgl. "Der Abend" vom 9.5.1951
32) vgl. Dokumentation der Zeit, Berlin, 1963, Heft 55, zitiert nach
K. Adenauer vom 7.9.1953
33) vgl. "Der Tag" vom 26.6.1952
34) vgl. Protokoll der Außerordentlichen Mitgliederversammlung des NOK der DDR vom
27.5.1951 in Leipzig, S. 37
35) vgl. Protokoll der Lausanner Beratung zwischen den NOK der DDR und den NOK der BRD von 21. 5. 51. S. 13. Archiv NOK
36) vgl. ebenda. S. 2
37) vgl. Lausanner Übereinkommen vom 22.5.1951. Archiv NOK DDR
38) vgl. Bericht des Präsidiums des NOK der DDR zur II. Außerordentlichen
Mitgliederversammlung vom 2. 9. 1951
39) vgl. ebenda. S. 2
40) vgl. Kommunique der II. Außerordentlichen Mitgliederversammlung des NOK der DDR vom 2. 9. 51. S. 2
41) vgl. ebenda" S. 2
42) vgl. Jahrbuch des DSB 1959/60. S. 37
43) vgl. "Die Welt" vom 5. 5. 1953
44) vgl. "Die Welt" vom 5. 5. 1953
45) vgl. dänische Zeitung "Politiken" vom 10. 6. 1963
46) vgl. ND vom 27. 4. 1954
47) vgl. Werbebroschüre des NOK 1954. S. 1
48) vgl. "8-Uhr-Blatt" Nürnberg vom 7.2.1954
49) vgl. Schreiben IOC-Präsident an NOK der DDR vom 10. 9. 54 Archiv NOK der DDR
50) vgl. ebenda
51) vgl. Schreiben IOC-Kanzler Mayer an NOK der DDR vom
23.6. 1955 Archiv NOK DDR
52) vgl. IOC-Kanzler Mayer an NOK DDR vom 27. 6. 1955
53) vgl. 'Die Welt" vom 20. 6. 1955
54) Dokumentation der Olympischen Gesellschaft: 'Bonn hat den deutschen Sport gespalten". S. 58
55) vgl. "Die Welt" vom 21. 6. 1955
56) vgl. IOC-Regeln 1962. Abschnitt III. S. 10
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Zu einer Expertise
Von KLAUS HUHN
Angeblich um Klarheiten zu schaffen und Unrecht aufzuklären, wurde im Bonner Bundestag eine sogenannte Enquete-Kommission gebildet, die, weil vom Ex-Pfarrer Eppelmann (CDU) geleitet, schon bald unter dem Namen "Eppelmann-Kommission" segelte. Ihr offizieller Firmenname: Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland."
Als man daranging, die Folgen der SED-Dikatur im Sport zu untersuchen, forderte man drei Expertisen an. Eine galt dem Doping, die zweite dem MfS und die einzig möglicherweise ernstzunehmende sollte Auskunft über "Die politische Instrumentalisierung des Sports in der DDR" geben. Den dem Vernehmen nach gut dotierten Auftrag erhielt - niemand weiß so recht, warum - Hans-Dieter Krebs aus Bergheim, der im "Sportjournalisten-Taschenbuch 1994" als Mitarbeiter der "Deutschen Welle" in Köln ausgewiesen ist. Möglicherweise war der Ruf des Arbeitgebers hinreichend, um Krebs zu nominieren. Die "Expertise" umfaßt 51 Schreibmaschinenseiten und enthält zu einem großen Teil, was bereits in BRD-Medien verbreitet worden war, als noch zwei deutsche Staaten existierten. Neu sind Auszüge aus Akten,die man im Archiv des ZK der SED und in Stasipro-tokollen fand. Natürlich ausschließlich Zitate, die erhärten sollen, was bereits früher behauptet worden war.
Die Oberflächlichkeit der Arbeit soll zunächst an einem Beispiel demonstriert werden. Auf Seite 30 konnte man lesen: "Die Furcht vor nationalen und internationalem Prestigeverlust durch Enthüllun-gen von Flüchtlingen oder bei privaten Kontakten hat die DDR-Partei- und Sportführung zutiefst verunsichert, weil nicht nur wissenschaftliche und technische Geheimnisse ans Licht kamen, sondern die Rigorosität und Unmenschlichkeit des Regimes und seines Staatssports. Verrat galt daher als Verbrechen gegen den Staat, das fast immer nach dem gleichen Schema unter Stabfüh-rung des Politbüros behandelt wurde."
Damit glaubte Krebs "Rigorosität und Unmenschlichkeit des Regimes und seines Staatssports" hinreichend belegt zu haben.
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Als einzigen Beweis für diese verwegene These verwies er auf seine Anmerkung mit der laufenden Ziffer 70. Diese lautet wörtlich: "Vergleiche die streng vertraulichen Akten im Stiftung Archiv Parteien und Massenorganisationen ZK Archiv IV 2/18/15 über die Flucht des Radsportfunktionärs Werner Scharch 1958, der das ver-kappte Profitum der DDR-Radsportler bloßstellte. Doch die interna-tionalen Funktionäre behandelten diese Enthüllung nur sehr kursorisch". (Mit "kursorisch" ist hier "flüchtig" gemeint, was wohl als versteckte Kritik an den internationalen Funktionären zu verstehen ist, den Historiker aber vor die Frage stellt, warum wohl die internationalen Funktionäre diese Enthüllung nur "kursorisch" zur Kenntnis nahmen?)
Auf weitere Erklärungen verzichtet Krebs. Welche Akten soll man vergleichen und welche Blätter welcher Akten geben Auskunft über die Reaktionen auf die "Flucht" Scharchs?
Die Person Werner Scharchs ist bei ernsthaften Aufarbeitung der Geschichte zweifellos aufschlußreich. Scharch war Ende der vierziger Jahre Chef des damals noch sehr kleinen Sportressorts im Zentralkomitee der SED. Er wurde oft mit komplizierten Aufgaben betraut. (In der Wonneberger-Chronik kann man nachlesen, daß er Koordinator des I. Deutschlandtreffens der FDJ war.) Allerdings gab gab es sehr bald Probleme mit Scharch, die nicht die geringsten politische Aspekte aufwiesen. Solche For-mulierungen werden gern als Diskriminierungen ausgelegt, deshalb soll jedes Mißverständnis beseitigt werden: Scharch war Alkoholiker. Dies wußten natürlich auch die internationalen Funktionäre und so erklärt sich wohl auch ihre kursorische Reaktion...
DIE ABWERBUNG ZWEIER SPITZENFAHRER
Scharch wurde damals versetzt, büßte aber an Einfluß kaum ein. Er wurde persönlicher Referent des Präsidenten des Deutschen Sportausschusses, Rudi Reichert, und - ehrenamtlich - Präsident des DDR-Radsportverbandes. Er erwies sich vor allem in dieser Funktion erfolgreich, weil er ungemein wendig war und auch schnell internationales Ansehen gewann. Es war unbestritten sein Verdienst, daß die Radweltmeisterschaften 1960 an die DDR vergeben wurden. Er konnte die DDR-Staats-und Parteiführung so-
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gar bewegen, dem italienischen Präsidenten des Internationalen Radsportverbandes UCI, Adriano Rodoni, als erstem Ausländer den Vaterländischen Verdienstorden in Silber zu verleihen. Mit dieser Feststellung hätte der Kronzeuge des Herrn Krebs auch schon rapide an Überzeugungskraft verloren, denn welche geheimen Akten mag Krebs studiert haben, wenn sie ihm Auskunft gaben, daß Scharch 1958 geflohen sei? 1960 saß er jedenfalls noch neben Rodoni auf der Sachsenring-Tribüne und bejubelte und begoß den Eckstein-Schur-Triumph! Das war am 13. August. Zwölf Tage später begannen in Rom die Olympischen Spiele. Scharch war dabei und blieb dabei. Als er mit einem Mietwagen in betrun-kenem Zustand einen Unfall versursachte, bedurfte es einiger Freunde, um größeren Ärger zu vermeiden. Als Scharch danach in die DDR zurückkehrte, schickte man ihn zum Arzt und der empfahl ihm dringend eine Entziehungskur. Dieser Rat mißfiel Scharch und er wechselte nach Westberlin. Soviel zunächst zum Zeitpunkt seines Weggangs aus der DDR.
Als Radsportpräsident hatte er schon sechs Jahre zuvor einen "Verrat" arrangiert, von dem Krebs vermutlich nichts in den geheimen Akten fand, über die er sich aber mühelos in jedem Medien-Archiv hätte informieren können. Die Aktion hatte nämlich in der BRD für Schlagzeilen und Wutausbrüchen geführt.
1954 war der in der DDR ungemein populäre Straßenrennsport in eine Krise geraten. Die Friedensfahrtmannschaft mußte sich mit dem siebenten Platz abfinden und der beste DDR-Fahrer kam auf Rang 22. Während andere über neuen Trainingsplänen grübelten, fand Scharch einen schnellen Ausweg. Er reiste in die BRD und überredete dort die beiden führenden Straßenfahrer Emil Reinecke und Wolfgang Grupe in die DDR überzusiedeln und ein Studium an der Leipziger DHfK aufzunehmen. Er konnte ihnen eine ungewöhnliche Zusage machen: Die Hälfte ihres Stipendiums wurde in DM ausgezahlt. Angesichts der Devisenlage in der DDR dürfte klar sein, daß er für eine solche Aktion die Genehmigung des ZK, wenn nicht gar Walter Ulbrichts, benötigte. Dazu müßte man mit Sicherheit eine Akte im ZK-Archiv finden - vorausgesetzt, man sucht sie!
Die beiden Rennfahrer meldeten sich ordnungsgemäß bei ihrem Verband, dem BDR ab und danach beim Radsportverband der DDR an. Mit Brief vom 7. Februar 1955 baten sie um Aufnahme in
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die demokratische Sportbewegung. Ohne aufwendiges Aktenstudium ließe sich auch die Erklärung des BRD-Rad-sportverbandes finden, der damals wegen der "Abwerbung" der beiden Aktiven seinen Rennfahrern untersagte, fortan in der DDR zu starten, ein Verbot, das jedoch nicht lange aufrechterhalten wurde. Als "Der Radsportler" - Organ des DDR-Radsportverbandes - die Kandidaten für die Friedensfahrt 1955 vorstellte, zitierte er eine Erklärung der beiden: "Wir beide wollen nicht Soldat einer neuen faschistischen Armee werden, sondern wollen unsere sportlichen Entwicklungen weiterentwickeln. Wir wollen auch nicht in einem neuen Krieg sterben, sondern uns eine glückliche und friedliche Zukunft schaffen. Deshalb bitten wir in der Deutschen Demokratischen Republik leben und arbeiten zu dürfen." Autor dieser Erklärung war Scharch. Reinecke und Grupe fuhren 1955 in der Nationalmannschaft der DDR die Friedensfahrt. Sie belegten in der Einzelwertung die Plätze 20 und 37, verhalfen Täve Schur mit zum ersten Friedensfahrtsieg und errangen in der Gesamtwertung den Mannschaftssieg. Auch in der Mannschaft, die für die DDR 1955 an der Weltmeisterschaft in Frascati (Italien) teilnahm, fuhren Grupe und Reinecke.
Daß Hans-Dieter Krebs jetzt ausgerechnet Scharch vor der Enquete-Kommission als Kronzeugen dafür präsentiert, daß "er das verkappte Profitum der DDR-Radsportler bloßstellte", muß überraschen und offenbart die Methoden der Kommission.
Scharch brachte nach seinem Weggang aus der DDR sein Wissen über alle ihm bekannten DDR-Sportfunktionäre zu Papier und versah das Dokument mit einer ungewöhnlichen Widmung für Willi Daume. Dieses Dokument lag lange im Archiv des DSB in Frankfurt/Main. Neuerdings soll es sich dort allerdings nicht mehr befinden.
AUFTRITT IN MADRID
Krebs hätte auch gut daran getan, seinen Kronzeugen im Auge zu behalten. Er wurde nämlich vom NOK der BRD im Oktober 1965 mit einer Mission betraut, die ähnlich endete, wie seine früheren "Enthüllungen". In Madrid begann am 6. Oktober 1965 die 63. Session des Internationalen Olympischen Komitees, die auch über
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den Antrag zu befinden hatte, ob die DDR bei künftigen Spielen mit einer eigenen Mannschaft starten dürfte.
Allein die Tatsache, daß das IOC den Antrag behandeln wollte, hatte ihm beträchtliche politische Schelte aus Bonn eingetragen. Bundesminister Höcherl zwei Tage vor Eröffnung der Tagung im Fernsehen: "... es gibt gar keinen Zweifel, daß eine solche Anerkennung eine politische Anerkennung des Anerkennungswillens der Zone wäre..." Minister Mende: "Ich würde es für einen politischen Rückschlag halten, wenn in Madrid unsere Freunde und die Neutralen der kommunistischen Zweistaatentheorie Vorschub leisten würden" und IOC-Mitglied Willi Daume tadelte seine Kollegen in der gleichen Sendung schon im Voraus: "Leider... kann man von den meisten Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees einfach nicht erwarten, daß sie soviel politischen Weitblick haben..."
Diese Zitate sind wichtig, wenn man die Geschichte des DDR-Sports aufarbeiten will - allerdings nicht für Krebs und die Eppelmann-Kommission. Sie müßten nämlich eingestehen, daß die politische Instrumentalisierung des Sports - Kern der Anklage vor der Kommission - von Bonn mit weitaus größerem Eifer betrieben wurde, als von der DDR.
Zu sagen wäre noch, daß Daume - möglicherweise von anderen dazu gedrängt - Scharch nach Madrid fliegen ließ, damit er dort vor dem IOC "das verkappte Profitum der DDR-Radsportler bloßstellte."
Der damalige IOC-Präsident Avery Brundage (USA) lehnte es jedoch brüsk ab, Scharch vor dem IOC das Rederecht zu erteilen. Und ich könnte Herrn Krebs auch sagen, daß er diese Ablehnung sehr erregt vorbrachte und eine Mahnung wie "Keine Achtgroschenjungs hier!" artikulierte. Scharch mußte unverrichteterdinge wieder nach Hause fliegen. Im Verlauf dieser Session des IOC wurde bekanntlich die endgültige Anerkennung des NOK der DDR beschlossen. (Bis dahin galt die Anerkennung als "provisorisch".)
Bleiben wir bei dem Aspekt der Beziehungen zwischen der BRD und der DDR auf sportlichem Gebiet. Sie wurden eindeutig durch die Hallstein-Doktrin bestimmt.
Krebs leugnet das nicht, präsentierte aber seine besondere Sicht der Entwicklung: "Mit ihrer Strategie zwang die DDR... dem
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bundesdeutschen Sport und indirekt der Bundesregierung ständig neue Zugeständnisse ab... 1964 stellte die DDR die meisten Teilnehmer der letzten gemeinsamen Mannschaft für die Sommerspiele in Tokio. Damit übernahm erstmals Manfred Ewald die Leitung des Chef de Mission."
Natürlich konnte Ewald nicht die "Leitung des Chef de Mission" übernehmen, weil er es durch die Ergebnisse der Ausscheidungen selbst geworden war, aber selbst diese konfuse Formulierung hätte vor einer Kommission, die ernsthaft an der Aufarbeitung der Geschichte interessiert war, durch die Aufklärung ergänzt werden müssen, daß es die Idee des NOK der BRD war, den Chef-de-Mission-Posten zur Prestigefunktion zu deklarieren. Nie zuvor und nie danach hat die Funktion des Bürovorstehers der Olympiamannschaft eine derart gewichtige Rolle gespielt, wie in der sportpolitischen Auseinandersetzung beider deutscher Staaten. Krebs hätte sich die Mühe machen sollen, in heimischen Archiven nach den Ursprüngen zu suchen.
DIE INTERVENTION IN GENF
Da wäre er auch auf die Erklärung Konrad Adenauers vom 9. Juni 1961 gestoßen: "Ich bin der Meinung, daß kein deutscher Sportler an einer Veranstaltung teilnehmen kann, bei der - so wie jetzt - die Zonenflagge gezeigt wird. Auch die deutschen Sportler müssen wissen, daß sie erst einmal Deutsche und dann erst Sportler sind." Am 10. Dezember 1960 hatte Bundesinnenminister Gerhard Schröder auf dem Bundestag des DSB erklärt: "Aber weder die Herren in Pankow noch die von ihnen bestellten Funktionäre können für uns gleichberechtigte Partner sein."
Weder diese Erklärungen wurden zitiert noch das wohl überzeugendste Beispiel für die politische Instrumentalisierung des Sports in der BRD erwähnt. Es war ein spektakulärer Fall des Bekenntnisses des Sports zur Hallstein-Doktrin: Am 12. März 1961 - dieses Datum ist wichtig, weil es fünf Monate vor dem Bau der Mauer liegt, die später den Vorwand bot, um in einer konzertierten Aktion der NATO DDR-Athleten die Einreise in alle NATO-Länder zu verweigern - begab sich Willi Daume im Auftrag des Bonner Außenamts nach Genf und zwang dort die Eishockeymannschaft der BRD, auf ihr Spiel gegen die Mannschaft der DDR bei der
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Weltmeisterschaft zu verzichten. Vor dieser Weisung an die Aktiven versuchte Daume im Genfer Hotel "De Rhone" im Gespräch mit dem Präsidenten der Internationalen Eis-hockeyföderation Ahearne (England) eine Zusage zu erreichen, daß die BRD-Mannschaft nach einer möglichen Niederlage gegen die DDR vor der Siegerehrung das Eis verlassen dürfte. Ahearnes Antwort lautete: " Wenn Ihre Mannschaft nach dem Spiel das Eis verläßt, wird sie weder an den nächsten Weltmeisterschaften noch an den Olympischen Spielen 1964 in Innsbruck teilnehmen können." Daraufhin zwang Daume die Mannschaft auf das Spiel zu verzichten, weil er strikte Order hatte, zu verhindern, daß sich BRD-Eishockeyspieler nach einer möglichen Niederlage gegen die DDR die Hymne des Siegers anhören. Krebs hat an einigen Stellen klugerweise empfohlen, weitere Unterschungen abzuwarten, ehe man zu endgültigen Schlüssen gelange. Dem ist nur zuzustimmen. Und als mahnender Hinweis sei vielleicht ein selten erwähnter Briefwechsel aus dem Jahre 1963 zu nennen.
EINSPRUCH AUS ÖSTERREICH
Es ist ein Briefwechsel zwischen dem Volleyballverband der BRD und dem österreichischen aus dem Jahre 1963(!)
Er begann mit einem Schreiben des westdeutschen Verbandes an den österreichischen: "Mit Befremden nehmen wir davon Kenntnis, daß Sie in Ihrem Mitteilungsblatt die sowjetische Besatzungszone als 'DDR' bezeichnen. Wir wenden uns dagegen... Nehmen Sie diesen Hinweis zur Kenntnis und benutzen Sie In Ihren offiziellen Mitteilungen die Bezeichnung 'Sowjetische Besatzungszone'. Damit dokumentieren Sie Ihre Zugehörigkeit zum freien Teil der Welt. Wenn Sie aber glauben, Gründe zu haben, unserer Bitte nicht nachkommen zu können, wären wir Ihnen für eine offizielle Erklärung dankbar."
Der Österreichische Volleyballverband antwortete darauf: "Dieses Problem haben wir im Vorstand diskutiert, und der ist einmütig der Meinung, daß Ihr Schreiben nicht nur zur unpassenden Zeit gekommen ist. Unser Land gedachte gerade jetzt des 25. Jahresta-ges der Besetzung Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland, wobei auch damals der österreichische Sport liquidiert wurde. Und gerade jetzt sollen wir schon wieder
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Anweisungen erhalten, die unserer Souveränitäts- und Neutrali-tätsauffassung widersprechen. Unser Osterreichischer Volleyballverband ist laut Statuten überparteilich und bekennt sich zur österreichischen Nation. Er ist seit dem Jahre 1953 Mitglied des internationalen Volleyballverbandes. Wir pflegen mit allen Mitgliedern dieses Verbandes den Sportverkehr und auch freundschaftliche Beziehungen. Dies auch mit Ihrem Verband, aber auch mit dem Volleyballverband der Deutschen Demokratischen Republik. Gerade dieser hat uns in der Zeit des Aufbaus sehr wert-volle Hilfe geleistet. Zahlreiche sportliche Begegnungen, verbands- und vereinsmäßig, haben die Freundschaft mit dem vorgenannten Verband fester gebunden, wie es eben unter Sportlern, die internationalen Verkehr pflegen, üblich ist.
Alle unsere österreichischen Volleyballer, ohne Unterschied der Parteizugehörigkeit, wissen diese Freundschaften und auch das beispielhafte sportliche Niveau der DDR-Sportler zu schätzen. Übrigens nicht nur wir, sondern fast die gesamten österreichischen Sportverbände pflegen immer mehr, besonders in den letzten Jahren, den Sportverkehr mit der DDR. Als Rechtswahrer Ihres Verbandes müssen Sie wissen, daß wir alle dem gleichen Internationalen Volleyballverband angehören. Und unsere Vertreter als auch die Vertreter der Deutschen Demokratischen Republik haben für die Aufnahme Ihres Verbandes gestimmt. Was soll das Schreiben also bedeuten? Soll dies ein Rückfall in die Zeit sein, die uns Sportlern in Österreich unrühmlichst bekannt ist? Der Vorstand des österreichischen Volleyballverbandes ist daher einstimmig der Meinung, daß wir Ihre politischen Auslassungen und Anweisungen keinesfalls zur Kenntnis nehmen können und halten diese für den Sport und für die internationale Freundschaft der Sportler unangebracht. Gleichzeitig stehen diese auch im Widerspruch zu den Statuten und Auffassungen des Internationalen Volley-ballverbandes.
Mit sportlichen Grüßen
gez. Rudolf Hautmann,
Präsident
NS.:Um weitere Mißverständnisse zu vermeiden, wurde je eine Ab-schrift Ihres und unseres Schreibens an den Internationalen Volley-ballverband sowie an den Volleyballverband der DDR zur Kenntnis-nahme übermittelt."
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Wurde Dr. Willibald Gebhardt ein Opfer seines Friedensengagements?
Von HELMUTH WESTPHAL
Dieser Beitrag wurde 1989 - im Vorfeld der Olympiabewerbung Berlins - von Prof. Lämmer beim Autor für die Zeitschrift "Stadion" in Auftrag gegeben. 1991 schickte man ihn mit dem Hinweis zurück, daß er "so nicht brauchbar" sei. Die Redaktion fügte jetzt Zwischenzeilen ein.
Es ist sicher berechtigt, wenn Berlin im Spannungsfeld zwischen politischer Konfrontation und Entspannung einen Symbolwert zu-gesprochen bekommt... Berlin hat eine olympische Traditionslinie, die ihren Ursprung in der Friedensliebe, der Völkerfreundschaft und dem internationalen Kulturpluralismus der verschiedensten Berliner Volksschichten. Verkörpert ist diese Tradition in dem Bestreben des Naturwissenschaftlers, Unternehmers und Sportfunktionärs Dr. Willibald Gebhardt, Ende das 19. Jahrhunderts die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen gegen den Widerstand etablierter deutschnationaler Turn- und Sportorganisationen durchzusetzen und später die olympische Bewegung als Trägerin der Ideen des Friedens und der Völkerfreundschaft zu profilieren. Gebhardts Werk ist international kaum und national nur Insidern bekannt. Dieser Umstand findet folgende Erklärung: Die damaligen sportpolitischen Umstände gewährten Gebhardt nur eine Frist von ca. zehn Jahren der Funktionärstätigkeit innerhalb der deutschen olympischen Strukturen. In dieser Zeit fand er nur geringe Möglich-keiten für eine sportpublizistische Tätigkeit. Von der nationalen Journalistik wurde er weitgehend geschnitten oder wegen seines Internationalismus verunglimpft. Und die spätere deutsche Sport-geschichtsschreibung bis zum Jahre 1945 vermied es, das Friedensengagement Gebhardts zu würdigen. Erst nach dem Zusammenbruch der faschistischen Herrschaft in Deutschland, als es die politischen Voraussetzungen erlaubten, im deutschen Sport das Wertesystem auf Frieden und Völkerfreundschaft auszurichten,
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danach Programmatik und Praxis zu gestalten, gab es in beiden deutschen Staaten Versuche zur Aufarbeitung des Werkes von Dr. W. Gebhardt.
Solche setzten Mitte der sechziger Jahre ein. Methodologische Unterschiede führten zu verschiedenen inhaltlichen Diktionen. In der DDR fußten die Untersuchungen auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus. Sie folgten dem politischen Pragmatismus, Lehren aus den Tragödien der deutschen Körperkultur zu ziehen und den Mißbrauch jeder Leibeserziehung für imperialistische Kriege zu verhindern. Es war besonders sein Bekenntnis zum Frieden und zur Völker-freundschaft, weshalb Gebhardts Werk in der Erberezeption der DDR einen festen Platz fand. Eine gewisse Einschränkung ist den-noch angebracht, nämlich insofern, als er in der praktischen Traditionspflege der Sportbewegung nie die Publizität revolutionärer Sportler wie Seelenbinder, Grube, Plache u. a. fand.
Die Friedensorientierung war in der Sportwissenschaft der DDR nicht taktischer, sondern prinzipieller Natur. Sie entsprach nicht nur der Überzeugung der damals noch jungen Sporthistoriker, sondern objektiv den Sehnsüchten aller Turner und Sportler der DDR. Wo die Grenzen ihrer tatsächlichen politischen Wirksamkeit lagen, wurde deutlich, als diese Sportbewegung keine Alternativpositionen zu den Aggressionen des Warschauer Paktes fand. In dieser Hilflosigkeit teilte sie das Schicksal deutscher Kör-perkulturorganisationen frührer Jahrzehnte.
In der BRD wirkten nach dem Zweiten Weltkrieg im Sport mit großem Einfluß Männer wie Diem, Ritter von Halt, Guido von Mengden u. a., die für die Tragödien des deutschen Sportes mit Verantwortung getragen hatten. Diem, der sich in vier Regimen stets auf die Seite der Nationalkonservativen geschlagen hatte, nahm im sozialpolitischen Sektor der westdeutschen Sportwissenschaft den Platz eines Nestors ein. Es muß einer anderen Recherche überlassen bleiben, um herauszufinden, ob die Aufarbeitung der Vergangenheit des deutschen Sports dadurch beeinträchtigt wurde und es Reflexionen in den ersten Gebhardt-Bildern gab, die in den sechziger und siebziger Jahren gezeichnet wurden. Einstweilen fällt auf, daß Gebhardts Verdienste zwar erfaßt und auch gewürdigt wurden, jedoch die Frage ausgespart
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blieb, die sich aus seiner kritischen Stellung zur chauvinistischen Profilierung der deutschen Olympiakomitees aufdrängte.
Es lag doch geradezu auf der Hand, sich dafür zu interessieren, ob der friedensengagierte Gebhardt ein Opfer der Aus-einandersetzungen mit Männern geworden ist, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges im Bereich von Turnen und Sport eine Politik repräsentierten, die ohne Völkerverhetzung und Kriegs-verherrlichung nicht auskaum.
Natürlich konnte es zu einer solchen Fragestellung erst kommen, nachdem genügend Untersuchungeresultate vorlagen. Damit ließ sich die deutsche Sportgeschichtsschreibung Zeit. In Stan-dardwerken, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Geschichte der Körperkultur herauskamen, fielen die Aussagen über Gebhardt zunächst sehr dürftig aus. Von den Autoren der Monografie "Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur in Deutschland seit 1800" werden die Initiativen Gebhardts zur Durchsetzung einer Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen wertungsfrei dargestellt, ohne sein Schicksal als Sportfunktionär weiter zu verfolgen.1) Auch Saurbier erwähnt in seiner "Geschichte der Leibesübungen" das Wirken Gebhardts nur kurz. 2) Etwa zehn Jahre später kamen die Autoren des Bandes II der "Geschichte der Körperkultur in Deutschland 1789 - 1917" inhaltlich über den "Kurzen Abriß" nicht nennenswert hinaus 3), jedoch boten sie eine Wertschätzung an, die später erlaubte, Gebhardts Wirken in die Traditionssubstanz des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR aufzunehmen. Diese Wertschätzung stimulierte nähere Untersuchungen. Von ihr ließen sich Fiebelkorn und Westphal leiten, als sie in ihrem Buch "Die Olympischen Spiele von Athen bis Mexiko-Stadt" Gebhardts olympischen Weg von 1895 bis 1909 verfolgten.4) Obschon in den einzelnen Kapiteln auf den zunehmenden Einfluß nationalistischer Kräfte auf das deutsche Olympiakomitee verwiesen wurde, gingen die Autoren nicht der Frage nach, ob Gebhardt von politischen Gegenspielern ent-machtet wurde. Auch in den verdienstvollen Artikeln, die Liselott Diem und Karl Adolf Scherer bereits drei Jahre früher veröffentlicht hatten. spielte eine solche Erwägung noch keine Rolle.5)
Erst in der zweiten Auflage der "Geschichte der Körperkultur in Deutschland 1789 - 1917", die im Jahre 1973 erschien, wird von
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der "Ausschaltung" Gebhardts gesprochen, 6) nachdem Ullrich und Westphal Nachforschungen angestellt hatten. Ullrich veröffentlichte seine Erkenntnisse 1968 in der Schrift "Olympia und die Deutschen", in der die ersten sechs Kapitel auf Dr. W. Gebhardt spezieller eingehen. Obschon die Quellennachweise fehlen, kann davon ausgegangen werden, daß die angeführten Fakten ver-läßlichen Dokumenten und gedrucktem Schriftgut gewissenhaft entnommen worden sind und sich auch nachträglich nachweisen lassen. Ullrich folgt der Meinung bereits genannter Autoren, wo-nach Dr. W. Gebhardt der olympische Pionier in Deutschland war, der in harter Auseinandersetzung mit den konservativen nationalistischen Kräften der deutschen Körperkultur die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen durchsetzen mußte und schlußfolgert dann, daß der Begründer des deutschen Olympiakomitees wegen seines Friedensengagements von seinen Gegenspielern mit Gewalt zum Rücktritt gezwungen wurde.7) Diese Annahme lag nach den bis dahin bekannten Fakten nahe, ließ sich aber nicht hinreichend dokumentarisch beweisen. Stärker untermauert wurde dann diese Version durch den im gleichen Jahre von Westphal veröffentlichten Artikel "Dr. W. Gebhardt - ein Vorkämpfer des modernen Olympismus in Deutschland".8) In diesem Beitrag griff der Autor auf Dokumente des Auswärtigen Amtes der Weimarer Republik zurück, die bis dahin in der Sportgeschichtsschreibung unbekannt waren. In einem an diese Dienststelle gerichteten Brief vom 15. Mai 1920 äußerte sich Gebhardt recht eindeutig. daß er vom damaligen Reichsausschuß für Olympische Spiele "bei Seite geschoben" wurde.9) Allerdings sind damit die Gründe nicht genannt worden. Es fehlt bis heute der Beleg dafür, daß die führenden Reprä-sentanten des damaligen Olypiakomitees Gebhardt seiner sport-politischen Ideen wegen verdrängten.
POLITISCHE GRÜNDE HINTER ÖKONOMISCHEN?
So erklärt es sich, weshalb Hamer in den von ihm verfaßten Gebhardt-Schriften auch nach anderen Gründen Ausschau hält. Hamer neigt stärker dazu, wirtschaftliche Gründe geltend zu machen, indem er sich auf unveröffentlichte Aufzeichnungen
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Diems beruft.10) Wären es denn solche gewesen, drängt sich sofort die Frage auf, wodurch Gebhardt in eine wirtschaftliche Notlage geraten sein könnte. Bei der Beantwortung dieser Frage muß davon ausgegangen werden, daß er darum bemüht war, das deutsche Olympiakomitee als eine juristische Permanentkörperschaft mit einem festen Haushalt einzurichten. Das gelang ihm im Jahre 1905. Er konnte mit Staatszuschüssen und Sponsor-Einnahmen rechnen, wodurch es möglich war, die notwendige Administration zu finanzieren und damit auch einen Teil seines Lebensunterhalts zu sichern. Ob die möglichen Zu-wendungen seinen Ansprüchen gerecht wurden, muß allerdings dahingestellt bleiben. In der von Lennartz veröffentlichten "Geschichte des Deutschen Reichsausschusses für Olympische Spiele" lassen sich darüber keine weiteren Aufschlüsse finden. Ebenso enthalten die von Koebsel im Jahre 1970 herausgegebenen "Dokumente zur Frühgeschichte der Olym-pischen Spiele" und der von Scherer verfaßte Titel "75 Olympische Jahre NOK für Deutschland" keine Spuren zur definitiven Beantwortung der aufgeworfenen Frage.12)
So wertvoll gerade die in den letztgenannten Schriften aufgeführten oder auch ausgewerteten Dokumente und Quellen für die Kennzeichnung der Rolle Dr. W. Gebhardts sind, so bedauerlich ist es, daß weitere Belege, die zu jener Zeit schon bekannt waren und maßgeblich geeignet sind, das Gesamtbild Gebhardts stärker zu konturieren, unberücksichtigt geblieben sind. Zumindest hätte die Auswertung der Korrespondenz, die Gebhardt nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Auswärtigen Amt geführt hat, Anlaß gegeben, die besonders durch Diems unveröffentlichte Aufzeichnungen ins Spiel gebrachte ökonomische Variante stärker zu hinterfragen, denn schließlich hatten die nationalkonservativen Repräsentanten des Olympiakomitees durchaus die Möglichkeit, mit fadenscheinigen Argumenten das Honorar für die Geschäftsführung gewollt so niedrig zu halten, daß Gebhardt keine andere Wahl blieb als zu demissionieren. Hätte es sich so zu-getragen, dann könnte die Sportgeschichtsschreibung nicht ausschließen, daß sich hinter den ökonomischen Gründen politische verbargen. Anlaß zur Verdächtigung von Diems unveröffentlichten Aufzeichnungen gab es allemal, zumal Gebhardt in einem Brief an Diem selbst darauf verwiesen hatte, daß es für
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seinen Rücktritt Gründe "mannigfacher Art" gegeben habe.13) Allein dieser Hinweis wäre Grund genug gewesen, alle bekannten Quellen zu nutzen. Weshalb wichtige davon ignoriert wurden, können nur die Autoren selbst zuverlässig erklären.
Auch in den von Hamer, Lennartz und Koebsel herausgegebenen Publikationen wird das sportpolitische Credo Gebhardts deutlich, nämlich den Sport in den Dienst der Völkerfreundschaft und des Friedens zu stellen. Als Westphal dann im Jahre 1985 seinen Beitrag "Der Friedensgedanke im Kampf Dr. W. Gebhardts für die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen" veröffentlichte, wußte er sich in der Grundaussage mit den Autoren der genannten Schriften in Übereinstimmung, daß Gebhardt zu jener Zeit in Deutschland der redlichste Verfechter der olympischen Idee war.14) Pharisäertum war ihm fremd. Tatsächlich verfocht er seine Friedensidee auch mit der Leidenschaft eines fest überzeugten Menschen. Deshalb muß er noch kein "fanatischer Propagandist" gewesen sein, wie es Scherer erkannt zu haben glaubte.15) Unbestritten ist, und darin sind sich alle Autoren einig: Sein Bekenntnis zu Frieden und Völkerfreundschaft war nicht taktischer und somit temporärer, sondern prinzipieller und stabiler Natur und das in einer Zeit, als nach philosophischer Lesart der Krieg noch als Mittel der Politik abgesegnet wurde. Dadurch hob sich Gebhardt von anderen maßgebenden Führern der bürger-lichen deutschen Körperkultur jener Zeit ab. Es muß anderen Untersuchungen überlassen bleiben, von welcher pragmatischen Position aus Hamer insbesondere das diplomatische Geschick Gebhardts relativiert, wenn er meint: "Man könnte nämlich zu manchen Punkten zu seinem Einsatzwillen und seiner olympischen Aktivität kritisch die Frage stellen, ob er sich nicht zu unreflektiert und zu vorurteilsfrei für seine große Idee der friedlichen An-näherung der Völker durch den Sport eingesetzt hat." 16)
Trotz seiner Leidenschaftlichkeit besaß Gebhardt auch taktische Fähigkeiten. Wie weit sie reichten, muß dahingestellt bleiben. Scherer bescheinigt ihm jedenfalls einen "Blick für Realitäten".17) Sie bewogen ihn aber nicht zur Aufgabe seiner Ziele. Wenn ausgerechnet der Mann, dessen humanistischer Internationalismus in Wort und Tat unmißverständlich zum Ausdruck kam, kalt gestellt wurde, verwundert es nicht, wenn die Suche nach den
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tatsächlichen Gründen nicht aufgegeben wurde. Westphal hat des-halb in seinem letzten Beitrag einen neuen Ansatz in der Staatsstreichpolitik der Männer um Wilhelm II. gesucht und damit den allgemeinen politischen Kontext, der in den bisher genannten Publikationen mehr oder weniger stark vernachlässigt wurde etwas aufgehellt.18) In dieser Hinsicht ist aber noch mehr Licht vonnöten, denn Oberflächlichkeiten begünstigen geradezu Fehldeutungen oder erlauben bestenfalls Halbwahrheiten.
In jüngster Zeit hat sich Ullrich noch einmal mit dem Wirken Gebhardts befaßt, die bekannten Fakten genutzt, neue hinzu-gefügt, interessante Deutungen und Kombinationen vorgestellt und so das Manuskript einer journalistischen Gebhardt-Biografie verfaßt.19) Dieses Manuskript bildet die umfassendste Darstellung des Schaffens von Dr. W. Gebhardt. Gerade die neuen Fakten und Deutungen sind es, die wiederum die Frage nach den Gründen für die Ausschaltung Gebhardts aufwerfen, die zumindest die Berechtigung dieser Frage einmal mehr beweisen. Und wenn Ull-rich sogar die Vermutung äußert, daß Dokumente aus dem Verkehr gezogen wurden, um der Nachwelt die Beantwortung der Frage zu erschweren, 20) so muß einem Journalisten dazu das Recht eingeräumt werden, zumal die Lücke in der Korrespondenz, die Gebhardt mit Coubertin führte, sofort ins Auge fällt. Es ist tatsächlich unwahrscheinlich, daß Gebhardt darauf verzichtet hat, Coubertin die Gründe für das Ausscheiden aus der Füh-rungsposition im deutschen Olympiakomitee mitzuteilen, unwahrscheinlich auch deshalb, weil er nach seinem Rücktritt als Schriftführer Mitglied des Deutschen Reichsausschusses und des Internationalen Komitees blieb. Gebhardt war nicht der Mann, der mit sich umspringen ließ und kontemplativ blieb. Er hatte auch den Ehrgeiz, als Sportführer Verantwortung zu tragen und neigte dazu, in Auseinandersetzungen sich kämpferisch zu verteidigen. Es verwundert deshalb nicht, wenn danach gefragt wird, ob er sich wegen seiner Absetzung nicht auch schriftlich geäußert haben könnte. Zumindest hat es mit sportlichen Körperschaften darüber eine Korrespondenz gegeben, denn im Jahre 1920 war er bereit, dem Auswärtigen Amt darin Einblick zu gewähren. Nach seiner Darstellung handelte es sich ausdrücklich um Material, das Aus-kunft darüber gab, wodurch er verdrängt worden sei.21)
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Bestimmt müßte es doch in den Unterlagen des Deutschen Reichs-ausschusses für Olympische Spiele ein Dokument darüber ge-geben haben. Trotz solcher Mutmaßungen muß eindeutig fest-gestellt werden: Es gibt derzeit kein unwiderlegbares Indiz dafür, daß Dokumente über den Grund des Ausscheidens aus dem DRA mit Vorbedacht liquidiert worden sind; schließlich können sie auch verloren gegangen sein oder noch irgendwo unentdeckt schlummern.
Die Suche nach den Gründen für die Ausschaltung Gebhardts wird fortgesetzt. Dabei kann die Beantwortung der Frage hilfreich sein, ob Gebhardt seines kulturpolitischen, sozialen, sportlichen und politischen Profils wegen überhaupt prädestiniert war, eine Führungsposition in einer nationalkonservativen Körperschaft zu bekleiden, in die sich das deutsche Olympiakomitee von 1900 verwandelt hatte. In einigen der erwähnten Publikationen hat es Ansätze der Beantwortung gegeben.
Die folgenden Passagen verfolgen die Absicht, diesen Ansätzen weiter nachzugehen.
DER "AUSSENSEITER"
Gebhardt war in mehrfacher Hinsicht vom Standpunkt des deutsch-nationalen Konservatismus aus ein Außenseiter. Er bewahrte sich vor der Deutschtümelei der Deutschen Turnerschaft und des Zentralausschusses für Volks- und Jugendspiele. Körperkulturkonzepten anderer Völker gegenüber war er stets aufgeschlossen. So akzeptierte er Sportarten und deren Be-triebsweisen, die ihren Ursprung nicht in Deutschland hatten. Auch das individuelle Leistungsstreben, wie es vor allem der englische Sport hervorgebracht hatte, fand seine Billigung. Insbesondere durch die von ihm im Jahre 1895 initiierte Sportausstellung in Berlin förderte er die Verbreitung des durch Wettkampf und Rekordstreben gekennzeichneten Sportgedankens. Somit half er Berlin und dem Reich eine internationale Sicht der Körperkultur zu vermitteln und die nationale Borniertheit zu überwinden respektive zurückzudrängen. Für dieses internationale Engagement erntete er die Verdammung durch die Deutsche Turnerschaft, den Zentral-ausschuß und andere konservative Körperschaften der deutschen Körperkultur.
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Wurde ihm schon dieser Internationalismus angelastet, so wirkte sich natürlich sein Werdegang als Funktionär der deutschen Körperkultur nicht gerade positiv aus. Er stammte eben nicht aus der großen Deutschen Turnerschaft oder der Bewegung zur Förderung der Volks- und Jugendspiele. Solche gestandenen Männer wie Götz und von Schenkendorf mußten es als eine Zumutung empfinden, ihre Werke den Zielen eines Gebhardt auszuliefern, der nach ihrem Verständnis nur ein Emporkömmling sein konnte. Dessen negatives Image im konservativen Lager der deutschen Körperkultur wurde durch seinen Versuch, mit dem Kolonialpolitiker Dr. Karl Peters zusammen einen "Deutschen Bund für Sport, Spiel und Turnen" zu bilden, eher gestärkt als abgeschwächt, denn warum sollte gerade ein Mann die Führung eines Dachverbandes der deutschen Körperkultur übernehmen, der keine eigene große Gefolgschaft einzubringen hatte und als Fechtsportler eine Randgruppe repräsentierte. Außerdem war der von ihm gewonnene Kooperationspartner Dr. Karl Peters wegen seiner Affären im deutschen Kolonialdienst umstritten und nicht geeignet, ungeteiltes Vertrauen in den neugegründeten Bund zu setzen. So scheint es, als fehlte es Gebhardt zuweilen doch am nötigen sportpolitischen Fingerspitzengefühl und der Fähigkeit zur treffenden Analyse von Realitäten. An Unternehmungsgeist mangelte es ihm jedoch nicht.
Außenseiter war Gebhardt auch seiner sozialen Stellung wegen. Das von seinem Vater geerbte kleine Vermögen und seine Ein-künfte aus eigener Unternehmertätigkeit (Anstalt für Lichttherapie in Berlin und Vermarktung von Genußmittelpatenten in den USA) sicherten ihm nur einen bescheidenen Lebensstandard. Der Zugang zum kostspieligen gesellschaftlichen Leben der Hofkamarilla und des wohlhabenden Bürgertums blieb ihm ver-sperrt. Seiner sozialen Lage wegen hatte Gebhardt kaum eine Möglichkeit, in die politischen, militärischen, ökonomischen und kulturellen Führungskreise des Kaiserreiches aufgenommen zu werden. In diesen Kreisen wurde Gebhardt erst bekannt, als der griechische Botschafter Rangabé in Deutschland eine Persönlichkeit suchte, die sich anbot, die Beteiligung deutscher Sportler an den Olympischen Spielen 1896 in Athen zu organisieren. Rangabé hatte keine andere Wahl, denn in Berlin, dem politischen und kulturellen Zentrum des deutschen Reiches,
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fand sich kein anderer Führer der deutschen Körperkultur, der es gewagt hätte, sich für die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen einzusetzen. Rangabé handelte im Auftrage dynastischer Familienbeziehungen und spezifischer politischer Zielsetzungen des griechischen Königshauses, wodurch sich auch Wilhelm II. kurzfristig damit befassen mußte.
Obschon die großen deutschen Vereinigungen der Körperkultur mit Vehemenz Front gegen die Beteiligung an den Olympischen Spielen machten, konnte die damalige Reichsregierung unter dem greisen Hohenlohe-Schillingfürst nicht umhin, die Arbeiten Gebhardts zur Aufstellung einer Olympiamannschaft zu dulden. Zweifellos verhielt sie sich nicht nur kontemplativ gegenüber den Vorbereitungen, denn immerhin übernahm der Sohn des Reichskanzlers die Schirmherrschaft über das von Gebhardt gegründete Komitee. Gebhardt war die Seele des Komitees, der Inspirator von Plänen und unermüdliche Organisator, war mehr als eine Art Generalsekretär. Der Sohn des Reichskanzlers spielte eher die Rolle einer Symbolfigur, durch die das Komitee politisch abgesegnet war. Ob es überhaupt substantielle Beratungen zwischen ihm und Gebhardt gegeben hat, ist derzeit nicht zu klären. Das soziale Gefälle zwischen Gebhardt und dem Sohn eines Fürstengeschlechtes war im konkreten Falle beträchtlich. Ein solches Verhältnis konnte nur solange hingenommen werden, wie es dem Schirmherren möglich war, zur praktischen Arbeit des Komitees auf Distanz zu bleiben. Andererseits war es Gebhardt möglich, unter diesen Umständen als sozialer Außenseiter die Rolle des Managers voll wahrzunehmen.
Seine Außenseiterposition wegen seiner Stellung zum sportlichen Internationalismus, seiner Herkunft als Sportfunktionär und seiner sozialen Verhältnisse hätte sich zweifellos durch seine Ergebenheit gegenüber der von den Herrschenden betriebenen expansiven Politik kompensieren lassen. Aber wie stand es damit? Gebhardt war zu jener Zeit mit seinem Bekenntnis für Frieden und Völkerverständigung unzweideutig. Von diesem Anliegen ging die eigentliche Triebkraft zur Gründung seines Komitees aus. Angesichts der nationalistischen Stimmung, für die der Alldeutsche Verband als mächtige Propagandaorganisation in deutschen Landen, somit auch in den bürgerlichen Turn- und Sportorganisationen, gesorgt hatte, mußte Gebhardts Initiative mit
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seiner internationalistischen Zielstellung zwangsläufig des Verrats nationaler Würde bezichtigt werden.
Es ist einstweilen keine Quelle bekannt, aus der hervorgehen könnte, welche Gründe den Sohn des Reichskanzlers bewogen haben, die Schirmherrschaft für ein Komitee zu übernehmen, an dessen Spitze Gebhardt mit seinem sportpolitischen Profil stand. Der Sohn des Reichskanzlers konnte es sich seiner politischen und sozialen Stellung wegen nicht leisten, ohne ein gründliches Studium der Ziele dieses Komitees und der Ansichten seines führenden Kopfes die Schirmherrschaft zu übernehmen. Von der Warte der damaligen Regierungspolitik aus, die vom Monarchen beargwöhnt wurde, war es ihm noch möglich, denn sein Vater verzichtete als Reichskanzler zu jener Zeit noch auf eine extreme internationale Konfrontation. Die Übernahme der Schirmherrschaft war somit ein Ausdruck dieser Politik, die auch durch Tendenzen der internationalen Zurückhaltung und des Ausgleichs gekennzeichnet war. Von einem launischen Zufall kann kaum die Rede sein, wenn nach der Entmachtung des Reichskanzlers im Jahre 1897 dessen Sohn sich von Gebhardts Unternehmen zurückzog und dieser deshalb gezwungen wurde, sich nach neuen Repräsentanten umzusehen. Wieder mußten es Männer sein, die ihres politischen Ansehens wegen geeignet waren, die Duldung oder Unterstützung amtlicher Stellen zu sichern, die entweder den politischen Umsturz mit aktiv befördert hatten oder sich darauf einstellten, den neuen Erwartungen der Obrigkeit gerecht zu werden. Der Staatsstreich des Jahres 1897 war durch die Mißachtung des politischen Kräfteverhältnisses im Reichstag zur Forcierung der militärischen Aufrüstung, der nationalistischen Manipulierung des Volkes und der internationalen Konfrontation gekennzeichnet. Zwar blieb Schillingfürst zunächst Reichskanzler, aber auf die grundlegenden Entscheidungen hatte er keinen Einfluß mehr. Zum eigentlichen Vollstrecker der neuen Politik avancierte Fürst Bernhardt von Bülow in seiner Eigenschaft als Außenminister und ab 1900 als Reichskanzler. Durch ihn erlangten Wilhelm Il. und seine Hintermänner einen großen Einfluß auf die Innen- und Außenpolitik des Deutschen Reiches, die auch um die Vorbereitungen zur Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen des Jahres 1900 keinen Bogen machte. An der Spitze des Vorbereitungskomitees tauchten neue Männer auf. Die Leitung
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übernahm Prinz Aribert von Anhalt. Sein Stellvertreter wurde Prinz Eduard zu Salm-Horstmar, der als ehemaliger Kommandeur der 1. Kavalleriebrigade, Generalmajor, Angehöriger des Kaiserlichen Stabes und späterer Generaladjudant des Kaisers enge Beziehungen zum preußischdeutschen Hof unterhielt. Gebhardt übernahm die Funktion des ersten Schriftführers, etwa eines Generalsekretärs, dem ein zweiter Schriftführer zur Seite stand. Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees blieb er, aber neben ihm rückte nunmehr Salm-Horstmar in dieses Komitee auf, woran insbesondere Coubertin interessiert war, um das öffentliche Ansehen seines Unternehmens zu stärken. Aber auch Gebhardt hatte im nationalen Maßstab keine andere Wahl, wollte er sich die Gunst der Mächtigen sichern. So erklärt es sich, daß nach den Olympischen Spielen des Jahres 1904, als auf Betreiben Gebhardts das deutsche Olympiakomitee in eine Perma-nentkörperschaft umgebildet worden war, die führenden Persönlichkeiten wiederum aus der Generalität kamen. Kavalleriegeneral Graf von Wartensleben übernahm das Amt des Präsidenten und Kavalleriegeneral Graf von der Asseburg das des Vizepräsidenten. Über diese Männer bekam die Staatsstreichpartei Einfluß auf die sportpolitische Profilierung des deutschen Olympiakomitees. Offenkundig wurde dieser Einfluß bereits mit dem Aufruf des deutschen Olympiakomitees zur Teilnahme an den Olympischen Spielen 1900 in Paris. In ihm war davon die Rede, mit der Olympiabeteiligung die Machtstellung Deutschlands demonstrieren zu wollen. 22) Eine solche Diktion entsprach nicht Gebhardts Intentionen. Sie war aber geeignet, den Widerstand des nationalistischen Lagers der deutschen Körperkultur gegenüber den Olympischen Spielen zu mindern oder sogar zu liquidieren. Gebhardt hatte die Völkerfreundschaft und die Festigung des Friedens im Auge.
Den maßgebenden Männern des deutschen Olympiakomitees hin-gegen ging es um ein Hegemonialstreben. Hier wird ein Wider-spruch deutlich, mit der die internationale olympische Bewegung leben mußte und den sie bis heute nicht total überwinden konnte. Damals wurde besonders in Europa der Krieg als Mittel der Politik von den nach Territorialansprüchen strebenden Mächten bewußt in Anspruch genommen. Dazu gehörte der gegen andere Völker gerichtete Chauvinismus. So existierte eine imperialistische
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Konfrontationspolitik, die sich an der Schwelle zum 20. Jahrhun-dert trotz gelegentlicher Friedensbeteuerungen der Herrschenden immer weiter zuspitzte. Objektiv stand der unverfälschte Olympismus mit seinem Friedensgehalt im Gegensatz zu dieser politischen Dynamik, denn seine Begründer verstanden ihn programmatisch als kulturpolitische Kraft, die gegen die Völkerverhetzung und den Krieg gerichtet sein sollte. Seine Existenz hing davon ab, wie er unter den Völkern verwurzelt werden konnte. Zwangsläufig geriet er stark in Bedrängnis, als der Chauvinismus, geschürt von konservativen Kräften der verschiedenen Länder, immer mehr an Boden gewann. Er stand vor der tragischen Alternative, sich an der Seite der kleinbürgerlichen und proletarischen Friedensbewegung als Friedenskraft weiter zu artikulieren, jedoch gesellschaftlich ins Abseits zu geraten, oder auf eine solche Artikulierung zu verzichten, dafür ein gewisses Wohlwollen der staatlichen Obrigkeit in Anspruch zu nehmen und darauf zu spekulieren, daß die Praxis der Olympischen Spiele die Rolle des trojanischen Pferdes spielen und hinter dem Rücken der Kriegstreiber in aller Stille die Freund-schaft der Völker stärken würde. Wohl abgewogen werden mußte diese Entscheidung auch, weil sich die olympische Bewegung gerade erst in den Anfängen befand und immer wieder zu zer-brechen drohte. Eine klare politische Konfrontation mit den herrschenden politischen Strukturen hätte die Abhaltung Olympischer Spiele und die Entfaltung der olympischen Bewegung in solchen Ländern wie Deutschland und Frankreich zumindest erschwert, wenn nicht sogar unterbunden, wodurch der Zu-sammenbruch des von Coubertin initiierten Unternehmens verursacht worden wäre. Auf jeden Fall hätte in Deutschland mit einem solchen Ausgang gerechnet werden müssen. Um dem zu-vorzukommen, blieb auch einem Manne wie Gebhardt nichts anderes übrig, als sich mit Angehörigen der Hofkamarilla einzulassen, die politisch dem Herrscherhaus hörig waren und deshalb auch versuchten, der nationalen olympischen Bewegung in Deutschland eine Richtung zu geben, die der Gründungsidee zuwiderlief. Mit diesem Widerspruch hatten es auch andere Länder zu tun, wenn er auch gemäß den nationalen Besonderheiten unterschiedlich ausgeprägt war. In seinem Grundmuster wohnte er der gesamten olympischen Bewegung jener Zeit inne. So erklärt
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sich auch, weshalb sich Coubertin vor Gebhardts Forderung hütete, allen IOC-Mitgliedern ein Friedensbekenntnis abzufordern, obwohl er sich selbst in öffentlichen Verlautbarungen immer wieder zu Frieden und Völkerverständigung bekannte.23) Wer sich dadurch brüskiert fühlte, brauchte nicht im Internationalen Olympischen Komitee zu bleiben. Andererseits duldete Coubertin in seinem Kreise Männer, die dem Friedensinhalt des Olympismus fernstanden. Das war nicht nach dem Sinne Gebhardts, zumal er auch damit rechnen mußte, im Falle der Konfrontation mit Wartensleben und Asseburg nicht die Unterstützung Coubertins zu erhalten. Somit verschlechterten sich die Bedingungen für eine Durchsetzung der ursprünglichen olympischen Zielstellung. Es muß dahingestellt bleiben, ob sich daraus bei Gebhardt Verdruß einstellte, ausgeschlossen werden darf es jedenfalls wegen seines unerschütterlichen Friedensengagements nicht.
Nach allem, was die Sportgeschichtsschreibung bisher über Gebhardt zutage gefördert hat, lassen sich bei ihm keine typischen charismatischen Eigenschaften entdecken. Dennoch war er stets eine unternehmerische Persönlichkeit, die danach strebte, Verantwortung zu tragen und schwierige Aufgaben zu lösen.
DER MANN OHNE CHANCE
Nachdem aber Wartensleben und Asseburg die Regie des olym-pischen Permanentkomitees übernommen hatten, wurde seine Eigenständigkeit eingeschränkt. Besonders Asseburg nahm mehr und mehr Kompetenzen wahr. Während sich Schillingfürst mit der Schirmherrschaft und Aribert von Anhalt mit der formalen Präsidentenschaft begnügt hatten, griff Asseburg in die operative Arbeit ein. Er ließ sich nicht, oder nur bedingt von Gebhardt beraten. Und Coubertin nahm das erweiterte Engagement As-seburgs wohlwollend an. Er schätzte es sogar und lobte später ausdrücklich dessen vermittelnde Rolle zwischen dem IOC und den großen deutschen Körperkulturorganisationen, die lange Zeit die Olympischen Spiele ignoriert hatten.24)
Gebhardt hatte keine Chance mehr, unter den sich eskalierenden politischen Bedingungen und im Rahmen der gegebenen personellen Zusammensetzung seine kulturpolitischen Optionen zur Geltung zu bringen. Mag es auch noch andere Gründe ge-
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geben haben, weshalb er sein Amt zur Verfügung stellte, jedenfalls wäre es ihm nur um den Preis seines kulturpolitischen Credos möglich gewesen, weiter im deutschen Olympiakomitee Verantwortung zu übernehmen, sofern die tonangebenden Männer dieses Komitees ihn darum überhaupt ersucht hätten. Zehn Jahre lang hatte er die Widersprüchlichkeit in der Tätigkeit des Komitees ertragen. Es scheint, als hatte er zu jener Zeit die Grenzen seiner Konzessionsbereitschaft erreicht. Jedenfalls zu einem Gesinnungswandel war er nicht zu bewegen. Dafür spricht eindeutig eine Initiative zur Erneuerung der olympischen Bewegung, die er unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ergriff. Nach seiner Ansicht hatte die olympische Bewegung ihre ureigenste Zielstellung aufgegeben.25)
Eine solche Meinung war keine bösartige Unterstellung, die aus dem Schmollwinkel eines Abgeschobenen heraus geäußert wurde. Schließlich gab es dafür zumindest im deutschen Sport schlagende Beweise.
Denn, nachdem Maeterling im Jahre 1907 den Krieg als den Ursprung des Sportes und als "Sport par exellence" propagiert hatte,26) wurde die friedensstiftende Mission des Sportes in den Medien Deutschlands fast völlig ignoriert und statt dessen der internationale sportliche Vergleich als Mittel des Machtstrebens gerechtfertigt. Diese Tendenz kulminierte schließlich in einer aus dem Jahre 1913 stammenden Veröffentlichung, mit der Carl Diem die Vorbereitungen der in Berlin geplanten Olympischen Spiele 1916 begründete. Aus ihr geht hervor, worin die Herrschenden in Deutschland den Sinn der Olympischen Spiele sahen. Durch den Deutschen Reichsausschuß für Olympische Spiele autorisiert meinte Diem:
"In dem Augenblick, in dem man die nationale Bedeutung der internationalen Olympischen Spiele erkannt hatte, standen die Richtlinien für ihre Vorbereitung fest... 1916 müssen wir siegen, und zwar auf der ganzen Linie... Schon heute wissen wir, daß, wenn nicht unvorhergesehene Weltereignisse dazwischentreten, die internationale Beteiligung an den Spielen von Sportleuten ebensosehr wie von Zuschauern größer als je sein wird... Es gilt daher als letzte Aufgabe... durch eine besondere Organisation unseren zureisenden Gästen... den Weg durch unser deutsches Vaterland zu zeigen und ihnen seine Größe und Macht vor Augen
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zu führen... Nicht schnell und eindringlich genug kann sich die Kunde von der Bedeutung des deutschen Wirtschaftslebens und der deutschen Industrie aber auch von Deutschlands kriegerischer Macht verbreiten. Die Spiele des Jahres 1916 werden und sollen mit ein Mittel sein, um die Völker von unserer Machtstellung zu überzeugen." 27)
Verstrickt in die deutsche Expansionspolitik blieb die olympische Idee auf der Strecke und Gebhardt kam zu der Erkenntnis, daß "aus einer Organisation des Völkerfriedens eine chauvinistische geworden war". 28)
Diese Metamorphose war eng mit Carl Diem verknüpft. Gründlichere Untersuchungen sind notwendig, um den Anteil dieses Mannes an dieser Entwicklung zu bestimmen. Erwiesen ist jedoch: Diem entsprach den Intentionen der deutschen Chauvinisten und konnte an die Stelle Gebhardts treten. Gebhardt betrachtet später Diem, der 21 Jahre jünger war, ausdrücklich als einen ideologischen Kontrahenten. So erklärt es sich, weshalb er sich nach dem Ersten Weltkrieg die Aufgabe stellte, die "Anschauungen" Diems bzw. des "Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen" über die Olympischen Spiele zu bekämpfen und die "Reinheit' der olympischen Bewegung wieder herzustellen.29) Für seine Erneuerungsinitiative erwartete er die Unterstützung des Auswärtigen Amtes. In der Annahme, mit den außenpolitischen Doktrinen Nachkriegsdeutschlands konform zu gehen, unterbreitete er im April des Jahres 1920 dem Auswärtigen Amt die sportpolitischen Inhalte seiner Erneuerungsbestrebungen. Sie sollten von Deutschland ausgehen und dazu beitragen, das Ansehen deutscher Außenpolitik zu mehren. Seine Denkschrift schließt mit den pathetischen Worten:
"Schon das Bekanntwerden der Förderung solcher idealer Bestrebungen seitens der deutschen Regierung würde im In- wie im Auslande, und nicht zuletzt in den uns bisher feindlich gegenüberstehenden Staaten, eine günstige, weil beruhigende, Wirkung ausüben. Es dürften durch ein solches Vorgehen größere Kraftwirkungen ausgelöst werden, als man im ersten Augenblick zuzugeben bereit ist. Es ist mein heißes Sehnen, daß die führenden Männer in Deutschland die sich ihnen jetzt bietende Gelegenheit nicht vorübergehen lassen. Sie sollen das Banner des
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Friedens erheben mit dem Ruf wie Donnerhall. Genug nun der Kämpfe mit den blutigen Waffen! Zerbrechen wir endlich die Fesseln, mit denen seit Jahrtausenden der Satan Krieg die Menschheit in Schrecken und Furcht erhalten hat. Es muß und wird gelingen, und dann sind die furchtbaren Blutopfer nicht umsonst gebracht worden. Jetzt rüstet euch, ihr Soldaten des Kampfes auf dem Felde des Menschheitsfriedens! 'Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!'" 30)
Gebhardt wußte um den Einfluß des Mannes, durch den er im deutschen Olympiakomitee ersetzt worden war und bat vorsichtshalber das Auswärtige Amt, seinen Plan vertraulich zu behandeln. 31) Das war selbstverständlich von vornherein eine illusionäre Erwartung, denn mit einem solchen Anliegen waren die Beamten ganz einfach fachspezifisch überfordert. Mit ihrem Defizit an Sachkompetenz wandten sie sich deshalb umgehend gerade an den Mann, dem das olympische Konzept Gebhardts von Grund auf fremd war, nämlich Carl Diem. Dieser legte dem Auswärtigen Amt nahe, dem Projekt Gebhardts keine Unterstützung zuteil werden zu lassen, wodurch es für die Regierung erledigt war.32) Dennoch steckte Gebhardt nicht auf, zumal er bei Freunden im Ausland mit seinem Vorhaben Resonanz gefunden hatte. 33)
Ein Autounfall riß ihn im Jahre 1921 aus dem Leben, wodurch sein Plan in Vergessenheit geriet. Womöglich war Gebhardt mit seiner Erneuerungsinitiative tatsächlich seiner Zeit voraus. Heute scheint sich manches von dem verwirklichen zu lassen, was er damals konzipiert hat, insbesondere die Profilierung der Olympischen Spiele als sportliche Friedensfeste. In dieser Hinsicht ist er der zuverlässigste Ratgeber von allen deutschen Sportführern und dank der politischen Dynamik in und um Berlin entstehen Voraussetzungen, die es geraten erscheinen lassen, sich auf ihn zu besinnen und sein sportpolitisches Credo gegenüber der Hinterlassenschaft nationalistischer deutscher Sportführer zu favorisieren.
ANMERKUNGEN:
1. L. SKORNING u. a.; Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur in Deutschland, Berlin 1952, S. 197 - 198
2. B. SAURBIER; Geschichte der Leibesübungen, Frankfurt/M. 1955, S. 196, 197 u. 201
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3. W. EICHEL U. a.; Geschichte der Körperkultur in Deutschland 1789 - 1917, Berlin 1965, S. 255 - 25
4. J. FIEBELKORN u. H. WESTPHAL; Die Olympischen Spiele von Athen bis Mexiko-Stadt, Berlin 1969, S. 15, 18, 19, 24, 43
5. L. DIEM; Siebzig Jahre Olympische Spiele 1896 -1966, Ein Gedenkblatt für Dr. W. Gebhardt (1861 - 1921), in: Die Leibeserziehung 15 (1966) H 4, S. 109 - 117 u.
K. A. SCHERER; Der unterschlagene Olympier. Deutschlands olympischer Pionier: Dr. W. Gebhardt, in: Olympisches Feuer 16 (1966) H. 11, S. 9-14
Verdienstvoll waren diese beiden Beiträge deshalb, weil mit ihnen die Erforschung von Gebhardts Werk eingeleitet wurde.
6. W. EICHEL u. a.; Geschichte der Körperkultur in Deutschland 1789 - 1917, Berlin 1973, S. 364
7. K. ULLRICH; Olympia und die Deutschen, Berlin 1968
8. H. WESTPHAL; Dr. W. Gebhardt - ein Vorkämpfer des modernen Olympismus in Deutschland, in: Theorie und Praxis der Körperkultur, 17 (1984) H.4, S . 296 - 304
9. DZA POTSDAM; AA, Zentralstelle für Auslandsdienst. Nr. 1712, Bl. 147
10. E.HAMER; W. Gebhardt 1861 - 1921, Köln 1971, S. 39, W. Gebhardt. der erste deut-sche Treuhänder des Olympischen Gedankens, Köln 1970
11. K. LENNARTZ; Geschichte des Deutschen Reichsausschusses für olympische Spiele, Heft 3, Die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen 1906 in Athen und 1908 in London, Köln 1985
12. K. KOEBSEL; Dokumente zur Frühgeschichte der Olympischen Spiele,Köln 1970 und
K.A.SCHERER; 75 Olympische Jahre NOK für Deutschland, München 1970
13. E. HAMER; a.a.O., S. 47
14. H. WESTPHAL; Der Friedensgedanke im Kampf Dr. Gebhardts für die Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen, in: Theorie und Praxis der Körperkultur, 34 (1985) H. 11, S. 802 - 806
15. K. A. SCHERER;a. a. 0., S. 12
16. E. HAMER; a. a . 0., S. 42
17. K .A. SCHERER; a. a. 0., S. 12
18. H. WESTPHAL; Der Friedensgedanke...a. a. 0., S. 804
19. K. HUHN (ULLRICH); Der vergessene Olympier. Das erstaunliche Leben des Dr. W. Gebhardt, Manuskript, Kleinmachnow 1990, inzwischen erschienen im Spotless-Verlag, Berlin.
20. K. HUHN (ULLRICH); Der vergessene... S. 163 - 164
21 DZA POTSDAM; a. a. O., Bl. 147
22 Deutsche Turnzeitung; 45 (1900), S. 272
23. H. WESTPHAL; Der Friedensgedanke ..., S. 803
24. P. de COUBERTIN; Olympische Erinnerungen, Berlin 1967, S. 84 und
K. KOEBSEL; Dokumente... S. 189
25. DZA POTSDAM; a. a. 0., Bl. 147
26. M. MAETERLINCK; Gedanken über Sport und Krieg, Leipzig - Berlin 1907, S. 67
27. Fußball und Leichtathletik; 14 (1913), S. 465
28. DZA POTSDAM; a. a. 0., Bl. 145
29. DZA POTSDAM; a. a. 0., Bl. 136
30. DZA POTSDAM; a. a. 0., Bl. 156
31. DZA POTSDAM; a. a. 0., Bl. 134
32. DZA POTSDAM; a. a. 0., Bl. 151
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33. DZA POTSDAM; a. a. 0., Bl. 138

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 2 /1996
INHALT:
Karsten Schumann: 4
DISSERTATION: Empirisch-theoretische Studie zu ent-wicklungsbe-stimmenden Bedingungen des Leistungs-sports der DDR.
Rezension und Auszüge: Heinz Schwidtmann
Bruce Kidd, Toronto: 25
OLYMPIA 1936: Die kanadische Kampagne gegen die Na-zi-Olympiade
DOKUMENTE:
Klaus Huhn: 30
Wenn in Garmisch etwas passiert...
Siegfried Melchert: 34
Laudatio für eine Hundertjährige - Lesgaft-Akademie
Günter Erbach: 45
DISKUSSION: Über Ideologie und Politik in der Entwick-lung des DDR-Leistungssports
Günter Wieczisk: 69
Klarstellung eines Sachverhalts zu Wolfgang Nordwig
Otto Jahnke: 71
Spornitzer Erfahrungen
REZENSIONEN: 79
Heinz Schwidtmann:
Faszination Boxen
Irene Salomon:
Mythos Diem
DOKUMENTE:
Helmut Kohl: 83
Die Demokratie braucht Leistungseliten auf allen Ebenen
ANMERKUNGEN:
Klaus Huhn: 88
Umgang mit Akten
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AUTOREN:
GÜNTER ERBACH, Dr. paed., geboren 1928, Prof. für Theorie und Geschichte der Körperkultur 1960 bis 1968 an der DHFK Leipzig, Rektor der DHFK von 1956 bis 1963, stellvertr. Staatssekretär (von 1965) und Staatssekretär für Körperkultur und Sport der DDR von 1974 bis 1989. Exekutivmitglied der CIEPS von 1973 bis 1983, Eh-renmitglied der CIEPS.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker.
OTTO JAHNKE, geboren 1924, Von 1950 bis 1952 Pressereferent im Landessportausschuß Mecklenburg, von 1952 bis 1986 Redak-teur des „Deutschen Sportecho“.
BRUCE KIDD, geboren 1943, Prof. und Leiter des Instituts für Sport der Universität Toronto (Kanada), Mitglied der „Halle des Ruhms des kanadischen Sports“.
HELMUT KOHL, geboren 1930, Dr. phil. Promotion 1958, Bundes-kanzler der BRD seit 1982.
SIEGFRIED MELCHERT, Dr. paed. habil., geboren 1936, Prof. für Theorie und Geschichte der Körperkultur seit 1989 an der Universi-tät Potsdam, Mitglied der Akademie der Künste und der Wissen-schaften zu St. Petersburg, Mitglied der DVS.
IRENE SALOMON, geboren 1940,74fache Basketballnationalspie-lerin der DDR, bis Ende 1991 Leiterin des Sportmuseums Berlin, Mitglied der DVS.
KARSTEN SCHUMANN, Dr. paed., geboren 1963, Studium an der DHfK Leipzig.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil. geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik 1970 bis 1990 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) und dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig, Rektor der DHFK 1963 bis 1965, Präsi-dent des Deutschen Boxverbandes (DBV) von 1974 bis 1990.
LOTHAR SKORNING, Dr. paed., geboren 1925, Hochschullehrer für Geschichte der Körperkultur 1969 bis 1991 an der Humboldt-Universität zu Berlin
GEORG WIECZISK, geboren 1922, Dr. paed., Promotion 1956, von 1969 bis zur Emeritierung Prof. für Geschichte und Soziologie des Sports an der Humboldt-Universität Berlin. Präsident des DVfL von 1959 bis 1990, seit 1990 Ehrenpräsident des DLV, Ehrenmit-glied der Councils der IAAF und des EAA auf Lebenszeit.
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ANMERKUNG DES HERAUSGEBERS
Der SPOTLESS-Verlag präsentiert Ihnen das zweite Heft un-serer „Beiträge zur Sportgeschichte“. Es ist vielfältiger, über-sichtlicher, informativer als das erste. Der Verlag hatte sich keine Illusionen gemacht, welche Chancen eine solche Publi-kation auf dem Medienmarkt haben könnte. Der Absatz über-traf unsere kühnsten Erwartungen, wofür sicher auch die Namen unserer Autoren sorgten. Der technische Aufwand bei der Herausgabe einer solchen Zeitschrift überstieg jedoch unsere Prognosen, zumal es da auch oft an der Kenntnis der heutigen Voraussetzungen mangelte. Ob sich dieses Prob-lem für die Zukunft lösen läßt, bleibt fraglich. So könnte die-ses Heft - im ärgsten Fall - das letzte sein.
Was die Chronik Lothar Skornings betrifft, so haben wir sie trotz großer Bedenken in der uns vorgelegten Form publiziert. Wir glaubten, heute höhere Ansprüche stellen zu sollen. So wie sie nun vorliegt, könnte sie jedoch eine wertvolle Diskus-sionsgrundlage für künftige Arbeiten auf diesem Gebiet sein.
SPOTLESS
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DISSERTATION: Empirisch-theoretische Studie zu entwicklungsbestimmenden Bedingungen des Leistungssports der DDR. Versuch einer zeitge-schichtlichen Bilanz und kritischen Wertung vor allem aus der Sicht der Gesamtzielstellung.
Von Karsten Schumann
Rezension und Auszüge von Heinz Schwidtmann:
Im September 1989 begann Karsten Schumann als Forschungs-student an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig eine zeitgeschichtliche Untersuchung zur Entwicklung des Leistungssports der DDR, deren Ergebnisse er 1992 als Dissertati-on einreichte und 1993 an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig verteidigte.
Während der Untsuchungen war die DHfK abgewickelt, die Nach-folgeeinrichtung als Fakultät der Universität Leipzig gegründet wor-den und zunächst niemand für das Vorhaben wissenschaftlich zu-ständig. Erst im letzten Jahr der Arbeit an der Dissertation sollte sich das ändern.
Die gesellschaftliche Umbruchsituation in der die Untersuchun-gen durchgeführt wurden, eröffneten neue Möglichkeiten für die Bearbeitung der Thematik, schufen aber auch neue Barrieren z.B. infolge des Drucks, der von der öffentlichen Meinung und den vor-herrschenden Urteilen über den Leistungssport der DDR ausging. Um so mehr ist das vom Autor Vorgelegte zu schätzen, wenngleich der Versuch einer ersten Wertung keine ungeteilte Zustimmung finden wird.Das ist schon durch den gewählten theoretischen Standort bedingt, die systemtheoretischen Überlegungen von LUHMANN; d.h. die funktional-strukturelle Theorie, zu nutzen, um die in der Erstarrung begriffenen Urteile über den Leistungssport der DDR, vor allem die gängigen Klischees - ob in Form glorifizie-render Mythen oder vorurteilsgeprägter Behauptungen, die von der Realität und den tatsächlichen Vorgängen weit entfernt sind - zu überwinden und das Ursachengefüge für Möglichkeiten und Gren-zen, Leistungen aber auch Versagen des Leistungssports der DDR aufdecken zu helfen.
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Im Mittelpunkt der Untersuchungen standen drei Problemberei-che:
- Die Zielstellungen für den Leistungssport, die in zentralen Do-kumenten des ZK der SED festgeschrieben waren, und zwar im Zeitraum von 1956 bis 1988;
- die politische Instrumentalisierung des Leistungssports der DDR und der von den Athletinnen und Athleten erbrachten sportlichen Höchstleistungen;
- wesentliche Entwicklungsbedingungen des Leistungssports der DDR, die es ermöglichten, daß relativ große Gruppen von Athletin-nen und Athleten, Trainern und Übungsleitern, Sportmedizinern und Physiotherapeuten, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Tech-nikern gemeinsam mit den Eltern bzw. den nächsten Angehörigen der Athleten und vielen anderen, vor allem auch ehrenamtlichen Helfern, über längere Zeiträume effektiv und innovativ zusammen-wirkten.
Dazu wertete der Autor insgesamt 122 Dokumente aus, davon 95 sportwissenschaftliche Dokumente, und führte unmittelbar in der gesellschaftlichen Umbruchsituation mit 16 Experten aus der ers-ten und zweiten Leitungsebene des Leistungssports der DDR ein Intensivinterview mit einem für alle Interviews vorgesehenen Ge-sprächsleitfaden durch. Er nutzte die Möglichkeiten von "Oral His-tory“, um Zeitzeugen zu befragen und die von ihnen erlebte Ge-schichte zu erfassen. Das wissenschaftliche Anliegen schließt also das Bemühen zur Sicherung und Erhebung der notwendigen Quel-len ein, und zwar hinsichtlich der wichtigsten und zentralen Be-schlußgrundlagen sowie der entscheidenden Entwicklungsbedin-gungen.
Der Autor war sich dabei durchaus der Fährnisse bewußt, wenn zeitgeschichtliche Tatsachen erfaßt werden ohne genügend Dis-tanz vom untersuchten Geschehen bzw. bei der Befragung von Zeitzeugen ohne ausreichendes Vermögen, "die von den Beteilig-ten zielbewußt propagierten Sinngebungen zu überwinden" (LANGENFELD), und daß dazu allein der Umstand, einer anderen Generation als die Befragten anzugehören, keinesfalls aus-reicht.Deshalb war er um wissenschaftliche Exaktheit und Sach-lichkeit, Einordnung der ermittelten Tatsachen und Fakten in über-greifende Zusammenhänge und gegebene Rahmenbedingungen
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bemüht. Er versuchte zudem, ein der Komplexität des Problems angemessenes interdisziplinäres Herangehen zu erreichen.
Zu den zu würdigen Ergebnissen der von K. Schumann durchge-führten Untersuchungen gehören,
- die Erschließung bisher unveröffentlichter bzw. für wissen-schaftliche Zwecke unzugänglicher Quellen, insbesondere der Leistungssportbeschlüsse des Politbüros beim ZK der SED, noch vor Ablauf der Schutzfrist;
- die von den befragten Experten autorisierten Ergebnisse der ge-führten Interviews, die zu einem Zeitpunkt festgeschrieben wurden, als die neuen Legenden über den Leistungssport der DDR und die einseitigen Verabsolutierungen sich noch nicht so gefestigt hatten, daß sie die tatsächlichen Entwicklungen und Vorgänge z.T. bis zur Unkenntlichkeit überlagerten;
- der Versuch, die politische Instrumentalisierung des Leistungs-sports in der DDR aus der Sicht der generellen politischen Funktion des Leistungssports innerhalb sozialer Systeme in der Moderne darzustellen;
- das Bemühen, Bedingungen der unbestreitbaren Leistungen und Leistungsdynamik, der Innovationsbereitschaft und -fähigkeit des Leistungssports der DDR aufdecken zu helfen, obwohl - will man Historikern, Politik- bzw. Sportwissenschaftlern aus den alten Bundesländern glauben - das systembedingt eigentlich unmöglich war.
Grenzen der Untersuchung und ihrer Ergebnisse wurden vor al-lem durch den eingeschränkten Zugang zu dem erforderlichen Ar-chivmaterial bestimmt. Die Archive des DTSB, insbesondere sei-nes Bundesvorstandes und dessen Präsidium bzw. Sekretariat, sowie des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport beim Mi-nisterrat der DDR waren nicht zugänglich und damit entscheidende Dokumente, welche die Durchsetzung der in den Parteidokumen-ten festgeschriebenen Zielstellungen sichern sollten und auch tat-sächlich weitgehend sicherten. Infolgedessen konnten die mittels "Oral History“ erreichten Ergebnisse nicht mit bis dahin unveröffent-lichten Beschlüssen, Richtlinien und protokollarischen Festlegun-gen konfrontiert werden. Das war nur aufgrund von wissenschaftli-chen Publikationen, der veröffentlichten Beschlüsse, Protokolle etc. und des Vergleichs der verschiedenen Interviews möglich. Der Quellenumfang war also trotz der erweiterten Möglichkeiten einge-
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schränkt. Das mußte sich letztlich auf die gesamte Problembear-beitung, insbesondere auf die Quellenkritik auswirken sowie auf den kritischen Umgang mit den Ergebnissen der Interviews.
In Übereinstimmung mit dem Autor, der bedauerlicherweise - wie viele junge Sportwissenschaftler der DDR - keine Beschäftigung in der Sportwissenschaft der BRD erhielt, bemühe ich mich, beson-ders Beachtens-wertes aus der Dissertation, die ich bereits aus dem Prozeß ihrer Entstehung kenne, vorzustellen. Das ist natürlich insofern schwierig, da Auszüge dem eigentlichen logischen Aufbau der Dissertation nicht gerecht werden, deren Gesamtumfang aber die Publikationsmöglichkeiten überschreitet. Mit Einverständnis des Herausgebers der Zeitschrift haben wir uns deshalb entschieden, zwei ausgewählte, im Text unwesentlich gekürzte Teile zu veröf-fentlichen, die eine bestimmte Einsicht in die vorgelegten Untersu-chungsergebnisse bieten.
Erstens werden Auszüge aus der Problemstellung und den zu-sammenfassenden Bemerkungen vorgestellt, wodurch zunächst ein Überblick über die Dissertation als Ganzes ermöglicht wird.
Darin eingeschlossen ist ein Angebot, eine vollständige Übersicht der Leistungssportbeschlüsse (einschließlich Registriernummer) beim Verlag zu bestellen.
Zweitens sollen in einem nachfolgenden Heft Auszüge aus den von K. Schumann dargestellten Bedingungen des Leistungssports der DDR veröffentlicht und damit auch einem breiteren Kreis von Interessenten zugänglich gemacht werden. Dabei ist zu berück-sichtigen, daß es nicht möglich ist, die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausführlich zu erörtern, um dann einige der spezifischen Entwicklungsbedingungen des Leistungssports der DDR darzustellen. Gemeint sind vor allem solche, die nach meiner Ansicht generelle Relevanz für die sportliche Leistungsentwicklung besaßen und wohl auch unter anderen gesamtgesellschaftlichen Bedingungen weiterhin besitzen. Gerade unlängst hat der General-sekretär des NOK für Deutschland anläßlich des Darmstädter Sport-Forums nachdrücklich festgestellt: "Offensichtlich haben wir im Zuge der Vereinigung nur versucht zu retten, was an leistungs-sportlichem Wissen möglich war, haben aber nur bedingt und meis-tens oberflächlich geprüft, was systembedingt im Osten möglich war und was gegebenenfalls davon in unser gesellschaftliches, po-litisches und wirtschaftliches System hinein übertragen werden
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kann." Und mitunter geschah offenbar nicht einmal das. Zumindest lassen das die derzeitigen Entwicklungen im Leistungssport mehr als nur vermuten. Außerdem haben Athleten, Trainer und Wissen-schaftler vielfach rechtzeitig auf Fehlentwicklungen - ob im Leis-tungssport insgesamt oder in einzelnen Sportarten und -disziplinen - hingewiesen. Angesichts dessen war der Autor der hier vorge-stellten Dissertation um eine kritische Sicht und kritische Distanz bemüht. Er verhehlt aber auch nicht, daß er der Wahrheit verpflich-tet ist und deshalb versuchte, den tatsächlichen Ursachen für Ent-wicklungen und Erfolge des DDR-Leistungssports wie auch Versa-gensgründen nachzuspüren, damit - wie wir meinen - Folgerungen für Gegenwart und Zukunft des Leistungssports gezogen werden können, so man das dann wirklich will.
Auszüge aus der Dissertation: I. Problemstellung
Der Einigungsprozeß in Deutschland und die Gestaltung der deutschen Einheit nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bun-desrepublik Deutschland ist eine Zäsur gesellschaftlicher Entwick-lung, die vor allem auch die Geschichtswissenschaft in bisher un-bekannter Weise herausfordert, und zwar in all ihren Teildiszipli-nen.
Insofern muß auch die Sportgeschichte Quellenmaterial sichern und helfen, daß nichts verloren geht. Sie muß neues Quellenmate-rial erschließen und die „akzeptierte Interpretation der bekannten historischen Tatsachen vor dem Erfahrungshorizont und den Theo-rien ihrer Gegenwart kritisch hinterfragen" 1)
Das gilt auch und insbesondere für die Geschichte des Leis-tungssports der DDR, obwohl - oder gerade weil - dazu bereits eine Reihe beachtenswerter Arbeiten vorliegen 2) und die Öffentlichkeit aufgrund einer Flut von mehr oder weniger tiefgründigen und auch sich widersprechenden Informationen über den Leistungssport der DDR urteilt bzw. urteilen muß. Infolge der Widersprüchlichkeit die-ser Informationen, mitunter ihrer zwangsläufigen Einseitigkeit bzw. auch Pauschalität entsprechend von Antipathien oder umgekehrt von Sympathien spannt sich ein weiter Bogen der Urteile über den Leistungssport der DDR in der öffentlichen Meinung. Der Bogen reicht von der Glorifizierung über Versuche einer realen Einschät-zung und Ursachenfindung des Phänomens Leistungssport in der
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DDR bis zur Abwertung oder pauschalen Verurteilung bzw. Verteu-felung. Das gilt auch mehr oder weniger für die bereits vorliegen-den wissenschaftlichen Arbeiten, vor allem weil es am schwierigs-ten ist, die noch von Zeitgenossen erlebte Zeitgeschichte historisch zu erfassen.
Die Zuwendung zur Geschichte des Leistungssports der DDR ergibt sich also einserseits aus den generellen Ansprüchen der Geschichtswissenschaft3) und der mit Beginn des Einigungspro-zesses gegebenen Zäsur und zum anderen aus den in der Folge-zeit entstandenen vielfältigen und offensichtlichen Problemfeldern im Leistungssport der neuen Bundesländer.
Mit der wissenschaftlichen Bearbeitung der gewählten Thematik werden vor allem drei Fragestellungen beantwortet bzw. weiter ge-klärt:
- Welche Gesamtzielstellung und davon abgeleitete Aufgaben bzw. Festlegungen enthielten die zentralen Dokumente der SED zum Leistungssport der DDR im untersuchten Zeitraum?
- Welche Funktionen und Leistungen für die Gesellschaft wurden dem Leistungssport zuerkannt und infolgedessen auch erwartet? Inwieweit wurden der Leistungssport, die internationalen Sportbe-ziehungen bzw. sportlichen Höchstleistungen politisch ungerecht-fertigt oder mißbräuchlich instrumentalisiert?
- Welche Bedingungen ermöglichten es, daß große Gruppen von Menschen aus unterschiedlichen Generationen bzw. Altersgruppen langfristig und mit relativ hoher Kontinuität sportliche Welthöchst-leistungen vorbereiteten und den ständig wachsenden Ansprüchen dieses Prozesses gerecht wurden?
Die Untersuchungen hinsichtlich der analysierten Gesamtzielstel-lung beschränken sich auf den Zeitraum von den Olympische Spie-len 1956 (einschließlich ihrer Vorbereitung) bis zu den Olympi-schen Spielen 1988 (einschließlich ihrer Auswertung). Die Bedin-gungen der Realisierung dieser Ziele werden im Zeitraum von 1964 bis 1988 untersucht. Diese Analysen umfassen vor allem den Zeit-raum der Zuerkennung aller Rechte für die Olympiamannschaft der DDR als Vertretung eines souveränen Staates durch das IOC und sie enden eigentlich mit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bun-desrepublik Deutschland.
Eine weitere Einschränkung ist durch die einbezogenen Doku-mente gegeben. Es wurden lediglich zentrale Dokumente der SED
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genutzt, besonders die Beschlüsse des Politbüros des ZK der SED zur Entwicklung des Leistungssports. Es ist und war auch nicht be-absichtigt, die tatsächlichen Wirkungen der dem Leistungssport zuerkannten Funktionen bzw. der politischen Instrumentalisierung zu analysieren. Das ist u. E. eine eigenständige wissenschaftliche Fragestellung, von außerordentlicher Komplexität, die weiterfüh-renden Arbeiten vorbehalten bleiben und vor allem soziologischen Ansprüchen gerecht werden muß.
Der Wert und die wissenschaftliche Relevanz der Untersuchun-gen wird zweifellos mit durch die Erschließung bisher unveröffent-lichter bzw. für wissenschaftliche Zwecke unzugänglicher Quellen bestimmt. Es werden z.B. nahezu alle Beschlüsse des Politbüros bzw. des Sekretariats des ZK der SED zum Leistungsport teilweise noch vor Ablauf der Schutzfrist erfaßt und ausgewertet. Ebenso wichtig erscheint uns die Möglichkeit, Zeitzeugen befragen zu kön-nen, die aufgrund ihrer Führungspositionen im Sport der DDR aus-kunftsfähig sind zu allen Inhalten der von uns ausgewerteten Par-teibeschlüsse sowie zu deren Realisierung und damit "Oral History als vor allem zeitgeschichtlich genutzte Forschungstechnik"4) ein-zusetzen.Das gilt umso mehr, da die Chance einer Befragung wichtiger Zeitzeugen des Leistungssports der DDR offenbar nur einmal und auch nur innerhalb eines sehr kurzen Zeitraumes ge-geben war.
Die Arbeit ordnet sich ein in den Prozeß der schrittweisen Aufar-beitung der Geschichte des Leistungssports der ehemaligen DDR und damit eines kleinen Abschnittes der deutschen Sportgeschich-te. Sie ist ein Versuch, trotz des historisch knappen Abstandes zur jüngsten Vergangenheit, mit einer wissenschaftlich exakten und sachlich kritischen Untersuchung,auf der Basis gründlich ausge-wählter Daten an der notwendigen offenen und ehrlichen, vorur-teilsfreien und tatsachengetreuen Diskussion zum Leistungssport der DDR mitzuwirken.
Gleichzeitig kommen wir mit unserer Arbeit dem u. E. derzeit notwendigen Bedürfnis nach, Zusammenhänge des Leistungs-sports der DDR überblickend zu erfassen, wie z.B. bei der Erörte-rung des Bedingungsgefüges. Desweiteren betrachten wir die vor-liegende Arbeit als Ausgangspunkt für weitere, dringend erforderli-che Untersuchungen zum Leistungssport der DDR.5)
Zusammenfassungen (Auszüge)
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Im Ergebnis der am Thema und den Fragestellungen orientierten Untersuchungen möchten wir mit der Sicht auf zu erarbeitende Schlußfolgerungen zusammenfassend folgendes feststellen:
Die allgemeinen Dokumente der SED haben eine grundle-gende und weiträumige Entwicklung für den Leistungssport der DDR vorgezeichnet,
seine gesellschaftliche Relevanz unterstrichen, besonders seine außenpolitische Wirkung im Sinne der Repräsentation der DDR, der Förderung ihres Ansehens und ihrer Autorität hervorgehoben. Mit diesen generellen Aussagen und Ansprüchen, z. B. in den Be-schlüssen der Parteitage, war allerdings weder eine Programmatik der möglichen Instrumentalisierung von sportlichen Höchstleistun-gen gegeben, noch ein konkretes Handlungsprogramm für das zielgerichtete, planmäßige und einheitliche Handeln der im Leis-tungssport tätigen Menschen.
Grundsätzliche und weitreichende spezifische Orientierungen enthielten jeweils die Beschlüsse der Parteiführung der SED zur perspektivischen Entwicklung des Leistungssports, wie die "Grund-linie zur Entwicklung des Leistungssports in der DDR bis 1980" und die "Grundlinie für die perspektivische Entwicklung des Leistungs-sports der DDR bis zum Jahre 2000", die vom Sekretariat bzw. Po-litbüro des ZK der SED am 19.03.1969 bzw. 27.10.1987 beschlos-sen wurden.510) Aufgrund der zunehmenden Leistungsdynamik und der anwachsenden Komplexität der sportlichen Leistungsentwick-lung waren diese Grundlinien prognoseorientiert angelegt. Sie soll-ten vor allem den notwendigen Vorlauf sichern helfen, z.B. im Pro-zeß der Wissenschaftsentwicklung, der Forschung und Geräteent-wicklung, der Aus- und Weiterbildung und besonders im Prozeß der Erneuerung des Trainings, der Realisierung von Systemlösun-gen im Prozeß sportlicher Leistungsentwicklung.
Perspektivisch angelegt und auf ganz bestimmte Olympische Spiele orientiert waren vor allem die Beschlüsse des Politbüro des ZK der SED über die "Weitere Entwicklung des Leistungssports bis 1972" vom 10.08.1965 und "Die Weiterentwicklung des Leistungs-sports der DDR bis 1980 und die Vorbereitung der Olympischen Sommer- und Winterspiele 1976" vom 27.03.1973. 511)
Infolge der besonderen politischen Bedeutung, die bestimmten Olympischen Spielen beigemessen wurde, sollten sie beitragen,
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ein besonders hohes Leistungsniveau zu realisieren und die an-wachsenden Risiken sportlicher Leistungentwicklung möglichst langfristig zu minimieren.
Das grundsätzliche zentrale Plandokument für den Leis-tungssport der DDR war seit 1961 immer der für jeweils einen Olympiazyklus gültige Leistungssportbeschluß,
der in der Regel vom Politbüro des ZK der SED beschlossen wurde. Als Parteibeschluß verpflichtete der Leistungssportbeschluß nicht nur den Parteiapparat der SED auf allen Ebenen, sondern auch alle Mitglieder der Partei in den staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen, die Realisierung der Leistungs-sportbeschlüsse zu unterstützen. Das sicherte, infolge der damit gegebenen Autorität dieser Beschlüsse, das einheitliche Handeln auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens und eine hohe Wirksamkeit im Prozeß der Durchsetzung.
Der DTSB war federführend bei der Erarbeitung der Leistungs-sportbeschlüsse. Insbesondere der Bereich Leistungssport sowie das Sekretariat im DTSB fungierten als Führungsorgane und waren verantwortlich dafür. Die dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport unterstellten Kapazitäten der Sportwissenschaft leisteten die wesentlichen Zuarbeiten. Die Abteilung Sport beim ZK der SED war an der Erarbeitung dieser Beschlüsse beteiligt.
Die Beschlußinhalte ergaben sich aus den Vierjahresanalysen der Sportverbände aller geförderten Sportarten, der Sportklubs bzw. aller Institutionen und Einrichtungen des Leistungssports. Sie waren also letztlich Ergebnis der analytischen und einschätzenden Tätigkeit von Trainern, Trainingsmethodikern, Wissenschaftlern, Funktionären und den Leistungssportlern.
Seit dem Olympiazyklus 1968-1972 wurde jeweils zwei Jahre vor den Olympischen Spielen im Politbüro beim ZK der SED ein Zwi-schenbericht beraten und mit dem Ziel beschlossen, die planmäßi-ge Vorbereitung zu sichern, auf Fehlentwicklungen rechtzeitig rea-gieren und neue Entwicklungstendenzen noch erfolgversprechend berücksichtigen zu können.
Die Gesamtzielstellung in den vom Politbüro des ZK der SED verabschiedeten Leistungssportbeschlüssen war Ausdruck des Politikverständnisses und der politischen Kultur in der DDR sowie Teil der politischen Planung.
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Sie umfaßte jeweils das sportliche Leistungsziel für die Olympia-mannschaft der DDR sowie sportpolitische und politische Zielas-pekte. Der Wert dieser als politischen bzw. sportpolitischen Auftrag formulierten Gesamtzielstellung wurde durch das Tätigkeitsprinzip bestimmt. Zweifellos ist nicht ohne weiteres einzusehen, daß diese höchst allgemeinen Zielstellungen in den äußerst komplexen Pro-zessen der Leistungsvorbereitung und des Leistungsvollzuges ei-nen besonderen Stellenwert haben konnten. Das wird scheinbar auch aus der Sicht der funktional-strukturellen Theorie bestätigt, indem darauf hingewiesen wird, daß solche normativ ausgerichte-ten Steuerungsversuche, wie "Formulierung übergreifender Ge-samtzielstellungen, die in der Regel lediglich abstrakte, nichtssa-gende Leerformeln darstellen"329), gerade der Autonomie der Teil-systeme entgegenstehen und damit auch der Selbststeuerung330) sowie der dadurch möglichen Entwicklung und Entwicklungsdyna-mik. Die konsequente Durchsetzung des Tätigkeitsprinzips im Leis-tungssport der DDR schloß jedoch ein, der Schlüsselrolle bewußter Tätigkeitsziele als Antizipation und Intention332) gerecht zu werden und somit davon auszugehen, daß das Ziel - psychologisch gese-hen - die Leistungshandlung, z.B. im Wettkampf, und die darauf gerichtete mehr oder weniger langfristige Tätigkeit konstituiert. In-sofern erweist sich die Zielorientierung als das „wichtigste Moment" der Bewegung einer Handlung durch die Person.333) Deshalb kann solch eine Gesamtzielstellung durchaus als oberstes Ziel der mul-tiplen und heterarchischen Zielstruktur komplexer Tätigkeiten fun-gieren, die in einem längerwährenden Prozeß angestrebt werden. Sie verkörpert dann auch mehr oder weniger die emotional wirk-same Bedeutung, die Valenz, anzustrebender Ergebnisse für ande-re und für die Gesellschaft bzw. verweist auf weitere Folgen.
Im Prozeß der individuellen Zielbildung ist es im allgemeinen auch möglich, vorgegebene Ziele sich so anzueignen, daß sie als selbstgesetzt erlebt sowie tätigkeits- bzw. handlungswirksam wer-den. Allerdings ist die "Verbindlichkeit und Ich-Nähe selbstgesetz-ter Ziele... in der Regel höher als die übernommener".334) Das gilt ganz besonders für den Leistungssport und den Prozeß der Vorbe-reitung bzw. den Vollzug von Sieg- und Rekordleistungen. Solche Ziele müssen entsprechend den Erfahrungen des DDR-Leistungssports aus völlig eigenständigen Entscheidungen der Ath-leten und der Trainer erwachsen. Das heißt, sie müssen subjektiv
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bedeutsam sein. Und diese subjektive Bedeutung ist nach HOLZKAMP-OSTERKAMP „vom Individuum nicht willkürlich her-stellbar; der Mensch kann nicht jedem beliebigen gesellschaftlichen Ziel subjektive Bedeutung verleihen".335) Dazu muß ihre Beschaf-fenheit sowohl kognitiv erfaßbar sein und die kognitive Zielanalyse zu einem positiven Ergebnis führen336) als auch eine bewußte Kon-trolle emotionaler Störbedingungen, die mit der "jeweils aktuellen Zuständigkeit des Individuums zusammenhängen"337),ermöglichen. Das leisten übergreifende Gesamtziele nur, wenn sie Ergebnis, Bestandteil und Ausdruck jener Kreisprozesse sind, in denen Handlungen bzw. Tätigkeiten ablaufen338) und infolge dessen auch Ergebnis der reflexiven Vergleichs- und Bewertungsprozesse zu-mindest der Sportverbände, wenn nicht der von Trainingsgruppen und Mannschaften sind. Sie dürfen also keinesfalls abstrakte, nichtssagende Leerformeln sein. Wie abstrakt sie auch immer in politischen Beschlüssen formuliert sein mögen, sie müssen für je-den Trainer und Athleten erkenn- und erfaßbar, erfahr- und erleb-bar sein als oberste Orientierungs- und Steuergröße, als Wert und Kriterium für die ziel- und zweckgerichtete Kooperation. Die Be-deutung solcher Gesamtzielstellungen ist deshalb vom einzelnen nur zu erfassen, wenn sie als Teil des Gesamtprozesses der Leis-tungsvorbereitung und des Leistungsvollzuges analysiert werden und keinesfalls losgelöst davon. Sie waren - und dieser Vermutung wird durch unsere Untersuchungen zumindest gestützt - Ergebnis der spezifischen sportfachlichen und sportwissenschaftlichen Au-tonomie und Selbststeuerung in den Sportverbänden. Sie erfüllten nur auf dieser Basis ihre Funktion und wenn die Valenz dieser Zie-le auch durch den Gesamtprozeß der Vorbereitung eines neuen Olympiazyklusses spürbar war, und zwar theoretisch, vor allem konzeptionell und ganz praktisch, z.B. durch die Schaffung günsti-ger Trainingsbedingungen, wie nahezu ganzjähriges Freiwasser-training für die Rudersportler oder Sicherstellung der Hypoxiekette u.a.m.
Damit wird zugleich deutlich: Solche Ziele verfehlen ihre Wirkung und haben empfindliche Labilisierungen der Leistungsbereitschaft zur Folge, wenn ihre Beschlußfassung und ihre Erläuterung zum Ritual339) verkommt und lediglich zum Mittel der Profilierungssüchte von Politikern oder Sportfunktionären werden.
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Die inhaltliche Wertung der analysierten Gesamtzielstellun-gen des Leistungssports der DDR über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren verlangt u.E. auch, von den generellen Intentionen der Sportbewegung in der sowjetisch besetzten Zone und der DDR auszugehen.
Diesbezüglich ist sicher zunächst anzuerkennen, daß der Sport in seiner systemifizierten Ausprägung „am Ende der Weimarer Re-publik in seiner gesellschaftlichen Bedeutung unumstritten und voll akzeptiert war"340) und dies als eine Ausgangsbedingung der Ent-wicklung des Sports nach der Zeit des Nationalsozialismus und nach dem Ende des II. Weltkrieges in allen Besatzungszonen an-zusehen ist. Für Ost und West galten auch das Potsdamer Ab-kommen und solche Nachfolgedokumente, wie die Proklamation Nr. 2 vom 20.09.1945, das Gesetz Nr. 2 vom 10.10.1945 sowie die Direktive Nr. 23 vom 17.12.1945 des Kontrollrats in Deutschland, als Grundlagen für den völligen Neuaufbau des Sports. Das heißt, auch die Identität des Sports war nach Verfolgung und Krieg, nach massenhaftem Sterben und Leid, nach massenhafter Zerstörung in bis dahin ungekanntem Ausmaß neu zu bestimmen. Das vollzog sich zwangsläufig eingeordnet in den Prozeß, in dem die Überle-benden alles tun wollten, den Nationalsozialismus mit all seinen konstitutiven Ursachen und Bedingungen zu überwinden und ein demokratisches und friedliebendes Land aufzubauen, von dem nie wieder Kriegsdrohungen oder gar Krieg ausgehen sollte. Nach ei-ner Zeit der Kulturbarbarei während des Nationalsozialismus in Deutschland gehörte zur Vision einer neuen Gesellschaft, die Kul-turentwicklung als notwendiger Bestandteil der gesellschaftlichen Veränderungen. Allen sollte nicht nur der Zugang zur Kultur er-möglicht, sondern für breite Schichten die Befriedigung kultureller Bedürfnisse tatsächlich zur alltäglichen Gewohnheit werden. Des-halb bezog sich die Sportbewegung in der sowjetisch besetzten Zone bei der Neubestimmung ihrer Identität auf das gesellschaftli-che Problem der Teilnahme aller Bürger am kulturellen Leben so-wie auf das Ideal der Heranbildung allseitig entwickelter Persön-lichkeiten im Sinne von MARX und mit Rückgriff auf HUMBOLDT341), auf das Recht auf Gesundheit und den Schutz der Arbeitskraft, wie später auch in der Verfassung der DDR festge-schrieben worden ist.342)
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Insofern zählte Sportpolitk als Teil der Kulturpolitik mit zum "Kernbestand der Gesamtpolitik der Partei".343) Dieser Prozeß der Identitätsfindung ging im Gegensatz zu den Westzonen einher mit einer konsequenten Politisierung von Körperkultur und Sport und einer entsprechenden Erziehungsarbeit, was u.a. bereits in den Aufgaben und Grundsätzen der demokratischen Sportbewegung verdeutlicht wurde.344)
Die Neubestimmung der Identität des Sports in der sowjetisch besetzten Zone ging im Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland also ganz bewußt vom objektiven Zusammenhang von Kultur und Politik, Sport und Politik aus und verknüpfte mit der sportlichen Tätigkeit und ihren Ergeb-nissen auch politische Erwartungen, politische Instrumentalitäten.
Instrumentalitäten sind Ausdruck subjektiver Erwartungen des einzelnen oder von kleinen bzw. großen Gruppen, daß Tätigkeits- oder Handlungsergebnisse weitere Folgen nach sich ziehen oder solche behindern.345) Sie bezeichnen sowohl die Wahrscheinlich-keit weiterer Folgen als auch das Ausmaß mit dem ein Ergebnis zur Befriedigung von außerhalb der jeweiligen, z.B. der sportlichen, Tätigkeit liegenden Zwecken führt.
Instrumentalität und Instrumentalisierung von Leistungen erweist sich aus systemtheoretischer Sicht, insbesondere aus der Sicht der funktional-strukturellen Theorie (LUHMANN512) generell als notwendige Bedingung der Ausdifferenzierung der Existenz von sozialen Systemen, einschließlich ihrer Teilsys-teme,
sofern die Leistungsbezüge „deren funktionalen Primat betref-fen“513). Die Ausdifferenzierung des Leistungssports als Subsystem des Teilsystems Sport vollzog sich demnach ob seines spezifi-schen Sinnzusammenhanges und der daraus resultierenden Mög-lichkeiten zum „Kristallisationspunkt einer Pluralität von Leistungs-bezügen anderer Teilsysteme" geworden zu sein und auch "multi-funktional instrumentierbar" zu sein.514) Das gilt auch für Leistungs-bezüge zur Politik oder zur Wirtschaft. Allerdings sind die Leis-tungsbezüge des Leistungssports zu den Massenmedien bzw. ist Medienpräsenz wiederum Bedingung, damit die politischen oder ökonomischen Leistungsbezüge wirksam und damit entsprechende Instrumentalisierungen möglich werden können.
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Pluralität der Leistungsbezüge zu den verschiedenen Teilsyste-men der Gesellschaft und multiple Instrumentalisierung gehören also zu den Existenzbedingungen ausdifferenzierter Teilsysteme. Als solche entwickeln sie zugleich eine Eigendynamik, da sie ihre "Funktion im Verhältnis zu anderen hypostasieren müssen".515) Dieser Prozeß geht einher mit einer unvermeidlichen Steigerung ih-rer wechselseitigen Independenzen und Interdependenzen. Damit ist auch eine Dynamik der Instrumentalisierung durch die Teilsys-teme verbunden, für die jeweils Leistungen erbracht werden. Diese für den Sport offenbar existenziellen Gegebenheiten werden zu-nehmend anerkannt und führen dazu, moralisierenden Vorurteilen der politischen Instrumentalisierung sportlicher Leistungen - gegen wen sie auch immer gerichtet sind - z.T. sehr vehement entgegen-zutreten.
Die Leistungssportbeschlüsse der SED orientierten stets auf solche Leistungsfelder sowie auf solch ein Leistungsniveau und ein Maß an Bündelung von Leistungen zu den Höhepunk-ten im internationalen Leistungssport, daß sowohl sportpoliti-sche als auch politische Instrumentalitäten möglich und reali-sierbar waren.
Die sportpolitischen und die politischen Aspekte der Gesamtziel-stellung richteten sich vor allem auf außenpolitische Instrumentali-täten, und zwar ebenso die in den Beschlüssen der verschiedenen Parteitage als auch die in den Leistungssportbeschlüssen für die einzelnen Olympiazyklen und die in den Zweijahresanalysen. In einzelnen Beschlüssen des Politbüros des ZK der SED wird auch die beabsichtigte innenpolitische Instrumentalisierung sportlicher Leistungen explizit formuliert.
Die Abforderung von sportlichen Leistungen, die politisch wirk-same Instrumentalisierung erwarten ließen, erwies sich als
- objektive Existenz- und Entwicklungsbedingung der Ausdiffe-renzierung des Leistungssports als Subsystem von Körperkultur und Sport in der DDR, seiner Autonomie und seiner gesteigerten Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten, insbesondere von der Poli-tik;
- ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozia-lismus und der Neubestimmung der Identität des Sports in der sow-jetisch besetzten Zone bzw. der DDR, infolgedessen ganz bewußt vom objektiven Zusammenhang von Kultur und Politik, Sport und
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Politik ausgegangen und politische Instrumentalitäten mit sportli-chen Höchstleistungen verbunden wurden;
- absichtsvolles Nutzen von objektiv gegebenen Möglichkeiten des weltweit organisierten Sports und der internationalen Wett-kampfsysteme, die infolge der Universalität und Internationalität, der offensichtlichen Vergleichbarkeit und Massenwirksamkeit sowie der daraus resultierenden Chance nationaler Repräsentanz gesell-schaftlich außerordentlich relevant waren.
Unsere Analysen belegen die Instrumentalisierung mittels ziel-strebiger Politisierung.
Unstrittig sind inzwischen z.B. die außen- und deutsch-landpolitischen Wirkungen der „Diplomaten im Trainingsanzug" aus der DDR, ihrer sportlichen Leistungen und ihrer persönlichen Aus-strahlung.354)
Diese Wirkungen waren zwar erst infolge der sportlichen Leistun-gen möglich, letztlich aber Ergebnis der Sportpolitik als Teil der weltweit anerkannten Außenpolitik der DDR und dem aufrichtigen Bemühen der Leistungssportler, Trainer, Wissenschaftler und Funktionäre, als Mensch ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden und im Interesse von Frieden und Entspannung, gegen-seitiger Achtung und Verständigung auf allen Ebenen des interna-tionalen Sports zu wirken355), oft weil sie selbst Krieg und Nach-krieg, Ausgrenzung und Zurücksetzung, z.B. durch die Hallstein-Doktrin, schmerzlich erfahren hatten.
Illusionäre und überzogene Vorstellungen hinsichtlich der außen-politischen Wirkungsmöglichkeiten des Sports haben auch in der ehemaligen DDR mehr geschadet als genutzt und führten, so z.B. HEINZE, zu der Erkenntnis: "Der Sport wird mißbraucht, wenn er politische Probleme lösen soll" oder "als Druckmittel genutzt wurde, um politische Probleme zu lösen".356)
Mit HOLZWEIßIG könnte resümiert werden: "Vor der Instrumen-talisierung des Sports für staatliche oder ideologische Zielsetzun-gen scheuen Politiker weder in Ost noch West zurück".357)
Ganz in diesem Sinne stellt PREISING in einem Studienbrief der Trai-nerakademie Köln des DSB fest: „Das bedeutet, der Leistungssport hat deswegen für das politische System einer Gesellschaft eine so ho-he Bedeutung, weil der Erfolg im Spitzensport die Leistungsfähig-keit des Staates nach innen, gegenüber seinen Bürgern, aber auch nach außen, gegenüber anderen Staaten, belegt".360)
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Unsere Analysen des Phänomens der Funktionen und Leistun-gen des Subsystems Leistungssport der DDR unterstreichen nach-drücklich, die a priori engen Verflechtungen von Sport und Politik, die sich "gerade an dem Problem der innerdeutschen Sportbezie-hungen aufzeigen"361) lassen.
Am Beispiel politischer Instrumentalitäten fällt dem Autor jedoch die Fülle diesbezüglicher moralischer Verurteilungen362) auf, die den Erkenntnisgewinn zwar beeinflussen, letztlich aber nur - und hier ist sicher LUHMANN beizupflichten - eigene Interessen an der Unwahrheit konstatieren.363) Aufgrund der von uns gemachten Er-fahrungen stimmen wir deshalb ausdrücklich WEEBER zu, der be-zogen auf Legenden, die antiken Olympischen Spiele und die Olympia-Rezeption in unserer Zeit betreffend, betont: "Ein beson-deres Ärgernis ist die moderne Debatte über die angeblich bedau-ernswerte Verquickung von olympischem Sport und Politik. Diese Peinlichkeit haben sich die Griechen nicht erlaubt, Krokodilstränen über die politische Instrumentalisierung sportlicher Erfolge zu ver-gießen! Für sie gehörten die beiden Dinge zusammen, und wenn man etwas von den alten Olympiern lernen will, dann sollte das der Abschied von jener Bigotterie sein, die es einem so schwer macht, die Verlautbarungen des IOC und seiner willfährigen publizisti-schen Hilfstruppen noch ernstzunehmen".364)
Hypothetische Annahmen einer Instrumentalisierung mittels Ent-politisierung des Sports in der DDR müssen aus der Sicht unserer Untersuchungsergebnisse zurückgewiesen werden. Die Wir-kungsmöglichkeiten der Entpolitisierung365) des Sports bzw. der sportlichen Tätigkeit sind seit langem bekannt, erlangen aber mit den zunehmenden Möglichkeiten der Massenkommunikation auch zunehmende Relevanz. Das verdeutlicht, bezogen auf die Medien-politik, HANKE mit der auf die Situation in der BRD bezogenen Feststellung: „Das ‘Instrumentalisierungsbestreben des politisch-administrativen Systems’ gegenüber dem Entstehungs-, Begrün-dungs- und Wirkungszusammenhang von mediengesteuerter Mas-senkommunikation kann sich eben nicht nur in direkten Ein- und Angriffen auf die Programmgestaltung äußern, sondern auch un-mittelbar über den Effekt der Reduzierung des öffentlichen Prob-lemdrucks über eine indirekte herbeigeführte Entpolitisierung der Medieninhalte. Kurzfristig kann dieser Effekt politisch funktional er-
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scheinen, längerfristig ist die 'machtpolitische Ambivalenz' dieser Entwicklung nicht zu unterschätzen".366)
Eine wirksame politische und sportpolitische Instrumentali-sierung erforderte, ja erzwang, stets auch jenes Maß an Neu-heit und Originalität zu erreichen, daß aufgrund der außeror-dentlichen Dynamisierung der Geschichtlichkeit von kulturel-len, einschließlich sportlichen, Leistungen notwendig war.
Aber genau das erforderte Autonomie, und zwar verstanden im Sinne der Systemtheorie, d.h. „Unabhängigkeit in der Selbstregu-lierung“ und zwar solcher Art, daß „Abhängigkeiten und Unabhän-gigkeiten zusammen bestehen können.“350)
Die - wenn auch partielle - systemtheoretische Betrachtung ent-wicklungsbestimmender Bedingungen des Leistungssports der DDR erhärtet und unterstützt die formulierten Hypothesen und verweist vor allem auf
- die Institutionalisierung des Leistungssports der DDR als selbst-referentielles System, die Autonomie und relativierende Reflexion als Form der Selbststeuerung ermöglichten;
- die dadurch begründete und infolge der Systemreflexion auf un-terschiedlichen Ebenen mögliche Lern- und Innovationsleistung, die jenes Maß an Neuheit und Originalität gewährleistete, welche aufgrund der außerordentlichen Dynamisierung der Geschichtlich-keit von kulturellen - eingeschlossen von sportlichen - Leistungen notwendig war;
- die Kausalität der erreichten sportlichen Leistungen mit solchen entwicklungsbestimmenden Bedingungen, wie der vorrangigen Konzentration auf den langfristigen Leistungsaufbau und das Trai-ning in diesem Prozeß, die Befähigung der Trainer, den pädagogi-schen Prozeß zu führen und dazu alle anderen entwicklungsbe-stimmenden Bedingungen einzusetzen, wie die interdisziplinäre Theoriebildung und Technologieentwicklung, den Theorie- und Bil-dungsvorlauf, die systematische sportmedizinische Betreuung, eine entsprechend gerichtete Führung und Leitung sowie "Kausalität ... vorwiegend systemrelativ zu denken"516) und einzusetzen;
- die Autonomie und Selbststeuerung der geförderten Sportver-bände (vor allem in sportfachlichen und sportwissenschaftlichen Fragen) infolge einer entsprechenden Institutionalisierung und der Schaffung von notwendigen Kontextbedingungen, z. B. der Wis-senschaftlichen Zentren, der interdisziplinären Forschungsgruppen
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sowie verbandsübergreifender Arbeitskreise für die Sportarten-gruppen.
Folgerungen sollten erstens hinsichtlich der weiteren Quellensi-cherung und Quellenerhebung gezogen werden. Es sind vor allem die in dieser Arbeit ausgewerteten Leistungssportbeschlüsse des Po-litbüros des ZK der SED zu ergänzen durch die Analyse der Nachfol-gebeschlüsse bzw. -materialien des DTSB, der GST und des Staats-sekretariates für Körperkultur und Sport.
Aus dem Archiv des DTSB sollten in weiterführenden Untersu-chungen die Materialien der Konferenzen anläßlich der Auswertung der verschiedenen Olympiazyklen und zur Erläuterung der Leis-tungssportbeschlüsse sowie die grundlegenden Dokumente der Entwicklung des Leistungssports in verschiedenen Sportverbänden (jeweils Perspektivplan, Trainingsmethodische Grundkonzeption, Rahmentrainingsplan, Sportmedizinisches Verbandsprogramm, Forschungs- und Entwicklungskonzeptionen, Zweijahres- und Vier-jahresanalysen) analysiert werden.
Die Beschlüsse der GST für die geförderten olympischen Sport-arten (z.B. Schießsport) sind ebenso zu sichern wie für die nicht-olympischen Sportarten (z.B. Orientierungstauchen, Fallschirm-sport).
Vom Staatssekretariat für Körperkultur und Sport sind vor allem einzubeziehen die Konzeptionen zur Traineraus- und -weiterbildung, die Forschungs- und Entwicklungskonzeptionen, die Beschlüsse zur materiell-technischen Sicherstellung des Leis-tungssports und die Konzeptionen bzw. Arbeitsmaterialien des Sportmedizinischen Dienstes sowie der Forschungs- und Entwick-lungsstelle für Sportgeräte und des Wissenschaftlich-technischen Zentrums für Sportbauten.
Die Quellensicherung müßte außerdem Dokumente der Sport-klubs bzw. einzelner Sektionen einbeziehen und helfen, daß Ein-zelfallanalysen und Gruppen- oder Mannschaftsanalysen möglich werden, um die Umsetzung der Zielstellung über die Sportverbän-de, die jeweilige Sektion in den Sportklubs bis zu den Trainings-gruppen und zu einzelnen Athleten wenigstens exemplarisch ver-folgen zu können. Gegenwärtig müßte auch das methodische In-strumentarium „Oral History“ weiter eingesetzt werden, um die Quellenbestände durch Aussagen von Zeitzeugen zu ergänzen bzw. zu vervollständigen.
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Zweitens sind besonders hinsichtlich der erwarteten und tatsäch-lich erreichten Instrumentalitäten die Beschlüsse der SED zur Me-dienpolitik, insbesondere Festlegungen für die Sportredaktionen der Massenmedien und die Festlegungen bzw. Empfehlungen in den regelmäßigen Presseanleitungen durch den DTSB zu sichern. Außerdem sollte die Transformation der Instrumentalisierungsab-sichten in den massenwirksamsten Printmedien (Neues Deutsch-land, Junge Welt, Sportecho) und den elektronischen Medien (Fernsehfunk, Hörfunk) der ehemaligen DDR analysiert und die tatsächliche Instrumentalisierung sportlicher Leistungen auch dadurch ermittelt werden.
Folgerungen scheinen uns drittens auch erforderlich hinsichtlich der Betrachtung des Leistungssports der DDR aus funktional-struktureller Sicht. Dazu sind grundlegende Untersuchungen erfor-derlich zur Ausdifferenzierung des Subsystems Leistungssport, z.B. zu Reflexionen zur Funktion des Subsystems auf der Grundla-ge von Vorarbeiten von CACHAY, SCHIMANK u. a., zu Prozessen der Strukturbildung bzw. zu Leistungen des Subsystems Leis-tungssport für die Politik, für die Medizin, für das ökonomische Sys-tem, für das Bildungssystem oder für die Armee. Dieses sollte be-sonders hinsichtlich der Bezugsprobleme, der Problemlösungen und der jeweiligen strukturellen Reaktionen geschehen. Die Not-wendigkeit und der Wert solcher systemtheoretischer Betrachtun-gen wird durch die vorliegende Arbeit unterstützt.
Viertens halten wir es für dringend geboten, in den bisher mögli-chen bzw. erweiterten Sichtweisen ausgewählte Bestandteile des Leistungssports der DDR, wie Auswahlsystem und Nachwuchsför-derung, Wissenschaft und Forschung, Leitung und Organisation mittels spezifischer Forschungsansätze und -methoden tiefgründi-ger zu untersuchen. Nach unseren Erkenntnissen könnten Folge-rungen für systemverändernde Entscheidungen besonders auch zur Vorbereitung der Olympischen Spiele im Jahr 2000 mit beacht-licher Praxisrelevanz erarbeitet werden. Für ein solches Vorgehen haben wir nach unserer Auffassung mit der vorliegenden Schrift sowohl theoretische Grundlagen als auch zeitgeschichtliche Er-kenntnisbestände vorgestellt.
Diese zusammenfassenden Schlußbemerkungen legen wir vor allem in der Absicht vor, einmal für uns selbst zu kennzeichnen, in welchen Richtungen und in welcher Sicht wir - so uns die Möglich-
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keit gegeben wird - das Begonnene fortsetzen möchten. Zum an-deren wollen wir Anregungen und Ansätze für weiterführende Ar-beiten aus unserer Sicht vorstellen, wie auch Veranlassung für Disput und wissenschaftlichen Streit geben.
ANMERKUNGEN
1) LANGENFELD, H.: Sportgeschichte, In: HAAG, H, u.a. (Hrsg.): Theorie- und Themen-felder der Sportwissenschaft. Schorndorf 1989, S. 83 f.
2) Vgl. u.a. PABST, U.: Sport - Medium der Politik? Der Neuaufbau des Sports in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg und die innerdeutschen Sportbeziehungen bis 1961. Berlin; München; Frankfurt a.M. 1980
HOLZWEIßIG, G.: Diplomatie im Trainingsanzug. Sport als politisches Instrument der DDR in den innerdeutschen und internationalen Beziehungen. München; Wien 1981 MESSING, M./VOIGT, D.: Das gesellschaftliche System der DDR als Grundlage sportlicher Leistungsförderung. In: UEBERHORST, H. (Hrsg,): Leibesübungen und Sport in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Berlin; München; Frankfurt a.M. 1982 S. 895-916
LEHMANN,N.: Internationale Sportbeziehungen und Sportpolitik der DDR. Ent-wicklung und politische Funktionen unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-deutschen Sportbeziehungen. Münster 1986
SIMON, H./WONNEBERGER, G.: Zur Entwicklung des DDR-Leistungssports in den ersten beiden Jahrzehnten nach Konstituierung des DS. In: Theorie und Praxis des Leistungssports 26 (1988) 10, S. 142-151
3) LANGENFELD, H.: Sportgeschichte, a.a.O., S. 82 ff.
4) VORLÄNDER, H. (Hrsg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte. Göttingen 1990, S. 84
5) Aus dieser Problemsicht und der Quellenlage ergab sich die Strukturierung der Dis-sertation. Nach der Problemstellung (Kap.1) und dem methodischen Vorgehen (Kap. 2) wur-den zur theoretischen Grundlegung der Thematik (Kap.3) dargestellt, der Begriff Leistungs-sport, die Entwicklung des Sports als gesellschaftliche Erscheinung, Beziehungen von Politik und Leistungssport und die Instrumentalisierung des Leistungssports in der DDR. Die Dar-stellung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse (Kap. 4) umfaßt, Leistungssport als Bestandteil der Politik der SED, die Inhalte der Gesamtzielstellung des Leistungssports der DDR, die Realisierung dieser Gesamtzielstellung, vor allem aber wesentliche Bedingungen des Realisierungsprozesses.
510) Beschluß des Sekretariats des ZK der SED vom 19.3.1969 und Beschluß des Po-litbüros des ZK der SED vom 27.10.1987
511) Beschlüsse des Politbüros des ZK des SED vom 10.8.1965 und 27.10.1973
513) CACHAY, K.: Versportlichung der Gesellschaft und Entsportlichung des Sports, Systemtheoretische Anmerkungen zu einem gesellschaftlichenphänomen.
514) SCHIMANK, U.: Die Entwicklung des Sports zum gesellschaftlichen Teilsystem. In: MAYNTZ, R. u.a.: Differenzierung und Verselbständigung: Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme. Frankfurt a.M.; New York 1988, S. 198
515) LUHMANN, N,: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd, 1. Frankfurt a.M.1980
354) Vgl. z.B. HOLZWEIßIG, G.: Sport und Politik in der DDR. Berlin 1988, S. 64
355) Vgl. HOLZWEIßIG, G.: Diplomatie im Trainingsanzug. A.a.O., S. 118
356) HEINZE, G.: Befragungsprotokoll, S. A 63
357) HOLZWEIßIG, G.: A.a.O., S. 9
360) PREISING, W.: Sport und Gesellschaft. Zur Theorie des Leistungssports. Schorndorf 1990, S. 78
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361) SCHNEIDER, H.: Olympische Spiele - Spielball im Kräftefeld von Sport, Politik und Publizistik. Diss, Hamburg 1987, S. 89
362) Vgl. ROSSADE, W.: Sport und Kultur in der DDR, Sportpolitisches Konzept und weiter Kulturbegriff in Ideologie und Praxis der SED. München 1987, S. 35 und S. 239 ff.
363) Vgl.LUHMANN, N.: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1990, S. 594
364) WEEBER, K,-W.: Die unheiligen Spiele, Das antike Olympia zwischen Legende und Wirklichkeit. Zürich; München 1991. S. 9
365) Vgl. POSTMANN, N.: Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt a.M. 1992, S. 173
366) HANKE, J.: A.a.O., S. 353
350) LUHMANN, N./SCHORR, K.E.: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stutt-gart 1979, S. 52
516) LUHMANN, N.: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: LUHMANN, N.: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen 1970, S. 130
329) CACHAY, K.:Versportlichung der Gesellschaft und Entsportlichung des Sports. Systemtheoretische Anmerkungen zu einem gesellschaftlichen Phänomen. In: GABLER, H./GÖHNER, U. (Hrsg.): Für einen besseren Sport. (Festschrift für Ommo Grupe). Schorn-dorf 1990 S. 1 12
330) Vgl. ebenda
332) Vgl. HACKER, W,: Arbeitspsychologie. Berlin 1986, S. 148 ff.
333) LEONTJEW, A.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit, Berlin 1986, S, 105
334) HACKER, W.: A.a,O" S, 116
335) HOLZKAMP-OSTERKAMP, U.: Grundlagen der psychologischen Motivationsfor-schung. Berlin 1981, S. 411
336) Vgl. ebenda, S. 450
337) Ebenda
338) Vgl. LEONTJEW, A. A.a.O., S. 87
339) Ritual wird nach LUHMANN (1987, S. 613 f.) verstanden als Code für einge-schränkte und alternativlos gemachte Kommunikation
340) CACHAY, K.: Sport und Gesellschaft. Zur Ausdifferenzierung einer Funktion und ihrer Folgen. Schorndorf 1988 S. 250
341) Vgl. MARX, K.: Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen. In: MARX, K./ENGELS, F.: Werke, Bd. 16.,Berlin 1962 S. 194 f .
HUMBOLDT, W, v.: Theorie der Bildung des Menschen. In: HUMBOLDT, W. v.: Werke I. Band. Berlin 1960, S. 234 ff .
342) Vgl. Verfassung der DDR vom 6.4.1968. Berlin 1968
343) HANKE, J.: Kulturpolitik, In: ZIEMER, K. (Hrsg.): Sozialistische Systeme. Politik - Wirtschaft - Gesellschaft, München 1989, S. 233
344) Deutscher Sportausschuß: Aufgaben und Grundsätze der Demokratischen Sport-bewegung. Berlin 1948
345) Vgl. HACKER, W.: A.a.0., S. 184
512) Vgl. LUHMANN, N.: Systemtheoretische Argumentationen. In: HABERMAS, J./LUHMANN, N.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a.M. 1971 b, S. 291-405
LUHMANN, N.: Evolution und Geschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 2. 1976 b, S. 284-309
LUHMANN, N.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1987
Die kanadische Kampagne gegen
die Nazi-Olympiade
Von Bruce Kidd, Toronto
"In der internationalen Sportbewegung gab es keine Stim-men, die sich kritisch mit den Zielen nationalsozialistischer Politik auseinandersetzten - zu sehr war man vom Glanz der Vorbereitung und der Spiele selbst beeindruckt." (S. 1042)
Krüger, Arnd: Deutschland und die olympische Bewe-gung (1908 - 1945).- In: Ueberhorst, H. (Hrsg,): Ge-schichte der Leibesübungen, Band 3.- Berlin 1982, S. 1026 - 1047
Die kanadische Kampagne gegen die Nazi-Oympiade wurde von der Communist Party und der ihr angeschlossenen Workers' Sports Association (WSA) geführt. Die WSA war eine Vereinigung von linksgerichteten Einwanderer-Organisationen, wie der Finnish-Canadian Workers' Sports Association und der Ukrainian Labour Temple in Toronto, und von Sportvereinen, die in den frühen 30er Jahren als Teil der Organisationsbemühungen der Workers' Unity League entstanden waren. Diese Sportvereine wuchsen rapide an, da sie sportliche Angebote und eine angenehme soziale Atmo-sphäre zu einer Zeit offerierten, als tausende junger Menschen ar-beitslos waren und nur wenige Kommunen sich staatlich geförderte Erholungsprogramme leisten konnten.
Zuerst bat die WSA das IOC eindringlich, den Veranstaltungsort der Spiele von 1936 zu verändern. Und "The (Toronto) Worker" schrieb 1935: "Die Freunde des Faschismus tun so, als ob die Kampagne gegen die Olympischen Spiele generell gerichtet ist.... Welch ein Blödsinn! Selbstverständlich laßt uns Olympische Spiele durchführen, aber gibt es keinen anderen Veranstaltungsort dafür als Berlin?"
Es wurden Massenmeetings gegen die in Berlin geplanten Spiele in Montreal, Hamilton und Toronto abgehalten. Die Gewerkschaf-ten und das Labour Council stellten Streikposten auf gegen einen Eishockey-Spiel mit dessen Einkünften die Olympiamannschaft fi-nanziert werden sollte. Die kanadische Olympiaauswahl war für dieses Spiel vorgesehen. In Sudbury weigerten sich Inco-Arbeiter,
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für die Reisekosten von Alex Hurd zu spenden, einen ihrer Bergar-beiterkollegen und Eisschnellauf-Meister, der als einziger unter der Bedingung in die Olympiamannschaft berufen worden war, seine Reise nach Deutschland selbst zu bezahlen. Hurd blieb in Sudbury und reiste nicht zu den Winterspielen. Die Stadträte von Winnipeg und Toronto lehnten es ebenfalls ab, für die Olympiamannschaft Geld zu spenden. Als das Dampfschiff "Duchess of Athol" mit der kanadischen Mannschaft für die Winterspiele an Bord aus dem Ha-fen von Halifax auslief, zierte die Aufforderung "No Canucks to the Olympics" die Bordwand, die jemand in der Nacht vorher in großen Buchstaben angebracht hatte. Die Kampagne wurde durch kirchli-che Gruppen, Gewerkschafter und prominente Mitglieder der sozi-aldemokratischen Cooperative Commonwealth Federation (CCF), wie den Bürgermeister von Toronto, Jim Simpson, unterstützt.
Aber die Kampagne fand wenig Unterstützung durch die Presse und die etablierte Sportöffentlichkeit. Der einzige vorbehaltlose Be-fürworter in der Presse war Hal Straight vom "Vancouver Sun", der die Ansicht vertrat, daß "die Olympischen Spiele nicht Hitler oder Deutschland gehören, sondern der Welt".Der Kolumnist des "Toronto Telegramm", Ted Reeve, refelktierte wohl die Meinung der Mehrheit, als er schrieb, daß die Androhung möglicher Schika-nen gerade eine weitere Herausforderung wäre, die ein wahrer Champion zu meistern hätte. "Es kann sein, Katholiken und Juden erwartet vielleicht das Schlimmste bei den Olympischen Spielen in Berlin, obwohl wir nicht glauben, daß derartiges der Fall sein wird. Aber selbst wenn es sehr wahrscheinlich wäre, daß derartiges ge-schieht, sollte es nicht genug sein, einige mutige Irländer oder Ju-den von den Wettkämpfen fernzuhalten, wenn ein geeigneter Mick oder Abe genügend Athlet ist, sich um die Weltmeisterschaft zu bewerben."
Das NOK Kanadas hatte auch nicht die Absicht, zu Hause zu blei-ben und stimmte einmütig zu, "dem Beispiel Großbritaniens zu fol-gen" und an den Berliner Spielen teilzunehmen. Die kurz zuvor gewählte liberale Regierung in Ottawa war einverstanden, die Ent-sendung der Mannschaft zu unterstützen. Mackenzie King sagte vor dem Unterhaus: "Ich glaube es ist sehr zweifelhaft, daß irgend-jemand, der an den Olympischen Spielen teilnimmt, ein offizieller Repräsentant der Regierung dieses Landes ist."
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Am 16. Mai 1936 - weniger als zehn Wochen vor der geplanten Eröffnung der Berliner Spiele - gaben die beiden linksgerichteten Verbände, die sozialdemokratische Sozialistische-Arbeiter-Sport-Internationale (SASI) und die Rote Sport-Internationale (RSI), ge-meinsam bekannt, daß eine Gegen-Olympiade, die Volks-Olympiade, in Barcelona vom 19. - 26. Juli als eine Alternative zu den Olympischen Spielen in Berlin1936 durchgeführt würde. Berlin - so hieß es - "bedeutet, die Faschisierung des Sports und die Vor-bereitung der Jugend für den Krieg".Die Volks-Olympiade sollte durch das katalonische Komitee für den Sport des Volkes organi-siert werden.Bald kündigte auch das NOK Spaniens an, daß es Berlin boykottieren, aber in Barcelona teilnehmen würde.
Obwohl ohnehin die meisten Athleten aus Europa erwartet wurden, versprach das Organisationskomitee der Volks-Olympiade, die Kosten für sechs kanadische Athleten zu übernehmen und die WSA verpflichtete sich, eine Mannschaft zu entsenden. Die erste Athletin, die nominiert wurde, war Eva Dawes, eine der großartigs-ten kanadischen Leichtathletinnen, die eine Bronze- und eine Sil-bermedaille im Hochsprung bei Olympischen Spielen 1932 und Empire Games 1934 gewonnen hatte. Eva Dawes hatte "kein Inte-resse an Politik", war aber ein Opfer des engstirnigen Antikommu-nismus des Leichtathletik-Establishments geworden. Sie wurde 1935 wegen einer Reise in die Sowjetunion als Mitglied einer Workers' Sports Association (WSA) gesperrt. Die Volks-Olympiade in Barcelona sollte ihr nun einen letzten internationalen Wettkampf ermöglichen. Eine Woche bevor sie Kanada verließ, überquerte sie tatsächlich die Sprunghöhe, die später in Berlin Sieg bedeutete.
Die anderen Mitglieder der Mannschaft waren die Boxsportler Norman "Baby" Yack und Sammy Luftspring, die Sprinter Tom Rit-chie und Bill Christie sowie der Manager Harry Sniderman. Luft-spring war vermutlich der beste Boxsportler des Landes in seiner Gewichtsklsse, ganz gleich ob man die Amateure oder die Profis ins Auge faßt. Bevor er gezwungen war, sich infolge einer schwe-ren Augenverletzung 1940 vom aktiven Sport zurückzuziehen, hat-te er 105 von 110 Kämpfen gewonnen, und nach den fünf verlore-nen Kämpfen gewann er vier der Rückkämpfe. Er war Jude, au-ßerordentlich stolz darauf, und startete stets mit einem Davidstern auf den Wettkampfshorts. Er wollte in Berlin teilnehmen, aber seine Eltern waren dagegen, so entschied er als "ein folgsamer Sohn,...
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sie hatten recht". Er überzeugte dann Baby Yack, ein anderes vo-raussichtliches Mitglied der kanadischen Olympiamannschaft, und sie gaben ihre Absichten in einem Brief an die "Toronto-Newspaper" bekannt. Luftspring traf dann Sniderman, einen be-kannten Softball-Werfer und Hiram-Walker-Vertreter. Dieser fragte Luftspring: "Warum läßt du die Kommunisten deine Reise bezah-len?" Und er kündigte an: "Laß sehen, was ich mit dem Canadian Jewish Congress tun kann." In weniger als 24 Stunden hatte Sniderman genügend Geld für beide Boxsportler und für sich selbst als Manager organisiert sowie eine Herrengesellschaft zur Verab-schiedung bei der Young Men's Christian Association (YMCA). Trotz einer Rekord-Hitze-Welle begleiteten dann etwa 500 Men-schen das Trio drei Meilen zur Union Station - hier trafen sie die anderen - und zu einer stürmischen Verabschiedung. Ihr Schiff ver-ließ Montreal am nächsten Tag.
Christie und Ritchie waren frühere kanadische Meister und beide besorgt, daß gar keine Mannschaft für Berlin zustande kommen könnte. So akzeptierten sie das Angebot, nach Barcelona zu rei-sen. Keiner von beiden tat das wegen seines Verständnisses der politischen Zusammenhänge.
In Barcelona kündigten die Organisatoren an, daß ein großes Kunst-Festival und eine Konferenz zum Sport und zum öffentlichen Gesundheitswesen in Verbindung mit der Volks-Olympiade durch-geführt würde, Dolmetscher sollten für fünf Sprachen - katalanisch, spanisch, französisch, englisch und deutsch - zur Verfügung ste-hen.
Die französische Mannschaft war mit 1300 Athleten und Delegier-ten sowie einer gleich großen Anzahl von Anhängern die größte, die nach Barcelona reiste. Außerdem kamen Mannschaften aus 12 Ländern sowie von der SASI und der RSI. Nicht alle Athleten reis-ten als Mitglied nationaler Delegationen an. Eine Anzahl von Deut-schen, Flüchtlingen, von Veteranen früherer Olympischer Spiele und Spartakiaden kamen auf eigene Kosten. Viele von ihnen blie-ben in Spanien und nahmen am Bürgerkrieg teil.
Bedauerlicherweise fand die Volks-Olympiade dann gar nicht statt. Der von Franco geführte Aufstand brach in den Kasernen von Barcelona am Morgen der geplanten Eröffnungs-Zeremonie aus. Wenn auch die Regierung die Ordnung wieder herstellte, wurden die Spiele abgesagt und die Athleten evakuiert. Einige Athleten wa-
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ren verletzt worden, obwohl die katalanischen Behörden alles un-ternahmen, um die internationalen Delegationen zu schützen.
Die Kanadier waren bereits in Toulouse und warteten ungeduldig auf einen Zug, als der britische Konsul ihnen mitteilte, daß der Bür-gerkrieg ausgebrochen ist und sie nach Kanada zurückkehren müssen. Nach ihrer Rückkehr wurden sie alle von ihren Sportorga-nisationen gesperrt.
Wie die Reise nach Barcelona hatte die kanadische Boykott-Kampagne nur begrenzten Erfolg. Es mißlang, die kanadische olympische Bewegung von der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Deutschland abzuhalten. Auch die öffentliche Meinung wurde kaum beeinflußt. Aber die Kampagne war ein Sammelpunkt für jene progressiven Athleten, Trainer und Sportanhänger, die sich nicht mit dem Handschlag der Sportfreundschaft mit Nazi-Deutschland abfinden konnten. Und es wurden eindrucksvolle Prä-zedensfälle für spätere ethisch begründete Boykott-Kampagnen geschaffen.
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WENN IN GARMISCH ETWAS PASSIERT...
Im Februar war es 60 Jahre her, daß in Garmisch-Partenkirchen die Olympischen Winterspiele veranstaltet wurden. Wir veröffentlichen zwei Dokumente. Das eine ist ein Brief Ritter von Halts1) - damals für die Organisation in Gar-misch-Partenkirchen verantwortlich - an das Reichsministeri-um des Innern, datiert vom 14. Mai 1935, das andere die die-sem Brief beigefügte Erklärung, die das deutsche NOK nach Abstimmung mit dem Reichsinnenministerium gegenüber dem IOC bei dessen Zusammenkunft in Athen 1934 abgab. (Beide Dokumente stammen aus dem Privatarchiv von Dr. Klaus Huhn)
München, den 14.Mai 1935 P/Sch.
An das
Reichsministerium des Innern
z.Hd. Herrn Staatssekretär Pfundtner
Berlin NW 40 - Königsplatz Nr. 6
Sehr verehrter Herr Staatssekretär,
Verschiedene Vorkommnisse in und um Garmisch-Partenkirchen veranlassen mich heute, Ihnen hochverehrter Herr Staatssekretär, folgendes mitzuteilen:
Mit wachsender Sorge beobachte ich in Garmisch-Partenkirchen und Umgebung eine planmässig einsetzende antisemitische Pro-paganda. Wenn sie bis vor wenigen Monaten geschlummert hat und nur hin und wieder in Reden zum Durchbruch gekommen ist, so wird jetzt systematisch dazu übergegangen, die Juden in Gar-misch-Partenkirchen zu vertreiben. Am 1. Mai hat der Kreisleiter Hartmann in seiner Rede dazu aufgefordert, alles Jüdische aus Garmisch-Partenkirchen zu entfernen. Ich war selbst Zeuge, wie derselbe Kreisleiter einen anscheinend jüdischen Gast aus der Garmischer Post entfernt hat. Ich sehe seit vergangenen Samstag an allen möglichen Stellen in Garmisch-Partenkirchen und vor al-lem auf der gesamten Landstrasse von München nach Garmisch-Partenkirchen grosse Tafeln angebracht mit der Inschrift „Juden sind hier unerwünscht“. Der Leiter der Deutschen Arbeitsfront in Garmisch hat in einer Hotelier-Versammlung zum Ausdruck ge-
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bracht, daß jeder Gaststättenbesitzer aus der Partei ausgeschlos-sen würde, der einen Juden als Gast aufnehme.
Sofern er nicht Parteigenosse wäre, würde mit anderen Mitteln ge-gen ihn vorgegangen werden.
Ich könnte diese Beispiele durch eine Unzahl von Episoden ver-vollständigen, die sich in G.-P. ereignet haben. Dabei scheint man zu vergessen, dass G.-P. 1936 der Schauplatz der Olympischen Winterspiele sein soll. Alle Nationen sind eingeladen und alle ha-ben zugesagt. Exzellenz Lewald und ich einerseits und der Reichs-sportführer andererseits haben unter ausdrücklicher Billigung des Reichsinnenministeriums dem Internationalen Olympischen Komi-tee und verschiedenen Führern nationaler ausländischer Verbände (ich erinnere an die schriftliche Zusagen, die Brundage gegeben wurden) das Versprechen gegeben, dass alles vermieden wird, was zu einer Störung anlässlich einer evtl. Teilnahme von jüdi-schen Sportlern anderer Nationen führen könnte. Wenn die Propa-ganda in dieser Form weitergeführt wird, dann wird die Bevölke-rung von Garmisch-Partenkirchen bis 1936 so aufgeputscht sein, dass sie wahllos jeden jüdisch Aussehenden angreift und verletzt. Dabei kann es passieren, dass Ausländer, die jüdisch aussehen und gar keine Juden sind, beleidigt werden. Es kann passieren, daß ein jüdischer Auslandspressevertreter angegriffen wird und dann sind die schlimmsten Konsequenzen zu befürchten. Das Olympische Verkehrsamt weiss heute schon nicht mehr, wie es die Unterbringung vornehmen soll, wenn es sich um nichtarische Ath-leten handelt.
Im Juni kommt das amerikanische Mitglied des IOC, General She-rill, nach München und Garmisch. Bei der Empfindlichkeit dieses Herrn ist es nicht ausgeschlossen, daß er kurz ausserhalb Mün-chen bei der ersten Tafel „Juden sind hier unerwünscht“ kehrt macht und umgehend wieder Deutschland verlässt. Die Folge wäre eine sofortige Absage der Amerikaner und Zurückziehung ihrer be-reits abgegebenen Meldung.
Wenn in G.P. die geringste Störung passiert, dann - darüber sind uns doch alle im klaren - können die Olympischen Spiele in Berlin nicht durchgeführt werden, da auch alle übrigen Nationen ihre Mel-dung zurückziehen würden. Diesen Standpunkt haben mir am Sonntag, den 12. 5. 35, die Nationen, die bei der internationalen Tagung in Brüssel anwesend waren, eindeutig zum Ausdruck ge-
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bracht. Für uns Deutsche wäre das ein ungeheurer Prestigeverlust und der Führer würde die Verantwortlichen zur Rechenschaft zie-hen und ihnen eine verdiente Strafe erteilen, da sie nicht rechtzeitig auf die Konsequenzen dieser Propaganda aufmerksam gemacht haben.
Herr Generaldirektor Döhlemann, der als stellvertretender Präsi-dent und als Schatzmeister im Organisationskomitee für die Olym-pischen Winterspiele tätig ist, beschäftigt sich seit Wochen eben-falls mit den gleichen Sorgen. Er trägt mit mir zusammen die Ver-antwortung für die Organisation und richtige Durchführung der Olympischen Winterspiele und empfindet mit mir die Zuspitzung, welche die Verhältnisse im obigen Zusammenhang genommen ha-ben und die ohnedies bestehenden Schwierigkeiten noch erheblich vermehren, besonders verantwortungsvoll. Herr Döhlemann hat sich infolgedessen veranlasst gesehen, Herrn Staatsminister Adolf Wagner in seiner Eigenschaft als Gauleiter von München-Oberbayern heute auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die zu befürchten sind, falls nicht eine grundlegende Abhilfe geschaf-fen wird, welche eine Gefährdung des Zustandekommens und der ordnungsmäßigen Durchführung der Olympischen Winterspiele aus-schliesst.
Herr Staatsminister Wagner hat Herrn Döhlemann die Erklärung abgegeben, daß er sofort Weisung geben wird, dass in der Juden-frage im Garmisch-Partenkirchener Gebiet und seinem Umkreis auf die Abmachung des Reiches mit dem IOC Rücksichten zu nehmen sind.
Herr Staatssekretär, ich bitte davon überzeugt zu sein, dass ich diese meine Sorge nicht deshalb äussere, um den Juden zu helfen, es handelt sich ausschliesslich um die olympische Idee und um die Olympischen Spiele, denen ich seit Jahren meine ganze freie Zeit ehrenamtlich widme. Es wäre für mich die größte Enttäuschung meines Lebens, wenn ausgerechnet in Deutschland die Olympi-schen Spiele aus den oben geschilderten Gründen nicht durchge-führt werden könnten. Ich habe mir erlaubt, Ihnen, Herr Staatssek-retär, ganz offen meine Auffassung mitzuteilen und bitte ergebenst, von massgebender Stelle eine Aenderung zu befehlen.
Heil Hitler!
gez.: Dr. von Halt
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Im Einverständnis mit dem Reichsinnenministerium wurden bei der Sitzung des Internationalen Olympischen Komitees in Athen 1934 von Deutschland folgende Erklärungen abgege-ben:
1.“Deutschland wird die in Wien 1933 eingegangene Verpflichtung, nicht-arische deutsche Sportsleute bei entsprechender Leistung in die deutsche Olympiamannschaft einzureihen, selbstverständlich sorgfältig beachten und allen hierfür aussichtsreichen Sportsleuten Gelegenheit zur Vorbereitung geben.
2. Der deutsche Leichtathletik-Verband hat in Ausführung obiger Massnahme den Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten und den Makkabikreis aufgefordert, Olympiatalente zur Ausbildung namhaft zu machen, was der erstere durch Brief vom 15.3.34 in Aussicht gestellt hat.
3. Bei der Suche nach dem „unbekannten Sportsmann“ ist aus-drücklich nur deutsche Staatsangehörigkeit gefordert, so dass auch hier nichtarische Talente weiter ausgebildet werden.
4. Die Besorgnis, es könnten gegen jüdische Teilnehmer Demonst-rationen erfolgen, ist bei dem sportlichen Geist und der Disziplin des deutschen Volkes als außerhalb jeder Möglichkeit zu betrach-ten. Die deutschen Mitglieder übernehmen hierfür die volle Garan-tie.“
In voller Erkenntnis dessen, daß die politische Seite dieser Frage nicht Aufgabe des Komitees ist, aber seine Pflicht, darüber zu wa-chen, das der Sport ausserhalb jeglicher Politik bleibt, nimmt das Komitee diese Erklä-rung mit Befriedigung entgegen und erklärt, daß die vom Organisationskomitee für die XI. Olympiade beige-brachten Beweise in einwandfreier Form zeigen, das alles getan sei, um alle deutschen Sportler auf dem Boden völliger Gleichbe-rechtigung zu stellen.
1) Karl Ritter von Halt (2.6.1891 - 5.8.1964), 1931-34 Präsident der Deutschen Sportbehörde für Athletik, 1934-45 Leiter des DRL-Reichsfachamts Leichtathletik im Nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen, 1944-45 kommissari-scher Reichssportführer im NS-Staat, 1929 - 64 Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, 1951 - 61 Präsident des Nationalen Olympischen Komi-tees für Deutschland (BRD).
LAUDATIO FÜR EINE HUNDERTJÄHRIGE
Von Siegfried Melchert
1896 wurde in St. Petersburg vom Mediziner P.F. Lesgaft die erste Hochschule für Körperkultur in Rußland gegründet. Sie ist demzufolge so alt, wie die Olympischen Spiele der Neuzeit und hat sich in diesem Jahrhundert weltweit großes Ansehen erwor-ben.Dieser Beitrag reicht nicht für eine Chronik der berühmten Hochschule. Versuchen wir, uns durch drei „Fenster“ Einblicke zu verschaffen, um ihr Jubiläum gebührend zu würdigen.
Der erste Blick gilt Petersburg, der Gründung seiner Akademie, der zweite dem Wirken des vielseitigen Gelehrten und Humanisten P.F. Lesgaft, der Gründung des St. Petersburger Instituts für Kör-perkultur und der dritte der heutigen "Akademie für Körperkultur“.
Aus der Geschichte der Petersburger Akademie
Peter I.ist als der Zar in die Geschichte eingegangen, der seine zentralistische Macht mit aller Entschlossenheit nutzte, um das russische Reich an die Entwicklung Europas heranzuführen. Als 17jähriger trat er 1689 die Selbstherrschaft an. Entgegen aller Tra-ditionen des Hofes suchte er sich ausländische Berater, wie den Genfer Francois Lefort und den Schotten, General Gordon. Seine erste Auslandsreise führte ihn inkognito als Mitglied einer russi-schen Gesandtschaft unter Francois Lefort über Riga und Kurland nach Preußen, Holland, England, Österreich, Sachsen und Polen. In den Niederlanden und in England ließ er sich zum Sachverstän-digen für Schiffbau und Seefahrt ausbilden1), betrieb intensive Stu-dien in Artilleristik, Festungsbau, Pionierwesen, Architektur, Geo-metrie und Mechanik so fleißig, daß Oxford ihm den Titel eines "Doktors der Rechtskunde" verlieh.2) Im Ausland heuerte er Kapi-täne, Steuerleute, Ärzte und andere Spezialisten an, und nach sei-ner Rückkehr leitete er selbst den Bau einer Flotte, mit der er über die russischen Ströme nordwärts und über den Ladoga-See ins Mündungsdelta der Newa zog, aus dem er die Schweden heraus-drängte. Am 27. Mai 1703 begann er auf einer Newa-Insel, unter den Augen der Schweden vor deren Festung Nyen, mit dem Bau
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der Peter-Pauls-Festung, die er zu "Rußlands Fenster nach Euro-pa" ausbaute.Unter Mitwirkung der besten Baumeister der Zeit, so Trezzini, Leblond und Schlüter, wurde Petersburg planvoll und großzügig zur neuen Residenz Rußlands ausgestaltet. Paläste entstanden, Parks wurden angelegt, eine Bibliothek eröffnet, tech-nische Institute und eine Druckerei. Gegen den Widerstand der Moskowiter ließ er 1711 die Residenz nach Petersburg verlegen und betrieb von hier aus die großen Reformen. Brutal gebrauchte er absolutistische Macht und zwang den Adel, seine Maßnahmen zu finanzieren, und Hunderttausende Leibeigene, sie zu realisie-ren, ohne Rücksicht auf Gesundheit und Leben.
1724 gründete er die Petersburger Akademie, die erste und bis heute berühmteste Akademie Rußlands. Leibniz, der nach seinem Studium in Leipzig und Jena die Arbeit der Akademien in Paris (wo er 1672-76 weilte), London (wo er 1673 in die Royal Society aufge-nommen wurde) und Rom (1687-90) kannte, gründete 1700 die Sozietät der Wissenschaften in Berlin, deren Präsident er auf Le-benszeit war. 1711 wurde er in Torgau von Peter I. empfangen3), traf ihn insgesamt dreimal und gilt als einer der Anreger für die Gründung der Petersburger Akademie.4)
Viele Wissenschaftler und Forscher kamen aus Westeuropa, so der erste Präsident Blumentrost, die Leiter der zahlreichen Expedi-tionen - D.G. Messerschmidt ab 1720 nach Sibirien, Vitus Bering ab 1725 nach Kamtschatka, J.C. Buxbaum ab 1725 nach Konstan-tinopel und G.W. Steller 1737, sowie 1740/41 und 1742/43 nach Sibirien und Kamtschatka - die Mathematiker D. Bernoulli, J.Herrmann und vor allem L. Euler (1727-1741 und 1766-1783) der Geograph J.-N.de l'Isle; und die Physiker G.B. Bülfinger, G.W.Krafft und G.W.Richmann, um nur die berühmtesten zu nennen.5)
In den Lebensläufen dieser Wissenschaftler bestätigt sich das Eulersche Bekenntnis von 1749, "... ich und alle übrige, welche das Glück gehabt, einige Zeit bei der russisch Kaiserlichen Academie zu stehen, müssen gestehen, daß wir alles, was wir sind, den vort-heilhaften Umständen worin wir uns daselbst befunden, schuldig sind."'6) Neben den ins Land gerufenen westeuropäischen Gelehr-ten entwickelten sich hervorragende russische Gelehrte und berei-cherten die wissenschaftliche Diskussion des 19. und 20. Jahrhun-derts, von M.W.Lomonossow7) über den Physiker W.W. Petrow,
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den Physiologen I.P.Pawlow, den Historiker S.M. Solowjow, die Chemiker A.M. Butlerow und D.I.Mendelejew.
Die Akademie wählte die Physiker Albert Einstein, Max Born, Max von Laue, Walter Nernst, die Chemiker Willstädter und Haber und den Botaniker Haberland zu Mitgliedern. An der Spitze der deutschen Delegation zur 200-Jahrfeier 1925 erklärte Max Planck: "Die russischen Wissenschaftler haben vieles von uns gelernt, so wie wir unsererseits von den russischen Wissenschaftlern gelernt haben. Mögen diese engen Beziehungen auch künftig im Interesse des Fortschritts der Wissenschaft fortdauern".8)
In der Zeit der Sowjetmacht wurde die Akademie 1934 nach Moskau verlagert und ausgebaut. Die Leningrader Akademie er-hielt den Status einer Zweig- oder Außenstelle.
Lesgaft und die Gründung des IFK
Wie Pierre de Coubertin im Westen, so wirkte Pjotr Francevic Lesgaft im Osten Europas dafür, neben der geistigen und morali-schen auch die körperliche Bildung9) gleichberechtigt anzuerken-nen, für die harmonische Entwicklung der Kinder und Jugendli-chen.
Die Niederlage im Krimkrieg 1853-56 führte bei den zaristischen Militärs zu ähnlichen Schlußfolgerungen, wie wir sie in der Kabi-nettsorder des preußischen Königs Wilhelm IV. vom 6.Juni 184210) finden, die Leibesübungen als einen unentbehrlichen Bestandteil der männlichen Erziehung zu nutzen. Um die körperliche und ge-fechtsmäßige Ausbildung der Truppen zu verbessern, wurden noch 1856 "Vorschriften für den Turnunterricht in den Truppen" erlas-sen.11) Der Begriff des Turnens und seine historisch-militärische Relevanz wurden aus Deutschland übernommen. Er umfaßte Lau-fen, Hoch-, Weit- und Stabhochsprung, Übungen an Reck, Barren, Pferd und Balken sowie das Klettern an Leitern und Tauen. Die Qualität litt unter dem Fehlen ausgebildeter Vorturner oder Übungsleiter. Darum erteilte die Hauptverwaltung für Militärschulen Professor Lesgaft 1877 den Auftrag am 2. Petersburger Mili-tärgymnasium zweijährige Kurse für die Ausbildung von Turnleh-rern zu beginnen. Diese Turnlehrerkurse existierten bis 1882. 1883 wurde die körperliche Ausbildung an den Militärschulen nach Les-gafts Ideen weiterentwickelt. Neben der täglichen Morgengymnas-
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tik wurden wöchentlich 5 Stunden Turnen und Fechten in den Stundenplan aufgenommen. Neben Lesgaft war der General M.I. Dragomirow an der Schaffung theoretischer Grundlagen insbeson-dere der militärischen Körperertüchtigung beteiligt. Auch er wählte Jahns Begriff des Turnens für einen großen Komplex von Kör-perübungen mit Gehen, Laufen, Springen, Klettern, Überwinden von Hindernissen, Balancieren, Fechten und Geländeübungen. Wie Jahn den Schnappkopf als Ziel für Speerwürfe, so führte er bewegliche Attrappen für das Üben der Bajonettstöße ein. Zu sei-nem "Turnstädtchen“ gehörten Hindernisbahn, Graben, Balken, Pa-lisaden, Verhaue und Wolfsgruben. Er forderte ausdrücklich, das Turnen nicht nur als Mittel zur Entwicklung von Kraft und Gewandt-heit, sondern auch als Mittel zur Entwicklung von Mut und Findig-keit zu gebrauchen.
Ähnlich wie im übrigen Europa, bemühten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in Rußland Ärzte und Pädagogen um die Reform der gesundheitlich-körperlichen Erziehung und die Entwicklung ihrer theoretischen Grundlagen.
Hier die wohl herausragenden: N.G.Cernisevskij (1828-1889) erläu-terte in seinen philosophisch-naturwissenschaftlichen Betrachtungen und schriftstellerischen Arbeiten die Bedeutung der Körpererziehung für die geistige und moralische Vervollkommnung des Menschen als Vorbereitung auf die berufliche Tätigkeit und das soziale Wirken. Er vertrat die Meinung, daß Turnen, Spiele und andere Körperübun-gen für die Gesundung und harmonische Entwicklung für Kinder, Erwachsene und ältere Menschen in gleicher Weise nützlich sind.
Auch N.A. Dobroljubov (1836-1861) betrachtete den Menschen in seiner Einheit, forderte, die geistige Entwicklung des Kindes nicht von seiner körperlichen Vervollkommnung zu trennen, kriti-sierte das deutsche Turnen als zu eng und forderte volkstümliche Körperübungen und Spiele als Hauptmittel der Körpererziehung. Er schrieb: "Es ist schade, daß keiner der Anhänger des deutschen Turnens zu uns in die kirgisischen Steppen oder nach Baschkirien kommt. Hier blüht das Turnen und wiederholen sich originelle olympische Spiele mit Ringkampf, Stangenklettern und Wettlauf periodisch. Die Heldentaten der Ausgezeichneten werden von den Pindars der Steppe besungen, und zu ihrem Ruhm erklingen die einheimischen Musikinstrumente.“12)
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E.A. Pokorvskij (1834-1895) war Arzt und Redakteur der Zeit-schrift "Bote der Erziehung". 1878 organisierte er in Moskau die erste Ausstellung zum Thema "Körpererziehung der Kinder." 1884 veröffentlichte er eine Arbeit "Die Körpererziehung der Kinder bei verschiedenen Völkern, besonders in Rußland". Darin gab er erstmals eine Beschreibung russischer Volksspiele und Abhär-tungsmethoden. Das von wenig qualifizierten Lehrern erteilte Tur-nen in den Schulen befriedigte ihn nicht. Er empfahl Rudern, Schwimmen, Ski- und Eisschnellauf und Wettkämpfe in diesen Sportarten als Mittel der Erziehung.
Der berühmteste und erfolgreichste Erneuerer der Körpererzie-hung und Begründer der Sportwissenschaft in Rußland war der Anatom, Pädagoge und Humanist Lesgaft. Er nutzte die Ideen sei-ner Zeitgenossen im eigenen Lande und die Erfahrungen des Aus-landes, um ein System der Körpererziehung für die Bedürfnisse im eigenen Lande zu entwickeln. Geboren am 21. September 1837 in St. Petersburg als Sohn eines Juweliers, beendete er 1861 sein Studium der Medizin und Chirurgie an der Akademie mit einer Sil-bermedaille, promovierte 1865 zum Dr. der Medizin und 1868 zum Dr. der Chirurgie. Er versuchte, insbesondere die Jugend dafür zu gewinnen, auf ihre körperliche, geistige und moralische Entwick-lung selbst Einfluß zu nehmen. 1874 veröffentlichte er seinen ers-ten Aufsatz zu Grundlagen einer natürlichen Gymnastik und deren Einfluß auf den Organismus. 1876 folgte ein Beitrag, der von den Grundlagen seines Studiums in die Ambitionen seines künftigen Wirkens hinüberleitete: "Die Beziehung der Anatomie zur Körperer-ziehung und die Hauptaufgabe der körperlichen Bildung in der Schule"13)
1875/76 studierte Lesgaft in 26 Städten in 13 Staaten die euro-päischen Erfahrungen in der Organisation des Turnens, der schuli-schen Leibeserziehung und die Ausbildung der Lehrkräfte. Er be-suchte die königlichen zentralen Turnanstalten in Berlin und Mün-chen, die Landesturnanstalt in Dresden, die großherzogliche Turn-lehrerbildungsanstalt in Karlsruhe und die Turnlehrerbildungs- und Musterturnanstalt in Stuttgart sowie ähnliche Einrichtungen in Eng-land, Frankreich und anderen Staaten. 1876 veröffentlichte er ein Buch "Die Ausbildung von Gymnastiklehrern in den Staaten West-europas“.14) Aus dem Studium des deutschen Turnens, der schwe-dischen Gymnastik und seinen eigenen Erfahrungen des Unter-
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richts am Petersburger Militärgymnasium entwickelte er "Richtlinien für die körperliche Ausbildung der Schulkinder".15)
Lesgaft bemühte sich, die Geschichte der Körpererziehung dar-zustellen und periodisierte sie: Eine "empirische Periode" umfaßte Urgesellschaft und Sklaverei, eine "scholastische Periode" das Mit-telalter mit ritterlichen und städtebürgerlichen Übungen (mit einer Analyse theoretischer Ansichten früher Humanisten) sowie die "wissenschaftliche Periode". Hierin untersuchte er eingehend die theoretischen Ansichten der europäischen Pädagogen, Ärzte und Philosophen zur körperlichen umfassenden Bildung und Erziehung des Menschen. Dazu gehören auch die Darlegungen zu John Lo-cke, Jean-Jacques Rousseau, Pestalozzi, GutsMuths, Vieth, Jahn, Spieß und P.H.Ling. Seine Betrachtungen sind recht kritisch und münden in dem Versuch, ein eigenes theoretisch begründetes Sys-tem der körperlichen Bildung zu schaffen. Dazu gehören u.a. fol-gende Positionen:
Das Ziel der körperlichen wie der geistigen Bildung ist die Ent-wicklung der Liebe und Befähigung zur Arbeit, zum Wohle der Ge-sellschaft dienlich zu sein. Körperliche und geistige Bildung sind wechselseitig zu entwickeln.
Körperübungen vervollkommnen nicht nur den Organismus des Menschen, sondern wirken auch auf sein Bewußtsein, seine Emo-tionen und seinen Willen.
Eine wichtige Funktion der körperlichen Bildung besteht in der Befähi-gung, den Wert der eingesetzten Übungen und Methoden für die körper-liche und geistige Entwicklung zu analysieren, also sie gezielt für die schöpferische Aktivität der körperlichen und geistigen Tätigkeit auszu-wählen und einzusetzen.
Harmonische Entwicklung ist nur unter Beachtung des Prinzips der schrittweisen Erhöhung der Belastung und unter Berücksichti-gung der altersgerechten Voraussetzungen möglich.
Von diesen und anderen Grundsätzen ausgehend entwickelte er ein gestaffeltes System der in einzelnen Altersstufen einzusetzen-den Körperübungen in den Schulen. Dabei stützte er sich auf so-genannte natürliche Übungen, Gehen, Laufen Springen, Ringen, Werfen, einfache Spiele und Gymnastik, lehnte aber Wettkämpfe ab.
Eine Analyse seiner Positionen im Lichte moderner Erkenntnis-se der Sportpädagogik könnte einen interessanten Beitrag zur ge-
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planten internationalen wissenschaftlichen Konferenz anläßlich des Jubiläums 1996 ergeben.
Für seine Zeit muß man ihn als den hervorragenden Theoretiker der körperlichen Bildung in Rußland anerkennen. Theoretisch so ausgewiesen, wurde er nicht nur wissenschaftlicher Berater der Hauptverwaltung für militärische Lehranstalten in Fragen der Kör-pererziehung, sondern 1877 zum Leiter der zweijährigen Kurse für die Ausbildung von Turnlehrern für Militärschulen und darüber hin-aus 1893 zum Initiator der Petersburger Gesellschaft zur Förde-rung der körperlichen Entwicklung der Schuljugend. 1896 erhielt er die Erlaubnis, "Kurse für Erzieherinnen und Leiterinnen der physi-schen Bildung" zu beginnen.
Dies war die Geburtsstunde des Instituts für Körperkultur St. Pe-tersburg, das später seinen verdienstvollen Namen bekam. Die vom Mediziner geleitete Ausbildung der Körpererzieher basierte auf einer soliden anatomisch-physiologischen Grundlegung der Ausbildung mit vielseitiger körperlich-gymnastischer Befähigung zur organisatorischen und pädagogischen Umsetzung in und au-ßerhalb der Schulen.
Die Akademie für Körperkultur
Nach 20jähriger wissenschaftlicher Arbeit konnte Lesgaft 1896 beginnen, die in vielen Ländern Europas gesammelten Erfahrun-gen und seine selbst entwickelten Ideen in Lehre und Forschung in einem eigenen Institut weiterzuentwickeln und weiterzugeben, bis zu seinem Tode 1905. Zu den ersten Lektoren des Instituts zählten der Nobelpreisträger I.P. Pavlov, des Akademiemitglied V.L. Koma-rov, späterer Präsident der Akademie der Wissenschaften, sowie die Akademiemitglieder Joffe, Tarle, Uchtomsky , Orbelli und Mo-rosov.
Nach der Oktoberrevolution wurde das Institut 1919 - also ein Jahr nach dem Moskauer Institut für Körperkultur - in den Rang ei-ner Hochschule erhoben und mit der Verleihung des Namens sei-nes Gründers geehrt, 1935 wurde dem Institut für seine Verdienste in Forschung und Lehre der Leninorden verliehen und 1942 als einzigem zivilem Institut der Rotbannerorden für seine Verdienste während der faschistischen Okkupation. Während der 900 Tage
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der Blockade Leningrads nahmen die Lehrkräfte und Studenten an der Verteidigung der Heimatstadt teil. Nur wenige überlebten.
Struktur und personelle Besetzung der Akademie unterstreichen den großzügigen Charakter der Einrichtung. Es gibt sechs Fakultä-ten, je eine für Grundstudium, Fachstudium, Abend- und Fernstu-dium, ausländische Studenten und Aspiranten, Weiterbildung und die selbständige Fakultät für Wintersportarten mit der Außenstelle in Kawgolowo. Die Akademie hat 29 Lehrstühle mit rund 400 Lehr-kräften und wissenschaftlichen Mitarbeitern. 75 Prozent verfügen über wissenschaftliche Graduierungen und Titel. Unter ihnen sind mehr als 200 promovierte Doktoren (Kandidaten) eines Wissen-schaftszweiges, 43 habilitierte Doktoren der Wissenschaften, vier Akademiki - Begriff für Ordentliche Mitglieder der Akademie der Wissenschaften und der Künste und drei korrespondierende Mit-glieder der Zweige der Akademie der Wissenschaften und der Künste zu St. Petersburg, die wieder ihre Selbständigkeit ange-nommen hat und ihre 270-jährige Tradition als älteste Akademie Rußlands fortsetzt.
In traditioneller Verbundenheit und aktueller Problemsicht wird im Lehrstuhl Anatomie unter der Leitung von Professor Antonow Grundlagen- und angewandte Forschung betrieben und in Lehre und Praktika an Originalpräparaten sowie mit computersimulierten Modellen gearbeitet. Der Lehrstuhl befindet sich übrigens in jenem Teil der Akademie, in dem 1896 das Institut von Lesgaft gegründet wurde. Es ist dort auch ein Museum.
Die dialogwissenschaftlichen Lehrstühle wie Geschichte und Leitung der Körperkultur, Theorie und Methodik, Ethik und Ästhetik der Körperkultur, Sportpädagogik und Sportsoziologie sind sowohl auf die Analyse neuer Entwicklungsanforderungen als auch auf die vergleichende Interpretation internationaler Trends und die Weiter-entwicklung der Theorie orientiert. Dabei gibt es interessante eige-ne, die internationale Diskussion bereichernde Positionen.
Die nach Sportarten orientierten Lehrstühle sind vorwiegend auf die Weiterentwicklung des Leistungssports sowie die Nutzung der Sportarten für Schule, Gesundheits- und Massensport ausgerich-tet.
Kooperierend arbeiten die Lehrstühle an folgenden angewand-ten Problemen: Sport und Gesundheit; Sport und Rehabilitati-on/Invalidensport; Entwicklung der Bewegungsfertigkeit im Vor-
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schulalter; Sport und Jugend; Sport und aktuelle soziale Bedürfnis-se; Errichtung von Sportkomplexen in Wohngebieten; Curricula- und Wissenschaftsentwicklung/internationaler Vergleich; Curricula; Entwicklung der Studienprogramme aller Spezialisierungsrichtun-gen
In einer umfassenden Reform von Lehre und Studium werden seit 1989/90 alle Lehrstühle und Ausbildungswege weiterentwi-ckelt. Hauptrichtungen der Ausbildung sind Trainer für die einzel-nen Sportarten, Sportlehrer als 1-Fachlehrer für alle Schulstufen und den Hochschulsport,16), Leiter des Massen- und Gesund-heitssportes, eine Fachrichtung, die seit 1982 profiliert wurde und in besonderer Weise dem Lesgaftschen Vermächtnis entspricht,
Im vier-, fünf-, oder auch sechjährigen Direktstudiuin können Abschlüsse unterschiedlicher Graduierungen erreicht werden. Da das Studium straff organisiert ist, gibt es kaum Überschreitungen der Studienzeit. Prinzipiell können in der Praxis tätige Bewerber das Studium auch an der Abend- und Fernstudienfakultät ab-schließen. Die Fakultät für Weiterbildung ist seit 1968 verantwort-lich für die systematische Weiterbildung der Hochschulsportlehrer von 125 Hochschulen des Nordwestens der UdSSR und heute Rußlands, sowie für die Weiterbildung der Lehrkräfte an den Fakul-täten für Körpererziehung und den Sportfachschulen. Diese Wei-terbildung, zu der alle Trainer und Hochschulsportlehrer je einmal in fünf Jahren verpflichtet sind, erfolgt in Kursen von je acht Wo-chen für vier Gruppen zu 25 Teilnehmern. So konnten pro Jahr 400 bis 500 Teilnehmer betreut werden. An der Fakultät für Aus-länder waren zeitweise bis zu 100 Studenten und Aspiranten im-matrikuliert. Insgesamt hat die Akademie für Körperkultur mehr als 40 000 Spezialisten ausgebildet, darunter weit mehr als 1000 (vor allem Promovenden) für Länder Europas, Asiens, Afrikas und La-tein-Amerikas.
Das sportliche Können war stets ein Kriterium für Lehre und Studium. Sportliche Klassifizierungen gehören genauso zu den Examensanforderungen wie das Bestehen der Examina. Bei den Olympischen Sommer- und Winterspielen von Helsinki 1952 bis Barcelona 1992 haben Studenten und Aspiranten der Lesgaft-Akademie insgesamt 189 olympische Medaillen (84 goldene /58 silberne /47 bronzene) gewonnen.
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Nicht unerwähnt bleiben darf, daß die ehrwürdigen Bauten drin-gend einer großzügigen Rekonstruktion bedürfen. Akademie und Stadt haben umfangreiche Investitionen geplant, doch vermag niemand angesichts der jetzigen Wirtschaftslage zu garantieren, daß die Vorhaben in nächster Zeit realisiert werden können.
Die wissenschaftliche Arbeit wird von zwei "Wissenschaftlichen Räten" koordiniert, die zugleich für die Promotionen und Habilitati-onen zuständig sind. Rektor ist der Akademik Prof. Dr. habil. (nauk) Wladimir Uljanowitsch Ageevez, zugleich Doyen der Rekto-ren aller Universitäten und Fachschulen St. Petersburgs, Präsidi-umsmitglied der Akademie der Künste und der Wissenschaften zu St. Petersburg, Mitglied des NOK Rußlands, Präsident der Olympi-schen Gesellschaft St. Petersburgs. Die Lesgaft-Akademie pflegt vielfältige Verbindungen und vertragliche Beziehungen zu renom-mierten sportwissenschaftliche Einrichtungen in aller Welt. Dies wird sich auch in der internationalen Konferenz vom 12. bis 15. Ju-ni 1996 anläßlich des 100jährigen Jubiläums wiederspiegeln.
ANMERKUNGEN:
1) 50 russische Adlige hatte er bereits auf deren Rechnung nach Italien, Holland und Eng-land gesandt, den Schiffsbau zu erlernen. 1837 hat Albert Lortzing in seiner Oper "Zar und Zimmermann" Lebenslust und Vitalität dieses jungen Zaren in der europäischen Musik vere-wigt.
2) Vgl. Durant, W. u. A.: Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 12, "Europa im Zeitalter der Könige", S. 196.
3) Seinen Sohn Alexej hatte er 1708 zum Studium der Geometrie und des Festungsbaus nach Dresden geschickt. 1711 reiste er selbst nach Torgau, wo er Alexej mit Charlotte Chris-tine Sophie von Braunschweig-Wolfenbüttel vermählte. Alexej, Hoffnung des Klerus und der Zarengegner, wurde 1717 mit List und Erpressung zurückgeholt und starb 1718 an den Fol-gen der Folter. Vgl. Durant, A. u. W.: Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 121, S. 420-422.
4) Vgl. Grau, C.: Berühmte Wissenschaftsakademien, Leipzig 1988, S. 120. Die Akademie in Petersburg.
5) Grau, C. a.a.0.
6) Die Berliner und die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften im Briefwechsel Le-onhard Eulers, Teil 2, Berlin 1961, S. 182 (AdW Berlin 1958 f 278-3).
7) Lomonossow studierte 1736-41 in Marburg und Freiberg und entfaltete sich nach seiner Rückkehr zu einem Universalgelehrten und einem der bedeutendsten Wissenschaftler der Petersburger Akademie.
8) Vgl. Semen R. Mikulinskij: Die Entwicklung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwi-schen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und der DDR. In: Grau, C: Verbündete in der Wissenschaft, Akademieverlag Berlin 1976, S. 42-43.
9) Der russische Begriff fiziceskoje vospitanije wird oft mit körperlicher Bildung oder Leibes-erziehung übersetzt, ist aber nicht deckungsgleich. Vgl. Melchert, S.: Zur Diskussion um ei-ne Theorie der KK in der UdSSR. In: Theorie und Praxis der KK, 1977, Nr. 1 1, S. 334-343
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sowie: Sportlehrerbildung in der UdSSR. In: Potsdamer Forschungen Reihe A, Heft 70, 1985, S. 66-76.
10) Kabinettsorder König Wilhelm IV vom 6. Juni 1842 "...daß die Leibesübungen als ein notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung förmlich anerkannt und in den Kreis der Volkserziehungsmittel aufgenommen werde", ehem. Deutsches Zent-ralarchiv/heute Bundesarchiv, Teil Merseburg, Rep. 77p Tit, 925, Nr. 1, Bd. 1 fol 162/63.
11) Vgl. Stolbov, V.V./Cudinow, 1.G.: Istoria fiziceskoj kultury, Moskwa 1970
12) Stolbov/Cudinov: Istoria fiziceskoj kultury
13) Vgl. Stolbov/Cudinov: Istorija fiziceskoj kultury. Vgl. auch Kulinkovic, K.A.: Das Werk von P.F. Lesgaft und das System der Körpererziehung in der UdSSR. In: Theorie und Pra-xis der Körperkultur, Berlin 1983/9/655-660, Lesgaft, P.F., Werke in 5 Bänden (Lesgaft-Akademie).
14) Lesgaft, P.F.: Die Ausbildung von Gymnastiklehrem in den Staaten Westeuropas, St. Petersburg 1876 (Bibliothek des Lesgaft-Instituts).
15) Lesgaft, P.F.: Richtlinien für die körperliche Ausbildung von Schulkindem, St. Petersburg 1876, ebenda.
16) In den Universitäten und Hochschulen Rußlands gibt es eine lange Tradition des wö-chentlich zweistündigen Studentensports für alle Studenten.
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Über Ideologie und Politik in der Entwick-lung des DDR-Leistungssports
Von Günter Erbach
Ideologie und Leistungssport für sich bergen schon genügend Brisanz in sich und wenn dann noch Politik und Sportpolitik hinzugefügt wer-den, so wird sicher verständlich, daß hier nur Ansätze und, was den DDR-Leistungssport betrifft, nur Konturen gekennzeichnet werden können. In einer Zeit großer geisteswissenschaftlicher Divergenzen im Betrachtungsspektrum von links bis konservativ und umgekehrt be-stehen nur wenig Möglichkeiten, objektive Sachverhalte zur Anerken-nung zu verhelfen, und das betrifft meines Erachtens auch die Be-wertungen der DDR- Leistungssportentwicklung. Dennoch soll ver-sucht werden, bewußten Falschaussagen, Klischeedeutungen und auch globalen Verurteilungen, die in diesen Jahren leider auch die Medien beherrschen, entgegenzuwirken. Es sei die These an den An-fang gestellt, daß es sich sowohl historisch-soziologisch als auch päda-gogisch-trainingsmethodisch für jeden unvoreingenommenen Sport- oder Sozialwissenschaftler durch-aus zu lohnen scheint, mit dem DDR- Sport ein System zu analysieren, das in der geschichtlich bewegten Zeit des Kalten Krieges - legt man die gebräuchlichen olympischen Medaillen-maßstäbe, aber nicht nur diese zugrunde - immerhin mehr als zwan-zig Jahre zu den ersten drei des Weltsports gehörte und angesichts der Bevölkerungszahl und Größe des Landes und seiner wirtschaftli-chen und sozialen Ausgangspositionen und Entwicklungen Fragen der Beziehung Gesellschaft, Staat und Sport weltweit provoziert hat, die heute allerorten noch nicht mit ausreichender Klarheit beantwor-tet sind.
Ideologieprobleme und Politik bestimmten nachhaltig den Aufstieg und die Wirksamkeit des DDR-Sportsystems und natürlich den Leis-tungssport als Teil davon; und das betrifft sowohl die Ursachen für die weltweit anerkannten und auch bewunderten Ergebnisse als auch seine inneren Widersprüche, Proportionen und Fehlentwicklungen.
Zur Begriffsorientierung
Da wir hier drei bedeutende Begriffe des Denkens und der gesell-schaftlichen Realität, nämlich Ideologie, Politik (einschließlich Sportpo-litik) und Sport vorwiegend in seiner Ausprägung als Leistungssport benutzen, scheint es angebracht, die Inhalte kurz zu skizzieren.
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Im Gegensatz zu so mancher manipulierenden Deutung in Medien ist festzustellen, daß Ideologie weder ein Schimpfwort noch eine Krank-heit ist und in ihrem Wesen zur unabdingbaren Normalität des menschlichen Denkens und Seins gehört. Eine bestimmte Anschau-ung von der Welt zu haben, von der Natur, dem Denken und dem in-dividuellen und gemeinschaftlichen sozi-alen Gegebenheiten des Menschen kennzeichnet wohl am einfachsten den wesentlichen In-halt einer Ideologie; und die ist für den Menschen so wichtig wie die Luft zum Atmen. Die Anschauungen über das Leben und von der Welt im Sinne der sozialen Gestaltung und Nutzung der ökonomi-schern Bedingungen sind bekanntlich unter den Menschen aufgrund ihres Seins und ihrer Geschichte sehr unterschiedlich. Es bestehen eine Vielfalt treffender aber auch verwirrender Aussagen, und die Phi-losophie hat beileibe keine dominante Definition hervorgebracht, wie sollte sie auch. Aber da wir den alten Griechen verpflichtet sind und den Franzosen glauben wollen, läßt sich wohl Ideologie mit Wissen oder auch Wissenschaft von den Ideen, einem System von Ideen und Anschauungen über die Welt erklären und deutlich machen. Bewußt-sein über die Gesellschaft und Interessenvertretung in der Gesell-schaft wird vielfach übereinstimmend mit Ideologie in Beziehung ge-setzt. In diesem Sinne drückt Ideologie eine Welt-Anschauung aus, und es sei hinzugefügt, daß ihre Geschichte so alt ist wie die Gesell-schaft und die geistigen Strömungen und Auseinandersetzungen in ihr.
Um auch die Beziehung Ideologie und Sport bzw. Leistungssport in einer konkreten historischen Epoche begreifbar zu machen , ist wohl ein ideologischer Standort unumgänglich. Es bleibt ein Verdienst von Karl Marx, der aufbauend auf Hegel und Feuerbach Bewußtsein, historische Notwendigkeit und Praxisbedeutung der Ideologie in der Realität der Gesellschaft verknüpft hat. Ideologie ist im Sinne von Marx das Denken, die Anschauungen und die Ziele einer bestimmten sozialen Gruppe (Klasse) auf der Grundlage der ökonomischen Ver-hältnisse. Die Anschauungen und die Ziele der ökonomisch mächtigs-ten Klasse werden zur dominierenden Ideologie, sie vermittelt die herrschende Weltsicht (Klassenideologie) und besitzt sowohl eine praktisch-stabilisierende, teilweise auch eine retardierende (verzö-gernde) Wirkung. Ideologie stellt an sich auch den Anspruch eines Wertesystems und gibt Orientierungen über die politischen Strukturen und Institutionen zum Handeln und auch zu Werteentscheidungen.1)
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In der Zeit des "realen Sozialimus" wurde als Postulat u.a. die histori-sche Führungsmission der Arbeiterklasse und ihrer Partei als Interes-senvertretung der ganzen Gesellschaft hinzugefügt und so entstand der Anspruch der sozialistischen Ideologie, die Anschauungen der Mehrheit des Volkes zu verkörpern. Der Marxismus-Leninismus wur-de als Ideologie der Arbeiterklasse und als Anleitung zum Handeln propagiert und galt als Grundlage für die Gestaltung aller gesellschaft-lichen Bereiche und damit auch die des Sports. Diese klassengebun-dene Wahrheitsüberzeugung hat im Leistungssport der DDR z.B. Zielsetzungen, gesellschaftliche und auch individuelle Motivationen und auch Freund- und Feindbilder begründet und auch Bewegungen der Leistungsentwicklung befördert.
Dazu bedurfte es aber gleichermaßen der Politik, der institutionalisier-ten oder auch zentralisierten Politik durch die Leitungsorgane der Partei der Arbeiter-klasse, die nach den Prinzipien des demokrati-schen Zentralismus2) ihren Führungsanspruch auch staatsrechtlich in der Verfassung fixierte. So erklärt sich auch die Einordnung und Wertebestimmung von Körperkultur und Sport als relativ selbststän-diger gesellschaftlicher Teilbereich und die konkrete Be-stimmung leistungssportlicher Zielsetzungen mit ideologisch-politischen Be-gründungen in den Parteibeschlüssen und als allgemeine Angelegen-heit der gesellschaftlichen Entwicklung.
Ideologische Zielsetzungen und Wertvorstellungen wurden über Poli-tikverständnis und Politikrealisierung gesellschaftlich wirksam. Wenn Ideologie aus der Klassenstruktur der Gesellschaft abgeleitet wird, geschieht das nach marxistisch-leninistischem Weltverständnis gleichermaßen und erst recht mit der Politik. Sie ist als soziale Er-scheinung, die mit ökonomischer Macht und Klassen verbunden ist, Ausdruck der Klassenauseinandersetzung, des Klassenkampfes, des Kampfes um die Macht und ihre Erhaltung. Sie ist vor allem auch "Teilnahme an den Staatsgeschäften, Richtung des Staates, Festle-gung der Formen, der Aufgaben, des Inhalts der staatlichen Tätigkeit " (nach Lenin ) sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik. Die-se Wechselbeziehungen sind häufig voller Widersprüche und Kon-flikte, die sich auch im Leistungssport auswirken.3)
Als gesellschaftliche Erscheinung und damit als sozialer Teilbereich , der mit anderen Bereichen (Ökonomie, Bildung, Kultur, Gesundheits-und Sozialpolitik usw.) vielfältig verknüpft ist, drückt der Leistungssport als Ganzes 4) spezifische körperliche Leistungen im Sinne der
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psycho-physischen Einheit des Menschen aus, die durch gezieltes Training, Bildung und Erziehung und sozi-ale Bedingungen, insbe-sondere durch freiwillig hohe persönliche Identifikation mit den erfor-derlichen Belastungsanforderungen und die Gestaltung der Lebens-bedingungen erreicht werden. Die innen- und außenpolitischen Wir-kungen und Wertschätzungen werden vor allem durch die in der Ge-sellschaft herrschende Ideologie und Politik bestimmt. Daß sie ir-gendwann dabei auch eine Eigengesetzlichkeit im Sinne einer Mas-senpopularität annehmen, kann als eine Folge davon angesehen werden.
Alles hat seine Geschichte, und auch die gesellschaftlich determinier-ten Syst-eme des Leistungssports sind nur aus den konkret-historischen Verhältnissen wirklich verständlich, aus denen sie ihre ideologischen, politischen oder auch ihre vorwiegend ökonomischen Antriebskräfte beziehen bzw. herleiten. Für eine gewisse Dominanz eines gesellschaftlichen Teilbereichs in einer konkreten historischen Periode ist meist das Wechselspiel von Ideologie und Politik entschei-dend. Die Hinwendung zu einer beschleunigten Entwicklung des Leis-tungssports mit Systemwirkung in der DDR war, wenn man die Er-eignisse und Begebenheiten in diesem Zusammenhang betrachtet, davon weitgehend geprägt.
Als Fixpunkt soll hier die These folgen: Der DDR-Leistungssport war in seinen Zielsetzungen und seiner Struktur bestimmt von der Ideolo-gie und Politik der herrschenden Arbeiterklasse und ihrer Partei, die im Bündnis mit der Bauernklasse und anderen sozialen Schichten die Macht ausübte. Die gesellschaftliche Funktion des Leistungssports, insbesondere des Hochleist-ungssports wurde darin gesehen, durch sportliche Spitzenleistungen das politische System des Sozialismus und den Staat zu vertreten und zu stärken. Das wurde weder ver-schwiegen noch verschleiert und als Leitlinie bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Wort und Schrift sowohl variationsreich wie auch ste-reotyp immer wieder vertreten.5)
Für den Leistungssport jedenfalls ergaben sich Entwicklungsbedin-gungen, die mehrere Jahrzehnte eine erfolgreiche Gestaltung ermög-lichten und die Wirkungen von Ideologie und Politik und damit auch von gesamtgesellschaftlichen sozialen Bedingungen her Erkenntnisse vermitteln, die offensichtlich noch nicht überlebt sind.
Leistungssport - Teil des ganzen Sportsystems
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Der Leistungssport war stets ein fester Bestandteil des gesamten Systems des Sports in der DDR, der herrschenden Aufassungen von Körperkultur und Sport in der Gesellschaft als Teil der Arbeits- und Lebensbedingungen, der allseitigen Bildung und Erziehung, der Kul-tur- und Gesundheitspolitik usf., und in die Strukturen des einheitli-chen Sportsystems eingebunden. Wenn er aufgrund der speziellen Trainingsanforderungen und Belastungen, der Regeln und Wettkämp-fe, der Sportstätten und Materialien und der spezifischen Anforderun-gen an den Ausbildungs-und Berufsverlauf und schließlich an die Le-bensgestaltung durch Sportler und Trainer und das gesamte Umfeld bis hin zu den Familien als relativ selbstständige Struktur existierte und geleitet wurde, so ändert das nichts an seinem integrativen Cha-rakter mit allen anderen Sportbereichen, den Wechselbeziehungen, ja den Bedingtheiten z.B. zum Schulsport und den organisierten Trai-nings- und Wettkampfformen in allen Sportarten, und er ist undenkbar ohne den Zuspruch von Millionen im Freizeit und Erholungssport.
Deshalb hier dazu noch einige Positionen, um diesen Zusammen-hang ganz eindeutig zu kennzeichen und einseitigen Interpretationen entgegenzuwirken.
I. In der marxistisch-leninistischen Weltanschauung wird die körperli-che Bildung und Erziehung als gleichberechtigter Bestandteil einer harmonischen (allseitigen) Gesamterziehung charakterisiert. Diese von K.Marx begründete Gleichstellung von geistiger, technischer und körperlicher Bildung und Erziehung6) ist als Bestandteil des Men-schenbildes ein theoretisch-philosophischer Ausgangspunkt sozialisti-scher Sportkonzeptionen und auch praktischer Sportpolitik der Arbei-terbewegung geworden. Bei einer machtausübenden Partei wie der SED (Sozialistische Einheitpartei Deutschlands) wurde das zum Pro-grammpunkt erhoben und damit zum Realisierungsfeld der Politik.
II. In den Kulturauffassungen der Arbeiterbewegung (sowohl der sozi-aldemokratischen als auch der kommunistischen) und der kulturellen Aneignung der Wirklichkeit spielte der Sport, besonders der Massen-sport stets eine beachtliche Rolle, er war teilweise Mittel, Inhalt und Bindeglied von Vereinigungen. In den Arbeiterturn- und Sportvereinen wurde die Pflege turnerisch-sportlicher Übungen ein Teil kultureller Selbstbetätigung und mit politischen Aktivitäten verbunden. Die Ge-schichte liefert dazu reichhaltiges Material, auch für objektive und sub-jektive Bezugsebenen. So haben viele führende Funktionäre der Ar-beiterparteien in den Arbeiterturnvereinen (bekannt ist das u.a. von
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Walter Ulbricht, Erich Honecker, Hans Jendretzki, Alfred Neumann, Karl Maron) nicht nur sportliche Übungen absolviert, sondern Ge-meinschaftsgeist und Solidarität kennengelernt und auch Formen der Gegenwehr gegen den bürgerlich-kapitalistischen Staat (z.B. gegen die Verbote der Turnhallenbenutzung durch Arbeiterturnvereine). Sie haben in ihrer Jugendzeit in den Turn-und Wandervereinen, Spiel-mannzügen und ähnlichen Zusammenschlüssen den untrennbaren Zusammenhang von Sport, Kultur und Kampf um soziale Rechte ken-nengelernt.Hier hat das subjektive Erleben die Theorie von der not-wendigen harmonischen Einheit von körperlicher und geistiger Erzie-hung in Verbindung mit dem Kampf um eine neue sozial gerechtere Gesellschaft begreifbar gemacht. Dazu kamen die sozialen Erfahrun-gen in den Jahren der Weimarer Republik, die auch in der Vielfalt und im Gegeneinander der Sportorganisationen den politischen Hinter- und Beweggrund erkennen ließen.
III. Die objektiv in der Gesellschaft bestehende Position des Sports wurde bewußt zum Gegenstand praktischer Partei-und Staatspolitik im Sinne einer gleichberechtigten Anerkennung als sozialer Bereich für die Gestaltung der Arbeits-und Lebensbedingungen der Men-schen.Die Ebenen für eine allgemeine Förderung von Körperkultur und Sport hatten sich historisch herausgebildet. Sie bestimmten die innenpolitischen und dann auch nuanciert die außenpolitischen Ziel-setzungen der Sportentwicklung, indem die nationalen bürgerlich-demokratischen und die proletarisch-revolutionären Traditionen der Turn- und Sportbewegung in Deutschland als kulturelles Erbe genutzt und gepflegt, der Massen- und Leistungssport in der Sowjetunion als Beispiel propagiert und die internationale Rolle des Sports (Olympi-sche Spiele, internationale Wettkämpfe und Meisterschaften) als reale Möglichkeit erkannt wurde, für die politische Anerkennung als gleich-berechtigter Staat einzutreten.
IV. In Einheit von theoretisch-ideologischen Ausgangsprämissen mit aktuell-politischen Anforderungen, die sich aus der zeitgeschichtli-chen Kräftekonstellation ergaben, wie es durch viele historische De-tails nachweisbar ist (dazu mehr im nachfolgenden Abschnitt ), wird das Primat der Politik zum tragenden Prinzip in der DDR-Sportentwicklung (und natürlich nicht nur dort) und be- stimmte nachhaltig die nationalen Proportionen und die Gewichtung der inter-nationalen Sportbeziehungen.
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V. Um die in Theorie und Praxis als geeignet und richtig erkannte Einheit von Kinder-und Jugendsport, Massensport (später Freizeit-und Erholungssport) und Leistungsport zu gewährleisten, entstand ein einheitliches gesellschaftlich-staatlich integriertes System von Körper-kultur und Sport, das über Jahrzehnte ständig vervollkommnet wurde und dabei natürlich in den Proportionen durch-aus nicht allen sozialis-tischen Idealen und den Erfordernissen gerecht werden konnte.
Wenn im folgenden vorwiegend leistungssportliche Aspekte darge-stellt werden, so sollte der Zusammenhang mit der Gesamtentwick-lung des Sportes stets beachtet werden.
Kleiner historischer Exkurs
Die politische Ausgangssituation Anfang der fünziger Jahre kann als Start-ebene der Leistungssportentwicklung in der DDR angesehen werden, da der damals eingeschlagene Weg generell nicht mehr ver-lassen wurde.
Nachdem das Grundgesetz der Bundesrepublik am 23.Mai 1949 in Kraft getreten und die Konstituierung des Bundestages am 7.9.erfolgt war und dar-aufhin am 7.Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik entstand, waren 1950-1952 in Vorbereitung der nach Hel-sinki vergebenen Spiele der XV. Olympiade sportpolitische und - wie sich bald auch herausstellte - staats-politische Entscheidungen im Verhältnis der beiden deutschen Staaten und ihrer Sportorganisatio-nen bzw. ihrer Sportverbände zu Internationalen Sportföderationen und zum Internationalen Olympischen Komitee fällig. Gleichberechtig-te Anerkennung der Sportverbände und der Nationalen Olympischen Komitees beider deutscher Staaten oder nicht, das war die Frage und diese erfolgte nicht, sondern die Forderung nach Einordnung der DDR-Sportverbände bzw. Sektionen in die bestehenden und größten-teils bereits in die internationalen Föderationen aufgenommenen BRD-Sportverbände, um damit die Startberechtigung für Helsinki zu verbinden. Es ist durchaus bemerkenswert, daß drei Jahre vor der of-fiziellen Verkündung der als Hallstein-Doktrin seit 1955 (Pariser Ver-träge) in die Geschichte eingegangene Begründung für einen Allein-vertretungsspruch aller Deutschen dieses weitrei- chende Grundprin-zip westdeutscher Staats-und Außenpolitik durch die BRD im Leis-tungssport bereits ab 1952 praktiziert wurde. Damit waren die sport-politischen Auseinandersetzungen für die nächsten Jahrzehnte vor-programmiert und man kann auch durchaus der These folgen, daß diese politische Konstellation die leistungssportliche Entwicklung
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maßgeblich beeinflußt hat. Nicht alle internationalen Föderationen richteten sich jedoch danach, und zeitlich vor bzw. in Helsinki wurden einige DDR-Sportverbände aufgenommen, so Basketball, Boxen, Fußball, Kegeln, Kanu, Ringen, Schwimmen, Schach, Segeln, Ski, Tischtennis und Volleyball. Die NOK-Anerkennung blieb jedoch ver-sagt. Und das war schon für beide deutsche Staaten keine alleinige Frage des Sports mehr, sondern bereits ein unübersehbares Zei-chen der sich immer deutlicher zeigenden Erscheinungsformen des Kalten Krieges. Diese Tatsachen und das weltweite Echo auf die erstmalige und sehr erfolgreiche Teilnahme der Sowjetunion an den olympischen Sommerspielen in Helsinki sowie die völlig unbefriedi-genden Resultate der jungen DDR-Sportbewegung bei den Weltfest-spielen der Jugend und Studenten 1951 in Berlin und zuvor 1949 in Budapest, bewirkten die politisch motivierte Hinwendung zu einem Konzept leistungssportlicher Entwicklung beim weiteren Aufbau der Demokratischen Sportbewegung, wie es ab 1951 stufenweise ausge-arbeitet wurde und 1954 mit der Bildung von Leistungsschwerpunkten (erste Sportclubs) und Kinder-und Jugend-Sportschulen sowie dem beschleunigten Ausbau der DHfK in Leipzig und Sportmedizinischen Beratungsstellen in den Bezirken praktiziert wurde.
Ein nicht zu unterschätzender Fakt bei diesen und späteren leistungs-sportlichen und anderen sportpolitischen Entscheidungen waren die persönlichen Erfahrungen und Übersichten des schon damals führen-den Politikers der DDR, Walter Ulbricht. Die Formierung einer einheit-lichen demokratischen Sportbewegung, die sowohl die Traditionslinien des Arbeitersports und der bürgerlich-demokratischen Turn- und Sportbewegung mit den Erfahrungen des sowjetischen Sports ver-band, sowie die ab Juli 1952 erfolgte Leitung des Sports durch das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport nach dem Beispiel der Sowjetunion, gleichzeitig auch das Wirken gewerkschaftlicher Sport-vereinigungen und dann 1957 der Aufbau einer gesellschaftlichen Massenorganisation mit weitgehenden Vollmachten für den Massen-sport und den Leistungssport war neben dem Ausbau aller weiteren staatlichen und gesellschaftlichen Verantwortungsebenen das Resul-tat dieser Jahre und der Kern der von der SED initiierten Sportstruktu-ren. Mit der Gründung des DTSB als einheitliche soziali- stische Massenorganisation des Sports im April 1957 und damit zuständig und offen für das freiwillige Sporttreiben aller Bürger war zugleich eine Befugnisveränderung des Staatlichen Komitees für Körperkultur und
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Sport verbunden. Ab 17. Juni 1970 erfolgte die Weiterführung dieser Verantwortungsebene durch das neugebildete Staatssekretariat für Körperkultur und Sport beim Mininisterrat der DDR. Diese Grund-struktur bestand bis 1990. Sie wurde ausgebaut und ergänzt durch Beratungsgremien und Komitees.7)
Mit der Gründung des DTSB im April 1957 war auch die unmittelbare Verantwortung für den Leistungssport verbunden. Damit ging die bis-her staatliche in eine gesellschaftliche Verantwortung über.8) Kehren wir zu einigen historischen Fakten zurück. In der von Walter Ulbricht initiierten ZK-Entschließung vom 17. März 1951 und der vom Politbüro am 13.7. und ergänzend am 21.12.1954 beschlossenen Direktive "Zur weiteren raschen Aufwärts-entwicklung von Körperkultur und Sport in der DDR" wurden u.a. die Aufgaben gewiesen, ein höheres sportliches Leistungsniveau als die Bundesrepublik zu erreichen und über inter-nationale sportliche Erfolge zur politischen Anerkennung als völker-rechtlich gleichberechtigter Staat beizutragen. Die politische Entwick-lung dieser Jahre mit dem Beitritt der BRD zu den Pariser Verträgen (1955), die mehrmalige Ablehnung gesamtdeutscher Wahlen durch Konrad Adenauer, die Bewegung Deutsche an einen Tisch, die Zu-spitzung internationaler Beziehungen durch den Kalten Krieg (Aufrüs-tung, Kriegsgefahr) und der Mauerbau im August 1961 in Berlin mit den Folgen für den Sportaustausch und schließlich die Umstände bei der Aufstellung gesamtdeutscher Olympiamannschaften und nicht zu vergessen die Ergebnisse der Olympischen Spiele selbst (von 1956-1968) haben die Dominanz politischer Fragestellungen in der Leis-tungssportentwicklung besonders auch der DDR sehr befördert. Das setzte sich besonders in den siebziger und achtziger Jahren fort, und Ereignisse wie die Olympischen Spiele in München, der Grundlagen-vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten, Helsinki und schließ-lich die Raketenbeschlüsse und der Boykott der Spiele von Moskau und Los Angeles widerspiegelten zwei wesentliche Seiten der poli-tisch-ideologischen Auseinandersetzungen und Gegensätze in dieser Zeit des Kalten Krieges, zum einen die Klassenkampftheorie als be-stimmendes Merkmal leistungssportlicher Zielsetzungen in den sozia-listischen Ländern und zum anderen der Antikommunismus als ideo-logische Doktrin des Westens im Kampf gegen den Sozialismus. Den Bemühungen um eine friedliche Koexistenz zwischen Staaten unter-schiedlicher Gesellschaftsformen hat die Olympische Bewegung in
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diesen Jahren viel zu danken, sie hat aber auch selbst wesentlich zum Erhalt ihrer Prinzipien beigetragen.
Zwischen diesen Feldern jedenfalls hat sich die internationale Sport-politik der DDR bewegt, und ohne sie sind auch die spezifischen sportlichen Fragen, Konzentrations-und Ressourcenentscheidungen und so manch andere Sachzwänge, die sich aus den Erfordernissen des internationalen Lei- stungsvergleichs im Sinne von Chancen-gleichheit und Vorlauf ergaben, nicht zu verstehen. Wenn die DDR zur gleichen Zeit ein durchaus anspruchsvolles Programm des Sports für alle zu realisieren verstand und über 30 % der Bevölkerung in ver-schiedenen organisierten Formen des Sports unterschiedlicher Ver-antwortungsebenen tätig waren, so zeigt das auch ein sehr ansehnli-ches sportlich-kulturelles Niveau, das international jedem Vergleich durchaus standhielt. Im Beziehungsgefüge zwischen Ideal und Wirklich-keit bzw. Theorie und Praxis ist so mancher Fehler enthalten und si-cher auch so manche falsche Entscheidung gefallen, die letztendlich - neben den sicher nicht wenigen subjektiven Seiten - ihre Ursachen in dieser gewählten politischen Leitlinie des Sports und der gefestigten Strukturen hatten.
Die Wirkung der Olympischen Bewegung und der wissenschaft-lich-technischen Revolution auf den Leistungssport
Wenn man die nationalen Programme und Konzepte des Leistungs-sports richtigerweise in Beziehung zu internationalen Entwicklungs-tendenzen setzt, so können die relative Selbständigkeit und Eigenge-setzlichkeit des Olympismus als zusammenfassender theoretischer Ausdruck der Ideenwelt des olympischen Sports und die Olympische Bewegung als Strukturform sowie die Olympischen Spiele selbst als weltweit wirkende kulturell-sportliche Höhepunkte mit ihrer beeindru-ckenden Massenausstrahlung für das Beziehungsgeflecht von Ideolo-gie, Politik, Kultur und Sport angesehen werden. Leistungsmaßstäbe für sportliche Spitzenleistungen durch die Internationalen Sportfödera-tionen (die Olympianormen) gehören ebenso zu den Spielen wie ein Rahmenprogramm nach höchsten Ansprüchen im Sinne kultureller Botschaften.
Olympische Medaillen für den einzelnen und ihre Zählung nach Staa-ten und zugespitzt nach politischen Blöcken und Systemen und die damit verbundenen Identifikationszuordnungen waren in der Medien-welt sowohl zur gezielten Information als auch zur Massenmanipulati-on nicht nur üblich, sondern gewollt und auf bestimmte Zusammen-
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hänge gerichtet.9) Eine wichtige Rolle spielten in diesen sogenannten Überlegenheitsrechnungen, bei denen sich die sozialistischen Staaten und besonders auch die DDR durchaus nicht zurückhielten, die prak-tischen Resultate der in der Öffentlichkeit viel diskutierten Prozesse der wissenschaftlich-technischen Revolution und damit der Beherr-schung von Wissenschaft und Technik auch im Leistungssport. Hier seien die qualitativen Veränderungen beispielsweise beim Sportmate-rial erwähnt. Anstelle von Edelhölzern und Bambus kam z.B. Glasfiber und dann die Verarbeitung von Kohlefaser in allen Varianten zum Einsatz, und daß dieses Material dann auf die Embargoliste gesetzt wurde, hatte sicher keine olympischen Gründe. Anstelle von Stahl-rohrrahmen wurden superleichte Kunststoffrahmen bevorzugt, und auch im wissenschaftlichen Gerätebau gab es überraschende Neu-entwicklungen (Telemetrie). Alles das wirkte auf die Trainingsinhalte, auf Belastungsgestaltungen, auf die Technik in verschiedenen Sport-arten ein und machte den Trainingsprozess zunehmend zu einem in-teressanten wissenschaftlichen Experimentierfeld für den Erkenntnis-gewinn bei der Erreichung sportlicher Spitzenleistungen .Die möglich gewordene Objektivierung der spezifischen sportlichen Leistung im zeitlichen Verlauf brachte eine bessere Trainingsorganisation mit sich, und Trainingsumfang und Trainingsintensität konnten qualiativ ge-nauer bewertet werden.
Daß dann auch ernährungsphysiologische und pharmakologische Mittel eine Rolle einerseits bei der Leistungssteigerung und anderer-seits bei der schnellen Wiederherstellung nach hohen Trainingsbelas-tungen spielten , darf eigentlich nicht verwundern.
Das Problem der Energiegewinnung und -bereitstellung über den Muskel und im Muskel und die Anwendung verschiedener Verfahren dafür ist so alt wie der Leistungsgedanke und der sportliche Wett-kampf. Daß in der Zeit des Kalten Krieges der Zugriff zu Pharmaka immer häufiger erfolgte, gehörte zu den negativen Begleiterscheinun-gen des internationalen Leistungssports dieser Zeit. Die Sache be-gann sich zuerst dort auszuwirken, wo die fortgeschrittenste Pharma-industrie angesiedelt und der Professionalismus am weitesten entwi-ckelt war und die "Freiheit" der Persönlichkeit am lautstärksten pro-pagiert wurde, in den USA.
Anabole Steroide und Substanzen verschiedener Art mit leistungsun-terstützender Wirkung verbreiteten sich weltweit auf dem Markt, wur-den geheim gehandelt und genutzt, wie es ausreichend in der Litera-
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tur beschrieben wurde.10) Nachdem die Vorteile von USA-Athleten in bestimmten Disziplinen bei den Olympischen Spielen in Melbourne, Rom und Tokio und anderen internationalen Wettkämpfen offensicht-lich geworden waren, Athleten vieler Länder sich Zugang zu diesen Mitteln verschafft hatten, belebte sich die internationale Dopingdis-kussion, und 1968 begann die Medizinische Komission des IOC mit ersten Dopingkontrollen. Doch dieser Prozeß verlief langwierig und widerspruchsvoll, ehe Dopinglisten aufgestellt und Kontrollmechanis-men fixiert wurden und es ist - außer bei Olympischen Spielen und In-ternationalen Meisterschaften - noch immer kein gleichberechtigtes Kontrollsystem geschaffen worden. Die Anti-Doping-Diskussion und der Kampf gegen eine künstliche Beeinflussung der sportlichen Leis-tungsentwicklung dauert nun über Jahrzehnte mit durchaus unter-schiedlicher Intensität und Öffentlichkeit, offensichtlich so, wie es poli-tisch gebraucht wird. Waren es früher vorwiegend ideologische und sportpolitische Begründungen im Sinne der Chancengleichheit oder auch Rechtfertigungen, um damit einen Vorlauf zu erreichen, so ist es heute wohl das bare Geld, das die Chancengleichheit in das Reich der Träume verbannt, denn großes Geld gibt es nur für Sieger.
Besonders seit den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 mit dem bekannten Höheneffekt, der die medizinischen und trainingsmethodi-schen Wissenschaftsdisziplinen außerordentlich förderte und zu neu-en Trainingserkenntnissen und Anforderungen führte, und dann München 1972 mit der unmittelba- ren Ost-West-Auseinandersetzung auf deutschem Boden und dazu der unselige Überfall palästinensi-scher Freischäler auf das Olympiateam von Israel und dem Tod von Opfern und Tätern durch den zweifelhaften Polizeieinsatz und danach in Trauer darüber das doch weitsichtige Wort von IOC-Präsident Avery Brundage "The games must go on", hat dem Leistungssport eine weltweite Wirkung und Aufwertung im politischen Geschehen verschafft. Dem konnte sich kaum ein Land, das auf internationales Ansehen Wert legte, ent- ziehen. Aufgrund dieser außerordentlichen Popularität der olympischen Ereignisse führte das in vielen auch klei-neren und wirtschaftlich nicht so starken Ländern zu weiteren An-strengungen in der Leistungssportentwicklung, beispielsweise zur besseren finanziellen Unterstützung beim Bau von Sportanlagen, und es führte auch auch zu einer Erweiterung der internationalen Sport-wettkämpfe nicht nur bei Meisterschaften, sondern auch von Pokalen und regionalen Wettbewerben in relativ kurzen Abständen.
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Die DDR hat diese Entwicklung an der Nahtstelle der Systeme und nach den weltweit beachteten olympischen Erfolgen und der vollgülti-gen Aufnahme durch das IOC sowie die gleichberechtigte völkerrecht-liche Anerkennung durch die UNO mit besonderer Aufmerksamkeit und auch Sensibilität begleitet. Es sei aber auch nicht vergessen, daß es nach dem Medaillenerfolg über die BRD in München - denn so wirkte es ohne Zweifel in der Öffentlichkeit beider deutscher Staaten - nach Grundlagenvertrag und UNO-Aufnahme aller-
orten nicht wenig Diskussionen gab, ob u.a. der leistungssportliche Vergleich mit der BRD und anderen Staaten und die Teilnahme an den vielen kostenaufwendigen internationalen Wettbewerben nun nach der erfolgten politischen Anerkennung fortgesetzt werden sollte, ob es nicht ratsam sei, kürzer zu treten und mehr für den Massensport zu tun. Hier zeigte sich die Eigengesetzlichkeit von Politik und Leis-tungssport. Halbheiten und Kompromisse waren nicht gefragt und hät-ten auch keine weiteren Fortschritte gebracht. Warum sollten einmal erreichte internationale Positionen kampflos aufgegeben werden, das sei weder sportlich üblich noch politisch richtig, und kann man den Sportlern, die Jahre intensiv trainiert haben, zumuten, auf internatio-nale Vergleiche zu verzichten, sportlichen Ruhm für sich und ihr Land zu erringen, so und anders lauteten die Argumente. Unüberseh- und -hörbar bestätigte sich auch die Identität der Bevölkerung mit den Leistungssportlern, den Olympioniken. Ihre Leistungen, Siege und Medaillen wurden als Bestätigung des eigenen Lei- stungstrebens und der weltweiten Anerkennung der DDR angesehen.
Der Leistungssport war allerdings aufwendiger, teurer und auch politi-scher geworden. Das war auch ein Ergebnis der Systemauseinan-dersetzung, aber auch der wissenschaftlich-technischen und perso-nellen Erfordernisse, einer spezifischen Logistik dafür. Das betraf alle entscheidenden Wirkungsfaktoren leistungssportlicher Förderung wie die Sportwissenschaft und Sportmedizin, die Aus- und Weiterbildung der Fachkader, den Sportanlagenbau, die Sportgeräteentwicklung und schließlich den ganzen Komplex traingsmethodischer Erkenntnis-se und Verfahren, berufsfördernde und soziale Maßnahmen.
Wenn oft die Disproportionen zwischen Massen-und Leistungssport genannt und auch beklagt werden, so hat das neben der Berechti-gung vom Standpunkt der Chancengleichheit in der Gesellschaft auch eine andere Seite, nämlich die, daß der Breitensport und das indivi-duelle Sporttreiben mehr in das Zentrum der gesellschaftlichen Auf-
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merksamkeit und auch der allgemeinen Förderung rückte. Dispropor-tionen wird es wohl immer geben, weil es auch mit der politischen und wirtschaftlichen Intressenlage zusammenhängt, und sie verdienen es, kritisch bewertet zu werden. Daß sie nicht nur ein Problem der DDR waren, zeigen die gegenwärtigen Verhältnisse in vielen Ländern, wo die Disproportionen sehr zugenommen haben. Es läßt sich die Aus-sage treffen, daß mit der forcierten Leistungssportentwicklung eine gesellschaftliche Aufwertung des gesamten Sports einherging.
In den siebziger Jahren hatten sich weltweit zweckentsprechende Strukturen des Leistungssports herausgebildet. Die komplexen Fak-toren zur Erreichung hoher sportlicher Leistungen waren allgemein mehr oder minder gut bekannt, von den "Trainingsgeheimnissen" mal abgesehen, über die jedes Land zu verfügen glaubte. Es kam offen-sichtlich darauf an, wie alle leistungsbestimmenden Faktoren als Sys-tem beherrscht werden. Dieses System war in der DDR übersehbar und auch leitbar gestaltet worden und in das Ganze der sozialökono-mischen, bildungs- und gesundheitspolitischen sowie kulturellen Ent-wicklung integriert, was eine Mitverantwortung aller Organe von Ge-sellschaft und Staat auf allen Ebenen einschloß. In dieser System-wirksamkeit und Beherrschung aller leistungsbestimmenden und -beeinflußenden Faktoren lagen die Ursachen für den Erfolg begrün-det. Dazu bedurfte es richtiger Zielsetzungen und einer effektiven Struk-tur und Führungstätigkeit, die in der DDR durch die Autorität der Partei und ihrer Beschlüsse und den demokratischen Zentralismus als Füh-rungsprinzip unter Einschluß der Beschlußdisziplin in dem durchaus unterschiedlichem Gefüge von teilweise sich wider-sprechenden staatlichen und gesellschaftlich-strukturellen Verantwortlichkeiten be-wältigt wurde. Wie vollzog sich das ?
Zielsetzungen durch Leistungssportbeschlüsse
Politisch-ideologisch motivierende Zielstellungen, Inhaltsbestimmun-gen und Vorgaben für den Trainingsprozeß und seine Strukturen, konkrete Aufgaben für die Sportverbände, für die Sportwissenschaft und die sportmedizinische Betreuung und die Anforderungen an die materiell-technische Sicherung des Leistungssports wurden in spezi-ellen Beschlüssen des Politbüros des ZK der SED als der obersten politischen Führung der DDR festgelegt.
Diese Leistungssportbeschlüsse11) enthielten eine strategische Leitli-nie, die Ansprüche und die Aufgabenkomplexe für die Realisierung in bestimmten Zeiträumen. Nach den Erfahrungen von 1956 und 1960
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in den gemeinsamen deutschen Olympiamannschaften bot sich der Olympiazyklus grundsätzlich als Planungs-und Führungsgröße an und seitdem wurden regelmäßig in diesem Abstand und später in kür-zeren (zweijährigen) Abständen Zwischeneinschätzungen und auch längerfristige Orientierungen beschlossen.12)
Leistungssportbeschlüsse galten stets als verbindliche Richtlinie für alle Verantwortungs-und Führungsebenen von Gesellschaft und Staatsmacht und sie waren durch die Autorität des Politbüros legiti-miert. Immer ging es um das einheitliche und zielgerichtete Handeln aller Verantwortlichen und darin war bewußtes politisch-ideologisches Begreifen und Verständnis genauso eingeschlossen wie eine wir-kungsvolle Organisation und Kontrolle. Die systemfördernde Wirk-samkeit dieser Vorgehensweise bildete sich jedoch erst nach und nach und nicht im Selbstlauf heraus. Im Gegenteil, im Realisierungs-prozeß mußten mannigfache Widersprüche gelöst, Korrekturen vor-genommen werden und diese Beweglichkeit entsprach der Dynamik leistungssportlicher Entwicklung. Den Leitungsebenen des Sports bo-ten die Beschlüsse und Maßnahmepläne zu ihrer Realisierung den Handlungsspielraum für eine sowohl organisatorisch straffe Durchfüh-rung und Kontrolle als auch für eine den internationalen Entwicklun-gen entsprechend angepaßte ständige inhaltliche Erneuerung in der Vorgehensweise.
Bei der Beschlußvorbereitung nahm die Analyse des Entwicklungs-standes, von Trendberechnungen und Ergebnisprognosen durch wissenschaftliche Fachgruppen und Expertenberatungen der Sport-verbände einen wichtigen Platz ein. Das war eine fortlaufende Arbeit und sie wurde nur kurzzeitig während der Olympischen Spiele unter-brochen, eben um eine Bestätigung für die Richtigkeit oder von Feh-lern in den Aussagen zu erhalten. Das erzeugte eine kritische und auch selbstkritische Atmosphäre, da die Realität der sportlichen Er-gebnisse bekanntlich eine nicht zu verändernde Größe darstellt und Mogeln von vornherein sinnlos war. Der Leistungssport forderte stets konkrete Angaben, Genauigkeit bis ins Letzte und in den Ergebnis-sen war er öffentlich und so machte auch eine politische Schönfärbe-rei für den einen wie für den anderen keinen Sinn. Insofern hat sich der Leistungssport von anderen Ebenen der DDR-Wirklichkeit abge-hoben und so manche gegenwärtig leider immer noch üblichen Kli-schees treffen auf ihn einfach nicht zu.
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Die Ausarbeitung der Führungsdokumente war allein Sache der aus verschiedenen Institutionen und Organisationen kommenden kom-petenten Fachleute. Die Federführung lag beim Sekretariat des DTSB der DDR, und übergreifende Fragen wurden in der Leis-tungssportkommission der DDR beraten bzw. mit den zuständigen Leitern auf Ministerebene vor Beschlußeinbringung abgestimmt. Das war immer ein mehrmonatiger Prozeß intensiver Arbeit, der politi-schen und wissenschaftlichen Analyse und von Streitgesprächen und schließlich auch der Prüfung der ökonomischen und personellen Möglichkeiten .
Im Politbüro selbst wurden seit Jahrzehnten keine Veränderungen der Beschlußtexte vorgenommen, und das zeigt einerseits die nicht zu beanstandende Genauigkeit der vorgelegten Orientierungen und Ein-schätzungen und andererseits auch die Eigenverantwortung und den Spielraum der DTSB-Leitung und anderer Verantwortungsebenen.
Nach Beschlußfassung folgte eine Zeit intensiver Information und Er-läuterung von allen Gremien und Personen, die in irgendeiner Weise in diesem System leistungssportlicher Vorbereitung eingebunden wa-ren. Das war durchaus ein Prozeß schöpferischer Aneignung und der kritischen Analyse, aber auch ein selbstauferlegter Auftrag oder sogar Zwang zum Erfolg. Daß dies auch zu Frust und Härten führte, zu Un-verständnis und auch Abwehrhaltungen gegenüber dem Leistungs-sport sowohl innerhalb der Sportorganisation als auch in der Gesell-schaft soll hier nicht übersehen, darf aber auch im Sinne unüber-brückbarer Gegensätze nicht überbewertet werden. Dazu gehörte auch die strukturelle Gewichtung und damit verbundene besondere Förderung von Sportarten mit mehr Medaillenchancen. Schließlich reiften in den achtziger Jahren neue Fragen heran, die sowohl Ziel-setzungen, Proportionen und Effektivität und schließlich Aufwand und Nutzen betrafen. Eine Veränderung des bis dato erfolgreichen und sehr festgefügten Systems im Sinne der Erneuerung von Teilen und Wirkungsmechanismen war angedacht und not- wendig gewor-den, kam aber infolge der okonomischen und politischen Krise in der DDR nicht mehr zum Tragen.
Systemwirkung des Leistungssports war entscheidend für den Erfolg
Um es in übersichtlicher Kürze nochmals zu sagen, bestanden die wesent-lichsten Wirkungsfaktoren dieses Systems, wie es auf der Grundlage der in den Leistungssportbeschlüssen gewiesenen Zielset-
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zungen und den geschaffenen Strukturen funktionierte, in folgenden Positionen:
I. Grundlage war der Ausbau und die ständige Vervollkommnung der Förderstufen von der Talenterkennung und -auswahl über die ver-schiedenen Ausbildungsstufen bis hin zu Erzielung sportlicher Spit-zenleistungen. Das dreigeteilte Förderstufensystem erwies sich als ein für DDR-Verhältnisse (Größe, Bevölkerungszahl, Bildungssystem usw.) optimaler und zutreffender Weg. Die jährliche Testung und Auswahl von 25-30000 jungen Sportlern und ihre ge- zielte Grund-ausbildung mit sportartspezifischen Interessenausprägungen in einem dreijährigen Zyklus führte am Ende zu 65-70000 regelmäßig bis zu zehn Stunden trainierenden Kindern und Jugendlichen. Nach dem dritten Trainingsjahr wurden die besten jungen Sportler(innen) in die Clubs bzw. Kinder-und Jugendsportschulen delegiert und die übrigen wieder in ihre heimatlichen Sportgemeinschaften zurückgeführt, wo sie weiter am Sportleben teilnehmen konnten. Allerdings gab es da-bei nicht wenig Probleme und Härten und nicht immer waren die DTSB-Grundorganisationen in der Lage, den gewachsenen Ansprü-chen gerecht zu werden. Diesen Fragen hätte weit mehr Aufmerk-samkeit geschenkt werden müssen.
An den Kinder-und Jugendsportschulen lernten und trainierten in Ver-bindung mit den Sport-und Fußballclubs etwa 10-12000 Sport-ler(innen), aus denen sich die Nachwuchs- und Anschlußkader für die Auswahlmannschaften der Sportverbände und schließlich die ca 700-800 Sportler(innen) für die Olympiamannschaften qualifizierten.
II. Es erfolgte eine zielgerichtete Entwicklung der wissenschaftlichen Grundlagen und die Gewinnung von Erkenntnissen über den Trai-ningsaufbau und seine Gestaltung in einem mehrjährigen Zyklus durch komplex arbeitende Forschungsgruppen und trainingsbeglei-tende wissenschaftliche Maßnahmen bis hin zu aktuellen Zu-standsanalysen und der Trainingssteuerung. Dazu bedurfte es vieler Jahre Erfahrungen an den sportwissenschaftlichen Einrichtungen, wie der DHfK und dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport in Leipzig, anderen Wissenschaftseinrichtungen und Entwicklungsstellen für Sportgeräte (FES u.TZGA in Berlin und Leipzig) und den Wissen-schaftlichen Zentren der Sportverbände. Man kann davon ausgehen, daß vor den Olympischen Spielen in Mexiko damit begonnen wurde, eine stärkere Konzentration auf die Leistungssportforschung schritt-weise anzustreben, aber erst in den siebziger Jahren eine spürbare
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sportwissenschaftlich-sportmedizinische Fundierung der leistungs-sportlichen Prozesse erreicht und dann fortgeführt wurde.
III. Eine wesentliche Grundlage war die planmäßige Aus-und Weiter-bildung von Diplom-Sportlehrern mit vielseitigen Einsatzmöglichkei-ten, später die spezielle Qualifizierung für Sportbereiche und dann ab Anfang der siebziger Jahre als Fach-Trainerkader für eine Sportart sowie die Qualifizierung des sportwissenschaftlichen Nachwuchses. Gleichermaßen erfolgte auch die Qualifizierung von Fachärzten für Sportmedizin und die Einführung vieler spezifischer postgradueller Formen.
Die DHfK und das Forschungsinstitut in Leipzig und andere Einrich-tungen waren durch die Ansprüche und Maßstäbe des Leistungs-sports stets in hohem Maße gefordert, Spitzenleistungen in Lehre und Forschung anzustreben, und das bewirkte eine ständige kritische Prü-fung der Lehrinhalte und des Gesamtniveaus sportwissenschaftlicher Arbeit.
Die leistungssportlichen Entwicklungen im Weltmaßstab und das Streben nach neuesten Erkenntnissen haben zur Anerkennung der Sportwissenschaft als gleichberechtigter Wissenschaftsdisziplin au-ßerordentlich beigetragen.
IV. Von ganz wesentlicher Bedeutung für den Sport im allgemeinen und speziell den Leistungssport mit seinen zunehmenden Belastun-gen war der Ausbau eines Systems der sportmedizinischen Betreu-ung in allen Kreisen und Bezirksstädten in der Struktur eines speziel-len Sportmedizinischen Dienstes der DDR (SMD) über viele Jahre hinweg. Erklärtes Ziel der sportmedizinischen Betreuung war die Er-haltung und Stabilisierung der Gesundheit für alle Sportler(innen), die Vermeidung von Schäden und eine gezielte Prophylaxe und Metaphy-laxe und für die Leistungssportler aller Stufen eine sehr individuelle Betreuung, um die unterschiedlichen Belastungen z.B. im Ausdauer-bereich oder im Binde-und Stützgewebe zu mindern und eine schnelle Wie- derherstellung nach sportlichen Belastungen zu empfehlen oder auch zu sichern. Durch interdisziplinäre Forschungen konnten sehr aufschlußreiche Kenntnisse über die Belastungsgestaltung und Trai-nierbarkeit gewonnen werden, und sportmedizinische Wissenschaftler haben verantwortungsbewußt daran mitgewirkt, die Grenzprobleme leistungssportlichen Trainings zu erforschen. Im SMD einschließlich seines Zentralinstituts in Kreischa waren annähernd 2000 Fachkräfte, darunter ca. 650 Sportmediziner als Fachärzte tätig. Zweifellos hatte
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die DDR damit eines der effektivsten sportmedizinischen Betreuungs-systeme für alle Bürger geschaffen, und die globalen und politisch motivierten Dopinganschuldigungen werden die nachgewiesene all-gemeine Leistungsfähigkeit einer solchen Einrichtung auf Dauer nicht aus der Welt zu schaffen vermögen.
V. Mit dem leistungssportlichen Werdegang ist untrennbar die schuli-sche und berufliche Ausbildung und die soziale Sicherung sowie die berufliche Perspektive verbunden, die in der DDR für alle Leistungs-sportler(innen) weitestgehend nach individuellen Wünschen gestaltet wurde. Von der teilweise bereits in einigen speziell ausgewählten Kin-dergärten begonnenen vorschulischen ( z.B. im Eiskunstlauf, Tur-nen,Gymnastik) und später dann schulischen Ausbildung an den Kinder-und Jugendsportschulen bis zum Hochschulstudium oder einer anderen Berufsausbildung erstreckten sich die Formen der Betreu-ung, und wenn heute die mangelnde Selbständigkeit von einigen be-klagt wird, so steht das ja wohl in keinem Verhältnis zu der gegenwär-tig häufig unsicheren so- zialen Perspektive vieler Athleten(innen). Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch die Möglichkeiten des bewuß-ten Abtrainierens und die kostenlose und lebenslange medizinische Betreuung dazugehörten.
VI. Die optimale Nutzung einer modernen und allen Anforderungen des lei-stungssportlichen Trainings gerecht werdenden materiell-technischen Basis mit entsprechenden Trainings-und Wettkampfan-lagen, von Sportschulen mit wissenschaftlich-technischer Ausstattung und Erholungsmöglichkeiten sowie die Konstruktion und Fertigung von leistungsbeeinflussenden Sportgeräten und Material (wie z. B. Ruder-und Segelboote, Kanurennboote, Bobs, Schlitten, Skimaterial u.a.) erwies sich unter den konkreten DDR-Bedingungen als ein sehr effektiver Faktor in einem komplex wirkenden Bedingungsgefüge des Leistungssports.
VII. Schließlich muß hier die einheitliche zentrale Leitung der Gesamt-prozesse des Leistungssports, die eigentliche Logistik im Sinne einer klaren Zielorientierung, Analyse und organisatorische Bewältigung der Prozesse genannt werden. Sie erforderte zwar einen hohen Koordi-nierungs- und Kon-trollaufwand, war aber für diese Zeitverhältnisse dennoch sehr wirksam, wenn auch dabei Übertreibungen in der Er-fassung von allzu viel Trainingsdaten auftraten, die teilweise an der Basis in den Clubs als hemmend empfunden wurden.
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Entscheidend war, daß für alle Ebenen die gleichen Leistungssport-beschlüsse galten, alle die Führungs-und Kontrollmechanismen aner-kannten und diszipliniert zu erfüllen versuchten.
Da aber der Leistungssport ein sehr lebensnaher pädagogischer und spezifisch trainingsmethodischer Prozeß ist, hat es immer zwischen Zielvorstellung und Realisierung einen großen Spielraum schöpferi-scher Arbeit gegeben und es ist ganz abwegig, etwa davon auszuge-hen, dass sich dieser Prozeß allein durch Beschlüsse, Befehle und zentralistische Leitung dirigieren ließe.
Hieran anknüpfend möchte ich das umfangreiche Bemühen hervor-heben, für die Bewährung im leistungssportlichen Prozeß immer wieder neu Motive zu bilden und ideologische Grundüberzeugungen auszuprägen. Dazu diente die Erziehung zum sozialistischen Patrio-tismus und Internationalismus, verbunden mit solchen Idealen wie Achtung aller Menschen und Rassen, Freundschaft zu allen Völkern, Erhaltung und Sicherung des Friedens. Hierin waren auch die Aner-kennung und Verinnerlichung der olympischen Ideale eingeschlossen. Aber es wurde zugleich auch zum Haß gegen den Imperialismus als System erzogen und somit entstanden Freund-und Feindbilder, die in den Verhaltensnormen eher zwiespältig wirkten. Übersehen wir dabei nicht, daß es auch im antikommunistischen Westen Feindbilder gab und das nicht nur im Lei-stungssport und diese in Medien und in der öffentlichen Meinungsbildung noch heute eine bestimmte Rolle spie-len.
Die Wirkungsweise dieser gekennzeichneten Faktoren der Leistungs-sportentwicklung erforderte natürlich einen beträchtlichen gesell-schaftlichen Aufwand (aber nicht etwa gleichzusetzen mit dem finan-ziellen Aufwand, denn der bewegte sich 1988 bei etwa 0,24 % des Staatshaushaltsplanes und in diesem Falle war der Leistungssport ei-nes der rentabelsten "Unternehmen" der DDR) und ist nur realisierbar, wenn wissenschaftlich begründete Konzepte, ideelle wie personelle und Bedingungen sowie politische und soziale Anerkennung gegeben sind, eine stabsmäßige Leitung erfolgt und diese Entwicklung durch die schöpferische und hingebungsvolle Arbeit vieler mit dem Lei- stungssport verbundener Menschen - hauptamtlich wie ehrenamtlich tätig - getragen wird.
Dennoch geht nicht alles auf, kann es nicht, denn überall gibt es En-thusiasten und strebsame Menschen im Sport, die alles einsetzen und
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hart an sich arbei-ten, auch wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse andere sind und sie auch andere Ziele verfolgen.
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Hier wurde versucht, wesentliche Bestimmungsfaktoren des DDR-Leistungssportsystems in einer kurzgefaßten Übersicht darzustellen. Es war politisch-ideologisch begründet, pädagogisch durchdacht, sportwissenschaftlich fundiert, auf Förderung und Forderung gerichtet und wurde erfolgsorientiert geleitet. Es bedurfte vom Prinzipiellen her und aufgrund seiner zunehmenden Systemwirksamkeit keiner zu-sätzlichen Stimulanzien, wenn sie sie denn nicht in den internationa-len sportlichen Wettbewerben rigoros angewandt und die Chancen-gleichheit deutlich verletzt hätten. Wenn manche selbsternannte "Spezialisten" in Sachen DDR-Sport immer noch der Vorstellung fol-gen, daß der jahrzehntelange Erfolg der DDR-Sportler vorwiegend auf die Anwendung pharmazeutischer Mittel zurückzuführen sei, ver-kennen sie wohl absichtlich deren Wirksamkeit im Verhältnis zu den im Gesamtrahmen des Auswahl-und Trainingssystems angelegten Ausbildungsformen des physischen und psychischen Leistungsver-mögens und die im trainingsmethodischen Prozeß erworbenen Fä-higkeiten und Fertigkeiten. Dennoch soll das Problem nicht unerwähnt oder gar verkleinert werden, denn Pharmaka und anabole Steroide haben den internationalen Leistungssport der letzten Jahrzehnte be-gleitet und belastet und stellten eine Verletzung olympischer Regeln und auch der Sport-ethik dar, nachdem sie als solche klassifiziert und sowohl durch das IOC oder auch internationalen oder nationalen Sportverbänden mit Strafen geahndet wurden.
Zweifellos ist die Nutzung pharmakologischer Substanzen, die auf Dopingli- sten erfaßt sind, eine verwerfliche Seite des Leistungssports und man kann und muß ihre Verbreitung und Anwendung bedauern und beklagen, aber dennoch sollte man die Ursachen und die Zeit-punkte dieser Nutzung beachten und heute, da viele Gründe entfallen und exakte Kontrollmethoden vorliegen, weltweit den natürlichen Ge-sundheits-und Leistungsaspekt des Spitzensports in den Mittelpunkt stellen. Das erfordert natürlich auch den Ausbau der Kontrollmecha-nismen. Es ist bemerkenswert, daß die Diskussionen darüber und auch die Appelle gegen das Doping in und durch die internationalen Gremien des Sports zumeist sachlich, teilweise sogar verhalten und in den Schlußfolgerungen dem Gewicht dieses vielschichtigen Prob-lems angemessen sind, denn eine Gleichsetzung des internationalen
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Leistungssports mit Doping oder gar eine Kriminalisierung war und ist in jedem Falle nicht gerechtfertigt und löst offensichtlich kein Problem, wie es derzeitig die zunehmende Tendenz von Mißbrauch aus-weist.
Seit 1990 - etwa zeitgleich mit dem sich auflösenden sozialistischen Staatensystem - werden Leistungssport und nicht bewältigte Doping-praxis und Do-pingkontrolle hierzulande geradezu verteufelt und zu kriminalisieren versucht, und es soll wohl kein Ende nehmen, als ob erst jetzt Wahrheit und Recht eingekehrt seien und sie solcherart über die ganze Geschichte ausgebreitet werden müßten. Vielleicht ge-schieht es aber auch, um eine eigene schlechte Praxis zu verdrängen.
Es ist hinreichend bewiesen, daß die politischen Beweggründe für eine Nutzung von pharmakologischen Mitteln im internationalen Leistungs-sport durchaus ausgeprägt waren, es gab aber gleichzeitig auch das Problem des Suchens nach Leistungsreserven mit Hilfe von Substanzen, die für die Bewältigung von Grenz-belastungen im Leistungsport für er-forderlich gehalten und eingesetzt wurden. Hier ist W.Hollmann zu folgen (dpa-Interview vom 13.4.1994) der wiederholt gefordert hat, die medizi-nisch-biologischen Wirkungen der Substanzen, die auf den Dopinglis-ten stehen, exakt zu erforschen und die Grenzen und Gefahren im sportlichen Hochleistungsbereich noch genauer zu bestimmen. Da die Kontrollmechanismen in den verschiedenen Regionen der Welt nach wie vor unterschiedlich angewandt werden, wird die Chancengleicheit auch auf diesem Gebiet trotz des allgemeinen Wegfalls von Feindbil-dern wohl weiter nicht erreicht werden und der Professionalismus mit der Sucht nach Geld hat die Mißbrauchfunktion eingenommen.
Für die Zeit der Entwicklung des DDR-Leistungssports ist weiter fest-zustellen, daß vieles nicht erklär- und begreifbar ist ohne die Berück-sichtigung internationaler Tendenzen und Verhältnisse, der Blockbil-dungen und Formen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil und schließlich des ständigen Vergleichs mit der Bundesrepublik und den dort geübten Förderungen und Praktiken.
Schließlich darf bei aller formal anmutenden Strukturperfektion und auch dem vielfach unterstellten und nicht zu Unrecht entdeckten Diri-gismus, der solchem Systemen wohl eigen ist, keinesfalls übersehen werden, daß dieses Sy- stem ein wirkliches Geheimnis hatte: Es wurde mit Leben erfüllt durch die Ziele, Ideale und den unermüdlichen Einsatz vieler Sportlerinnen und Sportler, von Übungsleitern, Trai-nern, Sportlehrern, Wissenschaftlern, Ärzten und Schwestern, Boots-
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bauern, Gerätewerkern, Technikern und Spezialisten vieler Diszipli-nen und Berufe, von Sportfunktionären und vielen weiteren ehrenamt-lichen Helfern, die Sport trieben, ihre Sportart liebten und für den Er-folg mit großem Enthusiasmus arbeiteten. Nicht wenige aber hatten auch ihre Probleme, sie freuten sich und fluchten, trugen zwar den Kopf hoch, waren aber dennoch unzufrieden und manche waren auch verzweifelt, gaben auf oder suchten das Weite.
Dieses Leistungssportsystem existiert nicht mehr, es wurde im Ergeb-nis der Anschlußpolitik zerstört, aber es bleibt in der Geschichte, mit den Erkenntnissen und Erfahrungen, erfolgreichen Strukturen und Ar-beitsweisen und einem seltenen Archiv unausgewerter wissenschaft-licher Fakten. Natürlich auch mit den Erfahrungswerten von Fehlent-wicklungen und Widersprüchen, aus denen diejenigen Nutzen zie-hen könnten, die es denn wollten.
1988 weilte der damalige Sportminister von Großbritannien, Colin Moynihan , in Begleitung von Sebastian Coe zu einem Studienbe-such in der DDR, um "Geheimnisse" der Sporterfolge zu entdecken. Nach seiner Rückkehrr schrieb der "Independent":"Moynihan kehrt mit der ermutigenden Neuigkeit zurück -zumindest für seine Regierungs-kollegen - daß die Antwort nicht in mehr Geld, besseren Einrichtungen und moderneren Geräten zu liegen scheint. In allen drei Punkten ist Britannien voraus. Was er auf allen Ebenen fand, war, daß dieses kleine Land, das viel größeren Vorrang dem Sport gibt, eine zentrali- sierte, koordinierte Struktur hat, die sicherstellt, daß keine der be-grenzten Sportressourcen - personell oder materiell - vergeudet wer-den. ‘Der große Unterschied zwischen unseren Ländern liegt in der Struktur’, sagte Moynihan."
Und damit war er auf dem Wege der Wahrheit .
ANMERKUNGEN:
1) "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht." K.Marx-F.Engels, Werke, Dietz-Verl. Berlin 1959. Bd. 3 S.46
2) Demokratischer Zentralismus war Hauptprinzip der Leitung der sozialistischen Gesellschaft, durch den von der Arbeiterklasse und ihrer Partei geführten Staat und bedeutet eine einheitliche straffe Leitung aller Prozesse von einem Zentrum aus, Unterordnung aller örtlichen Organe un-ter das Zentrum bei Wählbarkeit aller Machtorgane von unten nach oben, Beschlußdisziplin und Durchdringung von Zentralismus und Demokratie. Der demokratische Zentralismus wurde adä-quat auch im Sport, im DTSB der DDR und der GST , angewandt.
3) Hier nenne ich aus neuerer Zeit z.B. nur die zum Teil sehr rigorose Ausländerpolitik einerseits und die ständig zunehmende Zahl ausländischer Spitzensportler in namhaften bzw. wirtschaftlich ausreichend gesponserten Vereinen zur Reputation deutschen Sportruhms bzw. marktwirtschaft-licher Gewinnchancen durch Werbung andererseits, wobei damit sehr häufig eine auffallend
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schnelle Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit einhergeht. In letzter Zeit scheint ein neuer Abschnitt im Sinne einer einschneidenden Zäsur in der rechtlichen Stellung von Sportclubs und Vereinen durch den Beschluß des Europäischen Gerichtshofes (EUGH) vom 15.12.1995 in Luxemburg -das Bosman-Urteil betreffend- eingeleitet worden zu sein. (Siehe dazu u.a.DFB-Journal 4/95 S.42 ff ),
4) Es ist in Fachzeitschriften und Trainerkreisen üblich geworden, zwischen Nachwuchslei- stungssport und Hochleistungssport zu unterscheiden und den Begriff des Leistungssports als übergreifend für das Ganze zu verwenden.
5) Ähnlich übrigens wie in der Alt-BRD früher und besonders häufig nach dem DDR-Anschluß , wo bei jeder sich bietenden Gelegenheit von freiheitlich-demokratischer Ordnung und sozialer Marktwirtschaft gesprochen wurde, wobei das soziale angesichts der Massenarbeitslosigkeit und des rapiden Sozialabbaus in letzter Zeit kaum noch der Erwähnung für wert gehalten wird.
6) K.Marx:Instruktionen für die Delegierten des provisorischen Zentralrates, in: Marx,K. u.Engels,F,Werke Bd 16, Berlin 1962 S.194
7) Das Staatliche Komitee und danach das Staatssekretariat waren verantwortlich für die rein staatlichen Belange von Verfassungs-und Gesetzesrealisierungen, der Einbeziehung des Sports in die staatlichen Planungen und damit in die Volkswirtschaftspläne, von Investitionen, Sportanla-gen, der Sportwissenschaft in Lehre und Forschung, der Aus-und Weiterbildung, der sportmedi- zinischen Betreuung sowie der Anleitung der Örtlichen Räte in Fragen des Sports.
Beim Staatssekretariat bestanden Zentrale Kommissionen für Skilehrer, für Schwimmeisterfragen, für das Sportabzeichenprogramm der DDR sowie seit der Komiteegründung der Wissenschaftli-che Rat für Körperkultur und Sport, der alle übergreifende Sportwissenschaftsfragen koordinierte und durch Arbeitstagungen, Kongresse und Seminare das sportwissenschaftliche Leben in der DDR förderte. Zu nennen wären hier weiter das Komitee für Körperkultur und Sport der DDR, das seit dem 12.8.1970 bestand und ein koordiniertes Zusammenwirken staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Organsiationen in Fragen der Gesamtentwicklung der Körperkultur beriet, so-wie die Ständigen Kommissionen Jugendfragen, Körperkultur und Sport bei den Örtlichen Räten, dann die Spartiadekomitees und Arbeitsgruppen bei den Leitern von Industriekombinaten oder im Bereich der Landwirtschaft und in Gemeindeverbänden. Die Übersicht der Verantwortungsebenen ist hier keineswegs vollständig, sie soll hier nur verdeutlichen, daß die Strukturen vielschichtig wa-ren und die Einheitlichkeit einen relativ hohen Koordinierungsaufwand erforderte.
8) In bestimmten besonders militärsportlichen Disziplinen, wie z. B. , Fallschirmsport, Seesport, Nachrichtensport , Sportschießen, Tauchsport u.a. wurde die Verantwortung von der Gesellschaft für Sport-und Technik (GST) wahrgenommen.
9) Die Ländertabellen sind auch weiter üblich, teilweise auch bei Welt-und Europameisterschaften und die Leitungen des Sportes können auf sie sowieso nicht verzichten, da der Anteil der Sport-arten im internationalen Vergleich wiedergespiegelt wird, und es lassen sich vielfältige Rück-schlüsse nicht nur über die Verbreitung der Sportarten, ihr Leistungsniveau in einem Land , son-dern auch über Niveau und Form der Förderbedingungen und auch von Wissenschaft und Be-treuungssystem ableiten.
10) Siehe u.a. David Miller:Die olympische Revolution. Die Biographie von Juan Antonio Sama-ranch, Bertelsmann 1.Aufl. 1992 S.213 ff
11) In einer gründlichen wie übersichtlichen Untersuchung hat Karsten Schumann in seiner Arbeit "Empirisch-theoretische Studie zu entwicklungsbestimmenden Bedingungen des Leistungssports der DDR, Versuch einer zeitgeschichtlichen Bilanz und kritischen Wertung vor allem aus der Sicht der Gesamtzielstellung, Dissertation, Universität Leipzig 1993, Beschlußvorbereitungen,Inhalte, Zielstellungen und Auswertungen beschrieben. Ich verweise darauf und habe deshalb nur kurz-gefaßte Charakteristiken eingefügt, die sich auf dieses hier behandelte Thema beziehen.
12) Schumann, ebenda
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KLARSTELLUNG EINES SACHVERHALTS
Von Georg Wieczisk
Wolfgang Nordwig erklärte gegenüber der "Super-Illu" (27. Mai 1993): "Vor Olympia 1972 in München war meine Form nicht optimal. Hinzu kam das Theater um einen neuen Stab aus Karbonfiber, den die Amis völlig überraschend kreierten. Niemand wußte, ob der noch vor den Spielen zugelassen wird oder nicht. Es war der reinste Psycho-Thriller. In dieser Situation ließen mich DTSB-Präsident Ewald, Leistungssport-Chef Röder und Leichtathletikpräsident Wieczisk allein. Ich war plötzlich keine Medaillen-Bank mehr. Sie rieten mir von einer Olympia-Teilnahme ab. Für ein Verbot war ich wohl zu bekannt. Als in München die große Eröffnungsshow lief, saß ich noch in Kienbaum auf gepackten Koffern. Erst spät durfte ich nachreisen." Prof. Dr. Wieczisk schrieb Nordwig daraufhin einen Brief, der allerdings nie an die Öffentlichkeit gelangte und auch von Nordwig nie beantwortet wurde. Wir halten sei-ne Veröffentlichung für einen Beitrag zur Zeitgeschichte.
Der geschuldete Respekt für Ihre Leistungen im Sport und im Beruf und für Ihre wiederholt bewiesene charakterliche Lauterkeit wird durch derartige Aussagen bei den 'insidern' des damaligen Ge-schehens zweifelsfrei geringer. Es war ein offenes Geheimnis, daß in den USA 1971/72 neue Stäbe entwickelt und von einigen leis-tungsstarken Athleten mit Erfolg getestet wurden. Ihre stärksten Konkurrenten trainierten mehrere Monate vor den Spielen mit die-sen Stäben und stellten neue Weltrekorde auf. Wir konnten erst im Mai oder Juni dank guter Verbindungen zu einer Sportartikelfirma (wie Sie wissen, standen auch Sprungstäbe auf der gegen die DDR gerichteten Embargoliste) einige dieser 'Wunderstäbe’ spezi-ell für Sie käuflich erwerben. Die Umstellung auf dieses neue Gerät gelang Ihnen vor den Spielen nicht mehr. Die Zeit war zu kurz. Der letzte Test dafür war der Länderkampf Frankreich-DDR im Juni in Paris. Zugegeben, der psychische Druck, der auf Ihnen lastete, war
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groß. Das IAAF-Council hatte auf seiner Frühjahrstagung 1972 für diese Geräte das Placet erteilt. Diese Entscheidung rückgängig zu machen, gehörte im Vorfeld der Olympischen Spiele zu einem der Hauptanliegen des Verbandes und meiner Person. Seit 1971 galt - auf Initiative des DVfL der DDR - in der IAAF die Ordnung, daß Sportartikel, die bei IAAF-Wettkämpfen benutzt wurden, mindes-tens ein Jahr vorher auf dem Markt zum Kauf angeboten werden mußten. Das war bei diesen Stäben nicht der Fall. Also mußten wir versuchen, diese Entscheidung des IAAF-Councils rückgängig zu machen. Das wurde versucht durch offizielle Schreiben und in Ge-sprächen mit den Präsidenten der IAAF und der EAA, dem Marqu-ess of Exeter und dem Niederländer Adrian Paulen und - obgleich die Tagesordnung des IAAF-Kongresses abgeschlossen war - durch eine Intervention meinerseits vor dem Eintritt in die Kongreß-Tagesordnung. Die Mehrheit des Kongresses entschied sich für den durch mich eingebrachten Antrag, wodurch die neuen Stäbe für die Wettkämpfe in München nicht zugelassen waren. Das war ein schwer erkämpfter Erfolg! Für Sie, Herr Nordwig, und natürlich auch für die DDR. Ernsthafte Erwägungen, auf eine Teilnahme an den Olympischen Spielen zu verzichten, gab es zu keiner Zeit. Im Rahmen allgemeiner Unterhaltungen mag dieser oder jener, viel-leicht auch Sie selbst geäußert haben, daß Sie gar nicht nach München fahren brauchten, wenn die neuen Stäbe zugelassen würden. Es ist deshalb eine gezielte Unwahrheit, den damals Ver-antwortlichen des DDR-Sports und des Verbandes anzulasten, Ihnen abgeraten zu haben, an den Spielen teilzunehmen.
Spornitzer Erfahrungen
Von Otto Jahnke
Am Rande der Lewitz liegt das Dorf Spornitz im Kreis Parchim. Vor fast 700 Jahren wurde es zum ersten Mal urkundlich erwähnt und war von jeher ein Bauerndorf. Ein Ort, der den Besucher beein-druckt durch saubere Straßen und Wege, die schmucken, gepfleg-ten Häuser strahlen Ruhe und Sicherheit aus.
Seit der Gründung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossen-schaften gab es in Spornitz eine längere, nicht immer reibungslos verlaufene Entwicklung, die aber durch den Fleiß der über 400 Mit-glieder dazu führte, daß die LPG seit Jahren Gewinn erwirtschafte-te und dadurch das Dorf positiv mitgestalten konnte. So wurde das Leben der Einwohner leichter und angenehmer. Zeugnis dafür sind die zentrale Wasserversorgung, feste Straßen, neue Wohnhäuser, eine Bäckerei, Schlachterei, Kindergarten, Kinderkrippen, mehrere Sportanlagen, das Kulturhaus „Goldene Ähre", inzwischen "Traum-land-Disko“, mit einer großen Gaststätte, Saal und Kegelbahn - die größte Begegnungsstätte dieser Art im Kreisgebiet.
Mit der Verbesserung der Lebensqualität erlangte das Bedürfnis nach Sport und Kultur höhere Bedeutung. Das breite Angebot für sportliche Betätigung wurde von den 1500 Einwohnern gern ange-nommen. Jeder Dritte gehört der SV Spornitz 09/SV Dütschow (früher BSG Traktor) an - insgesamt 426 Mitglieder, davon 211 Schüler.
In zehn Sektionen (Leichtathletik, Fußball, Schwimmen, Volleyball, Turnen und Gymnastik, Reiten, Schach, Tischtennis, Boxen) wird ihnen eine bemerkenswerte Palette angeboten.
Die Ausstrahlung des Dorfes, die vielfältigen Aktivitäten und Erfol-ge der LPG - nach der Wende als Agrarvereinigung tätig - sorgten schon für manche Schlagzeilen in der Tagespresse. Großen Anteil am Medieninteresse hat seit eh und je das sportliche Geschehen.
Spornitzer Fußball - Damen sind Spitze
Für Aufsehen sorgen seit einigen Jahren die Fußballerinnen des Ortes, die in der Serie 1992/93 sogar Landesmeister von Mecklen-burg/Vorpommern wurden. Und das gegen so namhafte Gegner-
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schaft wie Nagema Neubrandenburg, 1. FSV Schwerin, FC Hansa Rostock und SV Hafen Rostock.
Angefangen hatte es mit einigen Mädchen, die nachmittags bei den Jungen mitspielten oder sich sehen ließen, wenn die Nachwuchs-mannschaft trainierte. Vorstandsmitglieder sprachen die Mädchen an und organisierten bald ein Spiel zwischen zwei Spornitzer Mannschaften. Da die jungen Spielerinnen mit Eifer dabei waren, nahm alles seinen Lauf, später fand sich auch ein Übungsleiter. Ei-nige Monate danach, im Jahre 1972, nahm die Mannschaft an den Punktspielen im Bezirk teil. Allerdings gab zu dieser Zeit noch vie-le, die von einem solchen Sport für Frauen nichts hielten, ihn belä-chelten. Trotzdem blieb man dabei, sammelte Erfahrungen. 1976 schied die Mannschaft aus dem Punktspielbetrieb wieder aus.
In den achtziger Jahren organisierte die Sportgemeinschaft jeweils an einem Sonntag im September ein großes Volkssportfest mit Vol-leyball, Kegeln, Reiten, Fußball der Betriebsmannschaften, Tisch-tennis, Torwandschießen, Sackhüpfen, Kugelstoßen und Kiderbe-lustigungen. Im September 1986 kam die BSG-Leitung auf die Idee, nach zehnjähriger Unterbrechung wieder ein Spiel Frauen gegen Mädchen zu organisieren. Das fand Zustimmung. Nach dem Spiel wurde bei Kaffee und Kuchen beschlossen: Neubeginn mit dem Frauenfußball. Nach einigen Monaten fiel der Startschuß mit einem Kleinfeldturnier mit Mannschaften aus Schwerin, Boizen-burg, Parchim. Das war am 31. Mai 1987, und im September 1987 begann die Punktspielrunde, auf Wunsch der Vereine auf Kleinfeld. Mit zunehmendem Training und dem Zugang von Spielerinnen aus Parchim, Neustadt-Glewe, Groß Laasch, Quelkhorn (bei Bremen) und Ratzeburg verbesserte sich der Leistungsstand. Nachdem schon in den vorangegangenen Jahren zweite und dritte Plätze in der Landesmeisterschaft erreicht worden waren, errangen die Da-men sogar den Titel und damit ihren bislang größten Erfolg.
Historisches Datum: 5. November 1909
Die Lust am sportlichen Wirken ist von Generation zu Generation gewachsen. Die Wurzeln des organisierten Sports reichen bis in die Jahrhundertwende. Am 5. November 1909 wurde der Turnver-ein "Frisch auf" gegründet, von zehn Männern, die namentlich in der Chronik "80 Jahre Sport in Spornitz" festgehalten sind. In der
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Gründungsversammlung wurden Beschlüsse gefaßt, die über Jahrzehnte das Verhalten bestimmten, fast an einen Ehrenkodex erinnern. Die Mitgliederversammlungen begannen spät, oft erst um 21.30 Uhr, damit jeder zuvor sein Vieh versorgen, und seine Arbei-ten zu Hause erledigen konnte. Als die ersten Turnabende festge-legt wurden, wurde auch beschlossen, daß jeder „einen Turnstab mitzubringen hat“. Weiter wurde beschlossen, ein eisernes Turn-reck zum Preise von 42 M und eine Kokosmatte für 16 M auf Ver-einskosten anzuschaffen "wofür sämtliche Mitglieder bis zur letzten Rate haftbar sind.“ Als Werbung zur Gewinnung neuer Mitglieder dienten Vereinsvergnügen.
Schon 1910 nahmen 12 Turner am Turnfest in Neustadt-Glewe teil. Ein Jahr später wurde der erste Maskenball veranstaltet, der bis heute über die Kreisgrenzen hinweg seinen Ruf genießt. Bei allen Zusammenkünften wurde für die Anschaffung einer Vereinsfahne gesammelt, die schließlich 1913 gekauft werden konnte und bis heute erhalten ist.
Sparsamkeit gehörte von Anfang an zu den bewährten Vereins-prinzipien und natürlich persönliches Engagement. So ist auch zu erklären, warum die Turngeräte 1914 bereits einen Wert von 700 M auswiesen. Damals gab es keine öffentliche Unterstützung oder Förderung. Das Sporttreiben war Sache jedes einzelnen, aber die Freude am Sport, am geselligen Beisammensein war ein starker gemeinsamer Antrieb. So trafen sich zum sportlichen Üben und turnerischen Wettstreit junge Bauern, Häusler, Einlieger und Handwerker, denen bald auch Mädchen und jüngere Frauen folg-ten. 1914 zählte der Turnverein 60, 1927 schon 102 Mitglieder.
Da den Fußballern im Turnverein keine Gelegenheit zum Ballspie-len gegeben wurde, bildeten sie 1923 ihren eigenen Verein: SSV Spornitz. Anfang der 20er Jahre erfolgte dann die Gründung des Arbeiterradfahrvereins "Solidarität"; er zählte anfangs 35 Mitglieder, von denen sich ein Teil im Kunstradfahren übte. Es waren vorwie-gend die Häusler, die neben ihrer Landwirtschaft in den Lederwer-ken Neustadt-Glewe arbeiteten und sich dem Verein anschlossen. Die Bildung der Vereine hat die Vielseitigkeit des Sportangebots und die Konkurrenz untereinander gefördert.
Die Entwicklung wurde durch wirtschaftliche Krisen und die Kriege unterbrochen. Zwanzig Spornitzer starben im Ersten Weltkrieg, vie-le kehrten mit gesundheitlichen Schäden zurück.
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Hans Esch (73), Lehrer für Geschichte und Deutsch und allseits geschätzter Direktor der Spornitzer Schule (1950-1956), war Vor-sitzender der BSG Traktor von 1955 bis 1981, danach und das bis zum heutigen Tag Sektionsleiter Fußball, Vorsitzender des Kreis-fußballverbandes, Kreisjugend-obmann, Staffelleiter. Woche für Woche begleitet, beobachtet, betreut er seine sechs bis sieben Fußballmannschaften. Ist er wieder daheim, erhalten Agenturen und Redaktionen Berichte und Meldungen, wie Spornitzer bestan-den haben. Dieser verdienstvolle Lehrer und Freund der Jugend, hat noch ein weiteres Amt inne, das ihm sehr am Herzen liegt: Er ist der Chronist des Dorfes mit den Ortsteilen Dütschow und Stein-beck. Auch dieser Aufgabe stellt er sich mit nie erlahmendem Eifer. So wurde er der Autor der 88 Seiten starken Chronik „80 Jahre Sport in Spornitz". In Berichten und Bildern aus acht Jahrzehnten wird Geschichte lebendig. Eine Broschüre, die eine Fundgrube ist, in jedem Spornitzer Haushalt vorliegen dürfte und von Besuchern gern durchgeblättert wird. Auf Seite 13 liest man: Als 1933 die Na-zidiktatur begann, trat ein, was viele Mitglieder befürchtet hatten. Der Verein "Solidarität" wurde verboten, sein auf der Bank befindli-ches Geld beschlagnahmt. Zeitzeugen erinnern sich, daß es schon zuvor bei Vereinsfesten Störungen gegeben hatte, daß man Ein-dringlinge handgreiflich des Saales verweisen mußte. Im Rahmen der "Gleichschaltung" der Vereine durch die Nazis erfolgte die Ver-einigung zum Turn- und Sportverein Spornitz. Danach wurde zwar weiter geturnt und Fußball gespielt, doch so mancher sah der Zu-kunft mit Bangen entgegen. Die letzte Mitgliederversammlung fand 1942 statt, bald kam im Inferno des Krieges der Sportbetrieb ganz zum Erliegen.
Nach der Zerschlagung des Faschismus galt es eine neue, die demokratische Sportbewegung aufzubauen, anfangs organisiert von den antifaschistischen Jugendausschüssen, dann von den Landes- und Kreissportausschüssen. Schon im Herbst 1945 erfreu-te die Jugendgruppe mit ihren "Bunten Abenden" die Einwohner, darunter viele Umsiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebie-ten. Nachdem 1946 das erste Fußballspiel wieder stattgefunden hatte, folgten bald weitere Freundschaftsspiele und Turniere. 1948 begannen die Kreismeisterschaften im Fußball der Männer mit sie-ben Mannschaften in der Staffel Nord und sechs in der Staffel Süd. Auch eine Spornitzer Jugendmannschaft trug erste Spiele aus.
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Tante aus Kanada schickte Fußball
Natürlich mußte in den Jahren des Neuanfangs so manche Hürde genommen werden, um überhaupt Sport treiben zu können. Es fehlte an allem. Auf der Suche nach einem brauchbaren Ball be-mühte ein Spornitzer Fußballer gar seine Tante in Kanada. Sie schickte ihm einen nagelneuen Ball, der natürlich wohl behütet wurde.Torwart Edelhart Maxion nahm ihn mit zum Turnier in Kieck-indemark. Beim anschließenden Sportlerball verließ er nur kurz seinen Platz, und schon waren Ball und Fußballschuhe ver-schwunden. Am nächsten Tag meldete er den Verlust. Nach ein paar Wochen - er hatte den Verlust schon abgeschrieben - erhielt er von der Volkspolizei Bescheid und konnte Schuhe und Ball ab-holen. Der Täter hatte beides in einem Schornstein versteckt bis die Ordnungshüter dahinterkamen.
Der Wunsch nach mehr Sport nahm zu. Kopfzerbrechen bereitete immer wieder die Fahrzeugbeschaffung für Fahrten zu den Punkt-spielen. Manche Strecke wurde mit dem Fahrrad bewältigt, andere mit Trecker und Anhänger - auch ohne Plane - oder mit dem LKW. Oft half die Gemeindeverwaltung, auch Betriebe unterstützten die Sportler.
1948 erfolgte die Gründung der SG Spornitz. Der Sport wurde von da an organisierter betrieben: an zwei Tagen in der Woche trainier-ten die Turner und die Fußballer. Die Schule veranstaltete im Sep-tember 1949 ein Leichtathletiksportfest. Die Turner imponierten im März 1950 bei einer Veranstaltung des Friedenskomitees, eine weitere im Juli fand große Begeisterung; der Saal konnte die Zu-schauer kaum fassen.
Die Turner, eine mobile Truppe, bildeten die stärkste Sektion der Sportgemeinschaft. Andere Sektionen brachten sich immer mehr ins Gespräch. Die Faustballer feierten in Parchim bei einem Turnier einen 2. Platz. Viel Anerkennung fand die Spornitzer Sportwerbe-gruppe, die oft in Nachbarorten des Kreisgebiets auftrat.
Der Wettkampfbetrieb hatte zu diesem Zeitpunkt erfreulich zuge-nommen. Im Herbst 1952 hatten die Fußballmannschaften der Männer den Punktspielbetrieb im Kreis unter 16 Mannschaften aufgenommen - 12 beendeten die Spielzeit, eine Folge des durch die Kreisreform kleiner gewordenen Kreises. Mit Tischtennis wurde
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eine weitere Sportart ins Leben gerufen. Anfangs wurde auf Be-helfsplatten gespielt, doch bald nach Anschaffung vorschriftsmäßi-ger Plattem erfolgte der Übungsbetrieb in größerem Umfang: vier Gruppen Anfänger und Fortgeschrittene (Mädchen und Jungen). Am Abend kamen Männer und Frauen hinzu. Das breitere Sport-angebot bewirkte auch, daß die Umsiedler aus den ehemaligen Ostgebieten in ihrer neuen Umgebung schneller heimisch wurden.
Die Anziehungskraft der Sportgemeinschaft stieg von Jahr zu Jahr. Der Sport wirkte wie ein Magnet. Wenn der BSG-Vorstand zu frei-willigen Arbeitseinsätzen rief, fand das Anliegen bei den Spornit-zern Gehör. So entstand in freiwilliges Gemeinschaftsarbeit aus dem alten Gasthaussaal die Turnhalle. In der faktenreichen Chro-nik fand das gemeinschaftliche Wirken der Gemeinde zum Wohle des Sports und der Bürger des Ortes viel Anerkennung. So gab es in dem Dorf nur einen Sportplatz - zu wenig für sechs Fußball-mannschaften, Schul- und Volkssport. Durch gemeinsame Arbeit wurde er erweitert: eine 100-m-Laufbahn kam hinzu, die Umkleide-räume wurden erweitert, Duschen ausgebaut und eine Lichtanlage fürs Fußballtraining geschaffen.
Stark beansprucht war seit jeher die Kegelbahn der LPG-Pflanzenproduktion, die von der BSG genutzt wurde. In drei Grup-pen kegelten Männer, Frauen und Rentner. Großen Anklang fand nicht nur bei Kindern das Voltigierreiten. Pferde und Ausrüstung stellte die LPG Freiheit zur Verfügung. Die Übungsleiterin gehörte ebenfalls der LPG an.
Die Hauptsorge galt in dieser Zeit dem Schwimmbad. Seit 1932 in Betrieb, war es nach über 20 Jahren nicht mehr benutzbar, da die Holzwände morsch und zerfallen waren. Lehrer und Sportler ergrif-fen die Initiative zum Bau einer neuen Badeanstalt. Eine Kommis-sion wurde gebildet. Nachdem in einer Einwohnerversammlung über den Neubau, über die Bereitschaft der Bauern, Holz zu spen-den und über die freiwillige Arbeit Einverständnis erreicht worden war, beschloß die Gemeindevertretung am 30. März 1954 den Neubau des Schwimmbades. Der erste Spatenstich erfolgte am 16. Mai 1954. 21 Sportler gingen daran, die morschen Holzwände her-auszureißen und an ihrer Stelle die neuen Holzpfähle zu setzen. Fortan arbeiteten täglich Frauen und Männer mit Spaten und Schaufel und nachmittags beteiligten sich auch die Schüler an dem Gemeinschaftswerk. Der Abtransport der ausgehobenen Erde er-
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folgte am Anfang mit einer Lore, die von einem Pferd gezogen wurde. Danach hatte man einen LKW, der sie abtransportierte. Die Traktoristen der MTS und der LPG übernahmen den An- und Ab-transport zur Sägerei, wo das Holz zugeschnitten wurde. Nach nur einem Vierteljahr Bauzeit wurde das Bad am 15. August 1954 er-öffnet. Der Vorsitzende der Badeanstaltkommission, Hans Esch, würdigte das Engagement der Einwohner, die Bereitstellung von 7000 M aus dem Haushaltsplan und von 13000 M aus Fußballto-tomitteln. Dazu kamen 9300 freiwillig geleistete Arbeitsstunden. Zur Eröffnung fand ein Schwimmfest statt, dem allgemeines Baden für alle folgte. Vier Wochen später erlebte Spornitz sein erstes großes Schwimmfest, an dem 70 Aktive aus Parchim, Lübz, Wittenburg und Neustadt-Glewe teilnahmen. Die Rekordzahl von 700 Zu-schauern wurde gezählt. Sie waren begeistert von den Leistungen im Schwimmbecken, den Kunstspringern, einem Wasserballspiel und humoristischen Einlagen. Die Bezirksleitung der SV Traktor zollte für die vorbildliche Zusammenarbeit der Sportgemeinschaft mit den Gemeindevertretern, den Betrieben, der Schule, anderen Organisationen und allen Einwohnern ihre Anerkennung und über-reichte dem Vorstand der SG eine Prämie von 1000 M. Im selben Jahr gab sich die Sportgemeinschaft den Namen BSG Traktor und gehörte damit der Sportvereinigung Traktor an. Ihr Patenbetrieb wurde die BHG Spornitz.
In den folgenden Jahren wurden Umkleideräume, Toiletten, ein Dreimeter-Sprungturm, eine Rutschbahn und eine Terrasse, wieder mit zahlreichen freiwilligen Arbeitsstunden der Bevölkerung gebaut.
Die Sportler der BSG Traktor Spornitz prägten mit ihren Mitteln auch das kulturelle Leben in ihrem Heimatort und im Kreisgebiet. Auch in der Gegenwart ist die Sportwerbegruppe noch gefragt. Nach Sportfesten und zum Jahresende zählten bei öffentlichen Sportlerbällen die Auftritte der Sportwerbegruppe zu den Höhe-punkten. Die BSG arrangierte auch Winzerfeste mit eingerichteten Weinstuben, Theaterfahrten nach Parchim und einen Tanzkurs für junge Sportler. Karnevalsveranstaltungen wurden zur Tradition. Eintrittskarten sind im ganzen Kreisgebiet gefragt. Der Elferrat, die Prinzengarde bestand aus Sportlern. Hans Esch hatte auch dabei oft den Hut auf, fungierte neben anderen Vereinsmitgliedern als Büttenredner. Von den finanziellen Einnahmen und mit Unterstüt-zung der VdgB gründete die BSG ihre Schalmeienkapelle.
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Immer wieder wird gefragt, wer den Sport in der DDR und auf wel-che Weise unterstützte. Auch darauf gibt die Chronik Antwort. Die BSG finanzierte sich bis zur Wende 1989 aus eigenen Mitgliedsbei-trägen, aus einem Zuschuß der Gemeinde, über die Nutzungs- und Pflegeverträge für den Sportplatz und die Vergütung der ehrenamt-lichen Aufbaustunden der Sportler in Höhe von 2000 M bis 3000 M, Zuwendungen des örtlichen DTSB in Höhe von 1000 M und in ge-ringem Umfang durch die Einkünfte von Veranstaltungen und Sportfesten. Die LPG Spornitz leistete materielle Unterstützung, mähte zum Beispiel den Sportplatz und stellte jahrelang kostenlos einen Bus für den Transport der Mannschaften zu Auswärtsspielen zur Verfügung.
Nach der Wende finanziert sich die SV Spornitz/Dütschow aus ei-genen Mitgliedsbeiträgen. Die Beitragssätze blieben weiter normal, eben volkstümlich. Auch das wird als wichtig für die Zukunft des Volkssports erachtet. Die Beiträge betragen pro Jahr für aktive Sportler 48 DM, für passive Mitglieder 36 DM. Kinder, Jugendliche und Rentner zahlen 24. DM. Ermäßigungen werden gewährt für ei-nen Erwachsenen mit einem Kind (60 DM), für Ehepaare (64 DM), Eltern mit Kindern (80 DM) Unterstützung geben Sponsoren, die mehrere tausend Mark spenden. Spielkleidung wurde vom Verein nach 1990 nicht mehr gekauft, sie wurde von kleineren Betrieben gestiftet. Das Gemeindeamt unterstützt den Sport finanziell bei notwendigen Reparaturen von Sportanlagen. Der Landkreis gibt einen Zuschuß für Nachwuchsmannschaften, zuweilen auch für Nachwuchssportfeste. Die Beförderung der acht Fußballmann-schaften ist so geregelt: Die Spieler; der drei Männermannschaften fahren mit eigenem PKW und erhalten nur Geld für Kraftstoff. Die vier Nachwuchsmannschaften werden von Übungsleitern, Eltern oder sportinteressierten Freunden mit deren Privat-PKW gefahren, diese erhalten ebenfalls Geld für Treibstoff. Der Spornitzer Land-wirtschaftsbetrieb gibt in kleinerem Umfang materielle Unterstüt-zung. Die Spielerinnen der Damenmannschaft fahren ebenfalls mit eigenem PKW und erhalten vom Verein den Kraftstoff erstattet.
Fazit: Man kam früher finanziell zurecht, seit 1989 eben-falls.Oberstes Prinzip bleibt die Sparsamkeit und das wichtigste Kapital die Bereitschaft der Spornitzer zu ehrenamtlicher und frei-williger Mitarbeit.
REZENSIONEN:
Faszination Boxen
Die International Amateur Boxing Association (AIBA) hat anläßlich ihres 50jährigen Bestehens einen repräsentativen Bildband zur Würdigung des Amateurboxsports als Teil der olympischen Bewe-gung der Neuzeit vorgelegt. In Wort und Bild wird - ausgehend von den 5000 Jahre zurückreichenden Wurzeln dieses Kampfsports - seiner Faszination und seinen faszinierenden Möglichkeiten nach-gespürt und dabei das Problematische nicht ausgespart.
Die Autoren bemühen sich, das Erreichte würdigend darzustellen. Dabei besinnen sie sich auch auf jene Wirkungen und Werte des Amateurboxens, die bedeutenden Einfluß auf die Aktiven und Kon-sumenten des Boxsports nehmen und so seine Entwicklung und weitere Verbreitung gewährleisten. Es wird versucht, sich zu be-sinnen und zu bedenken, ob und inwieweit der beschrittene Weg fortgesetzt werden kann bzw. welchen Herausforderungen unserer Zeit - insbesondere der aggressiven Marktoffensive des Profibo-xens - künftig zu begegnen ist. In einer solchen Sicht offenbart sich, daß die Geschichte des Amateurboxsports und seiner welt-weiten Verbreitung eng verbunden ist mit der Geschichte der olym-pischen Bewegung und ihrer weltweiten Offensive, die humanisti-schen Ideale der olympischen Bewegung zu bewahren und sie entsprechend den wesentlich veränderten gesellschaftlichen Be-dingungen umzusetzen. Die darauf gerichtete Wirksamkeit des Amateurboxens wird in Wort und Bild eindrucksvoll belegt, so z.B. mit den Aktivitäten der AIBA im Rahmen der olympischen Solidari-tät.
Die außerordentliche Faszination des Boxsports wird nicht nur durch die Bildauswahl belegt, z.B. überzeugende fotographische Porträts von Athleten in unterschiedlichen Trainings- oder Wett-kampfsituationen, Aufnahmen der Interaktion von Trainer und Sportler in der Ringecke während der Kampfpause, sondern auch durch einen repräsentativen Überblick über die künstlerischen Re-flexionen, die dieser Sport bzw. Boxsportler in der Malerei und Graphik, in der Kunst der Bildhauer, der Literatur oder dem Film gefunden haben. Darin eingeschlossen ist eine Auswahl aus Prosa und Lyrik. Die Bildbeiträge deuten auch an, welchen Einfluß das
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Boxen auf Münzprägung und auf die graphische Gestaltung von Briefmarken hat. An Beispiele über das bildkünstlerische Schaffen der Karikaturisten konnte auf Grund der Fülle des Materials offen-bar gar nicht gedacht werden.
Auch wenn die Herausforderungen unserer Zeit keineswegs aus-gespart wurden, sind manche, wie die zunehmende Kommerziali-sierung, nur spür- und kaum ablesbar und wieder andere nur zu ahnen. Zu Recht wird - ohne es dauernd zu beschwören - der Box-sport als "noble Kunst" bezeichnet. Allerdings findet genau das, vor allem die noble Kunst des Verteidigens in den ausgewählten Bild-beiträgen keine ausreichende Entsprechung, obwohl die Faszinati-on, die heute, z.B. auch für Frauen, vom Boxsport ausgeht, mit dieser Seite der noblen Kunst des Angreifens und Verteidigens, ebenso verbunden ist wie mit den Werten dieser Sportart und viel weniger mit den vermeintlichen Risiken, wie sie vor allem als Aus-wirkung des Profiboxens in den Medien immer wieder prononciert beschrieben werden.
Die AIBA hat sich mit der Publikation des Bildbandes sehr ver-dienstvoll für die weitere Entwicklung des Amateurboxens als olympischer Sportart zu Wort gemeldet, ganz im Sinne der Gruß-botschaft des IOC Präsidenten Samaranch, der meint, dieses Buch "erzählt auch von den beträchtlichen Anstrengungen, welche ge-macht werden, um das Boxen als einen modernen Sport zu bewah-ren".
Heinz Schwidtmann
Mythos Diem
Es ist heutzutage Gewohnheit geworden, ältere Bücher hervorzu-holen und ihre aktuellen Bezüge transparent zu machen. Das gilt in diesem Fall für Heft 1 des ersten Jahrgangs der „Zeitschrift für So-zial-und Zeitgeschichte des Sports“, ein stattlicher 136-Seiten-Band, auf dessen Titelseite Bernett, Teichler und Pfeiffer als Auto-ren ausgewiesen werden. Titel: „Mythos Diem“. Die drei Autoren hatten 1987 versucht, ein halbwegs akzeptables Diem-Bild zu zeichnen. Wenn Bernett in seinem Beitrag hervorhob: „An Feinden hat es dem streitbaren Mann nie gefehlt,“ er “war häufig das Ziel der politischen Linken“ wurde damit allerdings auch schon eine Art
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„Feindbild“ montiert. Tatsächlich konnte Diem wohl nie mit der poli-tischen Rechten in Schwierigkeiten geraten, wofür Teichlers Zitate aus der Rede zur Reichsgründungsfeier der Deutschen Hochschu-le für Leibesübungen 1932 hinreichend Zeugnis ablegen: „Germa-nen können nur von Germanen besiegt werden“; „Deutschland ist im Grunde unbesieglich“; „Deutschland, Herzstück Europas, Ord-ner des Abendlandes“; „Erst als im Innern Deutschlands Feinde aufstanden, war der Krieg verloren.“ Man kann wohl kaum anders, als nach der Lektüre des Teichlerschen Beitrags - Bernett wird mir verzeihen, wenn ich kein Hehl daraus mache, eine Linke zu sein, aber es fällt schwer zu glauben, daß Nicht-Linke zu einer anderen Auffassung gelangen sollten - Diem schlicht und präzise einen Fa-schisten zu nennen. Natürlich war er das nicht von Geburt an, aber in den Jahren des Naziregimes erfüllten sich nicht nur viele seiner Thesen von der Verknüpfung zwischen Sport und Soldaten-tum - und wie vor allem seine diversen Festspielvarianten erken-nen lassen - von der Erfüllung des Sports im Opfertod. Lorenz Pfeiffer schrieb über Diems Rolle „in der Zeit des Nationalsozialis-mus“, doch fällt dieses Kapitel gegen die beiden anderen ab, viel-leicht, weil der Autor den größten Teil des Materials, das er hätte verwenden können, von seinen Partnern schon verbraucht sah. Ver-dienstvoll die Dokumentation. So das Referat Reinhard Appels aus dem Jahre 1984, der sich erinnerte: „Ich kann nicht vergessen, daß ein großer Mann der Olympischen Idee in Deutschland vor fast genau 39 Jahren hier in Berlin - es war Anfang März 45 - auf dem Gelände des Reichssportfeldes uns damals 18jährige von der so-genannten Hitler-Division (muß wohl heißen „Hitlerjugend-Division“? A.d.A.) ‘Großdeutschland’ in einer flammenden Rede, in der viel von Sparta und Opferbereitschaft vorkam, zum siegreichen Endkampf gegen die deutschen Feinde aufforderte.“ Oder der Brief, den Diem an den „Bevollmächtigten des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber in Frankreich O. Abetz am 17. Oktober 1940 geschrieben hatte: „Wir bereiten die Neuordnung des Interna-tionalen Sports vor und werden dabei naturgemäß dafür sorgen, daß die bisherige, sportlich ganz unberechtigte Vorherrschaft Frankreichs in der internatio-nalen Sportverwaltung auf das richtige Maß zurückgeführt wird. Als Unterlage für diese Maßnahme benö-tigen wir eine Auskunft über zwei französische Sportführer: Herrn Jean Carnot... Herrn Parmentier... Nach Behauptung unserer unga-
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rischen Schützenkameraden sollen beide Juden sein, und wir wä-ren Ihnen dankbar, wenn Sie dies in geeigneter Weise feststellen lassen würden...“
Worin die aktuelle Bedeutung dieser Arbeiten liegt? Der Deutsche Leichtathletikverband hat auf seiner Präsidiumssitzung im Februar 1996 in Darmstadt beschlossen, ungeachtet aller Kritik auch künftig den Carl-Diem-Schild zu verleihen. „Die wissenschaftlichen, me-thodischen und sportfachlichen Leistungen von Carl Diem sollen damit auch weiterhin Würdigung erfahren. Gleichzeitig distanzierte sich das Präsidium von sportpolitischen und politischen Aussagen zum Nationalsozialismus, die Diem vorgenommen hat.“
So einfach wird derlei in der Bundesrepublik Deutschland gehand-habt. Wir aber sollen uns des „verordneten Antifaschismus“ in der DDR schämen? Das fällt mir als ehemaliger Leistungssportlerin und noch tätiger Histori- kerin sehr schwer. Offen gesagt: Ich kann und will es nicht.
Irene Salomon
DOKUMENTE:
Die Demokratie braucht Leistungseliten
auf allen Ebenen
Von Helmut Kohl
Bundeskanzler Helmut Kohl hat anläßlich der 25. Sitzung des Kura-toriums der Stiftung Deutsche Sporthiffe am 25. Oktober 1995 in Frankfurt am Main in seiner Jubiläumsrede das Wirken der Sporthil-fe gewürdigt und auch die Leistungen des organisierten Sports in der Gesellschaft insgesamt bewertet. Der DSB-Pressedienst Nr. 41 nahm Kohls Rede in seinen Dokumententeil auf.Die Redaktionfolgt mit dem Nachdruck den Intentionen des Deutschen Sportbundes, auch weil die sportpolitischen Grundlinien der Bundesregierung den Sport in der Vergangenheit nicht selten als „schönste Nebensache der Welt“ deklarierten und dem zweiten deutschen Staat die Förde-rung des Sports allein aus politischen Motiven vorwarfen. Diese Anklage wird bekanntlich bis heute von der sogenannten Enquete-kommission des Bundestages wiederholt.
Sportliche Höchstleistungen erfordern optimale Trainingsbedingun-gen und hervorragende fachliche wie medizinische Betreuung. Ge-nauso wichtig ist jedoch das menschliche und gesellschaftliche Umfeld. Nur wenn all diese Voraussetzungen stimmen, können un-sere Sportlerinnen und Sportler ihre Chancen bei internationalen Sportwettkämpfen auch optimal nutzen. Dazu trägt die Stiftung Deutsche Sporthiffe in vorbildlicher Weise bei. In unserem System der Sportförderung ergänzen sich die Leistungen der Sporthilfe und der öffentlichen Hand. Die Stiftung Deutsche Sporthilfe unterstützt die Sportler direkt und individuell. Der Staat schafft die notwendi-gen Rahmenbedingungen, indem er die Sportfachverbände, die Stützpunkte und Leistungszentren sowie den Bau und den Betrieb von Sportanlagen fördert. Dieses System hat sich bewährt.
Ich freue mich, daß über die Konzeption zur Weiterentwicklung des Stützpunktsystems Einigkeit zwischen Sport, Bundestag und Bun-desregierung erzielt werden konnte. Die Stiftung Deutsche Sporthil-fe hat sich im Laufe der Jahre zu einer immer bedeutenderen Insti-tution der Sportförderung entwickelt. Sie ist damit eine der erfolg-reichsten Bürgerinitiativen in unserem Land. Wichtig ist auch das
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öffentliche Bekenntnis von Repräsentanten aus Wirtschaft, Gesell-schaft und Politik zur Stiftung. Ich möchte an dieser Stelle nicht nur die Großuntemehmen, sondem auch mittelständische Unternehmer ermuntern, sich für die Deutsche Sporthiffe zu engagieren.
Für die meisten Spitzenathleten ist die Unterstützung durch die Deutsche Sporthilfe unverzichtbar. Viele großartige Erfolge bei Olympischen Spielen, bei Welt- und Europameisterschaften wären ohne Unterstützung durch diese Institution nicht zustande gekom-men. Vor fünf Jahren haben wir die Wiedervereinigung unseres Va-terlandes in Frieden und Freiheit erreicht - mit Zustimmung all un-serer Nachbarn und Partner in der Welt. Heute ist die innere Ein-heit Deutschlands in vielen Bereichen bereits gelebte Wirklichkeit. Wir haben allen Grund, die anstehenden Aufgaben mit Optimismus anzupacken. Die Menschen in den neuen Ländern erlebten in den letzten Jahren dramatische Veränderungen in allen Lebensberei-chen. Aber sie haben Mut zur Zukunft bewiesen und den Neuan-fang gewagt. Auch auf dem Gebiet des Sportes fand ein tiefgrei-fender Umbruch statt. Nach der Wiedervereinigung galt es, mög-lichst viele hochqualifizierte Trainer in den neuen Bundesländern zu halten, um vorhandene Initiativen zu bewahren und eine Ab-wanderung der Aktiven zu verhindern.
Die Trainer haben auch unter den für sie neuen Bedingungen die ihnen anvertrauten Athletinnen und Athleten zu Spitzenleistungen geführt. Die für die Trainerfinanzierung vom Bund bereitgestellten Mittel haben sich ebenso ausgezahlt wie die Finanzierung des Sportstättenbaus für den Hochleistungssport. In den vergangenen vier Jahren hat der Bund hierfür insgesamt 230 Millionen DM be-reitgestellt. Beispielhaft möchte ich hier nur das Institut für Ange-wandte Trainingswissenschaften in Leipzig sowie das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin nennen.
Ganz erheblichen Nachholbedarf gibt es nach wie vor bei Sport-stätten des Vereins- und Breitensports. Hierfür ist der Bund jedoch nicht zuständig. Dies ist Sache der Länder. Bund und neue Länder haben deshalb ausdrücklich vereinbart, daß die allgemeine Sport-stättensanierung in das Investitionsfördergesetz Aufbau Ost einbe-zogen wird. Für die Umsetzung dieses Gesetzes stellt der Bund ab 1995 jährlich 6,6 Milliarden DM für investive Zwecke zur Verfü-gung. Es liegt nun an Ländern, Landkreisen und Gemeinden, ent-sprechende Mittel aus dem Programm für die Sportstättensanie-
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rung bereitzustellen. Um dies zu erreichen, habe ich die Minister-präsidenten nachdrücklich gebeten, den Sport im Rahmen des In-vestitionsfördergesetzes Aufbau Ost angemessen zu berücksichti-gen.
Unser Land braucht Eliten. Dies gilt für den Sport genauso wie für Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist unumstritten, daß der Breiten-sport den Spitzensport als Vorbild braucht. Aber in Wirtschaft und Gesellschaft umgibt den Elitebegriff der Ruch des Undemokrati-schen. Ich halte dies für falsch. Wir brauchen in unserer Demokra-tie ein klares Ja zu Eliten. Damit meine ich nicht Geburtseliten, sondern jene, die aus ihrer Überzeugung, aus ihrem Willen heraus etwas leisten. Wir brauchen solche Vorbilder. Wir brauchen überall Menschen, die mehr tun als das, zu dem sie vertraglich oder ge-setzlich verpflichtet sind. Wir brauchen solche Leistungsträger in Betrieben und in Instituten genauso wie in den Wettkampfarenen dieser Welt. Wir brauchen Bürgerinnen und Bürger, die sich wäh-rend ihrer Freizeit in vorbildlicher Weise für andere engagieren. Ohne diese Männer und Frauen, die über das normale Maß hinaus etwas leisten, gibt es keine gute Zukunft für unser Land!
Deshalb müssen wir Front machen gegen die Unterstellung, daß Leistungseliten nicht zu einer Demokratie paßten. Das Gegenteil ist wahr: Die Demokratie braucht Leistungseliten mehr als jede andere Staatsform. Es ist gar nicht entscheidend, daß immer der erste Platz erreicht wird. Worauf es ankommt, ist vor allem die innere Haltung, die Kameradschaft und der Wille, sich selbst und die ei-gene Bequemlichkeit zu überwinden. Wenn der Erfolg errungen ist, dürfen die Sportlerinnen und Sportler zu Recht stolz sein. Sie ha-ben ihre Talente eben nicht vergraben, sondem etwas aus ihren Fähigkeiten gemacht. Der Sport ist gerade in diesem Punkt Vorbild für andere Bereiche. Zu den negativen Entwicklungen in unserer Gesellschaft gehört für mich der Rückgang an Bereitschaft, persön-liche Verantwortung zu übernehmen; statt dessen werden Ent-scheidungen anderen zugeschoben.
Der Sport mit seinen über 84 000 Vereinen und fast 25 Millionen Mitgliedern gehört zu den Institutionen unseres Landes, die den Menschen Halt und Orientierung geben und ihnen Werte vermit-teln. Der Sport und die ihn tragenden Organisationen leisten un-verzichtbare Beiträge zur Gesundheit, zur Identifikation mit der Heimat, zur Integration unterschiedlicher Gruppen und Schichten,
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zur Einübung sozialen Verhaltens und zur Anerkennung des Leis-tungsprinzips. In Sportvereinen lernen Kinder und Jugendliche, Rücksicht zu nehmen und sich trotzdem zu behaupten. Sie lernen mit Sieg und Niederlage umzugehen, fair zu kämpfen und den Gegner zu achten. Im Sport finden ausländische Mitbürger und Einheimische in vorbildlicher Weise zueinander. Sie erleben dort sportliches Miteinander und Gemeinschaft. Breitensport und Spit-zensport gehören zusammen. Sie gegeneinander auszuspielen, etwa wenn es darum geht, knappe Mittel zu verteilen, wäre völlig verfehlt. Beide ergänzen, ja bedingen einander. Ohne den Breiten-sport fehlte die Basis für den Spitzensport und ohne den Spitzen-sport fände der Breitensport weniger Anklang.
Wir müssen Mittel und Wege finden, den Spitzensport so zu för-dern, daß er international konkurrenzfähig bleibt, ohne darüber den Breitensport zu vernachlässigen. Dabei wächst die Bedeutung des Sponsoring als neue Form der Zusammenarbeit zwischen Wirt-schaft und Sport. Ich freue mich, daß Wirtschaft und Sport diese Zusammenarbeit suchen. Ich werde jeden sinnvollen Schrift auf diesem Weg unterstützen. Deshalb bin ich nach wie vor bereit, an einem Runden Tisch von Wirtschaft und Sport teilzunehmen, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land verstehen kaum, daß es im Sport an Geld mangelt. Sie hören von unvorstellbar großen Summen, die einzel-ne Sportler verdienen oder die für den „Einkauf“ von Sportlern ge-zahlt werden. Doch dies sind Einzelerscheinungen. Nur wenige Sportarten wie Tennis, Golf oder Fußball bieten außergewöhnliche Verdienstmöglichkeiten. Auch hier sind es nur wenige, die davon profitieren.
In den Vereinen vor Ort sieht das völlig anders aus. Öffentliche Gelder der Kommunen und Länder fließen eher spärlich; in Zeiten knapper Kassen wird hier besonders schnell der Rotstift angesetzt. Ich kann hier nur an alle Verantwortlichen mit Nachdruck appellie-ren, sich sehr genau die Folgen zu überlegen, wenn die Mittel im Jugend- und Sportbereich gekürzt werden und der Sport - eine der wichtigsten und sinnvollsten Freizeitbeschäftigungen - ausfällt oder an Bedeutung verliert. Die gesellschaftlichen Folgekosten müßten dann alle tragen. Unverhältnismäßige Kürzungen im Sportbereich oder überzogene Nutzungsgebühren für Sportstätten führen zu Entmutigung in den Vereinen, deren Kinder- und Jugendarbeit
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überwiegend ehrenamtlich geleistet wird. Ohne den Idealismus und das selbstlose Engagement der zweieinhalb Millionen ehren-amtlich tätigen Menschen in deutschen Sportvereinen wäre das Vereinsleben in Deutschland um vieles ärmer. Es gäbe keinen Breitensport und keine Talentförderung bei Kindern und Jugendli-chen, wie wir sie kennen. Wir müssen alles daran setzen, damit dieses vorbildliche, freiwillige Engagement erhalten bleibt. Dies war auch ein Beweggrund für mich, die Schirmherrschaft über die Kampagne des DSB "Sportvereine. Für alle ein Gewinn" zu über-nehmen.
Ich bin überzeugt, unsere Athletinnen und Athleten werden - wie 1992 in Barcelona und 1994 in Lillehammer - auch im kommenden Jahr in Atlanta unser Land erfolgreich vertreten. Meine besten Wünsche begleiten auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Paralympics in Atlanta. Ich finde es hervorragend, daß behin-derte Sportlerinnen und Sportler mit den Paralympics ein hochklas-siges Sportfest feiern können, das sich zunehmender Beliebtheit und wachsender öffentlicher Aufmerksamkeit erfreut. Eine noch stärkere Integration behinderter Sportler in unser Vereinsleben, aber auch in die Fördermechanismen des Hochleistungssports soll-te unser aller Anliegen sein.
Die Bundesregierung wird auch künftig den Sport unterstützen und seinen Verbänden ein verläßlicher Partner sein. Für die Erfüllung der umfassenden Aufgaben des Sports tragen aber neben Ländern und Gemeinden auch Wirtschaft und Medien Verantwortung. Ich richte von dieser Stelle aus an Unternehmer und Manager, an die Repräsentanten von Verbänden und wichtigen Gruppen unserer Gesellschaft die herzliche Bitte und den Appell, die Stiftung Deut-sche Sporthilfe in ihren vielfältigen und wichtigen Aufgaben nach-haltig zu unterstützen und zu fördern.
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Umgang mit Akten
Das Monatsmagazin „Der Sportjournalist“, herausgegeben vom Verband Deutscher Sportjournalisten e.V. publiziert seit längerem zeitgeschichtliche Untersuchungen, deren Zustandekommen in Nummer 6/95 begründet wurde: „Manfred von Richthofen, der Prä-sident des Deutschen Sportbundes, hat im vergangenen Jahr den VDJ Ehrenpräsidenten Günter Weise gebeten, Einsicht in die Ak-ten der Gauck-Behörde zu nehmen. Die Genehmigung dazu wurde offiziell für Veröffentlichungen in ‘Sport in Berlin’ beantragt, der Monats-Zeitschrift des Landessportbundes Berlin... Der Lan-dessportbund gab sein Einverständnis zum Abdruck in Auszügen in ‘Der Sportjournalist’“.
Autor Weise dürfte mit Vorbedacht für diese Aufgabe ausgewählt worden sein. Er betrieb auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges - weil ohne richtigen Sportjournalistenjob - eine Privatagentur, die Horrornachrichten aus der DDR verbreitete. Als die Agentur den Brand in einem Ostberliner U-Bahnhof als Folge eines unterirdi-schen Fluchtversuchs DDR-Jugendlicher mit einer gekaperten U-Bahn deutete, fielen sogar seriöse Zeitungen darauf herein.
Wie Weise solcher Tradition treu bleibend heute sein Gauck-Monopol nützt, soll an einem Beispiel demonstriert werden.
Originaltext Weise: „Im Überwachungssystem der DDR gehörte es zu den Selbstverständlichkeiten, allen Journalisten mit größter Sekpsis zu begegnen. Das galt nicht nur für Angehörige aus dem ‘nicht-sozialistischen’ Ausland. Auch Journalisten des eigenen Landes wurden mit kriminalistischer Schärfe beobachtet... Beim Buhlen um internationale Anerkennung hatte sich die DDR 1967 um den Kongreß der AIPS (Internationale Sportjournalisten-föderation. A.d.A.) beworben. Dafür nahm sie die Unbequemlich-keit in Kauf, einer Hundertschaft ausländischer Sportjournalisten die Einreise nach Ost-Berlin gewähren zu müssen. Ein Dorn im Auge der Organisatoren war der Vertreter der Bundesrepublik, ausgerechnet der Westberliner Günter Weise... Allen Ernstes ver-langte man von mir den ständigen Aufenthalt während der fünf Kongreßtage im Ost-Berliner ‘Sport-Hotel’, um die tägliche Ein- und Ausreise im eigenen PKW zu verhindern. Erst ein Machtwort des französischen AIPS-Präsidenten Felix Levitan schuf Abhilfe... Aus
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den Akten der Staatssicherheitsdienstes geht hervor, daß dieser Kongreß nach einer Entscheidung Manfred Ewalds allein vom Turn-und Sportbund finanziert wurde. Nach Abstimmung mit dem Zentralkomitee der DDR sollte der DTSB jedoch ‘offiziell nicht in Erscheinung treten.’“
Ich arrangierte damals den Kongreß - gemeinsam mit Hans-Heinrich Lehmann vom LPD-“Morgen“ und Walburga Dietrich von der DTSB-Pressestelle - und hat demzufolge wenig Mühe, die Qualität der in höchstem Richthofen-Auftrag von Weise ausgewer-teten Akten im nachhinein zu beurteilen. Zum Beispiel: Ein „Zent-ralkomitee der DDR“ gab es nirgends. Daß Weise täglich nach Hause fuhr, hat den damaligen AIPS-Präsidenten in keiner Weise interessiert. Es gehörte für uns Organisatoren nicht viel Phantasie dazu, die tägliche An- und Abfahrt schon bei der Nominierung Wei-ses in Rechnung zu stellen. Allerdings bedurfte es in anderer Hin-sicht eines Machtwortes von Levitan, das Weise in den Akten of-fensichtlich nicht gefunden hat. Schlampige Arbeit bei Weise oder beim MfS? Auf der Tagesordnung des Kongresses stand ein Auf-nahmeantrag Südvietnams und der - das verhehle ich nicht - störte uns. Also flog ich nach Paris und erörterte das Problem mit Levitan. Die Nordvietnamesen könnten eine solche Anerkennung ausge-rechnet in Berlin-Ost als Affront betrachten. Levitan dachte darüber nach und sprach dann sein Machtwort: Der Antrag wird auf 1968 verschoben.
Wenn Levitan sich überhaupt mit Weise befaßte, dann geschah das am Ende des vor dem Pergamon-Altar eröffneten Kongresses. Traditionell wurden die AIPS-Kongresse mit Danktelegrammen an die Staatsoberhäupter der Länder beendet, in denen der Kongreß stattgefunden hatte. Levitan wußte als erfahrener Journalist sehr gut, daß ein solches Telegramm der AIPS in der Regel Publicity verschaffte. In diesem Fall aber war zu befürchten, daß Weise we-gen eines Telegramms an den Staatsratvorsitzenden Walter Ul-bricht intervenieren würde. Man rechnete damit, daß er schon vor dem Ausklang des Kongresses im Ratskeller bei Levitan vorstellig würde. Aber er tat es nicht, sondern stimmte dem Dank an den Staatsratvorsitzenden Walter Ulbricht zu.
Kein Wort darüber in den Akten?
Nach diesem Auftaktreport von Weise stürzte sich „Der Sportjour-nalist“ mit beiden Fäusten ins Getümmel. Willi Ph. Knecht wurden
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zwei volle Seiten eingeräumt. Man sollte dankbar dafür sein. Der Ex-Rias-Abteilungsleiter hatte kurz zuvor in seiner wöchentlichen Kolumne in der „Sächsischen Zeitung“ das Thema „Stasi-Akten“ behandelt, die Beachtung einer von Hanna-Renate Laurin empfoh-lenen moderaten „Trennlinie“ bei der Beurteilung von Gauck-Papieren empfohlen und mit dem Satz geendet: „Von den Kopfjä-gern gewisser Massenmedien darf dies freilich nicht erwartet wer-den.“ In „Der Sportjournalist“ betätigte sich Knecht dann selbst als „Kopfjäger“. So versicherte er, daß er bei „Gesprächen mit Manfred Ewald, Günther Henze (gemeint ist vielleicht Günter Heinze. A.d.A.), dem widerlichen Agitpropchef Alfred Heil, Wolfgang Gitter, Klaus Huhn, Dieter Wales und Konsorten“ sehr vorsichtig gewesen sei und auch „Richtmikrofone, mit denen die Fensterscheiben akustisch abgetastet wurden“ bedachte.
Doch die Kopfjagd trug ihm wenig Lorbeer ein. In der nächsten Nummer von „Der Sportjournalist“ meldete sich Karl-Adolf Scherer aus Erzhausen zu Wort: Da Knecht „einige Namen nennt, muß die Frage gestellt werden, wo derjenige seines engsten Mitarbeiters im NOK-Report, der Name von Volker Kluge bleibt?“ Der Frage folg-ten die üblichen Details über die angebliche Stasi-Zuarbeit des Be-treffenden. Ein Anno Hecker aus Frankfurt (Main) warf Knecht ebenfalls vor, daß er die Stasi-Akte Kluges „verstecken“ wollte.
Knecht titelte seine Antwort mit „Wenn Neid zu Haß verkommt“ und ließ wissen, daß er am 22. 12. 1995 seinen Rechtsanwalt zur „Prü-fung privatrechtlicher Konsequenzen“ aufgefordert habe. Nun wird es endgültig ernst mit der Debatte um die Stasi-Akten. Gerichtsak-ten sind zu erwarten, und es erhebt sich die Frage, wen DSB-Präsident Manfred von Richthofen mit deren Auswertung beauf-tragt?
Klaus Huhn

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 3 / 1996
INHALT:
100 Jahre Olympia - Gegen die „Geldmaschinen“
Germanos, Erzbischof von Ilia 5
Olympischer Geist wo bist du?
George Kosmopoulos 6
ZITATE 8
Nach den Spielen von Atlanta
ERGEBNISSE
Athen 1896 - Atlanta 1996 9
Atlanta und der deutsche Sport
Helmut Horatschke 35
Die geteilte Gemeinsamkeit der Deutschen
Karl Adolf Scherer 39
DISSERTATION
Empirisch-theoretische Studie zu entwicklungsbestimmenden Bedingungen des Leistungssports der DDR. (Auszüge Teil II)
Karsten Schumann/Rezension Heinz Schwidtmann 41
DOKUMENTATION
Ein neues Kapitel zum Thema Doping 64
Interview mit Peter Udelhoven 69
Briefwechsel des IOC-Mitglieds Pieter Wilhelmus Scharroo 72
REZENSIONEN
Interessant, informativ, widersprüchlich 74
Gerhard Oehmigen
Atlanta - ein wenig verzerrt 76
Klaus Huhn
Bemerkenswerte Erinnerung an 1936 77
Hans Simon
Beeindruckend - Gegenolympiade der Kunst 1936 82
Margot Budzisch
JAHRESTAG
2
Vor 200 Jahren - Erste pädagogisch begründete Spielsammlung
Johann Christoph Friedrich GutsMuths 85
Ein Kapitel Breitensport
Otto Jahnke 88
DISKUSSION
Antwort an sächsischen Minister
Günter Schneider 94
Bemerkungen zu einem Diem-Plädoyer
Klaus Huhn 97
GEDENKEN
Hajo Bernett
Günther Wonneberger 110
DIE AUTOREN
3
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theorie der Körperkultur 1977 bis 1994 an der HumboldtUniversität zu Berlin.
GERMANOS, geboren 1935, Metropolit, Erzbischof der Provinz
Ilia, Griechenland.
JOHANN CHRISTOH FRIEDRICH GUTSMUTHS, 1759 bis 1839, letzter bedeutender Vertreter der philanthropischen Erziehungsbewegung.
HELMUT HORATSCHKE, geboren 1928, Dipl.-Sportlehrer.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und
Sporthistoriker, Mitglied der DVS.
OTTO JAHNKE, geboren 1924, Redakteur des"Deutschen Sportecho" 1952 bis 1986.
GEORGE KOSMOPOULOS, geboren 1939, Rechtsanwalt, Mitglied des Vorstandes der Internationalen Olympischen Akademie.
GERHARD OEHMIGEN, Dr. sc. paed., geboren 1934, Prof. für Geschichte des Sports 1981 bis 1991 am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig,
PIETER WILHELMUS SCHARROO, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) 1924 bis 1957, Executivmitglied des IOC 1946 bis 1953.
KARL ADOLF SCHERER, geboren 1929, Sportjournalist.
GÜNTER SCHNEIDER, geboren 1924, Mitglied des Executivkomitees der Europäischen Union der Fußballverbände (UEFA) 1978 bis 1991, Präsident des Deutschen Fußball-Verbandes (DFV) 1976 bis 1982, 1989 bis 1990, Vizepräsident des DFV 1961 bis 1968, Generalsekretär des DFV 1968 bis 1976.
KARSTEN SCHUMANN, Dr. paed., geboren 1963, Absolvent der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) Leipzig.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für
Sportpädagogik 1970 bis 1990 an der Deutschen Hochschule für
Körperkultur (DHFK) und dem Forschungsinstitut für Körperkultur
und Sport (FKS) Leipzig, Rektor der DHFK 1963 bis 1965, Präsident des Deutschen Boxverbandes (DBV) 1974 bis 1990.
HANS SIMON, Dr. sc. paed., geboren 1928, Hochschullehrer für Sportgeschichte 1951 bis 1990 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) Leipzig, Mitglied der DVS.
4
LOTHAR SKORNING, Dr. paed., geboren 1925, Hochschullehrer für Geschichte der Körperkultur 1969 bis 1991 an der Humboldt-Universität zu Berlin.
PETER UDELHOVEN, Chefredakteur der "Therapiewoche".
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) Leipzig, Rektor der DHFK 1967 bis 1972, Präsident des International Committee for History of Sport and Physical Education (ICOSH) 1971 bis 1983, Mitglied der DVS.
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Gegen die „Geld-Maschinen“
Das erste Jahrhundert Olympischer Spiele ging in Atlanta zu Ende. Wir widmen diesem Ereignis Texte und Zahlen. Die Beiträge stammen aus Griechenland, der Heimat der Spiele, Zitate aus Atlanta und die Ergebniszahlen erinnern an die Besten von 1896 und 1996.
Erklärung des Erzbischofs von Ilia, Germanos, anläßlich der
Entzündung des Olympischen Feuers am 30. März 1996
Als Erzbischof der Provinz Ilia, grüße ich alle, die im Hain des antiken Olympia zusammengekommen sind, um die symbolische Zeremonie der Entzündung des Feuers zu erleben, bevor es seinen Weg in die westliche Hemisphäre nimmt, in die Stadt, die einen antiken griechischen Namen trägt - Atlanta.
Olympia ist eine einzigartige Stätte. Der Schauplatz, an dem Jahrhunderte hindurch Olympische Spiele ausgetragen wurden, einzig und allein um faire Wettkämpfe zwischen den Athleten rivalisierender griechischer Städte auszutragen - Staaten, die während eines verabredeten Zeitraums Frieden bewahrten. Die Olympischen Spiele verkörperten den fundamentalen Ausdruck einer religiösen Pflicht gegenüber der moralischen und geistigen Förderung des Humanismus.
Ich möchte Ihnen einige meiner Gedanken als eine Geste guten Willens und der Liebe mitteilen. Ich bin überzeugt, daß die grundlegende religiöse Natur der antiken Spiele nicht im Widerspruch zu christlichen Tugenden stand, sondern sie ergänzte. Dazu zählten Humanismus, die Verwirklichung weltweiten Friedens und die harmonische Koexistenz der Menschen der Welt ohne rassische oder andere Diskriminierung.
Es ist bekannt, daß die Olympischen Spiele, bevor sie verboten wurden, degenerierten und die ursprünglichen Ideale verloren. Deshalb soll das Entzünden der olympischen Flamme seinen religiösen Inhalt behalten, denn der Weg der Fackel könnte Gedanken und Aktionen des Humanismus erhellen. Sie sollte die trennenden Mauern sozialer Ausgeschlossenheit, entstanden durch Diskriminierung und Ignoranz, erhellen und uns alle an den
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blutigen Abstieg der Menschen dieser Welt erinnern. Außerdem sollte das Feuer die Wahrheit über die menschlichen Wesen enthüllen - sie sind nicht nur Produzenten und Verbraucher von Gütern, sondern eher integrierte Gesamtheit von Körper und Geist, die vorwärtsstreben nach Vervollkommnung.
Die Organisatoren der Olympischen Spiele haben die Pflicht, die wirklichen Ziele und Absichten wiederherzustellen, die auf geistigem Gebiet liegen und nicht auf finanziellem, auf kulturellem und nicht kommerziellem, eine Gelegenheit, die weltweite Verständigung zu fördern und nicht den Nationalismus der Reichsten und Stärksten. Das sollte ihre unerläßliche Bedingung sein, ehe es zu spät ist.
Die teilnehmenden Athleten sollen wissen, daß sie auf redliche Weise geehrt werden, wenn sie aufrichtig an den Spielen teilnehmen. Sie sollten Vorbilder sein und sich nicht für den leichteren Schritt im Leben entscheiden, nämlich „Geldmaschinen“ zu sein oder Werkzeuge des Kommerz. Dann würden sie nicht Sklaven sein, sondern freie Menschen.
Im Auftrag der Erzdiözese der Provinz von Ilia grüße ich Sie nochmals und wünsche den Spielen des Jahres 1996 einen geistigen und athletischen Erfolg.
Olympischer Geist wo bist du?
Von George Kosmopoulos, Mitglied des Vorstandes der
Internationalen Olympischen Akademie
Die Spiele von Atlanta etablierten die Vergötterung der Kommerzialisierung des modernen Sports. Alles - bis hin zu den Prinzipien - wurde dem Geld geopfert. Wir kennen die aktuelle Situation im internationalen Sport, waren auch Zeugen vieler Ereignisse und wissen um viele unzulässige Verhaltensweisen von Athleten - womit ich Korruption, Doping und Gewalt meine - um behaupten zu können: bei allen unterschiedlichen Ansichten und Meinungen kennt die Gegenwart nur noch einen sportlichen Sieg - den, der Geld bringt.
So stellt sich die Frage: Hat die Realität der Gegenwart noch irgendeine Beziehung zu den Grundlagen körperlicher Übungen
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der Menschen und darüber hinaus zum Sport? Die Antwort lautet natürlich: Nein!
Bei den antiken Spielen hatten die Wettbewerbe eine intensive geistige Bedeutung, die weit hinausging über das Ziel körperlicher Verwirklichung und die der bestimmende Faktor jeder olympischen Manifestation war. Das gut bekannte Motto „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ war keine simple Redensart, sondern eine generelle Überzeugung und Maßstab für jegliche Aktivität.
Ich weiß, daß die Zeiten sich geändert haben und die Anforderungen des Lebens andere geworden sind, aber jetzt - ich kann nicht anders, als das mit Betroffenheit zu beobachten - nehmen die Dinge ihren Lauf. Selbst, wenn wir uns damit abfinden, daß Sportler ein „Beruf“ geworden ist, möchten wir wenigstens, daß es ein fairer Beruf sein soll. Ein ungesunder Geist ebnet den Weg zum ungesunden Körper, was nichts anderes bedeutet, als daß sich die Jugend mit großen Gefahren konfrontiert sieht.
Trotzdem ist das Problem nicht unlösbar. Ich gestatte mir als erstes darauf hinzuweisen, daß mit der Internationalen Olympischen Akademie ein Zentrum des modernen Olympismus existiert. Sie will eine Brücke sein zwischen den olympischen Ideen und ihren Herausforderungen, den Notwendigkeiten und der Entwicklung der Menschen in unserer Zeit. Diese Akademie hat eine enorme Arbeit geleistet, die man an ihrer internationalen Anerkennung ablesen kann. Wir wollen und müssen die Bemühungen dieser Akademie vervielfachen und stärken, denn bislang reichten sie nicht aus.
Ich persönlich glaube, daß es unumgänglich ist, olympische Erziehung als ein Fach an allen Schulen einzuführen. Die Jugend sollte die wahre olympische Geschichte kennenlernen und die olympischen Prinzipien, die später für ihre Entwicklung von Bedeutung sein könnten, und zwar nicht nur, wenn sie aktiv Sport treiben. Wenn wir von besseren Generationen träumen, wäre es ein nützlicher Weg, ihnen die olympische Ideologie zu vermitteln, die vielleicht besser als manch andere Erziehung zur Erziehung eines gesunden Charakters beitragen könnte. Statt all die unerfreulichen Dinge des Sports zu beklagen, ist es Zeit, aktiver zu werden, einiges zu tun, um die Situation zu ändern.
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Zitate nach Atlanta
„In Atlanta mußten sie auf jedem Quadratmeter Geld machen. Ich mag diese Form von Vergnügungsparks nicht. Das ist nicht akzeptabel.“
Guy Drut (Frankreich); Sportminister, 110-m-Hürdenolympiasieger 1976
„Unsere Vorstellungen von einer sogenannten Corporate identity, vom einheitlichen Erscheinunungsbild einer olympischen Stadt wie in Lilliehammer oder Barcelona, die sind hier bitter konterkariert worden.“
Thomas Bach (Deutschland) IOC-Mitglied, Fecht-Olympiasieger 1976
„Eine Menge der IOC-Mitglieder kommen aus ehemals sozialistischen Ländern. Ein Leben lang haben sie geglaubt, daß freies Unternehmertum gierig und selbstsüchtig macht. Aber nur freie Unternehmer können Chancen und Jobs kreieren und damit Olympia erst möglich machen.“
Andrew Young (USA); Ex-Bürgermeister von Atlanta und UNO-Botschafter
„IOC-Präsident Samaranch, ein ehemaliger Funktionär des Diktators Franco, beleidigte mit seinem Urteil eine Stadt, die ihr Herz der Olympischen Bewegung geopfert hat. In alten Tagen hätten wir ihn geteert und gefedert.“
„Atlanta Constitution“; in Atlanta erscheinende Zeitung
„Wenn es euch hier nicht gefällt, dann fahrt doch nach Hause!“
Atlantas Lokalsender Kicks 101,5
„Ohne Zweifel, die kitschigsten und am intensivsten vom Kommerz bestimmten Spiele.“
Miami Herald (USA)
9
ATHEN 1896
(6.-15. April)
Nach offiziellen Angaben 311 Teilnehmer (keine Frau) aus 13 Ländern am Start. Historiker neigen jedoch dazu, die Zahl mit cirka 245 anzugeben. Offiziell wurden nur den Siegern Silbermedaillen überreicht.
FECHTEN
Florett - Einzel
S: Eugène-Henri Gravelotte (FRA)
2. Henri Callot (FRA)
3. Pierrakos-Mavromichalis (GRE)
4.Poulos (GRE); Vouros (GRE); Komni-nos-Miliotis (GRE)
Florett - Fechtmeister (Profis)
S: Leonidas Pyrgos, (GRE)
2. Jean Perronnet (FRA)
Säbel - Einzel
S: Ioannis Georgiadis (GRE)
2. Telemachos Karakalos (GRE)
3. Holger Nielsen (DEN)
4. Schmal (AUT); 5.latridis (GRE)
GEWICHTHEBEN
Einarmig
S: Launceston Elliott, (GBR) 71,0 kg
2. Viggo Jensen (DEN) 57,2
3. Alexandros Nikolopoulos (GRE) 57,2
Beidarmig
S: Viggo Jensen, (DEN) 111,5 kg
2. Launceston Elliott, (GBR) 111,5
3. Sotirios Versis (GRE) 100,0; Schuhmann (GER) 100,0; 4. Tapavicza (HUN)
LEICHTATHLETIK
100 m
S: Thomas Burke (USA) 12,0s
2. Fritz Hofmann (GER) 12,2
3. Alajos Szokolyi (HUN)12,6
4. Lane (USA)12,6 s; 5. Chalkokondylis (GRE) 12,6
400 m
S: Thomas Burke (USA) 54,2 s
2. Herbert Jamison (USA) 55,2
3. Fritz Hofmann (GER) 55,6
4. Gmelin (GBR) 55,6
800 m
S: Edwin Flack (AUS)2:11,0 min
2. Nandor Dani (HUN) 2:11,8
3. Dimitrios Golemis, (GRE) 2:28,0
1500 m
S: Edwin Flack (AUS) 4:33,2 min
2. Arthur Blake (USA) 4:34,0
3. Albin Lermusiaux, (FRA) 4:36,0
4. Galle (GER) 4:39,0; 5. Phetsis (GRE); 6. Golemis (GRE)
Marathon (40 km)
S: Spiridon Louis (GRE) 2:58:50,0 h
2. Charilaos Vasilakos (GRE) 3:06:03,0
3. Gyula Kellner, (HUN) 3:09:35,0
4.Vrettos, (GRE); 5. Papasymeon, (GRE); 6.Deligiannis (GRE)
100 m Hürden
S: Thomas Curtis (USA) 17,6 s
2. Grantley Goulding (GBR) 18,0
Hochsprung
S: Ellery Clark (USA) 1,81 m
2. James Connolly (USA) 1,65
3. Robert Garrett, (USA) 1,65
4. Hofmann (GER) 1,625; Sjöberg, (SWE) 1,625
Weitsprung
S: Ellery Clark (USA) 6,35 m
2. Robert Garrett (USA) 6,18
3. James Connolly (USA) 6,11
4.Tuffère (FRA) 5,98; 5.Grisel (FRA) 5,83; 6. Chalkokondylis (GRE) 5,74
Stabhochsprung
S: William Hoyt (USA) 3,30 m
2. Albert Tyler (USA) 3,25
3. Angelos Damaskos (GRE) 2,75
4. Theodoropoulos (GRE) 2,72; 5. Xydas (GRE) 2,50
Dreisprung
S: James Connolly (USA)13,71 m
2. Alexandre Tuffère (FRA) 12,70
3. loannis Persakis (GRE) 12,52
4. Szokolyi (HUN) 12,30; 5. Zoumis (GRE) 6. Cholkokondylis (GRE)
Kugelstoßen
S: Robert Garrett (USA) 11,22 m
2. Miltiadis Gouskos (GRE) 11,20
3. Georgios Papasideris (GRE) 10,36
4. Robertson (GBR),9,95; 5.Adler (FRA)
5. Versis (GRE)
Diskuswerfen
S: Robert Garett (USA) 29,15 m
2. P. Paroskevopoulos (GRE) 28,95
3. Sotirios Versis (GRE) 28,78
4. Adler (FRA); 5. Papasideris (GRE) 6. Robertson (GBR)
RINGEN
S: Carl Schuhmann (GER) 2 Siege
2. Georgios Tsitas (GRE) 1Sieg
3. St. Christopoulos (GRE) 1Sieg
4.Elliott (GBR);5.Tapavicza(HUN)
10
RADFAHREN
Fliegerrennen - 3331/3 m
S: Paul Masson (FRA)
2. Stamatios Nikolopoulos (GRE)
3. Adolf Schmal (AUT)
2000 m
S: Paul Masson (FRA) 4:58, 2 min
2. Stamatios Nikolopoulos (GRE)
3. Léon Flameng (FRA)
4. Joseph Rosemayer (GER)
10 km
S: Paul Masson (FRA) 17:54, 2 min
2. Léon Flameng (FRA) 17:54,2
3. Adolf Schmal (AUT)
4. Joseph Rosemeyer (GER)
100 km
S: Léon Flameng, (FRA) 3:08:19,2
2. Georgios Kolettis (GRE) 2000 m zur.
Ausgeschieden: Rosemayer; Weizenbacher; Knübel (alle GER)
12 Stunden
S: Adolf Schmal (AUT) 314,997 km
2. F. Keeping (GBR) 314,664
3. Georgios Paraskevopoulos (GRE) 313,330
Ausgeschieden: Knübel, Bernhard (alle GER)
Marathon-Straßenradrennen (87 km)
S: Aristidis Konstantinidis (GRE)
3:22:31,0 h
2. August Goedrich (GER) 3:42:18,0
3. Frederick Battel (GBR)
4. Konstantinou; 5. Aspiotis; 6.latrou (alle GRE)
SCHIESSEN
Militärgewehr - 200 m
S: Pantelis Karasevdas (GRE) 2320 P
2. Paulos Pavlidis (GRE) 1978
3. Nicolaos Tricoupis (GRE) 1718 .
4. Metaxas (GRE); 5. Orphanidis (GRE) 6. Jensen (DEN) 40 P.
Militärgewehr - 300 m
S: Georgios Orphanidis (GRE) 1583 P
2. Ioannis Phrangoudis (GRE) 1312
3. Viggo Jensen (DEN) 1305
4. Metaxas (GRE)
Pistole - 25 m
S: Ioannis Phrangoudis (GRE) 344 P
2. Georgios Orphanidis (GRE) 249
3. Holger Nielsen (DEN)
Dienstrevolver - 25 m
S: John Paine (USA) 442 P
2. Sumner Paine (USA) 380
3. Nikolaos Morakis (GRE) 205
Revolver - 30 m
S: Sumner Paine (USA) 442 P
2. \/iggo Jensen (DEN) 285
3. Holger Nielsen (DEN)
4. Morakis, (GRE); 5.Phrangoudis (GRE)
SCHWIMMEN
100 m Freistil
S: Alfréd Hajós (HUN) 1:22,2 min
2. Efstathios Chorophas (GRE) 1:23,0
3. Otto Herschmann (AUT)
4. Anninos (GRE); 5. Williams (USA);
6. Chrysaphos (GRE)
500 m Freistil
S: Paul Neumann (AUT) 8:12,6 min
2. Antonios Pepanos (GRE) 30 m z.
3. Efstathios Chorophas (GRE)
1200 m Freistil
S: Alfred Hajòs (HUN) 18:22,2 min
2. Ioannis Andreou (GRE) 21:03,4
3. Efstathios Choraphas, (GRE)
4. Gardner Williams (USA)
100-m-Matrosenschwimmen
S: loannis Malonikis (GRE) 2:20,4
2. Spiridon Chasapis (GRE)
3. Dimitrios Drivas (GRE)
TENNIS
Herreneinzel
S: John Pius Boland (GBR/IRL)
2. Demis Kasdaglis (GRE)
Herrendoppel
S: GBR/GER (John Pius Boland; Friedrich Adolph Traun)
2. GRE (Demis Kasdaglis; Demetrios Petrokokkinos)
TURNEN
Barren - Einzel
S: Alfred Flatow (GER)
2. Louis Zutter (SUI)
3. Hermann Weingärtner (GER)
Barren - Mannschaft
S: GER(Fritz Hofmann; Conrad Böcker; Alfred Flatow; Gustav Felix Flatow; Georg Hilmar; Fritz Manteuffel; Karl Neukirch; Richard Röstel; Gustav Schuft; Carl Schuhmann; Hermann Weingärtner)
2. GRE (Sotirios Athanasopoulos;
Nicolaos Andriakopoulos; Petros Persakis; Thomas Xenakis;... )
3. GRE (loannis Chrysaphis; loannis Mitropoulos: Dimitrios Loundras; Phillippos Karvelas;...)
Reck - Einzel
S: Hermann Weingärtner (GER)
2. Alfred Flatow (GER)
3. Giorgios Petmezas (GRE)
11
Reck - Mannschaft
S: GER (Fritz Hofmann; Conrad Böcker; Alfred Flatow; Gustav Felix Flatow; Georg Hilmar; Fritz Manteuffel; Karl Neukirch; Richard Röstel; Gustav Schuft; Carl Schuhmann; Hermann Weingärtner)
Seitpferd
S: Louis Zutter (SUI)
2. Hermann Weingärtner (GER)
3. Gyula Kakas (HUN)
4. Petmezas (GRE); 5. Champov (BUL)
Ringe
S: loannis Mitropoulos (GRE)
2. Hermann Weingärtner (GER)
3. Petros Persakis (GRE)
Pferdsprung
S: Carl Schuhmann (GER)
2. Louis Zutter (SUI)
Hangeln
S: Nicolaos Andriakopoulos (GRE) 23,4s
2. Thomas Xenakis (GRE)
3. Fritz Hofmann (GER)
4. Viggo Jensen (DEN)
5. Launceston Elliott (GBR
Teilnehmende Länder
Australien (AUS), Bulgarien (BUL), Chile (CHI), Griechenland (GRE), Dänemark (DEN) Deutschland (GER), Frankreich (FRA), Großbritannien (GBR), Italien (ITA), Österreich (AUT), Ungarn (HUN), USA, Schweden (SWE), Schweiz (SUI),
Die Verteilung der Medaillen
S
2.
3.
USA
11
6
2
GRE
10
9
17
GER
7
5
3
FRA
5
4
2
GBR
3
3
1
HUN
2
1
3
AUT
2
-
3
AUS
2
-
-
DEN
1
2
4
SUI
1
2
-
ATLANTA 1996
(24. Juli - 4. August)
10360 (6581 Männer - 3779 Frauen) Teilnehmer aus 197 Ländern
BADMINTON
Männer - Einzel
G: Poul-Erik Hoyer-Larsen (DEN)
S: Dong Jiong (CHN)
B: Rashid Sidek (MAL)
4. Arbi (INA); 5. Kusumi (INA); Lee Kwang Jin (SKR)... Ausgeschieden: Pongratz (GER)
Männer - Doppel
G: Rexy Mainaky/Ricky Subagja (INA)
S:Cheah Sonn-Kit/Yap Kim-Hock (MAL)
B:Antonius Ariantho/Denny Kantono (INA)
4.Beng-Kiang/Kim-Her (MAL); 5. Huang/ Jiang (CHN); Archer/ Hunt (GBR); Ausgeschieden: Helber/ Keck (GER)
Frauen - Einzel
G: Bang Soo-Hyun (SKR)
S: Mia Audina (INA)
B: Susi Susanti (INA)
4. Ji-Hyun (SKR); 5. Jingna (CHN); Martin (DEN); Yao Yan (CHN); Zhaoying (CHN)... Ausgeschieden: Wagner (GER)
Frauen - Doppel
G: Ge Fei/ Gu Jun (CHN)
S: Gil Young-Ah/Jang Hye-Ock (SKR)
B: Qin Yiyuan/Tang Yongshu (CHN)
4. Kirkegaard/ R.Olsen (DEN); 5. L. Olsen/Jörgensen(DEN); Thomsen/ Stuer-Lau-ridsen (DEN); Xinyong/Ying (CHN); Zelin/Elyza (INA);Ausgeschieden: Schmidt/Ubben (GER)
Mixed
G: Kim Dong-Moon/Gil Young-Ah (SKR)
S: Park Joo-Bong/ Ra Kyung-Min (SKR)
B: Liu Jianjun/Sun Man (CHN)
4. Xingdong/Xinyong (CHN); 5. Heryanto/Timur (INA); Flandy/Riseu (INA) Xiaoqiang/Xiaoyuan (CHN); Sogaard/ R. Olsen (DEN); Ausgeschieden: Keck/ Stechmann (GER)
BASEBALL
G: G: CUB
· S: JPN
(D B: USA
4. NCA; 5. ITA; 6. AUS
BASKETBALL
MÄNNER
G: USA
S: YUG
B: LTU
4. AUS; 5. GRE; 6. BRA
FRAUEN
G: USA
S: BRA
B:AUS
4. UKR; 5.RUS; 6. CUB
BEACHVOLLEYBALL
MÄNNER
G: Kirch Kiraly/Kent Steffes (USA)
12
S: Mike Dodd/Todd Whitmarsh (USA)
B: John Child/Mark Heese (CAN)
4. Barbosa/Pereira (POR); 5. Smith/ Henkel (USA); Jimenez/Bosma (ESP)... 11. Ahmann/ Hager (GER)
FRAUEN
G: Jackie Silva/Sandra Pires (BRA)
S: Monica Rodrigues/Adriana Samuel Ramos (BRA)
B: Nathalie Cook/ Karri-Ann Pottharst (AUS)
4. Fontana/ Hanley (USA); 5. Reno/ McPeak (USA); Fujita/Takahashi (JPN); ...7. Bühler/ Müsch (GER)
BOGENSCHIESSEN
Männer - Einzel
G: Justin Hulsh (USA)
S: Magnus Petersson (SWE)
B: Oh Kyo-Moon (SKR)
4.Vermeiren (BEL); 5. Kim Bo-Ram (SKR); 6. Frangilli (ITA)
Männer - Mannschaft
G: USA (Justin Huish; Richard Johnson; Rod White)
S: SKR (Jang Yong-Ho; Kim Bo-Ram; Oh Kyo-Moon)
B: ITA (Matteo Bisiani; Michele Frangilli; Andrea Parenti)
4. AUS; 5. SLO; 6. SWE
Frauen-Einzel
G: Kim Kyung-Wook (SKR)
S: He Ying (CHN)
B: Jelena Sadownycha (UKR)
4. Altinkaynak (TUR); 5. Jakuschewa (BLR); 6. Kim Jo-Sun (SKR)
Frauen- Mannschaft
G: SKR (Jo-Sun Kim; Yoon Hye-Young; Kim Kyung-Wook)
S: GER (Barbara Mensing; Cornelia Pfohl; Sandra Wagner)
B: POL (lwona Dzieciol; Katarzyna Klata; Joanna Nowicka)
4. TUR; 5. UKR; 6. CHN
BOXEN
Halbfliegengewicht (bis 48 kg)
G: Daniel Petrov (BUL)
S: Mansueto Velasco (PHI)
B: Oleg Kirjukin (UKR);
Rafael Lozano (ESP)
5. Somluck (THA); Todorov (BUL)
Fliegengewicht (bis 51 kg)
G: Maik Romero (CUB)
S: Bolat Schumadilow (KAZ)
B: Zoltan Lunka (GER)
Albert Pakejew (RUS)
5. Assous (ALG); Reyes (COL); Recaido (PHI); Kelly (IRL)
Bantamgewicht (bis 54 kg)
G: Istvan Kovacs (HUN)
S: Arnaldo Mesa (CUB)
B: Raimkul Malachbekow (RUS)
Vichai Khadpo (THA)
5. Bouaita (FRA); Jamgan (MGL);
Nafil (MAR); Olteanu (RUM)
Federgewicht (bis 57 kg)
G: Kamsing Somluck´(THA)
S: Serafim Todorow (BUL)
B: Floyd Mayweather (USA)
Pablo Chacon (ARG)
5. Huste (GER); Paljani (RUS); Nagy (HUN); Aragon (CUB)
Leichtgewicht (bis 60 kg)
G:Hocine Soltani (ALG)
S:Tontscho Tontchev (BUL)
B:Terrance Cauthen (USA)
Leonhard Doroftei (ROM)
5. Strange (CAN); Phongsit (THA); Eun-Chui Shin (SKR); Gogoladze (GEO)
Halbweltergewicht (bis 63,5 kg)
G: Hector Vinent (CUB)
S: Oktay Urkal (GER)
B: Fathi Missaouri (TUN)
Bolat Niazymbetow (KAZ)
5.Mouchi (FRA); Allalou (ALG); Sacharow (RUS); Moghimi (IRI)
Weltergewicht (bis 67 kg)
G: Oleg Saitow (RUS)
S: Juan Hernandez (CUB)
B: Marian Simion (ROM)
Daniel Santos (PUR)
5. Hasan (DEN); Smanow (KAZ); Chater (TUN); Atajew (UZB)
Halbmittelgewicht (bis 71 kg)
G: David Reid (USA)
S: Alfredo Duvergel (CUB)
B: Karim Tulaganow (UZB)
Ermukjan Ibraimow (KAZ)
5. Beyer (GER); Cadeau (SEY); Marmouri (TUN); Perugino (ITA)
Mittelgewicht (bis 75 kg)
G: Ariel Hernandez (CUB)
S: Malik Beyleroglu (TUR)
B: Mohamed Bahari (ALG)
Rhoshii Wells (USA)
5. Borowski (POL); Magee (IRL) Jarbekow (UZB); Lebsjak (RUS)
13
Halbschwergewicht (bis 81 kg)
G: Wassili Schirow (KAZ)
S: Seung-Bae Lee (SKR)
B: Thomas Ulrich (GER)
Antonio Tarver (USA)
5. Bispo (BRA); Flores (PUR); Ross (CAN); Drvis (CRO)
Schwergewicht ( bis 81 kg)
G: Felix Savon (CUB)
S: David Defiagbon (CAN)
B: Luan Krasniqi (GER)
Nate Jones (USA)
5. Tao Jiang (CHN); Mendy (FRA); Dyt-schkow (BLR); Kandelaki (GEO)
Superschwergewicht (über 91 kg)
G: Wladimir Klitschko (UKR)
S: Paea Wolfgram (TGA)
B: Alexej Lezin (RUS)
Duncan Dokiwari (NGA)
5. Monse (GER); Levin (SWE); Rubalcaba (CUB); Mamedow (AZE)
FECHTEN
MÄNNER
Florett - Einzel
G: Alessandro Puccini (ITA)
S: Lionel Plumenail (FRA)
B: Frank Boidin (FRA)
4. Wienand (GER); 5.Tucker (CUB); 6. Golubitzki (UKR)... 11. Römer... 22. Koch (alle GER)
Florett - Mannschaft
G: RUS (Wladislaw Pawlowitsch; Dimitri Tschewtschenko; Ilja Mamedow)
S: POL (Ryszard Sobczak; Adam Krzesinski; Jaroslaw Rodzewicz)
B: CUB (Elvis Gregory; Rolando Tukker; Oscar Garcia)
4. AUT; 5. HUN; 6. GER (Römer; Koch; Wienand)
Degen - Einzel
G: Alexander Beketow (RUS)
S: Ivan Trevejo (CUB)
B: Geza Imre (HUN)
4.Kovacs (HUN); 5. Cuomo (ITA); 6. Henry (FRA) ...8.Strzalka ...10. Schmitt... 16. Borrmann (alle GER)
Degen - Mannschaft
G: ITA (Sandro Cuomo; Angelo Mazzoni; Maurizio Randazzo)
S: RUS (Alexander Beketow; Pawel Kolobkow; Waleri Zacharewitsch)
B: FRA (Jean-Michel Henry; Robert Leroux; Eric Srecki)
4. GER (Schmitt; Borrmann;Strzalka); 5. EST; 6. HUN
Säbel - Einzel
G: Stanislaw Posdnjakow (RUS)
S: Sergej Scharikow (RUS)
B: Damien Touya (FRA)
4.Navarrete (HUN); 5.Becker (GER); 6. Gutsait (UKR) ...8. Wiesinger ... 21. Bleckmann (alle GER)
Säbel-Mannschaft
G: RUS (Stanislaw Posdnjakow;
Grigori Kirijenko; Sergei Scharikow)
S: HUN (Csaba Koves; Jozsef Navarrete; Bence Szabo)
B: ITA (Raffaello Caserta; Luigi Tarantino; Toni Terenzi)
4.POL; 5. FRA; 6. ES... 8. GER (Becker; Bleckmann; Wiesinger).
FRAUEN
Florett - Einzel
G: Laura Badea (ROM)
S: Valentina Vezzali (ITA)
B: Giovanna Trillini (ITA)
4. Modaine-Cessak (FRA); 5. Weber (GER); 6. Xiao (CHN)... 10. Fichtel-Mauritz... 12. Bau (GER).
Florett - Mannschaft
G: ITA (Francesea Bortolozzi; Giovanna Trillini; Valentina Vezzali)
S: ROM (Laura Badea; Reka Szabo; Roxana Scarlett)
B: GER (Anja Fichtel-Mauritz; Monika Weber; Sabine Bau)
4.HUN; 5. FRA; 6. RUS
Degen - Einzel
G: Laura Flessel (FRA)
S: Valerie Barlois (FRA)
B: Gyöngyi Szalay (HUN)
4. Zalaffi (ITA); 5. Nagy (HUN); 6. Hormay (HUN) ...9. Bokel ...12. Nass (alle GER)
Degen - Mannschaft
G: FRA (Laura Flessel; Sophie Moresee-Pichot; Valerie Barlois)
S: ITA (Laura Chiesa; Elisa Uga; Marghe-rita Zalaffi)
B: RUS (Maria Mazina; Julia Garajewa; Karina Aznawurian)
4.HUN; 5. EST; 6. CUB... 7. GER (Nass; Bokel; Ittner)
FUSSBALL
MÄNNER
G: NGR
S: ARG
B: BRA
14
4.POR
FRAUEN
G: USA
S: CHN
B: NOR
4.BRA; Ausgeschieden: GER
GEWICHTHEBEN
Fliegengewicht (bis 54 kg)
G: Halil Mutlu (TUR) 287,5 kg (132,5 WR/155,0)
S: Xiangsen Zhang (CHN) 280,0 (130,0/ 150,0)
B: Sewdalin Mintchev (BUL) 277,5 (125,0/152,5)
4. Lan (CHN) 275,0; 5. Ciharean (ROM) 265,0; 6. Ivanov (BUL) 257,5
Bantamgewicht (bis 59 kg)
G: Ningsheng Tang (CHN) 307,5/WR (137,5/170,0)
S: Leonidas Sabanis (GRE) 305,0 (137,5/167,5)
B: Nikolai Peschalow (BUL) 302,5 (137,5/165,0)
4. lkehata (JPN) 297,5; 5. Vargas (CUB) 297,5; 6. Xu (CHN) 295,0
Federgewicht (bis 64 kg)
G: Naim Suleymanoglu (TUR) 335,0 WR (147,5/187,5 WR)
S: Valerios Leonidas (GRE) 332,5 (145,0/187,5 WR)
B: Jiangang Xiao (CHN) 322,5 (145,0/177,5)
4. Tzelilis (GRE) 322,5; 5. Popa (HUN) 307,5; 6. Iliev (BUL) 305,0
Leichtgewicht (bis 70 kg)
G: Xugang Zhang (CHN) 357,5 WR (162,5 WR/195,0 WR)
S: Myong-Nam Kim (PRK) 345,0 (160,0/185,0)
B: Attila Feri (HUN) 340,0 (152,5/187,5)
4.Sheljaskov (BUL) 335,0; 5. Yahiaoui (ALG) 335,0; 6. Militosjan (ARM) 335,0)... 10. Behm (GER) 327,5 (147,5/180,0)
Mittelgewicht (bis 76 kg)
G: Pablo Lara (CUB) 367,5 kg (162,5/205,0)
S: Joto Jotov (BUL) 360,0 (160,0/200,0)
B: Chol Jon (SKR) 357,5 (162,5/195,0)
4.Mitrou (GRE) 357,5; 5. Lin (CHN) 352,5; 6. Steinhöfel (GER) 347,5 (160,0/ 187,5)... 10. Poitschke (GER) 335,0 (155,0/ 180,0)
Leichtschwergewicht (bis 83 kg)
G: Pyrros Dimas (GRE) 392,5 kg WR (1 80,0 WR/212,5)
S:Marc Huster (GER) 382,5 (170,0/212,5)
B: Andrzej Cofalik (POL) 372,5 (170,0/202,5)
4.Kounev (AUS) 370,0; 5.Vacarciuc (MDA) 367,5; 6. Schachojan (ARM) 365,0
Mittelschwergewicht (bis 91 kg)
G: Alexej Petrow (RUS) 402,5
(187,5 WR/215,0)
S: Leonidas Kokas (GRE) 390,0 (175,0/215,0)
B: Oliver Caruso (GER) 390,0 (175,0/215,0)
4. Bulut (TUR) 390,0; 5. Alexejew (RUS) 387,5; 6.Hernandez (CUB) 382,5
1. Schwergewicht (bis 99 kg)
G: Kachi Kachiaschwili (GRE) 420,0 WR (185,0/235,0/WR)
S: Anatoli Chrapati (KAZ) 410,0 (187,5/222,5)
B: Denis Gotfrid (UKR) 402,5 (187,5/215,0)
4. Ribaltschenko (UKR) 395,0; 5. Rubin (RUS) 390,0; 6. Smirnow (RUS) 390,0... 7. Sadykow (GER) 385,0 (177,5/207,5)
2. Schwergewicht ( bis 108 kg)
G:Timur Taimazow (UKR) 430,0 (195,0/ 236,0 WR)
B: Sergej Sirzow (RUS) 420,0 (195,0/ 225,0)
B: Nicu Vlad (ROM) 420,0 (197,5/222,5)
4. Jemeljanow (BLR) 407,5; 5. Cui (CHN) 405,0; 6. Barnett (USA) 395,0... 9. Kalinke 390,0... 11. Prochorow (alle GER) 390,0 (175,0/ 215,0)
Superschwergewicht (über 108 kg)
G: Andrej Schemerkin (RUS) 457,5 (197,5/260,0 WR)
S: Ronny Weller (GER) 455,0 (200,0/255,0 DR)
B: Stefan Botev (AUS) 450,0 (200,0/250,0)
4.Tae-Hyun (SKR) 437,5; 5.Kurlowitsch (BLR) 425,0; 6. Nerlinger (GER) 422,5 (185,0/237,5)
HANDBALL
Männer
G: CRO
S: SWE
B: ESP
4. FRA; 5. RUS; 6. EGY... 7. GER
FRAUEN
G: DEN
S: SKR
B: HUN
4. NOR; 5. CHN; 6. GER
HOCKEY
15
Männer
G: NED
S: ESP
B: AUS
4. GER; 5. SKR; 6. PAK
FRAUEN
G: AUS
S: SKR
B: NED
4. GBR; 5. USA; 6. GER
JUDO
Männer
Extraleichtgewicht (60 kg)
G: Tadahiro Nomura (JPN)
S: Girolamo Giovinazzo (ITA)
B: Richard Trautmann (GER)
Dorjpalam Narmandakh (MGL)
5.Ojegin (RUS); Bagirow (BLR)
Halbleichtgewicht (bis 65 kg)
G: Udo Quellmalz (GER)
S: Yukimasa Nakamura (JPN)
B: Henrique Guimaraes (BRA)
Israel Hernandez (CUB)
5.Laats (BEL); Csak (HUN)
Leichtgewicht (bis 71 kg)
G: Kenzo Nakamura (JPN)
S: Sung-Dae Kwak (SKR)
B: James Pedro (USA)
Christophe Gagliano (FRA)
5.Pereira (BRA); Boldbaatar (MGL)... 7. Schmidt (GER)
Halbmittelgewicht (bis 78 kg)
G:Djamel Bouras (FRA)
S:Toshlhiko Koga (JPN)
B: In Chul Cho (SKR)
Soso Liparteliani (GEO)
5. Dott (GER); Garcia (ARG)
Mittelgewicht (bis 86 kg)
G: Ki Young Jeon (SKR)
S: Armen Bagdasarow (UZB)
B: Marko Spittka (GER)
Mark Huizinga (NED)
5. Croitoru (ROM); Yoshida (JPN)
Halbschwergewicht (bis 95 kg)
G: Pawel Nastula (POL)
S: Min-Soo Kim (SKR)
B: Stephane Traineau (FRA)
Aurelio Miguel (BRA)
5.Sonnemans (NED) Kovacs (HUN)
Ausgeschieden: Knorrek (GER)
Schwergewicht (über 95 kg)
G: David Douillet (FRA)
S: Ernesto Perez (ESP)
B: Frank Möller (GER)
Harry van Barneveld (NED)
5.Ogawa (JPN); Shenggang (CHN)
FRAUEN
Extraleichtgewicht (48 kg)
G: Sun Kye (PRK)
S: Ryoko Tamura (JPN)
B: Amarilis Savon (CUB)
Yolanda Soler (ESP)
5. Souakri (ALG); Nichilo (FRA) Aus-geschieden: Perlberg (GER)
Halbleichtgewicht (bis 52 kg)
G: Marie-Claire Restoux (FRA)
S: Sook-Hee Hyun (SKR)
B: Legna Verdecia (CUB)
Noriko Sugawar (JPN)
5.Krause (POL); Munoz (ESP)...
Ausgeschieden: von Schwichow (GER)
Leichtgewicht (bis 56 kg)
G: Driulis Gonzales (CUB)
S: Sun-Yong Jung (SKR)
B: Isabel Fernandez (ESP)
Marisabel Lomba (BEL)
5. Liu (CHN); Fairbrother (GBR)
Halbmittelgewicht (bis 61 kg)
G: Yuko Emoto (JPN)
S: Gella Vandecaveye (BEL)
B: Jenny Gal (NED)
Sung-Sook Jung (SKR)
5.Kobas (TUR); Arad (ISR)...Aus-geschieden: Singer (GER)
Mittelgewicht (bis 66 kg)
G: Min-Sun Cho (SKR)
S: Aneta Szczepanska (POL)
B: Claudia Zwiers (NED)
Xianbo Wang (CHN)
5. Dubois (FRA); Jimenez (CUB)... Ausgeschieden: von Rekowski (GER)
Halbschwergewicht (bis 72 kg)
G: Ulla Werbrouck (BEL)
S: Yoko Tanabe (JPN)
B: Diadenis Luna (CUB)
Ylenia Scapin (ITA)
5.Beljajewa (UKR); Essombe (FRA)...
7. Ertel (GER)
Schwergewicht (über 72 kg)
G: Sun Fuming (CHN)
S: Estrela Rodriguez (CUB)
B: Johanna Hagn (GER)
Christine Cicot (FRA)
5. Gundarenko (RUS); Maksymowa (POL)
KANU
MÄNNER
Kajak-Einer K 1 - 500 m
G: Antonio Rossi (ITA) 1:37,42 min
16
S: Knut Holmann (NOR) 1:38,33
B: Piotr Markiewicz (POL) 1:38,61
4. Magyar (ROM) 1:38,97; 5. Lutz Liwowski (GER) 1:39,30; 6. Garcia (ESP) 1:40,04
Kajak-Zweier K 2 - 500 m
G: Kay Bluhm/Torsten Gutsche (GER) 1:28,69 min
S: Beniamino Bonomi/Daniele Scarpa (ITA) 1:28,72
B: Danny Collins/Andrew Trim (AUS) 1:29,40
4.Gorobi/Tistschenko (RUS) 1:29,67; 5. Freimut/Wysocki (POL) 1:29,93; 6. Bartfai/Gyulay (HUN) 1:30,00
Kajak-Einer K 1 - 1000 m
G: Knut Holmann (NOR) 3:25,78 min
S: Beniamino Bonomi (ITA) 3:27,07
B: Clint Robinson (AUS) 3:29,71
4. Liwowski (GER) 3:30,02; 5. Calderon (ESP) 3:31,39; 6. Gajewski (POL) 3:32,52
Kajak-Zweier K 2 1000 m
G: Antonio Rossi/ Daniele Scarpa (ITA) 3:09,19 min
S: Kay Bluhm/Torsten Gutsche (GER) 3:10,51
B: Andrian Duschev/ Milko Kasanov (BUL) 3:11,20
4. Kotowicz/Bialkowski (POL) 3:11,26; 5. Lubac/ Lancereau (FRA) 3:11,40; 6. Nielsen/Staal (DEN) 3:12,05
Kajak-Vierer K 4 - 1000 m
G: GER (Thomas Reineck, Mark Zabel, Olaf Winter, Detlef Hofmann) 2:51,52 min
S: HUN (Ferenc Csipes, Gabor Horvath, Attila Adrovicz, Andras Rajna) 2:53,18
B: RUS (Anatoli Tistschenko, Oleg Go-robij, Sergej Werlin, Georgi Zybul-
nikow) 2:53,99
4.POL 2:54,77; 5. ESP 2:55,88; 6. SWE 2:55,90
Canadier-Einer C 1 - 500 m
G: Martin Doktor (CZE) 1:49,93 min
S: Slavomir Knazovicky (SVK) 1:50,51
B: Imre Pulai (HUN) 1:50,75
4. Sliwinski (UKR) 1:51,71; 5. Zereske (GER) 1:52,35; 6. Frederiksen (DEN) 1:52,84
Canadier-Zweier C 2 - 500 m
G:Csaba Horvath/György Kolonics
(HUN) 1:40,42 min
S: Nikolal Shurawski/Viktor Reneiski (MDA) 1:40,45
B:Gheorghe Andriev/Grigore Obreja (ROM) 1:41,33
4. Dittmer/ Kirchbach (GER) 1:41,76; 5. Marinov/Stojanov (BUL) 1:42,49; 6.Ka-banow/Konowalow (RUS) 1:42,20
Canadier-Einer C 1 - 1000 m
G: Martin Doktor (CZE) 3:54,41 min
S: lwan Klementiew (LAT) 3:54,95
B: György Zala (HUN) 3:56,36
4. Schulze (GER) 3:57,77; 5. Sylvoz (FRA) 3:59,01; 6. Partnoi (ROM) 3:59,85
Canadier-Zweier C 2 - 1000 m
G: Andreas Dittmer/Gunar Kirchbach
(GER) 3:31,87 min
S: Mareel Glavan/Antonel Borsan (ROM)
3:32,29
B:György Kolonics/Csaba Horvath
(HUN) 3:32,51
4.Marinov/Stojanov (BUL) 3:34,38; 5. Shu-rawski/Reneiski (MDA) 3:35,19; 6. A. Train/ St. Train (GBR) 3:36,69
FRAUEN
Frauen-Einer K 1 - 500 m
G: Rita Köban (HUN) 1:47,65 min
S: Caroline Brunet (CAN) 1:47,89
B: Josefa Idem (ITA) 1:48,73
4. Birgit Fischer (GER) 1:49.38; 5. Gunnar-sson (SWE) 1:49,59; 6. Profanter (AUT) 1:50,27
Kajak-Zweier K 2 - 500 m
G: Agneta Andersson/Susanne
Gunnarsson (SWE) 1:39,32 min
S: Ramona Portwich/ Birgit Fischer (GER) 1:39,68
B: Katrin Borchert/Anna Wood (AUS) 1:40,64
4. Köban/Mednyanszki (HUN)1:40,89; 5. Gibeau/Kennedy (CAN) 1:41,31; 6. Aramburu/Manchon (ESP) 1:42,62
Kajak-Vierer K 4 - 500 m
G: GER (Birgit Fischer, Anett Schuck, Ramona Portwich, Manuela Mucke)
1:31,07 min
S: SUI (Ingrid Haralamow, Daniela Baumer, Sabine Eichenberger, Gabi Müller) 1:32,70
B: SWE (Susanne Rosenqvist, Anna Olsson, Agneta Andersson, Ingela Ericsson) 1:32,91
4. CHN 1:33,08; 5. CAN 1:33,09; 6. ESP 1:33,57
SLALOM
Männer
Kajak-Einer K 1
17
G: Oliver Fix (GER) 141,22/0 s
S: Andrez Vehovar (SLO) 141,65/0
B: Thomas Becker (GER)142,79/0
4. Burtz (FRA) 144,33/5; 5. Wiley (IRL) 145,21/0; 6. Weiss (USA)... 8. Lettmann (GER) 145,99/0
Canadier-Einer C 1
G: Michal Martikan (SVK) 151,03/0 s
S: Lukas Pollert (CZE) 151,17/0
B: Patrice Estanguet (FRA) 152,84/0
4. Marriott (GBR) 15 5,83/0; 5. Delamarre (FRA) 155,98/0; 6. Brugvin (FRA) 156,71/5;... 7. Lang 159,91/5... 12. Husek 164,29/5;... 17.Kaufmann (alle GER) 168,43/10.
Canadier-Zweier C 2
G: Frank Adisson/Wilfrid Forgues (FRA) 158,82/0 s
S: Jiri Rohan/Miroslav Simek (CZE) 160,16/0
B: Andre Ehrenberg/Michael Senft
(GER) 163,72/5
4. Berro/Trummer (GER) 163,72/0; 5. del Rey/Saidi (FRA) 165,47/5. 6. Pavel Stercl/Peter Stercl (CZE) 168,45/5
FRAUEN
Kajak-Einer K 1
G: Stepanka Hilgertova (CZE) 169,49/5
S: Dana Chladek (USA)
169,49/5
B: Myriam Fox-Jerusalmi (FRA) 171,00/5
4. Pron (ITA) 171,84/5; 5. Broskova (SVK) 172,57/5; 6. Boixel (FRA) 172,79/10... 10. Micheler-Jones (GER) 176,56/5; 11. Striepecke (GER) 176,98/0
LEICHTATHLETIK
MÄNNER
100 m
G: Donovan Bailey (CAN) 9,84s (WR)
S: Frank Fredericks (NAM) 9,89
B: Ato Boldon (TRI) 9,90
4.Mitchell (USA) 9,99; 5. Marsh (USA) 10,00; 6. Ezinwa (NGR) 10,14... Ausge-schieden: 26. M. Blume (GER) 10,33
200 m
G: Michael Johnson (USA) 19,32 s (WR)
S: Frank Fredericks (NAM) 19,68
B: Ato Boldon (TRI) 19,80
4.Thompson (BAR) 20,14; 5. Williams (USA) 20,17; 6. Garcia (CUB) 20,21
400 m
G: Michael Johnson (USA) 43,49 s
S: Roger Black (GBR) 44,41
B: Davis Kamoga (UGA) 44,53
4.Harrison (USA) 44,62; 5. Thomas (GBR) 44,70; 6. Martin (JAM) 44,83
800 m
G: Vebjörn Rodal (NOR) 1:42,58 min
S: Hezekiel Sepeng (RSA) 1:42,74
B: Fred Onyancha (KEN) 1:42,79
4. Tellez (CUB) 1:42,85; 5. Motchebon (GER) 1:43,91; 6. Kiptoo (KEN) 1:44,19... Ausgeschieden: Dehmel (GER) 1:47,12
1500 m
G: Noureddine Morceli (ALG) 3:35,78
S: Fermin Cacho (ESP) 3:36,40
B: Stephen Kipkorir (KEN) 3:36.72
4.Rotich (KEN) 3:37,39; 5. Tanui (KEN) 3:37,42; 6. Bile (SOM) 3:38,03... Ausgeschieden: Gottschalk (GER) ?
5000 m
G: Venuste Niyongabo (BDI) 13:07,96
S: Paul Bitok (KEN) 13:08,16
B: Khalld Boulami (MAR) 13:08,37
4. Baumann (GER) 13:08.81; 5. Nyariki (KEN) 13:12,29; 6. Kennedy (USA) 13:12,35... 14. Franke (GER) 13:44,64
10000 m
G: Haile Gebrselassie (ETH) 27:07,34
S: Paul Tergat (KEN) 27:08,17
B: Salah Hissou (MAR) 27:28,59
4.Nizigama (BDI) 27:33,79; 5. Machuka (KEN) 27:35,08; 6. Koech (KEN) 27:35,19...9. Franke (GER) 27:59,08
Marathon
G: Josia Thugwane (RSA) 2:12:36 h
S: Lee Bong-Ju (SKR) 2:12:39
B: Eric Wainaina (KEN) 2:12:44
4.Fiz (ESP) 2:13:20; 5. Nerurkar (GBR) 2:13:39; 6.Silva (MEX) 2:14:29... 48. Dobler 2:21:12... Aufgegeben: Freigang (alle GER)
110 m Hürden
G: Allen Johnson (USA) 12,95 s
S: Mark McCrear (USA) 13,09
B: Florian Schwarthoff (GER) 13,17
4. Jackson (GBR) 13,19; 5. Valle (CUB) 13,20; 6. Swift (USA) 13,23... Ausgeschieden: Kaiser 13,59; Edorh (alle GER) 13,64
400 m Hürden
G. Derrick Adkins (USA) 47,54 s
S: Samuel Matete (ZAM) 47,78
B: Calvin Davis (USA) 47,96
4.Nylander (SWE) 47,98; 5. Robinson (AUS) 48,30; 6. Mori (ITA) 48,41
3000 m Hindernis
G: Joseph Keter (KEN) 8:07,12 min
S: Moses Kiptanui (KEN) 8:08,33
B: Alessandro Lambruschini (ITA)
18
8:11,28
4. Birir (KEN) 8:17,18; 5. Croghan (USA) 8:17,84; 6. Brand (GER) 8:18,52 ... Aus-geschieden: Bauermeister (GER) 8:51,83
4 x 100 m
G: CAN (Robert Esmie, Glenroy Gilbert, Bruny Surin, Donovan Bailey) 37,69 s
S: USA (Jon Drummond, Tim Harden,
Michael Marsh, Dennis Mitchell) 38,05
B: BRA (Arnaldo Silva, Robson da Si-
Iva, Edson Ribeiro, Andre Silva)38,41
4.UKR 38,55; 5. SWE 38,67; 6. CUB 39.39... Ausgeschieden: GER (Huke, M. Blume, H. Blume, Schwarthoff)
4 x 400 m
G: USA (LaMont Smith, Alvin Harrison, Derek Mills, Anthuan Maybank) 2:55,99 min
S: GBR (lwan Thomas, Jamie Baulch, Mark Richardson, Roger Black) 2:56,60 (ER)
B: JAM (Michael McDonald, Roxbert Martin, Greg Haughton, Davian Clarke) 2:59,42
4. SEN 3:00,64; 5. JPN 3:00,76; 6. POL 3:00.96... Ausgeschieden: GER (Hein, Karsten, Lieder, Schönlebe) 3:05,15
20 km Gehen
G: Jefferson Perez (ECU) 1:20:07 h
S: Ilya Markow (RUS) 1:20:16
B: Bernardo Segura (MEX) 1:20:23
4.A'hern (AUS) 1:20:31; 5. Shafikow (RUS) 1:20:41; 6. Fadejevs (LAT) 1:20:47... 15. Deimer (GER) 1:23:23; 18. Ihly (GER) 1:23:47; 24. Erm (GER) 1:25:08
50 km Gehen
G: Robert Korzeniowski (POL) 3:43:30
S: Michall Schtschennikow (RUS)
3:43:46
B: Valentin Massana (ESP) 3:44:19
4. di Mezza (ITA) 3:44:52; 5. Ginko (BLR) 3:45:27; 6. Zamudio (MEX) 3:46:07... 12. Noack (GER) 3:51:55; 15. Wallstab (GER) 3:54:48... Ausgeschieden: Weigel (GER)
Hochsprung
G: Charles Austin (USA) 2,39 m
S: Artur Partyka (POL) 2,37
B: Steve Smith (GBR) 2,35
4.Topic (YUG) 2,32; 5. Hoen (Nor) 2,32; 6. Papakostas (GRE) 2,32...
9. Kreißig (GER) 2,29
Weitsprung
G: Carl Lewis (USA) 8,50 m
S: James Beckford (JAM) 8,29
B: Joe Greene (USA) 8,24
4.Bangue (FRA) 8,19; 5. Powell (USA) 8,17; 6. Cankar (SLO) 8,11...
Ausgeschieden: Ackermann 7,86, Lott, kein gültiger Versuch (alle GER)
Dreisprung
G: Kenny Harrison (USA) 18,09 m
S: Jonathan Edwards (GBR) 17,88
B: Yoelvis Quesada (CUB) 17,44
4. Conley (USA) 17,40; 5. Martirosjan (ARM) 16.97; 6. Wellman (BER) 16,95... Ausgeschieden: Friedeck (GER) 16,71
Stabhochsprung
G: Jean Galfione (FRA) 5,92 m
S: Igor Trandenkow (RUS) 5,92
B: Andrej Tiwontschik (GER) 5,92 (DR)
4.Potapowitsch (KAZ) 5,86; 5. Botschkarjow (RUS) 5,86; 6. Markow (BLR) 5,86...7. Lobinger 5,80... 9. Stolle (alle GER) 5,70
Kugelstoßen
G: Randy Barnes (USA) 21,62 m
S: John Godina (USA) 20,79
B: Alexander Bagatsch (UKR) 20,75
4. Soglio (ITA) 20,74; 5. Buder (GER) 20,51; 6. Virastjuk (UKR) 20,45... Ausgeschieden: 13. Urban (GER) 19,37; 16. Mertens (GER) 19,07
Diskuswerfen
G: Lars Riedel (GER) 69,40 m
S: Wladimir Dubrowtschik (BLR) 66,60
B: Wassili Kaptych (BLR) 65,80
4. Washington (USA) 65,42; 5. Alekna (LTU) 65.30; 6. Schult (GER) 64,62
Hammerwerfen
G: Balazs Kiss (HUN) 81,24 m
S: Lance Deal (USA) 81,12
B: Oleksij Krykun (UKR) 80,02
4.Skwaruk (UKR) 79,92; 5. Weis (GER) 79,78; 6. Konowalow (RUS) 78,72... Ausgeschieden: 14. Dethloff (GER) 74,60; 17. Kobs (GER) 74,20
Speerwerfen
G: Jan Zelezny (CZE) 88,16 m
G: Steve Backley (GBR) 87,44
S: Seppo Räty (FIN) 86,98
4.Hecht 86,88; 5. Henry (beide GER) 85,68; 6. Makarow (RUS) 85,30
Zehnkampf
G: Dan O'Brien (USA) 8824 P (10,50 - 7,57 -15,66 - 2,07 - 46,82 - 13,87 - 48,78 - 5,00 - 66,90 -4:45,89)
S: Frank Busemann (GER) 8706
(10,60 - 8,07 - 13,60 - 2,04 - 48,34 -
19
13,47 - 45,04 - 4,80 -66,86 - 4:31,41)
B: Tomas Dvorak (CZE) 8664 (10,64 - 7,60 - 15,82 - 1,98 - 48,29 - 13,79 -46,28 - 4,70 - 70,16 - 4:31,25)
4. Fritz (USA) 8644; 5. Hämälainen (BLR) 8613; 6.Nool (EST) 8543... 14. Müller (GER) 8253; 20. Pajonk (GER) 8045
FRAUEN
100 m
G: Gail Devers (USA) 10,94 s
S: Merlene Ottey (JAM) 10,94
B: Gwen Torrence (USA) 10,96
4. Sturrup (BAH) 11,00; 5. Trandenkowa (RUS) 11,06; 6. Woronowa (RUS) 11,10... Ausgeschieden: Paschke 11,14... Philipp 11,38; Lichtenhagen (alle GER) 11,53
200 m
G: Marie-Jose Perec (FRA) 22,12 s
S: Merlene Ottey (JAM) 22,24
B: Mary Onyali (NGA) 22,38
4. Miller (USA) 22,41; 5. Maltschugina (RUS) 22,45; 6. Sturrup (BAH) 22,54... Ausgeschieden: Paschke (GER) 22,81
400 m
G: Marie-Jose Perec (FRA) 48,25 s
S: Cathy Freeman (AUS) 48,63
B: Falilat Ogunkoya (NGR) 49,10
4. Davis (BAH) 49,28; 5. Miles (USA) 49,55; 6. Yusuf (NGR) 49,77... 8. Breuer (GER) 50,71
800 m
G: Sw. Masterkowa (RUS) 1:57,73 min
S: Ana Fidelia Quirot (CUB) 1:58,11
B: Maria Mutola (MOZ) 1:58,71
4. Holmes (GBR) 1:58,81; 5. Afanasjewa (RUS) 1:59,57; 6. Djarte-Taillard (FRA) 1:59,61... Ausgeschieden: Kisabaka (GER) 1:59,23
1500 m
G: Swetlana Masterkowa (RUS) 4:00,83 min
S: Gabriela Szabo (ROM) 4:01,54
B: Theresia Kiesl (AUT) 4:03,02
4. Pells (CAN) 4:03,56;5. Crowley (AUS) 4:03,79; 6. Sacramento (POR) 4:03,91... Ausgeschieden: Wüstenhagen 4:11,47; Kühnemund (alle GER) 4:16,85
5000 m
G: Wang Junxia (CHN) 14:59,88 min
S: Pauline Konga (KEN) 15:03,49
B: Roberta Brunet (ITA) 15:07,52
4. Shimizu (JPN) 15:09,05; 5. Radcliffe (GBR) 15:13,11; 6. Romanowa (RUS) 15:14,09... Ausgeschieden: Wassiluk (GER) 15:37,73
10000 m
G: Fernanda Ribeiro (POR) 31:01,63 min
S: Junxia Wang (CHN) 31:02,58
B: Gete Wami(ETH) 31:06,65
4.Tulu (ETH) 31:10,46; 5. Chiba (JPN) 31:20,62; 6.Loroupe (KEN) 31:23,22... Ausgeschieden: Weßel (GER) 33:31.67
Marathon
G: Fatuma Roba (ETH) 2:26:05 h
S: Walentina Jegorowa (RUS) 2:28:05
B: Yuko Arimori (JPN) 2:28:39
4. Dörre-Heinig (GER) 2:28:45; 5. Rios (ESP) 2:30:50; 6. Simon (ROM) 2:31:05... 8. Krolik (GER) 2:31:16... Aufgegeben: Pippig (GER)
100 m Hürden
G: Ludmila Engqvist (SWE) 12,58 s
S: Brigita Bukovec (SLO) 12,59
B: Patricia Girard-Leno (FRA) 12,65
4. Devers (USA) 12,66; 5. Rose (JAM) 12,74; 6. Freeman (JAM) 12,76... Aus-geschieden: Patzwahl 13,05; Wolf (alle GER) 13,08
400 m Hürden
G: Dionne Hemmings (JAM) 52,82 s
S: Kim Batten (USA) 53,08
B: Tonja Buford-Bailey (USA) 53,22
4. Parris (JAM) 53,97; 5.Meißner (GER) 54,03; 6. Edeh (CAN) 54,39... 8. Rieger (GER) 54,57
4 x 100 m
G: USA (Chryste Gaines, Gail Devers, Inger Miller, Gwen Torrence) 41,95 s
S: BAH (Eldece Clarke, Chandra Sturrup, Sevatheda Flynes, Paufine Davis) 42,14
B: JAM (Michelle Freeman, Juhet Cuthbert, Nikole Mitchell, Merlene Ottey) 42,24
4. RUS 42,27; 5. NGA 42,56; 6. FRA 42,76... Ausgeschieden (Vorlauf nach Stabverlust): GER (Knoll, Lichtenhagen, Paschke, Philipp)
4 x 400 m
G: USA (Rochelle Stevens, Maicel Malone, Kim Graham, Jearl Miles) 3:20,91 min
S: NGA (Bisi Afolabi, Fatima Yusuf, Charity Opara, Falilat Ogunkoya) 3:21,04
B: GER (Uta Rohländer, Linda Kisabaka, Anja Rücker, Grit Breuer) 3:21,14
4.JAM 3:21,69; 5. RUS 3:22,22; 6. CUB 3:25,85
10 km Gehen
G: Jelena Nikolajewa (RUS) 41:49 min
S: Elisabetta Perrone (ITA) 42:12
B: Yan Wang (CHN) 42:19
20
4. Gu (CHN) 42:34; 5. Giordano (ITA) 42:43; 6. Kardapoltzewa (BLR) 43:02... 15.Boyde 44:50; Gummelt (alle GER) disqual.
Hochsprung
G: Stefka Kostadinowa (BUL) 2,05 m
S: Niki Bakogianni (GRE) 2,03
B: Ina Babakowa (UKR) 2,01
4. Bevilacqua (ITA) 1,99; 5. Guljajewa (RUS) 1,99; 6. Astafei (GER) und Motkowa (RUS) je 1,96
Weitsprung
G: Chioma Ajunwa (NGA) 7,12 m
S: Fiona May (ITA) 7,02
B: Jackie Joyner-Kersee (USA) 7,00
4. Xanthou (GRE) 6,97; 5. Tschechowzowa (UKR) 6,97; 6. Karczmarek (POL) 6,90
Dreisprung
G: Inessa Krawets (UKR) 15,33 m
S: Inna Lasowskaja (RUS) 14,98
B: Sarka Kasparkova (CZE) 14,98
4. Prandscheva (BUL) 14,92; 5. Hansen (GBR) 14,49; 6. Vasdeki (GRE) 14,44... Ausgeschieden: Lobinger (GER)
Kugelstoßen
G: Astrid Kumbernuss (GER) 20,56 m
S: Sui Xinmei (CHN) 19,88
B: Irina Chudoroschkina (RUS) 19,35
4. Pawlysh (UKR) 19,30; 5. Price-Smith (USA) 19,22; 6. Storp 19,06. 7. Neimke (alle GER) 18,92
Diskuswerfen
G: Ilke Wyludda (GER) 69,66 m
S: Natalja Sadowa (RUS) 66,48
B: Ellina Zwerewa (BLR) 65,64
4. Dietzsch (GER) 65,48; 5. Xiao (CHN) 64,72; 6. Tschernjawskaja (RUS) 64,70... 11. Gündler (GER) 61,16
Speerwerfen
G: Heli Rantanen (FIN) 67,94 m
S: Louise McPaul (AUS) 65,54
B: Trine Hattestad (NOR) 64,98
4. Lopez (CUB) 64.68; 5. Rivero (CUB) 64,48; 6. Forkel 64,18... 9. Nerius 60,20; Ausgeschieden: Renk (alle GER) 59,70
Siebenkampf
G: Ghada Shouaa (SYR) 6780 P
(13,72 - 1,86 - 15,95 - 23,85 - 6,26 - 55,70 - 2:15,43)
S: Natascha Sassanowitsch (BLR)
6563 (13,56 -1,80 -14,52 -23,72 -
6,70 -46,00 -2:17,92)
B: Denise Lewis (GBR) 6489
(13,45 -1,77 -13,92 -24,44 - 6,32 -
54,82 -2:17,41)
4.Wlodarczyk (POL) 6484; 5. Barber (SLE) 6342; 6. Inancsi (HUN) 6336; 7. Braun 6317... 11. Steigauf 6246... 13. Beer (alle GER) 6234
MODERNER FÜNFKAMPF
Männer-Einzel
G: Alexander Parygin (KAZ) 5551 P
S: Eduard Zenowka (RUS) 5530
B: Janos Martinek (HUN) 5501
4.Swatkowski (RUS) 5489; 5. Warabida (POL) 5452; 6. Hanzely (HUN) 5435
RADSPORT
Männer-Bahn
Sprint
G: Jens Fiedler (GER)
S: Marty Nothstein (USA)
B: Curtis Harnett (CAN)
4. Neiwand (AUS); 5. Hill (AUS); 6. Magne (FRA); 7. Pokorny (GER)
1000 m Zeitfahren
G: Florian Rousseau (FRA) 1:02,712
S: Erin Hartwell (USA) 1:02,940
B: Takanobu Jumonji (JPN) 1:03,261
4. Lausberg (GER) 1:03,514; 5. van Zyl (RSA) 1:04,214; 6. Krejner (POL) 1:04,697
4000 m Einzelverfolgung
G: Andrea Collinelli (ITA)
S: Philippe Ermenault (FRA)
B: Bradley McGee (AUS)
4. Markow (RUS); 5. Martinez (ESP); 6. Szonn (GER)
4000 m Mannschaftsverfolgung
G: FRA (Christophe Capelle, Philipp
Ermenault, Jean-Michel Monin, Francis Moreau) 4:05,930 min
S: RUS (Eduard Gritsun, Nikolai
Kusnezow, Alexej Markow, Anton
Chantyr) 4:07,730
B: AUS (Bret Aitken, Bradley McGee,
Stuart 0'Grady, Dean Woods) 4:07,570
4.ITA 4:08,317; 5. ESP 4:11,324; 6. USA 4:12,510... Ausgeschieden: 9. GER 4:15,140
Punktefahren
G:Silvio Martinello (ITA) 37 P
S: Brian Walton (CAN) 29
B: Stuart 0'Grady (AUS) 25
4. Jakowlew (UKR) 24; 5. Moreau (FRA) 21; 6. Llaneras (ESP) 17... 9. Fulst (GER)
FRAUEN
Sprint
G: Felicia Ballanger (FRA)
S: Michelle Ferris (AUS)
21
B: Ingrid Haringa (NED)
4. Neumann (GER); 5. Grischina (RUS); 6.Salumäe (EST)
3000 m Einzelverfolgung
G: Antonella Bellutti (ITA)
S: Marion Clignet (FRA)
B: Judith Arndt (GER)
4.McGregor (GBR); 5. Twigg (USA); 6. Mazeikyte (LTU)
Punktefahren
G: Nathalie Lancien (FRA) 24 P
S: Ingrid Haringa (NED) 23
B: Lucy Tyler-Sharman (AUS) 17
4.Samochwalowa (RUS) 14; 5. Vergara (ESA) 11; 6.Goroschanskaja (BLR) 11... 13. Arndt (GER)
Straße
MÄNNER
Einzelzeitfahren 52 km
G: Miguel Indurain (ESP) 1:04:05 h
S: Abraham Olano (ESP) 1:04:17
B: Chris Boardman (GBR) 1:04:36
4. Fondriest (ITA) 1:05,01; 5. Rominger (SUI) 1:06:05; 6. Armstrong (USA) 1:06:28... 10. Rich 1:07:08... 12. Peschel (alle GER) 1:07:33
Straßenrennen 221,8 km
G: Pascal Richard (SUI) 4:53:56 h
S: Rolf Sörensen (DEN) gl. Zeit
B: Maximilian Sciandri (GBR) 2 s zur.
4. Andreu (USA) 1:14 min z; 5. Virenque (FRA) gl.Z.; 6. Mauri (ESP) 1:15,7... 16. Ludwig 2:36 z; 20. Zabel 2:47; 28. Aldag 2:48; Ausgeschieden: Peschel, Rich (alle GER)
FRAUEN
Einzelzeitfahren 26 km
G: Sulfia Sabirowa (RUS) 36:40 min
S: Jeannie Longo-Ciprelli (FRA) 37:00
B: Clara Hughes (CAN) 37:13
4.Watt (AUS) 37:53; 5. Clignet (FRA) 38:14; 6.Vikstedt-Nyman (FIN) 38:24
Straßenrennen 102 km
G: Jeannie Longo-Ciprelli (FRA) 2:36:13 h
S: Imelda Chiappa (ITA) 2:36:38
B: Clara Hughes (CAN) 2:36:44
4. Hohlfeld (GER) 2:37:05; 5. Polikeviciute (LTU); 6. Sabirowa (RUS)
Mountain-Bike
Männer
G: Bart Jan Brentjes (NED) 2:17:38 h
S: Thomas Frischknecht (SUI) 2:35 z.
B: Miguel Martinez (ESP) 2:57
4. Dupouey (FRA) 7:25; 5. Pontoni (ITA) 7:28; 6. Brenes (CRC) 8:13... 10. Berner 10:07... Ausgeschieden: Kluge (alle GER)
FRAUEN
G:Paola Pezzo (ITA) 1:50:50 h
S: Alison Sydor (CAN) 1:06 z.
B: Susan DeMattei (USA) 1:44
4. Dahle (NOR) 2:58; 5. Vink (NED) 3:47; 6. Stropparo (ITA) 5:05...7. Marunde (GER) 6:29
REITEN
Dressur Einzel
G: Isabell Werth (GER)/ Gigolo - 235,09 P
S: Anky van Grunsven (NED) / Bonfire - 233,02
B: Sven Rothenberger (NED)/Weyden 224,94
4. Theodorescu (GER) /Grunox 224,56; 5. Gibson (USA)/ Peron 222,83; 6. Balkenhol / Goldstern 221,8...9. Schaudt / Durgo 212,75; Ausgeschieden: Uphoff-Becker (alle GER) / Rembrandt
Dressur Mannschaft
G: GER (Isabell Werth/Gigolo, Klaus Balkenhol / Goldstern, Theodorescu /Grunox, Schaudt/Durgo) 5553 P
S: NED (Tinke Bartels de Vries / Olympic Barbria, Sven Rothenberger / Weyden, Anky van Grunsven / Bonfire, Gonnelien Rothenberger / Olympic Dondolo) 5437
B: USA (Robert Dover / Metallic, Michelle Gibson / Peron, Steffen Peters / Udon, Guenter Seidel / Graf George) 5309
4. FRA 5045; 5. SWE 4996; 6. SUI 4893
Military Einzel
G: Blyth Tait (NZL) / Ready Teddy 56.80 P
S: Sally Clark (NZL) / Squirrel Hill 60,40
B: Kery Millikin (USA)/ Out an' About 73,20
4.Teulere (FRA) / Rodosto 77,20; 5. O'Connor (USA) / Otis 80,15; 6. Depuy (USA) / Hopper 85,00... 7. van Paepke / Amadeus 87,20 16. Blöcker / Kiwi Dream 160,10; Ausgeschieden Thomsen (alle GER) / White Girl
Military Mannschaft
G: AUS (Wendy Schaeffer / Sunburst, Phillip Dutton / True Blue Gl, Gillian Rolton / Peppermint G, Andrew Hoy / Darien Power) 203,85 P
S: USA (Karen O'Connor / Biko, David O'Connor / Giltedge, Bruce Davidson / Heyday, Jill Henneberg / Nir-vana) 261,10
B: NZL (Blyth Tait / Chesterfield, Andrew Nicholson / Jagermeister, Vicky Latta /
22
Broadcast News, Vaugh Jefferis / Bounce) 268,15
4. FRA 307,65; 5. GBR 312,90; 6. JPN 326,15... 9. GER (Battenberg / Sam the Man, Blum / Brownie McGee, Ehrenbrink / Connection, Overesch-Böker / Watermill Stream) 1204,15
Springreiten
G: Ulrich Kirchhoff (GER) / Jus de Pommes
S: Willi Mellinger (SUI) / Calvaro
B: Alexandra Ledermann (FRA) / Rochet
4.Simon (AUT) / ET; 5. Fach (SUI) / Jeremia; 6. Billington (GBR) / It's Otto... 20. Nieberg (GER) / For Pleasure 16,00; Ausgeschieden: Sloothaak (GEH) / Joly; Nicht angetreten: Beerbaum (GER) / Rati-na Z.
Springreiten Mannschaft
G: GER (Franke Sloothaak / Joly, Lars Nieberg / For Pleasure, Ulrich Kirchhoff / Jus de Pommes, Ludger Beerbaum / Ratina Z) 1,75 P
S: USA (Anne Kursinski / Eros,
Leslie Burr-Howard / Extreme,
Peter Leone / Legato, Michael
Matz / Rhum) 12,00
B: BRA (Alvaro Mirando Neto /
Aspen, Andre Johannpeter / Calei, Luiz Fehpe Azevedo / Cassiana, Rodrigo Pessoa / Tomboy) 17,25
4. FRA 20,25; 5. ESP 29,75; 6. SUI 32,00
RINGEN
Griechisch-Römischer Stil
Halbfliegengewicht (bis 48 kg)
G: Sim Kwon-Ho (SKR)
S: Alexander Pawlow (BLR)
B: Zafar Guljew (RUS)
4. Kang Yong (PRK); 5. Sanchez (CUB); 6. Papaschwili (GEO)... Ausgeschieden: Kutscherenko (GER)
Fliegengewicht (bis 52 kg)
G: Armen Nazarjan (ARM)
S: Brandon Paulson (USA)
B: Andrej Kalaschnikow (UKR)
4. Danielian (RUS); 5. Sculy (CUB); 6. Anev (BUL)... Ausgeschieden: Ter-Mkrtchyan (GER)
Bantamgewicht (bis 57 kg)
G: Juri Melnischenko (KAZ)
S: Dennis Hall (USA)
B: Sheng Zetiang (CHN)
4. Schakimow (UKR); 5. Yildiz (GER); 6. Sarmiento (CUB)
Federgewicht (bis 62 kg)
G: Wlodzimierz Zawadski (POL)
S: Juan-Luis Maren Delis (CUB)
B: Mehmet Pirim (TUR)
4. Guliaschwili (GEO); 5. Ivanov (BUL); 6. Kamuschenko (UKR)
Leichtgewicht (bis 68 kg)
G: Ryszard Wolny (POL)
S: Ghani Yolouz (FRA)
B: Alexander Tretjakow (RUS)
4. Madschidow (BLR); 5. Georgiev (BUL); 6. Puliajew (UZB)
Weltergewicht (bis 74 kg)
G: Feliberto Ascuy (CUB)
S: Marko Asell (FIN)
B: Josef Tracz (POL)
4. Hahn (GER); 5. Iskandarian (RUS); 6. Dschigasow (UKR)
Mittelgewicht (bis 82 kg)
G: Hamza Yerlikaya (TUR)
S: Thomas Zander (GER)
B: Waleri Tsilent (BLR)
4.Turlyschanow (KAZ); 5. Tsitzuaschwili (ISR); 6. Lidberg (SWE)
Halbschwergewicht (bis 90 kg)
G: Wjatscheslaw Olejnik (UKR)
S: Jacek Fafinski (POL)
B: Maik Bullmann (GER)
4. Sidorenko (BLR); 5. Basar (TUR); 6. Konstantinisi (GRI)
Schwergewicht (bis 100 kg)
G: Andrzej Wronski (POL)
S: Sergej Lischtwan (BLR)
B: Mikael Ljungberg (SWE)
4. Edischeraschwili (RUS); 5. Milian (CUB); 6. Grabowetski (MDA)
Superschwergewicht (bis 130 kg)
G: Alexander Karelin (RUS)
S: Mett Ghaffari (USA)
B: Sergej Mureiko (BUL)
4. Kotok (UKR); 5. Poikilidis (GRI); 6. Schieckel (GER)
Freistil
Halbfliegengewicht (bis 48 kg)
G: Kim Il (PRK)
S: Armen Mkrchjan (ARM)
B: Alexis Vila (CUB)
4. Orudschow (RUS); 5. Soon-Won Jung (SKR); 6. Railean (MDA)
Fliegengewicht (bis 52 kg)
G: Valentin Jordanov (BUL)
S: Namik Abdullajew (AZE)
B: Maulen Mamyrow (KAZ)
23
4.Mongusch (RUS); 5. Mohammadi (IRI); 6. Topaktas (TUR)
Bantamgewicht (bis 57 kg)
G: Kendall Cross (USA)
S: Gia Sissaouri (CAN)
B: Ri Yong Sam (PRK)
4. Dogan (TUR); 5. Trstena (MKD); 6. Talei (IRI)
Federgewicht (bis 62 kg)
G: Tom Brands(USA)
S: Jang Jae-Sung (SKR)
B: Elbrus Tedejew (UKR)
4. Wada (JPN); 5. Asisow (RUS); 6. Schillici (ITA)... Ausgeschieden: Scheibe (GER)
Leichtgewicht (bis 68 kg)
G: Wadim Bogijew (RUS)
S: Townsend Saunders (USA)
B: Sasa Sasirow (UKR)
4. Sanchez (CUB); 5. Geworgjan (ARM); 6. Hwang Sang-Ho (SKR)
Weltergewicht (bis 74 kg)
G: Buwassia Sajtijew (RUS)
S: Park Jang-Soon (SKR)
B: Takuya Ota (JPN)
4. Paskalev (BUL); 5. Alexander Leipold (GER); 6. Monday (USA)
Mittelgewicht (bis 82 kg)
G: Hadschimurad Magomedow (RUS)
S: Yang Hyun-Mo (SKR)
B: Amir Reza Khadem Atghadi (IRI)
4. Özturk (TUR); 5. Ibragimow (AZE); 6. Jabrailow (KAZ)
Halbschwergewicht (bis 90 kg)
G: Rasull Khadem Azghadi (IRI)
S: Macharbek Chadarzew (RUS)
B: Eldari Kurtanidse (GEO)
4. Lohyna (SVK); 5. Tedejew (UKR); 6. Kodel (NGA)... Ausgeschieden: Balz (GER)
Schwergewicht (bis 100 kg)
G: Kurt Angle (USA)
S: Abbas Jadidi (IRI)
B: Arawat Sabejew (GER)
4. Kowalewski (BLR); 5. Garmulewicz (POL); 6. Alexandrow (KGZ)
Superschwergewicht (bis 130 kg)
G: Mahmut Demir (TUR)
S: Alexej Medwedjew (BLR)
B: Bruce Baumgartner (USA)
4. Schumilin (RUS); 5. Kowalewski (KGZ); 6. Thiele (GER)
RUDERN
MÄNNER
Einer
G: Xeno Müller (SUI) 6:44,85 min
S: Derek Porter (CAN) 6:47,45
B: Thomas Lange (GER) 6:47,72
4. Cop (SLO) 6:51,71; 5. Chalupa (CZE) 6:55,65; 6.Bekken (NOR) 6:59,51
Doppelzweier
G: Davide Tizzano/Agostino Abbagnale (ITA) 6:16,98 min
S: Kjetil Undseth/Steffen Stoerseth
(NOR) 6:18,42
B: Frederic Kowal/Samuel Barat-
hay (FRA) 6:19,85
4. Christensen/Haldbo-Hansen (DEN) 6:24,77; 5. Jonke/Zerbst (AUT) 6:25.17, 6. Mayer/ Opfer (GER) 6:29,32
Doppelzweier - Leichtgewicht
G: Michael Gier/Markus Gier (SUI) 6:23,47 min
S: Maarten van der Linden/Pepijn Aardewijn (NED) 6:26,48
B: Anthony Edwards/Bruce Hick (AUS) 6:26,69
4.de Marco/Saez (ESP) 6:28,0; 5. Sigl/Rantasa (AUT) 6:30,85; 6. Tichy/ Christensson (SWE) 6:34,78... Ausgeschieden: Uhrig/ Euler (GER) 6:30,43
Zweier ohne
G: Steven Redgrave/Matthew Pinsent (GBR) 6:20,09 min
S: David Weightman/ Robert Scott (AUS) 6:21,02
B: Michel Andrieux/Jean-Christo-
phe Rolland (FRA) 6:22,15
4. Penna/Bottega (ITA) 6:28,61; 5. Dunlop/Schaper (NZL) 6:29,24; 6. Banovic/Saraga (CRO) 6:30,48... Ausgeschieden: von Ettingshausen/ Ungemach (GER)
Doppelvierer
G: GER (Andre Steiner, Stephan Volkert, Andreas Hajek, Andre Willms) 5:56,93 min
S: USA (Tim Young, Brian Jamieson, Eric Mueller, Jason Gailes) 5:59,10
B: AUS (Janusz Hooker, Duncan Free, Ronald Snook, Boden Hanson) 6:01,65
4. ITA 6:02,12; 5. SUI 6:04,52; 6. SWE 6:07,75
Vierer ohne
G: AUS (Drew Ginn, James Tomkins, Nikolas Green, Michael McKay) 6:06,37 min
S: FRA (Gilles Bosquet, Daniel Fauche, Bertrand Vecten, Olivier Moncelat) 6:07,03
B: GBR (Rupert Obholzer, Jonny Searle, Gregory Searle, Timothy Foster) 6:07,28
24
4. SLO 6:07,87; 5. ROM 6:08,97; 6. ITA 6:10,60... Ausgeschieden: GER (Forster, Landvoigt, Fischer, Scholz)
Vierer ohne - Leichtgewicht
G: DEN (Niels Henriksen, Thomas Poulsen, Eskild Ebbesen, Victor Feddersen) 6:09,58 min
S: CAN (Jeffrey Lay, Dave Boyes, Gavin Hassett, Brian Peaker) 6:10,13
B: USA (David Collins, Jeff Pfaendtner, Marc Schneider, William Car-
lucci) 6:12,29
4. IRL 6:13,51; 5. GER (Rose, Weis, Buchheit, Stomporowski) 6:14,79; 6. AUS 6:18,16
Achter
G: NED (Henk-Jan Zwolle, Diederik Simon, Michiel Bartman, Koos Maasdijk, Niels van der Zwan, Niels von Steenis, Ronald Florijn, Nico Rienks, Jeroen Duyster) 5:42,74 min
S: GER (Frank Richter, Mark Kleinschmidt, Wolfram Huhn, Marc Weber, Detlef Kirchhoff, Thorsten Streppelhoff, Ulrich Viefers, Roland Baar, Peter Thiede) 5:44,58
B: RUS (Anton Schermaschentjew, Andrej Gluchkow, Dimitri Rosinkewitsch, Wladimir Wolodenkow, Nikolai Aksjonow, Roman Montschenko, Pawel Melnikow, Sergej Matwejew, Alexander Lukjanow) 5:45,77
4. CAN 5:46,54; 5. USA 5:48,45; 6. AUS 5:58,82
FRAUEN
Einer
G: Jekaterina Chodotowitsch (BLR) 7:32,21 min
S: Silke Laumann (CAN) 7:35,15
B: Trine Hansen (DEN) 7:37,20
4. Brandin (SWE) 7:42,58; 5. Batten (GBR) 7:45,08; 6.Davidon (USA) 7:46,47... Aus-geschieden: Evers (GER)
Doppelzweier
G: Marnie McBean/ Kathleen Heddle (CAN) 6:56,84 min
S: Mian Ying Cao/ Xiu Yun Zhang (CHN) 6:58,35
B: Irene Eijs/ Eeke van Nes (NED) 6:58,72
4. Hatzakis/Roye (AUS) 7:01,26; 5. Thieme/ Lutze (GER) 7:04,14; 6. Ba-ker/Lawson (NZL) 7:09,92
Doppelzweier - Leichtgewicht
G: Constanta Burcica/Camelia Macovieiuc (ROM) 7:12,78 min
S: Teresa Bell/Lindsay Burns (USA) 7:14,65
B: Rebecca Joyce/Virginia Lee (AUS) 7:16,56
4. Bertini/Orzan (ITA) 7:16,83; 5. Christoffersen/Andersson (DEN) 7:18,20; 6. Vermulst/Meliesie (NED) 7:21... Ausgeschieden: Darvill/ Kaps (GER) 7:04,31
Zweier ohne
G: Megan Still/ Kate Slatter (AUS) 7:01,39 min
S: Missy Schwen/ Karen Kraft (USA) 7:01,78
B: Christine Gosse/ Helene Cortin (FRA)7:03,82
4. Haacker/ Werremeier (GER) 7:08,49; 5. Robinson/van der Kamp (CAN) 7:12,27; 6. Ligaschowa./Poschitajewa (RUS) 7:19,56
Doppelvierer
G: GER (Jana Sorgers, Katrin Rutschow, Kathrin Boron, Kerstin Köp-
pen) 6:27,44 min
S: UKR (Olena Ronchina, Inna Frolowa, Swetlana Masij, Diana Miftdachutdinowa) 6:30,36
B: CAN (Laryssa Biesenthal, Marnie McBean, Diane 0'Grady, Kathleen
Heddle) 6:30,38
4. DEN 6:30,92; 5. CHN 6:31,10; 6. NED 6:35,54
Achter
G: ROM (Anca Tanase, Vera Cochelea, Liliana Gafencu, Doina Spircu, loana Olteanu, Elisabeta Lipa, Marionara Popescu, Doina Ignat, Elena Georgescu) 6:19,73 min
S: CAN (Heather McDermid, Tosha Tsang, Maria Maunder, Ahson Korn, Emma Robinson, Anna van der Kamp, Jessica Monroe, Theresa Luke, 1,esley Thompson) 6:24,05
B: BLR (Natalja Lawrinenko, Alexandra Pankina, Natalja Wolschek, Tamara Dawidenko, Walentina Skrabatun, Jelena Mikulich, Natalja Stasiuk, Marina Snak, iaroslawa Pawlowitsch) 6:24,44
4.USA 6:26,19; 5. AUS 6:30,10; 6. NED 6:31,11... Ausgeschieden: GER (Justh, Rehaag, Naser, Gesch, A. Pyritz, Schmidt, D. Pyritz, Schell, Neunast)
SCHIESSEN
25
MÄNNER
Gewehr KK-Liegend
G: Christian Klees (GER)
704,8 (600/104,8) Ringe (WR)
S: Sergej Beljajew (KAZ) 703,3
B: Jozef Gonci (SVK) 701,9
4. Gonzalez (ESP) 701,7 ; 5. Mach (CZE) 700,9 ; 6. Martinow (BLR) 699,6 ... 11. Rücker (GER) 595
KK-Dreistellungskampf
G: Jean-Pierre Amat (FRA) 1273,9 (1175/98,9) Ringe
S: Sergej Beljajew (KAZ) 1272,3
B. Wolfram Waibel jun. (AUT) 1269,6
4. Maksimovic (YUG) 1268,8; 5. Gonci (SVK) 1267,7; 6. Harbison (USA) 1267,7 (1170/97,7)... Ausgeschieden: Eckhardt (GER) 1165,37; Klees (GER) 1155
Schnellfeuerpistole
G: Ralf Schumann (GER) 698,0 (596/102,0) Ringe
S: Emil Milev (BUL) 692,1
B: Wladimir Wochmjanin (KAZ) 691,5
4.Kucharczyk (POL) 690,5; 5. Meng (China) 687,1; 6. Lisoconi (MDA) 687,0... 8.Leonhard (GER)683,6
Freie Pistole
G: Boris Kokorew (RUS) 666,4 (570/96,4) Ringe
S: Igor Basinski (BLR) 662,0
B. Roberto di Donna (ITA) 661,8
4.Konstantin (BLR) 660,1; 5. Fait (ITA) 659,8; 6. Wang Yifu (CHN) 659,3... 35. Neumaier 549, 37. Gevorgian (alle GER) 548
Luftgewehr
G: Artem Kadschibekow (RUS) 695,7 (594/101,7) Ringe
S. Wolfram Waibel jun. (AUT) 695,2
B: Jean-Pierre Amat (FRA) 693,1
4. Aleinikow (RUS) 692,9; 5. Steinar Rolland (NOR) 692,5; 6. Debevec (SLO) 692,1... 9. Eckhardt 591; 18. Riederer (alle GER) 588
Luftpistole
G: Roberto di Donna (ITA) 684,2 (585/99,2) Ringe
S: Wang Yifu (CHN) 684,1
B: Tanu Kiriakov (BUL) 683,8
4. Pyshjanow (RUS) 683,5; 5. Pietrzak (POL) 682,7; 6. Tan Zongliang (CHN) 682,0... Ausgeschieden: Gevorgian; Neumaier (alle GER) je 580
Laufende Scheibe
G: Ling Yang (CHN) 685,8 (585/100,8) Ringe
S: Jun Xiao (CHN) 679,8
B: Miroslav Janus (CZE) 678,4
4. Sike (HUN) 677,1; 5. Likin (RUS) 676,7; 6. Holmberg (FIN) 672,4...
7. Zimmermann 672,2; 11. Jakosits (alle GER) 568
Trap
G: Michael Diamond (AUS) 149 Scheiben
S: Josh Lakatos (USA) 147
B: Lance Bade (USA) 147
4. Maxwell (AUS) 146; 5. Bing Zhang (CHN) 146; 6. Slamka (SVK) 145;...10. Bindrich 121; 20. Damme 119, 49. Möller (alle GER) 114
Doppel-Trap
G: Russell Mark (AUS) 189 Scheiben
S: Albana Pera (ITA) 183
B: Bing Zhang (CHN) 183
4. Chul-Sung Park (SKR) 183; 5. Faulds (GBR) 180; 6. I-Chien Huang (TPE) 178... 15. Bindrich 133... 22. Schanz (alle GER) 128
Skeet
G: Ennio Falco (ITA) 149 Scheiben
S: Miroslaw Rzepkowski (POL) 148
B: Andrea Benelli (ITA) 147
4.Rassmussen (DEN) 147; 5. Tiopli (RUS) 146; 6. Timofejevs (LAT) 145... Ausgeschieden: Hochwald 119; Heinrich; Wegner (alle GER) je 118.
FRAUEN
Dreistellungskampf
G: Aleksandra Ivosev (YUG) 686,1R.
S: Irina Gerasimenok (RUS) 680,1
B: Renata Mauer (POL) 679,8
4. Obel (GER) 679,2; 5. Matowa (BUL) 678,8; 6. Hyun-Ah Kong (SKR) 675,8... 9. Petra Horneber (GER) 579
Sportpistole
G: Duihong Li (CHN) 687,9 Ringe
S: Diana Jorgowa (BUL) 684,8
B: Marina Logwinenko (RUS) 684,2
4. Soon-Hee Boo (SKR) 683,9; 5. Otryad (MGL) 681,3; 6. Sekaric (YUG) 680,4... 23.Völker (GER) 573
Luftgewehr
G: Renata Mauer (POL) 497,6 Ringe
S: Petra Horneber (GER) 497,4
B: Aleksandra Ivosev (YUG) 497,2
4. Bellenoue (FRA) 496,6; 5. Po-
grebniak (BLR) 496,4; 6. Nedvedova (CZE) 495,1 (395/100,1)... Ausgeschieden: 36. Knells (GER) 386
Luftpistole
26
G: Olga Kloschnewa (RUS) 490,8 R.
S: Marina Logwinenko (RUS) 488,5
B: Mariya Grozdeva (BUL) 488,5
4. Sekaric (YUG) 487,1; 5. Saluk-
wadze (GEO) 484,0; 6. Beljajewa
(KAZ) 481,7... Ausgeschieden: 27. Völker (GER)
Doppeltrap
G: Kim Rhode (USA) 141 Scheiben
S: Susanne Kiermayer (GER) 139
B: Deserie Huddlestone (AUS) 139
4. Dewitt (USA) 137; 5. Murtonienen (FIN) 133; 6. Kira (JPN) 132
SCHWIMMEN
MÄNNER
50 m Freistil
G: Alexander Popow (RUS) 22,13 s
S: Gary Hall jun. (USA) 22,26
B: Fernando Scherer (BRA) 22,29
4. Chengji Jiang (CHN) 22,33; 5. Dedekind (RSA) 22,59; 6. Fox (USA) 22.68... Ausgeschieden: Lüderitz (GER) 23,06
100 m Freistil
G: Alexander Popow (RUS) 48,74 s
S:Gary Hall jun. (USA) 48,81
B: Gustavo Borges (BRA) 49,02
4. van den Hoogenband (NED) 49,13; 5. Scherer (BRA) 49,57; 6. Chnykin (UKR) 49.65...Ausgeschieden: Tröger 49,90; Zikarsky (alle GER) 49,91
200 m Freistil
G: Danyon Loader (NZL) 1:47,63 min.
S: Gustavo Borges (BRA) 1:48,08
B: Daniel Kowalski (AUS) 1:48,25
4. van den Hoogenband (NED) 1:48,36; 5. Holmertz (SWE) 1:48,42; 6. Rosolino (ITA) 1:48,50... Ausgeschieden: Heilmann (GER) 1:48,81
400 m Freistil
G: Danyon Loader (NZL) 3:47,97 min
S: Paul Palmer (GBR) 3:49,00
B: Daniel Kowalski (AUS) 3:49,39
4.Brembilla (ITA) 3:49,87; 5. Holmertz (SWE) 3:50.68; 6. Rosolino (ITA) 3:51,04... 7. Hoffmann (GER) 3:52,15... Ausgeschieden: Wiese (GER) 3:52,37
1500 m Freistil
G: Kieren Perkins (AUS) 14:56,40 min
S: Daniel Kowalski (AUS) 15:02,43
B: Graeme Smith (GBR) 15:02,48
4. Brembilla (ITA) 15:08,58; 5.Neethling (RSA) 15:14,63; 6. Hirano (JPN) 15:17,28... 7. Hoffmann (GER) 15:18,86... Ausgeschieden: Zesner (GER) 15:21,65
100 m Rücken
G: Jeff Rouse (USA) 54,10 s
S: R.Falcon Cabrera (CUB) 54,98
B: Bent Neisser (CUB) 55,02
4. Lopez-Zubero (ESP)55,16; 5. Schwenk (USA) 55,30; 6. Merisi (ITA) 55,53... 7. Braun (GER) 55,56; Ausgeschieden: Theloke (GER) 56,63
200 m Rücken
G: Brad Bridgewater (USA) 1:58,54 min
S: Tripp Schwenk (USA) 1:58,99
B: Emanuele Meresi (ITA) 1:59,18
4. Sikora (POL) 2:00,05; 5. Itoi (JPN) 2:00,10; 6. Lopez-Zubero (ESP) 2:00,74... Ausgeschieden: Braun (GER)
100 m Brust
G: Frederik Deburghgraeve (BEL) 1:00,65 min (Vorlauf. 1:00,60/WR)
S: Jeremy Linn (USA) 1:00,77
B: Mark Warnecke (GER) 1:01,33 (DR)
4. Güttler (HUN) 1:01,49; 5. Rogers (AUS) 1:01,64; 6. Grote (USA) 1:01,69
200 m Brust
G: Norbert Rosza (HUN) 2:12,57 min
S: Karoly Güttler (HUN) 2:13,03
B: Andrej Kornejew (RUS) 2:13,17
4. Gillingham (GBR) 2:14,37; 5. Rogers (AUS) 2:14,79; 6. Krawczyk (POL) 2:14,84
100 m Schmetterling
G: Denis Pankratow (RUS) 52,27 s (WR)
S: Scott Miller (AUS) 52,53
B: Wadislaw Kulikow (RUS) 53,13
4. Jiang (CHN) 53,20; 5. Szukala (POL) 53,29; 6. Klim (AUS) 53,30 Ausgeschieden: Lampe (GER) 54,56
200 m Schmetterling
G: Denis Pankratow (RUS) 1:56,51min
S: Tom Malchow (USA) 1:57,44
B: Scott Goodman (AUS) 1:57,48
4. Esposito (FRA) 1:58,10; 5. Miller (AUS) 1:58,28; 6. Sylantjew (UKR) 1:58,37... Augeschieden: Lampe 2:00,08; Bremer (alle GER) 2:01,62
200 m Lagen
G: Attila Czene (HUN) 1:59,91 min
S: Jani Sievinen (FIN) 2:00,13
B: Curtis Myden (CAN) 2:01,13
4. Wouda (NED) 2:01,45; 5. Dunn (AUS) 2:01,57; 6. Burgess (USA) 2:02,56... Aus-geschieden: Keller 2:02,90; Theloke (alle GER) 2:03,90
400 m Lagen
G: Tom Dolan (USA) 4:14,90 min
S: Eric Namesnik (USA) 4:15,25
27
B: Curtis Myden (CAN) 4:16,28
4. Dunn (AUS) 4:16,66; 5. Wouda (NED) 4:17,71; 6.Sacchi (ITA) 4:18,31
4 x 100 m Freistil
G: USA (Jon Olsen, Josh Davis, Bradley Schumacher, Gary Hall jun.) 3:15,41 min
S: RUS (Roman Jegorow, Alexander Popow, Wladimir Predkin, Wladimir Pyschnenko) 3:17,06 (ER)
B: GER (Christian Tröger, Bengt Zikarsky, Björn Zikarsky, Mark Pinger) 3:17,20 (DR) 4.BRA 3:18,30; 5. NED 3:19,02; 6. AUS 3:20,13
4 x 200 m Freistil
G: USA (Josh Davis, Joe Hudepohl, Bradley Schumacher, Ryan Berube) 7:14,84 min
S: SWE (Christer Wallin, Anders
Holmertz, Lars Frolander, Anders
Lyrbring) 7:17,56
B: GER (Aimo Heilmann, Christian
Keller, Christian Tröger, Steffen
Zesner) 7:17,71
4. AUS 7:18,47; 5. GBR 7:18.74; 6. ITA 7:19,92
4 x 100 m Lagen
G: USA (Jeff Rouse, Mark Henderson, Gary Hall jun., Jeremy Linn) 3:34,84 min (WR)
S: RUS (Wladimir Selkow, Stanislaw Lopuchow, Denis Pankratow, Alexander Popow) 3:37,55 (ER)
B: AUS (Philip Rogers, Michael Klimm, Scott Miller, Steven Dewick) 3:39,56
4. GER (Braun, Warnecke, Keller, Björn Zikarsky) 3:39,64 (DR); 5. JPN 3:40,51; 6. HUN 3:40,84
FRAUEN
50 m Freistil
G: Amy van Dyken (USA) 24,87 s
S: Jingyi Le (CHN) 24,90
B: Sandra Völker (GER) 25,14
4. Martino (USA) 25,31; 5. Martindale (BAR) 25,49; 6. Olofsson (SWE) 25,63... Ausgeschieden: Osygus 26,16 (GER)
100 m Freistil
G: Jingyi Le (CHN) 54,50 s
S: Sandra Völker (GER) 54,88
B: Angel Martino (USA) 54,93
4. van Dyken (USA) 55,11; 5. van Almsick (GER) 55,59; 6. Ryan (AUS) 55,85
200 m Freistil
G: Claudia Poll (CRC) 1:58,16 min
S: Franziska van Almsick (GER) 1:58,57
B: Dagmar Hase (GER) 1:59,56
4. Jackson (USA) 1:59,57; 5. O'Neill (AUS) 1:59,87; 6. Teuscher (USA) 2:00,79
400 m Freistil
G: Michelle Smith (IRL) 4:07,25 min
S: Dagmar Hase (GER) 4:08,30
B: Kirsten Vlieghuis (NED) 4:08,70
4. Kielgaß (GER) 4:09,83; 5. C. Poll (CRC) 4:10,00; 6. Geuris (NED) 4:10,06
800 m Freistil
G: Brooke Bennett (USA) 8:27,89 min
S: Dagmar Hase (GER) 8:29,91
B: Kirsten Vlieghuis (NED) 8:30,84
4. Kielgaß (GER) 8:31,06; 5. Dalby (Nor) 8:38,34; 6. Evans (USA) 8:38,91
100 m Rücken
G: Beth Botsford (USA) 1:01,19 min
S: Whitney Hedgepeth (USA)1:01,47
B: Marianne Kriel (SFA) 1:02,12
4. Nakamura (JPN) 1:02,33; 5. Yan Chen (CHN) 1:02,50; 6. Antje Buschschulte (GER) 1:02,52... Ausgeschieden: Scholz (GER) 1:02,85
200 m Rücken
G: Krisztina Egerszegi (HUN) 2:07,83 min
S: Whitney Hedgepeth (USA) 2:11,98
B: Cathleen Rund (GER) 2:12,06
4. Scholz (GER) 2:12,90; 5. Nakao (JPN) 2:13,57; 6. Simcic (NZL) 2:14,04
100 m Brust
G: Penelope Heyns (RSA) 1:07,73 min (Vorlauf. 1:07,02 WR)
S: Amanda Beard (USA) 1:08,09
B: Samantha Riley (AUS) 1:09,18
4. Bondarenko (UKR) 1:09,21; 5. Lischka (AUT) 1:09,24; 6. Clouthier (CAN) 1:09,40... Ausgeschieden: Dumitru (GER) 1:11,92
200 m Brust
G: Penelope Heyns (RSA) 2:25,41min
S: Amanda Beard (USA) 2:25,75
B: Agnes Kovacs (HUN) 2:26,57
4.Riley (AUS) 2:27,91; 5. Tanaka (JPN) 2:28,05; 6. Neumann (AUS) 2:28,34... Ausgeschieden: Dumitru (GER) 2:37,07
100 m Schmetterling
G: Amy van Dyken (USA) 59,13 s
S: Limin Liu (CHN) 59,14
B: Angel Martino (USA) 59,23
4. Kashima (JPN) 1:00,11; 5. O'Neill (AUS) 1:00,17; 6. Aoyama (JPN) 1:00,18... Ausgeschieden: Voitowitsch (GER) 1:01,14
200 m Schmetterling
G: Susan O'Neill (AUS) 2:07,76 min
28
S: Petria Thomas (AUS) 2:09,82
B: Michelle Smith (IRL) 2:09,91
4. Yun Que (CHN) 2:10,26; 5. Limin Liu (CHN) 2:10,70; 6. Deglau (CAN) 2:11,40... Ausgeschieden: Herbst (GER) 2:16,66
200 m Lagen
G: Michelle Smith (IRL) 2:13,93 min
S: Marianne Limpert (CAN) 2:14,35
B: Li Lin (CHN) 2:14,74
4. Malar (CAN) 2:15,30; 5. Overton (AUS) 2:16,04; 6. Wagner (USA) 2:16,43... Ausgeschieden: Herbst (GER) 2:16,68
400 m Lagen
G: Michelle Smith (IRL) 4:39,18 min
S: Allison Wagner (USA) 4:42,03
B: Krisztina Egerszegi (HUN) 4:42,53
4. Herbst (GER) 4:43,78; 5. Johnson (AUS) 4:44,02; 6. Coada (ROM) 4:44,91... Ausgeschieden: Rund (GER) 4:55,30
4 x 100 m Freistil
G: USA (Angel Martino, Amy van Dyken, Catherine Fox, Jenny Thompson) 3:39,29 min
S: CHN (Jingyi Le, Na Chao, Yun Nian, Ying Shan) 3:40,48
B: GER (Sandra Völker, Simone Osygus, Antje Buschschulte, Franziska
van Almsick) 3:41,48
4. NED 3:42,40; 5. SWE 3:44,91; 6. AUS 3:45,31
4 x 200 m Freistil
G: USA (Trina Jackson, Cristina Teuscher, Sheila Taormina, Jenny Thompson) 7:59,87 min
S: GER (Franziska van Almsick, Kerstin Kielgaß, Anke Scholz, Dagmar
Hase) 8:01,55
B: AUS (Julia Greville, Nicole Stevenson, Emma Johnson, Susan O'Neill) 8:05,47
4. JPN 8:07,46; 5. CAN 8:08,16; 6. NED 8:08,48
4 x 100 m Lagen
G: USA (Beth Botsford, Amanda Beard, Angel Martino, Amy van Dyken) 4:02,88 min
S: AUS (Nicol Stevenson, Samantha Riley, Susan O'Neifl, Sarah Ryan) 4:05,08
B: CHN (Yan Chen, Xue Han, Huijue Cai, Ying Han) 4:07,34
4. RSA 4:08,16; 5. CAN 4:08,29; 6. GER (Buschschulte, Dumitru, van Almsick, Völker) 4:09,22
WASSERSPRINGEN
MÄNNER
Kunstspringen (3 m)
G: Ni Xiong (CHN) 701,46 Pkt.
S: Zhuocheng Yu (CHN) 690,93
B: Mark Lenzi (USA) 686,49
4. Donie (USA) 666,93; 5. Sautin (RUS) 644,67; 6. Murphy (AUS) 640,95... 7. Hempel 622,32... 12. Wels (GER) 583,56
Turmspringen
G: Dimitri Sautin (RUS) 692,34 Pkt.
S: Jan Hempel (GER) 663,27
B: Xiao Hailiang (CHN) 658,20
4. Tian Liang (CHN) 648,18; 5. Timoschinin (RUS) 628,59; 6. Pichler (USA) 607,11... 8. Kühne (GER) 583,98
FRAUEN
Kunstpringen (3 m)
G: Fu Mingxia (CHN) 547,68 Pkt.
S: Irina Laschko (RUS) 512,19
B: Annie Pelletier (CAN) 509,64
4. Mosoes (USA) 507,99; 5. Schupina (UKR) 507,27; 6. Motobuchi (JPN ) 506,04... 11. Bockner 455,70, 16. Simona Koch (alle GER) 444,90
Turmspringen
G: Fu Mingxia (CHN) 521,58 Pkt.
S: Annika Walter (GER) 479,22
B: Mary Allen Clark (USA) 472,95
4. Ruehl (USA) 455,19; 5. Jingjing Guo (CHN) 447,21; 6. Schupina (UKR) 437,01 7...12. Wetzig (GER) 367,35
WASSERBALL
G: ESP
S: CRO
B: ITA
4. HUN; 5. RUS; 6. GRE... 9. GER
SYNCHRONSCHWIMMEN
Gruppe
G: USA (Suzannah Bianco, Tammy Cleland, Becky Dyroen-Lancer, Heather Pease, Jill Savery, Nathalie Schneyder, Heather SimmonsCarrasco, JiU Sudduth) 100,000 Pkt.
S: CAN (Lisa Alexander, Janice Bremner, Karen Clark, Karen Fünteyne, Sylvie Frechette, Christine
Larsen, Cari Read, Erin Woodley) 98,600
B: JPN (Raika Fujii, Rei Jimbo, Miho Kawabe, Akiko Kawase, Riho Nakaji-
ma, Miya Tachibana, Miho Takeda, Junko Tanaka) 97,800
4. RUS 97,400; 5. FRA 96,333; 6. ITA 94, 533
SEGELN
MÄNNER
29
470er
G: Jewgeni Braslawets/ Igor Matwijenko (UKR) 40 P
S: John Merricks/lan Walker (GBR) 61
B: Nuno Barreto/ Vitor Rocha (POR) 62
4. Leskinen/Aarnikka (FIN) 65; 5. Ber-joskin/ Burmatnow (RUS) 67; 6.J-F. Berthet/G. Berthet (FRA) 72...12. Rensch/ Haverland (GER) 105
Finn-Dinghy
G: Mateusz Kusznierewicz (POL)32 P.
S: Sebastien Godefroid (BEL) 45 45
B: Roy Heiner (NED) 50
4. Spitzauer (AUT) 54; 5. Loof (SWE) 57; 6. McKenzie (AUS) 67... 20. Fellmann (GER) 121
Mistral
G: Nikolaos Kaklamanakis (GRE) 17 P.
S: Carlos Espinola (ARG) 19
B: Gal Fridman (ISR) 21
4. McIntosh (NZL) 27; 5. de Chavigny (FRA) 37; 6.Gebhardt (USA) 41...10. Bornhäuser (GER) 60
FRAUEN
470er
G: Theresa ZabeIl/Begona via Dufresne (ESP) 25 Pkt.
S: Yumiko Shige/ Alicia Kinoshita (JPN) 36
B: Ruslana Taran/ Olena Pacholtschik (UKR) 38
4. Stookey/van Voorhis (USA) 47; 5. Bauckholt/ Adlkofer (GER) 49; 6. Ward/ Ward (DEN) 56
Europe
G: Kristine Roug (DEN) 24 Pkt.
S: Margriet Matthysse (NED) 30
B: Courtenay Becker-Dey (USA) 39
4. Robertson (GBR) 41; 5. Ferris (NZL) 73; 6. Sibylle Powarzynski (GER)
Mistral
G: Lai-Shan Lee (HGK) 16 Pkt.
S: Barbara Kendall (NZL) 24
B: Alessandra Sensini (ITA) 28
4. Ke Li (CHN) 29, 5. Horgen (NOR) 31; 6. Staszewska (POL) 38
Mix
Soling
G: GER (Jochen Schümann, Thomas Flach, Bernd Jäkel)
S: RUS (Georgi Schaiduko, Igor Skalin,Dimitri Schabanow)
B: USA (Jeff Madrigali, Jim Barton,
Kent Massey)
4. GBR, 5. DEN und CAN
Starboot
G: Torben Grael/ Marcelo Ferreira (BRA) 25 Pkt.
S: Hans Wallen/ Bobbie Lohse (SWE) 29
B: Colin Beahsel/ David Giles (AUS) 32
4. Bountouris/Boukis (GRE) 45; 5. Davis/Cowie (NZL) 46; 6. Chieffi/Sinibaldi (ITA) 52... 10. Butzmann/ Falkenthal (GER) 66
Laser
G: Robert Scheidt (BRA) 26 Pkt.
S: Ben Ainslee (GBR) 37
B: Peer Moberg (NOR) 46
4. Blackburn (AUS) 48, 5. Warkalla (GER) 54; 6. Harrysson (SWE) 55
Tornado
G: Fernando Leon/ Jose Luis Ballester (ESP) 30 Pkt.
S: Mitch Booth/ Andrew Landenberger (AUS) 42
B: Lars Grael/ Kiko Pellicano (BRA) 43
4. Hagara/Schneeberger (AUT) 44; 5. Pirinoli/ Pirinoli (ITA) 44; 6. le Peutrec/Citeau (FRA) 46... 7. Gäbler/ Parlow (GER) 48
SOFTBALL
G: USA
S: CHN
B: AUS
4. JPN, 5. CAN, 6. TPE
TENNIS
Männer - Einzel
G: Andre Agassi (USA)
S: Sergi Bruguera (ESP)
B: Leander Paes (IND)
4. Meligeni (BRA)
Ausgeschieden: Goellner (GER)
Männer - Doppel
G: Todd Woodbridge/
Mark Woodforde (AUS)
S: Neil Broad/ Tim Henman (GBR)
B: Marc-Kevin Goellner/ David Prinosil (GER)
4. Eltingh/Haarhuis (NED)
Frauen - Einzel
G: Lindsay Davenport (USA)
S: Arantxa Sanchez-Vicario (ESP)
B: Jana Novotna (CZE)
4. Mary Joe Fernandez (USA)
Frauen - Doppel
G: Gigi Fernandez/ Mary Fernandez (USA)
S: Jana Novotna/ Helena Sukova (CZE)
B: Conchita Martinez/ Arantxa Sanchez-Vicario (ESP)
4. Bollegraf/Schulz-McCarthy (NED)
30
TISCHTENNIS
Männer - Einzel
G: Liu Guoliang (CHN)
S: Wang Tao (CHN) ,
B: Jörg Roßkopf (GER)
4. Korbel (CZE); 5. Kim Taek Soo (SKR); 6. Huang (CAN), Saive (BEL) und Samsonow (BLR)...Ausgeschieden: Fetzner; Franz (alle GER)
Männer - Doppel
G: Kong Linghui/ Liu Guoliang (CHN)
S: Lu Lin/Wang Tao (CHN)
B: Lee Chul-Seung/ Yoo Nam-Kyu (SKR)
4. Roßkopf/Fetzner (GER); 5. Kang Hee-Chari/Kim Taek-Soo (SKR), Eloi/Gatien (FRA), Matsushita/Shibutani (JPN) und Persson/Waldner (SWE)
Frauen - Einzel
G: Deng Yaping (CHN)
S: Chen Jing (TPE)
B: Qiao Hong (CHN)
4. Liu Wei (CHN); 5. Nicole Struse (GER); Kim Hyon (PRK); Koyama (JPN); Chan Tan-Lui (HGK)
Frauen - Doppel
G: Deng Yaping/Qiao Hong (CHN)
S: Liu Wei/Qiao Yunping (CHN)
B: Park Hae-Jung/Ryu Ji-Hae (SKR)
4.Kim Moo Kyo/Park Kyoung Ae (SKR), 5. Chen Chiu Tan/Chen Jing (TPE), Chai Po Wa/Chan Tan Lui (HGK), Palina/Timina (RUS) und Koyama/Todo (JPN)
TURNEN
MÄNNER
Mehrkampf - Einzel
G: Li Xiaoshuang (CHN) 58,423 P
S: Alexej Nemow (RUS) 58,374
B: Witali Scherbo (BLR) 58,197
4. Zhang Jinjing (CHN) 58,148; 5. Shen Jian (CHN) 57,861; 6. Belenki (GER) 57,848... 13. Wecker 57,412; 23. Nikiferow (alle GER) 56,824
Mehrkampf - Mannschaft
G: RUS (Sergej Scharkow, Nikolai Krukow, Alexej Nemow, Eugeni Podgorni, Dimitri Trusch, Dimitri Wasilenko, Alexej Woropajew) 576,778 P.
S: CHN (Bin Fan, Hongbin Fan, Huadong Huang, Liping Huang, Li Xiaoshuang, Shen Jian, Zhang Jinging) 575,539
B: UKR (Igor Korobschinski, Oleg Kosiak, Grigori Misutin, Wladimir Schamenko, Rustam Scharipow, Alexander Swetlitschni, Juri Jermakow) 571,541
4. BLR 571,381; 5. USA 570,618; 6. BUL 567,567... 7. GER (Wecker, Belenki, Nikiferow, Walther, Billerbeck, Oelsch, Toba) 567,405
Boden
G: loannis Melissanidis (GRE) 9,850 P
S: Li Xiaoshuang (CHN) 9,837
B: Alexej Nemow (RUS) 9,800
4. Aymes (FRA); Ivanov (BUL) je 9,750, 6. Podgorny (RUS) 9,550
Seitpferd
G: Li Donghua (SUI) 9,875 P
S: Marius Urzica (ROM) 9,825
B: Alexej Nemow (RUS) 9,787
4. Casimir (FRA) 9,762; 5. Huadong Huang (CHN); Hatakeda (JPN) je 9,712
Ringe
G: Juri Chechi (ITA) 9,887 P
S: Dan Burinca (ROM) 9,812
B: Szilveszter Csollany (HUN) 9,812
4. Jovtchev (BUL) 9,800; 5. Wecker (GER); Hongbin Fan (CHN) je 9,762
Pferdsprung
G: Alexej Nemow (RUS) 9,787 P
S: Yeo Hong-Chul (SKR) 9,756
B: Witali Scherbo (BLR) 9,724
4. Ivanov (BUL); Li Xiaoshuang (CHN) je 9,643; 6. Woropajew (RUS) 9,618
Barren
G: Rustam Scharipow (UKR) 9,837 P
S: Jair Lynch (USA) 9,825
B: Witali Scherbo (BLR) 9,800
4. Nemow (RUS); Jingjing Zhang (CHN) je 9,750, 6.Huang Liping (CHN) 9,737
Reck
G: Andreas Wecker (GER) 9,850 P
S: Krasimir Dounev (BUL) 9,825
B: Witali Scherbo (BLR) 9,800
Fan Bin (CHN) 9,800
Alexej Nemow (RUS) 9,800
6. Woropajew (RUS) 9,712
FRAUEN
Mehrkampf-Einzel
G: Lilia Podkopajewa (UKR) 39,255 P
S: Gina Gogean (ROM) 39,075
B: Lavinia Milosovici (ROM) 39,067
Simona Amanar (ROM) 39,067
5. Mo Huilan (CHN) 39,049; 6. Koschet-kowa (RUS) 38,980
Mehrkampf-Mannschaft
G: USA (Amanda Borden, Jaycie Phelps, Amy Chow, Shannon Miller, Dominique Dawes, Dominique Moceanu, Kerri Strug) 389,225 P
31
S: RUS (Eugenia Kusnetsowa, Oksana Liapina, Elena Groschewa, Swetlana Schorkina, Elena Dolgopolowa, Dina Koschetkowa, Rozalia Galiewa) 388,404
B: ROM (lonela Loaies, Mirela Tugurlan, Gina Gogean, Alexandra Marinescu, Lavinia Milosovici, Simona Amanar) 388,246
4. CHN 385,867; 5. UKR 385,841; 6. BLR 381,263
Sprung
G: Simona Amanar (ROM) 9,825 P
S: Huilan Mo (CHN) 9,768
B: Gina Gogean (ROM) 9,759
4. Galiewa (RUS) 9,743; 5. Boginskaja (BLR) 9,712; 6. Dawes (USA) 9,649
Stufenbarren
G: Swetlana Schorkina (RUS) 9,850 P
S: Amy Chow (USA) 9,837
S: Wenjing Bi (CHN) 9,837
4.Dawes (USA) 9,800; 5. Podkopajewa (UKR); Koschetkowa (RUS); Amanar (ROM) je 9,787
Schwebebalken
G: Shanonn Miller (USA) 9,862 P
S: Lilia Podkopajewa (UKR) 9,825
B: Gina Gogean (ROM) 9,787
4. Koschetkowa (RUS) 9,737; 5. Teslenko (UKR) 9,625; 6. Moceanu (USA) 9,125
Boden
G: Lilia Podkopajewa (UKR)9,887 P
S: Simona Amanar (ROM) 9,850
B: Dominique Dawes (USA) 9,837
4. Moceanu (USA) 9,825; 5. Koschetkowa (RUS) 9,800, 6. Huilan Mo(CHN) 9,700
SPORTGYMNASTIK
Einzel
G: Jekaterina Serebrianskaja (UKR)
39,683 P
S: Janina Batirschina (RUS) 39,382
B: Jelena Witrischenko (UKR) 39,331
4. Zaripowa (RUS) 39,264; 5. Petrova (BUL) 38,999; 6. Serrano (FRA) 38,816... 10. Brzeska 38,315; Ausgeschieden: Sroka (alle GER) 37,133.
Mannschaft
G: ESP (Marta Baldo, Nuria Cabanillas, Esteia Girnenez, Lorena Gurendez, Tania Lamarca, Estibafiz Martinez) 38,933 P
S: BUL (Ina Deltscheva, Valentina Kevlian, Maria Koleva, Maja Tabakova, Ivalina Taleva, Vjara Vataschka) 38,866
B: RUS (Ewgenia Botschkarjowa, Olga Schtyrenko, Irina Dshuba, Angelina Juschkowa, Julia lwanowa, Elena Kriwoschei) 38,365
4. Fra 38,199; 5. CHN 37,999; 6. BLR 37,982... Ausgeschieden: GER (Bittner, Hoffmann, Jung, Schlitz, Stäblein, Wildermuth) 37,882.
VOLLEYBALL
MÄNNER
G: NED
S: ITA
B: YUG
4. RUS; 5.BRA; 6. CUB
FRAUEN
G: CUB
S: CHN
B: BRA
4. RUS; 5. NED; 6. SKR
Die teilnehmenden Länder
AFG Afghanistan
AHO Niederländische Antillen
ALB Albanien
ALG Algerien
AND Andorra
ANG Angola
ANT Antigua und Barbuda
ARG Argentinien
ARM Armenien
ARU Aruba
ASA Am.-Samoa
AUS Australien
AUT Österreich
AZE Aserbaidschan
BAH Bahamas
BAN Bangladesh
BAR Barbados
BDI Burundi
BEL Belgien
BEN Benin
BER Bermudas
BHU Bhutan
BIH Bosnien-Herzeg.
BIZ Belize
BLR Belorußland
BOL Bolivien
BOT Botswana
BRA Brasilien
BRN Bahrain
BRU Brunei
BUL Bulgarien
BUR Burkina Faso
CAF Zentralafrik.Rep.
CAM Kambodscha
CAN Kanada
CAY Cayman-Inseln
CGO VR Kongo
CHA Tschad
32
CHI Chile
CHN VR China
CIV Goldküste
CMR Kamerun
COK Cook-Inseln
COL Kolumbien
COM Komaren
CPV Kapv. Inseln
CRC Kostarica
CRO Kroatien
CUB Kuba
CYP Zypern
CZE Tschech.Republik
DEN Dänemark
DJI Dschibuti
DMA Dominica
DOM Dominik.Republik
ECU Ekuador
EGY Ägypten
ESA EI Salvador
ESP Spanien
EST Estland
ETH Äthiopien
FIJ Fidschi-Inseln
FIN Finnland
FRA Frankreich
GAB Gabun
GAM Gambia
GBR Großbritannien
GEO Georgien
GEQ Äquat.-Guinea
GER BR Deutschkland
GHA Ghana
GNB Guinea-Bissau
GRE Griechenland
GRN Grenada
GUA Guatemala
GUI Guinea
GUM Guam
GUY Guyana
HAI Haiti
HGK Hongkong
HON Honduras
HUN Ungarn
INA Indonesien
IND Indien
IRI Islam.Rep. Iran
IRL Irland
IRQ Irak
ISL Island
ISR Israel
ISV Jungfern-Inseln
ITA Italien
IVB Brit.Jungferninseln
JAM Jamaika
JOR Jordanien
JPN Japan
KAZ Kasachstan
KEN Kenia
KGZ Kirgisien
KSA Saudi-Arabien
KUW Kuweit
LAO Laotische VR
LAT Lettland
LBA Libysche A. Y.
LBR Liberia
LCA Saint Lucia
LES Lesotho
LIB Libanon
LIE Liechtenstein
LTU Litauen
LUX Luxemburg
MAD Madagaskar
MAR Marokko
MAL Malaysia
MAW Malawi
MDA Moldawien
MDV Malediven
MEX Mexiko
MGL Mongolei
MKD Früh. Mazedonien
MLI Mali
MLT Malta
MON Monaco
MOZ Mocambique
MRI Mauritius
MTN Mauretanien
MYA Myanmar
NAM Namibia
NCA Nikaragua
NED Niederlande
NEP Nepal
NGR Nigeria
NIG Niger
NOR Norwegen
NRU Nauru
NZL Neuseeland
OMA Oman
PAK Pakistan
PAN Panama
PAR Paraguay
PER Peru
PHI Philippinen
PLE Palästina*
PNG Papua-Neug.
POL Polen
POR Portugal
PRK Dem. VR Korea
33
PUR Puerto Rico
QAT Katar
ROM Rumänien
RSA Südafrika
RUS Russ. Föderation
RWA Ruanda
SAM Westsamoa
SEN Senegal
SEY Seychellen
SIN Singapur
SKN St. Kitts u. Nevis
SKO Südkorea
SLE Sierra Leone
SLO Slowenien
SMR San Marine
SOL Solomon-Inseln
SOM Somalia
SRI SriLanka
STP Sao Tome u.
Principe
SUD Sudan
SUI Schweiz
SUR Surinam
SVK Slowakei
SWE Schweden
SWZ Swaziland
SYR Syrische A. R.
TAN V. Rep.Tansania
TGA Tonga
THA Thailand
TJK Tadschikistan
TKM Turkmenien
TOG Togo
TPE Chin. Taipeh
TRI Trinidad u.Tob.
TUN Tunesien
TUR Türkei
UAE V. A. Emirate
UGA Uganda
UKR Ukraine
URU Uruguay
USA V. St.v. Amerika
UZB Usbekistan
VAN Vanuata
VEN Venezuela
VIE Vietnam
VIN St. Vincent und
die Grenadines
YEM Jemen
YUG Jugoslawien
ZAI Zaire
ZAM Sambia
ZIM Simbabwe
Die Verteilung der
Medaillen
USA 44 32 25
Rußland 26 21 16
Deutschland 20 18 27
China 16 22 12
Frankreich 15 7 15
Italien 13 10 12
Australien 9 9 23
Kuba 9 8 8
Ukraine 9 2 12
Südkorea 7 15 5
Polen 7 5 5
Ungarn 7 4 10
Spanien 5 6 6
Rumänien 4 7 9
Niederlande 4 5 10
Griechenland 4 4 0
Tschechien 4 3 4
Schweiz 4 3 0
Dänemark 4 1 1
Türkei 4 1 1
Kanada 3 11 8
Bulgarien 3 7 5
Japan 3 6 5
Kasachstan 3 4 4
Brasilien 3 3 9
Neuseeland 3 2 1
Südafrika 3 1 1
Irland 3 0 1
Schweden 2 4 2
Norwegen 2 2 3
Belgien 2 2 2
Nigeria 2 1 3
Nordkorea 2 1 2
Algerien 2 0 1
Äthopien 2 0 1
Großbritannien 1 8 6
Weißrußland 1 6 8
Kenia 1 4 3
Jamaika 1 3 2
Finnland 1 2 1
Indonesien 1 1 2
Jugoslawien 1 1 2
Iran 1 1 1
Slowakei 1 1 1
Armenien 1 1 0
Kroatien 1 1 0
Portugal 1 0 1
Thailand 1 0 1
Burundi 1 0 0
Costa Rica 1 0 0
Ekuador 1 0 0
Hongkong 1 0 0
34
Syrien 1 0 0
Argentien 0 2 1
Namibia 0 2 0
Slowenien 0 2 0
Österreich 0 1 2
Malaysia 0 1 1
Moldawien 0 1 1
Usbekistan 0 1 1
Aserbaidschan 0 1 0
Bahamas 0 1 0
Lettland 0 1 0
Philippinen 0 1 0
Sambia 0 1 0
Taiwan 0 1 0
Tonga 0 1 0
Georgien 0 0 2
Marokko 0 0 2
Trinidad u. Tobago 0 0 2
Indien 0 0 1
Israel 0 0 1
Litauen 0 0 1
Mexiko 0 0 1
Mongolei 0 0 1
Mosambik 0 0 1
Puerto Rico 0 0 1
Tunesien 0 0 1
Uganda 0 0 1
35
Atlanta und der deutsche Sport
Von Helmut Horatschke
Die deutsche Olympiamannschaft flog mit dem Ziel nach Atlanta, das Ergebnis von Barcelona zu wiederholen (NOK - Präsident Tröger). Mit dem dritten Platz in der Medaillenwertung der Länder lehnt man sich vielerorts befriedigt zurück. Die Akte über das Gesamtabschneiden der deutschen Olympiamannschaft scheint geschlossen.
Zum Ergebnis von Barcelona gehörte aber nicht nur dieser dritte Platz, sondern auch die deutsche Medaillenbilanz. Hier der Vergleich:
Gold Silber Bronze Medaillen gesamt
1988 Seoul DDR 37 35 30 102
BRD 11 14 15 40
1992 Barcelona 33 21 28 82
1996 Atlanta 20 18 27 65
Im Vergleich zum Ergebnis der DDR in Seoul verlor die deutsche Mannschaft in Barcelona bereits 19 Prozent des Leistungvermögens. In Atlanta kam ein weiterer Verlust von 20 Prozent der Medaillen, davon 40 Prozent der Goldmedaillen hinzu. Dieser Absturz um 13 Gold-, 3 Silber- und 1 Bronzemedaille ist olympischer Negativrekord von Atlanta!
Die Plätze 4 - 6 können außer Betracht bleiben, weil hier keine wesentlichen Veränderungen eingetreten sind. Unberücksichtigt bleibt auch, daß in Atlanta 14 Disziplinen mehr ausgetragen wurden als in Barcelona und damit 42 neue Möglichkeiten eines Medaillengewinns auch für die deutsche Mannschaft zusätzliche Chancen boten.
Zu kritischem Nachdenken müsste auch die Bilanz der einzelnen Sportarten anregen. Weltweit Spitzenpositionen belegten:
1988 1992 1996
Kanu (DDR) Kanu Kanu
Reiten (BRD) Reiten Reiten
Rudern (DDR) Rudern
36
Schwimmen (DDR) Radsport
Fechten (BRD) Hockey
Zurückgefallen sind: Rudern - auf Platz 2 - ,Hockey - auf Platz 5 -, Radsport - auf Platz 7 -, Fechten - auf Platz 8 - und Schwimmen auf Platz 11.
Leistungseinbußen verzeichnen auch die Sportarten Handball, Tennis, Boxen, Ringen, Gewichtheben und Tischtennis. Selbst im Kanu gingen 2 Goldmedaillen verloren. Die besseren Ergebnisse im Wasserspringen, Kanuslalom, Segeln, Judo, Schießen und Bogenschießen können den Absturz bisher führender Sportarten nicht annähernd ausgleichen.
Angesichts dieser Schwäche der deutschen Mannschaft und der Aufteilung der UdSSR in selbständige Länder war es den USA ohne große Mühe möglich) trotz eines Verlustes von 7 Medaillen 7 Goldmedaillen mehr zu gewinnen und den Platz an der Spitze wieder einzunehmen, von dem sie 1972 hinter die UdSSR und 1976 / 1988 auch noch hinter die DDR zurückgefallen war.
Daß es sich bei dieser negativen Bilanz um ein extrem deutsches Problem handelt, bewiesen
Italien mit einem Plus von 16 Medaillen davon 7 Goldmedaillen
Frankreich 8 7
Australien 14 2
Gemeinsam mit China dürften sie in Sidnev als ernsthafte Konkurrenten um den dritten Rang in der Länderwertung zu erwarten sein. Im Gegensatz zum deutschen Sport halten es diese Länder (wie übrigens auch Norwegen,die Schweiz und andere) für durchaus opportun, sich an Erfahrungen des DDR- Sportes zu orientieren, sich von seinen Fachleuten beraten zu lassen und die in der Bundesrepublik Deutschland "abgewickelten" DDR-Spitzentrainer zu verpflichten.
In Kommentaren zum deutschen Ergebnis konnte man lesen und hören, daß es sich um ein biologisch ganz natürliches „Aufbrauchen“ der personellen Hinterlassenschaft der DDR handelt.
Trifft das zu ?
In der deutschen Olympiamannschaft standen 477 Sportlerinnen und Sportler.
265 aus den alten Bundesländern
175 aus der ehemaligen DDR und
37
37 eingebürgerte ausländische Sportler.
Auf die ehemaligen DDR-Sportler entfielen 33 an der 65 deutschen Medaillen, auf die der alten Bundesländer 27 und auf eingebürgerte ausländische Sportler 5 Bronzemedaillen.
Im einzelnen gewannen 48 ehemalige DDR - Sportler
65 Prozent der Goldmedaillen
55 Prozent der Silbermedaillen und
35 Prozent der Bronzemedaillen
16 von 25 vierten Plätzen vervollständigen dieses Bild, während auf den 5. und 6. Plätzen Sportler der alten Bundesländer dominierten. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß 250 deutsche Athleten keine Plazierung unter den ersten sechs erreichten. Der besonders empfindliche Verlust an Goldmedaillen gegenüber Barcelona ist auf einen Leistungsabfall bei
ehemaligen DDR - Sportlern um 26,2 Prozent und bei
Sportlern der alten Bundesländer um 44,7 Prozent zurückzuführen.
Bei einer getrennten Wertung würden die Sportler der DDR den sechsten Platz (Barcelona noch dritter ) in der Ländertabelle, die der alten Bundesländer einschließlich eingebürgerten ausländischen Sportlern den 11. Platz (Barcelona noch siebenter) belegen.
Sinn dieser Beweiaführung ist deutlich zu machen, daß es hier nicht nur um einen ersatzlosen Verbrauch von DDR-Hinterlassenschaft, sondern um eine handfeste Misere des heutigen deutschen Sportes in allen Bundesländern geht.
Bedenklich für das internationale Ausehen und das Abschneiden bei den Olympischen Spielen in Sidney kann die Situation werden, wenn im deutschen Sport niemand den Mut findet, sich mit der von der Alt-BRD überkommenen Konzeption der Sportförderung kritisch auseinanderzusetzen und sie (auch mit Hilfe von DDR-Erfahrungen und deren Fachleuten) durch eine moderne Konzeption umgehend abzulösen. Allerdings müßte man sich dann von dem einfachen Erklärungsmuster verabschieden, daß DDR-Erfolge auf "flächendekkendem" Doping beruhten. Schließlich haben gerade in der DDR aufgewachsener Sportler inzwischen bei zwei Olympischen Spielen, bei Welt- und Europameisterschaften bewiesen, daß sie im vorgeblich dopingfreien deutschen Sport zu gleichen oder noch besseren Leistungen fähig sind. Hatte demnach der DDR - Sport nicht noch andere Qualitäten? Wer das
38
nicht anerkennen will müßte zwangsläufig bei der abwegigen Vermutung landen,daß auch im heutigen deutschen Sport "flächendeckend" gedopt wird...
Eines der größten Defizite in den Führungsetagen des deutschen Sportes scheint sportfachliohe Kompetenz auf der Grundlage einer soliden sportwissenschaftlichen Qualifikation zu sein. Beispiele aus dem Sohwimmen, Rudern und anderen Sportarten lassen vermuten, daß "Nieten in Nadelstreifen" - die Formulierung stammt nicht von mir, sondern bekanntlich von betroffenen Athleten -, sachkompetente Verantwortung mit persönlicher Imagepflege verwechseln.
Eine kleine Schar private Kassen füllender hochbezahlte Profis - das Gros der Olympiastarter waren wolgemerkt keine Profis - und eine große Schar Athleten im sportlichem Mittelmaß und im persönlichen finanziellen Notstand - soll so die Zukunft des deutschen Sportes aussehen? Will man weiter Sportler im Ausland kaufen, statt eigene Talente zu fördern?
Auch wenn man den Spitzen- oder Leistungssport nicht für das Wichtigste am Sport hält - in seinen olympischen Ergebnissen spiegelt sich wider, was in einem Land an Sportförderung geleistet oder unterlassen wird. Das wird auch in den deutschen Politik- und Sportzentralen nicht geleugnet.
39
Die geteilte Gemeinsamkeit der
Deutschen*)
Von Karl Adolf Scherer
Die einen polieren ihre Medaillen, die anderen lecken ihre Wunden. Auf vielen Ebenen wird die sportliche Bilanz von Atlanta gezogen. Wundersame Erkenntnisse kommen dabei heraus. Eine ist unter dem Aspekt der neuen deutschen Gemeinsamkeit seit 1989/90 so zu formulieren: Die sportpolitischen Führungskräfte aus dem Westen halten das Steuer des Luxuswagens Leistungssport in der Hand, für die gute Fahrt holen sie sich den Treibstoff aus dem Osten. Der "neue Deutsche", der weder aus dem Westen noch aus dem Osten kommt, sondern nur aus Deutschland, wird frühestens 2000 in Sydney an den olympischen Start gehen.
Bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta hat die deutsche Mannschaft mit ihren 481 Teilnehmern 65 Medaillen gewonnen, 20 goldene, 18 silberne und 27 bronzene. An dieser Sammlung, mit der ein dritter Platz im Medaillenspiegel hinter den USA und Rußland aber vor China, Frankreich, Italien und Australien eingenommen werden konnte, waren insgesamt 103 Damen und Herren beteiligt. Es gab genug Rechner, die über den Daumen peilten und dabei eine klare Dominanz der ehemaligen DDR herausgefunden haben wollten und diese damit begründeten, daß der Spitzensport hierzulande zu einem erheblichen Teil immer noch von den Zöglingen der Kinder- und Jugendsportschulen des einstigen Arbeiter- und Bauernstaates profitiert.
Eine Aufschlüsselung der Medaillengewinner ergibt folgendes Gruppenbild: . 50 Medaillengewinner kommen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR, 46 aus dem Bereich der Bundesrepublik Deutschland, und sieben sind eingebürgerte Ausländer, die ihren Sport außerhalb der deutschen Grenzen begonnen haben...
Was das sportliche Kräfteverhältnis zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland angeht, so ist ein Griff in die Geschichte ein interessantes Lehrstück. Nach der Einführung der "doppelten Deutschen" 1968 durch die Auflösung der gesamtdeutschen Olympiamannschaft, die sechsmal in der Arena
40
erschien, war die DDR immer die erfolgreichere der völlig gegensätzlichen deutschen Sportmächte... Wenn man will, hat sich diese Führungsrolle bis heute nicht geändert. Sie wird erst dann sich auflösen und verschwinden, wenn die alten Rechnungen beglichen sind. Irn Sport kann es nicht anders sein als in der Politik. Je offener über die alten Strukturen gesprochen wird, die hier wie dort immer wieder zu Vorbehalten führen, um so besser für die Perspektive 2000.
*) Entnommen dem offiziellen DSB-Pressedienst Nr. 35 (27.8.1996)
41
DISSERTATION (Teil 2):
Empirisch-theoretische Studie zu
entwicklungsbestimmenden
Bedingungen des Leistungssports der DDR.
Von Karsten Schumann:
Rezension und Auszüge von Heinz Schwidtmann
Nachfolgend sollen - wie im Heft 2 der „Beiträge zur Sportgeschichte“ angekündigt (S. 43) - weitere Auszüge aus den von K. Schumann dargestellten Bedingungen des Leistungssports in der DDR veröffentlicht werden.
In diesem Teil der Auszüge wird noch deutlicher, daß der Autor sich in seiner Dissertation bemüht, Erfahrungen und Meinungen von Experten und Insidern verschiedener Verantwortungsebenen und -bereiche sowie ein gründliches Quellenstudium zu nutzen, um Aufschluß über das Problemfeld zu gewinnen. So gelingen unseres Erachtens zeitgeschichtliche Wertungen und Urteile aus einer relativ unbefangenen Sicht und ohne nostalgische Verklärungen, die verständlicherweise nicht frei von Ungenauigkeiten sind. Es ist aber besonders in dem Kapitel zu den Bedingungen abzusehen, daß er maßgebliche Ursachen der leistungssportlichen Entwicklung und des erreichten Leistungs-niveaus dargestellt und unter verschiedenen Gesichtspunkten erörtert hat, besonders den langfristigen Leistungsaufbau und das Wirken des Trainers in diesem Prozeß. Auch das Zusammenspiel der Bedingungen belegt er deutlicher als das in anderen Verlautbarungen geschah und geschieht. Insbesondere die von ihm gewählte Konzentration auf die hauptsächlichen Bedingungen , die für die leistungssportliche Entwicklung bedeutsam sind, läßt erkennen, daß er zum Wesen der Erfolge des DDR-Leistungssports vorgedrungen ist. Dabei ist sich der Autor durchaus bewußt,daß gesamtgesellschaftliche, ökonomische oder soziale und andere Rahmenbedingungen im Gesamtprozeß des langfristigen Leistungsaufbaus wirksam sind und auch die
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spezifischen Entwicklungsbedingungen beeinflussen, so daß davon eigentlich nicht oder kaum abstrahiert werden kann. Entsprechend dem Anliegen der Dissertation waren aber jene spezifischen Bedingungen zu untersuchen, welche die Systemreflexion des Leistungssports - unter den gegebenen Rahmenbedingungen - auf unterschiedlichen Ebenen ebenso ermöglichten wie jenes Maß an Lern- und Innovationsleistungen, Neuheit und Originalität, welche infolge der außerordentlichen Dynamisierung der Geschichtlichkeit von sportlichen Höchst-leistungen in unserer Zeit für ein dauerhaft international relevantes Leistungsniveau notwendig waren und ganz offensichtlich auch sind. Dabei spannt er den Bogen vom Kinder- und Jugendsport und von der Talenterkennung über den langfristigen Leistungsaufbau und das Förderstufensystem bis zur Forschung und zur praxisrelevanten Aneignung neuester Forschungsergebnisse durch den Trainer, ohne sich an der Wertung und Gewichtung einzelner Bedingungen zu versuchen bzw. der Gefahr, einseitiger Bewertungen und der Mißachtung der Komplexität zu erliegen. Wie das zum Nachteil der Nachwuchs- und der Leistungsentwicklung heute üblich zu sein scheint. Denn gerade das haben sowohl die von den verantwortlichen Funktionären für die Vorbereitung der Olympiamannschaft gemachten Prognosen und mehr noch die bisherigen Verlautbarungen über das Erreichte und seine Ursachen in geradezu bedrückender und für die Betreffenden in blamabler Weise bestätigt. Das gilt insbesondere für die Tatsache, daß ganz offensichtlich einzelne strukturelle Maßnahmen die fehlenden Konzepte ersetzen sollen, letztlich aber nur die eklatante Konzeptionslosigkeit - und vermutlich - die Unfähigkeit, verschleiern, konzeptionelle Lösungen für komplexe Entwicklungsprozesse, wie den Hochleistungssport bzw. den langfristigen Leistungsaufbau sportlicher Spitzenleistungen, überhaupt vorlegen zu können.
Das alles sollte auch jene beschämen, die sich an der Verdrängung und Ausgrenzung ostdeutscher Trainer, Wissenschaftler, Sportmediziner, Informatiker, Ingenieure u.a. aus dem Leistungssport und der für die interdisziplinäre Arbeit befähigten Wissenschaftler, einschließlich der Nachwuchswissenschaftler, von Hochschulen und Instituten mit
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dem Pathos der Heiligsprechung des, wenn auch noch so mittelmäßigen, Eigenen und der Verdammung des Fremden beteiligten und noch beteiligen.
Im Ergebnis all dessen zeichnet sich nun immer deutlicher ab, daß die Prophezeihung Edzard Reuter's, man könnte in absehbarer Zeit "viertklassig" werden, nicht mehr zu verbergende oder auch schön zu redende Realität ist.
AUSZÜGE AUS DER DISSERTATION
Bedingungen der Entwicklung des Leistungssports in der DDR
Im Mittelpunkt der nachfolgenden Erörterungen stehen jene Bedingungen, welche sowohl die Entwicklung des Leistungsports in der DDR als auch die Realisierung seiner Gesamtzielstellung zu den jeweiligen Wettkampfhöhepunkten maßgeblich und nachhaltig bestimmten. Eine übergreifende und zugleich bis ins Detail gehende Darstellung kann in diesem Kapitel allerdings nicht geleistet werden. Das muß weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, die sich unmittelbar mit den einzelnen Bedingungen beschäftigen.
Grundlegend und entscheidend für die Leistungsentwicklung im Leistungssport der DDR war"die Anerkennung der primären Rolle des Trainings und des Trainers"368) in diesem Prozeß. Diesbezüglich ist RÖDER vorbehaltlos zuzustimmen. Das Gesamtsystem der Leistungsvorbereitung in den geförderten Sportverbänden diente der wissenschaftlich begründeten Gestaltung des Trainings der Athleten in seiner Gesamtheit, eingeordnet in den Prozeß der Lebensgestaltung der Athleten als Ganzes, und der Befähigung des Trainers, den komplexen Prozeß der Leistungsvorbereitung als pädagogischen Prozeß zu führen. Das hieß, der Trainer war zu unterstützen, den Gesamtprozeß zu analysieren und einzuschätzen, wissenschaftlich begründete Trainingsziele und -aufgaben abzuleiten und gemeinsam mit den Athleten festzulegen sowie die Trainingsmethoden und -mittel universell zu handhaben. Darauf waren alle nachfolgend erörterten Bedingungen und ihre Wirkungsmöglichkeiten gerichtet.
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Führung und Planung
Die Verwirklichung der Gesamtzielstellung des Leistungssports erforderte, das Handeln der im Leistungssport Tätigen zielbezogen zu organisieren. Die meisten der von uns befragten Experten sahen eine wesentliche Bedingung der dynamischen Entwicklung des Leistungssports der DDR darin, daß "zentral, straff und professionell geleitet wurde".369) EWALD hob besonders das "perspektivische Denken in längeren Zeiträumen" und die "Planmäßigkeit als Grundlage der gesamten Arbeit"370) hervor.
Die Pläne im Leistungssport waren entsprechend ihrem generellen Anspruch jeweils ein wissenschaftlich begründetes Konzept der sportlichen Leistungsentwicklung einzelner Athleten bzw. bestimmter Sportlergruppen für konkret festgelegte Zeiträume. Sie bildeten eine stabile Grundlage für die Tätigkeit im Leistungssport. Die Planung in diesem Bereich des Sports erstreckte sich über kurze Fristen (bis zu 1 Jahr), mittlere Fristen (bis 4 Jahre) und lange Fristen (über 4 Jahre). Maßgeblicher und entscheidender Planungszeitraum waren die Olympiazyklen. Die Sportverbände erarbeiteten dafür z.B. Trainingsmethodische Grundkonzeptionen (TMGK). Diese enthielten "Leistungsziele, die Leistungsentwicklung und die Grundmethodik zur Gestaltung des Erziehungs- und Ausbildungsprozesses der Sportler im Mehrjahresaufbau und in Etappen des langfristigen Leistungsaufbaus von Anfängern bis zu Weltklasseathleten".411) Die Erarbeitung dieser Grundkonzeption bedurfte zunächst einer intensiven wissenschaftlich prognostischen Arbeit, die vor allem und zunächst von den Forschungsgruppen zu leisten war.
In den Sportverbänden wurden außerdem Rahmentrainingspläne (RTP) erarbeitet, welche die verbindlichen Richtlinien für die Entwicklung der Sportler in den jeweiligen Etappen des Trainingsaufbaus eines Trainingsjahres enthielten.414) Da die Rahmentrainingspläne für einen größeren Kreis von Sportlern Vorgaben enthielten, gab es auch Jahrespläne für einzelne Sportler als Individuelle Trainingspläne (ITP) oder für eine Trainingsgruppe als Gruppentrainingsplan (GTP). 415)
Dieses planerische Vorgehen ermöglichte, die Gesamtzielstellung bis auf einzelne Sportler aufzuschlüsseln und sicherte, daß die
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Arbeit eines jeden im Leistungssport konkret bestimmt und damit kontrollier- und rückwirkend einschätzbar war.
Die Trainingsmethodischen Grundkonzeptionen, die Rahmen-trainingspläne und Gruppentrainingspläne bzw. individuellen Trainingspläne waren eigentlich Entwicklungkonzepte. Ihr Zweck war die sportliche Leistungsentwicklung von Athleten ganz bestimmter Leistungs- und Altersklassen in einem exakt definierten Zeitraum. Sie enthielten neben den Leistungszielen und einer untersetzenden Zielhierarchie, die grundlegenden Aufgaben und Bedingungen der Leistungsentwicklung in ihrer Komplexität sowie die wesentlichen Toleranzgrenzen für den entwicklungsfördernden Einsatz der Methoden und Mittel. Außerdem wurde versucht, jeweils die wesentlichen Entscheidungsprobleme zu definieren, die notwendigen Entscheidungsprämissen zu benennen und die komplexe Leistungsdiagnostik so zu organisieren, daß dem Trainer und den Sportlern auch die erforderlichen Informationen zur Verfügung standen, um im konkreten Prozeß der Leistungsausprägung (eines Trainingsjahres oder eines Olympiazyklus') optimale Entscheidungen treffen zu können. Diese Entwicklungskonzepte, besonders die Individuellen Trainingspläne, sollten also die Trainer und die Athleten auf die entscheidenden Ziele und Aufgaben orientieren, zweckgerichtete Entscheidungen erleichtern und den komplexen Prozeß der Leistungsvorbereitung organisieren helfen, und zwar als Teil der Lebensplanung des Athleten mit Blick auf dessen biographische Zukunft. Unabdingbares Prinzip der Planung und Kriterium ihrer Qualität aus der Sicht der Leistungsentwicklung waren die Ergebnisse der prozeßbegleitenden Analyse und die reflexive Einschätzung aller leistungsbestimmenden Faktoren. Das war wiederum Bedingung für die notwendige Offenheit, Lern- und Innovationsfähigkeit der Trainer und Sportler. Deshalb wurden stets auch die Aufgaben der komplexen Leistungsdiagnostik - wenn auch unterschiedlich in den Sportverbänden - zielbezogen und zu trainingsmethodisch relevanten Zeitpunkten geplant, die Bereitstellung der Analysedaten für die Trainer und Sportler sowie die fachkompetente Interpretation, z.B. durch Trainerräte, Steueraktive o.a. Fachgremien, organisiert.
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Langfristiger Leistungsaufbau und das Förderstufensystem
Die systematische Sichtung, Auswahl und Förderung von geeigneten und talentierten Kindern und Jugendlichen in einem mehrjährigen Ausbildungs- und Erziehungsprozeß erwies sich immer mehr als eine der entscheidenden Bedingungen für das Vorbereiten und Vollbringen von Weltspitzenleistungen im Hochleistungsalter. Deshalb waren zunächst möglichst viele Kinder und Jugendliche für eine sportliche Betätigung zu interessieren, damit sich vorhandene Anlagen entfalten konnten.416) Durch ein entsprechendes Wettkampfsystem, u.a. durch die seit 1966 auf Kreis-, Bezirks- und Republikebene durchgeführten Kinder- und Jugendspartakiaden, eine zielstrebige Sichtung und Auswahl, z.B. durch das System der einheitlichen Sichtung und Auswahl (ESA), sowie sich anschließendes Probetraining waren dann Talentierte herauszufinden und für ein systematisches Training zu interessieren. Alle in der Befragungsgruppe I zusammengefaßten Persönlichkeiten waren sich einig, daß in einer "planmäßigen, systematischen Talentesichtung und -förderung eine der wesentlichsten Grundlagen des DDR-Leistungssportsystems" bestand.417) Und ein "breit und gut organisierter Kinder- und Jugendsport"418) , und zwar für jeden nahezu kostenfrei, die Voraussetzung dafür war.419,420,421)
Der langfristige Leistungsaufbau vollzog sich in drei Förderstufen (FS).424) Sie bildeten die stabile strukturelle Grundlage für die langfristige Ausbildung und Erziehung unter Berücksichtigung der jeweiligen altersmäßigen Voraussetzungen. Dieses Stufensystem sicherte die organisatorische und inhaltliche Einheitlichkeit sowie eine differenzierte, den individuellen Möglichkeiten angemessene sportliche Ausbildung.
Die organisatorische Gliederung in die drei Förderstufen ist nicht in jedem Fall identisch mit der 1976 eingeführten Gliederung des langfristigen Trainingsprozesses in die Etappen Grundlagentraining (GLT), Aufbautraining (ABT), Anschlußtraining (AST) und Hochleistungstraining(HLT). Für diese Etappen waren vor allem die spezifischen Trainingsziele, einschließlich der persönlichkeitsbildenden Erfordernisse, bestimmend.
In der 1. Förderstufe trainierten etwa 70.000 ausgewählte Kinder und Jugendliche.425) Durch ein drei- bis fünfmaliges Training pro
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Woche sowie die regelmäßige Teilnahme an Wettkämfen wurde eine vielseitige sportartgerichtete Grundausbildung als stabile Basis für den kontinuierlichen Leistungsaufbau in der betreffenden Sportart geschaffen.426) In der Regel absolvierten die jungen Sportler ein dreijähriges Training in dieser Förderstufe.
Die grundlegende Organisationsform für das Training in der 1. Förderstufe waren die örtlichen Trainingszentren (TZ), deren Bildung 1964 begann.427) Ende der 80er Jahre existierten in der DDR etwa 1700 TZ. 428) In Gebieten, in denen keine Trainingszentren vorhanden waren, trainierten sportlich talentierte Kinder in Trainingsstützpunkten (TS), die seit 1974 aufgebaut wurden, bzw. in Schulsportgemeinschaften (SSG), von denen die ersten bereits 1956 entstanden waren und die dann in fast allen allgemeinbildenden Schulen vielfältige Übungs- und Trainingsmöglichkeiten anboten.
Bis 1976 wurden außerdem Bezirkstrainingszentren (BTZ) gebildet. Diese sollten eine gezieltere Vorbereitung der sportlich talentiertesten Kinder und Jugendlichen auf die nächste Förderstufe ermöglichen. Das erlaubte, jährlich ca. 26.000 geeignete Kinder, d.h. etwa jeden fünften Jungen und jedes elfte Mädchen, in die 1. Förderstufe aufzunehmen.429) Die wichtigste und effektivste Form der Sichtung und Auswahl sportlich geeigneter Kinder und Jugendlicher war das zwischen dem Ministerium für Volksbildung und dem Bundesvorstand des DTSB vereinbarte System der einheitlichen Sichtung und Auswahl (ESA).430) Dieses langjährig bewährte Vorgehen wurde stets weiter vervollkommnet und den Anforderungen entsprechend erneuert, damit möglichst viele Kinder und Jugendliche in der DDR an den Tests teilnehmen, sich erproben und wenn gewünscht, mit einem leistungssportlichen Training beginnen konnten.431)
Die organisatorische Basis der 2. Förderstufe bildeten die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) und die Sportklubs (SC) bzw. Fußballklubs (FC).433) Die Kinder- und Jugendsportschulen hatten sich seit ihrer Gründung außerordentlich bewährt.434)
In diesen Schulen, denen jeweils Internate angegliedert waren, wurden sportlich talentierte Kinder und Jugendliche ab dem für die jeweilige Sportart festgelegten Alter aufgenommen. Die Einzugsgebiete waren in der Regel die Bezirke. In einigen
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Sportarten sowie in der SV Dynamo und in der ASV Vorwärts erfolgte eine überbezirkliche Aufnahme.
Die besonderen Bedingungen der Kinder- und Jugendsportschulen als Spezialschulen ergaben sich aus den Möglichkeiten, eine hohe Anzahl wöchentlicher Trainingsstunden zu realisieren, hochqualifizierte Trainer einzusetzen, die Lehrpläne für die entsprechende Altersstufe aufgrund des Unterrichts mit kleinen Schülergruppen bzw. von Einzelunterricht nahezu in den dafür vorgesehenen Zeiträumen zu realisieren und zugunsten der umfangreichen sportlichen Trainingsanforderungen einen hausaufgabenfreien Unterricht zu erteilen.435)
Etwa 3.000 Sportler436) aus der 2. Förderstufe verfügten nach dem systematischen Aufbautraining über die notwendigen Voraussetzungen, um ein Anschlußtraining in einer Sportart bzw. einer speziellen Disziplin zu absolvieren.
In der 3. Förderstufe organisierten die Sportklubs das Training, und zwar in der Form des Heimtrainings am Heimatort des jeweiligen Sportklubs und des Lehrgangstrainings in spezifischen zentralen Trainingsstätten. Das Ziel der Ausbildung in dieser Förderstufe bestand darin, die Mitglieder der Nationalmannschaften und die unmittelbaren Anschlußkader zu erfassen und auf ein möglichst erfolgreiches Abschneiden bei Olympischen Spielen und internationalen Meisterschaften vorzubereiten. Die Sportler der 3. Förderstufe wurden wiederum in 3 Kaderkreisen zusammengefaßt.
Die durchschnittliche Anzahl der Athleten in den Förderstufen belegt, daß eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen aus den Trainingszentren auf dem Weg zu den Kinder- und Jugendsportschulen und zu den Sportklubs vorzeitig ausschieden bzw. ausdelegiert worden sind. In den 80er Jahren wurde allerdings versucht, solchen Tendenzen entgegenzuwirken sowie durch Nachsichtungen und Umdelegierungen ungerechtfertigte Ablehnungen zu verhindern. Für die Aufnahme bzw. den Verbleib der Sportler in den jeweiligen Förderstufen nennt KUTSCHKE u.a. folgende Kriterien:
- Erfüllung von sportmedizinischen und sportlichen Eignungskriterien für eine leistungssportliche Entwicklung,
- Zustimmung der Eltern für eine Aufnahme ihrer Kinder in das
Fördersystem,
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- Bereitschaft der Sportler, die leistungssportlichen Anforderungen in ihrer Komplexität zu erfüllen,
- gute schulische Leistungen,
- altersgemäße Reife der Persönlichkeit, ausgeprägte Individualität, besonders auch Einstellung zur DDR,
- Realisierung der Trainingsprogramme und -pläne, einschließlich der Normen in den einzelnen Ausbildungsetappen,
- Befürwortung durch ein sportmedizinisches Gutachten,
- Erfüllung von Wettkampfzielstellungen zu den nationalen bzw. internationalen Höhepunkten, besonders im Bereich der 3. Förderstufe.439)
Entscheidend, und das ist besonders zu betonen, war sowohl das System des Kinder- und Jugendsports als Ganzes als auch der auf Wettkampf und Leistung orientierte Teil, insbesondere das Fördersystem, welches selbst bereits zum Nachwuchsleistungssport gehörte. Das heißt, es war das Verständnis wichtig, Sport - nahezu kostenfrei - allen Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen, und zwar als Basis für die Entwicklung von Körperkultur und Sport in allen Bereichen, die Sportartenorientierung in den Lehrplänen der allgemeinbildenden Schulen oder das Verständnis für die Einheit von unterrichtlichem und außerunterrichtlichem bzw. außerschulischem Sport wie auch das Sichtungssystem, das ganzjährige Wettkampfsystem für Kinder und Jugendliche sowie das Spartakiadesystem mit seinen Möglichkeiten, sich in einer Einzeldisziplin oder auch einer Mannschaftssportart erproben zu können. Das System als Ganzes war u.E. wesentlich und nicht irgendeines seiner Elemente.
Zielorientierte Erziehung und schulisch-berufliche Ausbildung
Die Spezifik leistungssportlicher Tätigkeit erforderte, jeden Athleten als Subjekt zu begreifen und jeden zu befähigen, Subjekt der Leistungsvorbereitung und des Leistungsvollzugs sein zu können. Deshalb war von Beginn an das Bemühen spürbar, im Trainingsprozeß die Einheit von Bildung und Erziehung zu gewährleisten.440) Diese Auffassung wurde auch immer wieder durch die Erfahrung bestätigt, daß die Persönlichkeit der Athleten stets als Ganzes in den Prozessen der Leistungsvorbereitung, -realisierung und -bewertung gefordert ist und sich bewährt.442)
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Insbesondere die Weiterentwicklung des Trainings trug dazu bei, Erziehung und Erziehungsaufgaben zunehmend - verglichen mit der sportlichen Ausbildung - als gleichwertig zu erachten. Deshalb wurde die zielorientierte Erziehung als eine der Wirkbedingungen des Leistungssports der DDR angesehen, deren Wirkungsmöglichkeiten wesentlich bestimmt wurden durch ihre Ideologiebezogenheit, Subjektbezogenheit und Zielbezogenheit.
Die inhaltliche Orientierung des erzieherischen Wirkens im Leistungssport entsprach der von ideologischen Werten geprägten generellen Erziehungsauffassung in der DDR443) und den Intentionen, die mit der Gesamtzielstellung für den Leistungssport verbunden waren. Wichtige Impulse für solch eine ideologiezentrierte Erziehungsauffassung444) gingen von den Erfahrungen des DDR-Sports in den 50er und 60er Jahren aus. Gerade in dieser Zeit bewährten sich ideologisch fundierte Überzeugungen und Einstellungen445) als Basis einer dauerhaften und antriebsstarken Leistungsmotivation.446)
Die Subjekt- und Zielbezogenheit der Erziehungsauffassung war dem Tätigkeitsprinzip geschuldet und in erster Linie darauf gerichtet, jene psychischen Leistungsvoraussetzungen zu fördern, die zielbewußtes Tätigsein und Handeln im Training und Wettkampf ermöglichten. Das galt um so mehr, da wirksames und effizientes Training bzw. die volle Nutzung der psychischen Leistungsvoraussetzungen im Wettkampf ohne selbstbestimmten Einsatz der individuellen und kollektiven Möglichkeiten nicht denkbar war und ist.448)
Seit dem Olympiazyklus 1968-1972 vollzog sich das erzieherische Wirken auf der Grundlage eines für den jeweiligen Olympiazyklus gültigen Erziehungsprogramms, in dem die Ziele und Aufgaben für alle Förderstufen verbindlich festgelegt waren.449) Begleitbücher bzw. andere pädagogische Handreichungen ergänzten diese Programme.450) Sie sollten helfen, die Möglichkeiten der pädagogischen Einflußnahme zielstrebig zu nutzen und deren Grenzen erfassen zu können.
Selbstverständlich enthielten die verschiedenen Pläne, die Perspektivpläne und Trainingsmethodischen Grundkonzeptionen, die Rahmentrainingspläne, die Gruppen- und Individuellen Trainingspläne, die im jeweiligen Planzeitraum zu lösenden Erziehungsaufgaben bzw. wesentliche Methoden oder Mittel sowie
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wichtige Kontrollkriterien. Auch im Prozeß der komplexen Leistungsdiagnostik wurden entsprechende Parameter erfaßt. Zumeist solche, die es ermöglichten, die konkreten psychischen Leistungsvoraussetzungen einzuschätzen.451) Der entscheidende Leitgedanke war, solche Bedingungen und Herausforderungen zu schaffen bzw. zu gewährleisten, die es dem einzelnen ermöglichten, unter Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit die sportliche Leistungsfähigkeit zielstrebig auszubilden und in diesen Prozessen sich als Persönlichkeit zu vervollkommnen. Diese An-sprüche an Erziehung im Leistungssport schlossen ein, der latenten Gefahr entgegenzuwirken, Kinder und Jugendliche zu Objekten der erzieherischen Manipulation zu machen. Eingeordnet in die fortschreitendende Pädagogisierung der Gesellschaft waren solche Erscheinungen auch im Leistungssport mit der Konsequenz feststellbar, ein möglichst konformistisches Verhalten zum Maßstab des erzieherischen Einwirkens zu wählen. Weit verbreitet waren auch Erscheinungen der Indoktrination im Gefolge der gewollten Politisierung und der allgemeinen weltanschaulichen Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.
Die pädagogische Verantwortung für die Zukunft der Leistungssportler schloß die leistungssportliche Perspektive ebenso ein wie die weiteren Lebensperspektiven, besonders die schulische und berufliche Ausbildung.
Entscheidungen über Ziele, Wege und Spezifika der schulischen bzw. beruflichen Ausbildung waren individuell zu treffen und zu verwirklichen. Dabei wurden die Athleten auf vielfältige Weise unterstützt und auch manches erleichtert, indem besondere Möglichkeiten und Bedingungen dafür geschaffen worden waren und wurden. Dazu gehörten die Kinder- und Jugendsportschulen ebenso wie die Bereitstellung von Studienplätzen, und zwar zusätzlich zu den jeweiligen Zulassungskontingenten der Universitäten bzw. Hoch- und Fachschulen, oder die vertragliche Vereinbarung der Sportklubs mit Produktions- oder anderen Betrieben in ihrem Einzugsbereich, die Berufsausbildung von Leistungssportlern zu gewährleisten.
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Leistungssportforschung
Eine Besonderheit des Leistungssports der DDR war zweifellos der schöpferische Prozeß der Gewinnung neuer Erkenntnisse und deren leistungsrelevante Überführung in die Praxis, was den notwendigen Leistungsvorlauf mit sicherte. Von der Mehrheit der Experten wurde auf den"hohen Stand der Wissenschaft“ 457), auf die hochentwickelte Leistungssportforschung458) als besondere Bedingung des Leistungssports der DDR verwiesen.
Im Prozeß der Forschung lassen sich zwei Arbeitsgrundlinien unterscheiden. Erstens war die Leistungssportforschung von Anfang an fast ausnahmslos angewandte Forschung, d.h. auf ganz konkret bestimmte Leistungen und Leistungsvoraussetzungen gerichtet. Zweitens war die Leistungssportforschung mit ihrer überwiegenden Kapazität sportartspezifische Forschung, die vielfach von multidisziplinär zusammengesetzten Forschungsgruppen realisiert wurde. Dieses Vorgehen ermöglichte es auch, bestimmte Grundlagenerkenntnisse bzw. verallgemeinerbare Erkenntnisse für alle Sportarten oder für einzelne Sportartengruppen zu gewinnen.
Die Forschungsarbeit für den Leistungssport der DDR wurde in entscheidendem Maße durch die dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport direkt unterstellten Einrichtungen geleistet,
- dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport in Leipzig (FKS),
- der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig (DHfK),
- der Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte in Berlin (FES),
- dem Wissenschaftlich-technischen Zentrum für Sportbauten in
Leipzig (WTZ).
Es wurden auch Forschungskapazitäten der Sektionen Sportwissenschaft an den Universitäten Jena, Halle und Berlin für einzelne Sportarten und -disziplinen genutzt. 460)
Der Hauptträger der Leistungssportforschung war das 1969 geschaffene Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport. In Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1972 wurde die 1956 eingerichtete Forschungsstelle der DHFK, welche bereits die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele von 1960 bis 1968 in ausgewählten Sportarten bzw. -disziplinen unterstützt hatte, und das 1965 an der DHFK gegründete Institut für Sportmedizin zu
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einer selbständigen Forschungseinrichtung umgebildet.461) Im Forschungsinstitut wurden sowohl sportartspezifische als auch sportartübergreifende Forschungsaufgaben bearbeitet. Die 1950 gegründete DHFK übernahm in selbständiger Verantwortung die sportartspezifische Forschung im Kanusport und in den Sportspielarten. Neben der Forschung zum Hochleistungstraining in den genannten Sportarten war die Forschungsarbeit an der DHFK auf den Nachwuchsleistungssport in der 1. und 2. Förderstufe ausgerichtet.463) Die Forschungs- und Entwicklungsstelle (FES) sicherte die Entwicklung qualitativ hochwertiger Trainings- und Wettkampfgeräte, wie Ruder-, Kanu- und Segelboote, Rennschlitten oder Rennräder. Für die inhaltliche Orientierung des Sportgerätebaus waren allerdings die Fachbereiche des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport (FKS) bzw. die Forschungsgruppen verantwortlich. Im Wissenschaftlich-technischen Zentrum (WTZ) wurden die für den Leistungssport notwendigen Sportstätten entworfen und deren Einrichtung überwacht.
Für die sportartspezifische wissenschaftliche Arbeit, für eine effektive Übertragung von Forschungsergebnissen in die Praxis sowie für die Informationstätigkeit waren die Wissenschaftlichen Zentren (WZ) der Sportverbände von Bedeutung. Diese wurden Mitte der 60er Jahre aufgebaut und dem Präsidium der jeweiligen Sportverbände angegliedert sowie zu Leiteinrichtungen für die inhaltliche wissenschaftliche Arbeit zur betreffenden Sportart. Zu den Aufgaben der Wissenschaftlichen Zentren gehörte,
- die angewandte sportartspezifische Forschung mit dem Ziel, wesentliche Zusammenhänge zwischen der Leistungsentwicklung und der Trainingsgestaltung zu klären,
- die geregelte Weitergabe und Verbreitung von neuesten sportartspezifischen wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Hilfe der Information und Dokumentation,
- die Organisierung und Mitwirkung an der Entwicklung neuer Trainings-, Wettkampf- und Meßgeräte in der jeweiligen Sportart.469)
Durch Kooperations- und Vertragsbeziehungen zu Forschungseinrichtungen außerhalb der Sportwissenschaft wurde das Forschungspotential für den Leistungssport z.T. noch beträchtlich erweitert. Wissenschaftsbeziehungen bestanden u.a.
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zur Ingenieurhochschule Warnemünde, zum Institut für Luftfahrtmedizin Königsbrück, zum Institut für Bioklimatologie Berlin-Buch, zum Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin, zur Ingenieurschule Leipzig, zur Technischen Universität Dresden oder zur Rundfunk- und Fernsehtechnik Leipzig.
Der leistungsfördernde Einfluß der Leistungssportforschung ist kaum bzw. wenig umstritten. Ihre Wirkungsmöglichkeiten ergaben sich,vor allem
- aufgrund der Interdisziplinarität und der auf die Realisierung der Leistungsprognosen orientierten Konzepte sowie dem Bemühen, keine Barrieren zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen bzw. den Technikwissenschaften zuzulassen,
- infolge der Komplexität und dem Streben nach komplexen bzw. Systemlösungen, so daß Einzelfragen bzw. Eingriffe an einzelnen Punkten in den komplexen Prozeß der Leistungsvorbereitung in ihrer Wirkung auf das Ganze bewertet und eingesetzt wurden,
- im Ergebnis des Bemühens, ausgehend von Leistungsprognosen und -trends möglichst den notwendigen wissenschaftlichen Vorlauf zu sichern, eingeschlossen den technologischen bzw. materiell-technischen und den Bildungsvorlauf für die zielstrebige Umsetzung neuer Erkenntnisse in die Praxis.
Von Vorteil war auch, daß die Wissenschaftler in den multidisziplinär zusammengesetzten Forschungsgruppen über die Grenzen ihrer Wissenschaftsdisziplinen hinaus zusammenarbeiteten und auch die jeweilige Sportpraxis gut kannten. Sie zeichneten sich oftmals durch ausgeprägte sportartspezifische Kompetenz aus, die aus viele Jahre andauernder gemeinsamer Arbeit mit Sportlern und Trainern resultierte. Hinsichtlich des Zusammenwirkens von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen ist die Leistungssportforschung der DDR zumindest erste Schritte in eine Richtung gegangen, die für die Wissenschaft insgesamt noch angemahnt wird. So fordert z.B. TEMBROCK "neue übergreifende Konzepte, die endlich diese Barriere zwischen Geistes- und Naturwissenschaften überwinden".470)
Die Grenzen der Leistungssportforschung in der DDR wurden bestimmt durch
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- die zeitlimitierte Bearbeitung der Forschungsprojekte, infolgedessen grundlegende theoretische Fragestellungen weniger Chancen hatten und marginalisiert wurden,
- ihre sportartspezifische Ausrichtung, die z.T. die Verallgemeinerung der Ergebnisse behinderte und aufgrund des zwangsläufig schmalen Ausschnitts der Leistungssportpraxis z.T. auch zu erheblichen Fehleinschätzungen führte,
- den z.T. großen Umfang prozeßbegleitender wissenschaftlicher Arbeit, wodurch alternative Hypothesen oder solche zur grundsätzlichen Erneuerung des Trainings eigentlich oft schon aufgrund nicht ausreichender personeller Kapazitäten chancenlos waren.
Sportmedizinische Betreuung
Die Aufgaben der Sportmedizin erstreckten sich auf die Gesamtheit der Sporttreibenden, auf Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene aller Altersgruppen, auf Leistungssportler, normal Leistungsfähige und Leistungsgeminderte.471)
Ein besonderes Aufgabenfeld war zweifellos der Leistungssport. Diesbezüglich hebt neben BUGGEL aus der Befragungsgruppe I auch ERBACH das "umfassende System der Sportmedizin" und die sportmedizinische Betreuung "über den gesamten leistungssportlichen Entwicklungsweg" jedes Athleten als eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung des Leistungssports der DDR hervor. 472)
Für die einheitliche und zentrale Führung der sportmedizinischen Betreuung im gesamten Sport der DDR war der Sportmedizinische Dienst (SMD) verantwortlich.474) Die am 01.09.1963 gegründete Einrichtung war zunächst dem Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport und später dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport unterstellt. Die sportmedizinische Betreuung war nach dem Territorial- und dem Leistungsprinzip organisiert. Die sportärztlichen Kreisberatungsstellen, die besonders sportmedizinische Aufgaben für den Massensport und den Kinder- und Jugendsport zu erfüllen hatten, betreuten die Sportler der 1. Förderstufe. 475)
Den sportärztlichen Hauptberatungsstellen in den Bezirken der DDR oblag es, die Leistungssportler der Sportklubs und der Kinder- und Jugendsportschulen sportmedizinisch zu versorgen. In
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diesen Hauptberatungsstellen waren auch Sektionsärzte tätig, die ganz speziell für einige Sektionen, d.h. für bestimmte Sportarten in den Sportklubs,verantwortlich waren.
Für die sportmedizinische Betreuung in den Sportverbänden des DTSB, insbesondere in den Nationalmannschaften, waren Verbandsärzte verantwortlich. Die Verbandsärzte leiteten Ärztekommissionen bzw. medizinische Kommissionen der jeweiligen Sportverbände, die ihnen zugleich zur Seite standen. Die Kommissionen waren die sportmedizinischen Organe der Sportverbände und setzten sich in der Regel nur aus Sportmedizinern zusammen. In den Ärztekommissionen wurden alle wesentlichen medizinischen Fragen für die Betreuung in den jeweiligen Sportarten beraten und in entsprechenden Plänen festgelegt, die jedoch der Zustimmung der jeweiligen Verbandsleitung bedurften. So wurden z.B. in den Sportverbänden in jedem Olympiazyklus (bzw. im Zweijahreszeitraum) sportartspezifische Programme erarbeitet, mit denen die gesamte sportartspezifische medizinische Betreuung planmäßig vorbereitet wurde. Sie waren die Grundlage dafür, um in individuellen Trainingsplänen für jeden Sportler, der einem Kaderkreis angehörte, die notwendigen medizinischen Maßnahmen individuell festzulegen.
Die Träger der sportmedizinischen Betreuung waren Fachärzte für Sportmedizin476) , die oft noch eine weitere Facharztausbildung absolviert hatten. 477)
Die sportmedizinischen Betreuungsaufgaben im Leistungssport der DDR umfaßten,
- die Feststellung und Beurteilung der gesundheitlichen und körperlichen Eignung von Kindern und Jugendlichen für den Leistungssport überhaupt sowie für bestimmte Sportarten bzw. -gruppen 478) ,
- die Ausarbeitung von Kriterien zur sportlichen Belastbarkeit der Leistungssportler unter Beachtung des Alters und der sportartspezifischen Belange,
- die regelmäßige sportmedizinische Betreuung der Sportler zur Sicherung der leistungssportlichen Tätigkeit im Training und Wettkampf,
- eine Einflußnahme auf die sportliche Belastungsgestaltung und -verträglichkeit durch unterstützende Maßnahmen zur
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Wiederherstellung nach hohen Trainings- und Wettkampfbelastungen und zur Erschließung und Mobilisierung spezifischer Leistungsreserven sowie zur Verhinderung von Mangelerscheinungen,
- Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation bei Erkrankungen, Verletzungen, Überlastungsschäden usw.479)
Die Rehabilitation der Leistungssportler vollzog sich vor allem im Zentralinstitut des Sportmedizinischen Dienstes in Kreischa.
Für spezielle medizinische Fragen gab es außerdem Konsultanten, zu denen Spezialisten aus allen medizinischen Bereichen gehörten.
Die sportmedizinische Betreuung im Leistungssport der DDR wird vielfach mit dem Problem des Dopings in Verbindung gebracht. BERENDONK u.a. haben z.B. mit ihren"Dopingdokumenten" versucht, ein großes Ausmaß einer medizinisch-pharmakologischen Manipulation im Leistungssport der DDR zu belegen.480) Ohne solche Aufklärungsarbeiten kann das Dopingproblem im Leistungssport generell bzw. in dem der DDR nicht aufgearbeitet werden. Die Arbeit von BERENDONK belegt aber auch unzweifelhaft, daß dieses Problem nur von unmittelbar Beteiligten geklärt werden kann. Sie verweist wie andere wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen darauf, daß
- Doping ein Problem mit weltweiten Dimensionen ist, wie letzlich die Dopingfälle bei den Olympischen Spielen in Barcelona 1992 erneut bewiesen haben 481)
- der Einsatz solcher Mittel keineswegs vorrangig oder gar ausschließlich das hohe Leistungsniveau des Leistungssports der DDR bestimmte und
- die Aufgaben der Sportmedizin im Leistungssport der DDR nicht auf Doping bzw. den Einsatz unterstützender Mittel reduziert werden können.
Das Hauptverdienst der Sportmedizin in der DDR bestand zweifellos darin, daß gesunde Menschen in ärztliche Betreuungsaufgaben einbezogen und auch im Leistungssport die wissenschaftliche und praktische Arbeit vor allem auf den vorbeugenden Gesundheitsschutz gerichtet war. Der Präsident des Weltverbandes der Sportmedizin und des Deutschen Sportärztebundes HOLLMANN hat, und das sei hier nur kurz angemerkt, eingeschätzt: "Der großangelegte Sportmedizinische
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Dienst wurde bis auf wenige Reste total zerschlagen. Es hätte in Deutschland die Chance bestanden, erstmals in der Welt ein flächendeckendes sportmedizinisches Instrumentarium für die Bevölkerung zu haben, das auch nach bundesdeutschem Recht Aufgabe der Gesundheitsämter ist."482)
Aus- und Weiterbildung der Trainer und Funktionäre
Die Aus- und Weiterbildung, vor allem der Trainer, wurde von den Experten der Befragungsgruppe I übereinstimmend als eine wesentliche Bedingung der erreichten Leistungsdynamik genannt. Für EICHLER ist "Ausbildung und Einsatz von Trainern, die in der Lage sind, sportwissenschaftliche, -methodische und -medizinische Erkenntnisse erfolgreich anzuwenden und mit pädagogischem Geschick Trainingsgruppen zu führen", eine verallgemeinerungswürdige Erfahrung des Leistungssports der DDR.483) Und BUGGEL unterstreicht, daß die "ständige Qualifizierung aller Kader mit den neuesten Erkenntnissen" ein charakteristisches Merkmal war.484)
Für die Aus- und Weiterbildung von Trainern bzw. Sportwissenschaftlern sowie Funktionären war in erster Linie die DHFK verantwortlich. Die Ausbildung wurde durch Studienangebote für das Direkt- und das Fernstudium realisiert, das in der Regel jeweils eine Spezialausbildung in vorrangig geförderten Sportarten einschloß.485) Seit Beginn der 70er Jahre beendeten jährlich ca. 100 Studenten ihre akademische Ausbildung als Diplomsportlehrer mit einem Einsatzziel im Leistungssport.486) Anfang der 80er Jahre verabschiedete die DHFK bereits jährlich etwa 240 Absolventen für eine Tätigkeit im Leistungssport.487)
Außerdem waren die DHFK ebenso wie das FKS und die Sektionen Sportwissenschaft an den Universitäten bzw. Pädagogischen Hochschulen für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses verantwortlich.
Personen, die im Leistungssport arbeiteten, mußten sich u.a. auszeichnen durch ein ausgeprägtes Berufsethos als Trainer bzw. Wissenschaftler, Befähigung und Bereitschaft zu effizienter gemeinschaftlicher Arbeit, Aneignung und Umsetzung neuer Erkenntnisse der Sportwissenschaft und anderer für die
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Leistungsentwicklung relevanter Wissenschaftsdisziplinen im Prozeß der Leistungsvorbereitung. Alle im Leistungssport Tätigen waren also verpflichtet, sich ständig weiterzubilden, vor allem im Prozeß ihrer Arbeit.488) Dafür hatten z.B. auch die Sportverbände entsprechende Voraussetzungen zu schaffen, u.a. durch jährliche Weiterbildungsveranstaltungen für Trainer oder durch periodische Trainerinformationen für das Selbststudium. Aber auch die Zusammenkünfte in den Trainerräten, den Steueraktiven bzw. die Auswertung des Trainingsjahres genügten wissenschaftlichen Ansprüchen und trugen zur Aneignung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse bei bzw. förderten deren Umsetzung. Diese prozeßimmanente Weiterbildung gehörte sicher mit zu den wirksamsten Formen.
Neben dieser, vor allem fachspezifischen Weiterbildung, existierte im Leistungssport der DDR ein zentral geleitetes und den gesamten Leistungssport umfassendes System der Weiterbildung. Das ermöglichte es, in mehrwöchigen Lehrgängen systematisch neue Erkenntnisse zu vermitteln und zu festigen.489) Die Verantwortung für diese Lehrgänge nahm die DHFK wahr. Sie hat die Weiterbildung stets als gleichrangige Aufgabe neben der Ausbildung aufgefaßt und realisiert.490) Inhaltlich wurden die Lehrgänge allerdings stark vom Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport getragen. In diesen Lehrgängen wurden für die entsprechenden Gebiete die neuesten Erkenntnisse von den besten Wissenschaftlern vorgestellt. Aufgrund der damit verbundenen Möglichkeiten erwies sich dieses Vorgehen als eine effektive Form postgradualer Weiterbildungsmaßnahmen. Als deren Hauptbestandteile bezeichneten FLORL/ROGALSKI sowie OPPEL die
- Vermittlung neuester Erkentnisse zu den Prozessen der Führung,
- Behandlung übergreifender Fragen der Trainingsgestaltung nach Sportartengruppen,
- praktische Unterweisung an neuesten Sportgeräten und Vertrautmachen mit neuen Methoden der Objektivierung der Trainingsprozesse,
- Möglichkeiten und Angebote zur Vervollkommnung weltanschaulicher Kenntnisse. 492)
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Materiell-technische Voraussetzungen und Konzentration der Mittel
Die Erfüllung der Gesamtzielstellung erforderte ein bestimmtes Niveau der materiell-technischen Voraussetzungen. Das galt für die vom Leistungssport genutzten Grundfonds, z.B. die Sportstätten, Sportschulen und Wissenschaftseinrichtungen, ebenso wie für Sportgeräte und Sportbekleidung bzw. für die finanziellen Fonds.
Die Güte der materiell-technischen Voraussetzungen beeinflußte ganz maßgeblich die Leistungsentwicklung in vielen Sportarten und zumeist auch die Qualität des Trainings. Außergewöhnlich war sicher der Umstand, daß der Leistungssport der DDR kaum über hochmoderne Sporteinrichtungen verfügte, aber durchaus aufgrund von innovativen wissenschaftlich-technischen Lösungen den Sportlern optimale Trainings- und Wettkampfgeräte zur Verfügung stellen konnte. Dazu gehörten Sportgeräte, die ihrerseits Spitzenentwicklungen darstellten. Die Sporteinrichtungen in den Sportklubs bzw. Fußballklubs und den Trainingszentren, die von den Leistungssportlern für das tägliche Training in den einzelnen Förderstufen genutzt wurden, wiesen ebenso wie die in den zentralen Sportschulen493), in denen Trainingslehrgänge durchgeführt wurden, gemessen an den Sporteinrichtungen in anderen leistungsstarken Ländern, keine höhere Qualität auf. Im Gegenteil, zentrale Trainingszentren, z.B. in den USA, Italien oder der BRD, verfügten über einen deutlich besseren Ausstattungsgrad. Durch den zielgerichteten Einsatz wissenschaftlich-technischer Potenzen wurden sportartspezifische Trainings- und Sportstätten bzw. -einrichtungen sowie Sportgeräte geschaffen, welche die Überwindung ungünstiger Bedingungen und ein ganzjähriges Training ermöglichten. Dazu zählen z.B. ein Schwimmkanal, Bob- und Schlittenbahnen, eine Anlage für das Höhentraining (Kienbaum II) oder Rennräder, Ruderboote, Bobs - allerdings in geringer Stückzahl - die welthöchsten Ansprüchen genügten.
Hinsichtlich der zur Verfügung stehenden finanziellen Fonds nannte EWALD für 1988 folgende Zahlen: Von den Gesamtausgaben des Staatshaushalts (etwa 266 Milliarden Mark) sind zur Sportförderung 1,22 Milliarden Mark (0,46 %) ausgegeben worden. Von dieser Summe gingen nach EWALD etwa 60 % in den Massensport und 40 % in den Leistungssport. Das würde bedeuten, daß der
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Leistungssport zwischen 400-520 Millionen Mark jährlich erhielt. Außerdem sind Finanzmittel, die z.B. in den Kinder- und Jugendsport flossen, letztlich auch dem Leistungssport zugute gekommen. In den genannten Zahlen nicht enthalten sind
- die Zuwendungen im Staatshaushalt für das Bildungswesen (Kinder- und Jugendsportschulen, Wissenschaftseinrichtungen) und das Gesundheitswesen (Sportmedizinischer Dienst),
- Gelder aus den Ministerien für Nationale Verteidigung, des Inneren und für Staatssicherheit für die von der Armeesportvereinigung Vorwärts und der Sportvereinigung Dynamo betreuten Leistungssporteinrichtungen,
- Lohn- und Gehaltszahlungen aus Produktions- und anderen Betrieben für im Leistungssport Tätige,
- Zuschüsse aus den Mitgliedsbeiträgen des FDGB,
- Finanzmittel der Betriebssportgemeinschaften, die vor allem aus dem Kultur- und Sozialfonds der jeweiligen Betriebe gezahlt wurden.494)
Bemerkenswert ist, daß keiner der von uns befragten Experten die materiell-technischen Voraussetzungen als wesentliche Bedingung oder als ein besonders charakteristisches Merkmal des Leistungssports in der DDR bewertete. Das scheint uns ein Indiz dafür zu sein, daß der Leistungssport diesbezüglich gegenüber anderen Ländern weder nennenswerte Vorteile besaß noch gravierende Nachteile hinnehmen mußte.
Die Ergebnisse der Expertenbefragung unterstreichen aber die unbedingte Notwendigkeit und den Wert einer Konzentration der Ressourcen und Mittel. Für BUGGEL hat die mit aller Konsequenz durchgehaltene Bündelung der Kräfte und die "damit verbundene Konzentration der Ressourcen... dazu geführt, daß der DDR-Leistungssport solche Erfolge erreichte".496) WEISKOPF aus der Befragungsgruppe II weist besonders darauf hin, daß die Sportförderung in der DDR die ökonomischen Grenzen erreicht hatte und die ökonomischen Mittel selbst im Leistungssport nur noch für ausgewählte Sportarten498) ausreichten, weil das unter den konkreten Bedingungen der DDR für den Leistungssport zur Verfügung stehende Gesamtpotential begrenzt war. Das betraf sowohl die Grundfonds und die finanziellen Fonds als auch die für manche Sportarten keineswegs hinreichenden natürlichen Bedingungen. Auch die personellen Möglichkeiten waren -
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gemessen an der Einwohnerzahl der DDR und im Vergleich zu anderen Ländern - eher spärlich. Infolgedessen war nicht mit einer grundsätzlichen Erweiterung der materiellen, finanziellen und personellen Voraussetzungen zu rechnen. Der Leistungssport mußte also mit nahezu gleichbleibenden Fonds das erreichte Leistungsniveau stabilisieren und in einzelnen Sportarten möglichst noch weiter erhöhen. Dadurch sollte in den weiterhin besonders geförderten Sportarten der notwendige Leistungszuwachs abgesichert und vor allem folgendes erreicht werden:
- Gewinnung der erforderlichen Anzahl von Nachwuchssportlern und deren Ausbildung auf zunehmend höherem Niveau in den verschiedenen Etappen des langfristigen Leistungsaufbaus,
- schwerpunktmäßiger Einsatz der personellen Ressourcen, insbesondere der Trainer, in den favorisierten Sportarten,
- Bündelung und Konzentration der wissenschaftlichen Kräfte, besonders der Forschungskapazitäten, auf bestimmte Sportarten mit dem Ziel, außerordentlich leistungsfähige Forschungsgruppen zu schaffen,
- Gewährleistung notwendiger materieller und technischer Voraussetzungen, um das Training wirksam zu gestalten und für die entscheidenden internationalen Wettkämpfe dem internationalen Standard entsprechende Sportgeräte bereitstellen zu können. 504)
Zusammenfassendes ist (nochmals) folgendes festzustellen:
Die - wenn auch partielle - systemtheoretische Betrachtung entwicklungsbestimmender Bedingungen des Leistungssports der DDR erhärtet und unterstützt die formulierten Hypothesen und verweist vor allem auf
- die Kausalität der erreichten sportlichen Leistungen mit solchen entwicklungsbestimmenden Bedingungen, wie der vorrangigen Konzentration auf den langfristigen Leistungsaufbau und das Training in diesem Prozeß, die Befähigung der Trainer, den pädagogischen Prozeß zu führen und dazu alle anderen entwicklungsbestimmenden Bedingungen einzusetzen, wie die interdisziplinäre Theoriebildung und Technologientwicklung, den Theorie- und Bildungsvorlauf, die systematische sportmedizinische Betreuung, eine entsprechend gerichtete Führung und Leitung sowie"Kausalität ... vorwiegend systemrelativ zu denken "516) und einzusetzen;
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- die Autonomie und Selbststeuerung der geförderten Sportverbände (besonders in sportfachlichen und relevanten wissenschaftlichen Fragen) infolge einer entsprechenden Institutionalisierung und der Schaffung von notwendigen Kontextbedingungen, z.B. der Wissenschaftlichen Zentren, der interdisziplinären Forschungsgruppen oder verbandsübergreifender Arbeitskreise für die Sportartengruppen;
- die dadurch begründete und infolge der Systemreflexion auf unterschiedlichen Ebenen (trotz aller Einschränkungen) mögliche Lern- und Innovationsleistung, die jenes Maß an Neuheit und Originalität gewährleistete, welche aufgrund der außerordentlichen Dynamisierung der Geschichtlichkeit von kulturellen - eingeschlossen von sportlichen - Leistungen notwendig war.
Die angegebenen Quellen sind in der Dissertation Kasten Schumann “Emirisch-theoretische Studie zu entwicklungsbestimmenden Bedingungen des Leistungssports der DDR. Versuch einer zgeitgeschichtlichen Bilanz und kritischen Wertung vor allem aus der Sicht der Gesamtzielstellung“ in der Universität Leipzig, Fakultät Sportwissenschenschaft 1993, S. 183ff zu finden.
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Neues Kapitel zum Thema Doping
Peter Udelhoven, Chefredakteur, der in Karlsruhe erscheinenden Fachzeitschrift „Therapiewoche“ hatte Anfang Mai einen alarmierenden Leitartikel unter der Überschrift „Ich klage an“ veröffentlicht. Er löste eine heftige Debatte aus. „Beiträge zur Sportgeschichte“ hielt es für angeraten, die Affäre zu dokumentieren, denn Doping gilt inzwischen als Bestandteil der Sportgeschichte.
THERAPIEWOCHE Nr. 12/1996 (Autor: Udelhoven):
Die Olympischen Spiele 1996 in Atlanta werfen Schatten... Eine (traurige) Geschichte vorweg, die Geschichte von R., einem ehemaligen Athleten, zuletzt erfolgreicher Trainer von Olympiafinalisten... In seinen jungen Jahren ein ordentlicher Mehrkämpfer, mit 50 dann Kraftwerte, die weit über denen früherer Tagen lagen! Warum machst Du das? - meine unverhohlene Frage. Seine unverhohlene Antwort - weil ich wissen muß, wie es meinen Athleten geht, unterziehe ich mich den gleichen ‘Kuren’... Um ihn herum formierte sich mit aggresiver Grundstimmung eine Trainingsgruppe, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt... Und wie diese Bande zusammenhielt. Als ein Athletenbetreuer Wind von einem Dopingnest in seinem näheren Umfeld bekam und begann, Fragen zu stellen, schließlich die Öffentlichkeit suchte, wurde er gnadenlos niedergemacht... So kam es nicht zum großen Outing. Aber, die Bande wurde vorsichtiger... Und man wurde kreativ. Im internationalen Spitzensport sind ja anabole Steroide schon lange nicht mehr der Wesiheit letzter Schluß.
R. stand unter Druck. Wollte er wirklich seinem Arbeitgeber belegen, daß er auch ohne illegalen Mitteleinsatz ein erfolgreicher Trainer sein konnte? Oder wollte er seine pharmakologischen Manipulationen an den derzeit üblichen Kontrollen vorbei aktualisieren, um für das entsprechende Leistungsprodukt zu sorgen? Da mußte der Trainer vorangehen und an sich ausprobieren, was groß und stark macht. Seine Leberwerte verschlechterten sich zunehmend... R... verlor innerhalb weniger Wochen 30 kg, mochte sich nicht mehr anschauen, wurde
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depressiv, selbstzerstörerisch. Ein erfolgreicher Trainer ist tot. Sein Arzt lebt noch. Ich klage an, wohl wissend, daß die dokumentierte Todesursache nichts von pharmakologischen Manipulationen zur Leistungssteigerung wissen will. Warum erzähle ich diese Geschichte hier...Weil nicht ein einzelner irregeleiteter Mediziner an den Pranger zu stellen ist, wiewohl es von diesen einige gibt. Nein, Schuld sind die Verhältnisse und deren Gestalter: Die Ideale eines Baron Pierre de Coubertin hielt noch ein Avery Brundage hoch. Die Samaranchs und Nebiolos stehen in der Nachfolge derer, die dem Volk Brot und Spiele gaben. Da ist die Mast der Gladiatoren vorgesehen. Und deren Tod. Ein Arzt muß das wissen.“
DEUTSCHER LEICHTATHLETIK-VERBAND 7. Mai 1996 (an Udelhoven):
Sehr geehrter Herr Udelhoven!
Ihr Editorial in der ‘Therapiewoche’ 12 (1996) mit der Überschrift ‘Ich klage an’ hat mich und das Präsidium des Deutschen Leichtathletikverbandes in mehrfacher Hinsicht betroffen gemacht. Zunächst und vor allem muß Betroffenheit hervorrufen, wenn Sie, die sich mit Ihrer Zeitschrift... durch die Etikette ‘kritischen Geistes’ auszeichnen möchten, Ihre Kritik nur in Andeutungen, Vermutungen und Verdächtigungen äußern. Wer anklagt, sich somit in die Rolle eines Staatsanwalts begibt, der hat Belege auf den Tisch zu legen. Zum zweiten muß Verwunderung hervorrufen, daß Sie die Dinge beim Namen nennen wollen, es aber dennoch nicht tun. Ohne Zweifel steht in Ihrem Editorial die Leichtathletik zur Diskussion, ohne Zweifel handelt es sich dabei um Dr. Rudi Hars und darüber hinaus vertreten Sie die Auffassung, daß der ehemalige Olympiastützpunktleiter Uli Eicke1) ‘gnadenlos niedergemacht wurde...’ Was die Person von Uli Eicke betrifft, so sollte darauf hingewiesen werden, daß dieser mittlerweile als Studienrat an einem westfälischen Gymnasium unterrichtet. Soll dies als Existenzvernichtung bezeichnet werden, so müßte man sich fragen, wie jenes zu bezeichnen ist, was mit all jenen Studierenden geschieht, die mit besten Noten Staatsexamen abschließen, jedoch keinen Arbeitsplatz im öffentllichen Dienst finden können2)...
Mit freundlichem Gruß
Deutscher Leichtathletik-Verband
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Der Präsident
Prof. Dr. Helmut Digel“
1) Eicke hatte (sid/19.1.1995) dem DSB-Präsidenten Manfred von Richthofen, anderen hochrangigen Sportfunktionären und Journalisten anvertraut: „Wir haben ein Dopingproblem...“ Mitte März 1995 war er von einer Heidelberger Rechtsanwaltskanzlei aufgefordert worden „spätestens bis Freitag, den 17. 03. 1995, 12 h“ Erklärungen abzugeben, „aus denen sich ergibt, daß Sie keinerlei Anhaltspunkte haben, die einen Verdacht des Dopings durch die... drei Sportler der LG Bayer Leverkusen begründen könnten.“ Eicke war später von seiner Funktion als Olympia-Stützpunktleiter abgelöst worden.
2) Digel teilt hier zum ersten Mal in der Öffentlichkeit mit, daß Eicke als Studienrat unterrichtet und macht mit seinem Hinweis auf arbeitslose Universitäts-Absolventen „mit besten Noten“ deutlich, was er zugleich zu bestreiten trachtet: Eicke wurde „untergebracht“, nachdem man ihn gefeuert hatte.
KÖLNER STADT-ANZEIGER 10.Mai 1996 (Robert Hartmann):
„Plötzlich war der Leitartikel der... ‘Therapiewoche’ mit dem unmißverständlichen Titel ‘Ich klage an’ das große Thema der Jahrespressekonferenz des Bundesinstituts für Sportwissenschaft in Köln... Die Beschreibung der Person ist reich an Details. Kenner der Leichtathletik-Szene müßten sich schon gründlich irren, wollten sie in ihr nicht Rudi Hars mit seiner stets auffälligen Bodybuilderfigur wiedererkennen, der 16 Jahre lang der Wurftrainer der LG Bayer Leverkusen war, ehe er sich vor drei Wochen mit seiner Pistole erschoß. Die Ursache, hieß es damals, seien undefdinierbare, über Wochen rasende Schmerzen im Brustbereich gewesen. Am Mittwoch fiel der Name dann zum ersten Mal in dem fatalen Zusammenhang bei einer öffentlichen Veranstaltung...“
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG 13. Mai 1996 (Jörg Stratmann):
„Die Leichtathleten des TSV Bayer 04 Leverkusen sehen sich wieder in die Ecke gedrängt, die sie längst verlassen zu haben glaubten. ‘Auf das Schärfste’ hat die Abteilung Vorwürfe zurückgewiesen, die indirekt im Leitartikel des Heftes 12 der Ärztezeitschrift ‘Therapiewoche’... erhoben wurden. Für die
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Leverkusener ist das ‘verantwortungslose Fortsetzung der Verleumdungskampagne’ gegen den Klub. ‘Zum Schutz seiner Trainer und Athleten und in Wahrung eines gebührenden Andenkens an einen verdienten Trainer’ erklärten sie deshalb, daß besonders die von Hars betreuten Kaderathleten aus den Wurfdisziplinen, darunter Hammerwerfer Heinz Weis1) oder Speerwerferin Steffi Nerius2) regelmäßig kontrolliert würden... Birgit Petsch, Hars’ hinterbliebene Lebensgefährtin, bestreitet, daß der Freitod in irgendeinem Zusammenhang mit Dopingmitteln gestanden habe... Was vor 1990 gewesen sei, ‘hat keine Relevanz für das, was geschehen ist.’... Die Vergangenheit möchten auch die Leverkusener Leichtathleten ruhen lassen. Aggresive Stimmung bei Athleten, ausgelöst durch leistungssteigernde Mittel, sei Merkmal der siebziger und achtziger Jahre gewesen, sagt Lauftraiuner Heinz Wellmann. Er habe lange geschwankt, deshalb den Beruf zu wechseln...“
1) Weis belegte in Atlanta Rang fünf
2) Nerius kam in Atlanta auf Platz neun
THERAPIEWOCHE Nr. 21 1996 (Autor: Peter Udelhoven):
Wer sich über Dopingsünder auslassen möchte, hat es nicht leicht! Ich kann zwischenzeitlich ein Lied davon singen: An dieser Stelle habe ich vor Wochen in anonymisierter Form den Tod eines Dopers beklagt. Der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes, Herr Professor Digel, schäumte und forderte mich auf, ‘Roß und Reiter’ zu nennen. Letztlich erstattete er Anzeige gegen Unbekannt. In Briefen an mich sowie in Interviews mit Massenmedien stellte der Soziologe Digel fest, ordentliche Gerichte würden sich mit meiner Feststellung beschäftigen, ‘der Trainer vom Olympiafinalisten R. sei durch die Spätfolgen seines Spätdopings umgekommen.’ Ich sollte mein Wissen den Gerichten offenlegen. Wenig später verstieg sich der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes zu der Behauptung, das Landgericht Köln sei nun mit dem Vorgang beschäftigt. Entsprechende Rückfragen ergaben, daß dies nicht der Fall war. Da Digel diese Behauptung wiederholt vorgebracht hat, zuletzt in einem Interview mit Herrn Blume für SPORT-BILD, veröffentlicht am 4. Juni 1996, muß ich davon ausgehen, daß er die Öffentlichkeit bewußt täuschen will..
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Ich habe mich mit der Staatsanwaltschaft Köln in Verbindung gesetzt. Frau Oberstaatsanwältin Mösch erläuterte, daß ihr ein Schreiben des DLV zugegangen sei mit der Bitte um Prüfung, ob mit meinem Editorial ein Vorgang beschrieben werde, der strafrechtliche Konsequenzen habe. Sie könne mir bereits jetzt sagen, daß dies nicht der Fall sei und auch keine weitergehenden Ermittlungen erhoben würden. Ich bot der Oberstaatsanwältin an, nichtsdestotrotz eine Aussage machen zu wollen und mein Detailwissen im vorliegenden Fall offenzulegen, um es letztlich ihr anheimzustellen, ob nicht doch ein Verfahren zu eröffnen sei. Sie verneinte mit der Bemerkung, die ‘Staatsanwaltschaft sei nun mal nicht der Rächer der Gerechten, jeder könne seinem Leben ein Ende setzen, wie es ihm beliebe, ob mit oder ohne Doping.’ Ich habe diese Feststellung keineswegs als zynischen Kommentar zum Tode des Trainers R. verstanden, sondern als Zustandsbeschreibung der Jurisprudenz gegenüber einen Phänomen, das noch nicht von Strafgesetzen bewehrt ist.
Warum spricht aber Digel davon, daß das Landgericht Köln den Vorgang prüfe? Weil er nicht weiß, daß die Staatsanwaltschaft - und dies unter Zuhilfenahme polizeilicher Ermittler - erst einmal zu überprüfen hat, ob überhaupt ein Verfahren zu eröffnen ist? Nein, mir drängt sich der Eindruck auf, daß der zu erwartende Bescheid der Staatsanwaltschaft. daß die Ermittlungen der Sache abgeschlossen wurden und kein Verfahren zu eröffnen sei, für eine Meldung zu nutzen, daß die ‘vorgetragenen Dopingverdächtigungen haltlos sind.’... Als ich letztlich zu Detailaussagen bereit war, stellte er seine Strategie um und erstattete Strafanzeige gegen Unbekannt. Mit mir als Zeugen? Er hätte, spätestens durch seinen Justitiar Prokop, von Hause aus Richter, wissen müssen, daß es für Doping-Katastrophen in unserem Land noch keine Gesetze gibt, die eine strafrechtliche Verfolgung so ohne weiteres möglich machen.
Fazit: eine Dopingdiskussion vor der sportlichen Klimax der Coca-Cola-Olympiade ist nicht gewünscht und unter allen Umstäden zu verhindern. Wenn es nicht eine Öffentlichkeit gäbe...“
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Interview mit Peter Udelhoven
„Beiträge zur Sportgeschichte“ bat den in der Dokumentation mehrfach zitierten Chefredakteur der „Therapiewoche“ um ein Interview. Er bat bei einer Frage um Verständnis dafür, daß er sie nicht beantwortet, weil er einige Wochen nach diesem Gespräch vor die Doping-Kommission des Deutschen Leichtathletik-Verbandes geladen war.
BzS: Könnten Sie sich unseren Lesern mit wenigen Worten vorstellen?
P.U.: Ich bin Medizinjournalist, u.a. als Autor und Hergusgeber von Patienteninformationen (u.a. DER GROSSE FAMILIENRATGE-BER DER GESUNDHEIT) hervorgetreten, aber primär Richtung Ärzteschaft tätig. So war ich Ressortleiter bei Zeitschriften wie MEDIZINISCHE WELT und KASSENARZT, bevor ich im vergangenen Jahr die Chefredaktion der THERAPIEWOCHE übernommen habe. Meine Zielgruppe ist also primär der Arzt, der niedergelassene Arzt.
BzS: Wie sind Sie mit Doping in"Berührung" gekommen?
P.U.: Ich habe als Leistungssportler vor 30 Jahren mit nationalen und internationalen Meistern zusammen trainiert.Dabei habe ich als ausgesprochen neugieriger Mensch den einen oder anderen Hinweis auf leistungsfördernde Begleitmaßnahmen bekommen. Kapiert habe ich das damals nicht, beispielsweise bei einem späteren Weltrekordler ein Arzneimittelgläschen mit Anabolika im Badezimmer zu finden. Nun ja, dergleichen war ja damals wohl noch nicht verboten.
Heute erfahre ich über meine beiden Söhne, die nationale Meister sind, so einiges von der aktuellen Front: beide sind ganz konkret, persönlich und wiederholt zum aktiven Doping „eingeladen“ worden.
BzS: Der Kampf gegen Doping wird seit Jahrzehnten geführt. Geben Sie ihm in dieser Phase der Hochkommerzialisierung des Sports überhaupt eine Chance?
P.U.: Nein! JedenfaIls nicht im Elitesport.
BzS: Wie würden Sie den Kampf gegen Doping organisieren, wenn man Sie morgen zum Welt-Anti-Doping-Chefinspektor berufen würde?
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P.U.: Entkommerzialisierung.
BzS: Der Kampf gegen Doping ist auch ein gnadenloser Wettlauf zwischen Pharma-Industrie und Dopingforschern. Sehen Sie das anders?
P.U.: Das sehe ich genau so: selbst die vermeintlichen Dopinggegner setzen hier und heute auf die Hilfe von von Medizin und Pharmazie nach dem Motto: „Wir haben die bestehenden (legalen) Möglichkeiten noch gar nicht ausgeschöpft! - soll heißen: es sind noch Möglichkeiten in den beiden „Hilfswissenschaften“ verborgen, die man gerne nutzen möchte, bevor sie dann verboten werden (müssen)....
BzS: Es ist unbestritten, daß man in Deutschland einiges tut, um Doping zu vereiteln - mehr zweifellos als in anderen Ländern -, aber es tauchen immer wieder Symptome auf, die fürchten lassen, daß dieser Kampf mehr mit Werbespots als mit energischen Maßnahmen geführt wird. Wie sehen Sie das?
P.U.: Ich bin ganz Ihrer Meinung. In dieser Warengesellschaft läßt sich alles verkaufen - die Athletentruppe, die sich freiwillig und mehrfach zu den bekannten Doping-Kontrollen melden möchte (wobei bekanntlich ja nur das Doping mit „Altsubstanzen“ kontrolliert wird) wie auch der Athlet, der nach abgelaufener Dopingsperre zurückkommt, das aktuelle Beispiel hierzu heißt Tiedtke-Greene.
BzS: In solchem Zusammenhang taucht der Name des Stützpunktleiter Eicke immer wieder auf, der jetzt in einem Gymnasium Schüler unterrichtet. Wie beurteilen Sie seinen "Wechsel" und wie würden Sie ihn einordnen.
P.U.: Eicke hatte sicherlich als ehemaliger Olympiasieger, Diplom-Sportlehrer und Olympiastützpunktleiter andere Perspektiven, als die sich ihm heute als Lehrer darstellenden. Nach meinem Dafürhalten ist er aufgrund seiner Einlassung über „Dopingnester“ in seinem verantwortungsbereich abgemahnt und anschließend in die Provinz geschickt worden.
BzS: Fast täglich tauchen neue Medikamente auf, die in der Dopingszene eine Rolle spielen. Halten Sie einen Mediziner für imstande, diese Woge zu kontrollieren?
P.U.: Nein, Zum einen sind Ärzte im Rahmen ihrer Ausbildung relativ schlecht in Sachen Arzneimittelwirkungen ausgebildet, zum anderen ist die Kreativität in der Dopingszene unglaublich
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phantasievoll und mit der in der Drogenszene vergleichbar. Da werden beispielsweise Arznemittel ausprobiert, die in der „Krankenszene“ längst abgelöst wurden von verträglicheren Medikamenten, sei es, um indirekte Effekte zu nutzen oder simples Hormondoping zu kaschieren. Dennoch möchte ich meinen Teil zur Dopingebkämpfung beitragen und meine Leserschaft, die Ärzte, weiterhin für das Thema sensibilisieren und - soweit mir das möglich ist - ins Bild setzen.
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DOKUMENTE:
Briefwechsel des IOC-Mitglieds Pieter Schaarroo mit Ritter von Halt (1942)
Unter dem Datum des 22. Juli 1942 schrieb der 1924 in das Internationale Olympische Komitee gewählte Niederländer Pieter Wilhelmus Scharroo auf einem vorgedruckten Formblatt „Kriegsgefangenenpost“ an „Herrn Dr. Karl Ritter von Halt, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees. Charlottenburg. Reichssportfeld.
Bester Karl, Die grosze Güte der Lagerleitung macht es mir möglich dir zu schreiben, dasz ich seit dem 15. mai d.J. in diesem Kriegsgefangenenlager verbleibe. Bitte, teile dies Edström mit, wegen der Korrespondenz des I.O.K. Es ist wohl traurig, dasz ich, nach allem, was ich für Deutschland in meinem tun möchte, diese Tage in deinem Vaterland durchmachen musz. Dazu kommt, dasz ich krank bin - Ischias, Rheuma, Körperschwäche - Durchhalten fällt schwer auf meinem Alter. Könntest du etwas tun um mich wieder nach Holland und unserer Arbeit zurück zu bringen, so wäre ich dir sehr erkenntlich. Hoffentlich geht es dir und der lieben Grete gut. Grüsze sie und Exz. Lewald herzlich von mir. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder in besseren Tagen. Mit herzlichen Sportgrüssen dein sehr ergebener Scharroo.
Unter dem Datum des 24. Juli 1942 schrieb ein gewisser Bischoff an Ritter von Halt:
Ihr w. Schreiben an den Kommandant des Kriegsgefangen-Lagers Nürnberg-Langwasser kam in meine Hände, nachdem ich Kommandant des Holländer-Lagers bin. Ich habe mich persönlich sehr gefreut, von Ihnen wieder mal ein persönliches Lebenszeichen erhalten zu haben und mich dabei an unsere gemeinsame SA-Dienstzeit in der Kampfzeit erinnert. Ich bin seit nahezu 10 Jahren wieder bei der Wehrmacht und habe viele Dienststellen absolviert, um nun als Kriegsgefangenen-Kommandant gelandet zu sein.
Gerne habe ich Ihrem Wunsch Rechnung getragen betr. des holländischen Oberst Scharroo. Ich habe ihn zu mir gebeten und ihm von Ihrem Briefe Kenntnis gegeben. Er hat sich ausserordentlich
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gefreut, dass Sie sich seiner erinnert haben. Er befindet sich in ausgezeichnetem Gesundheitszustand und es geht ihm auch, soweit man bei Kriegsgefangenen von gut sprechen kann, gut. Jedenfalls habe ich auch Anordnungen getroffen, daß die Verdienste des Oberst Scharro nicht vergessen werden. Zu einer Konsequenz hieraus, die Sie sich wohl als Freilassungsantrag denken dürften, bin ich leider nicht befugt. Solche Anträge müssen von den deutschen Stellen aus an den Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden, Den Haag, gerichtet werden. Sollte jedoch ich hier einen Auftrag erhalten, die ehrlichen Anhänger Deutschlands herauszuschälen, so würde ich nicht versäumen, den Oberst Scharroo in Vorschlag zu bringen.
In der Hoffnung, daß es Ihnen, sehr verehrter Herr Doktor, nach wie vor gut geht, begrüsse ich Sie in alter Kameradschaft herzlichst
Heil Hitler
Ihr sehr ergebener Bischoff
Major
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REZENSIONEN:
Interessant, informativ, widersprüchlich.
Karl Adolf Scherer, der sich seit vielen Jahren mit der olympischen Geschichte befaßt und bereits 1974 mit seinem Buch "Der Männerorden" eine kritische Geschichte des IOC vorlegte, meldete sich jetzt mit einem gewichtigen Buch zu Wort - "100 Jahre Olympische Spiele - Idee, Analyse und Bilanz". Gewichtig im wörtlichen Sinne nach Umfang und Gewicht, gewichtig aber auch von Inhalt und Form. Es besticht durch seine Übersichtlichkeit, seine lockere und gut lesbare Schreibweise, ist interessant durch die Darstellung vieler Anekdoten und vielfach wenig bekannter Begebenheiten aus der olympischen Geschichte und vermittelt dem sportinteressierten Leser mit dem übersichtlichen, reichhaltigen und gut gestalteten Statistikteil einen leicht zugänglichen Überblick zu den sportlichen Ergebnissen aller Olympischen Spiele der Neuzeit. Knappe, aber treffende Bildbeschreibungen erleichtern ihre zeitliche und inhaltliche Einordnung. Abgerundet wird der positive Gesamteindruck durch einen informativen und übersichtlichen Anhang zu allen bisherigen und aktuellen Mitgliedern des IOC, zu dessen Amtsträgern, den NOK sowie den internationalen olympisch anerkannten Sportföderationen. Insgesamt ein Buch, das die sporthistorische Literatur zum Thema erweitert und bereichert. Der Leser wird auf jeden Fall mit persönlichem Gewinn darin blättern.
Allerdings muß sich der Autor an dem von ihm im Buchtitel selbst gestellten und ebenso gewichtigen Anspruch messen lassen. Kann man diesem hinsichtlich der Bilanz der Olympischen Spiele sicher uneingeschränkt und der Darstellung ihrer Idee noch weitgehend zustimmen so drängt sich zum Anspruch einer Analyse doch beträchtlicher Widerspruch auf. Abgesehen von einzelnen Ungenauigkeiten im Medaillenspiegel - der Silbermedaillengewinner von Melbourne 1956 über 1500 m, Klaus Richtzenhain, wird beispielsweise unter GDR, alle anderen DDR-Starter der gemeinsamen Mannschaft aber unter GER geführt - bezieht sich das Unbehagen vor allem auf den Textteil. Hier erweist sich der zunächst verständliche konzeptionelle Ansatz, ohne Anspruch auf Vollständigkeit Begebenheiten aus der
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olympischen Geschichte auszuwählen und zu beschreiben, als ein unübersehbares Manko des Buches. Wirkt ein solches Herangehen auf den ersten Blick interessant, so erweckt es bei näherer Betrachtung den Eindruck des Willkürlichen. Das Weglassen wichtiger Fakten zu den geschilderten Sachverhalten trägt ebensowenig zum Verständnis der olympischen Geschichte als unlösbarem Bestandteil des historischen Gesamtprozesses bei wie allzu leicht dahingeschriebene Einschätzungen. Wenn schon beispielsweise durchaus berechtigt die überragenden Leistungen des Norwegers Birger Ruud bei den olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen so breit dargestellt werden,so gehört zur historischen Wahrheit über diesen Mann aber auch, daß der gefeierte Sportler wenige Jahre später während der deutschen Besetzung Norwegens ins KZ kam, weil er es ablehnte, mit den Besatzern zu kollaborieren. Eigenartigerweise spielt aber die Inhaftierung des letzten „Reichssportführers“, Ritter von Halt, durch die sowjetische Militäradministration nach dem Kriege dagegen im Text eine beträchtliche Rolle. Ebenso sucht man vergebens nach einem Hinweis, daß der in Athen 1896 gefeierte mehrmalige Olympiasieger und Medaillengewinner im Turnen, Gewichtheben und Ringen,Carl Schuhman, nach seiner Rückkehr in Deutschland wegen seiner Teilnahme an den Olympischen Spielen gesperrt wurde. Ebenso verdrießen beim Lesen immer wieder allzu lockere, teilweise oberflächliche Einschätzungen. Zur Bewertung der Olympischen Spiele 1936 wäre wohl mehr zu sagen, als das "Kommunisten und Sozialisten" die Spiele “beschimpften“, Berlin aber deshalb einen bedeutsamen Platz in der olympischen Geschichte einnahm, " ...weil bis heute niemand zu sagen weiß, ob Adolf Hitler Jesse Owens empfangen hätte, wenn es ihm noch erlaubt gewesen wäre." (S. 181/82) Oder, was soll eine ernstgemeinte Bemerkung, "die Sowjets" hätten 1952 vor der Tür gestanden, um “das IOC zu usurpieren".(S.9) Lassen wir es dabei bewenden. Es ist schade, daß es der Autor nicht vermochte, über seinen Schatten zu springen und Vorurteile außen vor zu lassen. Das Buch hätte noch deutlich an Wert gewonnen.
Karl Adolf Scherer; 100 Jahre Olympische Spiele - Idee, Analyse und Bilanz; Harenberg Kommunikation, Dortmund, 1995. 427 Seiten; 98 DM
Gerhard Oehmigen
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Atlanta - ein wenig verzerrt
Man kennt die Crux der Herausgeber von Olympiabänden: Im Wettlauf um den Käufer müssen Sprintrekorde erzielt werden. Der in Berlin beheimatete Sportverlag konnte früher auf allzu hurtige Produktionen verzichten und das schuf Maßstäbe, die inzwischen verlorengingen. Das Atlanta-Buch ist optisch brillant gestaltet, darf sich wohl rühmen in dieser Hinsicht - auch was die Qualität und Auswahl der Bilder betrifft - die Konkurrenz übertroffen zu haben, mußte sich aber mit Texten begnügen, die fast nirgendwo olympisches Format erreichten. Was ausgerechnet Harry Valerien als Herausgeber empfahl, bleibt unklar. Seine einführende Wertung der Spiele - darauf reduziert sich faktisch die Aufgabe populärer Editoren, von denen man sich hohe Kaufquoten erhofft - ist dünnblütig, stolpert von einem Zitat zum nächsten, verzichtet zum Beispiel bei der Würdigung Birgit Fischers auf die rund um Berlin Hunderttausende bewegende Tatsache, daß moderne Gesetze und „Alteigentümer“ ihr das Heim genommen haben. Die Reihenfolge der Sportarten - Schwimmen, Schießen, Turnen, Radsport, Schwerathletik... an 14. Stelle folgt die Leichtathletik - ist ohne erkennbares System.
Viele Autoren haben Mühe, ihr Fachwissen deutlich werden zu lassen. Daß der Verlag für die der Geschichte gewidmeten Kapitel keinen Fachmann gewinnen konnte, ist betrüblich, der dafür engagierte Thomas Kistner hat seine Ignoranz oft genug demonstriert, als daß es eines weiteren Beweises bedurfte. Eine Kostprobe über Athen 1896: „Groß waren auch Coubertins Vorbehalte gegenüber den Deutschen. Die griechischen Veranstalter aber luden Deutschland zu den Spielen.“ Es ist hinlänglich bekannt, daß Coubertin die Deutschen schon zu seinem Kongreß 1894 eingeladen hatte, die Sportführer aber eine Teilnahme als mit der Würde eines Deutschen unvereinbar bezeichneten. Derlei Oberflächlichkeiten prägen auch viele andere Texte. Klaus Weise zeichnete für ein „Tagebuch“ verantwortlich, das mit folgenden kapitalen Zeilen ausklingt: „Das waren sie, die Hundertjährigen. Stille Erinnerung. Lautes Aufatmen. Selten stimmt der Chronist mit Bundesministern überein. Doch als Volker Rühe, Gast der Spiele, seine Erlebnisse in Atlanta mit dem Satz resümiert, ‘Wenn es das alles nicht gäbe, dann wäre diese, unsere (!) Welt sehr
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viel ärmer’, da war dieser erfreulich kurzen Politiker-Rede nur Beifall zu klatschen und sie zu drucken.“
So bleiben die faszinierenden Bilder und die fast fehlerfreie und sogar nach dem Alphabet geordnete Statistik das größere Erlebnis beim Studium dieses Buches. Blättert man sich bis zum Impressum durch, stößt man auf eine medaillenverdächtige Fotomontage: Die fünf Ringe symbolisiert durch fünf Konzern-Markenzeichen unter der Zeile: „Wir rufen die Jugend der Welt“.
Harry Valerien; Atlanta - Das Olympiabuch 1996; Sportverlag Berlin 1996; 242 S.; 39,90 DM
Klaus Huhn
Bemerkenswerte Erinnerung an 1936
Nachdem die gescheiterte Olympiabewerbung für das Jahr 2000 das Thema 1936 einfach ausgeblendet hatte, wurde nun durch eine Ausstellung die ganze Brisanz dieser Problematik mit Akribie in die Öffentlichkeit gerollt.
Es gibt ja in der deutschen Geschichte kein sportliches und sportpolitisches Ereignis, das bis heute so konträre, breite und nachhaltige Debatten ausgelöst hat und den sporthistorischen Diskurs weiter begleitet, wie die Olympischen Spiele von 1936. Die Ausstellung „1936 - Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus“ wird im Zusammenhang mit dem Jahrhundertjubiläum der Olympischen Spiele und 60 Jahre nach den Spielen in Deutschland den geschichtlichen Dimensionen in bester Weise gerecht. Die Stiftung Topographie des Terrors unter der Leitung ihres Direktors Prof. Dr. Reinhard Rürup, hat unter Mitwirkung zahlreicher wissenschaftlicher Helfer für die breite Öffentlichkeit eigentlich erstmalig eine umfassende geschichtliche Aufarbeitung vorgestellt. 1936 war in mehrfacher Beziehung ein "Höhepunkt". Die Autoren der Exposition verliehen dem die Gestalt eines Riesenbilderbuches im positiven Sinne. Es gelingt ihnen, die ganze Ambivalenz der Veranstaltungen in Deutschland durchsichtig zu machen, die in der Gleichzeitigkeit von sportlichen Hochzeiten vor internationaler Öffentlichkeit und von direkter Vorbereitung des Weltkrieges Nr. 2 besteht.
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Was macht die Ausstellung eigentlich so eindrucksvoll?
Zunächst die Tatsache, daß man in den großformatigen Fotos spazierengehen kann und in deutsch (schwarze Schrift) und englisch (blaue Schrift ) kompetente Erläuterungen dazu erhält. Die ganze Problematik der Vorgeschichte und des Ablaufs der Spiele, eingebettet in die deutsche Sportgeschichte, wird dem Betrachter in den neun Ausstellungs-Komplexen durch Fotos, vergrößerte Faksimile-Dokumente überzeugend vor Augen geführt. Hier wird das Ergebnis umfangreicher und aufwendiger wissenschaftlicher Forschungsarbeit vorgestellt, die sowohl um Personen, (Brundage, von Halt, Diem, Edström) wie um Hintergründe (Demagogie der faschistischen Führung, Verhalten der IOC-Mitglieder, Verhaftung und Verjagung von Bettlern, Sinti und Roma, Überwachung der ausländischen Gäste, polizeiliche Sondermaßnahmen) keinen Bogen macht. So erhalten die Aussagen nachhaltiges Gewicht.
Im 1.Komplex der Ausstellung werden dem Besucher wesentliche Gesichtspunkte und Fakten aus der Geschichte der olympischen Bewegung, ihrer Repräsentanten zwischen 1896 und 1932 vermittelt. Auch für die deutsche Sportgeschichte werden nötige Informationen für das Gesamtverständnis dessen gereicht, was nach dem 30. Januar 1933 geschah. Die wichtigsten, bis dahin bestehenden Sportorganisationen werden vorgestellt. Dabei ist es ein Anliegen der Exposition, die Existenz einer eigenen jüdischen Sportbewegung zu betonen.
Der 2. Komplex dokumentiert die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie, die Errichtung der faschistischen Diktatur, einschließlich der schrittweisen rigorosen Abschafffung bisheriger sportlicher Organisationsstrukturen, die Beseitigung der Verbände des Arbeitersports, die Liquidierung der konfessionellen Verbände bzw. ihre „Gleichschaltung“ unter der zentralistischen Führung des Reichssportführers. Es entspricht der realistischen und nicht zu beschönigenden Wertung der ns-Herrschaft festzustellen, daß die Unterstützung der ns-Diktatur „durch die große Mehrheit der Bevölkerung" schon vor den Olympischen Spielen „einen ersten Höhepunkt" erreichte. Auch diese Aussage wird optisch beweiskräftig gemacht. Zugleich werden diesem Abschnitt einprägsam Dokumente (Montagen J.Heartfields) zur Entlarvung der Hitlerschen Kriegs- und Verschleierungspolitik beigefügt.
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Im 3. Komplex werden "Ideen und Interessen" der Veranstalter der Spiele dokumentiert und in einem gesonderten Teil wird die internationale Protest- und Boykottbewegung anschaulich gemacht. Die als Gegenveranstaltung in Barcelona vorbereitete Volksolympiade fällt dem Franco-Putsch zum Opfer. Das Foto der Litfaßsäule in Barcelona mit den Werbe- und Informationsplakaten zu den Wettkämpfen vor der schnell errichteten Barrikade bleibt besonders im Gedächtnis haften. Die internationale Vielfalt der Sportler und Organisationen, die sich dem Faschismus im olympischen Gewand verweigern, ist ein wesentlicher und umfassender Beitrag zur Verdinglichung des Antifaschismus. Diese Haltung wird in den Zeugnissen humanistischer Gesinnung von Sportlerinnen deutlich, die auf die olympische Teilnahme unter den gegebenen Umständen verzichten.
Der 4. Komplex befaßt sich mit den Vorbereitungen, darunter den Bauplänen, auf die Hitler und seine Paladine direkten Einfluß nahmen, und die am Ende die weiträumige und großzügige Gestaltung des „Reichssportfeldes" und seiner weiteren Umgebung zum Ergebnis hatten. Hieran schließt sich die Dokumentation zu den sportlichen Vorbereitungen mit zentralen Trainings- und Vorbereitungslagern, der politischen Auswahl und ideologischen Beeinflussung ihrer Teilnehmer an. Offiziell wurden auf Verlangen der internationalen Öffentlichkeit auch jüdische deutsche Sportler zugelassen, praktisch jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, ausgeschlossen. Zu den Vorbereitungen gehörten auch die "Propaganda und Werbung". Von der Schaufensterdekoration mit den entsprechenden Hinweisen, über die Statistik zu Auflagenziffern der für die Auslandswerbung verteilten offiziellen Werbeplakate, Rundfunkansprachen und Zeitungsartikel bis zu Olympia-Heften und internen Anweisungen zur Beflaggung jüdischer Geschäfte reicht die Palette der politischen Absicherung. Ein Höhepunkt in diesem Programm war der erste olympische Fackellauf durch sieben Staaten von Olympia bis Berlin.
Im 5. Komplex finden die Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen in ihrer "Organisation und Inszenierung" und ihren sportlichen Ereignissen Platz. Im Katalog ist zu lesen: "Die Winterspiele zeigten auf kleinstem Raum wichtige Merkmale der Spiele von 1936: Die Hilfs-, Ordnungs- und Arbeitsfunktionen von Wehrmacht, Polizei, SS, SA und Reichsarbeitsdienst traten ebenso hervor wie
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die Präsens der Prominenten aus Partei-, Staats- und Armeeführung und aus dem Ausland.Trotz einer Verordnung des Reichsinnenministers, wonach der ‘Reichssportführer’ und die Zuschauer sportliche Kleidung tragen sollten, bestimmten Uniformen das Bild. Selbst für Bildreporter war einheitliche Kleidung vorgeschrieben. Eine Mischung aus mondäner Welt, Skihüttenambiente und Improvisation bestimmte das Flair der Winterspiele." (S.89) Die Wettkämpfe und die erfolgreichen Sportler werden optisch und biographisch dokumentiert.
Im 6.Komplex wird das Olympische Dorf vorgestellt aber auch ein Flugblatt der Deutschen Volksfront gegen die faschistische Diktatur und die Kopie des Briefes von J.M.Lorraine aus Southampton an Jesse Owens, in dem er aufgefordert wird, aus Protest gegen die Rassenverfolgungen die Entgegennahme der Olympiamedaille zu verweigern. Es gelingt auch, die Ambivalenz der großen Feiern und Empfänge, der Massenveranstaltungen und des Kulturprogramms deutlich zu machen. Der Betrachter erfährt Konkretes über polizeiliche Maßnahmen gegen politische Widerstandsaktionen, aber auch gegen Prostitution gegen Bettler, Sinti und Roma. Ihre Ghettoisierung wurde praktisch in Marzahn eingeleitet. Rassistische Maßnahmen sind im Zusammenhang mit den Spielen kaschiert und zugleich verschärft worden, um möglichst "störungsfrei" über die Olympiawochen zu kommen. Die Wettkämpfe in Berlin, die Entscheidungen und Porträts von SportlerInnen enthält der 7. Komplex in angemessener Ausführlichkeit. Im 8.Komplex unter dem Titel "Rezeption und Manipulation" findet sich eine kritische Betrachtung des Riefenstahl-Films und ein Abschnitt über "'Olympischen Geist"' und Politik. Das Medienereignis übertraf noch das von 1932 in Los Angeles. So berichteten aus Berlin 1800 Pressevertreter aus 59 Ländern. Dazu kamen noch 42 Rundfunkgesellschaften, die allein 120 Berichterstatter beschäftigten. Erste Fernsehübertragungen in öffentliche Berliner Fernsehstuben waren technische Leistungen mit kalkulierten politischen Zielen.Zeitgenössische private Korrespondenzen lassen erkennen, wie widersprüchlich die Eindrücke von den Spielen bei Aktiven und Zuschauern gewesen sind. Im letzten Teil dieses Komplexes gehen Text und Dokumente darauf ein, wie sich in den folgenden Jahren bis zum Kriegsende die deutschen Repräsentanten das IOC untertan zu machen
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bemühten und die Erfolge von 1936 für die ns-Politik unmittelbar nutzten.
Der 9.Komplex ist "Tradition und Kritik“ getitelt. Hier stehen Schicksale von Olympiakämpfern im Mittelpunkt, unter ihnen jüdische Sportler, vor allem aus Ungarn, Deutschland, Holland und Polen. Zu den 0pfern des Holocaust zählten die erfolgreichen Turner bei den Athener Spielen von 1896 Alfred und Gustav Felix Flatow. Viele deutsche Olympioniken wurden Opfer des Weltkrieges, der Antifaschist Werner Seelenbinder muß auf das Schafott, andere wurden, wie Birger Ruud und Bronislav Czech, in den faschistischen KZ inhaftiert und verloren dort ihr Leben, nicht wenige polnische Sportler starben im Kampf gegen die Okkupation. Ritter von Halt und Carl Diem dagegen führten noch Ende April 1945 das Volkssturmbataillon "Reichssportfeld" an. Beide nahmen wenige Jahre später maßgeblichen Einfluß auf die Sportentwicklung in der BRD. Am 5.Oktober 1950 verfaßte der damalige IOC-Vizepräsident Avery Brundage einen "Persilschein" für v.Halt,dessen Wortlaut nachzulesen ist.
Im Beiprogramm stellten sich Autoren der Ausstellung zu speziellen Themen mit Vorträgen und Diskussionen. Eben, weil - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die meiste Literatur in der Bundesrepublik Deutschland und die sogenannte öffentliche Meinung - ganz im Gegensatz zu der in der DDR - auf der Diemschen Apologetik von 1960 fußte, die Spiele von 1936 seien, weil vom IOC gelobt, ganz im Sinne der olympischen Bewegung gewesen, wurde diese Ausstellung zu einem wichtigen Werk der historischen Wahrheitsfindung und der Korrektur solcher verbreiteten falschen Vorstellungen. Insofern hat das öffentliche Beweisen der Ambivalenz der Spiele von 1936 weitreichende Bedeutung.
1936 - DIE OLYMPISCHEN SPIELE UND DER NATIONAL-SOZIALISMUS. Die Ausstellung war vom 24. Mai bis 18. August in der ehemaligen Staatlichen Kunsthalle an der Berliner Gedächtniskirche, Budapester Str.42 (10787 Berlin) gezeigt worden und wird vom 15.November 1996 bis 26.Januar l997 im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Museumsmeile, Adenauerallee 250 in 53113 Bonn, gezeigt.
Hans Simon
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Beeindruckend - Gegenolympiade der Kunst 1936
Am 1. August 1936, an dem Tag als mit bis dahin ungekanntem Propagandaaufwand die XI. Olympischen Sommerspiele in Berlin begannen, wurde in Amsterdam die Ausstellung "De Olympiade Onder Dictatuur - D.0.0.D" (Tod) eröffnet.
Die vom Gemeentearchief Amsterdam verantwortete Rekonstruktion der Amsterdamer Gegenolympiade der Kunst, die durch eine umfangreiche Videodokumentation ergänzt wird, ist nun auch in Deutschland zu sehen. Obwohl von den damals gezeigten etwa 300 Arbeiten nur 120 wieder aufgefunden und erneut präsentiert werden konnten, lassen die vorhandenen Exponate und das Wissen um die verschollenen und vernichteten heute noch den besonderen Wert dieser Ausstellung erkennen. Und es ist nicht nur zu ahnen, wie bescheiden, ja dürftig sich die Kunstausstellung anläßlich der Olympischen Spiele 1936 in Berlin dagegen ausnahm.
Der niederländische "Künstlerbund zur Verteidigung kultureller Rechte" hatte damals gemeinsam mit dem niederländischen "Komitee zum Schutz des olympischen Gedankens" dazu aufgerufen, die Berliner Kunstausstellung zu boykottieren und sich stattdessen an der Amsterdamer Gegenolympiade der Kunst zu beteiligen. Etwa 150 Künstler reichten Arbeiten ein, die ohne jede Einschränkung ausgestellt wurden, als einzig mögliche Antwort auf die totalitäre Kunstpolitik im deutschen ns-Staat. Es beteiligten sich stilistisch völlig unterschiedlich arbeitende Künstler, Impressionisten, Expressionisten, Surrealisten, Realisten, Vertreter der neuen Sachlichkeit und Abstrakte, wodurch ein Überblick über die damalige breitgefächerte europäische Kunstszene entstand. Die Ausstellung war zugleich ein Beispiel für das breite Bündnis von Künstlern und Intellektuellen jener Zeit gegen Nationalsozialismus, Kriegsvorbereitung und Krieg sowie jeder geistigen Haltungen, die dem dienten. Diesem Anliegen entsprechend war der Exposition eine umfangreiche Dokumentation vorangestellt worden, die außerordentlich kenntnisreich und heute noch tief beeindruckend über die Machtergreifung durch Hitler und jene Gesetze informierte, welche die Grundrechte außer Kraft setzten, über die ns-Rassenpolitik, die
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Nazifizierung von Wissenschaft und Erziehung, die auf Ausrottung von Minderheiten und Andersdenkende zielende Bücherverbrennung, die Gleichschaltung von Theater, Film, Musik, bildende Kunst und Sport, über Vertreibung, Verfolgung und Tod.
In der sich anschließenden Kunstausstellung waren mit den Zeichnungen von Karl Schwesig (Drei Tage in der Folterkammer) und den Holzschnitten von Jan/Hanns Kralik (KZ Börgermoor) die ersten künstlerischen Zeugnisse selbst erlebter Greueltaten in ns-Deutschland zu sehen. Mancher nahm in seinen Arbeiten visionär spätere Geschehnisse voraus oder ließ das Kommende ahnen. Viel mehr vermittelten aber Alltagsszenen, Porträts, Landschaften, Stilleben oder Abstraktionen und viele Skulpturen den humanistischen Anspruch und die Solidarität im Kampf gegen den Faschismus, der von allen als die größte Bedrohung der Kultur empfunden wurde. Es stellten bekannte Künstler aus, wie Fernand Leger, Frans Masereel oder Max Ernst, und solche die in Deutschland als "entartet" galten. Es nahmen französische, belgische, englische, dänische und schwedische Künstler teil, Künstler aus den USA, der CSR und Ungarn, besonders aber aus den Niederlanden und Deutschland, zumeist deutsche Emigranten. Mancher von ihnen sollte Verfolgung und Deportation später selbst bzw. erneut erleben, wie Helen Ernst, Johan Wertheim oder Boris Taslitzky, und andere Deportation und KZ nicht überleben, wie Otto Freundlich, Chris Lebeau, Frits van Hall oder Moissi Kogan.
Bereits drei Wochen vor der Eröffnung wandte sich der deutsche Konsul unter Umgehung der niederländischen Regierung direkt an den Bürgermeister von Amsterdam und drängte, Schritte gegen die Ausstellung zu unternehmen. Über den Gesandten in Den Haag wurden das Auswärtige Amt in Deutschland informiert und Informationen über die Namen, den Beruf und die politische Gesinnung der Organisatoren sowie die teilnehmenden Künstler übergeben und diejenigen über deutsche Künstler im Exil an die Berliner Gestapo weitergeleitet. Bei der niederländischen Regierung wurde wegen eines Verbots vorgesprochen und als das nicht gelang, die Entfernung wichtiger Exponate durchgesetzt. Noch vor der Eröffnung entfernte die Behörde 19 Werke darunter das Gemälde "Zeitbild" von Harmen Meurs und Zeichnungen von Karl Schwesig, am 12.August Holzschnitte von Gerd Arntz (A. Dubois) und erneut Zeichnungen von Karl Schwesig und am 17.
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August nochmals Fotos, Karikaturen, Zeichnungen, Abbildungen und eine Bildunterschrift.
Trotz der staatlichen Zensur, die maßgeblich auf Drängen deutscher Behörden erfolgte, wie Originaldokumente belegen, war die Ausstellung "ein Erfolg" und die Reaktion von Künstlern in den Niederlanden und "beträchtlich". So die Einschätzung aus damaliger und heutiger Sicht. Um so mehr mußte befremden, daß in verschiedenen Rezensionen der, dem Stadtmuseum Berlin - Sportmuseum Berlin zu verdankenden, Kunst- und Geschichts-Ausstellung auch heute noch der künstlerische Anspruch der damaligen Exposition herabgesetzt oder ihr eine geringe Resonanz nachgesagt wird.
DIE OLYMPIADE UNTER DER DIKTATUR. Rekonstruktion der Amsterdamer Kunstolympiade 1936.
Margot Budzisch
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JAHRESTAG:
Vor 200 Jahren - Erste Spielsammlung
Johann Christoph Friedrich GutsMuths "Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und des Geistes für die Jugend, ihre Erzieher und alle Freunde unschuldiger Jugendfreuden" erschienen erstmalig 1796 im Verlag der zur Erziehungsanstalt Schnepfenthal gehörenden Buchhandlung.
Diese Spielsammlung ergänzte GutsMuths’ Schrift "Gymnastik für die Jugend" und hatte eine ähnliche Wirkung wie diese. Mehr als 100 Jahre war sie ein Standardwerk, das viele Auflagen erlebte. Die ersten drei besorgte GutsMuths noch selbst. Die jüngste Ausgabe erschien - herausgegeben von der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) Leipzig - 1959 im Sportverlag Berlin in der Reihe "Quellenbücher der deutschen Körperkultur".
Zu den Verdiensten von GutsMuths gehört es, das erste pädagogisch begründete Spielbuch vorgelegt, die Bewegungsspiele wiederentdeckt und die Spieltheorie der Philanthropisten bereichert zu haben. Insbesondere dadurch war die nachhaltige Wirkung dieser Sammlung von Spielen bestimmt. Diese verdankte der Autor antiken wie zeitgenössischen Quellen oder er hatte sie selbst entdeckt und natürlich alle erprobt. Nicht wenige von diesen Spielen gehören noch heute zum Spielgut der körperlichen Bildung und Erziehung.
Das Anliegen des Spielbuches erörtert GutsMuths in der Einleitung:
"Ich muß hier einiges über den pädagogischen Nutzen und die Notwendigkeit der Spiele sagen.
(1.) Wenn das größte Geheimnis der Erziehung darin besteht, daß die Übungen des Geistes und des Körpers sich gegenseitig zur Erholung dienen, so sind Spiele, besonders Bewegungsspiele sowie Leibesübungen überhaupt, unentbehrliche Sachen. Stünde dieser Satz auch nicht im Emil, so würde ihn ja schon jeder Schulknabe verkündigen, wenn er nach der Lektion die Bücher wegwirft. Dergleichen allgemein von der Jugend geäußerte Triebe beweisen so scharf als das schärfste Vernunftschließen. Allein es gibt demungeachtet Leute, die auf obigen Satz durchaus nicht Rücksicht nehmen. 'Aber', sagen sie mit Cicero: 'ad severitatem
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poitus et ad studia quaedam graviora atque majora facti sumus.' Ich bin selbst herzlich davon überzeugt, glaube aber, daß es für jung und alt kein ernsteres Studium nach der Geistesbildung geben könne, als das, was auf Gesundheit, Ausbildung des Körpers und Heiterkeit des Geistes hinzielt, weil ohne diese die Geistesbildung wenig nützt, sondern als ein totes Kapital daliegt, an dem der Rost nagt. Und wer wirklich der Meinung ist, daß man die Stunden, wo es mit ernster Anstrengung des Geistes nicht mehr fort will, stets zu irgend etwas Nützlichem, z.B. zum Zeichnen, Klavierspielen, zum Ordnen der Insekten und Mineralien und dergleichen anwenden müsse, der hat von der Ökonomie sowohl des jugendlichen als erwachsenen menschlichen Körpers keine richtige Vorstellung, er weiß das Nützliche nicht gegen das Nützlichere gehörig abzuwägen; ...
Es ist freilich sehr gut möglich, alles eigentliche Spiel gänzlich zu vermeiden und sich durch bloße Abwechslung zwischen ernstlicher Anstrengung des Geistes und jenen spielenden Beschäftigungen hinzuhalten; allein ich glaube nicht, daß sich auf diese Art besonders bei der Jugend eine gewisse weibische Weichlichkeit, Untätigkeit und Schlaffheit des Körpers vermeiden lasse. Kurz, man beweise erst streng und redlich, daß die Bildung des Körpers eine Posse sei, die für uns nichts wert ist, daß unser Geist des Körpers nicht bedürfe, daß dieser auf unsere Tätigkeit, auf unseren Charakter und auf Belebung oder Erstickung des göttlichen Funkens, der in uns glimmt, gar keinen Einfluß habe; wenn man das getan, die Forderungen der Natur, der größten Ärzte und der denkendsten Männer widerlegt haben wird, dann will ich schweigen und einsehen lernen, daß ich Torheit gepredigt habe, dann will ich gern behaupten, daß man die Zeit zur Erholung wohl edler als zu Spielen und Leibesübungen verwenden könne. ...
Sollten aber junge oder alte Gelehrte und Jugendbildner einen Skandal darin finden, mit der Jugend zu spielen, so verweise ich sie auf Heraklit, der am Dianentempel zu Ephesus die Knabenspiele als Mitspieler ordnete; auf Sokrates, wie er mit der Jugend spielt, auf Scaevola, Julius Caesar und Octavius, die studiosissime Ball spielten, auf Cosmus von Medici, der seinem kleinen Enkel auf öffentlichem Platze die Pfeife verbesserte, auf Gustav Adolf, der mit seinen Offizieren Blindekuh spielte usw. Nur durch eine unbegreifliche Folgefalschheit ist es möglich, das
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Billard, die Kegelbahn und die Karten in öffentlichen Häusern für wohlanständig, öffentliches Spielen mit Kindern für unanständig zu halten. ...
(6.) Um die Herzen der Kinder zu gewinnen, spiele man mit ihnen; der immer ernste, ermahnende Ton kann wohl Hochachtung und Ehrfurcht erwecken, aber nicht so leicht das Herz für natürliche, unbefangene Freundschaft und Offenherzigkeit aufschließen. Am offensten ist man immer nur gegen seinesgleichen; die eigentüm-liche Gesinnung der Älteren und der höheren Klasse machen uns zurückhaltender, darum gesellt sich gleich so gern zu gleichem.
Durch Spiele nähert sich der Erzieher der Jugend, sie öffnet ihm ihr Herz um so mehr, je näher er kommt, sie handelt freier, wenn sie in ihm den Gespielen erblickt, und er findet Gelegenheit zu Erinnerungen, die beim Studieren nicht veranlaßt werden würden. Überdem aber sind Erinnerungen um so fruchtbringender, je gleicher an Alter und Stand der uns ist, welcher sie gibt. Wir hören dann in ihm die Stimme unserer eigenen ganzen Klasse, darum bessert die Ermahnung, die ein Zögling dem anderen im stillen und im Bunde der Freundschaft und Gleichheit gibt, gewöhnlich mehr als die des Lehrers; im Munde des letzteren klingt sie zu erwachsen, zu alt, in dem anderen just jung genug, um befolgt zu werden."
GutsMuths, J. C. F.: Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und des Geistes. Berlin: Sportverlag 1959, S. 14 ff
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Ein Kapitel Breitensport
Von Otto Jahnke
Die Rüdigerstraße 65 im Stadtbezirk Lichtenberg war früher eine gute Adresse. Dort war der Sitz des Berliner Wohnungsbaukombinats mit über 13 000 Beschäftigten. Von hier aus erfolgte die Leitung, Planung und der Einsatz der acht Betriebe des Kombinats, das im Jahre 1949 gegründet worden war. Und die Rüdigerstraße 65 war auch eine Top-Adresse im Berliner Sport. Dort wirkte auch die Leitung der populären Betriebssportgemeinschaft, von der eine starke Ausstrahlung ausging. 2 050 Mitglieder konnten in 22 Sektionen und drei selbständigen Sportabteilungen mit weiteren sieben Sektionen ihren sportlichen Neigungen nachgehen.
In Trümmern keimte neues Leben
Die Gründungsurkunde der BSG (damals Aufbau Zentrum) wurde am 6. Juni 1951 ausgestellt. Ein Datum, das Zeitzeugen an die riesigen Trümmerberge in Berlin erinnert. Über 20 Millionen Kubikmeter Schuttmassen, die beseitigt werden mußten. 180.000 Wohnungen waren dem Erdboden gleichgemacht, mehr als 400.000 beschädigt. Sportplätze, Turnhallen, befanden sich in den Trümmerwüsten der endlos scheinenden Ruinenfelder.
Das Datum aus dem Juni 51 erinnert auch an das Leben, das in den Ruinen keimte: 45 000 Berliner folgten dem Aufruf, die Karl-Marx-Allee zu enttrümmern. Nach dort getaner Arbeit trafen sich Sportfreunde beim Tischtennis. 45 Spieler waren es anfangs, die sich alle 14 Tage trafen, um ihrem Sport nachzugehen.
Die Gründung der BSG erfolgte, als die bauliche Neugestaltung Berlins in den Blickpunkt rückte und als erstes das Hochhaus an der Weberwiese entstand. Mitte der fünfziger Jahre begann die industrielle Bauweise. Seit 1966 wurden 135.000 Wohnungen gebaut. Im Gründungsjahr der BSG verfügte sie nicht über eine einzige Sportanlage. Oft mußte improvisiert werden, um das Training und die Wettkämpfe zu organisieren. Ideen waren gefragt und viel persönliches Engagement. Trotz der vielen Schwierigkeiten ging es voran.
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Hauptanliegen: Sport für alle!
Für die Förderurg des Sports stellte die Kombinatsleitung 9.000 Mark zur Verfügung - 30 Jahre später 60.000. Das Hauptanliegen der BSG bestand darin, den Sport für alle zu fördern. "Überall spürten wir das Interesse der Belegschaftsmitglieder nach mehr Sport. Das war für uns in all den Jahren die Triebkraft", erinnert sich noch heute der langjährige Vorsitzende der BSG Hasso Hettrich. Von Jahr zu Jahr verbesserten sich die Bedingungen für die Ausübung des Sports. Zahlreiche Objekte entstanden oft in ungezählten freiwilligen Arbeitsstunden. Die Betriebsleitung, stellte bei Bedarf Baumaterial zur Verfügung. Sportarten wie Segeln, Kanu, Tennis, Fußball, Reiten, Handball, Leichtathletik, Federball, Tischtennis, Gewichtheben, Bogenschießen sowie der gesamte Lehrlings- und Volkssport wurden auf eigenen Anlagen betrieben. „Diese Objekte erlangten einen Wert von über drei Millionen Mark", erinnert sich der frühere BSG-Vorsitzende. Darunter waren ein Heim für Kanuten, ein Fußballplatz mit Sportlerheim, eine Reitanlage und dazu 22 Pferde, Tennisplätze mit Sportlerheim, eine Turnhalle und zahlreiche kleinere Anlagen. Über 250 Mitglieder der BSG trafen sich regelmäßig in den Objekten "Neue Mühle" und “Wendenschloß".Kombinatseigene, der BSG gehörende Boote bestimmten das Panorama in beiden Objekten. Das Interesse am Segelsport war in allen Jahren groß, zumal die Sportart bis ins hohe Alter ausgeübt werden kann. Mit Unterstützung des Kombinats war es sogar möglich, selbst Segelboote zu bauen und zu reparieren. In Wendenschloß lagen 26 betriebseigene und 51 Boote, die den Sportlern gehörten. In "Neue Mühle" waren es 42 Sportboote, die das Kombinat für die Nutzung zur Verfügung stellte.
Beide Sektionen pflegten vor allem das Wasserwandern und beteiligten sich an Regatten auf Binnengewässern. Angemerkt sei auch, daß fast alle nationalen und internationale Bootsklassen zur Verfügung standen. So verfügten die Segler über Optimisten, Cadet-Jollen, Finn-Dinghis, Piraten, XY-, H- und P-Jollen. Hunderte Siege bei Regatten, Spartakiaden und Meisterschaften wurden errungen. Das Seglerheim „Neue Mühle“ entstand in kameradschaftlicher Zusammenarbeit und jährlich wurden rund
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15.000 freiwillige Arbeitsstunden, bei der Reparatur der Boote und Anlagen geleistet.
Andrang bei Kombinatsmeisterschaften
König Fußball spielte auch im Sportgeschehen des Wohnungsbaukombinats eine bedeutende Rolle. Davon zeugen die jährlich ausgetragenen Betriebsmeisterschaften und die Kombinatsspartakiaden. Rund 40 Mann-schaften beteiligten sich Jahr für Jahr an den Turnieren um die Meisterschaft. Ein vielbeachteter Wettbewerb war auch die Aufstiegsrunde der Kombinatsliga und -Klasse, die in vielen anderen Betrieben Nachahmung fand. Diese Rundenspiele glichen in ihrem Rhythmus der Fußball-Oberliga. Von Herbst bis Frühjahr kämpften zwölf Mannschaften um den Meistertitel und gegen den Abstieg. In der Kombinatsklasse konnten sich alle interessierten Mannschaften beteiligen. Die Besten hatten die Möglichkeit, in die Kombinatsliga aufzusteigen. Außerdem fanden Vergleiche mit Mannschaften anderer Baukombinate statt. Im Betonwerk, Werk 4, war das Interesse so groß, daß eine selbständige Abteilung der BSG gebildet wurde. Gerade aus heutiger Sicht beachtlich die jährlichen internationalen Fußball-Meisterschaften der Arbeiterwohnheime Berlins. Mannschaften aus Ungarn, Polen, Kuba und Mosambique beteiligten sich an den temperamentvoll ausgetragenen Turnieren.
Die Sektion Fußball, Initiator vieler Turniere und Veranstaltungen, bestand aus elf Mannschaften, die im regelmäßigen Wettspielbetrieb standen. Sie zählte 220 Mitglieder und war in Petershagen beheimatet. Dort entstand, auch vorwiegend durch freiwillige Arbeitsleistungen, ein gediegenes Sportlerheim - Ausschank und Saal für 120 Personen gehörten dazu - mit Umkleidekabinen und Sanitäranlagen.
Der Kegelsport stand bei den Bauleuten ebenfalls hoch im Kurs. In drei Sektionen wurde Woche für Woche gekegelt. Eine Sektion nahm am Wettkampfbetrieb teil, errang manchen Kreismeistertitel. In einer anderen trafen sich vorwiegend die Freizeitsportler und schoben ihre Kugeln auf der Kegelbahn "Zum Bauarbeiter". Die dritte Sektion entstand in der Sportabteilung Betonwerke, die ebenfalls am Wettkampfbetrieb teilnahm. Mehr als die Hälfte aller
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Brigaden des Kombinats veranstalteten auf den verschiedenen Kegelanlagen ihre eigenen Meisterschaftsrunden.
Im Handball beteiligten sich die Lehrlinge der Berufsschule des WBK an den Rundenspielen der Berliner Berufsschulen.
Buntes Sportprogramm am “Tag des Bauarbeiters“
Zu den erfolgreichsten und beliebtesten Sportarten zählte das Spiel am hohen Netz. Mehrfach wurde der Sektion die Auszeichnung als "Vorbildliche Sektion" des Volleyballverbandes der DDR verliehen. 13 Spielerinnen wurden zum Sportclub TSC Berlin delegiert, schafften den Sprung in die Junioren-Nationalmannschaft oder gehörten anderen Auswahlmannschaften an. 23mal trugen sich die Damen in die Liste der Berliner Meister oder Pokalsieger ein. Zweimal wurden sie DDR-Meister in der Oberliga und viermal konnte der FDGB-Pokal errungen werden. Im Nachwuchsbereich standen die Jüngsten auf den Siegerpodesten bei Kinder- und Jugendspartakiaden. Die Volkssport-Volleyball-Sektion zählte über hundert Mitglieder.
Jedes Jahr im Juni, trafen sich Kollegen und Sportfreunde mit ihren Familienangehörigen zum "Tag des Bauarbeiters" bei der Kombinatssparta-kiade im Stadion Zachertstraße. 4.000 teilnehmende Freizeitsportler in zwanzig Sportarten waren da keine Seltenheit. Zum bunten Reigen dieses Festes gehörte auch ein Sportfest für Kinder, in dessen Verlauf die Jüngsten von Olympiasiegern und Meistern des Sports die begehrten Auto-gramme erhalten konnten.
Viele erinnern sich noch heute gern an die vielen Laufwettbewerbe. So an das von den Leichtathleten der BSG des WBK organisierte “Quer durch Lichtenberg". Daraus entstanden später der "Lauf der Bauarbeiter", und das populäre "Quer durch Berlin“. Die Laufgruppe der BSG, die noch heute existiert war beim Lauf in den Müggelbergen ebenso dabei wie beim Rennsteiglauf.
So gehörte die BSG auch zu den vielen Schrittmachern der von DDR-Sportjournalisten vor dem Turn- und Sportfest 1975 in Leipzig ins Leben gerufenen Laufbewegung “Eile mit Meile“. Die Distanz der Meilenstrecke entsprach der Zahl des jeweiligen Kalenderjahres und verlängerte sich demzufolge jährlich um einen Meter. So wurden 1974 also 1974 m gelaufen. Diese Meilenläufe
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waren außerordentlich populär. Es gab kaum ein Sportfest, bei dem “Eile mit Meile“ nicht auf dem Programm stand. 27 Millionen Meilen wurden von DDR-Bürgern laufend, wandernd und rudernd zurückgelegt. Selbst BRD-Sportjournalistem waren von dem attraktiven Motto "Eile mit Meile" angetan.
Im November 1974 fand das stimmungsvolle Meilen-Finale in der Rüdigerstraße 65 statt. Gastgeber war die BSG des WBK. Zündendes Motto: “Die letzte Meile wird getanzt!“
Die Anschrift in der Rüdigerstraße stimmt inzwischen so nicht mehr. Auf dem Gelände des einstigen Wohnungsbaukombinats entstand ein Gewerbezentrum. Das Kombinat wurde zum großen Teil von dem Baukonzern Phil. Holzmann übernommen. Dessen Motto: Sport sei ein privates Vergnügen. Gelder der Firma stünden nicht zur Verfügung, ließ man wissen.
Infolgedessen hat die einstige BSG einen anderen Namen, eine andere Adresse: SV Bau-Union e.V., Scheffelstraße 21, 10367 Berlin, “Stadion 1. Mai“, Parkaue Lichtenberg. So beschlossen von der Hauptversammlung der Mitglieder.
Der neue Verein zählt 1114 Mitglieder, 16 Sportabteilungen bestehen. In der Mehrzahl sind es gute Freunde, alte Bekannte, die Nähe zum Baugewerbe ist geblieben. Aber manches ist anders: Unter den Mitgliedern sind hundert Arbeitslose, viele Rentner, die Bauarbeiter waren. Die Sportanlagen wurden kommunales Eigentum oder gehören der Treuhand-Nachfolgerin.
Auch heute Volkssport
Das Sportangebot ist zwangsläufig kleiner geworden. Denn: Einige Sektionen wurden zu selbständigen Abteilungen. So die Fußballer in Petershagen, die Segler in “Neue Mühle“ und Wendenschloß, die Reit-sportler, die eigene Vereine bildeten. Eine der bitteren Konsequenzen: Die Mitgliedsbeiträge mußten durchweg erhöht werden. Hasso Hettrich, Vorsitzender des neuen Vereins, übt die Funktion ehrenamtlich aus, ohne Gehalt.
Der Verein lebt, gewinnt in seiner neuen Umgebung an Ausstrahlung, erhält Gelder von Sponsoren. Das „Motto Sport für alle“ ist weiterhin gefragt. Die Hälfte der Mitglieder nutzt das Volkssportangebot. Andere nehmen am Wettspielbetrieb teil, wie die starke Fußballabteilung mit 259 Mitgliedern. Erfolge stellten
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sich auch ein: Jubel gab es für die Nachwuchsbogenschützen, die den Titel Deutscher Meister errangen. Die Schachspieler haben in der zweiten Bundesliga beachtliche Erfolge aufzuweisen. Eine Tradition wurde gewahrt: Vor etwa zehn Jahren hatte die BSG begonnen "Sport für Mollige" anzubieten. Die Idee fand Zuspruch. „Uns wurden auch aus anderen Betrieben Übergewichtige geschickt“, erinnert sich Hasso Hettrich. Das Angebot für Mollige, das Schwimmen und Gymnastikstunden umfaßt, findet weiterhin Anklang. Die Bau-Unioner arbeiten eng mit dem Gesundheitszentrum Friedrichshain zusammen, (einer Nebenstelle der AOK), das einen Teil der Kosten übernimmt. Viele Leute kommen, sagt der Vereinsvorsitzende, und manche bleiben nach Erreichen des Ziels oder Beendigung einer Therapie dem Verein treu. Auch daraus darf abgeleitet werden, daß der Sportverein Bau-Union in der Öffentlichkeit anerkannt wird.
Es ist jetzt 25 Jahre her, daß sich der Maurer Hasso Hettrich (64) im Wohnungsbaukombinat um eine Anstellung bemühte. Das sei kein Problem, wurde ihm geantwortet, Arbeit gäbe es genug. Aus den Unterlagen war ersichtlich, daß es sich bei dem Bewerber urn einen engagierten Sportler handelte. Ob er sich nicht um die Entwicklung des Sports im Kombinat bemühen wolle, fragte man ihn. Hasso Hettrich sagte zu und der Sport im Kombinat nahm einen kaum geahnten Aufschwung.
Am 7. Juni 1996 trafen sich in der neuen Umgebung etwa 60 verdiente Übungsleiter, gestandene Schieds- und Kampfrichter, Betreuer von Mannschaften zu einem festlichen Beisammensein. Der Anlaß: Auf den Tag genau vor 45 Jahren war die Sportgemeinschaft der Bauarbeiter gegründet worden. Die Vereinsleitung dankte mit Ehrenurkunden und kleinen Geschenken allen, die jahrzehntelang im Sinne des Mottos "Sport für alle" so erfolgreich wirkten. Sie werde weiter aus dem Schatz ihrer Erfahrungen vergangener Jahre bei der Organisierung des Volkssports mitwirken.
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Antwort an einen sächsischen Minister
Von Günter Schneider
Der sächsische Umweltminister Arnold Vaatz schrieb am 2. März 1996 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" einen Beitrag "Wie Helmut Schön leise für die Einheit wirkte". Das frühere UEFA-Exekutivmitglied Günter Schneider wandte sich mit folgenden Worten an den Minister:
Ich habe Ihren Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (2.März 1996, S. 10) über Helmut Schön mit Interesse gelesen. Sie würdigen das Wirken Helmut Schöns, den ich persönlich sehr gut kannte, und kommen dabei auch auf das für die 1. DDR-Fußballmeisterschaft entscheidende Spiel am 16. April 1950 zu sprechen. Als Mitglied der Zwickauer Meistermannschaft - ich habe in der Saison 1949/50 sechs Spiele für die ZSG Union Halle und 15 Spiele für die ZSG Horch Zwickau bestritten - kann ich mir natürlich ein Urteil über das Spiel erlauben. Ich habe mich - Sie werden mir das nicht verübeln - nach ihrem Geburtsjahr erkundigt, erfahren, daß Sie 1955 das Licht der Welt erblickten und demzufolge Ihr Wissen über das Spiel nur auf Hörensagen stützen können.
Beginnen wir beim Namen der BSG Dresden Friedrichstadt. Sie schrieben: "Dieser Club - 1898 gegründet - hatte eine große Sporttradition. 1944 wurde der DSC mit Helmut Schön letzter deutscher Meister vor dem Kriegsende. Danach - auf politischen Druck hin - mußte er seinen Namen ändern."
Das ist sachlich nicht richtig. Wenn auch Ihr Beitrag nicht in einer historischen Zeitschrift erschien, sollte man doch bemüht sein, bei der historischen Wahrheit zu bleiben. Am 19. Dezember 1945 hatte der Alliierte Kontrollrat seine Direktive zur Beschränkung und Entmilitarisierung des Sportwesens in Deutschland erlassen und am 30. Januar 1946 im Amtsblatt Nr. 3 des Kontrollrats auf Seite 49 veröffentlicht. Das Gesetz Nummer 2 des Alliierten Kontrollrats - erlassen am 10. Oktober 1945 und im Amtsblatt Nr. 2 veröffentlicht - regelte die "Auflösung und Liquidierung aller faschistischen Organisationen“. Dazu gehörte auch der Nationalsozialistische Reichsbund für Leibesübungen (NSRL). Bis zum 1. Januar 1946 mußten alle Vereine aufgelöst werden. Erlaubt war die Bildung demokratischer Sportorganisationen und der Sportverkehr auf
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Kreisebene. Unter Aufsicht der sowjetischen Besatzungsmacht - in allen Kommandanturen waren Sportoffiziere eingesetzt - wurden diese Festlegungen der Alliierten durchgeführt. Unter Aufsicht des Kreissportamtes Dresden wurde demzufolge die Sportgemeinschaft (SG) Dresden-Friedrichstadt gegründet. Im Zwickauer Kreisgebiet entstand die SG Planitz - erster Ostzonenmeister -, die SG Zwickau-Mitte, die SG Cainsdorf und die SG Zwickau-Nord.
Um die ökonomische Basis zu sichern, heute würde man das mit dem Begriff "Sponsor suchen" umschreiben, schlossen sich in Zwickau die stärksten Mannschaften zusammen und spielten als ZSG Horch Zwickau. Trägerbetrieb war das volkseigene Kraftfahrzeugwerk Horch, später ein Betrieb der Industrievereinigung Fahrzeugbau IFA.
Sie schrieben: „Der angereiste Schiedsrichter Schmidt aus Schönebeck bekam vor dem Spiel die Order, den Dresdner Club scharf anzufassen und die Zwickauer nachsichtig zu beurteilen.“
Ich würde diese Behauptung zumindest fragwürdig nennen und habe meine Gründe dafür: Der Leiter der Sparte Fußball im Deutschen Sportausschuß war zu diesem Zeitpunkt der damals auch international anerkannte Dresdner Schiedsrichter Gerhard Schulz. Welches Interesse sollte ausgerechnet ein Dresdner an einer Manipulation dieses Spiels haben? Vor dem Spiel war es zu Meinungsverschiedenheiten wegen der Spielkleidung gekommen. Beide Mannschaften spielten normalerweise in rot-schwarz. Durch Helmut Schubert, der in den letzten Kriegsjahren beim DSC gespielt hatte und an jenem Tag in der Zwickauer Mannschaft, war uns bekannt, daß die Dresdner um keinen Preis auf ihren gewohnten Dress verzichten würden. Ich weiß nicht, ob Sie die in solchen Situationen übliche Regel im Fußball kennen: der Gastgeber wechselt seine Spielkleidung. Es gab einen heftigen Streit, den der Schiedsrichter beendete. Dresden mußte den Dress wechseln. Das war keineswegs ein „scharfes Anfassen“ der Dresdner, sondern nur die Beachtung der Regeln.
Die Zwickauer Mannschaft war in guter Verfassung. Sie hatte sich - ohne zu ahnen, daß alle Welt eines Tages nach Höhentrainingslagern streben würde - in Oberwiesentahl, der höchstgelegenen Stadt Deutschlands vorbereitet. Helmut Schön, der damals übrigens schon Cheftrainer der Sparte Fußball war,
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anerkannte hinterher: Zwickau „war unbestritten die bessere Mannschaft. Alle Spieler waren konditionsstärker, schneller, wendiger. Sie haben den Titel verdient gewonnen.“
Sie schrieben: „Nach einem raschen Führungstreffer der Dresdner wurde das Spiel überhart. Nach dem Zwickauer Ausgleich verließ der erste Dresdner verletzt den Platz.“
Es trifft zu, daß Walter Kreisch schon bald ausscheiden mußte und damals gab es bekanntlich noch keine Möglichkeit, einen verletzten Spieler zu ersetzen. Aber Walter Kreisch litt seit langem unter einer Knieverletzung. Sie brach ohne Einwirkung eines Gegenspielers wieder auf. Die Frage, ob es klug war, ihn aufzustellen, will ich nicht bewerten. Das gleiche gilt übrigens für Helmut Schön. Er war damals schon über 30 Jahre alt, faktisch Nationaltrainer und litt ebenfalls unter einer Knieverletzung. Noch einmal will ich betonen, daß sich keines meiner Worte gegen Helmut Schön richtet. Wir sind uns im Frühjahr 1942 das erste Mal begegnet, als die Dresdner die Planitzer im Kampf um die Sachsenmeisterschaft 3:0 schlugen. Als er Trainer der Ostzonen- und dann der DDR-Auswahl war, spielte ich mehrere Male in der Mannschaft. 1949 war Schön Mitglied des Deutschen Sportausschusses geworden und im Mai 1949 zum Auswahltrainer berufen. Auch als er dann DFB-Trainer war, hatten wir noch Kontakte. So bei den Olympia-Ausscheidungsspielen am 15. September 1963 in Karl-Marx-Stadt und am 22. September 1963 in Hannover. Er war Gast des UEFA-Turniers in Leipzig 1969 und auch während der Weltmeisterschaft 1974 in der BRD sind wir uns mehrmals begegnet. Ich habe ihn immer als einen Könner und Kenner des Fußballs geschätzt und achtete ihn auch als Mensch.
Zurück zu Ihrem Bericht über das Spiel. Es trifft nicht zu, daß das Spiel „überhart“ war oder wurde. Die Enttäuschung über die von niemandem erwartete, am Ende eindeutige 1:5-Niederlage war groß und so wurde eine Entschuldigung gesucht. Nie geklärt wurde die Frage, was hat sich vor und nach dem Spiel im April 1950 in Dresden und in der Dresdner Mannschaft tatsächlich zugetragen.
Ich habe Ihnen diesen Brief nur geschrieben, um auf diese Weise zu bekunden, daß uns allen daran liegen sollte, Geschichte - auch die des DDR-Sports - gewissenhaft und unter Mitwirkung sachkundiger Zeitzeugen aufzuarbeiten.
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Bemerkungen zu einem Diem-Plädoyer
Von Klaus Huhn
Die Deutsche Sporthochschule Köln hat sich unlängst ausgiebig mit der Vergangenheit ihres ersten Nachkriegsrektors Carl Diem befaßt. Die Notwendigkeit, den schon früher ausgiebig geführten Disput um die Rolle Diems im deutschen Sport wieder aufzugreifen, ergab sich aus aktuellen Anlässen. In Würzburg wollten Diem-Gegner die Sporthalle, die seinen Namen trägt, umbenennen und dem Vernehmen nach hatten Sportstudenten in Köln gefordert, dem Carl-Diem-Weg - offizielle Adresse der Deutschen Sporthochschule - einen anderen Namen zu geben. Der Rektor der Hochschule, Prof. Dr. Joachim Mester, war an einer sachlichen Debatte interessiert, gab ein Gutachten in Auftrag und stellte das Resümee im Rektorat zur Diskussion. Es wurde - wie ausdrücklich versichert - einstimmig gebilligt und danach eine Dokumentensammlung zusammengestellt. Sie war auch der Redaktion „Beiträge zur Sportgeschichte“ freundlicherweise übergeben worden.
Die einschließlich des Dokumentenanhangs 70 Seiten umfassende Schrift gibt Aufschluß über die Positionen renommierter Historiker zu Diem.
Daß der Deutsche Sportbund und der Deutsche Leichtathletikverband nach wie vor Diem-Preise als höchste Auszeichnungen verleihen und jüngst durch Erklärungen bekräftigten, sie empfänden keinen Handlungsbedarf zu Veränderungen, illustriert die vorherrschende Meinung.
Bedenkend, daß in den neuen Bundesländern jüngst Tausende Straßen umbenannt wurden - sogar Heinrich Heine wurde Opfer solcher Schilderstürmerei -, erscheint eingangs die Feststellung belangvoll, daß sich die aktuelle Diem-Diskussion demzufolge auf die alten Bundesländer beschränkt, denn in den neuen gab es weder Diem-Straßen noch Diem-Preise.
Erinnerung an „Klassenfeind“
In der von der Sporthochschule Köln verbreiteten Dokumentation kommt auch Prof. Dr. Clemens Menze mit seiner 1982
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erschienenen „Einführung in die ausgewählten Schriften Carl Diems“ zu Wort. Er hatte damals die aus seiner Sicht unqualifizierten Gegner Diems in jenen deutschen Regionen geoutet, wo mit „stereotypen Wortreihungen, mit denen der Klassenfeind bedacht wird, der in der Person Diems zum ‘spiritus rector des bürgerlich kapitalistischen Sports’ gerät und mit seinem ‘revanchistischen und militärischen Charakter’ den ‘Imperialismus’ unterstützt und die Jugend ‘auf einen dritten Weltkrieg’ vorbereitet hat. Manipulationen in Form von Zitatmontagen und Zitatfälschungen verbinden sich mit schierer Unkenntnis, der Unfähigkeit zu lesen, für den eigenen Status zu vermarktendem Opportunismus und jener strammen Ideologie, an der es in unserem Lande selbst in Zeiten schlimmster Not nie einen Mangel gegeben hat.“1)
Damit sollten zweifellos Unklarheiten über die Autoren beseitigt werden. Wie absurd - unbestritten zuweilen in der DDR geäußerte - Anwürfe gegen Diem wären, trachtete Menze mit einem Zitat aus einem Brief Diems zu beweisen, den der 1947 als "Offenen Brief" publiziert hatte: „Militarismus bedeutet eine Grundrichtung, die auf Gewaltanwendung und Machtausbreitung zielt, und sich insofern vom rein Militärischen deutlich abzuheben hat. Wer beides vermischt, ist meistens schlechten Willens. Mir den Militarismus nachzusagen, als einem Manne, der weder einem Kriegerverein, noch irgendeiner Wehrorganisation... angehört hat, noch jemals Annexionsziele auch nur angedeutet hat, sondern immer offen das Gegenteil und die Selbständigkeit der kleinen Völker Europas vertrat, sowie darum auch deren Vertrauen genoß und genießt, der Zeit seines Lebens und vor aller Welt für den Sport wirkte (und nicht ohne Erfolg), der seinen olympischen Lebensberuf nur in Friedenszeiten erfüllen konnte und dem Olympischen Gedanken auch in Kriegszeiten unentwegt treu blieb, geht mit dem guten Namen seines Mitmenschen leichtfertig um.“ (Schrift Köln S. 46 f)
Menze folgte Diems Verteidigung ohne Einschränkung.
1996 wurden allerdings solche keineswegs nur von Menze publizierten Freisprüche nach den Diskussionen in Köln erneut in Frage gestellt. Das belegt die Zusammenfassung des Gutachtens der Sporthochschule, die in dem Papier als „Gesamtbetrachtung“ bezeichnet wird:
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„Diems Werk und Weltbild fair, aber kritisch zu würdigen ist schwierig. Ambivalenzen und gravierende Widersprüche sind nicht zu bestreiten. Anlehnungen an zeitgenössische Strömungen stehen im Gegensatz zur national-konservativen Grundhaltung. Seine persönliche Lebenssituation, die seiner Familie und Freunde sowie seine Erfahrungen in den beiden Weltkriegen machen die Diskrepanz zwischen nationalem und internationalem Denken sichtbar. Der soeben veröffentlichte Briefwechsel zwischen Carl Diem und dem weltweit anerkannten Pädagogen Eduard Spranger macht deutlich, welche philosophischen, pädagogischen und kultur-wissenschaftlichen Wurzeln im Denken Diems vorhanden waren. Sie zeigen ein facettenreiches und komplexes Welt- und Wissenschaftsbild.
Der Historiker Hajo Bernett formuliert zusammenfassend zu Carl Diem: ‘Die geistige Beweglichkeit D. macht eine geschichtliche Einordnung zum Problem. In der Beurteilung der Person stehen sich Apologeten und Kritiker beziehungslos gegenüber. Umstritten sind D. Nationalismus und sein Verhältnis zu den politischen Mächten in vier Perioden deutscher Geschichte. Unbestritten sind seine Verdienste um die Olympische Bewegung, um die innere und äußere Gestalt des deutschen Sports, um Lehre und Wissenschaft’ (Bernett 1992).
Es muß zur Vermeidung von Legendenbildungen festgehalten werden, daß Diem trotz seiner Verwurzelung in einer ‘vaterländischen Tradition’ (Teichler 1996)
- kein Nationalsozialist,
- kein Antisemit,
- kein Rassist gewesen ist.
Vielmehr sind seine Internationalität, seine Verdienste um die Entwicklung der Olympischen Idee und die Sportwissenschaft zu würdigen. Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Diem dem Sport und der Sportwissenschaft wichtige Impulse mitgegeben.
Diem fordert dennoch zur Kritik heraus, weil
- ‘er sich den jeweiligen Epochen angepaßt hat’ (Teichler 1996), - bisweilen politisch naiv bis opportunistisch blieb,
- ‘und extrem nationale und soldatische Wertschätzungen in beiden Weltkriegen veröffentlichte’ (Teichler 1996).
Auch Prof. Bernett hat jüngst in einer Äußerung seine eigene ‘Unsicherheit’ bei der Gesamtbewertung Diems zum Ausdruck
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gebracht. Dagegen sprach er im Zusammenhang mit möglichen Umbenennungen von Straßen, Plätzen, Sporthallen, Auszeichnungen u. ä. von einer ‘Herabwürdigung’, wenn nicht von einer ‘Entehrung’ Diems.
Hinsichtlich des Streits um die Umbenennung schließt sich die Deutsche Sporthochschule Köln der Kernaussage in dem Gutachten von Prof. Dr. Teichler ohne Einschränkung an:
‘Eine völkische oder antisemitisch-rassistische und damit nationalsozialistische Gesinnung kann Diem, der auch niemals Mitglied der NSDAP war, nicht unterstellt werden. Vieles von dem, was er - geprägt und geformt durch das Kaiserreich und die Kriegszeit geschrieben und formuliert hat, erscheint uns heute unverständlich, anmaßend und - bezogen auf seine Rede vom 18. 3. 1945 - auch als menschenverachtend.
Diems Lebenswerk darf aber nicht auf die Zeit des NS-Regimes reduziert werden. Seine Verdienste um die innere und äußere Gestalt des Sports, seiner wissenschaftlichen Durchdringung und seiner olympischen Ausprägung bleiben unbestritten. Daraus ist abzuleiten, daß mit dem Namen Carl Diem versehene Straßen, Plätze, Sporthallen, Auszeichnungen und Preise nicht umbenannt werden sollten. Eine derartige nachträgliche Umbenennung würde seinem Lebenswerk nicht gerecht und seine Aktivitäten in der NS-Zeit unhistorisch überhöhen.
Die vielfältigen Facetten des Lebenswerks von Carl Diem sollten jedoch als Verpflichtung verstanden werden, zukünftig zu einer größeren Sensibilisierung und Abwehr gegen politische und sonstige Vereinnahmungen des Sports zu gelangen. Aus diesem Grund sollten bei zukünftigen Benennungen in viel stärkerem Maße die Namen von solchen Personen des Sports berücksichtigt werden, die der NS-Diktatur zum Opfer fielen oder durch widerständiges Verhalten beispielgebend wurden.’
Die in der letzten Zeit stark zunehmende Radikalisierung der veröffentlichten und öffentlichen Diskussion im Zusammenhang mit der Umbenennung von Straßen, Plätzen u.ä. mit dem Namen Carl Diem muß auf eine sachliche und rationelle Ebene zurückgeführt werden. Nur eine derartige Form der Auseinandersetzung kann der Persönlichkeit Diems, seinem Schaffen und Wirken, zugleich seinen Schwächen und Verfehlungen in möglichst allen Facetten gerecht werden.
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Die Diskussion um Diem sollte wissenschaftlich ruhig, seriös, ernst, gewissenhaft, unpolemisch und verantwortungsbewußt geführt werden. Mediale Sensationslust sollte hier ebensowenig Platz finden wie politische Profilierungsversuche. Die deutsche Vergangenheit ist dafür zu ernst.
Von allen in den anstehenden Entscheidungsprozessen beteiligten Personen muß deshalb eingefordert werden, daß nur mit äußerster Sorgfalt und Sachkenntnis sowie unter Berücksichtigung der jeweiligen historischen Situation geurteilt wird.“
Diese Gesamtbetrachtung ist ein höchstens in Passagen eingeschränktes Plädoyer zugunsten Diems und fordert Widerspruch heraus. Um so mehr, da es sich ja um eine in gewisser Hinsicht abschließende Bewertung handeln soll, verbindlich auch für die Lehre.
Die in diesem Gesamtgutachten benutzten Formulierungen müssen wohl bei jedem den Eindruck entstehen lassen, daß gewisse Thesen Diems im Nachhinein gerechtfertigt werden sollen. Das könnte im Ausland böse Folgen haben. Die Irritation wird noch eskaliert durch die Personen der Hauptgutachter. Teichler und Bernett fungierten als offizielle Berater der exzellenten Ausstellung „1936 - Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus“ und auch des Katalogs. Diems Rolle wurde dort eindeutig behandelt. Hinzu kommt, daß sich Teichler und Bernett bei der Aufarbeitung der Geschichte des DDR-Sports engagierten und bei dieser Tätigkeit die von Teichler geforderten Maximen für die Beurteilung Diems - ‘wissenschaftlich ruhig, seriös, ernst, gewissenhaft, unpolemisch und verantwortungsbewußt’ - zuweilen vermissen ließen.
So präsentierte Teichler Akten, die ihm die Gauck-Behörde über Kurt Edel, erster Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, - in dem schon erwähnten Katalog seriös als solcher ausgewiesen -, zur Verfügung gestellt hatte, völlig unkontrolliert einer öffentlichen Historikerversammlung. Es handelte sich um Niederschriften, deren Echtheit niemand geprüft hatte. Von wissenschaftlichem Beleg kann also kaum die Rede sein. Hinzu kam, daß Teichler Verstorbene, Abwesende und vorher nicht Informierte wider alle bundesdeutschen Datenschutz-Prinzipien bei dieser Gelegenheit nannte. (Die Familie Edel geriet dadurch in beträchtliche persönliche Schwierigkeiten.) Daß ein betroffener
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angesehener Wissenschaftler aus den Altbundesländern in seiner Antwort an McCarthy erinnerte, war wohl kaum eine Übertreibung.
Teichler fordert für Diem moralischen Ehrenschutz: „Mediale Sensationslust sollte hier ebensowenig Platz finden wie politische Profilierungsversuche.“
War das der entscheidende Grund dafür, daß Teichler in seinem Kölner Gutachten überraschend viele Feststellungen zur Entlastung Diems formulierte? Die wohl Kapitalste muß wiederholt werden: „Es muß zur Vermeidung von Legendenbildungen festgehalten werden, daß Diem trotz seiner Verwurzelung in einer ‘vaterländischen Tradition’
- kein Nationalsozialist,
- kein Antisemit,
- kein Rassist gewesen ist.“
Die Formulierung: „Diem fordert dennoch zur Kritik heraus, weil ‘er sich den jeweiligen Epochen angepaßt hat’, bisweilen politisch naiv bis opportunistisch blieb,- ‘und extrem nationale und soldatische Wertschätzungen in beiden Weltkriegen veröffentlichte’“ könnte als Versuch gewertet werden, die zuvor getroffenen Feststellungen zu relativieren. Teichler gerät jedoch dabei in die Gefahr, vor allem aufzulisten, was Diem nicht war, gibt aber nur sparsam Auskunft, wer er denn tatsächlich war.
Ohne Zweifel war Diem ein Mann mit Ideen und Tatkraft, der im deutschen und internationalen Sport viel bewegte. Seine Initiativen aber waren stets politisch finalisiert im Sinne deutschen Großmachtstrebens. Wer diese Tatsache ignoriert, liefert sich dem Verdacht aus, die Geschichte des deutschen Imperialismus nicht konsequent aufgearbeitet zu haben und in der dadurch zwangsläufig bedingten Befangenheit Akteure eines alternativen Sports zu diffamieren.
Zum Beispiel: Diem hat sich den „Epochen angepaßt“ - war aber kein Nationalsozialist? Die an anderer Stelle hervorgehobene Tatsache, daß er nie Mitglied der NSDAP war, ist belanglos. Die Antwort auf die Frage, ob Diem Nationalsozialist war, liefert nicht eine Mitgliedsbuchnummer, sondern das Engagement für die Nationalsozialisten, zum Beispiel bei der Vorbereitung und Durchführung der Spiele 1936. Wer behaupten wollte, Diem sei möglicherweise nicht klar gewesen, daß Hitler die Spiele nutzte, um den Überfall auf Europa vorzubereiten, muß nur drei Sätze aus
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dem Nachruf Diems für den 1942 verstorbenen Generalfeldmarschall von Reichenau lesen: „Im Jahre 1931 wurde er als Oberst ... nach Königsberg versetzt, und damit trat er in die Geschichte Großdeutschlands ein. Ihm war die Aufgabe anvertraut, Ostpreußen kriegsfest zu machen... Es bedurfte einer stillen Mobilisierung aller Kräfte, und in dieser Zeit trat Reichenau in Beziehung zur NSDAP. Das dadurch entstandene gegenseitige Vertrauen brachte es mit sich, daß er nach der nationalen Revolution im Jahre 1933 als Chef des Ministeramtes ins Reichswehrministerium berufen wurde.“2)
Sehnen nach dem Führer
Daß Diem bereits 1923 an der Hochschule für Leibesübungen einen Vortrag „Sehnen nach einem Führer“ gehalten und den Studenten verkündet hatte: „Durch unser Volk geht das Sehnen nach einem Führer“ schien ihm bei der Herausgabe seiner gesammelten Werke 1942 wichtig genug, um diese Rede darin aufzunehmen. Er hatte dieses „Sehnen“ damit begründet, „daß in schwieriger Lage der einheitliche Wille einer zielbewußten Persönlichkeit mehr Erfolg verspricht, als das dauernde Abwägen der Belange, die der öffentlichen Meinung leicht faßbar, die kräftig oder rücksichtslos genug sind, sich ans Tageslicht durchzuringen. Die Führer wollen sich aber nicht zeigen. Wir sind arm an ihnen... Wenn wir heute nach Führern rufen, so gilt dies nicht dem Heerführer, dem militärischen Führergeist, sondern dem Führer schlechthin auf welchem Gebiete der Politik, der öffentlichen Verwaltung, des Gemeinwesens oder der freien Arbeit es auch sei.“3) 1925 frischte er diese Forderungen bei einer „Flammen-stoßrede“ vor der Jugend des Verbandes Brandenburgischer Athletikvereine auf: „Hört erst Eigennutz und Kleinstaaterei in Deutschland auf, fühlt sich nicht nur der Regierende, sondern jedes Glied des Volkes, so wie es einst der große Friedrich lehrte, als Diener des Staates. greift das deutsche Volk, so wie Ihr es sollt, mit sportgestählten Armen in den Wagen seines Geschicks, dann kann unsere Heimat, unser Vaterland wieder den Weg zur Höhe finden. Das sei unser Ziel: Deutschland, Deutschland über alles...“
Teichler ließ weitere Widersprüche folgen. "Eine völkische oder antisemitisch-rassistische und damit nationalsozialistische
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Gesinnung kann Diem... nicht unterstellt werden.“ Im nächsten Atemzug: „Vieles von dem, was er - geprägt und geformt durch das Kaiserreich und die Kriegszeit - geschrieben und formuliert hat, erscheint uns heute unverständlich, anmaßend und - bezogen auf seine Rede vom 18. 3. 1945 - auch als menschenverachtend.“
Hier droht die Verwendung des Begriffs „unverständlich“ zur Rechtfertigung Diems zu geraten.
Krieg - Sport par excellence
Was ist an solchen Texten nur „unverständlich und anmaßend“? Etwa die Rede , die er am 20. Oktober 1931 an der Heeresschule für Leibesübungen in Wünsdorf gehalten hatte? Einige Kernsätze daraus: „Am 21. März 1918, während der großen Schlacht von Frankreich im Verbande der 221. Division auf dem rechten Flügel bei Arras, fand ich beim Durchbruch durch die englische Infanteriestellung in einer englischen Batterie neben vieler Munition einen Fußball. Ich schenkte ihn der Jugendabteilung des BSC mit der Bemerkung: ‘Ihr seht, Krieg und Sport gehören zusammen.’... Der Krieg ist der vornehmste, ursprünglichste Sport, der Sport par excellence und die Quelle aller anderen Sportarten und doch: Irgend etwas wehrt sich in unserem Innern, den Krieg einen Sport zu nennen.“4) Den von dem Philosophen Maurice Maeterlinck (1862 - 1949) übernommenen Vergleich von der „Sportart“ Krieg vertiefte Diem noch: „Im Zeitalter des Wurfgeschosses hat man das Werfen des Sports erdacht, im Zeitalter des Laufkampfes den Lauf und mit dem Beginn der Bewaffnung den Waffenlauf. Mit dem Wandel der Technik wurde aus dem sportlichen Werfen der Wurfgeschosse der Schießsport und aus dem Waffenlauf der Gepäckmarsch.“5) Oder: „Ein solcher Sport ist gerade dem Soldaten von heute besonders notwendig, der im Gegensatz zu früher nicht mehr im Gleichtritt in die Schlacht marschiert, sondern auf sich selbst gestellt ist und alle seine Kräfte selbstverantwortlich regen muß, doppelt notwendig, für ein Volk wie das unsere, dessen Soldaten, wenn sie eingesetzt werden, gegen Übermacht und überlegene Waffen kämpfen.6)
Es fällt schwer zu vermuten, daß Teichler entgangen sein könnte, wann Diem diese „Prinzipien“ formulierte. Man schrieb das Jahr 1931 und in der Weimarer Republik kämpften viele - unter Einsatz
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ihres Lebens - gegen den Faschismus. Angesichts der Annexionspolitik Hitlers war Diem der geeignetste Akteur des bürgerlichen Sports in Deutschland, denn er stellte seine Tatkraft damit in den Dienst der Nutzung des Sports als Kriegspotential.
Diem hat viel dafür getan, die deutsche Jugend auf den zweiten Weltkrieg vorzubereiten! 1940 pries er im „NS-Sport“ den „Kriegsdichter der Spartaner, Tyrtaois mit den Zeilen:
‘Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger im vordersten Treffen
Für das Vaterland ficht, und für das Vaterland stirbt.’“7)
und im gleichen Jahr unterbreitete er einen „militärischen Vorschlag - Sportregimenter“ :“Es gilt also nicht nur, sportlichen Geist zu erzeugen, sondern auch solche sportlichen Leistungen zu entwickeln, die unmittelbar kriegsnützlich sind.“8) An Stelle der leichten Kavallerie wollte Diem eine „leichte Infanterie“ schaffen: „In einer solchen Spezialtruppe sollten die sportlich besonders hochtrainierten und leicht ausgerüsteten Soldaten zusammengefaßt werden, die imstande sind, den Panzerwagen in schnellerem Laufschritt und mit größerer Ausdauer als der gewöhnliche Infanterist zu folgen. Versuche würden ergeben, daß man hier die Leistung noch unerwartet zu steigern vermag... In der Ausbildung einer solchen Sondertruppe kämen die sportlichen Methoden und Erfahrungen zu ihrem vollen Recht.“9) Teichler in seinem Gutachten: „1940 scheiterte er mit seinem Vorschlag, Sportregimenter für die neue Blitzkriegskonzeption aufzustellen am Widerstand der SA“ und in einer Fußnote ergänzt er: „Der entscheidende Widerstand gegen diesen sogar im Führer-Hauptquartier erörterten Vorschlag kam von der SA, die ihr Monopol in allen Fragen der ‘vor- und nachmilitärischen Wehrerziehung’ nicht mit dem Sport teilen wollte.“ 10) Auch Teichler kommt nicht umhin, einzuräumen, daß Diem sich engagierte.
Nicht zurückbleiben
Die Rede, die Diem am 18. März 1945 vor Volkssturmkämpfern hielt, ist für die Bewerter Diems die ärgste Hürde bei den Bemühungen, ihn zu verteidigen. Teichler bemüht als - allerdings nicht sehr überzeugenden - „Entlastungszeugen“ den Staatssekretär im hitlerschen Außenministerium von Bülow: Diem „handelte nach dem patriotischen Motto: ‘Man läßt sein Land nicht
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im Stich, weil es eine schlechte Regierung hat.’ Und stellte sich auch dann noch zur Verfügung, wenn er besser geschwiegen, sich zurückgezogen oder verweigert hätte.“11) In jenem schon erwähnten Katalog der Ausstellung sind sowohl die Notizen Diems für diesen „Volkssturmlehrgang“, als auch einige Sätze aus den Aufzeichnungen des damals 17jährigen Reinhard Appel wiedergegeben, kaum zu vermuten, daß Teichler sie überlesen hätte.12)
Hinlänglich bekannt sind auch Diems Notizen jenes Tages, als er loszog, um Berlin zu retten: „Meine Frau beschwor mich, diese Dummheit nicht mitzumachen, aber welcher Mann würde in solcher Stunde zurückbleiben?“13)
Die Opfertod-Legende hatte er schon während der Olympischen Spiele in Berlin präsentiert. Im Programmheft für die Eröffnung der Spiele 1936 findet man das von Diem geschriebene Epos: „Heldenkampf und Totenklage“:
„Allen Spiels/heil’ger Sinn:/Vaterlandes Hochgewinn./Vaterlandes höchstes Gebot/in der Not:/Opfertod!“
Und dem darauf folgenden Waffentanz (mit Schwerttod endend) - von Harald Kreutzberg getanzt - folgten die Diem-Verse:
„Denkt der Toten,/ dankt den Toten, / die vollendet/ ihren Kreis./Ihnen aller Ehren/allerhöchsten Siegespreis.“ 14)
Das wurde den Besuchern der olympischen Eröffnungszeremonie am Abend des 1. August 1936 im Olympiastadion (21 Uhr) vorgeführt.
Noch einmal zum Thema Olympische Spiele 1936. Teichler: „Die mit Rücksicht auf das IOC erfolgte Entscheidung, Lewald und Diem in ihren Ämtern als Präsident bzw. Generalsekretär des OK zu belassen, erwies sich in der Folge als personalpolitischer Glückstreffer der neuen Machthaber: Die ‘Olympia-Besessenheit’ von Lewald und Diem, ihre patriotische Staatstreue und ihre internationale Reputation trugen entscheidend zum Gelingen der Spiele bei.“15) Wie kann man logisch und guten Gewissens den - siehe Aussstellung - Mißbrauch der Spiele mit dem Wort „Gelingen“ kombinieren?
Im Beschluß des Kölner Rektorats wird auch festgestellt: „Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Diem dem Sport und der Sportwissenschaft wichtige Impulse mitgegeben.“ Wer immer das formuliert haben mag, Diem hat zum Beispiel als Historiker keine
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Hemmungen gezeigt, geschichtliche Ereignisse so darzustellen, wie sie ihm nützlich erschienen. So beschrieb er in seiner von Teichler nur am Rande erwähnten Schrift “Der olympische Gedanke im neuen Europa“, - ein Vortrag, den er 1941 im besetzten Frankreich gehalten hatte -: „So stehen die Wettkämpfer der Olympischen Spiele des Altertums als Soldaten vor unseren Augen. Es waren die Stadionläufer, die Waffenläufer des Stadions, die unter Führung des Miltiades in der Schlacht von Marathon den Hügel hinab auf die zehnfache Übermacht der Perser einstürmten und diese durch die Wucht des Laufes überraschten und zusammenhieben.“16) Es existiert nirgendwo eine Quelle, daß es sich bei den Soldaten des Miltiades um in Olympia oder bei anderen Festen trainierte Athleten gehandelt hatte. Fest steht dagegen - und in Athen hat man im Kriegsmuseum dieser Tatsache einen besonderen Saal gewidmet -, daß Miltiades in Marathon eine der ersten „modernen“ Schlachten der Kriegsgeschichte führte. Er verbarg den größten Teil seiner Truppen hinter Hügeln und ließ die Perser glauben, sie stießen nur auf eine denkbar dürftige Armee, die auch sogleich in die Tiefe der Ebene von Marathon zurückwich. Die nachsetzenden Perser entblößten ihre Flanken und als Miltiades seinen im Flankenhinterhalt lauernden Truppen den Befehl zum Angriff gab, erwies sich die Frontlinie der Perser als nicht mehr imstande, dem Druck zu widerstehen. Dadurch wurde die Schlacht von Marathon bei zahlenmäßiger Unterlegenheit der Griechen entschieden. Ausschlaggebend war der Plan des Miltiades auf die damals übliche Frontalschlacht zu verzichten und keineswegs die „Wucht des Laufes“ der Athleten. Das mag ein nicht sonderlich wichtiger Fakt sein, aber er macht transparent wie behutsam man auch bei den sporthistorischen Darstellungen Diems mit dem Urteil sein sollte.
...wächst der Deutsche von heute
Nicht wegzubeurteilen ist, daß Diem den Sport wie kaum ein anderer als Mittel psychischer und physischer Aufrüstung mißbrauchte. Der „Nicht-Nationalsozialist“ Diem im „Reichssportblatt“ vom 25. Januar 1940: „Sturmlauf durch Frankreich, wie schlägt uns alten Soldaten, die wir nicht mehr
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dabei sein können, das Herz, wie haben wir mit atemloser Spannung und steigender Bewunderung diesen Sturmlauf, diesen Siegeslauf verfolgt! Die fröhliche Begeisterung, die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettstreit empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen, und in Ehrfurcht, und mit einem inneren Herzbeben, in das etwas von jener fröhlichen Begeisterung hineinklingt, stehen wir staunend vor den Taten des Heeres. In ihnen zeigt sich, was der Deutsche kann, in ihnen wächst der Deutsche von heute über alles Frühere und über sich selbst hinaus.
Vielerlei sind die Gründe. Eine der Ursachen aber - das dürfen wir stolz verkünden ist der sportliche Geist, in dem Deutschlands Jungmannschaft aufgewachsen ist. Da gab es nichts mehr von jener schlaffen Anstrengungsscheu und platten Begehrlichkeit weichlicher Zeiten. Das Ideal eines gefahrlosen, von Versicherungsschutz gegen alle Unfälle des Lebens eingebettetes Dasein, des gut gemachten Bettes, des wohlbesetzten Tisches und des pensionsfähigen Lebensabends ist in der deutschen Volksseele verschwunden. Statt dessen Freude am Kampf, Freude an Entbehrung, Freude an der Gefahr. Nur in solcher Lebenshaltung kann Norwegen erobert, Frankreich durchstürmt werden... Die Frauen haben zwar am Sturmlauf durch Frankreich nicht unmittelbar teilgenommen, aber sie haben das Lebensgefühl mitbestimmt, das zu diesem Sturmlauf führte. Sie haben diese Generation als Mütter, Schwestern und Bräute mitgeschaffen, mitgehämmert.
Uns Daheimgebliebenen klingen die Marschlieder dieser Soldaten des Sturmschritts wie eine alte vertraute Melodie in den Ohren. Im Geiste marschieren wir mit und suchen uns die Erlebnisse der jungen Kriegsmannschaft vorzustellen. Die Tornister sind zwar etwas leichter geworden, dafür sind die Marschweiten länger und die Marschtritte schneller. Und so sehen wir sie hinter den motorisierten Einheiten herhasten, denn darauf kommt es entscheidend an, daß die marschierende Infanterie nicht allzu lange nach den Kampfwagen und den motorisierten Einheiten das Schlachtfeld erreicht... So war es und so kam es, daß die deutsche Streitmacht in unvorstellbarem Tempo siegte, und daß, wenn die Franzosen sich gegen die pfeilartig vorgestoßenen motorisierten
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Truppen im Flankenangriff zu wehren suchten, die deutsche Infanterie eben im Sturmlauf zur Stelle war und auch da den Sturmlauf zum Siegeslauf wandelte. Wer wollte schließlich daran vorbeigehen, daß in den Leistungen der Fallschirmtruppen ein Stück sportlich-turnerischen Wagemutes steckt, und wir wissen, daß es kein Zufall war, wenn unter den mit höchster Auszeichnung Bedachten sich der Olympiasieger Schwarzmann befand. Das ist wie ein Symbol für das junge Geschlecht: Olympiasieger und Held im ernsten Kampfe zugleich... So kam es zum Sturmlauf durch Polen, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich, zum Siegeslauf in ein besseres Europa.“15)
Die offizielle Adresse der Deutschen Sporthochschule Köln lautet: Carl-Diem-Weg 6.“ Man hat Mühe sich vorzustellen, was das Rektorat wohl jungen Polen, Norwegern, Niederländern, Belgiern oder Franzosen antwortet, wenn sie nach Köln kommen, um dort zu studieren und die Frage stellen: „Wer war eigentlich Carl Diem?“
1) Alle nicht mit Quellenangaben gekennzeichneten Zitate sind der im Wortlaut wiedergegebenen Dokumentation der Deutschen Sporthochschule entnommen.
2) Olympische Flamme; Das Buch vom Sport; Berlin 1942; S. 477f
3) Ebenda S. 44f
4) Ebenda S. 86
5) Ebenda S. 88
6) Ebenda S. 93
7) Ebenda S. 987
8) Ebenda S. 1200
9) Ebenda
10) Dokumentation der Deutschen Sporthochschule S. 25
11) Ebenda S. 27
12) Katalog zur Ausstellung 1936 - Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus; Berlin 1996, S. 218 f
13) L.Diem, Fliehen oder bleiben, Freiburg 1982 S. 47
14) Olympische Jugend Festspiel - Programmheft, Berlin 1936, S. 11
15) Dokumentation der Deutschen Sporthochschule S. 22
16) Der olympische Gedanke im neuen Europa, Terramare-Schriften, S. 13 f
17) Olympische Flamme; Das Buch vom Sport; Berlin 1942; S. 124 f
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GEDENKEN:
HAJO BERNETT
Völlig unerwartet verstarb am 29. August 1996 Prof. Dr. Hajo Bernett im 76. Lebensjahr an den Folgen einer Knieoperation. Mit ihm verliert die gegenwärtige deutsche Sportwissenschaft einen ihrer profiliertesten und produktivsten Sporthistoriker.
1959 promovierte er mit einer Arbeit "Die pädagogische Neugestaltung der bürgerlichen Leibesübungen durch die Philanthropen". Später übernahm er als Nachfolger von Dr. Clemens Wildt die Leitung des Instituts für Leibesübungen der Universität Bonn, die er bis zu seiner Emeritiertung im Jahre 1986 innehatte. Er wirkte viele Jahre in mehreren bundesdeutschen Fachredaktionen und Beratungsgremien prägend mit. Einem größeren Kreis und über die Staatsgrenzen hinaus wurde er vor allem durch seine Veröffentlichungen bekannt; seine Publikationsliste enthält ca. 200 Titel von Aufsätzen, Vorträgen und Büchern.
Terminologischen und methodischen Problemen der Leibeserziehung folgten historische Arbeiten, zunehmend zur Zeitgeschichte des Sports, darunter mehrere größere Arbeiten zum NS-Sport, mit denen er gegen bundesdeutsche Tabus anging. Dabei blieb er nicht im sportpolitischen und organisationsgeschichtlichen Bereich stehen, sondern erfaßte mehr und mehr auch alltagsgeschichtliche Erscheinungen und Prozesse, z.B. der schulischen Leibeserziehung und des sogenannten KdF-Sports. Seine Veröffentlichungen enthielten viele Anregungen und erzeugten manche Aufregung infolge ihrer diffizilen Themen und gezielten Wertungen.
So war es auch in der sporthistorischen Diskussion zwischen West und Ost, wo die von ihm praktizierte Anwendung der Totalitarismustheorie auf den DDR-Sport als unangemessen und seine Vergleiche mit dem NS-Sport als Gleichsetzung beider Systeme und deshalb als Diskriminierung empfunden wurden. Das betraf auch Passagen in seinen „Prolegomena zur historischen Aufarbeitung des Systems von Sport und Körperkultur in der DDR" und in nachfolgenden Artikeln, die 1990 bis 1992 sowohl Anstöße für Diskussion auf dvs-Tagungen als auch für den Rückzug
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mehrerer ostdeutscher Fachkollegen aus den Streitgesprächen waren. Dabei zeigen gerade die Prolegomena, daß ihr Autor über Polemik hinaus zur sachbezogenen und sachlichen Diskussion strebte, schlägt er doch vor, eine „integrierte Gesamtgeschichte des deutschen Sports" der Zeit nach 1945 anzustreben. Vorhandene Forschungsergebnisse sollten sachlich gewertet und genutzt werden. Dazu sei das "gemeinsame Gespräch", nicht aber die "Abstempelung von Personen" erforderlich. Der Ansatz solle umfassend und komplex sein und sowohl durch Makro- als auch Mikrountersuchungen gestützt werden. Die Einengung auf Sportpolitik und damit auf Leistungssport, Sportverkehr und Olympische Spiele müssen vermieden werden; stattdessen sollten "Alltagsgeschichte" und "Geschichte von unten" ebenso wie die Zeitzeugenbefragungen stark beachtet werden. Ubergreifende Probleme, beispielsweise das Traditionsverständnis und die Herkunft des Personalbestandes im Sport von Ost und West sollten ganz grundsätzlich erörtert werden. Nicht alle seine danach verfaßten Äußerungen folgten solchen Anliegen konsequent, daß er aber diesen Weg weitergehen wollte, kann auch daraus gefolgert werden, daß die Herausgabe der umfassenden GuthMuths-Biographie durch einen ostdeutschen Fachkollegen von ihm gutachterlich unterstützt wurde.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Sports und der deutsch-deutschen Sportbeziehungen wird noch viel Mühe machen und Bemühungen verlangen, wie sie vom Verstorbenen in seinen Prolegomena angesprochen wurden. Dazu werden ständig neue Anstöße gebraucht. Hajo Bernett hätte sie bestimmt gegeben. Auch deshalb ist sein Tod ein Verlust für die Sportgeschichte.
Günter Wonneberger
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 4 / 1997
INHALT:
Philosophische Wurzeln der Theorie und Praxis
Carl Diems in den Beziehungen zwischen
Krieg und Sport
Helmuth Westphal 5
Eine weiße Spur in über 3000 Exponaten
Roland Sänger 19
Turnplätze in Mecklenburg-Strelitz
Dietrich Grünwald 26
DISKUSSION
Quellen und Betrachtungen
Hans Simon 39
Für das Profilager geparkt
Heinz Schwidtmann 41
DOKUMENTATION
Die Situation 1956
Willi Daume 45
JAHRESTAGE
40 Jahre ADMV
Horst Scholtz und Harald Täger 67
Paavo Nurmi 80 Bernhard Almstadt 82
Hermann Tops 84
50. Friedensfahrt
Vico Rigassi 85
REZENSION
Die erste vollständige GutsMuths-Biographie
Günther Wonneberger 88
LITERATUR
Die elliptische Tretmühle
Egon Erwin Kisch 91
ZITATE 96
2
„Sportmedaillen sind ein nationales Anliegen“
Auskünfte von Manfred Kanther
Zu Dopingforschungen in der BRD 1968
Manfred Steinbach
Wo gehobelt wird, geschieht mit Stasi-Akten nicht nur Objektives
Willi Ph. Knecht
21 Mannschaften auf einem Platz
Georg Moldenhauser
Die Nazis brachten Nationalspieler Hirsch um
Peter Mast
GEDENKEN
Hugo Döbler
Eberhard Schramm 106
3
DIE AUTOREN
DIETRICH GRÜNWALD; Dr. paed., geboren 1932, Hochschullehrer am Institut für Lehrerbildung (IfL) Templin und an der Pädagogischen Hochschule Neubrandenburg von 1987 bis 1992, Mitglied der AG Sportgeschichte des LSB Mecklenburg-Vorpommern.
EGON ERWIN KISCH, 1885 - 1948, tschechischer Journalist und Schriftsteller.
ROLAND SÄNGER, geboren 1935, Sportjournalist, Pressechef des Deutschen Skiläufer-Verbandes (DSLV) von 1979 bis 1990.
HORST SCHOLTZ, geboren 1924, Dipl.-Ing. für Kraftfahrzeugtechnick, Vizepräsident des Allgemeinen Deutschen MotorsportVerbandes e.V. (ADMV).
EBERHARD SCHRAMM, Dr. paed. habil., geboren 1927, Prof. für Theorie und Methodik des Schwimmens an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) und an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig von 1981 bis 1992.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik 1970 bis 1990 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) und dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig, Rektor der DHfK 1963 bis 1965, Präsident des Deutschen Boxverbandes (DBV) 1974 bis 1990.
HANS SIMON, Dr. sc. paed., geboren 1928, Hochschullehrer für Sportgeschichte 1951 bis 1990 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHFK) Leipzig, Mitglied der DVS.
HARALD TÄGER, geboren 1952, Dipl.-Ing. für Elektrotechnik,
Geschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Motorsport-
Verbandes e.V. (ADMV).
HELMUTH WESTPHAL, Dr. paed. habil., geboren 1928, Prof für Theorie der Körperkultur und Sportgeschichte an der Pädagogischen Hochschule Potsdam von 1958 bis 1988.
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GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der DeutschenHochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972, Präsident des ICOSH 1971 bis 1983, Mitglied der DVS.
Philosophische Wurzeln der Theorie und Praxis Carl Diems in den Beziehungen
zwischen Krieg und Sport
Von HELMUTH WESTPHAL
Der Apologetik des Diemschen Lebenswerkes bereiten insbesondere die Bekenntnisse des früheren und langjährigen Rektors der Kölner Sporthochschule zum Hegemonialstreben des deutschen Imperialismus ebenso Verlegenheiten wie die Auslassungen über die Relationen zwischen Krieg und Sport. Auch sie kann dieses Gedankengut nicht ignorieren, setzt aber seine übrigen wissenschaftlichen Arbeiten, seine Tatkraft als Sportfunktionär und seine Hartnäckigkeit im Ringen um die Stärkung des staatlichen Engagements zur Förderung des Sportes dazu ins Verhältnis, bescheinigt seinem Gesamtwerk Widersprüchlichkeiten, die seine Leistungen zwar schmälern, jedoch nach ihrer Version keinen Anlaß geben, den derzeitigen Diem-Kult zu liquidieren, wie es in deutschen Landen gefordert wird.1) Unwissenheit, Parteinahme und Opportunismus werden sichtbar, wenn es um die Frage geht, wodurch es Diem gelang, allen bourgeoisen Machtsystemen adäquat gewesen zu sein. Ohne Zweifel bedarf es weiterer Untersuchungen darüber, wie sich Carl Diem in die deutschen Hierarchien einpassen konnte, wie er sich anbot, herangezogen wurde, Kompromisse machen mußte und welches Persönlichkeitsprofil ihm dabei zustatten kam. Es müßte beispielsweise stärker als bisher der Frage nachgegangen werden, ob gerade die Militarisierung der deutschen Körperkultur am Vorabend des Ersten Weltkrieges 2) den Aufstieg Carl Diems zur Folge hatte. Archivalisch unterbelichtet sind auch die vielen Initiativen Carl Diems in der Zeit der Weimarer Republik und ihre Bezüge zur verdeckten Wiederherstellung des deutschen Kriegspotentials sowie zur Mehrung des internationalen Einflusses deutscher Politik. Gleiches gilt für sein Wirken in der faschistischen Ära und in der Bundesrepublik Deutschland. Solche Untersuchungen würden weitere Aufschlüsse darüber liefern, welches Verständnis er von der Olympischen Idee hatte, welchen unausweichlichen Zwängen er ausgeliefert war, wo er sich in vorauseilendem Gehorsam geübt und wann er sich als Eiferer im
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Sinne imperialistischer Erwartungen bewährt hat, ausgestattet mit Wissen, taktischen Erfahrungen, Selbstbewußtsein, vielleicht aber auch mit Servilität, Zynismus und Verschlagenheit. Scheinbar erübrigt sich die Frage, warum er sich nach dem Zweiten Weltkrieg den Aufbruch in eine qualitativ neue politische Ära versagte. Der Vollständigkeit wegen sollte darauf nicht verzichtet werden.
Übereinstimmung herrscht zwischen Verteidigern und Kritikern, daß Diems Werk weltanschaulich orientiert gewesen ist. Zu widersprüchlich sind die Motivationen und Antriebe historischer Persönlichkeiten, als daß ausnahmsweise Carl Diem a priori eine philosophisch eindimensionale Ableitung seines Handelns nachgesagt werden sollte. Dennoch läßt sich die Relevanz seiner weltanschaulichen Orientierung, so heterogen sie auch sein mag, für seine Stellung zur Politik der jeweiligen Machtstruktur nicht leugnen, vor allem dann nicht, wenn ihre Aneignung den Zwängen dieser Politik folgt und eine Kausalität zwischen politischer Realität, Weltanschauung und praktischem Handeln sichtbar war. Es kann dahingestellt bleiben, ob Diem ein geschlossenes Weltbild besessen hat, zumal die Antwort kontrovers ausfallen muß, je nach den Kriterien, die den Anforderungen einer philosophischen Geschlossenheit innewohnen. Letztendlich muß auch dem eine geschlossene Weltanschauung zugebilligt werden, der sich alles aus einem simplen Religionsverständnis heraus erklärt. Gleichsam bedarf es nicht des Nachweises, bei wem Diem in die Schule der Philosophie gegangen ist. Sein Briefwechsel mit dem Philosophen und Psychologen Eduard Spranger reicht als Beweis seines philosophischen Werdeganges nicht, weil Spranger nicht in einem weltanschaulichen Vakuum sein theoretisches Profil gefunden hat, sondern, wie Carl Diem auch, sich in dem ideologischen Verbund seiner Zeit befand und daran partizipierte.
Deshalb soll darauf verzichtet werden, Diemsche Orientierungen zum Verhältnis von Krieg und Sport in ihrem theoretischen Ursprung bei einem Philosophen zu suchen. Vielmehr werden solche philosophischen Richtungen genannt, mit denen Diemsche Theoreme korrespondieren und denen sie unter Umständen auch entlehnt sein könnten.
Hinreichend bewiesen ist, daß Diems Überlegungen nicht kontemplative Theorien eines Stubengelehrten waren, die sich zu
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Disputationen in den Salons und als Denkübungen für Studenten in Seminaren eigneten. Sie waren stets eine Anleitung zum praktischen Handeln für politische, militärische und sportliche Strukturen und somit auch für ihn selbst. Damit verbunden ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob Diem einer bestimmten politischen Richtung und einem davon abhängigen Verantwortungsniveau zugeordnet werden kann. Nur vordergründig ließe sich diese Frage mit der Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation beantworten. Immer muß die historische Rolle einer Persönlichkeit im jeweiligen politischen Geschehen konkret untersucht werden, wodurch sich beispielsweise nicht widerlegen läßt, daß viele einfache Mitglieder der NSDAP und militanter Wehrorganisationen weniger Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges tragen als hohe Militärs, Industrielle und Diplomaten, die als Würdenträger nicht solchen Organisationen angehörten und verschiedentlich erst nach den militärischen Niederlagen Hitler-Deutschlands an den Fronten zur Bewegung des 20. Juli stießen. Entscheidend ist, mit welchem politischen Profil und Einfluß eine Persönlichkeit im Sinne konkreter politischer Ziele etwas bewegte.
Carl Diem wirkte in einem Halbjahrhundert, das durch die Vorbereitung, Führung und Auswirkungen von zwei Weltkriegen gekennzeichnet ist. Wie nie zuvor spielte die Frage nach dem Sinn von Kriegen im politisch-geistigen Leben insbesondere europäischer Völker eine herausragende Rolle. Exponenten der internationalen Arbeiterbewegung deckten immer wieder die wahren Ursachen und Ziele der verschiedenen Kriegspläne auf. Auch geistreiche und friedliebende Kräfte des aufgeklärten Bürgertums wandten sich beherzt gegen Aggressionsvorbereitungen und deren chauvinistische Rechtfertigung. Dieses Friedenspotential richtete sich bewußt gegen jene Führungseliten verschiedener Länder, die permanent Strategien zur kriegerischen Verteidigung, Erweiterung oder Neuaufteilung politischer und ökonomischer Einflußsphären entwarfen und umzusetzen versuchten. Philosophisch reflektierte sich diese Strategie in Spencers Sozialdarwinismus, dessen biologistischer Determinismus den Kampf jeder gegen jeden und somit auch Kriege der Länder und Völker untereinander als angebliches ewiges Naturgesetz scheinwissenschaftlich rechtfertigte. In Deutschland waren es Gumplovicz, Ratzenhofer,
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Woltmann und andere, die den Sozialdarwinismus als konservative Ideologie verbreiteten. Ebenso leistete die Lebensphilosophie Nietzsches sowie die Existenzphilosophie Heideggers und auch von Jaspers der Verbreitung des biologistischen Determinismus Vorschub, womit die Aussichtslosigkeit des Kampfes um den Frieden begründet werden sollte.
So gab es in Deutschland in dem genannten Halbjahrhundert in der Frage Krieg oder Frieden zwei antagonistisch gegenüberstehende politisch-geistige Lager, nämlich die Gegner von Völkerverhetzung und Kriegen auf der einen Seite und die Befürworter militärischer Auseinandersetzungen und chauvinistischer Manipulierung der Volksmassen auf der anderen Seite.
Bekanntlich ergriff auch der Initiator des ersten deutschen Olympiakomitees, Dr. Willibald Gebhardt, für die Gegner des Krieges und hegemonialer Strategien Partei. Wofür aber entschied sich Carl Diem? Diem machte aus seiner Parteinahme kein Hehl, wenn es um die außenpolitischen Machtansprüche Deutschlands ging. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges, als noch die Vorbereitungen für die Durchführung der Olympischen Spiele 1916 in Berlin liefen, verwarf Carl Diem vor der nationalen und internationalen Öffentlichkeit die Olympische Idee der Völkerverständigung und der Friedensförderung mit Hilfe des internationalen sportlichen Vergleichs, wie sie zu jener Zeit nicht nur von Gebhardt in der deutschen bürgerlichen Sportbewegung verteidigt wurde, indem er gemäß den Erwartungen des Kabinetts von Bethmann-Hollweg3) die Durchführung der Olympischen Spiele in den Dienst der Hegemonialpolitik des deutschen Kaiserreiches stellte. In der von ihm verfaßten prinzipiellen Orientierung für den bürgerlichen deutschen Sport heißt es bekanntlich:
"Wir sind uns bewußt, im Ausland nicht so gewürdigt zu werden, wie wir es verdienen. Nicht schnell und eindringlich genug kann sich die Kunde von der Bedeutung des deutschen Wirtschaftslebens und der deutschen Industrie aber auch von Deutschlands kriegerischer Macht verbreiten. Die Spiele des Jahres 1916 werden und sollen mit ein Mittel sein, um die Völker von unserer Weltmachtstellung zu überzeugen...“4)
Wenn Diem in seinem Olympiakonzept Deutschlands Weltmachtanspruch bejaht, dann entspringt dieses Bekenntnis
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zunächst der Politik, in deren Dienst er sich gestellt hatte zugleich aber auch jener Geisteshaltung, für die der Alldeutsche Verband mit seinen chauvinistischen Kampagnen sorgte und die weltanschaulich von dem englischen Philosophen Chamberlain untermauert wurden, indem dieser das sogenannte deutsche Wesen in den Rang einer Menschheitsorientierung erhob.5) Der philosophisch irrationalistisch begründete Führungsanspruch eines nebulösen Deutschtums förderte den nationalistischen Größenwahn als Manipulierungsinhalt der ideologischen Vorbereitung des deutschen Volkes auf den Ersten Weltkrieg. In den Führungseliten der deutschen Monarchie fehlte es gewiß nicht an machthungrigen Männern, die sich eines intellektuell anspruchsvollen Motivationsstils befleißigten und ihr Sendungsbewußtsein nicht nur aus den profanen Weltmachtansprüchen der Junker und Großindustriellen, sondern auch aus philosophischen Quellen speisten. Es muß einstweilen dahingestellt bleiben, ob Diem allein den Intentionen der damaligen Politik und der allgemeinen chauvinistischen Geisteshaltung erlag oder seine Überzeugungen auch mit Chamberlain legitimierte.
Jedenfalls lag es Diem fern, sich von den Weltmachtansprüchen des deutschen Imperialismus loszusagen, geschweige denn, auf Konfrontation
zu gehen. Die Identifikation mit solchen politischen Ansprüchen verbot ihm die Unterstützung des von Gebhardt entworfenen Planes, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die olympische Bewegung konsequenter im Sinne der Völkerverständigung und der Festigung des Friedens zu nutzen, sie zu einer Art Friedensbewegung zu profilieren. Bekanntlich konspirierte Diem dagegen. Und nachdem Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaune gebrochen hatte, nahm Diem keine Rücksicht mehr auf seine internationale Reputation, verzichtete auf den letzten Rest diplomatischer Zungenfertigkeit und eröffnete seine Überlegungen über das Verhältnis von Welt- und Europa-Spielen mit der Losung "Die Welt für Deutschland fordern!"6) Diesem Ziel sollten nach seiner Meinung auch die Olympischen Spiele dienen, denn in einem Vortrag, den er im Jahre 1941 in Paris hielt, plädierte er für die Beibehaltung der Olympischen Spiele mit dem Argument: „Weltweite Pläne der Nation verlangen weltoffene Kämpfe des Sportes"7) Eine solche verbal scheinbar harmlose Aussage war in
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ihrer abstrakten Form kaum von der Hand zu weisen. Sie mußte aber im Kontext realer faschistischer Annexionspolitik verstanden werden. Für Diem gab es keinen Spielraum außerhalb dieser Politik. Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, ob Diem das Weltmachtstreben der deutschen Faschisten nur mit friedlichen Mitteln, wozu die internationalen sportlichen Wettkämpfe gerechnet werden können, oder auch die Methoden der Gewalt bejahte, wozu vor allem der Krieg gehörte. Es ist für die Beantwortung dieser Frage nicht unerheblich, ob Diem die Triebkräfte des von den deutschen Faschisten geplanten Krieges kannte. Seine Zusammenarbeit mit den Führungseliten der Weimarer Republik und des sogenannten Dritten Reiches spricht dafür. Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, daß Carl Diem schon im Olympiajahr 1936 im Opfertod des Soldaten8) die Erfüllung menschlichen Daseins sieht und als Orientierung sportlichen Lebens anbietet. Eine solche Sinngebung läßt sich nur als eine militaristische Reflexion des Überfalls der Legion Condor auf die spanische Republik und anderer aggressiver militärischer Vorhaben Hitler-Deutschlands erklären, deren Funktion darin bestand, die sporttreibende Jugend moralisch zur Preisgabe von Leben und Gesundheit für imperiale Ziele des hinter Hitler stehenden Großkapitals zu bewegen. Der Anstoß zu dieser Sentenz kam eindeutig aus der realen Politik Hitlers. Eine weltanschauliche Untermauerung lieferte Heidegger, nach dessen Philosophie der Verlust des Lebens nicht im Widerspruch zum kulturellen Auftrag des Menschen steht, weil sich ohnehin das "Sein des Daseins im Tode" erschließt.9) Zwangsläufig gelangt der soldatische Opfertod in den Rang höchster Werteorientierung, wodurch sich das Individuum vor allem in solchen Persönlichkeitseigenschaften verwirklichen kann, die gemäß dem Daseinssinn finalisiert sind. Beifallheischend läßt Diem fünf Jahre später verlauten, welchen Beitrag der von ihm aufgebaute Sport zur Herausbildung solcher Eigenschaften unter der deutschen Jugend geleistet hat, indem er schrieb:
"Im Sturmlauf durch Frankreich.... zeigt sich, was der Deutsche kann.... Eine der Ursachen aber, das dürfen wir stolz verkünden, ist der sportliche Geist, in dem Deutschlands Jungmannschaft aufgewachsen ist. Da gibt es nichts mehr von jener schlaffen Anstrengungsscheu und platten Begehrlichkeit weichlicher
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Zeiten.... Statt dessen Freude am Kampf, Freude an der Entbehrung, Freude an der Gefahr."10)
Es läßt sich nicht belegen, ob bei dieser Analyse unterschwellig die mythische Affektation Spenglers mit im Spiele war, indem dieser nämlich den stahlharten Rassemenschen für den „letzten Kampf" verlangte.11) Diems Schwärmerei für Persönlichkeitseigenschaften, die im Kriege gefordert waren, spiegelte einerseits eine Realität wider, war als solche aber nicht eine kontemplative Äußerung, sondern ein konkretes Programm für die praktische Arbeit unter der Sportjugend. Während die Ableitung von Spengler nicht zu belegen ist, kann Diems Rückgriff auf ein Denkmuster der konservativen bürgerlichen Soziologie jener Zeit zur Synchronisierung von Krieg und Sport nicht geleugnet werden. Ein solches wurde von dem Soziologen Maeterlinck bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges publiziert. In einer speziellen Schrift über die Beziehungen zwischen Krieg und Sport äußerte er im Jahre 1907:
"Der Krieg ist... der Sport par exellence und die Quelle aller anderen Sportarten, die er einbegreift und selbst pflegt, wenn diese nicht überhaupt die Kräfte, deren er sich selbst bedient, vorbereiten und stählen."12)
Später wurde dieses geistige Konstrukt von Diem ohne Quellenangabe unter seinem Namen veröffentlicht, wodurch nicht nur die Frage nach seiner wissenschaftlichen Redlichkeit Beantwortung verlangt, sondern auch die Annahme nicht abwegig ist, sich mit diesem Plagiat bei jenen Mächtigen aufzuwerten, um deren Gunst er stets bemüht war. Eine solche prinzipielle Orientierung war geeignet, die anfänglichen Vorbehalte der deutschen Militaristen gegenüber dem Sport zu zerstreuen. Allmählich nahm die Zahl hochrangiger Militärs zu, die die Zusammenarbeit mit den Sportorganisationen suchten und den Sport als Ausbildungskomplex der verschiedenen militärischen Strukturen sanktionierten. Diese Symbiose kostete den Sport einen hohen Preis, denn indem er dazu beitrug, das deutsche Kriegspotential zu steigern, wuchs stets die Gefahr zur Anzettelung von Kriegen und damit des Niedergangs der Sportbewegung.
Im Gegensatz zu den Diemschen Optionen gab es auch andere weltanschauliche Orientierungen des deutschen Sportes, die das Streben nach physischer Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Sozialisation, Bewegungs- und Naturerlebnissen mit den Zielen
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nach sozialer Gerechtigkeit, Völkerfreundschaft und Erhaltung des Friedens verbanden. Eine solche humanistische Ideologie war nicht auf die Arbeitersportbewegung begrenzt, sondern entsprach auch dem ethischen Profil des progressiven Liberalismus und fortschrittlicher religiöser Richtungen. Ihnen war gemeinsam, den Krieg als Totengräber des Sportes zu begreifen, also keine schöpferische Verwandtschaft zwischen Krieg und Sport13), sondern den Gegensatz herauszustellen und den Mißbrauch des Sportes für kriegerische Zwecke zu bekämpfen. Mit dieser Richtung kokettierte Diem nicht einmal.
Diem bekannte sich nicht nur theoretisch in seinen Schriften zur deutschen Kriegspartei. So, wie er es vor und während des Ersten Weltkrieges als junger Ehrgeizling gehalten hatte, arbeitete er auch praktisch in der Zeit der Weimarer Republik mit der Reichswehr und später mit der Wehrmacht zusammen. Nicht einmal in den letzten Tagen der Hitlerdiktatur kündigte er den politischen und militärischen Abenteurern die Treue, indem er, auf seine existentialistische Opfertodtheorie zurückgreifend, Junge und Greise aufforderte, in den Krieg zu ziehen.14) Sein Appell läßt sich nur dann mit einer Art von Nilbelungentreue erklären, wenn ein irrationales Vaterlandsverständnis keine kritische Hinterfragung erwarten läßt. In jenen Tagen diente dieser Appell eindeutig nicht dem Vaterland, sondern der Vernichtung seiner kulturellen, physischen und wirtschaftlichen Restsubstanz. Im Kampf um Berlin hatten sogar Offiziere faschistischer Eliteeinheiten die Unvermeidbarkeit des Zusammenbruchs Hitler-Deutschlands begriffen und durch eine taktisch kluge Befehlsgebung unnötiges Blutvergießen so weit wie möglich verhindert. Andererseits fehlte es nicht an fanatischen Selbstmördern. Ihnen trieb Diem mit seinem Charisma die letzten Menschenreserven Deutschlands in die Arme, ohne sich selbst zu opfern, obwohl es dazu genügend Gelegenheiten gab. Somit läßt sich hinter diesem Aufruf kaum vaterländische Gesinnung, eher schon ein makabres Theorem der faschistischen Mythologie suchen, wonach ein Volk, das nicht fähig war, Hitlers Weltherrschaftspläne zu verwirklichen, den Untergang verdient habe.
Nach dem Kriege wandte sich Diem dagegen, als Anhänger und Aktivist des Militarismus klassifiziert zu werden15), indem er darauf verwies, zwar stets ein positives Verhältnis zum Militär, nie aber
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zum Militarismus gehabt zu haben, weil dieser auf Gewaltanwendung und Annexion abzielt. Was von Diems Anspruch zu halten ist, wird deutlich, wenn die Frage beantwortet wird, ob es zu jener Zeit in Deutschland ein militärisches Potential ohne annexionistische Optionen gab. Im Ersten Weltkrieg strebte die Monarchie nach der Neuaufteilung der internationalen Einflußsphären zugunsten Deutschlands und seiner Verbündeten mit den Mitteln militärischer Gewalt. In der Weimarer Republik war das Militär stets eine Stütze der konservativen Restauration und der Basis zum Aufbau eines revanchistischen Machtinstrumentes. Und der Faschismus pervertierte die Wehrmachtsteile zur Vollstreckung von Annexionen und Versklavung anderer Völker. Gegen eine solche Instrumentalisierung wehrten sich die hohen Militärs nicht oder nur vereinzelt und dann noch widersprüchlich. Vielmehr setzten sie im Sinne dieser Instrumentalisierung die Rechtlosigkeit der einfachen Soldaten, auch der Wehrwilligen, durch und praktizierten im Umgang mit den Untergebenen den Stil der Arroganz, Willkür, Verachtung und Verhöhnung, wobei zum Typischen auch Ausnahmen gehörten. Gelegentlich wurde auch die Hoffnung geäußert, daß die Verbreitung des Sportes im deutschen Militär dazu beitragen werde, die Umgangsformen zwischen den Vorgesetzten und den Untergebenen zu harmonisieren.
Solange Diem Beziehungen zum deutschen Militär unterhielt, war im Heer der Monarchie, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches der Militarismus dominant. Nicht anders verhielt es sich in den paramilitärischen Organisationen, die von konservativen bürgerlichen Parteien ausgehalten wurden. Diem mied die Nähe jener Persönlichkeiten und Bewegungen, die sich demonstrativ gegen den Militarismus wandten. Vielmehr bot er sich den Repräsentanten des deutschen Militarismus an, wodurch er nie mit ihm kollidierte, wohl aber kollaborierte und stets in seinem Sinne Initiativen entwickelte. Auch wenn zuweilen nicht immer einige von ihnen Anklang fanden, wie beispielsweise sein Vorschlag zur Aufstellung von Sportregimentern16) - gemeint ist eine Eliteinfanterie -, dann geriet er deshalb nicht in den Gegensatz zum faschistischen Militarismus. Er hatte vielmehr das Gewicht der hinter ihm stehenden militärischen Lobby falsch eingeschätzt.
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Auch sein Hinweis auf seine Sympathien für die Selbständigkeit der kleinen europäischen Nationen ist ungeeignet, seine Rolle im Dienste des deutschen Militarismus zu relativieren oder abzuschwächen. Als nämlich die faschistische Sportführung mit von Tschammer und Osten sowie Ritter von Halt im Auftrage Hitlers Pläne zur "Neuordnung des Sportes in Europa" in Angriff nahmen, ging es um die Faschisierung des Sportes der kleinen Nationen, um die Beseitigung ihrer nationaldemokratischen Identität und die Unterordnung unter die Ziele der faschistischen Sportführung in Berlin. Auf diese Weise sollte die nationaldemokratische Souveränität dieser Nationen liquidiert werden. Diem hat die Okkupation europäischer Länder durch Hitler bejaht und sich daran begeistert.17) Nachgegangen werden muß der Frage, ob die Idee faschistischer Europaspiele gar von Diem stammt. Er hat sie jedenfalls maßgeblich unterstützt, lediglich daran die Forderung geknüpft, nicht auf die Olympischen Spiele zu verzichten, wie es vielleicht einigen Repräsentanten des damaligen deutschen Sportes vorschwebte.18) Bezeichnend aber war die Begründung, mit der Diem diese Olympischen Spiele verteidigte, indem er im Sinne der faschistischen Ideologie permanent den Kampf der Völker untereinander beschwor und dagegen die Funktion des Sportes als ein Mittel der Völkerverständigung und der Stabilisierung des Friedens unterschlug.19) Wenn er es dennoch wagte, auf so anspruchslose Weise sich zu rechtfertigen, so rechnete er entweder mit der Unwissenheit oder der Gutgläubigkeit der deutschen und internationalen Sportöffentlichkeit oder verließ sich auf die Akrobatik solipzistischer Verdrängungsdialektik für den Fall, daß Insiderwissen andere Erklärungen verlangten.
Zur Realität des deutschen Sportes unserer Tage gehört aber auch, daß Carl Diem trotz seiner verhängnisvollen historischen Rolle in vielen Organisationen ein hohes Ansehen genießt. Zweifellos hängt dieses Ansehen davon ab, in welcher Weise der Charakter und die Erscheinungsformen des deutschen Militarismus aufgearbeitet worden sind. Wenn der deutsche Militarsimus gerechtfertigt, verharmlost oder seine Existenz negiert wird, gibt es keinen Grund, Diems Rolle im deutschen Sport zu disqualifizieren. Eine solche Ignoranz dominiert zwar nicht, ist aber existent und
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nimmt deshalb Einfluß auf die konsequente Analyse Diemschen Schaffens.
Unter den Sporthistorikern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik existierte eine solche Ignoranz nicht, sondern eine „stramme Ideologie" des Antimilitarismus, wie es im antikommunistischen Sprachgebrauch heißt. Diese Grundposition war einerseits durch das marxistische Geschichtsverständnis aber auch durch die eigenen Erfahrungen gestützt. Einer von ihnen gehörte zu jenen jungen "Vaterlandsverteidigern", von denen Diem in Berlin den Opfertod verlangte, der aber mit Verwundungen davonkam und das Glück hatte, die erlittenen Körperschäden mit Hilfe des Sportes zu kompensieren. Sie haben abfällige Marginalien von Antagonisten nur insofern ernst zu nehmen, als die sich dahinter verbergende Inkonsequenz zur Aufarbeitung des deutschen Militarismus erneut dem Mißbrauch der deutschen Körperkultur für militärische Zwecke Vorschub leistet und die Glaubwürdigkeit des deutschen Sportes bezüglich seiner Treue zur Olympischen Idee nicht grundlos bezweifelt wird. Gelassenheit hingegen ist angebracht, sofern anstelle von seriösen und sachlich begründeten Nachweisen, wie es die klassische deutsche Historiografie verlangt, leere Worthülsen und Klischeeurteile als Mittel dogmatischer Pflichtübungen oder anspruchsloser akademischer Profilierungsgelüste oder -zwänge herhalten müssen. Einige Autoren, die sich neuerdings zu Diems Leistungen geäußert haben26), leugnen nicht generell das militaristische Engagement Carl Diems., erteilen aber seiner konzeptionellen Kreativität, seinem Organisationstalent und seiner wissenschaftlichen Breite hervorragende Noten. Tatsächlich ist in der heutigen nationalen und internationalen Sportbewegung manches aufgehoben, was von Carl Diem stammt und was sich nicht aus seinem Engagement im Dienste des deutschen Militarismus allein erklären läßt. Die Gegenwart erlaubt es aber der deutschen Sportbewegung nicht, deshalb die verhängnisvolle Rolle Carl Diems im Prozeß der Militarisierung der deutschen Körperkultur zu relativieren oder gar zu ignorieren.
Es ist kein Gnadengeschenk des politischen Zufalls, wenn dem deutschen Volk in den verflossenen fünzig Jahren ein Krieg erspart geblieben ist. Internationale und nationale Konstellationen gaben den verborgen oder zuweilen auch offen angedeuteten
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Weltmachtansprüchen deutscher "Vordenker" keine Realisierungschancen, wodurch die Ergebnisse des Sporttreibens in Deutschland nach 1945 nicht militärischen Abenteuern zum Opfer fielen. Damit ist aber die Gefahr noch nicht endgültig beseitigt. Führungseliten der Bundesrepublik Deutschland arbeiten daran, die militärische Rolle ihrer Streitkräfte im internationalen Maßstab neu zu definieren. Gegenwärtig macht die Bundesrepublik eine Zitterpartie bezüglich ihres künftigen Engagements auf dem Balkan durch. Geklärt ist bereits der Kampfeinsatz deutscher Verbände im Rahmen von sogenannten Befriedungsaktionen. Verschwommen bleibt, wodurch die kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien wirklich ausgelöst wurden und vielleicht wieder aufflammen werden. Käme es zu Kampfeinsätzen, ließe sich der sogenannte Opfertod nicht mehr ausschließen, wie ihn Diem von sporttreibenden Staatsbürgern verlangte. Zwei Weltkriege und viele andere begrenzte militärische Auseinandersetzungen lehren aber, daß der sogenannte Opfertod nie einem imaginären Vaterlandsinteresse, sondern immer denen diente, die sich in Mark und Pfennig ausrechneten, wieviel sich an der Vorbereitung, Anzettelung und Führung von Kriegen, am Wiederaufbau einer Region und an ihrer Ausbeutung verdienen läßt. Weil sich diese Wahrheit trotz perfektionierter Verschleierungsmethoden einer kommerzialisierten Auftragsjournalistik immer stärker Bahn bricht und die vaterländische Opfertoddemagogie einer Verschleißtendenz unterliegt, obwohl Karl Jaspers kraft seiner philosophischen Autorität sie zu retten trachtete21), kommen die Söldnerheere in Form der Berufsarmeen wieder in Mode. Deren Rekrutierung kann sich die berufliche Ausweglosigkeit und die tägliche Manipulierung junger Menschen im Sinne der Killerideologie zu nutze machen. Nunmehr haben diese die Möglichkeit der Wahl zwischen dem Schicksal der zivilberuflichen Ausgrenzung und dem honorierten Lebensrisiko militärischer Profis, zu deren Job es gehört, sich nicht nur die Söldnermoral, Gefechtskenntnisse, den Umgang mit Waffensystemen, sondern auch ein hohes physisches Leistungsvermögen anzueignen. In Vorbereitung auf diesen Job als auch im Prozeß seiner Ausübung werden sportliche Trainingsmethoden unerläßlich sein. Auf diese Weise scheint es so, als müßte der Sport im Sinne einer Gesetzmäßigkeit ewig ein
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Knecht des Krieges sein. Eine solche Gesetzmäßigkeit kann aber außer Kraft gesetzt oder ihre Gültigkeit begrenzt werden, indem die Menschen aller sozialer Schichten jedwede Wehrpolitik kritischer denn je hinterfragen, sich nicht nur verweigern, sondern im Rahmen von Antikriegsaktionen22) jene Manager zur Verantwortung ziehen, die als geheime Drahtzieher militärischer Konflikte im Verborgenen agieren. Unbedingt muß verhindert werden, daß im Rahmen einer neuen deutschen Militärdoktrin der soldatische Opfertod als Leitidee in die Ethik der deutschen Körperkultur Eingang findet oder partiell geduldet wird. Andernfalls würde sich die größte deutsche Kulturbewegung der Gegenwart einem degenerativen Prinzip ausliefern und von ihrer ursprünglichen Sinngebung verabschieden, nämlich Leben, Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Lebensfreude als Daseinserfüllung zu verwirklichen.
1) vgl. Huhn, Klaus: Bemerkungen zu einem Diem-Plädoyer, in: BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE, Heft 3, Jg. 1996, S.113
2) An der Gründung des militaristischen Jungdeutschlandbundes unter der Führung des Generalfeldmarschalls von der Goltz war Carl Diem als damaliger Vorsitzender der "Sportbe-hörde für Athletik“ maßgeblich beteiligt, wodurch sich von der Goltz veranlaßt sah, dem Königlichen Geheimen Zivilkabinett vorzuschlagen, Diem mit einem "königlichen Gnadenbeweis“ auszuzeichnen. (vgl. DZA Merseburg, Königliches Geheimes Zivilkabinett, Jugendpflege, Rep.89 H, Bd.2, Bl. 68.)
3) Nachdem Wilhelm II. und seine Anhänger das Kabinett Hohenlohe-Schillingfürst per Staatsstreich durch die Regierung von Bülows abgelöst hatten, wurde die deutsche Weltmachtpolitik permanent aggressiver, die unter der Führung des 1909 eingesetzten Reichskanzlers von Bethmann-Hollweg in den Ersten Weltkrieg mündete.
4) Fußball und Leichtathletik, Jg. 1913, S.465
5) vgl. Chamberlain, Briefe 1882-1924, BD. II, München 1928, S.241
6) Diem, Carl: Olympische Flamme, Bd. I, Berlin 1942, S.245
7) Diem,Carl: Der Olympische Gedanke im neuen Europa, Berlin 1942, S.50
8) vgl. Olympisches Jugend-Festspiel-Programm-Heft, Berlin 1938. S.11. Der Opfertodgedanke kommt auch in der Fotomontage des Olympiakalenders zum Ausdruck, die die Olympiaglocke über den Stahlhelmengefallener Soldaten darstellt, aber nicht als Mahnung zum Schutz des menschlichen Lebens vor dem Krieg interpretiert wird. vgl. Westphal, Helmuth: Der Militarismus, der Todfeind des deutschen Sports, Berlin 1958, S.54.
9) Heidegger M.: Sein und Zeit, Halle 1927, S.263
l0) Diem,Carl:Sturmlauf durch Frankreich, in: Reichssportblatt vom 25.6.1940
11) vgl. Spengler 0.: Der Untergang des Abendlandes, München 1923, BD.II, S.628
12) Maeterlinck M.: Gedanken über Sport und Krieg, Leipzig-Berlin, 1907, S. 67
13) vgl. Westphal, Helmuth: Die Politik der herrschenden Klassen zur Militarisierung der deutschen Körperkultur am Vorabend des I. Weltkrieges, Potsdam 1963, S.133-155
14) Tatsächlich leisteten die sportlichsten Jungen, darunter vor allem Napola- und Adolf-Hitler-Schüler, diesem Aufruf Folge, indem sie sich mit Nebelhandgranaten, T-Minen und Panzerfäusten den sowjetischen Panzern aussichtslos entgegenwarfen, ihr Leben verloren, verwundet wurden oder in die sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten.
15) vgl. Huhn, ebenda, S. 114
16) vgl. ebenda, S.119
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17) vgl. Diem,C : Sturmlauf ..., ebenda
18) vgl. Westphal, Helmuth:Die Konzeption des deutschen Faschismus zur Durchführung von Europaspielen in: Theorie und Praxis der Körperkultur, Jg. 1973, Heft 3, S.218
19) Diem,Carl: Der Olympische Gedanke im neuen Europa, Berlin 1942, S. 50
20) vgl. Huhn, Klaus, ebenda, S.114 - 116
21) Karl Jaspers heroisierte bereits 13 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg den Opfertod des Soldaten. Vgl. Jaspers, K.:Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958, S. 73
22) Korrespondierend mit einem solchen Engagement wäre es an der Zeit, daß Sporthistoriker verschiedener politischer Couleur als Bestandteil eines umfassenden Forschungsprojektes die Rolle deutscher Sportfunktionäre in der Zeit des Faschismus vermittels vertiefter Aktenstudien untersuchen würden.
Nach der derzeitigen Dokumentenlage gibt es keinen Grund, dem zumeist als geistreich gekennzeichneten Carl Diem politische Naivität oder Opportunismus einzuräumen, sowie seine Äußerungen über Sport und Krieg als Lapsus linguae abzutun und ihm auf diese Weise Generalabsolution zu erteilen. Dabei geht es weniger um das Diembild der Gegenwart als vielmehr um die Stellung des deutschen Sportes zu Krieg und Frieden in der Zukunft.
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Eine weiße Spur in über 3000 Exponaten
Von ROLAND SÄNGER
"Wir kommen aus Witten, aber ohne Schlitten", so lautet ein besonders launiger Eintrag vom 29. Juni 1996 im Gästebuch des Oberhofer Wintersportmuseums, das sein Initiator und Leiter Jan Knapp bescheiden "Thüringer Wintersport-Ausstellung" nennt. Es ist immerhin Deutschlands größte und facettenreichste Exposition zur Geschichte des weißen Sports. Und zugleich die jüngste, denn sie öffnete erst am 6. Mai 1995 ihre Pforten in einer ehemaligen Turnhalle, die zwischendurch zu einem Supermarkt herabgesunken war, der dann jedoch wohl nicht genug Revenue abwarf, um von einer bekannten Kaufhaus-Kette weiterbetrieben zu werden. Die einst den ASK- und anderen Athleten dienende und nun nutzlose Trainingshalle ging über in die Rechtsträgerschaft des Thüringer Sportbundes, der sie sodann dem Knapp'schen Vorhaben zur Verfügung stellte.
Der Ausstellungs-Vorläufer allerdings hatte schon ab 1993 im Gaststättenkomplex "Oberer Hof" campiert, ehe auch diese bei Oberhofer Sportereignissen einst so beliebte gastronomische Oase im Januar 1995 den marktwirtschaftstypischen Weg vieler Unternehmen in die Pleite antrat. In den zwei Jahren zuvor war der engagierte Jan Knapp mit seinem anspruchsvollen Museums-Vorhaben ziemlich auf sich allein gestellt. Der ehemalige NVA-Offizier hatte nach Monaten der Arbeitslosigkeit zum Touristik-Assistenten umgeschult und das sogenannte Harzburger Diplom erworben. "Ich bin also nicht unqualifiziert", spöttelt Jan Knapp, der sich noch genau an die Reportage Ludwig Schröders vom olympischen Sprunglauf 1960 in Squaw Valley erinnert, als die NATO auf Betreiben der BRD den DDR-Berichterstattern die Einreise in die USA verweigert hatte und der damalige DSLV-Generalsekretär das spannende Geschehen um den Olympiasieg von Helmut Recknagel schilderte. Als einen Insider des Wintersports mochte er sich - zu Anfang - trotzdem nicht halten. Mit umso größerem Eifer drang er nach seiner Umschulung in das Innenleben dieser Materie ein.
Bei der Kurverwaltung Oberhof bekam Jan Knapp 1992 eine ABM-Stelle mit der Aufgabe, den Fremdenverkehr im einstigen Kurort
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der Werktätigen, dessen Heime und Pensionen nach 1989 nicht mehr gefragt waren, wieder mit anzukurbeln. Die Idee mit dem Wintersportmuseum, so gesteht er freimütig, stamme nicht von ihm, sondern von Helmut Recknagel. Mit der Leiterin der Kurverwaltung setzte sie Jan Knapp nun Schritt für Schrit um. Schon zu DDR-Zeiten hatte im Schanzentisch der Thüringenschanze eine kleine Wintersport-Ausstellung existiert, aber die wurde 1990 ausgeräumt und damit ausgelöscht - eine der unzähligen Abwicklungen in aller Stille. Pokale, Diplome und Sportgeräte verschwanden (es genügte, daß sie DDR-Sportgeschichte dokumentierten), und nur eine Handvoll Stücke trieb Jan Knapp später mit Mühe wieder auf.
In geduldiger und gründlicher Arbeit trug der Initiator vieles wieder zusammen, besuchte mehr als 120 Veteranen und Veteraninnen des weißen Sports wie Heinz Holland, Kuno Werner, Hugo Forkel und Verwandte von Hans Marr, Oskar Weisheit und Erich Keller, die im Thüringer und deutschen Skisport einst zur Spitze gezählt hatten. Von ihnen stammen viele einmalige und wertvolle Sachzeugen. Die Witwe von Rittmeister Bobby Griebel, der in den zwanziger Jahren zu den weltbesten Bobfahrern gehört hatte, war ebenso unter den Sponsoren wie viele unbekannte und ungenannte Helfer. Selbst von der Tochter des Norwegers Rolf Wiborg Thune, der um die Jahrhundertwende zu den Pionieren des Skisports im Thüringer Wald gezählt hatte, bekam er gegenständliche Hilfe.
Die Ausstellung umfaßt nun über 3000 Exponate in 23 Vitrinen und 12 Schaukästen sowie 36 Schautafeln, alles auf einer Fläche von 12 mal 26 Metern. Schneeschuhe, Schlitten und Ausrüstungen aus den Anfangsjahren des weißen Sports in Thüringen stehen neben den primitiven Brettern, mit denen Kuno Werner, Heinz Holland und Hugo Forkel vor fünf Jahrzehnten ihre Meistertitel errangen. Daneben sind jene Musiktruhen zu bewundern, die Holland und Forkel damals für ihre Leistungen als Ehrenpreise empfingen. Ein Glanzstück ist der Fünferbob aus dem Jahre 1904, gebaut von einem Schmied und einem Stellmacher, der als "Langer Tom" 1907 bei der Deutschen Meisterschaft in Oberhof am Start war. Noch älter ist ein Silberlöffel von 1898, den Rolf Wiborg Thune, der in Oberhof seine zweite Heimat fand, als Preis erhielt. Selbstverständlich sind auch Helmut Recknagel, Werner Lesser,
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Gerhard Grimmer, Wolfgang Hoppe, Klaus Bonsack, Karl-Heinz Luck und viele andere DDR-Wintersport-Asse mit Preisen und Pokalen vertreten, die ihre unvergeßlichen Erfolge dokumentieren.
Eine ausschließlich dem Hochleistungssport vorbehaltene Schau ist diese Ausstellung jedoch nicht. Sie zeigt mit regionalem Ambiente Rolle und Impulse von Oberhof und dem Thüringer Wald für den Wintersport in der Geschichte insgesamt. Zur Ausstellung gehören eine Bibliothek mit rund 2000 Bänden sporthistorischer und sportwissenschaftlicher Literatur sowie Zeitungen und Zeitschriften, Medaillen, Sportabzeichen, Fahnen, Wimpel (mit ca. 3500 Stücken), eine Sammlung von über 1000 Dokumenten und an die 4000 Fotos und Negative sowie Doku-Filme, Wochenschauen und Rundfunk-Reportagen.
Wenn auch Ereignisse wie die Friedensfahrt, die auch in Oberhof Station machte, in der Ausstellung mit Exponaten vertreten sind, so nimmt natürlich der Thüringer Wintersport und seine Geschichte, die 1904 mit ersten Vereinsgründungen begann, den Löwenanteil des Ausstellungs-Platzes ein. Ein besonderer Schwerpunkt sind die Wintersportmeisterschaften von 1949 bis 1956, die (bis auf Schierke 1950) ausschließlich in Oberhof stattfanden. "Nie wieder gab es eine solche Sportbegeisterung wie in jener Zeit, als die Zuschauer zu Zehntausenden nach Oberhof strömten", urteilt Jan Knapp. 125.000 Sportbegeisterte kamen 1951 zum Abschlußtag der DDR-Meisterschaften in die Rennsteig-Metropole - 80 000 standen an der Thüringenschanze, 45 000 säumten die Wadeberg-Bobbahn!
Das Anliegen dieser Exposition kennzeichnet Jan Knapp mit den Worten: "Sie ist regional angelegt und sagt zugleich etwas aus über die Wirkungen, die von Thüringen und Oberhof für den deutschen und internationalen Sport ausgingen. Historische Persönlichkeiten, die in Oberhof präsent waren, werden daran gemessen, welche Leistungen sie für den Sport vollbracht haben. Deshalb wird Walter Ulbricht neben dem Hohenzollern-Kronprinzen, dem Herzog Carl-Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha, dem Rittmeister Bobby Griebel und mancher anderen historischen Figur nicht nur genannt, er nimmt auch einen Ehrenplatz ein."
Die Zukunft der "Thüringer Wintersport-Ausstellung in Oberhof" scheint nunmehr gesichert, nachdem sich der Thüringer
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Landessportbund, die Kommune sowie die beiden Oberhofer Klubs WSV und BSR"Rennsteig", die jeweils Ski/ Biathlon und Bob/Schlitten repräsentieren, als Träger engagieren. Die Ausstellung - längst im Range eines attraktiven Museums - hat Partner in den Sportmuseen von Leipzig und Berlin und im Sportverlag Berlin, von dem der Großteil der Literatur gespendet wurde. In der Person von Harro Esmarch aus Schönau am Königsee erwuchs der Oberhofer Ausstellung ein kameradschaftlicher Partner und Mentor bei der Erforschung der Geschichte von Bob und Rodeln. In Gestalt von Dr.-Ing. Klaus-Ewald Holst von Verbundnetz GASAG Leipzig, der seit 1993 ein beständiger Helfer ist, möchte Jan Knapp dem Kreis der Gönner und Förderer Dank sagen.
Seit Mai 1995 besuchten im Durchchnitt 500 Interessierte pro Monat die Ausstellung, und es werden derer immer mehr. Längst ist das erste Gästebuch gefüllt mit meist anerkennenden, oft fachkundigen, selten kritischen und zuweilen auch humorvollen Einträgen - siehe "Witten ohne Schlitten". Beim Großteil des Ausstellungs-Publikums fand er mit seinem Werk Zustimmung; zuweilen freilich hat auch mal der eine oder andere aus dem neuen Oberhofer Establishment oder aus der sogenannten Aufarbeitungsszene geäußert, da hingen zu viele rote Fahnen von der Decke. Sie meinten damit wohl die Klub-Farben von DTSB oder ASK oder SKDA, mit deren Namen der Aufstieg von Oberhof zu einem Weltzentrum des weißen Sports verbunden ist. Die Ausstellung nähert sich - dank ihres Schöpfers Jan Knapp - der Geschichte ohne Tabus; ihre Fahnen kann sie deshalb nicht nach dem Winde hängen. Was Amerikaner, Niederländer, Japaner, Norweger, Schweden, Liechtensteiner und natürlich auch die überwiegende Zahl der Deutschen beim Besuch dieser attraktiven Schau anerkennend festgestellt haben.
Aus dem Gästebuch
Sehr gute Ausstellung
11.7.95 Hans Z., Zürich, Schweiz
Eine ausgezeichnete Ausstellung. Vor etwa 30 Jahren ärgerte es uns Jugendliche (damals!) in Österreich, daß uns die
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Wintersportler aus der DDR nahezu bei allen Wintersportveranstaltungen im nord. Bereich um die Ohren fuhren bzw. auf und davon sprangen. Es war uns nicht bewußt, daß einerseits nur in einer solchen Landschaft und bei derartigen (für die damalige Zeit) modernen Trainingsmethoden solche Erfolge reifen konnten. Die Sportler, deren Erfolge hier dargestellt sind, hatten (abgesehen vom politischen Druck, der selbstverständlich auf sie ausgeübt wurde) noch Ideale und waren keine so geldgierigen und pressegeilen Monster wie die heutige Sportlergeneration, die im inflationären Titel- und Medienrausch in einer ganz anderen Welt lebt. Man wird leider sehen, daß die Erfolge der Oberhofer Wintersportler in den nächsten Jahren stark zurückgehen werden, da das heutige wirtschaftliche und politische System und die miserable Sportförderung (im Vergleich zu DDR-Zeiten!) nur noch wenige Stars, dafür aber umso mehr Mitläufer bringen wird, deren charakterliche Eigenschaften nicht ausreichen werden, um Spitzenleistungen zu vollbringen. Sehr schade! Insgesamt gratuliere ich der Stadt Oberhof zu dieser schönen Ausstellung.
12.07.1995 Reinfried K., Salzburg, Österreich
Aufrichtige Anerkennung, vor allem für die Liebe zum Detail!
9.8.95 Horst Sch. Journalist
Ich als alter Brotteroder, von Kindheit an mit dem Sport verbunden, finde diese Ausstellung, ich kann es nicht in Worte kleiden; denn Worte sind zu schwach dazu, ich bin tief beeindruckt. Allen, die dieses Museum aufgebaut haben, ein ganz herzliches "Dankeschön", dass ich dies noch erleben durfte. Ich wünsche allen Mitarbeitern noch viel Erfolg u. den Verantwortlichen von Oberhof rufe ich zu, tut mehr für den Sport in Oberhof.
9. 8. 1995 M .
Jan! Große Klasse für Deine Bemühungen. Es fällt einem manches ein, was schon teilweise in Vergessenheit geraten war. Und Dank für die Einladung zum heutigen Tag. Dank auch den Oberhofer Mitstreitern
13.9.95 Heinz Holland, Schmiedefeld
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Die Ausstellung ist ein beeindruckendes Zeugnis des Wintersports in Thüringen. Unendlich viel Mühe stecken in der Aufarbeitung erfolgreicher Jahrzehnte. Herzlichen Glückwunsch zu dem gelungenen Ergebnis.
13.9.95 Freia Hahn (geb. Aschermann), Rennrodlerin in den 50er Jahren; Ute Oberhoffner (geb. Weiß), Rennrodlerin in den 80er Jahren
Mit Freude und großem Interesse habe ich die Ausstellung besucht. Ich hoffe, daß viele Besucher in diese Räume finden !
21.9.95 Manfred von Richthofen
Mit einer kleinen Delegation kamen wir aus Rheinland-Pfalz zum internationalen Mattenspringen nach Oberhof. Wir nahmen dies auch zum Anlass eines Besuches hier in diesem Wintersportmuseum. Wir sind, gelinde gesagt, unheimlich beeindruckt. Wir werden immer wieder gerne nach Oberhof zurückkommen.
24.9.95 In freundschaftlicher Verbundenheit die
Kameraden des Landessportbundes Rheinland-Pfalz
Ein interessantes Kapitel von Erinnerungen, die uns gleichzeitig wichtige Impulse für unsere Trainingsbemühungen gaben. Vielleicht können auch wir einmal mit unseren zukünftigen Erfolgen ein weiteres Kapitel der Ausstellung mitgestalten helfen. Sie muß deshalb immer fortbestehen. Den Initiatoren alles Gute und viele gute Ideen bei der weiteren Ausgestaltung der Ausstellung.
8.2.1996 Die Mitglieder des Skitrainingslagers des SV 1883 aus Rudolstadt
Große Anerkennung und Glückwunsch zu dieser ausgezeichneten Wintersportausstellung an den Initiator Jan Knapp!
17.2.96 Josef Fendt, FIL - Präsident
Nach einem hochinteressanten Besuch im Wintersportmuseum Oberhof wünsche ich dem weiteren Ausbau alles Gute.
8.3.96 Prof. Dr. Norbert M., Univ. Mainz
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Ich möchte hiermit Herrn Jan Knapp meinen herzlichsten Dank aussprechen, dass ich diese schöne Ausstellung über den Wintersport in Oberhof sehen durfte.
Die Ausstellung ist interessant und hat mir Freude bereitet. Herrn Knapps Information muss ich bewundern - und ich will mich bemühen - wenn ich wieder zu Hause in Akkershaugen, Telemark, Norwegen bin, Bilder zu finden und hierher zu schicken zur Vervollständigung dieser wunderschönen Winter-
sportausstellung.
28.4.96 Frl. Ingeborg W. T., Akkershaugen, Telemark
Wir hatten viel zu wenig Zeit für diese interessante Wintersportausstellung! Man könnte ja einen ganzen Tag hier verbringen. Vielen Dank.
30.4.96 Volkshochschule Münster
Ich bin begeistert! Ein Fundus für jeden begeisterten Sportsmann.
7.7.96 E. E., Bundestrainer, Deutscher Leichtathletik-Verband
Äußerst beeindruckend! Und das sagt ein Sportmuffel, der nur wegen seiner Tochter reinkam und nun mit verklärtem Blick wieder rausgeht...
Peter H.
Eine wertvolle Ausstellung, die offen die sportliche Bedeutung des Wintersports hervorhebt! 1952 wurde u.a. auch schon die Einheit als erstrebenswertes Ziel formuliert, eine Forderung, die Jahre der Zeit vorausgeht!
18. 9. 96 CDU-Senioren-Union des Kreises Unna
Herzlichen Glückwunsch für die umfangreiche und übersichtliche Thüringer Wintersportausstellung. ... Mögen viele Besucher die Schau sehen und sich selbst ein Bild von den Leistungen Thüringer und Oberhofer Wintersportler machen. Zudem hatte ich heute das Glück, das Video vom Oberhofer Wintersport zu sehen. Eine schöne Erinnerung an große Oberhofer Feste, die ich meist selbst miterlebt habe.
23. 6. 96 Dr. Oskar P., Luisenthaler SV
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TURNPLÄTZE IN
MECKLENBURG-STRELITZ
Von DIETRICH GRÜNWALD
Mit dem Vaterländischen Turnen, das Jahn, Fichte, Scharnhorst und weitere Reformer als Teil eines umfassenden nationalen Erziehungsplans verstanden, in dem Körperübungen als Bestandteil einer breiten Volkserziehung Vorarbeit für eine künftige Vaterlandsverteidigung leisten sollten, setzte ab 1810 auf der Hasenheide bei Berlin eine Entwicklung ein, die zunächst auf diesen Ort beschränkt blieb, dann aber nach den Befreiungskriegen weit über Preußens Grenzen hinweg eine beispiellose Entwicklung nahm. Zu den frühen Verbreitungsregionen des Turnens gehörte das damalige Herzogtum Mecklenburg-Strelitz.
Friedrich Ludwig Jahn, Schöpfer des Vaterländischen Turnens, begann zunächst mit zwanglosen Körperübungen und Spielen, wie er sie bereits während der Hauslehrerjahre in Neubrandenburg mit Jugendlichen dieser Stadt betrieben hatte. Schrittweise organisierte er in seiner „Turngesellschaft“ den Turnbetrieb in der Weise, daß eine Turnordnung erlassen, eine Turnmarke ausgegeben sowie eine einheitliche leinene Turnkleidung festgelegt wurden. Der Turnplatz auf der Hasenheide war mit hohen Klettergerüsten, Schwebebaum sowie Recken und Barren ausgestattet. Bei der Auswahl des Übungsstoffes und der methodischen Gestaltung orientierten sich Jahn und seine Mitstreiter - vor allem Ernst Eiselen und Friedrich Friesen - zunächst an der Gymnastik von GutsMuths. Über die Grenzen des Turnplatzes hinaus wurden Geländespiele, Schwimmen und Fechten betrieben.
Bis 1812 hatte sich auf der Hasenheide die Teilnehmerzahl auf ca. 500 Turner erhöht. Nach Jahns Rückkehr aus dem Befreiungskrieg Anfang 1814 nahm das Turnen an diesem Ort, genährt durch den vorbildlichen Einsatz der Turner während des Krieges, einen enormen Aufschwung, das stärker als vorher mit einer gesellschaftlichen Anerkennung verbunden war. Mit 1074 eingetragenen Turnern war dann im Jahr 1817 fast die Kapazitätsgrenze erreicht1), obwohl die Anlage ständig mit
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Geräten ergänzt und erweitert wurde. Sie stellte in ihrer Gesamtanlage und -austattung, die weitgehend den von Jahn in der Deutschen Turnkunst empfohlenen Kriterien entsprach, die allerdings auf ca. 400 Turner bezogen war, die Grundlage für weitere entstehende Turnplätze dar.
Parallel zum Wirken auf der Hasenheide richteten Jahn und seine Mitstreiter ihr Augenmerk auf eine Verbreitung des Turnwesens in Preußen und in anderen deutschen Ländern, darunter in Mecklenburg-Strelitz. Offenbar hat sich Jahn, der in Neubrandenburg und Torgelow zweieinhalb Jahre als Hauslehrer tätig war, für die Turnentwicklung im Stargarder Land besonders eingesetzt, denn nirgendwo sonst hat er so nachhaltig seine Spuren hinterlassen und direkt oder über seine Vorturner, darunter Dürre, Maßmann und Eiselen, Hilfe bei der Errichtung von Turnplätzen gegeben und die Gestaltung des Turnbetriebs unterstützt.
Der kleine, nördlich von Berlin gelegene deutsche Kleinstaat Mecklenburg- Strelitz bestand zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus zwei Landesteilen, der Herrschaft Stargard - etwa mit dem heutigen Kreis Mecklenburg- Strelitz gleichzusetzen - und dem Fürstentum Ratzeburg, bestehend aus der Domhalbinsel und dem Gebiet östlich des Schaalsees. Die Wiener Beschlüsse erhoben den Regenten dieses Landes, Herzog Carl, 1816 zum Großherzog, ohne damit den inneren Zustand beeinflussen zu können. Das zweigeteilte Land, absolut regiert und von der heimischen Ritterschaft dominiert, war in dieser Zeit eines der ärmsten und rückständigsten deutschen Länder. Neben der Landeshauptstadt Neustrelitz hatten die Vorderstadt Neubrandenburg2), die Grenzstadt Friedland sowie der Teilregierungssitz auf der Domhalbinsel in Ratzeburg eine gewisse wirtschaftliche und bildungspolitische Bedeutung. In allen drei Orten befanden sich Gelehrtenschulen, und Gymnasien, die in den Jahren von 1815 bis 1819 zu Zentren des sich entwickelnden Turnwesens wurden und es zu einer beachtlichen Blüte brachten.
In Friedland begann bereits im Frühjahr 1814 der organisierte Turnbetrieb. Der Prorektor an der Gelehrtenschule, Carl Leuschner, hatte am 18. Oktober 1814 an den Feierlichkeiten in Berlin teilgenommen. Jahn besuchte unmittelbar danach die Turner der Kleinstadt, die noch auf einer provisorischen Turnanlage übten
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und bewirkte mit seinem Auftreten eine Forcierung des Turngeschehens. Die Erwähnung im Preußischen Correspondenten3) belegt den sehr frühen Beginn des Turnens in diesem Ort. Mit dem am 23. April 1815 eingeweihten Turnplatz an der Schwanbecker Landstraße verfügte Friedland Ort danach über Bedingungen, die eine ununterbrochene, relativ konstante Turntätigkeit ermöglichten. Die Stadt kann demzufolge auf eine sehr alte Turntradition, vielleicht die älteste in ganz Deutschland, verweisen. Mehrere Besuche Jahns und seiner Vorturner, ein nimmermüder Leuschner, der von seinem Rektor und einigen Kollegen aktiv unterstützt wurde, sowie ein wohlwollender Magistrat trugen dazu bei, daß das Turnen einen sichtbaren Aufschwung nahm und die Stadt in den Jahren 1815 bis 1817 zu einem Wallfahrtsort für Turninteressierte der umliegenden Orte wurde, die sich vom Aufbau des Turnplatzes und vom Funktionieren des Turnbetriebs überzeugen wollten. Zum festen Bestandteil der Turnerei in Friedland gehörten Turnvergleiche mit den Turnern der Nachbarorte, Turnfeste, wie jedes Jahr am 18. Oktober, und Turnfahrten in die nähere Umgebung. Die Verbundenheit der Friedländer zu dem von ihnen sehr verehrten Turnvater zeigte sich u.a. darin, daß Leuschner regelmäßig Turnberichte nach Berlin schickte, die abschriftlich im „Friedländer Turnalbum“4) vorliegen.
In Neubrandenburg begann Professor Ferdinand Milarch, bis 1810 Hauslehrer bei Baron Le Fort, Jahns früherem Arbeitgeber, später Rektor der Gelehrtenschule, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Befreiungskrieg noch im Herbst 1814 mit Arbeiten am Turnplatzgelände auf den Kuhwiesen vor den Toren der Stadt. Bei der Anlage des Platzes, der Ausstattung mit Geräten und auch bei der Gestaltung des Turnbetriebs, der im Sommer des nachfolgenden Jahres einsetzte, orientierte sich der Initiator weitgehend am Friedländer Beispiel. Höhepunkte im Turngeschehen jener Jahre waren im Juni 1816 der Besuch des Großherzogs, der mit einem großen Schauturnen gefeiert wurde, und ein Vergleich mit den Berliner Turnern ein Jahr später. Anläßlich dieses Besuches legten die Berliner Turner an Jahns frühem Wirkungsort auf dem Krähenberg im Brodaer Holz eine Rasenbank an und benannten ihn in “Jahns Horst“ um. Milarch war weitgehend auf sich selbst gestellt, fand nur zu Anfang
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Unterstützung beim Lehrkörper und beim Magistrat, so daß im Gegensatz zu Friedland und Neustrelitz der Turnplatz nach und nach verkam und ab 1823 nur noch gelegentlich Körperübungen betrieben wurden.
In der Residenzstadt Neustrelitz sorgte der Großherzog persönlich dafür, daß ein, wie Timm formuliert, „mit großer Munificenz“5) ausgestatteter Turnplatz errichtet wurde. Am Zustandekommen und an der Ausführung des Projekts hatte Jahn auf Bitte des Großherzogs persönlichen Anteil, was er später in einem Brief zum Ausdruck brachte.6) Der Platz wurde am 2. September 1816 im Beisein des Großherzogs und seines Hofstaates eingeweiht und erlebte unter der Leitung von Professor Kämpffer, Lehrer am Gymnasium Carolinum, und dem wohl ersten fest angestellten und besoldeten „Turnlehrer“ Deutschlands, Manger, den Jahn empfohlen hatte, bis 1819 eine äußerst progressive Entwicklung. Kämpffer sorgte mit dem von ihm berufenen Turnerrat gemeinsam mit Manger für einen gut organisierten, auf hohem Niveau stehenden Turnbetrieb. Die regelmäßige Teilnahme von 120 bis 140 Turnern am Übungsbetrieb belegt die Aussage ebenso wie die Ergebnisse eines Turnvergleichs mit den Berliner Turnern im Sommer 1817. Jahn, der auf der Turnfahrt nach Rügen die Neustrelitzer besuchte, forderte sie zu Vergleichen im Tauziehen und Ringen heraus und war erstaunt und verärgert zugleich, daß die Neustrelitzer die Nase vorn hatten. Von den Niederlagen betroffen, ließ er sich zu negativen Äußerungen über die Kleidung der Neustrelitzer und ihre „unturnerischen Gesänge“ hinreißen, die fast zu handgreiflichen Auseinandersetzungen geführt hätten. Der Turnbetrieb wurde in Neustrelitz, wie auch in Friedland, während der Jahre des Turnverbots in Preußen - allerdings mit Höhen und Tiefen - fortgesetzt.
Unter ungleich schwierigeren Bedingungen wurde 1816 in Ratzeburg, wo die Domschule unter mecklenburg-strelitzscher Verwaltung stand, ein zunächst privat geführter Turnplatz auf städtischem, also ausländischem Gebiet errichtet. Erst zwei oder drei Jahre später entstand gegenüber der Domhalbinsel im Römnitzer Holz, jetzt im Mecklenburgischen, eine neue Anlage. Initiator der Turnbewegung in der Domstadt war Carl Friedrich Ludwig Arndt, der von seinem Schwager Heinrich Riemann, dem Kampfgefährten Jahns, späteren Burschenschafter, schließlich
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selbst Turnvorsteher in Eutin und Friedland, zum Turnen angeregt wurde. Gemeinsam mit dem von Jahn geschickten Vorturner Sonntag organisierte Arndt den Turnbetrieb. Der interessante Briefwechsel Jahns mit diesem verdienstvollen Pädagogen und Theologen zeigt anschaulich, wie sehr Jahn die Turnerei außerhalb Berlins am Herzen lag und unter welch schwierigen Bedingungen er zu helfen versuchte.7) Über die Ausstattung des Turnplatzes und die Gestaltung des Turnbetriebs ist wenig bekannt. Immerhin zeugt ein 1831 herausgegebenes Turnliederbuch davon, daß offenbar bis zu diesem Zeitpunkt in Ratzeburg aktiv geturnt wurde.
Die bis hierher kurz skizzierte Entstehungsgeschichte von vier Turnplätzen im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz, einem sehr kleinen und unbedeutenden deutschen Kleinstaat, der in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht vom mächtigen Preußen und dem größeren mecklenburgischen Nachbarstaat abhängig war, verdeutlicht, daß mit viel Initiative einzelner Männer unter dem Einfluß Jahns und unter der euphorischen Nachwirkung der Befreiungskriege eine etwa fünf Jahre währende Turn-entwicklung erfolgte, die außerhalb des Ursprungslandes des Vaterländischen Turnens als beachtlich eingestuft werden muß. Im weiteren soll anhand von vorliegenden Unterlagen der beiden Turnplätze in Friedland und Neustrelitz versucht werden, einen Vergleich zu der Turnanlage auf der Hasenheide anzustellen und den Nachweis zu erbringen, daß auf dem „platten Lande“ durchaus günstige Bedingungen für einen gut organisierten Turnbetrieb gegeben waren.
Der Friedländer Turnplatz
Der Initiator der Turnbewegung in Friedland, Leuschner, mußte seinen 1814 eingerichteten Turnplatz kurzfristig wieder räumen. Bereits im Herbst 1814 hatte der Magistrat der Stadt jedoch bereits ein neues Gelände östlich des alten Turnplatzes bewilligt und bekundete mit dieser Maßnahme, wie auch mit der Bereitstellung des Holzes, der finanziellen Unterstützung durch Spenden und der fortgesetzten aktiven Anteilnahme auch in den Folgejahren seine aufgeschlossene Haltung zum Turngeschehen. Leuschner begann trotz eines gewissen Bedauerns über die nicht unerheblichen Kosten, die er z.T. selbst trug, und die umsonst aufgewendeten
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Arbeiten beim Bau des ersten Platzes bereits Ende des Jahres 1814 mit der Errichtung der neuen Turnstätte.
Zunächst umpflanzte er die unmittelbar an der Landwehr rechteckig angelegte Anlage mit schnellwachsenden Pappeln, vor denen Holzbänke für die Zuschauer aufgestellt waren. Der Tie wurde mit Eichen umsäumt, von denen heute noch drei diese Stelle markieren. Weitere Bäume lockerten die mit Schleeten (Holzstangen/ A.d.A.) umzäunte Gesamtanlage auf und dienten als Schattenspender für die Turnenden. Im weiteren folgte Leuschner, die eingeschränkten räumlichen Bedingungen und finanziellen Möglichkeiten nutzend, seinem Grundprinzip, alles überschaubar und gradlinig zu gestalten. Das zeigt sich bei den parallel zur Laufbahn und Springgrube angelegten Recken und Springeln auf der einen sowie der unmittelbaren Aufeinanderfolge von Barren, Steinstoß- und Gerwurfanlage auf der anderen Seite. Der direkt vor dem Tie gelegene Spielplatz und die Konzentration der Gerüste dahinter unterstreichen die durchgängige Beachtung des genannten Prinzips. Der nach exakten Angaben Leuschners gefertigte Grundriß führt deutlich vor Augen, daß der Turnplatz mit all seinen Teilbereichen in sehr konzentrierter und relativ enger Form, dabei aber sehr übersichtlich angelegt war. Die Größe der Berliner Anlage war nicht angestrebt, zumal sich 1815 insgesamt lediglich 73 Turner, fast ausschließlich Schüler der Gelehrtenschule, eingeschrieben hatten. Diese Turnerzahl blieb lange Jahre konstant und war Orientierung für die solide und gründlich durchdachte Anlage, die den Anforderungen an einen Turnbetrieb unter den Kleinstadtbedingungen in hervorragender Weise gerecht wurde. Die Weitläufigkeit der Neustrelitzer Anlage war wahrscheinlich aus finanziellen Gründen und wegen der nicht gegebenen räumlichen Bedingungen umsetzbar. Ratschläge der Berliner Vorturner berücksichtigte Leuschner z. T. noch nach der Eröffnung des Turnbetriebs.
Auf einige Besonderheiten des Friedländer Turnplatzes, die weder die Deutsche Turnkunst noch der Grundriß vom Turnplatz auf der Hasenheide enthalten, weist Leuschner in seinem zweiten Turnbericht an Jahn hin. Er schreibt:
„Um diese Zeit (Sommer 1815/ A.d.A.) wurde auf dem Turnplatze eine Anstalt zum Stoßen (Stoßbalken, einem sich umdrehenden Wegekreuze nicht unähnlich) und zum Heben/
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Wagebalken auf einer dreikantigen Unterlage ruhend eingerichtet.“8)
Im weiteren beschreibt er diese beiden Anlagen:
1 Stoßbalken
Ein schwerer Balken, der sich auf einem Gestell um einen hölzernen Nagel dreht. Zwei Pfosten zum Anschließen des Balkens.
1 Waagebalken
Ein schwerer Balken auf dreikantiger Unterlage. Auf dieser kann er nach rechts oder links verschoben werden. 2 Hilfsgestelle zur Ablage des Balkens. Höhe etwa 1,50 m, 6 m lang.“
Vor allem bei den jährlichen Turnfesten anläßlich des Tages der Völkerschlacht bei Leipzig, am 18. Oktober, wurden das „Carousselspiel“ und ein Figurenspiel, genannt „Napoleonstechen“ betrieben. Beim Figurenspiel war ein auf die auf eine Platte aufgemalte Figur - den Eroberer Napoleon darstellend -, die eine Hand zu einer Landkarte, auf der die deutschen Länder aufgezeichnet waren, ausstreckt, mit einer Pike zu werfen.
Am 23. April 1815 erfolgte, nachdem die vorbereitenden Arbeiten abgeschlossen waren und die meisten Geräte ihren Platz gefunden hatten, in eindrucksvoller Weise die Inbetriebnahme des neuen Friedländer Turnplatzes. An der feierlichen Weihe nahmen die Honoratioren und zahlreiche Bürger der Stadt sowie Bewohner der umliegenden Ortschaften teil. In seinem Turnbericht an Jahn gibt Leuschner ca. 1500 Teilnehmer und Zuschauer an. Eröffnet wurde das Fest mit einem von Rektor Wegner verfaßten Weihelied, das dem Anlaß dieses bedeutenden Tages gerecht wurde. Nach der Eröffnungsansprache von Leuschner mit einem Aufruf an die vaterländische Jugend, den Körper zu kräftigen und fleißig zu üben, damit dem deutschen Vaterland eine gesunde und widerstandsfähige Jugend heranwachse, und von Turnern mehrstimmig vorgetragenen Liedern begann das öffentliche Turnen, das allgemeines Staunen hervorrief und großen Anklang fand.
Der in den Folgejahren ständig vervollständigte Turnplatz, der wohl erst 1817 seine im Grundriß dargestellte Form erreichte, stellte die Grundlage für das über Jahrzehnte an dieser Stelle betriebene Turnen dar. Er überstand die Jahre des Turnverbots in Preußen,
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diente in dieser Zeit auch den Turnern des benachbarten Schwerinsburg in Pommern als Übungsort und wurde 1876 auf den Hagedorn verlegt. Die drei am Tie gepflanzten Eichen und ein markierter Findling kennzeichen den historischen Ort heute und künden von einer andauernden Traditionspflege in dieser mecklenburgischen Kleinstadt.
Der Neustrelitzer Turnplatz
Völlig anders als in Friedland gestalteten sich Baubeginn und -verlauf sowie die Inbetriebnahme des Neustrelitzer Turnplatzes. Auslöser war wahrscheinlich ein von Friedländer Leuschner angeführter Besucher im Sommer 1815. Im Turnalbum vermerkt er: "Unter diese (Besucher A.d.A.) gehörte besonders der erste Geistliche unseres Landes, der Superint. Dr. Glaser aus Neustrelitz, der so wie die meisten, die ich darüber gesprochen, die Sache von der rechten Seite ansah, u. also auch dafür war."
So wird dieser die Idee eines Turnplatzbaus in die Residenzstadt getragen haben. Gestützt worden ist das Vorhaben wohl auch durch den sich schnell verbreitenden Ruf über das turnerische Treiben in den Nachbarstädten Friedland und inzwischen auch Neubrandenburg. Den Auftakt für den Turnplatzbau gab Staatsminister von Oertzen, wahrscheinlich im Auftrage des weltoffenen und dem Turnwesen aufgeschlossenen (Groß) Herzog Carl. Er schickte eine offiziell berufene dreiköpfige Commission mit dem Bau-Conducteur Wolff nach Friedland und Neubrandenburg, um vor Ort Vermessungen auf dem Turnplatzgelände vorzunehmen. In das Vorhaben schaltete sich auch Jahn ein, der dem Fürsten die „Deutsche Turnkunst“ zugeschickt und ihm von den bestehenden Turnanstalten in Friedland und Neubrandenburg berichtet hatte. In einem Brief an Conrektor Arndt in Ratzeburg schreibt Jahn, der Großherzog habe ihm geantwortet: “Im gegenwärtigen Augenblick wird der Turnplatz für Neustrelitz eingerichtet, und ich behalte mir in bezug auf denselben die Bitte an Sie vor, daß Sie mir auf kürzere oder längere Zeit einen jungen Mann zusenden, welcher geeigenschaftet ist, den gründlichen Unterricht praktisch einzuleiten."9) Jahn reagierte auf diese Bitte und schickte die Vorturner Bergius, Manger und Bauer im Sommer 1816 nach Neustrelitz. Sie
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unterstützten in dieser Zeit vor allem den Bau des am Rande der Stadt in der Nähe des Glambecker Sees gelegenen Turnplatzes, begannen aber bereits vor der offiziellen Eröffnung mit der Turnerei. Bergius blieb bis zum 11. Oktober, der Aufenthalt der beiden anderen war kurzzeitiger. Manger kehrte ein Jahr später zurück und wurde ab Ostern 1817 als Turnlehrer fest angestellt. Jahns spätere Behauptung, daß der Neustrelitzer Turnplatz sein Werk gewesen10) sei, läßt vermuten, daß er über die Vermittlung von Vorturnern hinaus auch auf die Baupläne und den Bauverlauf direkt Einfluß genommen hat.
Der zügige Bauverlauf wurde vom Hofbaumeister Wolff straff geleitet und im wesentlichen nach drei Monaten abgeschlossen. Bereits die Errichtung eines aus Steinen gefertigten Turnhauses und das Verlegen des Rasens wie auch die gesamte Anlage und Ausstattung verdeutlichen, daß sehr großzügig verfahren wurde und die Erfahrungen der Nachbarstädte, die ihre Anlagen ohne staatliche Hilfe errichtet hatten, nur bedingt verwendet wurden. Die vollständig vorliegenden Rechnungen, die Abschlußrechnung datiert allerdings weit nach der Übergabe des Platzes, vom 1. Januar 1817, ergeben die nicht unbeträchtliche Gesamtsumme von 2.499 Talern. Die Eröffnung des Turnplatzes erfolgte trotz nicht abgeschlossener Arbeiten am 2. September 1816. Der erste Turntag, der wohl die eigentliche Weihe war, fand einen Monat später anläßlich des Geburtstages des Großherzogs statt. Das Zeremoniell beschreibt Timm folgendermaßen: “Vierstimmige Gesänge waren dazu eingeübt, und ein Vorturner hielt eine Rede. Der Großherzog selbst, so wie der damalige Minister von Oertzen und der jetzige von Dewitz erfreuten den Turnplatz durch ihre Gegenwart; zahllose Zuschauer standen außerhalb der Barrieren und an den Eingängen. Der hochbejahrte Großherzog fuhr auf dem Turnplatze umher, verweilte bei den einzelnen Riegen während der Übungen, und am Fuße des Tie, auf welchem gesungen wurde."11)
Der (wahrscheinlich) vom Hofbaumeister Wolff gefertige Grundriß des Turnplatzes verdeutlicht zunächst, daß fachmännisch vorgegangen wurde und offenbar Kosten keine Rolle spielten. Eindrucksvoll ist die gesamte Anlage, die wie in Friedland, von Schleeten umgeben war, in den sie umgebenden Wald - z.T. zwischen einzelnen Bäumen - eingeordnet. Im Gegensatz zur
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Friedländer Anlage fällt der gelockerte und weitläufige Grundaufbau ins Auge, der die einzelnen Bereiche voneinander trennt. Beeindruckend ist die halbrunde Gestaltung des Tie in zentraler Postion mit direkter Orientierung zum Spielplatz. Aber auch alle anderen Übungsstätten haben günstigen Kontakt zu diesem in der Mitte angelegten Versammlungs- und Ruheplatz... In seiner unmittelbaren Nähe sind sinnvollerweise auch die Vorübungsplätze angeordnet. Direkt nebeneinander liegen die Laufanlagen und ebenso die Klettergerüste und Turngeräte. Die Trennung von Ring- und Spielplatz sowie von Gerwurf- und Schockbahn - auf dem Friedländer Platz miteinander verbunden - wurde vertretbar gelöst. Eine gradlinige oder parallele Anordnung einzelner Bereiche sucht man vergebens. Trotzdem macht die gesamte Anlage einen geschlossenen Eindruck. Als einzige Besonderheit enthält der Grundriß eine Schneelaufbahn. Über ihre Nutzung kann jedoch nichts ausgesagt werden.
Die Neustrelitzer Anlage war wohl für gut hundert Teilnehmer ausgelegt; sie hätte ohne große Probleme der doppelten Anzahl von Turnern gute Übungsmöglichkeiten geboten. In den Jahren von 1816 bis 1819 turnten hier 120 bis 140 Aktive, die in vier Abteilungen mit jeweils zwei Riegen übten. Der von Kämpffer berufene Turnrat und der Berliner Manger sorgten in dieser Zeit für einen gut organisierten, straff geführten und methodisch vorbildlich gestalteten Turnbetrieb. Wie die Friedländer, schickten auch die Neustrelitzer regelmäßig Turnberichte an Jahn. Mit wechselnder Führung und sicher auch unter dem Einfluß des Turnverbots in Preußen ging der Besuch des Turnplatzes zurück, ohne jedoch ganz aufzuhören. Nach zwischenzeitlicher Mitnutzung durch das in Neustrelitz stationierte Militär mußte der Turnplatz im Jahr 1872 im Zuge des Baus der Eisenbahnstrecke nach Stralsund verlegt werden.
In der natürlichen Anlage gleichen sich nach Ansicht des Verfassers vor allem die beiden Turnplätze auf der Hasenheide und in Neustrelitz. In die mit Bäumen bestandene Fläche wurden sehr sinnvoll und in aufgelockerter Form die einzelnen Plätze, Turngerüste und -geräte eingeordnet. Hof-baumeister Wolff folgte, in Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen, offenbar den Jahn´schen Hinweisen mehr als dem in den Nachbarstädten
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Gesehenen. Die äußere Form des Friedländer Turnplatzes weicht in etwas beengeteren Ausdehnung davon ab.
Legt man die in der Übersicht ausgewiesenen Kriterien, wie sie von Jahn/ Eiselen in der „Deutschen Turnkunst“12) angegeben wurden, zugrunde, so ergibt sich bei allen drei vorgestellten Anlagen eine große Übereinstimmung. Zunächst betrifft das die Umzäunung und Umpflanzung mit Bäumen. Sie wurde in Friedland wie auch auf der Hasenheide mit der Einordnung in das vorhandene Gelände in hervorragender Weise gelöst. In Friedland mußten im Gegensatz dazu erst umfangreiche Pflanzungen, die Leuschner mit den Turnern selbst vornahm, erfolgen. Deutlich sichtbar wird in allen drei Grundrissen, daß der Tie aufgrund seiner Funktion als Rast-, Versammlungs- und Informationsplatz - in Mecklenburg diente er offenbar mehr als in Berlin auch zu mehrstimmigen Gesängen - zentral angelegt war und von da auch eine Steuerung des Übungsbetriebs erfolgen konnte. Auch die dritte Grundforderung der Verfasser, die Übungsstätten einer Gattung nebeneinander anzulegen, fand auf allen drei Anlagen Berücksichtigung. Gleiches trifft auf die unmittelbare Aufeinanderfolge der Turngeräte, wie Barren, Reck oder Schwingel zu. Lediglich die vorgeschlagenen Maße für die Plätze und Bahnen wichen offenbar voneinander ab. Hier hatte Jahn jedoch ausdrücklich zugestanden, daß die unterschiedlichen räumlichen Möglichkeiten und finanziellen Bedingungen, wie auch die zu erwartende Teilnehmerzahl Spielräume gestatten sollten. Der Aufbau, die Höhe und die Gestaltung der einzelnen Klettergerüste und Turngeräte entsprachen, soweit die Unterlagen Aussagen zulassen, ebenfalls den in der „Deutschen Turnkunst“ ausgewiesenen Vorgaben.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß die drei Turnplätze in der Herrschaft Stargard des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz, Friedland, Neustrelitz und Neubrandenburg (dieser entsprach weitgehend dem Friedländer Vorbild) gut in die sie umgebende Landschaft eingeordnet waren, in ihrem Grundaufbau und in ihrer Ausstattung den Vorgaben entsprachen und damit, stellt man die in der „Deutschen Turnkunst“ genannte Teilnehmerzahl von 400 den tatsächlichen Teilnehmern auf den drei Turnplätzen gegenüber, einen zügigen und exakten Ablauf des Übungsnachmittags gestatteten. Einen Vergleich mit dem Turnplatz auf der Hasenheide brauchten zumindest die beiden
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vorgestellten Anlagen in Friedland und Neustrelitz nicht zu scheuen. Damit waren in vielleicht optimalerer Weise als auf der Hasenheide alle Voraussetzungen gegeben, um einen abwechslungsreichen, vielseitigen und methodisch durchdachten Turnbetrieb zu gestalten. Bis 1818 war das Niveau, nimmt man die Vergleiche mit den Berliner Turnern als Maßstab, offenbar auch tatsächlich sehr hoch und führte damit zu soliden turnerischen Leistungen.
Verwendete Literatur:
Barthel, W.: 175 Jahre Turnen in Friedland. Hrs.: Vorstand der BSG “Max Leistner“; Sonderdruck, Friedland 1989
Boll, E. Geschichte Mecklenburgs mit besonderer Berücksichtigung der Culturgeschichte. Neubrandenburg 1855 - 1858
Bosselmann, H; Lunderstedt, R.: Geschichte des Turnplatzes zu Friedland. In: Festschrift zur 500-Jahrfeier S. 51 - 80, Friedland 1929
Gasch, R.: Handbuch des gesamten Turnwesens. Verlag von A. Pichlers Witwe & Sohn, Wien und Leipzig 1928
Großherzogliches Gymnasium Carolinum zu Neustrelitz. Festschrift zur hundertjährigen Jubelfeier am 10. Oktober 1906. H. Pohl, Neustrelitz 1906
Grundriß vom Neustrelitzer Turnplatz des Jahres 1816. Im Bestand des Stadtarchivs Neustrelitz
Grünwald, D.: Friedrich Ludwig Jahn und das Turnen in Mecklenburg- Strelitz. In: Neubrandenburger Mosaik, o. J. (1993) Nr 17. S. 40 - 56
Jahn, F.L.; Eiselen, E.: Die Deutsche Turnkunst. Sportverlag, Berlin 1960
Meyer, W.: Die Briefe Friedrich Ludwig Jahns. Verlag von Paul Eberhard, Leipzig 1913
Mitteilung über die Eröffnung eines Turnplatzes und den Turnbetrieb in Friedland. In: Preußischer Correspondent 1814, Nr.166 (19. Okt.), S. 3
Neuendorff, E.: Turnvater Jahn - sein Leben und Werk, Eugen Dietrichs- Verlag, Jena 1828
Offizielle Angaben zur Anlage des Neustrelitzer Turnplatzes 1816. Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, V Generalia
Timm, H.: Das Turnen mit besonderer Beziehung auf Meklenburg. Verlag Barnewitz, Neustrelitz 1848
Turnalbum des Gymnasii zu Friedland, angefangen im Jahr 1814, eingerichtet von Carl Leuschner. Im Bestand des Heimatmuseums Friedland
Ueberhorst, H.: Geschichte der Leibesübungen, Bd. 3/ 1. Verlag Bartels & Wernitz KG, Berlin - München - Fankfurt a.M. 1980
1) S. grafische Darstellung bei Neuendorff. S. 308
2) Als Vorderstadt vertrat Neubrandenburg die anderen meckl. strel. Städte auf dem mecklenburgischen Landtag und war gleichzeitig Verwaltungszentrum des Landes.
3) Die Notiz im Preußischen Correspondenten beschreibt und würdigt das Turngeschehen in einer mecklenburgischen Kleinstadt in positiver Weise.
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4) Das „Friedländer Turnalbum“, ein bedeutsames turnhistorisches Dokument, beschreibt exakt den Beginn des Turnwesens in Friedland und gibt aufschlußreiche Informationen über den Gerätebestand, die Gestaltung des Turnbetriebs, die Anzahl und Namen der Vorturner u.a.m.
5) Dr. Hans Timm, Philologe und Theologe, hat als erster und einziger eine Geschichte des
Turnens in Mecklenburg, allerdings nur bis zum Jahr 1848, geschrieben. S. S. 101
6) Im Jahr 1844 schrieb Jahn aus Freyburg einen Brief an die mecklenburg- strelitzschen Turner und bezog sich darin auf sein frühes Wirken in der Region. Abschrift im Regionalmuseum Nbg.
7) Die Briefe sind bei Meyer abgedruckt und einsehbar. S. S. 78 - 84
8) Die Angaben sind dem „Friedländer Turnalbum“ entnommen.
9) S. Meyer, S. 82
10) S. den bereits zitierten Brief an die meckl.- strel. Turner
11) S. Timm S. 101
12) S. „Deutsche Turnkunst“, S. 143 - 158
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DISKUSSION:
Quellen und Betrachtungen
Von HANS SIMON
Zum 100. Jubiläum der Olympischen Spiele widmete die von der Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn herausgegebene Wochenzeitung "Das Parlament" in ihrer 38-Seiten-Beilage (B 29/96 vom 12.Juli 1996) diesem Ereignis zwei historische und zwei aktuelle Beiträge. Hier soll, dem Gegenstand der Zeitschrift entsprechend, nur von der sporthistorischen Thematik die Rede sein. Dem historisch ausgewogenen Resüme von Andreas Höfer "...Ein Olympisches Jahrhundert" schließt sich Hans Joachim Teichlers "Die Olympischen Spiele 1936 - eine Bilanz nach 60 Jahren" an. Selbige erscheint in einigen Aspekten "bemerkenswert" im Sinne von Fragen und Ergänzungen. Sie sollen weder das Thema Teichlers noch sein Anliegen, noch die Notwendigkeit der historischen Darstellung der Zusammenhänge um Olympia 1936 zur Ausformung des Zeitgeistes infrage stellen. Teichler hat durch seine Mitwirkung an der Ausstellung "1936 - Die Olympischen Spiele und der Nationalsozialismus" die in Heft 3 der „BEITRÄGE...“ gewürdigt worden war, seine Position bekräftigt.
Es geht vielmehr um gewisse methodologische Feinheiten mit politischen Hintergründen, wenn Teichler eingangs wiederholend und pauschalisierend behauptet: "Die DDR-Sportgeschichtsschreibung, der ja das Olympia-Archiv und Potsdam und deren Reisekadern im Gegensatz zur Aussperrung westdeutscher Forscher aus DDR-Archiven auch die West-Archive offenstanden, hat hier eine große Chance verpaßt und sich in relativ billig gestrickte Mißbrauchspolemiken für den tagespolitischen Hausgebrauch erschöpft" und verweist ausschließlich auf die Broschüre von Koch/Wales (u.a.) „München 1972 - Schicksalsspiele?“ aus dem Jahre 1969.
Nun geht es nicht darum, über politische Kalte-Kriegspraktiken zu streiten, vor denen Höfer warnt. Die gab es zur Genüge, beiderseits der Elbe.
Natürlich haben Sportwissenschaftler der DDR das Potsdamer Archiv benutzt, darüber gearbeitet, und auch publiziert, -
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wenngleich mit geringeren Möglichkeiten und unter anderen Konzepten.
Tatsächlich sind Jahre vor der genannten Broschüre wenigstens zwei Dissertationen von Hanns-Peter Neugebauer 1957 in Leipzig und Horst Wetzel 1965 in Potsdam - wo Teichler heute wirkt - verteidigt worden, die ausgiebig dieses Archiv genutzt hatten. Wetzels Thema bezieht sich direkt auf die internationalen Aktionen gegen die Durchführung der Spiele in Hitler-Deutschland. Des weiteren sind zum in Rede stehenden Gegenstand in der DDR zahlreiche wissenschaftliche Artikel in der „Theorie und Praxis der Körperkultur“, „Körpererziehung“ in wissenschaftlichen Zeitschriften der Universitäten und Hochschulen u.a.m. erschienen. Im Band III. der „Körperkultur in Deutschland“ aus dem Jahre 1969 werden aus dem Archiv die Notizen Theodor Lewalds über das Gespräch bei Hitler im Frühjahr 1933 zitiert, das genauer den Zeitpunkt der taktischen Wende in den Auffassungen der NSDAP zu olympischen Fragen markiert. Karl Heinz Jahncke hat über den Mißbrauch der Olympischen Idee 1936 im Jahre 1972 in Frankfurt am Main publiziert. Der Autor wirkte an der Universität Rostock. Weitere Titel sind in den bibliographischen Arbeiten von Ursula Weidig und Wolfgang Pahncke enthalten.
Warum sollen diese Arbeiten eigentlich nicht existiert haben? (Es sei denn, Teichler las sie nicht...) Was unterscheidet eigentlich - nach Teichler - die "kritische Sicht" auf die Olympischen Spiele 1936 seit den 70er und 80er Jahren in der BRD grundsätzlich von den Auffassungen die schon in den 50er Jahren und danach in der DDR von Sporthistorikern vertreten wurden?
Und: Wenn Teichler sich kritisch zum Verhalten Theodor Lewalds äußert, so fragt man sich, wie sich denn das andere deutsche IOC-Mitglied, Karl Ritter von Halt, geäußert und verhalten hat? Der Name taucht auf den zehn Druckseiten nicht auf.
ANMERKUNGEN:
Neugebauer, Hanns-Peter: Zu den Beziehungen zwischen Sport und Politik. - Diss. - Leipzig 1957
Wetzel, Horst: Der Kampf der Anti-Olympiade-Bewegung gegen den Mißbrauch der Olympischen Spiele 1936. - Diss. Potsdam 1964
Simon, Hans u.a.: Geschichte der Körperkultur in Deutschland von 1917 - 1945. Band III. - Berlin: Sportverlag 1964
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Für das Profilager geparkt
Von Heinz Schwidtmann
Der langjährige Präsident des Deutschen Boxverbandes (DBV), Prof. Dr. Heinz Schwidtmann, hat kritische Gedanken zur Kooperation des Deutschen Amateur-Boxverbandes (DABV) mit Profiboxställen und deren Manager geäußert. Das Organ des Verbandes "Boxsport" forderte ihn auf, Kürzungen vorzunehmen. Das geschah, aber dann wurde die Veröffentlichung endgültig abgelehnt. So erklärt sich, daß bislang keine einzige kritische Meinung zu diesem einschneidenden Schritt erschien. Wir haben uns entschieden, den gekürzten Beitrag Prof. Dr. Schwidtmanns zu publizieren, auch weil er unbestritten ein belangvolles Kapitel Sportgeschichte behandelt.
Äußerungen von Kurt Maurath in einem Interview in „Neues Deutschland“ vom 29.10.1996 fordern zu Widerspruch heraus. Maurath behauptet - zur Relation zwischen Amateur- und Profiboxen - lakonisch: "Boxen ist gleich boxen". Man sollte vermuten, daß es dieser langjährige Funktionär des deutschen Amateurboxsports besser weiß. Maßgebliche Unterschiede zwischen Amateur- und Profiboxen beginnen beim Reglement und enden bei der Präsentation der Leistung im Rahmen spektakulärer, vor allem an ihrer Vermarktungsfähigkeit orientierter Veranstaltungen. Insider des Berufssports leugnen nicht, daß es sich beim Profiboxen nur um eine vermeintlich mit dem Amateurboxen verwandte sportliche Tätigkeit handelt. Es muß deshalb beunruhigen, wenn ein Fachmann, wie Maurath diese Tatsache leugnet.
Gefragt, ob die maßgeblichen Leute im Berufsboxerlager wissen, daß die Profis davon profitieren, wenn Amateurboxer ihr hohes Niveau halten, verweist Maurath auf sein Gefühl, daß sie das "immer mehr einsehen... und deshalb auch etwas dafür tun müssen". Es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, das Profiboxen sei
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immer auf das Amateurboxen angewiesen. Der professionelle Fußballsport unserer Zeit beweist, daß Nachwuchs auch im Profibereich ausgebildet werden kann.
Das Profiboxen in Deutschland „bedient“ sich allerdings gegenwärtig ausnahmslos aus dem Reservoir langjährig gut ausgebildeter und erfolgreicher Amateurboxer. Angesichts dieser unumstrittenen Tatsache wegen einer erhofften finanziellen Hilfe - gemessen am Aufwand der landesweiten Bemühungen von Trainern und Übungsleitern minimal - eine Liaison mit dem Profiboxsport einzugehen, scheint mir eine drohende Gefahr für das Fortbestehen des Amateurboxsports in Deutschland zu sein. Vor allem gibt es auf diesem Weg kein Zurück.
Obendrein begibt sich Maurath dabei in die Rolle eines hilflosen Bittstellers. Verständlicher wäre, daß sich die Profis bittend an das Amateurlager wenden würden, denn ihr augenblicklicher Boom ist nur durch weiteren Zulauf von kampfstarken Amateuren zu sichern. (Bislang sorgten fast ausschließlich Ex-DDR-Boxer mit ihrer exzellenten Ausbildung für diesen Boom.) Die Konsequenz dieser Bittgänge: die Amateur-Boxnationalmannschaft wirbt auf dem Nationaltrikot für einen Profistall. Die großen Männer des deutschen Amateurboxsports würden sich im Grabe umdrehen, bekämen sie dieses Bild zu Gesicht. Nach vollzogenenem Ausverkauf hätte kein Boxpromoter mehr Motive, den Amateurboxsport zu unterstützen. Oder geht Maurath davon aus, daß gerade in diesem Fall die Gesetze der Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt werden?
Im Punkt 3 der "Leitlinien zur Zusammenarbeit des DABV mit den Profimanagern" ist zu lesen: "Zwischen den Vertragspartnern werden Ablösesummen vereinbart. Das bedeutet: Zahlung eines festgelegten Betrages des jeweiligen Profimanagers für einen Amateurboxer an den bisherigen Ausbildungsverein, evtl. den Landesverband und den DABV, der die Fortbildung des Kämpfers durch Bereitstellung von Trainingslagern, Trainingszentren und vor allem von Bundestrainern forciert hat." Im Punkt 2 wird zudem festgelegt: "Auf dieser Basis können Patenschaften von Profimanagern - wiederum nach Absprache ... - bereits mit Amateurboxern in jungen Jahren geschlossen werden. Der jeweilige Boxer trainiert bei seinem bisherigen Verein oder in einem Profiboxstall, boxt weiterhin als Amateur. Der Profimanager/ Pate
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hat sich durch Vertrag eine Rechtssicherheit auf die spätere Profikarriere erworben." Man wird es einem Zufall zuschreiben, daß in diesem Zusammenhang in dieser Vereinbarung der Begriff „Pate“ auftaucht, aber da diese Vokabel den Mafia-Gepflogenheiten entlehnt ist, muß sie nicht als Zufall akzeptiert werden.
Praxis wird durch diese Optionsklausel, daß Amateure bereits im jugendlichen Alter an einen Profistall verkauft werden. Dem Boxer bleibt faktisch nicht einmal mehr die Wahl, den künftigen Profistall zu wählen. Ein Fall für das Arbeitsgericht? Erhärtet wird dieser Verdacht durch die Vertragsklausel, die sich im "Entwurf einer Vereinbarung zwischen dem DABV... sowie Herrn Peter Kohl..." findet. Dort heißt es unter "2. Kämpferwechsel: Der Promoter ist berechtigt, mit jedem Athleten seiner Wahl einen Vertrag auch bereits zu der Zeit, zu der der Athlet noch Amateur ist, abzuschließen, in welchem sich der Amateur verpflichtet, nach Erreichen des 24. Lebensjahres bzw. nach Einsatz bei einem der vorgenannten Sportereignisse für den Promoter tätig zu sein. Der Verband wird seine Athleten auf die Möglichkeit eines derartigen Vertragsabschlusses hinweisen und Empfehlungen für die Promoter aussprechen, mit denen eine vertragliche Vereinbarung wie vorstehend besteht."
Um Irrtümern vorzubeugen: Ich verstehe jeden Amateurboxer, der angesichts der katastrophalen Arbeitsmarktlage versucht, seine Existenz bei den Profis zu sichern. Ich verstehe auch Amateurboxtrainer, die zu den Profis wechseln. Die Vereinbarung zwischen DABV und Profis muß sie in der Ansicht bestärken, daß sie im Amateurverband faktisch nur noch als Jugendtrainer fungieren.
Wer um die eklatanten Unterschiede zwischen Amateur- und Profiboxen weiß, der wird die Folgen des Punktes 4 der "Leitlinien..." für das Amateurboxen und seine Entwicklung mühelos einschätzen können. Dort wird das „Fangnetz“ für die im Profiboxen Gescheiterten gespannt: "Reamateurisierung von Profiboxern nach Vereinbarung: Ohne Beschränkung auf Alter oder Zahl der Profikämpfe. Nach der Reamateurisierung Möglichkeit als Amateur weiterzukämpfen (auch in einem Ligaverein), mit dem Startrecht für folgende Deutsche Amateurmeisterschaften":
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Fragt man sich: Worum geht es Maurath und der Leitung des DABV? Hauptanliegen müßten nach Statuten und Tradition wissenschaftlich fundierte Konzeptionen für die weitere Entwicklung dieser Sportart und nicht die "Vermarktung" einiger Spitzenboxer sein. Wer das Amateurboxen als Parkplatz für Profiställe zur Verfügung stellen will, wird Mühe haben, glaubhaft zu machen, daß ihm die Perspektive des Amateurboxens am Herzen liegt.
Das Amateurboxen könnte sich nach meiner Überzeugung ohne derartige "Geschäftsbeziehungen" mit dem Profiboxen vernünftig weiterentwickeln und auch eine Zukunft als olympische Sportart haben, wenn man sich strikt an das gültige Amateurreglement hält. Mit präzisen Konzeptionen sollten Kinder und Jugendliche für die sportliche Tätigkeit im Amateurboxen gewonnen werden. Das ist eine umso berechtigtere Forderung, da das Amateurboxen für die Jugend auch eine bedeutende sozial-erzieherische Funktion zu übernehmen hat. Was wollte der DABV wohl auf die Frage antworten, was er aus seiner Sicht dazu beiträgt, die Jugendkriminalität zu bekämpfen? Was bleibt auf dem jetzt eingeschlagenen Weg dem jungen Boxer, der sich nicht vermarkten läßt und von den Profimanagern zu den Amateuren „zurückgereicht“ wird? Zum Beispiel der Versuch, sein boxerisches Können in der kriminellen Szene anzudienen...
Wer das verantworten will, sollte sich nicht eines Tages darauf berufen, daß er das Ausmaß seiner Schritte nicht übersehen habe!
DOKUMENTE:
DIE SITUATION 1956
Ein Brief Willi Daumes
Bei der Aufarbeitung der Geschichte des Sports in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg und insbesondere der Beziehungen zwischen den Sportorganisationen beider deutscher Staaten wurden BRD-Dokumente bislang nur sehr sparsam verwendet. Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (Register 604/472) lagert die Abschrift eines vom damaligen DSB-Präsidenten Willi Daume als „aide memoire“ deklarierten Dokuments, das er am 26. Januar 1956 an den Bonner Innenminister Dr. Gerhard Schröder per Einschreiben und mit dem ausdrücklichen Hinweis „Streng vertraulich“ geschickt hatte. Dieses Dokument, das wir auszugsweise wiedergeben, illustriert überzeugend die damalige Situation und die Haltung der westdeutschen Sportführung.
Sehr verehrter Herr Minister Dr. Schröder,
Ihr Schreiben vom 28.11.55 war, wie Ihnen bekannt sein wird, inzwischen Gegenstand von verschiedenen Besprechungen, die ich mit Herren des Bundeskabinetts führte. Nun soll, nach den Olympischen Winterspielen eine gemeinsame Aussprache in ihrem Hause stattfinden. Ich glaube Veranlassung zu der Annahme zu haben, dass in Kreisen der Bundesregierung die mit dem Sport zusammenhängenden West-Ost-Probleme nicht in allen Teilen bekannt sind und vollständig übersehen werden. Diese Tatsache lässt es mir geraten erscheinen, den ganzen anstehenden Fragenkomplex in Form eines aide memoire zu umreissen. Damit erfährt zwar Ihr Brief eine ziemlich ausführliche Beantwortung. Ich darf Sie aber höflichst bitten, diese längere Beanspruchung Ihrer Zeit in Anbetracht der ausserordentlichen Bedeutung der Materie in Kauf zu nehmen. Der besseren Übersicht wegen möchte ich meine Ausführungen in zwei Abschnitte unterteilen:
Abschnitt 1: Die Olympischen Spiele und die internationale Lage,
Abschnitt 2: Die Lage im innerdeutschen Sport und der Sportverkehr mit der Sowjetischen Besatzungszone.
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Abschnitt 1: Die Olympischen Spiele und die internationale Lage
Nach den Satzungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) kann für jedes Land nur ein Nationales Olympisched Komitee (NOK) anerkannt werden. Von dieser Bestimmung sind aber zur Vermeidung von menschlichen Härten mehrfach Ausnahmen gemacht worden. So waren z.B. vor dem ersten Weltkrieg das finnische und das tschechische NOK vollberechtigte Mitglieder des IOK, obwohl damals Finnland bekanntlich staatsrechtlich zu Rußland und die Tschechei zu Österreich gehörten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde je ein NOK für Nord- und Südkorea, für Nationalchina und die Chinesische Volksrepublik anerkannt, ja sogar das Saarland als selbständiges NOK zugelassen. Die Universalität der Spiele ist für das IOK zur Zeit der alle anderen Umstände überragende Gesichtspunkt. Von den Spielen 1952 waren als einzige Bevölkerungsgruppe in der Welt die deutschen Sportler der Sowjetischen Besatzungszone ausgeschlossen, weil das NOK der sogenannten DDR vom IOK noch nicht anerkannt war und weil die politischen Gewalthaber der Sowjetischen Besatzungszone eine Einreihung der ostzonalen Aktiven in die westdeutsche Mannschaft nicht gestatteten. Eine Sinnesänderung der politischen Gewalthaber der Sowjetischen Besatzungszone hat das IOK mit Recht nicht für möglich gehalten. So blieb nur die Alternative, auf das Prinzip der Universalität der Spiele zu verzichten und die ostzonalen Sportler abermals von den Spielen auszuschliessen, oder den „Härtefall" als gegeben anzusehen, sich auf die vorgenannten Präzedenzfälle zu besinnen und das NOK der sogenannten DDR vorläufig anzuerkennen und ins IOK aufzunehmen.
Die treibenden Kräfte für diesen Beschluß waren die Vertreter der Ostblockstaaten, und zwar aus politischen Gründen. Die Tatsache der Aufnahme des NOK der sogenannten DDR sollte im weltweiten Ausmass der olympischen Bewegung und im Bewußtsein der hunderte Millionen umfassenden Weltsportbewegung den Zustand zweier souveräner deutscher Staaten dokumentieren. Das war die grösstmögliche public relation für die Gewöhnung der Weltöffentlichkeit an diesen Zustand.
Ich darf wohl Ihr Wissen um die Tatsache voraussetzen, dass die Sportdelegierten aller Ostblockstaaten ohne Ausnahme in erster Linie politische Funktionäre ihrer Staaten sind und dass sie ihre
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Entscheidungen nach der vorher genau koordinierten Staatsraison des Ostblocks fällen. Sie erledigen im Sport ihre politischen Aufträge. Das gilt natürlich im gleichen Umfang auch für die Sportfunktionäre der sogenannten DDR.
Die den demokratischen Ländern entstammenden IOK-Mitglieder denken natürlich bei Ihren Entscheidungen nicht an politische Geschäfte; sie urteilen wie sie als sportliche Idealisten glauben, urteilen zu müssen, und haben alles andere als eine einheitliche Meinung. Sie haben sich ohne Zweifel in bestem Glauben zu der Aufnahme des NOK der sogenannten DDR entschlossen. So ist es zu dem Pariser Beschluss des IOK gekommen. Gegen die Aufnahme des NOK der sogenannten DDR hat Dr. von Halt als deutsches Mitglied des IOK gestimmt. Diese Haltung von Herrn von Halt ist in der deutschen Presse fast einhellig als undeutsch und unsportlich und von einem Teil der Auslandspresse als befremdend bezeichnet worden. Der IOK-Kongress hat gestern in Cortina die gesamtdeutsche Mannschaft als einen „Sieg des Sports über die Politik gefeiert“. Wir mögen hier über solche törichten Redensarten lachen. Je weiter man jedoch vom Kommunismus entfernt ist, um so harmloser sieht man die Zusammenhänge. Ich glaube, das manchmal schon bei gewissen westlichen Politikern beobachten zu können, um so mehr ist dies bei den ach so unpolitischen Sportführern der westlichen Welt der Fall. Von massgebender amerikanischer Seite wurde uns ganz einfach erklärt, dass es in den USA praktisch auch zwei Sportbewegungen gäbe, die der Universitäten und die der freien Vereinigungen; man könne sich dort leicht einigen, und genau so müsste das hier zwischen West- und Ost-Deutschland möglich sein. Diese Tatsachen muss man kennen, um die Stellung der Bundesrepublik im internationalen Sport, im IOK und die Möglichkeiten der Einwirkung zu verstehen.
...
Meine Kameraden und ich haben von Beginn der Verhandlungen an unter diesem schweren Handicap gestanden. Von uns wurde fest erwartet, dass wir in dieser doch so "völlig unpolitischen“ und sporttechnisch und menschlich doch so einfach zu lösenden Frage einer gesamtdeutschen Mannschaft ohne kleinliche Bedenken mit unseren „ostzonalen Sportkameraden“ schnell klarkommen würden.
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Aber wir verhandeln gar nicht mit "ostzonalen Sportkameraden". Unsere alten Freunde aus der Sowjetischen Besatzungszone werden gar nicht zu den Verhandlungen mitgenommen.Wir verhandeln mit Politikern und mit Leuten, die nichts als ihre politischen Aufträge zu erledigen haben. Ihnen geht es darum:
a) die Gleichberechtigung und Souveränität der DDR in "innerdeutschen Sportverträgen" durchzusetzen, um damit Präzedenzfälle zu schaffen und die Öffentlichkeit der Bundesrepublik durch das sehr volkstümliche Mittel des Sports an die Existenz zweier deutscher Staaten zu gewöhnen,
b) die endgültige Aufnahme des NOK der DDR in das IOK sicherzustellen und damit auch international den Präzedenzfall des Vorhandenseins zweier souveräner deutscher Staaten zu schaffen,
c) trotz alledem "gesamtdeutsche Gespräche und Sportbegegnungen" in Gang zu halten zum Zwecke der Infiltration kommunistischer Ideen und Sportprinzipien nach Westdeutschland.
Die Vertreter des NOK der Bundesrepublik verhandeln also unter einem vierfachen Handicap:
a) der Erwartung des Internationalen Olympischen Komitees und der internationalen öffentlichen Meinung (!), dass sich die Deutschen in dieser doch so unpolitischen und rein menschlichen Frage leicht verständigen müssten,
b) der gleichen Erwartung der öffentlichen Meinung in Deutschland,
c) der verschlagenen Haltung der ostzonalen politischen Sportfunktionäre,
d) unter dem Druck alles tun zu müssen, um zu verhindern, dass die aktiven Sportler der Sowjetischen Besatzungszone noch einmal als einzige in der ganzen Welt an den Olympischen Spielen nicht teilnehmen können ... und dass die Schuld hieran der Sportführung der Bundesrepublik in die Schuhe geschoben wird.
Auf Grund dieser Tatsachen ist die Delegation der Bundesrepublik bewusst bis an die Grenze des noch Zumutbaren gegangen. Die wesentlichen Punkte der getroffenen Vereinbarungen sind folgende:
1. Die Fahne der „gesamtdeutschen Mannschaft" ist schwarz-rot-gold,
2. Das offizielle Emblem auf Kleidung und Wettkampfdress ist schwarz-rot-gold, unterlegt mit den 5 Olympischen Ringen,
3. Die Auswahl der Aktiven erfolgt nach dem Leistungsprinzip,
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(Es gibt hier also keine Parität zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetischen Besatzungszone),
4. Hymne: Bei Einzelsiegen wird die Hymne der Bundesrepublik gespielt, wenn der Sieger Staatsangehöriger der Bundesrepublik ist, andernfalls die "Becher-Hymne".
Siegt eine "gemischte deutsche Mannschaft", wird keine Hymne gespielt.
5. Bei allen anderen Regelungen, insbesondere bei solchen, die Kriterien für eine wirklich „gemeinsame“ deutsche Mannschaft gewesen wären, bestand die „DDR“ auf eigener Zuständigkeit. So kam es zu folgender Abmachung:
"Verantwortlich für alle Angelegenheiten der westdeutschen Teilnehmer ist der Präsident das NOK der Bundesrepublik, verantwortlich für alle Angelegenheiten der ostdeutschen Sportler ist der Präsident des NOK der DDR."
Demzufolge stellt jede Seite
eigene Ärzte, eigene Trainer, eigene Mannschaftsführer. Die Anreise erfolgt getrennt,
Die Bedingungen des Internationalen Olympischen Komitees werden also vom NOK der SBZ nur formell und nur dem äusseren Anschein nach erfüllt. In Wirklichkeit hat die DDR den Zustand von zwei völlig selbständigen Mannschaften verlangt, die nur einheitlich gekleidet sind und unter der gleichen Fahne einmarschieren.
Die Vertreter des NOK der Bundesrepublik haben trotz schwerer Bedenken schließlich vornehmlich aus folgenden Gründen in diese Abmachungen eingewilligt:
a) aus der schon mehrfach angeführten Einstellung der öffentlichen Meinung. („Warum sollten die Leute denn nicht auch ihre Ärzte, Masseure und Trainer mitnehmen. Es ist doch lächerlich, sich wegen so etwas zu streiten!")
b) Das Bundespresseamt hat, wie fast alle Ressorts der Bundesregierung, kein Gefühl für die eminente politische Wirkung sportlich-emotioneller Volksempfindungen. Es hat infolgedessen nichts zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die Hintergünde dieser „unpolitischen Sportfragen" getan.,
c) weil die jetzt getroffene Regelung mit ihrer streng getrennten Zuständigkeit eine gewisse Gewähr dafür gibt, dass sich die westdeutschen Teilnehmer nicht gegen sportliche Politruks zur
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Wehr setzen müssen, wodurch das Klima in der Expedition gefährdet wäre.
d) weil das NOK der Bundesrepublik unter allen Umständen auch den Schein einer Schuld am Scheitern der Verhandlungen aus den vorgenannten Gründen vermeiden muss.
6. Nicht geeinigt haben sich beide Seiten über die entscheidende Frage des „Chefs de mission“.
Nach dem olympischen Statut muss jede teilnehmende Nation für ihre Gesamt-Mannschaft einen Chef de Mission stellen, der dem IOK gegenüber der Gesamtverantwortliche ist. Das Statut lässt natürlich nur einen "Chef de mission“ zu.
Die DDR verlangte, dass für die Sportler der Bundesrepublik und für die Sportler der „DDR“ je ein "Chef de mission" benannt werden sollte. Das haben die Vertreter des NOK der Bundesrepublik mit dem Hinweis auf die Satzung des IOK klar abweisen können. Diese Ablehnung konnte nicht in eine innerdeutsche Streitigkeit und mangelndes Entgegenkommen umgefälscht werden. Wir haben aber auch nicht ohne besondere Überlegung so taktiert. Dem sowjetzonalen NOK blieb nämlich nun kein anderer Weg als das IOK um Entscheidung zu ersuchen. Dort wiederum hatten wir vorgebaut, indem das IOK dahingehend entscheiden würde, dass der „Chef de Mission“ von dem NOK mit den zahlenmäßig meisten Aktiven gestellt würde - also in jedem Fall vom NOK der Bundesrepublik. So ist dann auch die Entscheidung ergangen, und so wird es zur Zeit in Cortina gehandhabt. Unser Chef de Mission konnte dann auch dort wieder die Anordnung treffen, dass die Bundesrepublik den Fahnenträger stellt. Es ist zwar für uns unbehaglich, diesen Äußerlichkeiten, die mit dem Sinn des Sports oder gar der Olympischen Spiele nur sehr wenig zu tun haben, eine solche Bedeutung beizumessen. Andererseits wissen wir aber um das Wesen der Symbolkraft, und so nehmen wir eben solche Rücksichten.
Nach diesen ausführlichen Darlegungen glaube ich nun mit Recht aussprechen zu dürfen, daß die Sportvertreter der Bundesrepublik in klarer Erkenntnis der gegebenen Tatsachen und in voller staatsbürgerlicher Verantwortung ge- und verhandelt haben. Das gilt auch für die Frage der Hymne. Es gibt keine Gabe der Überzeugung und keine Härte im Verhandeln, die gross genug wäre, politische Funktionäre der sogenannten DDR dazuzubringen,
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auf „ihre“ Hymne oder andere „Hoheitsrechte“ zu verzichten. Denn ein solcher Verzicht wäre für diese Leute mindestens gleichbedeutend mit politischem Selbstmord - von den anderen Folgen ganz zu schweigen.
Über solche und andere Tatsachen hat man sich vor Beginn von Verhandlungen klar zu sein, und man hat sich von vornherein zu entscheiden, ob man die Verhandlungen gar nicht erst beginnen oder gegebenenfalls an einer solchen Frage scheitern lassen soll, oder ob eine scheinbar nachgiebige Haltung den deutschen Interessen nicht weit mehr entspricht.
Eine Ablehnung von Verhandlungen hätte das NOK der Bundesrepublik gröblichst ins Unrecht gesetzt und die endgültige Aufnahme des „NOK der DDR“ bewirkt. Das Scheitern der Verhandlungen an der Frage der Hymne hätte die gleiche Wirkung gehabt. Sogar die öffentliche Meinung in Deutschland hätte hierfür nicht das geringste Verständnis gezeigt.
So weit, so gut, - das heißt, was die Wintersiele angeht, wo die Dinge nun offenbar befriedigend laufen. An den Olympischen Reiterspielen in Stockholm, die im Juni dieses Jahren stattfinden, ist die Sowjetzone aus sportlichen Gründen überhaupt nicht beteiligt. Aber dann kommen die Hauptspiele in Melbourne gegen Ende des Jahres. Zweifellos wird die Sowjetzone in der Zwischenzeit versuchen, eine eigene Mannschaft durchzusetzen. Nach der Bescheinigung der sogenannten Souveränität durch Moskau und nach der letzten Genfer Konferenz ist die eigenstaaatliche Anerkennung der DDR für diese Leute das Problem Nr. 1. Es heißt jetzt nicht mehr „deutsche Sportler an einen Tisch“ oder "in eine Mannschaft“, sondern „wir sind ein souveräner Staat“! Wenn ein Leistungssportler von drüben in die Bundesrepublik emigriert, wird er, wie kürzlich geschehen, wegen "Landesverrats“ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Propagandawalze für die Olympische Eigenständigkeit ist schon sehr hörbar angelaufen.
Sie wird auch von allen Ostblock-Staaten gedreht. Wir werden das Unsere tun und bisher haben wir auch immer den längeren Arm gehabt. Aber die Verhältnisse im internationalen Sport sind labil. Die Sicherstellung der Universalität der Spiele rangiert vor unseren nationalen Problemen. Wir müssen zumindest mit der wenn auch vielleicht unwahrscheinlichen Möglichkeit rechnen, dass nicht alles
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nach unserem Willen geht. Nun sind Sie, verehrter Herr Minister der Ansicht, dass die Bundesrepublik das Fernbleiben von den Olympischen Spielen ins Auge fassen sollte, falls das IOK dem sowjetzonalen NOK in irgendeiner Form den Status eines „souveränen Staates“ zuerkennen würde, sei es beispielsweise auch nur in Form eines eigenen Chefs de mission. Ich bin, offengestanden g a n z anderer Meinung. Es hat mich betroffen, und ich habe es auch nicht verstanden, dass - nach Ihrer Darstellung - die Bundesregierung diese so wichtige Sache vom Kriterium der finanziellen Förderung aus sieht. Aber der deutsche Sport würde sich keinen schlechteren Dienst tun können, als sich aus einem solchen Anlass von den Olympischen Spielen selbst auszuschliessen. Genau so wenig Zweck hat es, dem IOK mit einem Fernbleiben von den Spielen zu drohen, falls man in dieser Frage nicht nach unseren Wünschen entscheidet. Das würde nicht nur von der sportlichen, sondern auch von der ganzen westlichen Welt, die ja unerschütterlich an ihrer Vorstellung vom unpolitischen Sport festhält, als eine ungehörige nationalistische und politische Demonstration in der Olympischen Sphäre abgelehnt werden.
Vielleicht denkt man innerhalb des Bundeskabinetts an gewisse Parallelen zur Haltung der Bundesregierung, die den Abbruch der diplomatischen Beziehungen all den Ländern angekündigt hat, die die sogenannte DDR anerkennen. Das kann sich die Bundesregierung im politischen Raum vielleicht erlauben. Sie hat in der NATO festverpflichtete Bündnispartner, stützt sich auf gemeinsame Abwehr-Interessen und ist die drittgrösste Wirtschaftsmacht der westlichen Welt. Der sportliche Status Deutschlands ist damit überhaupt nicht zu vergleichen. Hier gibt es noch mancherlei Ressentiments aus der Zeit des Dritten Reiches, und auch die westlichen Länder sind in gar keiner Weise geneigt, sich durch innerdeutsche Zwistigkeiten den sportlichen, insbesondere den olympischen Frieden stören zu lassen.
...
Es kommt dann noch folgendes hinzu:
Aus dem Sport ist nun einmal das Leistungsprinzip nicht zu entfernen. Jede grosse Leistung wird anerkannt, einerlei, von wem sie vollbracht wurde. Die Ostblock-Staaten, an der Spitze Russland, aber auch Ungarn und in steigendem Masse die übrigen Ostblock-Staaten, haben in den letzten Jahren faszinierende
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Leistungen gezeigt. Sie sind deshalb überall in der ganzen Welt hochwillkommene Gäste, und es gibt keine mir bekannte Nation von einiger sportlicher Bedeutung, deren Regierung irgendwelche Schwierigkeiten bei der Abwicklung des Ost-West-Sportverkehrs macht.
...
Die vorgenannten Folgerungen wären aber nicht einmal die schlimmsten. Weit gefährlicher wäre die Tatsache, dass die sog. DDR in dem gleichen Augenblick, wo die Bundesrepublik sich von den Olympischen Spielen oder auch vom internationalen Sportverkehr zurückzöge, sofort deren Stelle einnehmen würde. Man könnte den Herren in der sogenannten DDR überhaupt keinen grösseren Gefallen tun, als von den Spielen fernzubleiben. Dann würden die sowjetzonalen Propagandamühlen auf Hochtouren laufen, und man würde sich sofort bereit erklären, alle westdeutschen Sportler in ihre Mannschaft aufzunehmen. Und Sie können versichert sein, Herr Minister, dass eine ganze Reihe der westdeutschen Sportler dieser Aufforderung folgen würde, weil die jungen Menschen einfach nicht begreifen würden, warum denn die Sportler der Bundesrepublik als einzige in der ganzen Welt an den Olympischen Spielen nicht teilnehmen dürfen. Und Ihre Polizei, sehr geehrter Herr Minister, wäre nicht in der Lage, diese Sportler zu hindern, nach Berlin zu fahren und von dort in den Ostsektor zu gehen, um gleichsam triumphierend in Melbourne doch zu erscheinen. Diese ganze Aktion würde von unserer Presse mit einem Hohngelächter begleitet werden, und kein Hund würde von der Sportführung der Bundesrepublik, die sich zu einer solchen Massnahme hergäbe, noch einen Bissen annehmen. Das wäre vielleicht nicht so tragisch; aber es lässt sich mit aller Sicherheit voraussagen, dass sich ein Sturm der Entrüstung in der öffentlichen Meinung gegen Sie erheben würde, wenn Sie etwa eine solche Haltung durch irgendeine Massnahme zu erzwingen versuchen würden. Ich kann nur als guter Staatsbürger und als ein Mensch, der sich verpflichtet fühlt, der Bundesregierung ihr schweres Amt tunlichst zu erleichtern, mit allem Ernst vor solchen Schritten warnen.
Was nun den gesamten West-Ost-Sportverkehr anlangt, so hat der Deutsche Sportbund schon am 4. Januar 1955 eine eingehende
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Erklärung an all seine Mitgliedsorganisationen herausgegeben. Diese Erklärung lege ich in der Anlage zu Ihrer Kenntnis bei.
Im Mitglieder-Rundschreiben vom 10. Mai 1955 haben wir unsere Mitgliedsverbände erneut auf den West-Ost-Sportverkehr aufmerksam gemacht. Der wesentliche Inhalt dieses Rundschreibens ist als Anlage 2 beigefügt. Ich darf insbesondere auf den einen Satz in dieser Mitteilung hinweisen:
„Bei privaten Startverpflichtungen wird das Ministerium von Fall zu Fall den sachverständigen Rat des zuständigen Fachverbandes und ggf. des DSB einholen."
Dieses Verfahren ist mit Ihrem Ministerium ausdrücklich abgesprochen worden. Sinngemäss wurde es in der Zwischenzeit auch in Zweifelsfällen angewandt. Im allgemeinen schien das jedoch nicht erforderlich zu sein, weil ja unsere Fachverbände, die für die sportliche Genehmigung des Spiels zuständig sind, schon eine Vorprüfung vornehmen. In den Richtlinien für die Spielgenehmigung heisst es bei all unseren Verbänden, dass Abschlüsse nur auf sportlicher Basis, keinesfalls über irgendwelche meist zweifelhafte Vermittler o.ä. erfolgen dürfen. Wie gesagt, wickelten sich die Dinge auch glatt ab, bis der in der Öffentlichkeit so lebhaft diskutierte und in der gesamten Presse heftig kritisierte abrupte Fall kurz vor Neujahr eintrat. Ich darf zunächst einmal feststellen, dass der Rat des DSB vor dem ausgesprochenen Einreiseverbot nicht eingeholt wurde. Als ich, von den beteiligten Verbänden aufmerksam gemacht, mich einzuschalten versuchte, wurde mir bedeutet, es sei nun zu spät, und man könne die Dinge nicht rückgängig machen. So eindringlich wie nur irgend möglich habe ich gebeten, das Visum in diesem Falle doch noch zu erteilen. Ich habe auch auf das bedenkliche Echo in der Öffentlichkeit des Sports, aber nur des Sports aufmerksam gemacht. Es ist doch ein sehr merkwürdiges Verfahren, eine monatelang unbeanstandet durchgeführte Praxis ohne jede verständigung ausser acht zu lassen. Meine Mitarbeiter und ich sind bestimmt die letzten, die tatenlos zusehen wollen, wie wir hier durch östliche Propagandamassnahmen überspielt werden; aber so, wie das in diesem Fall geschehen ist, kann man die Dinge nicht handhaben. Vollkommen unnötigerweise wurde so eine Menge Staub aufgewirbelt, und der Eindruck einer launischen oder nervösen Maßnahme hat uns allen nicht nur in der Öffentlichkeit
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sehr geschadet, sondern für den deutschen Sport im Ausland geradezu eine Blamage bedeutet. Die formellen Gründe der Ablehnung - unvollständige Personalangaben - waren, wie mir am Telefon versichert wurde, auch durchaus nicht die massgebenden. Mit auch nur einem bisschen Fingerspitzengefühl seitens des Sachbearbeiters hätte der ganze Ärger, der keinem etwas nutzt, vermieden werden können, ganz abgesehen davon, dass in aller Öffentlichkeit der östlichen Ideologie eine Stärke und uns eine Anfälligkeit bescheinigt wird, die gar nicht vorhanden ist. Ich habe angeboten, die in Rede stehenden Spiele nochmals zu genehmigen und sofort anschliessend mit den beteiligten Verbänden eine Absprache für zukünftige Regelungen im Sinne Ihres Hauses zu treffen. Nichts hatte Erfolg. Angeblich war keine weisungsbefugte Persönlichkeit mehr im Hause, obwohl mir nachher bekannt wurde, dass das doch der Fall war. Wenn ich in aller Form gegen eine solche Behandlung Einspruch erhebe, so tue ich das insbesondere mit folgendem Hinweis der das Groteske an der ganzen Sache sichtbar macht:
Zweien unserer angesehensten Fachverbände, dem Deutschen Fußball-Bund und dem Deutschen Handball-Bund, deren grundsätzliche Haltung in diesen Fragen über alle Diskussion erhaben ist, erfuhren trotz dringender Interventionen auch des Deutschen Sportbundes eine abrupte Zurückweisung und damit gleichzeitig eine Brüskierung gegenüber ihren internationalen Spitzenorganisationen. Dagegen wurden laufend Veranstaltungen mit Ostblock-Teilnehmern von Ihrem Haus durch Visa-Erteilung genehmigt, die von kommunistischen Tarnorganisationen, z.B. vom sogenannten „Komitee für Einheit und Freiheit im deutschen Sport" u.a., vorbereitet waren. Ihnen den vielfachen Beweis für die letzten Tatsachen anzutreten, bin ich bereit.
So werden Sie verstehen, sehr geehrter Herr Minister, dass ich den zuständigen Dienststellen Ihres Hauses nicht zutrauen kann, für jeden Einzelfall der Startgenehmigung für östliche Sportler urteilsfähig zu sein. Sie haben, sehr geehrter Herr Minister, zu dieser Frage im Bundestag Stellung genommen, nachdem es sich offenbar nicht vermeiden liess, das Problem auch dort noch zu diskutieren. Gestatten Sie mir bitte, daß ich Ihnen auch hierzu freimütig meine Meinung sage:
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Ich glaube, dass Sie mit der angekündigten Handhabung sich selbst, bzw. die Sicherheits-Abteilung Ihres Hauses vor eine m.E. unlösbare Aufgabe stellen. Die Auswahl der ministeriellerseits dann genehmigten und nichtgenehmigten Starts müsste so vom sportlichen Gesichtspunkt in jedem Falle willkürlich erfolgen. Es würde der Öffentlichkeit immer unverständlich bleiben, warum in dem einen Fall die Einreise genehmigt und in dem anderen Fall versagt wird. Das Ministerium begründet die Notwendigkeit der Von-Fall-zu-Fall-Entscheidung mit der Staatssicherheit. Es ist möglich, dass ich eine sehr laienhafte Vorstellung von der Tätigkeit fremder Agenten habe; aber ich bin bis zum Beweis des Gegenteils der Überzeugung, dass man eine einreisende Sportgruppe, deren Zusammensetzung man ja durch das Erteilen der Visa genau kennt, doch eigentlich sehr leicht überwachen könnte. Ich bin ferner der Auffassung, dass es besser wäre, anstatt mit Verboten, für die die Öffentliche Meinung immer schwer zu gewinnen ist, mit einer positiven Abwehr zu reagieren. Ich könnte mir z.B. vorstellen, dass es durchaus zweckmäßig wäre, eine Sportlergruppe, bei der sich ein den staatlichen Sicherheitsbehörden bekannter Agent befindet, ruhig einreisen zu lassen und dann hier die in solchen Fällen notwendigen Abwehrmassnahmen zu treffen. Ich weiss nämlich genau, wie unangenehm es den Ostblock-Staaten wäre, wenn einmal ein Fall von Agententätigkeit durch eine Sportlergruppe nachgewiesen werden könnte. Denn in solch einem Fall würde umgekehrt die ganze westliche Welt das Prinzip der sportlichen Integrität und politischen Neutralität als verletzt ansehen, was dem sportlichen Prestige der Ostblock-Staaten sehr schaden würde. Das wissen die Ostblock-Staaten genau, und sie sind politisch klug genug, dieses Risiko, wenn ich vorsichtig sein darf, nur in äusserst beschränktem Masse auf sich zu nehmen.
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Lassen Sie mich nun, sehr verehrter Herr Minister, noch auf folgendes hinweisen, nachdem mir das Protokoll von der 125. Sitzung des Bundestages vorliegt. Danach haben Sie vor dem Plenum u.a. erklärt, „dass bereits in mehreren Fällen als Sportler getarnte Agenten festgestellt werden konnten“. Hier ergibt sich nun doch die Frage, warum uns das nicht eher mitgeteilt wurde, am besten doch wohl unmittelbar nach den einzelnen Feststellungen? Vertraut man dem Sport nichts und warum nicht? Wäre es nicht
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besser und den gemeinsamen Interessen dienlicher, wenn Regierung und sportliche Selbstverwaltung in dieser Frage zusammenarbeiten würden? Wir haben im übrigen auch unsere Augen auf, und uns ist niemals ein solcher Fall bekannt geworden. Jedenfalls hätten wir ihm mit drastischen Massnahmen begegnen können. Meine Mitarbeiter setzen im übrigen nach wie vor Zweifel in diese Feststellung, und es wird angenommen, dass Sie, Herr Minister, vielleicht doch unzutreffend unterrichtet wurden. Auf jeden Fall richte ich die Bitte an Sie, mir einige Einzelheiten bekanntzugeben. Aus naheliegenden Gründen sind diese natürlich von ganz besonderer Wichtigkeit, für uns. Für möglichst baldige Erledigung wäre ich Ihnen deswegen sehr verbunden.
Dagegen muss nun mit ganz besonderem Ernst die Tatsache erwähnt werden, dass der Nachrichtendienst der Bundesrepublik, die Organisation Gehlen, versucht, sich des Sports für ihre Zwecke zu bedienen. Mit meinem Briefe vom 20.9.55, gerichtet an Herrn Staatssekretär Bleek, habe ich diese Bemühungen zurückgewiesen. Der Sport wird nie und nimmer seine Zustimmung dazu geben; dies zunächst mal aus grundsätzlicher Einstellung und dann auch, weil wir international in eine völlig unmögliche Lage kommen würden, wenn irgendeine Verbindung mit dem Nachrichtendienst einmal nachgewiesen würde. Das wiederum wäre dann sehr naheliegend, denn es ist bezeichnend für die Exaktheit, mit der der Nachrichtendienst der Bundesrepublik arbeitet, dass er eine falsche Deckadresse aufgab, die dann kurz darauf als Irrtum berichtigt wurde. Herr Staatssekretär Ritter von Lex beantwortete am 31.10. 55 meinen Brief dahingehend, dass die mit der Organisation Gehlen zusammenhängenden Angelegenheiten ausschliesslich vom Bundeskanzleramt bearbeitet würden; mein Brief sei nach dort weitergegeben worden, und die Antwort würde auch von dort erfolgen. Eine solche ist aber bisher nicht eingegangen. Nachdem nun ein Vierteljahr vergangen ist, bitte ich Sie, doch einmal energisch bei der zuständigen Stelle des Bundeskanzleramtes daran erinnern zu lassen.
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Niemand, auch keine Regierung, hat das Monopol für Weisheit und für Tugend, - sonst wäre uns z.B. die Peinlichkeit erspart geblieben, dass bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Cortina die deutsche diplomatische Mission als einzige der in Rom
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akkreditierten keinen Vertreter entsandt hatte (es bestand keine Gefahr, dass die sowjetzonale Hymne ertönen würde).
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Abschnitt 2: Die Lage im innerdeutschen Sport und der Sportverkehr mit der Sowjetischen Besatzungszone.
In diesem Abschnitt kann ich mich kürzer fassen, denn die SBZ ist, mit dem Masstab der sportlichen Praxis gemessen, leider tatsächlich schon ein souveräner Staat und ebenso ganz zweifellos ein Satellitenstaat Russlands.
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Es ist ein echtes Anliegen des deutschen Sports, die Verbindung zu seinen Freunden, Kameraden und namentlich zu den jungen Aktiven in der SBZ nicht zu verlieren. Der Sport ist eine der wenigen Möglichkeiten, den Verkehr von Mensch zu Mensch über die Zonengrenze hinweg zu pflegen. Ich glaube sogar, daß, wenn man einmal von der Veranstaltung des Kirchentages oder ähnlichen, einzelnen Großveranstaltungen absieht, der Sportverkehr in seiner Bedeutung bei weitem an der Spitze der menschlichen Begegnungen zwischen Ost- und West-Deutschland steht. Die politische Wirkung der Tatsache, daß eine große Anzahl namentlich junger Aktiver durch den Sportverkehr in die Bundesrepublik kommt und hier eine unmittelbare Anschauung vom Leben im freien Westen gewinnt, ist kaum zu unterschätzen. Es wäre deshalb m.E. unverantwortbar, diesen Sportverkehr zu drosseln und Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Wenn die westliche Art zu leben, der westliche Begriff der Freiheit und der Menschenwürde als Idee nicht mehr stark genug sind, um sich auch bei einem Besuch junger Deutscher aus der Bundesrepublik in der sogenannten DDR zu behaupten, dann, sehr geehrter Herr Minister, ist es m.E. nur noch eine Frage der Zeit, wann der Osten die Bundesrepublik eingemeindet.
Natürlich bedarf es der Aufmerksamkeit. Es gilt, was Startgenehmigungen usw. angeht, bei uns die gleiche Regelung wie beim Sportverkehr mit den Ostblock-Staaten. Unsere Fachverbände müssen nach jeweiliger Prüfung der Unterlagen die Spiele und sonstigen Begegnungen genehmigen. Dabei wird streng darauf geachtet, daß kein politischer Mißbrauch mit solchen Veranstaltungen verbunden ist. Gerade diese kleinen Wettkämpfe und Begegnungen auf der untersten Ebene der Vereine, in den
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Dörfern usw., sind wohl für die Wachhaltung der Idee der Wiedervereinigung von besonderem Wert. Sie werden im übrigen, wie wir immer wieder feststellen, von den Sportführern der Sowjetzone nicht gern gesehen. Dort propagiert man sogenannte "vorbereitete“ Veranstaltungen größeren Stils. Vor allem dann, wenn in den betreffenden Sportarten Erfolge für die Spitzenkönner der Sowjetzone zu erwarten sind. Diese Absichten haben aber kaum Erfolg gehabt, und es gibt inzwischen überhaupt keine sogenannten „gesamtdeutschen Meisterschaften" mehr. Wir erkennen auch die sowjetzonalen Gremien nicht für die Bildung gesamtdeutscher Arbeitsausschüsse oder sonstiger Führungsorgane an. Der Sport der Bundesrepublik hält hier durchaus Linie. Wie gesagt, soll der Sportverkehr mit der SBZ außerhalb von Politik und Propaganda die menschlichen Beziehungen aufrechterhalten, das ist allein seine Aufgabe, wie wir sie sehen.
Trotzdem wird natürlich der Sportverkehr mit den Deutschen jenseits der östlichen Zonengrenze immer mit der Hypothek belastet sein, daß die politischen Sportfunktionäre der SBZ den Versuch nicht aufgeben, mit dem Sport politische Geschäfte zu machen. Ich darf aber in genauer Kenntnis aller Umstände sagen, daß sie hierbei bisher kaum nennenswerte Erfolge gehabt haben. Allerdings darf ich auch nicht verschweigen, daß sich eine sehr gefährliche Entwicklung anzubahnen beginnt, die aber ganz andere Ursachen hat. In der SBZ findet der Sport eine so starke Unterstützung, er ist so sehr Gegenstand und Inhalt auch der Erziehung in der Schule, daß eine sprunghafte Steigerung der sportlichen Leistungen der SBZ festzustellen ist. Demgegenüber muß ich darauf hinweisen, daß die Leibeserziehung in der deutschen Schule und die Förderung, die der Sport in der Bundesrepublik erfährt, die geringste ist, die dem Sport von den Regierungen nahezu der ganzen Welt zuteil wird. Sie mögen, sehr geehrter Herr Minister, es für töricht finden, aber es ist so, daß die sportliche Leistungsfähigkeit heute in der Welt ein Kriterium für die Tüchtigkeit und das Ansehen eines Volkes ist. Von Nurmi hat der finnische Staatspräsident einmal folgendes festgestellt:
Er hat den Namen Finnlands in die Atlanten der Welt gerannt und dem amerikanischen Volk das Vertrauen gegeben,
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Finnland die Anleihe zu geben, die es zum Aufbau seines Staates benötigte.
Ich weiß, daß man in Kreisen der Bundesregierung über solche Bemerkungen mit Achselzucken hinweggeht, aber es bleibt nichtsdestotrotz eine Tatsache, daß sich nahezu alle Regierungen in der Welt der eminenten politischen Bedeutung des Sports bewußt sind und daß der Bundesregierung hierfür leider das Organ fast vollständig fehlt. Wenn die Förderung des Sports hüben und drüben der Zonengrenze noch einige Jahre so weiter geht, dann wird der sportlich bedeutendere Teil Deutschlands jenseits der Elbe liegen, und dann werden national und international die durchaus unvermeidbaren Folgen eintreten, daß man die sogenannte DDR auf jeden Fall im Sport ernster nimmt als die Bundesrepublik und daß sie auch international ein begehrterer Partner wird, als wir es sind. Ich kenne den Einwand genau, daß der Sport Sache der Länder sei und nicht zur Zuständigkeit der Bundesregierung gehört. Aber mit dieser zwar verfassungsrechtlich richtigen Feststellung kann sich die Bundesregierung nicht der Verantwortung entziehen für das, was im deutschen Sport national und international unterbleibt.
In diesen Zusammenhang muß ich nun nochmals auf das auf unserem Sektor vollständige Versagen des Bundespresseamtes hinweisen. Man befindet sich dort im Zustande völliger Ahnungslosigkeit, was z.B. aus der grotesken Selbstüberschätzung hervorgeht, die sich aus einer mir gegenüber kürzlich gemachten Aussage ergibt: "Wenn dem Wunsch der Bundesregierung auf Fernbleiben von den Olympischen Spielen Rechnung getragen wird, dann werden wir das pressemässig so vorbereiten, daß die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik mit einer solchen Maßnahme einverstanden ist". So weit ein Vertreter des Bundespresseamtes. Ich darf dagegen nur an folgendes Beispiel erinnern. Vor nicht allzu langer Zeit sah sich der Deutsche Sportbund veranlaßt, in Gemeinsamkeit mit seinen Fachverbänden einen Beschluß auf vorübergehende Einstellung allen Sportverkehrs mit den Gemeinschaften der Sowjetzone zu fassen. Dieser Beschluß war notwendig, um eine gewisse politische Neutralität dieses Gesamtdeutschen Sportverkehrs zu erzwingen und das planmäßige Unterdrucksetzen des West-Berliner Sportes abzuwenden. Dieses Ziel wurde auch erreicht, so daß nach
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einigen Monaten der Sportverkehr wieder freigegeben werden konnte. Unnötig zu sagen, daß diese unsere wohlgelungene Aktion mit den wüstesten Schmähungen von der sowjetzonalen und der kommunistischen West-Presse begleitet wurde. Aber auch die freie Presse unserer Bundesrepublik hat in Unkenntnis der Zusammenhänge die sogenannten "Oberweseler Beschlüsse“ nicht immer richtig verstanden. Wir können weiterhin nicht voraussetzen, daß bei den über fünf Millionen Mitgliedern unserer Verbände überall Verständnis für eine derart weitgehende Maßnahme vorhanden ist, zumal auf unsere Organisationen mit Tausenden und aber Tausenden von Postsendungen ein Propagandafeuer aus dem Osten losgelassen wurde. Natürlich haben wir auch das unsere an Aufklärung getan und unsere Meinung auch durchgesetzt. Ich habe aber wiederholt und dringend über das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen um pressemäßige Unterstützung nachgesucht. Geschehen ist gar nichts; geblieben ist das Gefühl, daß man den Sport bei solchen Aktionen verantwortungslos, wenn nicht sogar schadenfroh in Stich läßt, ohne dabei zu bedenken, daß gerade unsere Sache sich an so wichtiger Stelle in den Freiheitskampf für die westliche Demokratie einordnen muß. Gleichermaßen unzulänglich sind die Äußerungen über den Sport, die man dann und wann im Bulletin der Bundesregierung liest. Was sich aber die eigentliche deutsche Presse an Instinktlosigkeiten im Sport und insbesondere in Bezug auf die politischen Rückwirkungen im Sport leistete ist einfach unfaßbar. Ich habe eingangs meines Schreibens schon darauf aufmerksam gemacht, daß die deutsche Sportführung so stark unter dem Druck der öffentlichen Meinung steht, daß sie praktisch diese immer gegen sich aufbringt, wenn sie z.B. in der Frage gesamtdeutscher Mannschaften oder den gesamtdeutschen Sportverkehrs einmal glaubt, dem Osten überhaupt nur eine Bedingung stellen zu müssen. Es wäre m.E. die Aufgabe des Bundespresseamtes, der eminenten politischen Bedeutung des Sports endlich Rechnung zu tragen.
Wenn die Ostblock-Staaten mit dem Sport große politische Geschäfte machen, so gehört diese Tatsache in die politischen Spalten der deutschen Tageszeitungen. Wenn die staatsgelenkte Presse der SBZ in Leitartikeln und in den wichtigen Abhandlungen auf der ersten Seite diese „nationalen Sportprobleme“ behandelt,
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dann müßte schließlich auch einmal dem schlafenden Bürger in der Bundesrepublik klargemacht werden, um was es hierbei geht. Der Deutsche Sportbund hat weder die materiellen Mittel noch die technische Möglichkeit, in genügendem Umfange aufklärend auf die Presse einzuwirken. Und die in der Sparte des Sports tätigen Redakteure haben oft genug für die politischen Imponderabilien überhaupt kein Gefühl; sie verstehen sie einfach nicht, aber sie wiegeln die öffentliche Meinung immer gegen die Bundesregierung und z.T. auch gegen die deutsche Sportführung auf. Auch hier ist festzustellen, daß die geistig führende Schicht in Deutschland sich mit den modernen Massenphänomen des Sports nicht auseinandersetzt, sehr zum Nachteil des Deutschen Volkes.
...
Ich habe schon vorstehend dargelegt, daß es nur noch eine Frage der Zeit ist, wann durch die systematische Förderung des Sports in der SBZ die sportlichen Leistungen diejenigen der Bundesrepublik übertreffen werden. Und ich habe ebenso darauf aufmerksam gemacht, welche Propagandawirkung dies haben wird. Herr Ulbricht hat vor tausend Sportfunktionären der SBZ es als eindeutige Aufgabe des Sports der SBZ in den kommenden Jahren bezeichnet, durch die Überlegenheit der sportlichen Einrichtungen und sportlichen Leistungen die Überlegenheit der Gesellschaftsverfassung der SBZ unter Beweis zu stellen. In der Tat erhalten die Schulen der sogenannten DDR hervorragende Sportanlagen und Einrichtungen, und in Leipzig geht der Bau der "Deutschen Sporthochschule“ der Vollendung entgegen. Damit aber nicht genug. In Leipzig an der "Sporthochschule" wird in den großartig eingerichteten wissenschaftlichen Iinstituten der beste wissenschaftliche Nachwuchs Deutschlands auf dem Gebiet der Sportwissenschaft gesammelt. Es besteht für mich kein Zweifel darüber, daß auch geistig in der Sportwissenschaft in wenigen Jahren die SBZ alles in den Schatten stellen wird, was in der Bundesrepublik vorhanden ist. Gegen diese Tatsachen kann man sich propagandistisch nicht mehr mit dem besser gefüllten Magen und mit den großartig gefüllten Schaufenstern zur Wehr setzen. Die jungen Leute, die aus der SBZ in die Bundesrepublik kommen und die selbstverständlich geschult sind, auf die entscheidenden Faktoren zu achten, können im Sport schon nicht mehr durch die besseren Einrichtungen in der Bundesrepublik überzeugt werden.
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Sie kehren vielmehr in die SBZ mit dem Bewußtsein zurück, daß dort für sie und ihre Belange weit mehr geschieht.
Ich glaube, daß es keinen Zweck hat, sehr verehrter Herr Minister, die Tatsachen noch weiter zu bagatellisieren; ich glaube vielmehr, daß es richtiger ist, die Tatsachen zu erkennen und zu überlegen, ob es nicht erforderlich ist, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
...
Kommentar
Dieses Dokument umfaßt im Orginal 25 Schreibmaschinenseiten. Daume empfahl am Ende in der Zeit zwischen dem 20. und 24. Februar 1956 - also nach den Winterspielen in Cortina - eine Beratung zwischen der Führung des Sports und den zuständigen Ministerien durchzuführen. Diese Konferenz fand am 20. Februar im Büro des Staatssekretärs des Bundesministeriums des Innern, Bleek, statt. Anwesend waren: Staatssekretär Ritter von Lex (Bundesministerium des Inneren), Staatssekretär Thedieck (Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen), „einige Herren des BMI (Polizeireferat, Verfassungsschutz, Sportreferat)“, Daume, Bauwens, Vorsitzender des Deutschen Fußballbundes, Ministerialdirigent Dr. von Trützschler, Müller Horn (beide Auswärtiges Amt), Ministerialrat von Dellinghausen (Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen), Ritter von Halt, Präsident des NOK der BRD „und weitere Herren der Sportverbände“. So die Anwesenheitsliste, mit der das Protokoll eingeleitet wird.
Man wurde sich in allen Punkten einig und bestätigte faktisch Daumes Bekenntnis: „Der Sport der Bundesrepublik hält durchaus Linie.“
Zu Daumes „aide memoire“ sind einige den professionellen Historikern durchaus bekannte Fakten zu ergänzen.
Seine Aussage „Wenn ein Leistungssportler von drüben in die Bundesrepublik emigriert, wird er, wie kürzlich geschehen, wegen ‘Landesverrats’ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Diese Passage kann sich nur auf den 1955 verurteilten Udo Lehnert
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beziehen, der im Auftrag westdeutscher Vereine versucht hatte, DDR-Boxer abzuwerben. Er wurde vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Magdeburg wegen „Menschenhandels“ zu acht Jahren verurteilt.
Der „in der Öffentlichkeit so lebhaft diskutierte und in der gesamten Presse heftig kritisierte abrupte Fall“ von Visaverweigerungen bezieht sich auf die Einreiseverweigerung der ungarischen Fußballmannschaft von Vörös Lobogo, die ein Spiel gegen den 1. FC Nürnberg austragen wollte. Auch der Handballauswahl Prags wurde die Einreise verweigert.
Wenn Daume Vorwürfe erhob: „Aber auch die freie Presse unserer Bundesrepublik hat in Unkenntnis der Zusammenhänge die sogenannten ‘Oberweseler Beschlüsse’ nicht immer richtig verstanden“ spekulierte er möglicherweise auf die von ihm an anderer Stelle gerügte „Unwissenheit“ der Bundesregierung.
Die Fakten: Am 21. September 1952 hatte der DSB in Oberwesel den Beschluß gefaßt, den Sportverkehr zu allen Sportverbänden der DDR abzubrechen. Wortlaut des Protokolls: „Die Sportorganisationen der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands und des sowjetisch besetzten Sektors von Berlin“... „haben den Sportverkehr mit Westberlin davon abhängig gemacht, daß die Sportler aus dem Westsektor einen Fragebogen auszufüllen hätten, der eine Reihe von Fragen zweckpolitischer Art enthält. U.a. wird gefragt, ob der betreffenden Sportmannschaft oder dem Verein politische Flüchtlinge angehörten und ob Adressen von geflüchteten Sportlern aus dem Osten bekannt seien. Darüber hinaus werden Angaben über Lohnverhältnisse und Arbeitgeber der Westsportler verlangt.“1)
Der DSB hat nie einen solchen Fragebogen vorlegen können. Am 12. Dezember 1952 wurde der Abbruchbeschluß aufgehoben. Im Protokoll der Zusammenkunft zwischen DSB und DSA heißt es: „Eine eingehende Aussprache... hat ergeben, daß Mißverständnisse bestanden haben.“2)
Vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ wurde dieses Kapitel der deutsch-deutschen Sportbeziehungen 1995 so dargestellt: „Die offenkundigste Instrumentalisierung des Sports als Speerspitze der Deutschlandpolitik vollzog sich im steten Bemühen, West-Berlin mit
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unterschiedlichen Argumenten und Maßnahmen vom Sport der Bundesrepublik Deutschland abzutrennen. Die Schikanen gegen Sportler aus West-Berlin begannen 1952 mit einer ‘kleinen Blockade’34), die zum (ersten) Abbruch der Beziehungen durch den DSB führte, ein Schlag gegen die Wiedervereinigungs-Propaganda der DDR. Nach Auswechslung der Sportführung, wobei Ewald das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport übernahm, wurden im bereits genannten ‘Berliner Abkommen’ die Beziehungen wiederaufgenommen.“ Der vor der Enquete-Kommission als „Sachverständiger“ vortragende Hans Dieter Krebs hatte in seinem Fußnotenregister unter 34) einen Verweis auf Seite 180 des Buches „Sport - Medium der Politik“ von Ulrich Pabst aufgeführt, verschwieg aber, daß Pabst auf Seite 198 dieses Buches in der Fußnote 212 vermerkt hatte: „Für die Existenz dieses ‘politischen Fragebogens’ und des Reverses ist von westdeutscher Seite kein Beweis erbracht worden.“ Dafür ergänzte Krebs den Verweis auf Pabst durch die Bemerkung „als beispielhaftes Dokument im ZK-Archiv ‘Vorbereitung auf die (Handball)Weltmeisterschaft und Konzeption über das Verhalten der Mannschaft bei der Eröffnung der Weltmeisterschaft in Westberlin’ 1961.“ Was immer in diesem Beschluß stehen mag, er gibt mit keiner Silbe Aufschluß über den Verbleib des von niemandem gesehenen aber als Grund für den Abbruch der Sportbeziehungen zwischen beiden Staaten benutzten Fragebogens.“ Dies nur als ein Hinweis darauf, wie Sportgeschichte heute von einigen „aufgearbeitet“ wird.
Aufschlußreich in dem Daume aide-memoire auch die Hinweise auf die Funktion der Presse. Vor allem bei den Verhandlungen mit dem Internationalen Olympischen Komitee waren von bundesdeutscher Seite immer wieder Artikel der DDR-Presse als „belastendes Material“ dafür vorgelegt worden, wie die DDR-Führung ihre Politik durchzusetzen versucht. Daume selbst aber: „Ich habe aber wiederholt und dringend über das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen um pressemäßige Unterstützung nachgesucht.“ Er zitiert auch die mit Pressefreiheit nur mühsam in Einklang zu bringende Erklärung eines Bundesministeriums: „Wenn dem Wunsch der Bundesregierung auf Fernbleiben von den Olympischen Spielen Rechnung getragen wird, dann werden wir das pressemässig so vorbereiten, daß die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik mit einer solchen Maßnahme einverstanden ist".
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So bietet dieses Dokument eine günstige Gelegenheit für seriös arbeitende Historiker zumindest das Kapitel der Beziehungen in den Jahren 1950 bis 1956 auf beiden Seiten zu überarbeiten und eine akzeptable Lösung vorzuschlagen.
1) Lemke; Sport und Politik, Ahrensburg 1971, S. 78
2) Ebenda, S. 78f.
JAHRESTAGE:
40 Jahre ADMV
Von HORST SCHOLTZ und HARALD TÄGER
Der Allgemeine Deutsche Motorsport Verband e.V. (ADMV) wurde am 2. Juni 1957 gegründet und feiert in diesem Jahr sein vierzigjähriges Bestehen. Aus diesem Grund lohnt ein Blick zurück.
Vom schweren Anfang
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und der bedingungslosen Kapitulation wurden entsprechend dem Potsdamer Abkommen und dem Kontrollratsgesetz Nr. 2 des Alliierten Kontrollrats vom 10. Oktober 1945 alle faschistischen Organisationen und Einrichtungen aufgelöst und liquidiert.1) Dazu gehörten auch der Nationalsozialistische Reichsbund für Leibesübungen (NSRL) und alle seine Untergliederungen und das NS-Kraftfahrerkorps (NSKK), die staatliche Aufsichtsorganisation für alle Veranstaltungen und Tätigkeiten des deutschen Kraftfahrsports, die diesen auch international vertreten hatte. Die Kontrollratsdirektive Nr. 23 vom 17. Dezember 1945 über die "Beschränkung und Entmilitarisierung des Sportwesens in Deutschland" legte außerdem fest: "Allen vor der Kapitulation in Deutschland bestehenden sportlichen, militärischen oder paramilitärischen athletischen Organisationen (Klubs, Vereinigungen, Anstalten und anderen Organisationen) wird jede Betätigung untersagt, und sie sind bis zum 1. Januar 1946 spätestens aufzulösen."2) Es wurden also auch die Oberste Nationale Sportbehörde für die deutsche Kraftfahrt und alle Vereine und Klubs aufgelöst und jede sportliche Betätigung verboten, die militärisch hätte bedeutsam werden können.3) Gestattet waren lediglich "nichtmilitärische Sportorganisationen örtlichen Charakters", die "das Niveau eines Kreises nicht übersteigen"4) durften. Deren Tätigkeit wurde in allen Besatzungszonen von der örtlichen Besatzungsbehörde genehmigt und beaufsichtigt.5)
Diese Bedingungen, die allgemeine Lebenssituation - zunächst war für das Lebensnotwendigste zu sorgen - und die Tatsache, daß Anfang 1948 die Begrenzung des Wettkampfbetriebes auf das jeweilige Kreisgebiet in der damaligen Ostzone entfiel, hatte zur Folge, daß erst 1948 und 1949 die Motoren wieder dröhnen konnten. Die ersten Rennen fanden 1948 statt, am 11. Juli auf der
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kleinen Avus in Berlin oder das 1. Wittenberger Motorradrennen. Im Jahr darauf eröffneten die Rennsportenthusiasten am 24. Juni 1949 auf dem Stralsunder Bäderkurs und am 4. September 1949 mit dem 1. Dessauer Wagen- und Motorradrennen die Rennsportsaison in Deutschland. Die Koordinierung oblag der neu gebildeten Sportkommission, die 1951 in die Sektion Motorrennsport überging. Ihr erster Präsident war Egbert von Frankenberg und Proschlitz.
Es fanden wieder Automobil- und Motorradrennen statt, ab 1950 Motorbootrennen und Wettbewerbe im Sandbahnsport, das heißt, in den klassischen Disziplinen des Motorsports, in denen 1951 auch die ersten Meisterschaften ausgetragen wurden. Grundlage dafür war das am 3. September 1951 verabschiedete Motorsportgesetz. Ab 1952 wurden dann Wettbewerbe im Motorradgeländesport ausgeschrieben und auch die ersten Meister ermittelt, ab 1955 im Tourenwagensport (Meisterschaften ab 1958), 1956 im Moto-Cross und Speedway (Meisterschaften ab 1962), 1957 im Trial (Meisterschaften ab 1961), Wasserski (Meisterschaften ab 1960), Motorboottouristik und Automobilturniersport (Meisterschaften ab 1961). Selbstverständlich unterstützte die ebenfalls im Wiederaufbau begriffene Kraftfahrzeug- und Zubehörindustrie den sich entwickelnden Motorsport. In Zschopau wurden Rennmaschinen (125 ccm, 250 ccm) gefertigt und bei Straßenrennen eingesetzt.
In Berlin-Johannisthal wurde das erste Rennkollektiv beim DAMW - einer Unterabteilung des Deutschen Amtes für Meßwesen der DDR - gegründet und 1953 nach Eisenach verlegt, wo es mit dem 1,5-Liter-Rennsportwagen außerordentliche Erfolge erzielte. DDR-Geländefahrer starteten 1956 erstmals bei einer Sechstagefahrt mit Motorrädern vom Typ RT und BK und die Motorbootrennsportler setzten erfolgreich das von der Yachtwerft Berlin entwickelte und gebaute Rennboot ein.6) Die ersten Erfahrungen wurden bei internationalen Wettbewerben gewonnen und erste internationale Erfolge stellten sich als Lohn der Bemühungen bereits in der Zeit des zunächst gemeinsamen Beginns der Motorsportler aller Besatzungszonen ein. Ihr Streben und der Geist ihres Zusammenwirkens in dieser Zeit wird im Programm für die Rennen auf der "Dresdener Autobahnspinne“ 1953 deutlich. Darin heißt es: "Gerade wir Motorrennsportler wissen, daß wir unseren Sport nur
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im Frieden durchführen und weiterentwickeln können. Deshalb stehen wir gemeinsam im Kampf um die Schaffung eines einheitlichen Vaterlandes." Wie sehr die Motorsportler in Ost und West sich diesem Anliegen verbunden fühlten, beweist auch das am 22. November 1951 anläßlich der Mannheimer Sportkonferenz gegründete "Komitee für Einheit und Freiheit im deutschen Sport", dem Manfred von Brauchitsch als Präsident vorstand. Natürlich wirkte sich die politische Situation in den unterschiedlichen Besatzungszonen von Anbeginn auf die sportliche7) Entwicklung aus. Schon die separate Währungsreform am 20. Juni 1948 in den Westzonen ließ das die Motorsportler nachhaltig spüren.
Die Entwicklung des Sports in der DDR im allgemeinen und des Motorsports im besonderen erforderte ab Mitte der 50er Jahre eine den Aufgaben angemessene Organisation. Dem wurde mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Motorsport Verbandes (ADMV) am 2. Juni 1957 in Berlin entsprochen. Zum ersten Präsidenten wählten die Delegierten der Gründungskonferenz Dr. Egbert von Frankenberg und Proschlitz. Sportpräsident wurde der ehemalige Automobilrennfahrer Manfred von Brauchitsch.
Der Verband war entsprechend dem Prinzip von juristisch selbständigen, betrieblichen und örtlichen Motorsport-Clubs (MC) aufgebaut und kooperativ dem Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) angeschlossen. Die auf zentraler, bezirklicher und örtlicher Ebene gewählten Leitungsorgane wurden durch spezielle Fachkommissionen beraten und unterstützt. Grundlage des Wirkens war das Statut und das neue Motorsportgesetz des ADMV vom 1. Juli 1957, das den internationalen Sportgesetzen entsprach. Hauptanliegen des neu gegründeten Verbandes war es, für den Motorsport noch günstigere Bedingungen zu schaffen - für den Leistungssport ebenso wie für den Breitensport -, im und durch den Sport für friedliches Miteinander und Gleichbehandlung aller und "für die Wiedervereinigung Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Grundlage" zu wirken, wie in der Gründungsurkunde des ADMV ausdrücklich formuliert worden war. Die internationalen Föderationen brachten ihre Wertschätzung des bis dahin Geleisteten durch die Anerkennung des ADMV als selbständiges und gleichberechtigtes Mitglied zum Ausdruck. Noch im Gründungsjahr des ADMV - also 1957 - nahmen die Internationale Automobil-Föderation (FIA) während ihrer Tagung in
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Paris sowie die Internationale Motorwassersport-Union(UIM) während ihrer Beratung in Brüssel den ADMV auf. Ein Jahr später erkannte die Internationale Motorradsport-Föderation (FIM) und 1965 die Weltunion für Wasserski (UMSN) den ADMV als souveränes Mitglied an.
Das außerordentliche Jahrzehnt
Dieses auch aus heutiger Sicht außerordentliche Jahrzehnt prägte vor allem eine stürmische Entwicklung des Motorsports, die von einem kaum zu beschreibenden Enthusiasmus getragen wurde. Es bildeten sich immer mehr Motorsport-Clubs und die Zahl der ausgeschriebenen Rennen - in einer größer werdenden Zahl von Disziplinen - nahm enorm zu. Ab 1959 organisierte der ADMV Wettbewerbe im Moto-Ball (Meisterschaften ab 1971) und für Motorradrallye (Meisterschaften ab 1972). 1961 folgten K-Wagenrennen (Kart-Sport, Meisterschaften ab 1964), KFZ-Veteranensport (Meisterschaften ab 1986), der Rennsport mit historischen Fahrzeugen oder die Touristikmeisterschaft, aus der 1973 der Orientierungssport hervorging. Das Sportprogramm umfaßte nun schon 16 Disziplinen. Und die zunehmende Motorisierung sowie die wachsenden Bedürfnisse, mit dem Fahrzeug zu reisen, äußerten sich in Touristentreffen, touristischen Ausfahrten und Langstreckenfahrten für Motorräder.
Außerdem wurde der ADMV im Prozeß der Erhöhung der Verkehrssicherheit und der Förderung vorbildlichen Verhaltens im Straßenverkehr wirksam. Gemeinsam mit der staatlichen Versicherung initiierte er die Aktion "Unfallfreies Fahren" und zeichnete im Laufe der Jahre hunderttausende Kraftfahrer für jahrzehntelanges unfallfreies Fahren aus.
Das Zuschauerinteresse bei den Motorsportereignissen stieg immens an. So kamen zum 1. Weltmeisterschaftslauf im Motorradrennsport 1961 auf dem Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal mehr als 200 000 Zuschauer. Auch andere traditionsreiche Strecken erreichten Zuschauerrekorde, wie das Schleizer Dreieck oder der Teterower Bergring, denn in der Regel feierte die ganze Region ein Rennen oder einen Wettbewerb mit. Grundlage dafür war natürlich die Leistungsentwicklung der Motorsportler.
Im Automobilrennsport hatte sich die Industrie 1957 offiziell aus der Formel 3 zurückgezogen aber zugleich in Eisenach die
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Sportabteilung geschaffen, die aus dem Rennkollektiv des AWE hervorging. Erklärte Ziele waren, Serienfahrzeuge im Rallyesport zu erproben, neue Erkenntnisse aus Härtetests zu gewinnen und natürlich die Identifikation mit den Serienfahrzeugen zu erreichen. Wenn auch nie ein Welt- oder Europameistertitel mit einem "Wartburg" Typ 311, 312, 353 oder einem "Trabant" Typ 500, 600, 601 errungen werden konnte, so wiesen die Fahrzeuge mit ihren Teams über drei Jahrzehnte nach, wie interessant, zuverlässig und gut sie in ihren Wertungsklassen waren. Zweifellos hat das mit zu der damals unvorstellbaren Identifikation mit dem "Trabant" beigetragen, die Jochen Knoblach heute folgendermaßen beschreibt: "Niemand sagte: Ich fahre einen Trabant, sondern 'Ich habe einen Trabi!’ Haben Sie schon mal jemanden von seinem 'Golfi' oder 'Käfi' sprechen hören? Selbst 'Manti’ hinterläßt einen gekünstelten Nachgeschmack. Beim Trabant war das echt."
Die Sportkommission des ADMV war gemeinsam mit der VVB Automobilbau darum bemüht, den Automobilrennsport mit der "Formel Junior" weiterzuentwickeln. Besonderen Anteil daran hatten die Firma Melkus in Dresden und die Werkstatt des ADMV in Leipzig, die von Siegfried Leutert geleitet wurde. In Eigenentwicklung oder in Kleinserie entstanden Melkus-Sportwagen RS 1000, Formel-C9-Rennwagen, B8-Rennwagen der "freien Formel" E 1300/1600 ccm, mit denen infolge ständiger anerkennenswerter Innovationen über drei Jahrzehnte der Automobilsport fortgeführt werden konnte.
Im Motorradrennsport waren im Grand-Prix-Sport die Rennsport-Motorräder aus Zschopau für alle Marken eine ernst zu nehmende Konkurrenz. In der Halbliterklasse wurde MZ 1964 als schnellster Zweitakter der Welt bezeichnet. Horst Fügner hatte 1958 den Vizeweltmeistertitel gewonnen und 1961 schickte sich Ernst Degner in der 125-ccm-Klasse an, den Weltmeistertitel zu erringen. Er hatte auf dem Sachsenring mit einer Zschopauer Rennmaschine den Weltmeisterschaftslauf gewonnen. Wenige Wochen später hätte in Schweden ein Sieg für den Welttitel gereicht. Doch dazu sollte es nicht kommen, da Degner das Rennen abbrach und MZ verließ. Die von ihm gefahrene Maschine, die dem Werk gehörte, wurde nicht aufgefunden. Die Enttäuschung in Zschopau, beim ADMV und bei den Fans war groß.
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Ebenso hart betroffen fühlten sich - aus ganz anderen Gründen - am Beginn der 60er Jahre zunächst die Motorrad-Geländesportler (Enduro). Ihnen war 1961 und 1962 die Teilnahme an den Internationalen Sechstagefahrten (Six Days) durch das Allied Travel Office in Berlin (West) oder durch die zuständigen Behörden in der BRD verwehrt worden, so daß sich die FIM zu einer Denkschrift genötigt sah, die sowohl an alle Mitgliedsverbände als auch an die anderen Sportorganisationen gesandt wurde mit der Bitte, diese Schrift auch den Regierungen zugänglich zu machen.10) Das Jahr 1963 war also ein Wiederbeginn nach einer Zwangspause bei den Internationalen Sechstagefahrten und der erste Trophy-Sieg für MZ in Spindleruv Mlyn (CSSR) der Beginn einer - damals nicht vorauszuahnenden - Erfolgsserie. Die Trophywertungen wurden außerdem 1964 in Erfurt, 1965, 1966, 1967 und 1969 (jeweils auf MZ) gewonnen, 1964 und 1965 auch der Wettbewerb um die Silbervase (1964 auf Simson GS und 1965 auf MZ). Zahllose Siege und Goldmedaillen in den verschiedenen Wertungsklassen komplettierten diese Erfolgsserie bei den Six Days.
Weitere Höhepunkte waren die EM-Titel bei den Enduro-Europameisterschaften. Die Siegesserie bei den EM leiteten 1968 Werner Salevsky (MZ 250 ccm) und Peter Uhlig (MZ 175 ccm) ein. Sie wurde fortgesetzt durch Fred Willamowski, Jens Scheffler, Harald Sturm (alle auf MZ) sowie Dieter Salevsky, Ewald Schneidewind oder Rolf Hübler (alle auf Simson).
Im Motorbootrennsport hatte Raymund Kappner den ersten Titel 1957 bei den Europameisterschaften in der Klasse 0 bis 175 ccm für den ADMV gewonnen und damit eine bis 1971 nahezu ununterbrochene Serie von Erfolgen und Rekorden der Motorbootrennsportler eröffnet. Herbert Leide distanzierte 1958 als erster mit einem Wartburg-Motor des Automobilwerkes Eisenach (AWE) alle Kontrahenten und errang den EM-Titel in der Klasse C bis 500 ccm. Bernd Beckhusen gewann 1969 den ersten Titel bei Weltmeisterschaften in der Klasse 0 bis 250 ccm und Rudolf Königer in der Klasse LX bis 1000 ccm. Gleiches gelang 1970 Peter Rosenow (0 bis 250 ccm) und Konrad von Freyburg (LX bis 1000 ccm).
Man kann nicht alles und alle aus diesem so außerordentlichen Jahrzehnt nennen. Die Aufzählung wäre aber unvollständig würde man die Leistungen von Jochen Dinse vergessen. Er nahm 1967
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im Speedway am Weltfinale teil. Zu nennen sind auch die Motorsportler beim ASK Vorwärts, bei der Sportvereinigung Dynamo, in den Werksportabteilungen Eisenach, Suhl, Zschopau, Zwickau oder Ludwigsfelde und die vielen fleißigen Mitglieder und Helfer in den Ortsclubs des ADMV. Der Veranstaltungsplan des ADMV umfaßte zum Beispiel 1967 mehr als 1000 Veranstaltungen, davon allein 200 K-Wagenrennen, 120 Rallyes für Jedermann oder 80 Trial-Veranstaltungen.11) Alles wäre ohne das Engagement der vielen ehrenamtlichen Helfer ebenso unmöglich gewesen wie ohne die Hilfe und Unterstützung der Industrie.
Ein zentralistischer Beschluß und seine Folgen
In Auswertung der Olympischen Spiele 1968, an denen erstmalig selbständige Olympiamannschaften aus der DDR teilnehmen konnten, und der am 1. November 1968 erfolgten Zuerkennung aller souveränen Rechte des NOK der DDR durch das Internationale Olympische Komitee (IOC), beschloß das Sekretariat des ZK der SED am 19. März 1969 die "Grundlinie zur Entwicklung des Leistungssports in der DDR bis 1980". Nun galten nur noch bestimmte, vor allem medaillen- und punktintensive olympische Sportarten als förderungswürdig.12)
Die Förderung der nichtolympischen Sportarten wurde, wie auch der ADMV erfahren mußte, schrittweise eingestellt. Der DTSB beschloss zudem Maßnahmen, die eine weitere Teilnahme an internationalen Meisterschaften - selbst in so einer erfolgreichen Disziplin, wie dem Motorbootrennsport, - unmöglich machten. Der Motorsport erhielt infolgedessen ab 1973 keinen Leistungsauftrag und sollte von nun an keine leistungssportlichen Aufgaben lösen. Es wurden auch keine Förderstellen bestätigt, der Start im nichtsozialistischen Ausland untersagt und die internationalen Beziehungen auf die Partner in den sozialistischen Ländern beschränkt. Zugleich waren die Ende 1979 gefaßten "Woltersdorfer Beschlüsse“ einzuhalten und lediglich Technik und Material aus den Ländern des RGW bei nationalen und internationalen Starts zu verwenden.
Natürlich haben die Mitglieder und die Leitungen des ADMV diesen, uns völlig unverständlichen und einschneidenden, Beschluß nicht widerspruchslos hingenommen. Und es wurde dann auch - als einzige Ausnahme - der weitere internationale Einsatz von Aktiven aus Zschopau, Suhl, Zwickau und Eisenach erreicht,
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da wirtschaftliche und wirtschaftsstrategische Interessen das erforderten und nicht mißachtet werden konnten. Der Widerstand hatte aber auch zur Folge, daß ein neuer Generalsekretär in der exekutiven Funktion im ADMV den Beschluß ab 1973 durchzusetzen hatte und Initiativen, die diesem Beschluß entgegenwirkten, geahndet wurden. Der Moto-Cross-Sport hatte besonders unter den Festlegungen zu leiden. Das einstige Spitzenfabrikat CZ war längst von solchen Fabrikaten, wie Yamaha, Husquarna oder KTM überholt worden. Und unsere Fahrer, Hoppe, Stein, Kraul, Schadenberg oder Schuhmann, riskierten Kopf und Kragen, um im Pokal einigermaßen mithalten zu können. Deshalb versuchten der ADMV-Generalsekretär Thom, der Minister für Erzbergbau, Metallurgie und Kali, Singhuber, und der Kommissionsvorsitzende, Necke, Motorräder der Marke KTM zu beschaffen. Das gelang. Aber diese Maschinen sollten nur international gefahren werden. Sie wurden allerdings, sozusagen "regelwidrig", auch bei DDR-Meisterschaften an den Start gebracht. Den verantwortlichen Funktionären wurde dann eine "Funktionspause" auferlegt.
Die Aktiven waren durch den Abbruch der Leistungsentwicklung "hart getroffen", enttäuscht und wütend. Sie steckten aber trotzdem nicht auf. Bernd Beckhusen hat die Wirkung dieses Beschlusses auf die Leistungsbesten jener Zeit treffend charakterisiert: "Blicke ich auf mein sportliches Leben zurück, so kann ich ohne weiteres sagen: Es war eine schöne, komplizierte, aber auch eine schwere Zeit. Jeder Sportler strebte nach Spitzenleistungen; das war bis 1972 möglich... Ab 1973 verbot uns Sportlern, die in einer nichtolympischen Sportart aktiv waren, die Sportleitung die Teilnahme an Titelwettkämpfen der Motorbootweltföderation. Diese Entscheidung hatte mich hart getroffen und ist mir heute noch unverständlich. An einem Beispiel möchte ich aufzeigen, wie paradox diese Entscheidung war. Der mehrmalige polnische Meister, Marszalek, gewann 1979 in Poznan seinen ersten Titel. 1980 und 1981 errang er diesen Titel erneut. In diesen drei Jahren gewann ich bis auf eine Ausnahme alle internationalen Rennen gegen Marszalek! Wie mein Vizeweltmeistertitel 1990 beweist, habe ich 20 Jahre lang zur Weltspitze in meiner Klasse gehört. Die Titel nicht verteidigen oder erringen zu dürfen, war für mich in all den Jahren sehr schmerzlich. In dem Bestreben, gegen diesen
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sportfeindlichen Beschluß anzugehen, habe ich nie aufgesteckt und mit anderen Sportfreunden den Motorbootrennsport weiter betrieben und auch weiterentwickelt. Die 1989 eingeleiteten Maßnahmen zur Veränderung dieses Beschlusses kamen leider für viele Sportler zu spät. Ich hatte zwar die Möglichkeit, im selben Jahr an der Weltmeisterschaft teilzunehmen und mußte spüren, wie schwer es war, nach fast 20 Jahren Nichtteilnahme wieder den Anschluß zu finden. Der vierte Platz war der Lohn meines Einsatzes. Der Gewinn des Weltpokals 1990 hat mich noch einmal stimuliert. Ich schreibe diese Worte nieder, um zu verhindern, daß sich so etwas in der Geschichte des Sports wiederholt."14)
Aus heutiger Sicht muß man feststellen, daß noch nach mehr als 25 Jahren die Auswirkungen dieses Beschlusses im Prozeß der Vorbereitung von Weltspitzenleistungen zu spüren sind. Wir können und dürfen aber auch nicht übersehen und vergessen, daß dadurch der Breitensport und der Sport mit Serienfahrzeugen forciert worden ist. Neben den Lizenzklassen entstanden Ausweisklassen. Die große Beteiligung machte das möglich. Die Nachwuchsentwicklung war gesichert und neue Disziplinen wurden eingeführt. Seit 1976 entwickelte sich der Auto-Cross-Sport und 10 Jahre später konnte die 19. Disziplin im Angebot des ADMV, der Rennsport mit historischen Fahrzeugen, aufgenommen werden. Der Motorsport im ADMV war finanzierbar, attraktiv, spannend und mitreißend trotz der Einschränkungen im Leistungsbereich.
Mit der Wende - nach der Wende
Die neue Situation und die Veränderungen in der Sportpolitik wurden für den ADMV ab 1988 spürbar. Viele hatten daran ihren Anteil, auch der damalige Präsident des DTSB, Klaus Eichler. Es war vor allem möglich, wieder an Welt- und Europameisterschaften teilzunehmen, 1989 beginnend mit Moto-Cross, Motorbootrennsport und Wasserski. Allerdings sind wohlüberlegte Initiativen auch wieder annulliert worden, zum Beispiel die Bewerbung des ADMV bei der FIM um einen Europameisterschaftslauf im Enduro, die vier Wochen später wieder zurückgezogen worden war. Nach einer erneuten Bewerbung16) - ein Jahr später - wurde die WM im Enduro nach Zschopau vergeben. Trotz alledem blieb aber ein Problem bestehen. Die Mark der DDR war als Binnenwährung nicht frei konvertierbar. Für den Start der Aktiven des ADMV bei
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Wettbewerben in Österreich, der BRD oder Italien waren die Kosten jeweils in frei konvertierbarer Währung zu begleichen. Und für die Übernahme eines WM-Laufes mit Startgeldverpflichtungen des Veranstalters gegenüber den Aktiven wären pro Start 18 000 bis 25 000 DM zu zahlen gewesen. Ein damals unmögliches Unterfangen. Besonderer Dank gilt deshalb dem in Hamburg ansässigen Unternehmen Burmah-Oil "Castrol", das mittels Werbevertrag maßgeblich half, allen Motorsportlern des ADMV, die Chancen hatten, vordere Plätze zu erreichen, 1989 den Start bei Europa- und Weltmeisterschaften zu ermöglichen. Dieses Unternehmen unterstützt die Aktiven des ADMV schon seit vielen Jahren. Ohne dieses Engagement wären die Erfolge der Enduro-Fahrer der ehemaligen Sportabteilungen aus Suhl und Zschopau sowie der Rallyefahrer aus Eisenach und Zwickau undenkbar gewesen.
Der außerordentliche Verbandstag des ADMV im März 1990 leitete die entscheidende Phase seiner radikalen Erneuerung ein. Während alle Sportverbände des DTSB sich dem jeweiligen Fachverband im DSB anschlossen, erhielt das neugewählte Präsidium des ADMV von den Delegierten des außerordentlichen Verbandstags den Auftrag, die Selbständigkeit zu bewahren und den Verband zu erneuern. Ein Initiativprogramm bahnte den Weg, um den ADMV zu einem modernen Motorsportverband mit einem breiten Leistungsangebot für seine Mitglieder umzugestalten.
In diesem Prozeß schlossen sich als erste die Wasserskisportler des ADMV dem Deutschen Wasserskiverband (DWSV) an. Die meisten Motorwassersport-Clubs traten dem Deutschen Motor-Yacht-Verband (DMYV) bei. Für den Automobil- und Motorradsport sollten vom ADMV 1990 nochmals, und zwar letztmalig, eigene Meisterschaften ausgeschrieben werden. Diesbezüglich waren sich alle, die Fachverbände und die Sportbehörden, die Oberste Nationale Sportkommission für den Automobilsport in Deutschland (ONS) und die Oberste Motorradsportkommission (OMK) sowie die internationalen Föderationen, FIA und FIM, einig. Als unlösbares Problem erwies sich jedoch, die Sporthoheit für die Mitglieder des ADMV selbst wahrnehmen zu können. Unter den gegebenen Bedingungen war ein Entgegenkommen - diesbezüglich bestanden keine Zweifel - nicht zu erwarten und die Weltföderationen FIA und FIM erklärten mit Bestimmtheit: "In das innerdeutsche Problem
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mischen wir uns nicht ein!" Der ADMV mußte also seinen Austritt aus den internationalen Föderationen, denen er seit 1957 beziehungsweise 1958 angehört hatte, erklären. Ab 1991 wurden dann die Sportgesetze der ONS und OMK übernommen.
Heute bietet der ADMV als eingetragener Verein (e.V.) die Leistungen eines nationalen Automobilclubs und organisiert Motorsport in den neuen Bundesländern. Im ADMV-Kalender standen 1996 insgesamt 140 Wettbewerbe, davon rund 50 mit nationalen und internationalen Prädikaten, wie Weltmeisterschaftsläufen im Moto-Cross, im Speedway und auf der Langbahn, Meisterschaftsläufen im Rallyesport, im Auto-Cross, im Kart-Sport und Trial. Der ADMV richtete das Finale zur Deutschen Speedway-Meisterschaft 1996 in Stralsund aus. Speedwayrennen in Güstrow und die Langbahn-WM-Revanche in Parchim zählten zu den bestbesuchten Bahnsportveranstaltungen in Deutschland. Mehr als 10 000 Zuschauer hatten jeweils teilgenommen. Das ADMV-Programm umfaßte auch traditionsgemäß solche Disziplinen, wie Motoball und Orientierungssport, Breiten- und Tourensport. Außerdem wurden Zweiradrallye und Geländewagentrial ausgeschrieben.
Dem ADMV gehören mehr als 10 000 Mitglieder und 170 Ortsclubs an. Allein im vergangenen Jahr wurden 800 neue Mitglieder gewonnen und sechs neue Ortsclubs gegründet. Der Verband vermittelte im Motorrad-, Wagen- und Kart-Sport etwa 950 Fahrerlizenzen und 250 Sportwartlizenzen.
Selbstverständlich bietet der ADMV mit seinen Partnern, dem Versicherungsunternehmen DAS, der FSP-Sachverständigenorganisation und dem Touristikunternehmen tuk-International einen attraktiven Service. Dieser reicht vom DAS-Euro-Schutzbrief und dem Familienschutzbrief, Leistungen des Verkehrsschutzes im Vertrags- und Sachenrecht über Serviceleistungen (einschließlich 24-Stunden-Servicetelefon), Schadensbeihilfen und der Ausstellung des AvD Camping-carnet bis zur Reisevermittlung, vielfältigen Informationen sowie dem kostenlosen Veranstaltungsticket und ermäßigten Eintrittspreisen. Neben der bisherigen Standardmitgliedschaft (Vollmitglieder 75 DM, Rentner 50 DM) kann ab 1997 außerdem zwischen der Spezialmitgliedschaft, der Euromitgliedschaft und der Supermitgliedschaft gewählt werden.
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Der ADMV ist allerdings kein autonomer Träger der ONS und OMK. Kooperationsverträge bestehen deshalb mit dem Deutschen Motorsport-Verband (DMV) und dem Automobilclub von Deutschland (AvD). Beide Vertragspartner vertreten den ADMV in der ONS und OMK, die wiederum den ADMV und die anderen Automobil- und Motorsport-Verbände in Deutschland in den internationalen Föderationen (FIA und FIM) vertreten. Sie haben also die Sporthoheit inne. Das heißt, ein direktes Mitspracherecht des ADMV fehlt. Sehr große Nachteile für unsere Mitglieder sind aber bisher nicht entstanden, wenn man von den Kosten, die der ADMV dadurch hat, einmal absieht.
Der ADMV ist also heute ein Verband, der sich vor allem der Jugend und dem Nachwuchs in den neuen Bundesländern widmet, Clubsport und regionale Wettbewerbe für seine Mitglieder anbietet, die Alltagsaufgaben und -sorgen der Automobil- und Motorradbesitzer mit ihrem Fahrzeug bewältigen hilft und die Freizeitgestaltung mit dem Fahrzeug auf vielfältige Weise unterstützt. Unter den Motorsportverbänden in der BRD zählt er neben dem ADAC, dem AvD und dem DMV mit zu den größten Verbänden. Als regionalem Verband sagen uns allerdings manche Entwicklungsschwierigkeiten voraus.17)
Diese regionale Verankerung kann - so unsere bisherige Erfahrung - durchaus eine Chance sein, wie unser mitreißendes und publikumswirksames 3. Hallen-Moto-Cross unlängst in Leipzig erneut bestätigte. Zweifellos wird das auch unsere Ausstellung anläßlich der Auto Mobil International vom 5. bis 13. April 1997 in Leipzig nachweisen, zu der wir uns mit Technik aus 40 Jahren Motorsport präsentieren werden.
ANMERKUNGEN
1) Gesetz Nr. 2, Auflösung und Liquidierung der Naziorganisationen vom 10.10.1945. - In: Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland Nr. 1, 29.10.1945, S. 19 -21
2) Direktive Nr. 23, Beschränkung und Entmilitarisierung des Sportwesens in Deutschland, vom 17.12.1945 - In: Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland Nr.3, 31.01.1946, S. 49
3) Vgl. ebenda
4) Ebenda
5) Vgl. ebenda
6) Vgl. Täger, H./Thom, G./ Heymann, H.: ADMV - Chronik 1957 - 1992. - Berlin 1992. - S. 9
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7) Vgl. Weißpfennig, G.: Der Neuaufbau des Sports in Westdeutschland bis zur Gründung des Deutschen Sportbundes. - In: Horst Ueberhorst (Hrsg.), Geschichte der Leibesübungen, Band 3/2. Berlin u.a.: Bartels u. Wernitz 1982. - S. 766 f.
Vgl. Nitsch, F.: Dreißig Jahre DSB - Eine kritische Bestandsaufnahme. - In: Horst Ueberhorst (Hrsg.), a.a.O., S. 843 f.
8) Vgl. Täger, H, u.a.: A.a.O., S.42 f.
9) Vgl. Ebenda, S. 17
10) Vgl. Pester, E./ Baumann, H.D.: Six Days. Chronik eines vierfachen Triumphes. - Berlin: Sportverlag 1967. - S. 28 f.
11) Vgl. Täger, H. u.a.: A.a.O., S.17 f.
12) Schumann, K.: Empirisch-theoretische Studie zu entwicklungsbestimmenden Bedingungen des Leistungssports der DDR. - Diss. Leipzig 1993, S. 232
13) Vgl Täger, H. u.a.: A.a.O., S. 22 f.
14) Beckhusen, B.: Vorwort. - In: Täger, H. u.a., a.a.O., S. 4
15) Vgl. Übersicht und Inhalt aller ADMV-Mitgliederleistungen. - In: mobil. ADMV-Zeitschrift, Heft 5-6 / 96, S. 14 - 15
16) Vgl. Antrag zur Bewerbung und Durchführung einer Weltmeisterschaftsveranstaltung im Endurosport 1990 in der DDR. - Archiv des ADMV
17) Vgl. Lindner, J.:... Der DMV ist keine Veranstalterkonkurrenz. - BSA Januar 1997, S. 30 f.
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PAAVO NURMI
Geboren am 13. Juni 1897 - gestorben am 2. Oktober 1973
Nur die Schnellebigkeit unserer Zeit erklärt, daß der legendäre Finne, der im dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts alle Weltrekorde von der Meilendistanz bis zum Stundenlauf hielt, im letzten Jahrzehnt fast in Vergessenheit geraten ist. Nurmis Gegner waren selten die Rivalen, aber immer die Uhr. Die Finnen waren entsetzt, als der Leichtathletik-Zeitplan für die Olympischen Spiele 1924 in Paris veröffentlicht wurde. Zwischen dem 1500-m-Finale und dem über 5000 m lagen nur 30 Minuten. Sie protestierten und erreichten, daß es dann 55 Minuten waren. Drei Wochen vor dem olympischen Finaltag, am 19. Juni, startete Nurmi einen Test. Er lief die 1500 m in der Weltrekordzeit von 3:52,6 min, eine Stunde später ließ er über 5000 m einen weiteren Weltrekord folgen: 14:28,2 min. Den olympischen Endlauf über 1500 m kontrollierte er nach Belieben, bot dem ihm als einziger folgenden USA-Läufer Raymond Watson keine Chance, zu ihm aufzuschließen, sah auf die Uhr, die er ständig in der Hand hielt, drosselte sein Tempo und beschleunigte erst ganz am Ende wieder. 55 Minuten später stand er seinem Landsmann Vilho Ritola gegenüber, der ihm den 10 000-m-Weltrekord entrissen hatte. Ritola legte ein höllisches Tempo vor, darauf spekulierend, daß Nurmi dem nicht zu folgen vermochte. Die 1000-m-Marke passierten sie nach 2:46,4 min - die gleiche Zeit, wie sie die Finalisten 1972 in München liefen -, aber Nurmi folgte ihnen wie ein Schatten. Nach der Hälfte der Strecke ging er an die Spitze. 500 m vor dem Ziel sah er ein letztes Mal auf die Uhr, warf sie dann weg und stürmte los. Ritola folgte ihm, griff ihn 15 m vor dem Ziel an, kam aber nicht vorbei. Nurmi gewann mit zwei Zehntelsekunden Vorsprung. Wie später Jesse Owens und Carl Lewis brachte er es in einem olympischen Jahr auf vier Goldmedaillen, insgesamt auf neun Gold- und drei Silbermedaillen. Der Mann, den man nicht zufällig den „großen Schweiger“ nannte, wollte seine Laufbahn mit dem Marathonsieg 1932 in Los Angeles krönen und wurde kurz vor den Spielen das Opfer einer Intrige, in der Ritter von Halt eine maßgebliche Rolle spielte. Er ließ in Deutschland untersuchen, ob der Finne für seine Starts Geld
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genommen hatte. Der in Danzig ansässige „Baltische Sportverband“ lieferte schließlich das „Belastungsmaterial“, in dem es jedoch an Widersprüchen wimmelte. Am 5. Januar 1932 erschien - so das nur im Brundage-Archiv vorhandene einzige Exemplar der „Vernehmung“ im Büro des Baltischen Sportverbands - „der vorgeladene Hugo Arndt, Vorsitzender des Kreises II Danzig und macht zu den Vorgängen - Angelegenheit Nurmi - folgende Angaben:
1/ Mir ist nur bekannt, dass Herr Nurmi die Kosten seines Aufenthalts im Centralhotel nicht beglichen hat, trotzdem er Spesen in Höhe von 8:- Dollar als Diäten für seinen Aufenthalt in Danzig erhalten hat. Erschwerend fällt ins Gewicht, daß Herr Nurmi sich zur Begleichung nicht verstand, obwohl der Wirt dringend um Bezahlung ersuchte. Herr Nurmi reiste ab, ohne den Wirt zu befriedigen,
2/ Ich habe Herrn Nurmi persönlich vom Bahnhof abgeholt. Finnische Begleitung habe ich nicht festgestellt. Auch dann nicht, als wir uns im Hotel mit Nurmi zum Frühstück hinsetzten, erschien kein finnischer Begleiter. Herr Nurmi ist also zweifellos ohne Begleitung in Danzig gewesen.“
Am 3. April 1932 tagte das Council der IAAF in Berlin und beschloß die Disqualifikation Nurmis, weil er gegen den Amateurparagraphen verstoßen habe. Die konkreten Vorwürfe: er habe sein Zimmer in Danzig nicht bezahlt und vorher auch für den ihn begleitenden Masseur, Begleiter und eine Sekretärin Diäten gefordert.
So endete die sportliche Karriere des wohl erfolgreichsten Leichtathleten der Geschichte, so behutsam man mit solchen Attributen auch umgehen soll.
Finnland „revanchierte“ sich zwanzig Jahre nach der Disqualifikation beim IOC, als es Nurmi das Olympische Feuer der XV. Spiele in Helsinki entzünden ließ.
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BERNHARD ALMSTADT
Geboren 23. August 1897 - hingerichtet 6. November 1944
Sein Traum war, Lehrer zu werden, aber der erfüllte sich nicht. Das dreizehnte Kind eines hannoverschen Schuhmachers mußte als Hilfsarbeiter helfen, die Familie zu ernähren. Schon mit jungen Jahren fand er zur sozialistischen Jugendbewegung.
1916 mußte er an die Front, desertierte im August 1918 an der Somme und lebte mehrere Monate illegal in seiner Heimatstadt. Er schloß sich der Spartakusgruppe an und wurde während der Novemberrevolution in den Arbeiter- und Soldatenrat gewählt. Der begeisterte Sportler - Mitglied der KPD seit ihrer Gründung - erwies sich schon bald als geschickter Organisator. 1924 betraute man ihn mit der Geschäftsführung der Magdeburger Zeitung "Tribüne", 1930 rief man ihn zum Essener "Ruhr-Echo". Später übernahm Bernhard Almstadt die Leitung des Arbeiter-Sport-Verlages Berlin und wurde Mitglied der Reichsleitung der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit. Nach der Errichtung der Hitlerdiktatur war er einer der führenden Organisatoren des Widerstandes der Arbeitersportler. Er wurde im Oktober 1933 verhaftet und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Entlassung setzte er den antifaschistischen Kampf fort.
Im Herbst 1942 bemühte sich Anton Saefkow, nachdem ein großer Teil seiner Widerstandsgruppe von der Gestapo verhaftet und hingerichtet worden war, die Leitung der Berliner KPD wieder aufzubauen und fand in Bernhard Almstadt einen bewährten Helfer. Seine Erfahrung und seine Umsicht trugen entscheidend dazu bei, daß Widerstandsgruppen in Berliner Großbetrieben geschaffen werden konnten. Im August 1943 hatten Franz Jacob und Anton Saefkow gemeinsam mit Bernhard Almstadt Kontakt zu Ernst Thälmann in Bautzen aufnehmen können und es entstand der Plan, Thälmann zu befreien. Man knüpfte Kontakt zu einem Hilfspolizisten in Bautzen und bereitete in Irbersdorf bei Frankenberg ein illegales Quartier vor. Das Unternehmen konnte jedoch nicht in Angriff genommen werden, nachdem die Gestapo den größten Teil der Saefkow-Gruppe verhaftet hatte. Im Juli 1944 wurde auch Bernhard Almstadt eingekerkert. Am 19. September
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wurde das Todesurteil gegen den Arbeitersportler verhängt, am 6. November wurde es vollstreckt.
Das war sein letztzer Brief, den er am Morgen des Hinrichtungstages schrieb: „Meine liebe Erna, liebste Susi!
Es ist soweit. Es heißt Abschied nehmen! Die Fesseln hindern sehr. Trotzdem einige Worte.
Ich habe Euch großen Kummer gemacht, und Ihr habt mir nur Liebe und Zuneigung geschenkt. Seid mir deshalb nicht böse, ich wollte nur das Gute. Vergeht auch nicht in Trauer. Euer Leben muß weitergehen, und ich wünsche Euch für die Zukunft viel Glück und Freude. Der Tod kann auch ein Erlöser sein. Ich sehe in ihm keinen Feind, sondern einen guten Mann, der einen furchtbaren Zustand beendet.
Grüßt alle Verwandten und Freunde von mir.
Euch gilt mein letzter Atemzug, er ist erfüllt voller Dankbarkeit für Dich. Lebt wohl! Kopf hoch!
Euer Bernd“
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HERMANN TOPS
Geboren am 18. Juli 1897 - hingerichtet am 14. August 1944
Der begeisterte Turner war 1923 Mitglied der KPD geworden und vertrat sie längere Zeit als Stadtbezirksverordneter im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Sein größtes Interesse aber galt der Arbeitersportbewegung. 1931 wurde er Mitglied der Reichsleitung der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit. Nach der Machtübernahme der Faschisten half er, eine illegale Reichsleitung zu organisieren. Im Oktober 1933 wurde er das erste Mal verhaftet. Er wurde zu 18 Monaten Haft verurteilt und danach entlassen. Als Anton Saefkow 1939 begann, neue illegale Gruppen in Berliner Rüstungsbetrieben zu organisieren, stellte „Männe“ Tops die Verbindung zu Robert Uhrig her und hielt sie danach aufrecht. Der Arbeitersportler galt als besonders zuverlässig und auch gewandt. Im Spätsommer 1941 gelang es der Gestapo, zwei Spitzel in die Organisation einzuschleusen. Im Februar 1942 wurde Tops verhaftet, zum Tode verurteilt und am 14. August 1944 im Zuchthaus Brandenburg mit dem Fallbeil hingerichtet.
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50. Friedensfahrt
Im Mai 1997 findet die Internationale Friedensfahrt zum 50. Mal statt. Das über vier Jahrzehnte größte und härteste Amateur-Etappenrennen der Welt ist ein Kapitel Radsportgeschichte. Obwohl oft als „Politveranstaltung“ stigmatisiert, kann ihm niemand den Ruf eines einzigartigen Rennens absprechen. Wir publizieren zur 50. Fahrt einen Beitrag des legendären Schweizer Rundfunkjournalisten Vico RIGASSI1) aus dem Jahre 1957 - also auch ein „Jahrestag“: :
Es war am 7. Januar 1957 im Sekretariat der "Union Cycliste Suisse" in Genf. Mit dem verdienten Verbandspräsidenten Dr. Marcel Castellino, der vor 50 Jahren seine erste Radrennfahrer-Lizenz gelöst hatte, unterhielt ich mich über aktuelle Radsportprobleme, als der junge Lausannner Straßenfahrer Ramon Armen gemeldet wurde, der seine neue Lizenz als "Unabhängiger"2) abholen wollte. Zur Erläuterung sei beigefügt, daß sich die Schweiz in diesem Jahr zu diesem Schritt entschlossen hat, um den vielen Nachwuchsfahrern die Möglichkeit zu geben, an französischen, italienischen und belgischen Straßenrennen teilzunehmen, die eben nur für "Unabhängige“ ausgeschrieben werden. Da sah der junge Mann den schönen Wimpel der Sektion Radsport der DDR, (der im vergangenen Oktober vom Sektionspräsidenten - Werner Scharch - anläßlich seines Besuches in Genf als Geschenk übergeben worden war und nun einen Ehrenplatz im Büro des Präsidenten gefunden hat) und spontan rief er aus: "Das Einzige, was ich bedaure, ist, daß ich nunmehr als ‘Unabhängiger' nicht mehr an der Internationalen Friedensfahrt teilnehmen kann, denn sie war für meine Kameraden und mich ein unvergeßliches Erlebnis.’“
Jawohl, der brave Maurer aus Lausanne hatte ganz recht: die Friedensfahrt ist auch für mich ein unvergeßliches Erlebnis, und wenn ich alle Gelegenheiten aufzählen müßte, bei denen ich in Freundeskreisen von der Friedensfahrt 1956 berichten mußte, so würde eine vierstellige Zahl kaum genügen.
Mit Generaldirektor Jacques Goddet in Paris, mit Direktor Dr. Giuseppe Ambrosini in Mailand. (Schöpfer der Italienrundfahrt), mit
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Direktor Dr. Bruno Roghi in Rom, den Chefredakteuren der größten europäischen Tagessportzeitungen, mit weiteren Kollegen aus allen Ländern, mit führenden Persönlichkeiten der U.C.I., mit dem mir sehr befreundeten Kanzler des lnternationalen Olympischen Komitees in Lausanne, Herrn Otto Mayer, mit dem Friseur, mit dem Straßenbahnschaffner, mit dem Briefträger, mit älteren und jüngeren Fahrern (Ferdi Kübler3) zeigte großes Interesse über alle Einzelheiten der Friedensfahrt), habe ich unzählige Male von den unvergeßlichen Eindrücken der Fahrt von Warschau über Berlin nach Prag erzählen müssen. Es ist unglaublich, welchen enormen Widerhall die Friedensfahrt in allen Ländern gefunden hat. Als in Genf der vom DDR-Fernsehen gedrehte Filmstreifen über die Friedensfahrt vom Fernsehen der Westschweiz ausgestrahlt wurde, war die Begeisterung groß. Man sagte: "Ja, der Sylvére Maés4) war auch dabei? Und der Proietti5) auch? Und die Ägypter? Und der Schur? Kann es überhaupt solche Menschenmassen geben, die in den Stadien sitzen?" Die bejahende Beantwortung dieser Fragen durch lebendige Tatsachen machte überall den besten Eindruck.
Ich will auf Einzelheiten nicht eingehen, ich will nicht wiederholen, was ich schon oft vom hohen sportlichen, völkerverbindenden und freundschaftlichen Wert der Friedensfahrt geschrieben habe, aber ich möchte einige Tatsachen anführen.
Dank der internationalen Friedensfahrt fand der Italiener Aurelio Cestari seine seit einigen Jahren vermißte liebe Schwester in Brno wieder, dank der Friedensfahrt konnte ich meinen Freunden in Annemasse in Hochsavoyen melden, daß "Capitaine Louis" (unter diesem Namen versteckte sich ein polnischer Offizier), der ein Held der französischen Widerstandsbewegung war und den ich in Lodz als Ingenieur wieder traf, immer noch lebt. Dank der Friedensfahrt traf mein Landsmann D'Agostino in Prag seinen Onkel wieder. Zwei Begebenheiten aber bleiben für mich besonders unvergeßlich. Als unser Pressewagen kurz vor Stalinogrod anhielt, sagte mir ein polnischer Knabe mit Stolz: „zehn Kilometer von hier, in meinem Heimatdorf, liegt das Grab von Chopin." Und in Görlitz vertraute mir ein 14jähriger Bursche, dem ich den Zugang zum offiziellen Hotel ermöglichte, an: "Ein Autogramm von "Täve" wünsche ich mir." Jawohl, die Internationale Friedensfahrt verdient
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den Namen einer "edlen" Sportveranstaltung, denn sie wirbt für die Freundschaft unter der Jugend der ganzen Welt.
1) Vico Rigassi war über Jahrzehnte der populärste Schweizer Rundfunkreporter und außerdem offizieller Sprecher des Weltradsportverbandes UCI bei allen Kongressen und Weltmeisterschaften.
2) In den fünfziger Jahren führte die UCI neben den Kategorien Amateur und Berufsfahrer die des Unabhängigen, der faktisch an den Rennen beider anderer Kategorien teilnehmen durfte, wenn nicht Sonderregelungen in den Ausschreibungen getroffen waren. Die Friedensfahrt hatte sich darauf eingestellt, in dem sie allen nationalen Verbänden gestattete, je drei Amateure und drei Unabhängige zu nominieren. Die einzige Ausnahme wurde 1960 gemacht, als Monaco mit fünf Unabhängigen und einem Amateur erschien.
3) Ferdi Kübler (*1919), Schweizer Radrennfahrer, 1950 Sieger der Tour de France, 1951 Straßen-Weltmeister, 1942, 1948 und 1951 Sieger der Tour de Suisse.
4) Der belgische Rennfahrer Silvere Maes (*1909) hatte 1936 und 1939 die Tour de France gewonnen.
5) Giovanni Proietti, einer der erfolgreichsten italienischen Radsporttrainer.
REZENSIONEN:
Die erste vollständige
GutsMuths-Biographie
Willi Schröders Arbeit zu Leben und Wirken des bekannten Schnepfenthaler Pädagogen wurde vom Verlag als „erste umfassende, wissenschaftlich fundierte" GutsMuths-Biographie angekündigt. Das war kein Werbetrick, sondern schlichte Wahrheit, wenn es auch manchem erstaunlich erscheinen mag, verzeichnen die Fachbibliographien doch eine große Zahl von Titeln, die GutsMuths und sein Wirken betreffen; eine alle Seiten seines Schaffens und wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Biographie ist nicht darunter.
Das Buch ist das Ergebnis zielgerichteter Forschungsarbeit, die vor Jahren mit der inhaltlichen Vorbereitung eines Memorialmuseums im Dachgeschoß des Schnepfenthaler Schulgebäudes begonnen und von Jahr zu Jahr vertieft und erweitert wurde, wie mehrere Einzelveröffentlichungen des Autors bezeugen. Von Anfang an waren Ansätze der Konzeption zu erkennen, die nun in ausgereifter Form realisiert worden ist: Das Leben und Wirken GutsMuths im persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld und allseitig darzustellen; nicht nur bezogen auf seine bedeutenden Leistungen in Theorie und Praxis einer neuzeitlichen Körpererziehung, sondern auch auf sein Tun als zuverlässiger Mitarbeiter Salz-manns, der das Schnepfenthaler Philanthropinum auf- und ausbaute sowie auf alle seine anderen bedeutenden Aktivitäten und Leistungen. Die Überschriften der 10 Textkapitel spiegeln die komplexe Konzeption eindrucksvoll wider:
1. Quedlinburg - Halle - Schnepfenthal. Stationen eines erfüllten Lebens.
2. Christian Gotthilf Salzmann und sein Schnepfenthal-Projekt.
3. Alltag und Epochenbewußtsein in Schnepfenthal.
4. Johann Christoph Friedrich GutsMuths als Forscher in der Praxis bei der theoretischen Begründung seines Schnepfentheler Gym-nastiksystems.
5. Gesundheitserziehung und Persönlichkeitsbildung als vorrangige Aufgabe am Schnepfenthaler Philanthropinum.
6. Johann Christoph Friedrich GutsMuths als Reiseschriftsteller.
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7. GutsMuths als Herausgeber der "Bibliothek der Pädagogischen Literatur“.
8. Johann Christoph Friedrich GutsMuths’ geographisches Werk.
9. Zur Wirkungsgeschichte der Schnepfenthaler Gymnastik Johann Christoph Friedrich GutsMuths.
10. Das GutsMuths-Bild in der Geschichtsschreibung und in der Traditionspflege.
Angefügt sind Anmerkungen (Quellen)/ Daten zu Leben und Werk sowie eine Liste ausgewählter Literatur.
Mit Schröders Buch wird auch ein Versäumnis bisheriger sport-historischer Darstellungen - auch seiner eigenen - überwunden: die ungenügende Beachtung der Leistungen Salzmanns für die Integration der Körperbildung in das Erziehungssystem der Schnepfenthaler Anstalt, die - im Gegensatz zu anderen zeit-genössischen Einrichtungen - nicht kurzlebig war, sondern bis heute besteht. Hervorzuheben ist auch der vielfache konkrete Nachweis der historischen und sozialen Wurzeln der Schnepfen-thaler Praxis. Das Buch macht deutlich, wie fruchtbar der Ansatz des Autors ist, historische Ereignisse, Prozesse und Personen aus ihrer Zeit heraus sowie in ihrer Komplexität zu Erfassen und sie nicht mit vorgefertigten Schablonen nach passenden Fakten abzusuchen.
Für die aktuelle Diskussion von Problemen der Sportgeschichts-schreibung setzt das 10. Kapitel Maßstäbe. Eine Fülle älterer und neuerer Literatur wird sachkundig zum Thema in bezug gesetzt, und zwar unabhängig vom Erscheinungsort und vom Standort des Verfassers, was Quellenkritik und auch Selbstkritik des Autors einschließt. Wobei anzumerken ist, daß Willi Schröder seinen eigenen Beitrag zur Erschließung des Schnepfenthaler Erbes nur andeutet. In Wirklichkeit ist dieser Beitrag bedeutend gewesen - auch im Hinblick auf die Überwindung von Einengungen und Einseitigkeiten in der Erberezeption des DDR-Sports, die sich im wissenschaftlichen Meinungsstreit im Laufe der Zeit vertieft und verbreitert hat, ohne die wissenschaftliche Souveränität zu erreichen, die notwendig gewesen wäre, um ohne prinzipielle Selbstkritik zurückblicken zu können.
Der wissenschaftliche Apparat (Quellennachweise und ausgewählte Literatur) enthält das wissenschaftlich Notwendige. Der Spezialist, der sich sicher mehr davon gewünscht hätte, findet
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in den Anmerkungen viele Hinweise, die ihm helfen können, Einzel-heiten nachzugehen.
Es ist zu hoffen., daß Schröders Buch - neben der großen fach-lichen Bereicherung und dem Lesevergnügen - auch bewirkt, daß frühere DDR-Fachkollegen - trotz "Abwicklung", Entlassung oder anderer "Beitritts"-Diskriminierungen - angeregt werden, vor-handene oder neu gewonnene Forschungsergebnisse in geeigneter Form einem größeren Kreis zugängig zu machen, und zwar auch dann, wenn es nicht in Form eines Standardwerkes geschehen kann wie die hier vorgestellte Biographie.
Neben dem Autor ist auch dem Verlag und allen, die der Veröffent-lichung dienlich waren, ausdrücklich zu danken.
SCHRÖDER, Willi: Johann Christoph Friedrich GutsMuths: Leben und Wirken des Schnepfenthaler Pädagogen. -
Sankt Augustin: Academia-Verlag, 1996. 192 Seiten, 14 Abb. 48,00 DM - ISBN 3 - 88345 - 447 - 8
Günther Wonneberger
LITERATUR:
Elliptische Tretmühle
Von Egon Erwin Kisch
In der neuen Berliner Radsporthalle an der Landsberger Allee fand im Januar 1997 ein Sechstagerennen statt, das als 86. an der Spree ausgegeben wurde, bei Berücksichtigung der in der Werner-Seelenbinder-Halle ausgetragenen Amateurrennen aber bereits das 100. war. Egon Erwin Kisch war 1923 zum 10. Berliner Sechstagerennen nach Berlin gekommen und schrieb danach seine literarische Reportage „Elliptische Tretmühle“, die an die Zeiten erinnert, in denen die Rennfahrer noch pausenlos sechs Tage und sechs Nächte auf der Bahn waren. Kischs Sprache macht die Wortarmut der Sportjournalistik unserer Tage in erschreckendem Maße deutlich.
„Zum zehnten Male, Jubiläum also, wütet im Sportpalast in der Potsdamer Straße das Sechstagerennen. Dreizehn Radrennfahrer, jeder zu einem Paar gehörend, begannen am Freitag um neun Uhr abends die Pedale zu treten, siebentausend Menschen nahmen ihre teuer bezahlten Plätze ein, und seither tobt Tag und Nacht, Nacht und Tag das wahnwitzige Karussell. An siebenhundert Kilometer legen die Fahrer binnen vierundzwanzig Stunden zurück, man hofft, sie werden den Weltrekord drücken, jenen historischen Weltrekord, als in sechs nächtelosen Tagen von 1914 zu Berlin die Kleinigkeit von 4260,960 Kilometern zurückgelegt wurde, worauf der Weltkrieg ausbrach.
Sechs Tage und sechs Nächte lang schauen die dreizehn Fahrer nicht nach rechts und nicht nach links, sondern nur nach vorn, sie streben vorwärts, aber sie sind immer auf dem gleichen Fleck, immer in dem Oval der Rennbahn, auf den Längsseiten oder auf den fast senkrecht aufsteigenden Kurven, unheimlich übereinander, manchmal an der Spitze des Schwarmes, manchmal an der Queue und manchmal - und dann brüllt das Publikum: ‘Hipp,
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hipp!’ - um einige Meter weiter; wenn aber einer eine Runde oder zwei voraus hat, ist er wieder dort, wo er war, er klebt wieder in dem Schwarm der Dreizehn. So bleiben alle auf demselben Platz, während sie vorwärtshasten, während sie in rasanter Geschwindigkeit Strecken zurücklegen, die ebensolang sind wie die Diagonalen Europas, wie von Konstantinopel nach London und von Madrid nach Moskau. Aber sie kriegen keinen Bosporus zu sehen und keinen Lloyd George, keinen Eskurial und keinen Lenin, nichts von einem Harem und nichts von einer Lady, die auf der Rotten-Row im Hydepark reitet, und keine Carmen, die einen Don José verführt, und keine Sozialistin mit kurzem, schwarzem Haar und Marxens ‘Lehre vom Mehrwert’ im Paletot. Sie bleiben auf derselben Stelle, im selben Rund, bei denselben Menschen, - ein todernstes, mörderisches Ringelspiel. Und wenn es zu Ende, die hundertvierundvierzigste Stunde abgeläutet ist, dann hat der Erste, der, dem Delirium tremens nahe, lallend vom Rade sinkt, den Sieg erfochten, ein Beispiel der Ertüchtigung.
Sechs Tage und sechs Nächte drücken dreizehn Paar Beine auf die Pedale, das rechte Bein aufs rechte Pedal, das linke Bein auf das linke Pedal, sind dreizehn Rücken abwärts gebogen, während der Kopf ununterbrochen nickt, einmal nach rechts, einmal nach links, je nachdem welcher Fuß gerade tritt, und dreizehn Paar Hände tun nichts, als die Lenkstange halten; manchmal holt ein Fahrer unter dem Sitz eine Flasche Limonade hervor und führt sie an den Mund, ohne mit dem Treten aufzuhören, rechts, links, rechts, links. Ihre dreizehn Partner liegen inzwischen erschöpft in unterirdischen Boxes und werden massiert. Sechs Tage und sechs Nächte. Draußen schleppen Austrägerinnen die Morgenblätter aus der Expedition, fahren die ersten Waggons der Straßenbahnen aus der Remise, Arbeiter gehen in die Fabriken, ein Ehemann gibt der jungen Frau den Morgenkuß, ein Polizist löst den anderen an der Straßenecke ab, ins Café kommen Gäste, jemand überlegt, ob er heute die grauschwarz gestreifte Krawatte umbinden soll oder die braungestrickte, der Dollar steigt, ein Verbrecher entschließt sich endlich zum Geständnis, eine Mutter prügelt ihren Knaben, Schreibmaschinen klappern, Fabriksirenen tuten die Mittagspause, im Deutschen Theater wird ein Stück von Georg Kaiser gegeben, das beim Sechstagerennen spielt, der Kellner bringt das Beefsteak nicht, ein Chef entläßt einen Angestellten, der vier Kinder hat, vor
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der Kinokasse drängen sich hundert Menschen, ein Lebegreis verführt ein Mädchen, eine Dame läßt sich das Haar färben, ein Schuljunge macht seine Rechenaufgaben, im Reichstag gibt es Sturmszenen, in den Sälen der Philharmonie ein indisches Fest, in den Häusern sitzen Leute auf dem Klosett und lesen die Zeitung, jemand träumt, bloß mit Hemd und Unterhose bekleidet, in einen Ballsaal geraten zu sein, ein Gymnasiast kann nicht schlafen, denn er wird morgen den Pythagoräischen Lehrsatz nicht beweisen können, ein Arzt amputiert ein Bein, Menschen werden geboren und Menschen sterben, eine Knospe erblüht und eine Blüte verwelkt, ein Stern fällt und ein Fassadenkletterer steigt eine Häuserwand hinauf, die Sonne leuchtet und Rekruten lernen schießen, es donnert und Bankdirektoren amtieren, im Zoologischen Garten werden Raubtiere gefüttert und eine Hochzeit findet statt, Mond strahlt und die Botschafterkonferenz faßt Beschlüsse, ein Mühlenrad klappert und Unschuldige sitzen im Kerker, der Mensch ist gut und der Mensch ist schlecht, - während die Dreizehn, ihren Hintern auf ein sphärisches Dreieck aus Leder gepreßt, unausgesetzt rundherum fahren, unaufhörlich rundherum, immerfort mit kahlgeschorenem Kopf und behaarten Beinen nicken, rechts, links, rechts, links.
Gleichmäßig dreht sich die Erde, um von der Sonne Licht zu empfangen, gleichmäßig dreht sich der Mond, um der Erde Nachtlicht zu sein, gleichmäßig drehen sich die Räder, um Werte zu schaffen, - nur der Mensch dreht sich sinnlos und unregelmäßig beschleunigt in seiner willkürlichen, vollkommen willkürlichen Ekliptik, um nichts, sechs Tage und sechs Nächte lang. Der Autor von Sonne, Erde, Mond und Mensch schaut aus seinem himmlischen Atelier herab auf das Glanzstück seines Oeuvres, auf sein beabsichtigtes Selbstporträt, und stellt fest, daß der Mensch - so lange wie die Herstellung des Weltalls dauerte - einhertritt auf der eig'nen Spur, rechts, links, rechts, links, - Gott denkt, aber der Mensch lenkt, lenkt unaufhörlich im gleichen Rund, wurmwärts geneigt das Rückgrat und den Kopf, um so wütender angestrengt, je schwächer seine Kräfte werden und am wütendsten am Geburtstage, dem sechsten der Schöpfung, da des Amokfahrers Organismus zu Ende ist, und hipp, hipp, der Endspurt beginnt. Das hat Poe nicht auszudenken vermocht: daß am Rand seines fürchterlichen Mahlstroms eine angenehm erregte
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Zuschauermenge steht, die die vernichtende Rotation mit Rufen anfeuert, mit Hipp-Hipp! Hier geschieht es, und hier erzeugen sich zweimal dreizehn Opfer den Mahlstrom selbst, auf dem sie in den Orkus fahren.
Ein Inquisitor, der solche Tortur, etwa ‘elliptische Tretmühle’ benamst, ausgeheckt hätte, wäre im finstersten Mittelalter selbst aufs Rad geflochten worden, - ach, auf welch ein altfränkisches, idyllisches Einrad! Aber im zwanzigsten Jahrhundert muß es Sechstage-Rennen geben. Muß! Denn das Volk verlangt es. Die Rennbahn mit den dreizehn strampelnden Trikots ist Manometerskala einer Menschheit, die mit Wünschen nach äußerlichen Sensationen geheizt ist, mit dem ekstatischen Willen zum Protest gegen Zweckhaftigkeit und Mechanisierung. Und dieser Protest erhebt sich mit der gleichen fanatischen Sinnlosigkeit, wie der Erwerbstrieb, gegen den er gerichtet ist. ... Ist es ein Unfall, wenn der Holländer Vermeer in der zweiten Nacht in steiler Parabel vom Rad saust, mitten ins Publikum? Nein: out. Ändert es etwas, daß Tietz liegenbleibt? Nein, es ändert nichts, wenn die Roulettekugel aus dem Spiel schnellt. Man nimmt eine andere. Wenn Einer den Rekord bricht, so wirst du Beifall brüllen, wenn einer den Hals bricht - was geht's dich an? Hm, ein Zwischenfall. Oskar Tietz war Outsider vom Start an. Das Rennen dauert fort. Die lebenden Roulettebälle rollen. ‘Hipp, Huschke! Los Adolf!’ - ‘Gib ihm Saures!’ ‘Schiebung!’
Von morgens bis mitternachts ist das Haus voll, und von mitternachts bis morgens ist der Betrieb noch toller... Im Innenraum sind zwei Bars mit Jazzbands, ein Glas Champagner kostet dreitausend Papiermark, eine Flasche zwanzigtausend Papier-mark. Nackte Damen in Abendtoilette sitzen da, Verbrecher im Berufsanzug (Frack und Ballschuhe), Chauffeure, Neger, Aus-länder, Offiziere und Juden. Man stiftet Preise. Wenn der Spurt vorbei ist, verwendet man die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Kurve, sondern auf die Nachbarin, die auch eine bildet. Sie lehnt sich in schöner Pose an die Barriere, die Kavaliere schauen ins Decolleté, rechts, links, rechts, links. Das Sechstagerennen des Nachtlebens ist es. Im Parkett und auf den Tribünen drängt sich das werktätige Volk von Berlin, Deutschvölkische, Sozialdemokraten, rechts, links, rechts, links, alle Plätze des Sportpalastes sind seit vierzehn Tagen ausverkauft, Logen und
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Galerien lückenlos besetzt, rechts, links, rechts, links, Bezirke im Norden und Süden müssen entvölkert sein, Häuser leerstehen, oben und unten, rechts und links... Es gehört zur Ausnahme, daß das Vergnügen vorzeitig unterbrochen wird, wie zum Beispiel das des sportfreudigen Herrn Wilhelm Hahnke, aus dem Hause Nr. 39 der Schönhauser Straße. Am dritten Renntage verkündete nämlich der Sprecher durch das Megaphon rechts, links, rechts, links, den siebentausend Zuschauern: ‘Herr Wilhelm Hahnke, Schönhauser Straße 39, soll nach Hause kommen, seine Frau ist gestorben.’“
ZITATE:
„Sportmedaillen sind ein nationales Anliegen“
Bundesinnenminister Manfred Kanther gab im Deutschlandfunk ein aufschlußreiches Interview. Aufschlußreich sowohl was die Intentionen der Bundesregierung gegenüber dem Sport betrifft als auch was die Methoden betrifft, mit denen die Bundesregierung diese Intentionen durchsetzt. Unser Auszug umfaßt etwa ein Achtel des Interviews.
DEUTSCHLANDFUNK: Das neue Konzept der Leistungsstützpunkte im deutschen Sport - Sie haben's gefordert und Sie haben's bekommen. Die Koordinierung der Sportwissenschaft hatten Sie verlangt - und nach einer Haushaltssperre ist auch dies durchgesetzt worden. Und jetzt als jüngstes Beispiel das Trainerkonzept: Es wurde geliefert, - die angedrohte 5 Millionen-Sperre mußte gar nicht erst beigezogen werden. Was sagt denn die Führung des Deutschen Sportbundes zu dieser Art politischer Vorgabe?
Manfred Kanther: Na, das nenne ich nicht politische Vorgabe, wäre auch nicht mein Verständnis von der Subsidiarität, der Nachrangigkeit des Staates in diesen Fragen. Etwas anderes ist geschehen: Mit dem Druckmittel der Haushaltssperre haben die Haushälter das Verfahren beschleunigt. Große Institutionen mit langen Übungen haben es oft auch an sich, daß die Besitzstände geheiligt sind. Wenn sich nichts ändert, beschwert sich auch niemand ...
DEUTSCHLANDFUNK: ... Sie meinen den unbeweglichen Tanker Deutscher Sportbund?
Manfred Kanther: "Es gibt viele große Tanker in unserem Lande, denen wir im Augenblick ein bißchen mehr Fahrt beibringen müssen... Und wenn das Geld knapp wird, dann ist es die Aufgabe der Regierung, dafür zu sorgen, daß es so effizient wie möglich ausgegeben wird... die Steuerbürger
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wollen dieses Geld umgewandelt sehen in große, erstklassige, sportliche Leistungen...
DEUTSCHLANDFUNK: Stichwort Effektivität und damit zu einem anderen aktuellen Ereignis, zu einer anderen aktuellen Frage: Ist dieses Nebeneinander von Deutschem Sportbund, Nationalem Olympischen Komitee, Stiftung Deutsche Sporthilfe, auch noch ein bißchen Deutsche Olympische Gesellschaft - ist das nach Ihrer Auffassung noch zeitgemäß?
Manfred Kanther: Das ist eine Frage, über die viel philosophiert wird und zum Beispiel ein Punkt, in dem ich derzeit nicht glaube, daß der Staat die Vorgaben machen sollte. Die Beteiligten atmen den gleichen Geist, wir wollen den deutschen Sport in der Welt vorzeigen können. Wir wollen im Wettkampf gewinnen...
DEUTSCHLANDFUNK: ... Sind Sportmedaillen ein wichtiges, ein sehr wichtiges nationales Anliegen?
Manfred Kanther: Ja, sie sind ein nationales Anliegen. Sie sind in einem Teilaspekt Ausweis des Leistungsvermögens eines Volkes. Und daß Siege dann das Volk begeistern, finde ich ganz natürlich...
DEUTSCHLANDFUNK: Nun erleben im Augenblick die Kinder- und Jugend-Sportschulen der DDR eine gewisse Renaissance...
Manfred Kanther: Dieses Vorbild finde ich nicht gut. Denn Sport, auch Spitzensport und Medaillen, sind in meinen Augen nichts, was krampfhaft herbeigeführt werden darf. Dann gelingt auch nichts. Ich kann nicht erkennen, daß die Dressurakte gegenüber Kindern, mit denen sich zehn Jahre später der Staat im Systemvergleich schmücken will, ein humaner Ansatz für den Sport ist. Etwas ganz anderes ist es, Kindern kindgerecht, frühzeitig Gelegenheit zum Training zu geben, sie gut zu leiten, dieses auch in besonderen Schulen zu tun, und an den Schulen zum Beispiel Leistungskurse in Sport anzubieten...
DEUTSCHLANDFUNK: Nun hat sich ja die Welt seit 1989 spätestens verändert, den Wettkampf der Systeme von Ost und
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West gibt es nicht mehr. Tut der Sport nicht so im internationalen Vergleich, als ob es diese Veränderung nie gegeben habe?
Manfred Kanther: Nein, das finde ich eigentlich nicht. Wir haben ja mit dem Aufdecken der Karten nach 1989, was die östlichen Sportsysteme angeht, viele höchst unerfreuliche Einblicke erfahren. Die Dopingseite oder die Dressur von Kindern zu sportlichen Höchstleistungen, die dann zurückbleiben im Grunde genommen in menschlich und körperlich betrüblicher Verfassung. Das alles ist ja nie unsere Sportwelt gewesen, darf es auch nicht werden...
DEUTSCHKLANDFUNK: Also, die von Ihnen beschriebene Gradlinigkeit wird ja nicht von jedem gesehen. Nach wie vor gibt es ja doch eine Vielzahl von Stasi-Mitarbeitern und Doping-Verabreichern, die im deutschen Sport tätig sind... Hat man nicht gelegentlich den Eindruck, daß Bonn in diesem Punkt ein bißchen resigniert hat, was die Vergan-genheitsbewältigung betrifft?
Manfred Kanther: Nein, wissen Sie, wir haben Gottseidank eine unblutige Revolution hinter uns. Wir haben an der einen oder anderen Stelle PDS-Bürgermeister und betrübliches Wahlabschneiden der Ex-Kommunisten. Und nun wäre es ein Wunder, wenn es an der einen oder anderen Stelle solche Erscheinungen auch im deutschen Sport gäbe, wo es sie in der Politik oder in der Wirtschaft oder in der Kultur auch gibt...
Zu Dopingforschungen in der BRD 1968
Wie aktuellen Zeitungsmeldungen zu entnehmen war, soll demnächst ein Doping-Prozeß gegen Ärzte, Trainer und Funktionäre des DDR-Sports in Gang gesetzt werden. Diesen Nachrichten zufolge, stützt sich die Anklage vornehmlich auf Akten, die ihr die Gauck-Behörde zur Verfügung stellte. Deren fachliche Qualifikation in diesen Fragen wird gemeinhin angezweifelt. Wir zitieren eine wissenschaftliche Arbeit,
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veröffentlicht im November 1968 im Offiziellen Organ des „Deutschen Sportärztebundes e.V.“(11/1968) mit dem Hinweis: „Aus der Sportmedizinischen Abteilung des Staatlichen Hochschulinstituts für Leibeserziehung Mainz (Direktor: Prof. Dr. B. Wischmann)“ Der Autor der mit „Über den Einfluß anaboler Wirkstoffe auf Körpergewicht, Muskelkraft und Muskeltraining“ überschriebenen Untersuchung ist Manfred Steinbach. Der in den fünfziger Jahren in der DDR- und in den sechziger Jahren in der BRD-Nationalmannschaft startende Leichtathlet promovierte und habilitierte als Sportmediziner und wurde später hochrangiger Regierungsbeamter in Bonn.
Seit erdenklichen Zeiten bemüht sich der Mensch um einen wohlgeformten Körper und um optimale Körperfunktionen. Beim Manne spielen dabei Muskelprofil und Muskelkraft eine hervorstechende Rolle... Heute wissen wir, daß Wachstum und Differenzierung der Gewebe, hier speziell der Muskulatur im Rahmen der erblich abgesteckten Möglichkeiten (Nöcker) durch die androgenen Hormone stattfinden. Als deren biologisch wirksamstes hat sich das in den Leydigschen Zellen des Hodens entstehende Steroid Testosteron erwiesen, dessen Stoffwechsel unter anderem zum Auftreten von Andosteron (Butenandt) im Harn führt. Neben den Hoden sind aber auch die Nebennierenrinden zur Produktion androgener Steroide in der Lage, allerdings sind diese der biologischen Wirksamkeit des Steroids Testosteron unterlegen... Der Leistungssportler unserer Tage ist nun auf diese Sachverhalte gestoßen und dabei, sich in steigendem Maße diese Chance zunutze zu machen, um eventuell mit geringerem Training gleiches oder bei gleich intensivem Training mehr zu erreichen. Es steht außer Zweifel, daß wir es hier mit einer Variante des Dopings zu tun haben, nicht ohne Grund finden sich die zitierten Ergebnisse Hettingers in
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einem „Doping“ genannten Sammelwerk... Viele der besten Sportler glauben ziemlich fest daran, daß manche aufsehenerregende Leistung unserer Tage unter Beteiligung entsprechender Präparate erfolgt ist, zumal in Einzelfällen auch schier unfaßbare Aufbesserungen im Körperbau imponieren. In erklärlicher Sorge, nun ins Hintertreffen zu geraten, wird der Sportarzt ständig mit entsprechenden Wünschen von den Athleten angegangen... Diese Tendenzen im Verein mit einer gewissen Unsicherheit, inwieweit die vorwiegend gebrauchten und verlangten Substanzen überhaupt geeignet sind, den gewünschten Effekt hervorzurufen, gaben den Anstoß zur vorliegenden Untersuchung. Unangestastet bleibt dabei die Tatsache, daß nach unseren derzeitigen Bestimmungen jede Applikation derartiger Substanzen ebenfalls als Doping gelten muß, wenngleich andererseits erhebliche Schwierigkeiten entstehen dürften, wenn es darum geht, etwa in der Sommersaison die Anwendung von Hormonen in der winterlichen Vorbereitungsphase nachzuweisen... In einer 1959 veröffentlichten experimentellen Untersuchung stellen Desaulles und Mitarbeiter mehrere Anabolica vor. Dabei handelt es sich um 17-alpha-Methyl-17-beta-hydroxy-androsta-1-4-dien-3-on (Dianabol), 17-alpha-Aethyl-19-nor-testosteron, 19-nor-testosteron-phenylpropionat und 4-chlor-testosteronacetat. Es war in der Tat gelungen, bei den einzelnen Substanzen zwar recht unterschiedlich, immerhin aber einheitlich auf den Anabolismus ausgerichtete Medikamente zu erstellen... Wir hatten uns vorgenommen, die Wirkung von 17-alpha-Methyl-17-beta-hydroxy-androsta-1-4-dien-3-on (Dianabol) auf das Körpergewicht und die Muskelkraft bei gesunden Jugendlichen festzustellen. Darüber hinaus galt es, Trainingseffekte auf die Arm- und Beinkraft mit und ohne das Präparat zu ermitteln. Zu diesem Zweck wurden 125 Jungen im Alter von 17 - 19 Jahren 3,5 Monate lang in einer Untersuchungsreihe erfaßt... Jeweils 13
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Probanden der Gruppen C und D beschränkten sich dabei auf das Beintraining, die restlichen 12 auf ein Armtraining... Wir halten fest, daß das verabfolgte Anabolicum die Zunahme des Körpergewichts deutlich heraufsetzt... Bedeutsam aber ist die Tatsache einer einwandfreien Erhöhung der Armkraft-Zuwachsrate bei ebenfalls nur 40prozentiger Belastung und gleichzeitiger Dianabolgabe... Abgesehen von einem Fall mit leichter Akne und 2-3 Fällen mit leichten vegetativen Störungen, deren Verursachung durch das Anabolicum keinesfalls als erwiesen anzusehen ist, waren keine Nebenwirkungen zu beobachten. Sichtbare Veränderungen oder Funktionsbeeinflussungen im Sexualbereich traten nicht in Erscheinung... gelingt es tatsächlich, bei verminderter Trainingsbelastung die Ergebnisse zu erreichen, die sonst erst bei stärkerem Training auftreten. Durch gezieltes Training eines Organes, etwa des rechten Armes, wodurch dieser isoliert zu kärftigen ist, kann auch der Dianaboleffekt dorthin verlagert werden, dem zufolge eine Potenzierung der reinen Trainingswirkung möglich wird... Nach bisherigen Beobachtungen erweist sich das Anabolicum als ziemlich ungefährlich, dennoch ist es, falls Indikationen gegeben sind, nur unter strenger ärztlicher Aufsicht zu verordnen.
Sportarzt und Sportmedizin; Köln, 11/1968
Wo gehobelt wird, geschieht mit
Stasi-Akten nicht nur Objektives
Der Sport war seit der Gründung der Gauck-Behörde 1990 von den Folgen der Sensationslust der Medien häufig betroffen und wird es immer wieder, meist rigoroser als politische, wissenschaftliche oder kulturelle Gesellschaftsbereiche. Die allgemeine Popularität des Sports und die Schnelligkeit, mit der dessen Akteure im guten wie im schlechten einen hohen Bekanntheitsgrad erreichen können, beförderten den Sport zu einer bevorzugten Bühne für Stasi- und damit korrespondierende Doping-Bezichtigungen. Bei annähernd allen diesbezüglichen Recherchen dienten die Stasi-Akten als Alibi
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für die Verletzung des Objektivitätsprinzips, neben belastenden auch entlastende Fakten zu suchen. Öffentliche Beschuldigungen und Verurteilungen früherer Spitzensportler, Trainer, Mediziner und Wissenschaftler des DDR-Sports erfolgten in den Medien meist ohne Wertung der individuellen Sachverhalte, ohne Berücksichtigung der vom damaligen Machtapparat ausgeübten Zwänge und ohne hinreichende Unterscheidung zwischen den verantwortlichen Schuldigen, und ihren mehr oder minder freiwillig tätigen Handlungsgehilfen. Die im Einzelfall daraus resultierenden Ansehensbeschädigungen und beruflichen Konsequenzen sprechen nicht generell gegen die Gauck-Behörde, mindern jedoch die Zufriedenheit mit ihren Verfahrensweisen. Wieder bewahrheitet sich die Richtigkeit eines Sprichworts: Wo gehobelt wird fallen Späne. Aber längst nicht jeder, der den Hobel führt, ist ein Humanist im Dienst des Rechtsfriedens.
Willi Ph. Knecht
Sächsische Zeitung, Dresden, 26./27. Oktober 1996
21 Mannschaften auf einem Platz
...Wer ist denn die öffentliche Hand? Das ist doch ein System zur Organisation unseres gesellschaftlichen Lebens. Dafür zahlen wir unsere Steuern. Nach wie vor sind wir eins der reichsten Länder der Erde. Es geht um die Prioritäten bei der Verwendung der Steuermittel. Und es ist ja nicht so, daß der Sportstättenbau nur die Kommunen angeht, die im Geld schwimmen. Soweit Anlagen des Schulsports betroffen sind, handelt es sich um eine staatliche Pflichtaufgabe. Solche Anlagen werden nach Schulschluß auch von Sportvereinen frequentiert. Diese Mehrfachvergabe ist vorbildhaft und zeigt, wie effektiv öffentliche Infrastruktur genutzt werden kann.
Gerade in den neuen Ländern muß darauf hingewiesen werden, daß Sportstätten häufig das einzige sinnvolle Freizeitgestaltung für Kinder und Jugendliche ermöglichen. Hier ist nicht Sparen angesagt, sondern eine Verstärkung der Anstrengungen zur Schaffüng eines zeitgemäßen Angebots, auch im Interesse einer sparsamen Haushaltspolitik. Denn andernfalls drohen ungeplante Ausgaben durch Desorientierung und Langeweile der Jugendlichen bis hin zu Vandalismus und Kriminalität. Eine neue Offensive im
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Sportstättenbau hat also nicht zuletzt auch eine sozial- und jugendpolitische Begründung... Das Sprichwort „Not macht erfinderisch" wird hier erneut bestätigt. Die Sportlerinnen und Sportler in den neuen Bundesländern haben ja nicht etwa klagend die Hände in den Schoß gelegt, sondern sie haben tatkräftig und kreativ versucht, das Beste aus einer schlechten Situation zu machen. Ich kenne Beispiele, wo auf einem einzigen Fußballfeld 21 Mannschaften trainieren und spielen, beim Training vier gleichzeitig.
Dr. Hans-Georg Moldenhauer, Vizepräsident des DSB, zuständig für die neuen Bundesländer
DSB PRESSEDIENST 21.Januar 1997
Die Nazis brachten
Nationalspieler Hirsch um
Olympische Spiele 1912 in Stockholm: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft trifft auf Rußland. Es wird das Spiel zweier Rekorde: das 16:0 ist bis heute der höchste Länderspielsieg einer deutschen Mannschaft und zehn Tore, wie sie damals der Karlsruher Gottfried Fuchs schoß, hat kein deutscher Spieler mehr in einer Partie erzielt.
Der am 3. Mai 1889 in Karlsruhe geborene Fuchs zählte zu den besten deutschen Fußballern vor dem Ersten Weltkrieg. Mit Fritz Förderer und Julius Hirsch bildete er das seinerzeit berühmte Karlsruher Sturmtrio, das 1910 mit dem KFV deutscher Meister wurde. In der Nationalelf hatte Fuchs es mit starken Konkurrenten zu tun; so kam er nur auf elf Länderspiele, das letzte am 23. November 1913. Nach dem Krieg wechselte Fuchs zum Düsseldorfer SC.
Neben Fuchs war sein damaliger Karlsruher Kollege Hirsch Deutschlands zweiter und bis heute letzter Nationalspieler jüdischen Glaubens. Der 1892 ebenfalls in Karlsruhe geborene Hirsch gab 1911 bei der 1:4-Niederlage gegen Ungarn sein Debüt im Team des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). 1913 schloß sich der Außenstürmer der Spielvereinigung Fürth an, mit der er 1914 Deutscher Meister wurde. Nach dem Krieg wechselte Hirsch wieder zum KFV und blieb dort bis 1925.
Der Leidensweg für Gottfried Fuchs und Julius Hirsch begann mit der Herrschaft der Nazis. Am 10. April 1933 reichte Hirsch sein
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Austrittsgesuch beim Karlsruher FV ein: „Ich lese heute, daß der KFV einen Entschluß gefaßt hat, daß die Juden aus den Sportvereinen zu entfernen seien“, begründete er „bewegten Herzens“ seinen Austritt und wies darauf hin, „daß es in dem heute so gehaßten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene deutsche Juden“ gibt. 1918 war sein Bruder Leopold im Weltkrieg für Deutschland gestorben.Zwar versuchten die KFV-Verantwortlichen, Hirsch zu halten, sie beugten sich aber schließlich höheren Anweisungen: Hirsch mußte den KFV verlassen. Kurz darauf verlor er auch seinen Arbeitsplatz. 1933/34 arbeitete er kurzzeitig als Trainer im Elsaß. Bewerbungen um Trainerstellen in Colmar und Charleville wurden allerdings negativ beschieden. 1937 entschloß Fuchs sich zur Flucht; es gelang ihm, nach Kanada zu emigrieren. Sein Torrekord wurde aus den Ranglisten des deutschen Fußballs gestrichen, er selbst wurde zur Unperson erklärt.
Hirsch blieb in Deutschland und arbeitete zwischen 1937 und 1938 als Hilfslohnbuchhalter für eine jüdische Firma in Ettlingen-Maxau. Im Juli 1938 sprang Hirsch nach einem Verwandtenbesuch in Frankreich aus dem fahrenden Zug und wurde in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Als er wenige Tage später von den Ereignissen der Reichsprogromnacht erfährt, verschlimmerte sich seine psychische Situation weiter. Um seine evangelische Frau zu schützen, reichte er 1939 die Scheidung ein. Aber er vereinsamte noch mehr...
Im Februar 1943 wurde Julius Hirsch mitgeteilt, daß er sich zu einem „Arbeitseinsatztransport“ einzufinden habe. In der Überzeugung, daß die Gerüchte über den Massenmord an den Juden nicht der Wahrheit entsprachen und ihm nichts passieren könne, schlug er das Angebot eines befreundeten Lokführers, ihn aus Deutschland rauszubringen, aus. Am 1. März 1943 wurde Hirsch abgeholt und nach Auschwitz abtransportiert. Zwei Tage später verschickte er sein letztes Lebenszeichen: eine Postkarte an seine Tochter Esther. Danach verlieren sich alle Spuren; es ist nicht einmal bekannt, ob Hirsch in Auschwitz ankam. Seine Kinder Heinold und Esther, die als „Mischlinge 1. Grades" am 14. Februar 1945 ins KZ Theresienstadt deponiert wurden, überlebten. 1950 erklärte das Amtsgericht Karlsruhe Hirsch mit Datum vom 8. Mai 1945 für tot und verfügte eine „Entschädigung“ von 3450 Mark.
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Erst in den späten 50er Jahren erinnerte man sich in Deutschland wieder an die Karlsruher, und die Statistiken des DFB wurden berichtigt. Sepp Herberger persönlich hatte sich für den vergessenen Torjäger Gottfried Fuchs eingesetzt. Als 1955 zum ersten Mal eine deutsche Nationalelf in der Sowjetunion antrat, ließ er zur Erinnerung an den zehnfachen Torschützen von 1912 eine Grußkarte nach Kanada unterschreiben. Doch Fuchs kam nicht mehr zurück in das Land, in dem er erst gefeiert und dann verfolgt wurde. Er starb 1972 in Montreal. Im Nachruf der lokalen Karlsruher Zeitung hieß es: „Politische Ereignisse zwangen ihn dazu, seine Heimat zu verlassen.“
Peter Mast
Frankfurter Rundschau, Frankfurt/Main 26.2.97
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GEDENKEN:
Hugo Döbler
Am 29. September 1996 verstarb im Alter von 70 Jahren der verdienstvolle Hochschullehrer und international anerkannte Sportwissenschaftler Prof. Dr. Hugo Döbler infolge eines Herzversagens.
Er gehörte zu den ersten Sportstudenten der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK). Nachdem er das Studium aktiv-schöpferisch mitgestaltete und als einer der Besten mit dem Diplom 1952 abschloß, wurde in einer dreijährigen wissenschaftlichen Aspirantur die Qualifizierung fortgesetzt. Dabei nahm er auch bereits Lehraufträge wahr. In der Aspirantur erarbeitete er seine Dissertationsschrift beim Altvater der Bewegungslehre in Leipzig, Prof. Dr. Kurt Meinel. Das Thema "Die Kombinationsmotorik im Sportspiel" zeigte bereits, welche Richtung in der Sportwissenschaft ihn besonders interessierte. Sein ständig eng mit der DHfK verbundenes Berufsleben war der Theorie und Methodik der Sportspiele gewidmet.
Auch in der eigenen Sportpraxis wandte er sich den Sportspielen zu. Er bewies dabei Können und Vielfalt, was den theoretischen Leistungen zugute kam. Die gesuchte enge Verbindung von Theorie und Praxis kam auch durch die frühzeitig aufgenommene und vielseitige Trainertätigkeit zum Ausdruck. Sie begann in der Sektion Rugby der Hochschulsportgemeinschaft der DHfK, führte über die Trainertätigkeit in der Eishockeynationalmannschaft und ging hin bis zur Cheftrainertätigkeit im Fußballverband der DDR. So hatte er auch Anteil am Olympiasieg der DDR-Fußball-Nationalelf in Montreal (1976).
Ständige aktive Betätigung und Übernahme von Aufgaben in den Spielsportverbänden brachten ihm Freude, Erfolge, Ehrungen - aber vor allem einen Erfahrungsschatz, der eine tragfähige Grundlage für seine Theoriebildung und Lehre sowie seine umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten war.
Gemeinsam mit seinem hohen Selbstanspruch, der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sowie seiner beispielgebenden Kommunikationsfähigkeit ergab sich folgerichtig eine
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beeindruckende Laufbahn als Hochschullehrer und Wissenschaftler.
An der Leipziger Sporthochschule hatte er bereits in den Jahren 1956/57 die Leitung des Instituts Bewegungslehre inne, ab 1957 leitete er langjährig das Institut und den Wissenschaftsbereich Sportspiele sowie die Forschungsgruppe Sportspiele. In dieser Zeit erfolgten die Berufungen zum Hochschuldozenten 1961 und 1969 zum Professor für Theorie und Methodik der Sportspiele. Mit der Gründung von Sektionen an der DHfK übernahm er die Sektion, in der neben den Sportspielen die Kampfsportarten sowie Gymnastik und Turnen angesiedelt waren. Die übergreifende sportwissenschaftliche Arbeit wurde fortgesetzt in der erfolgreichen Tätigkeit als Dekan der Fakultät für Sportmethodik sowie als Prorektor für Wissenschaftsentwicklung.
Sein eigener Beitrag zur Wissenschaftsentwicklung war bedeutend. Es entstanden Ergebnisse aus seiner umfangreichen konzeptionellen und Forschungsarbeit. Er brachte sich mit ein bei der Betreuung von über 30 A- und B-Promoventen, die ohne Ausnahme voller Dank und Hochachtung ihres Betreuers gedenken.
An die 100 Veröffentlichungen stammen aus seiner Feder, davon 20 Buchveröffentlichungen als Haupt- oder Mitautor.
Der "Abriß einer Theorie der Sportspiele" (1969) ist als Beispiel einer gefragten Veröffentlichung zu nennen. Erarbeitet und erschienen war sie zunächst als Anleitung für das Fernstudium der DHfK 1969. Nachgedruckt wurde sie als grundsätzliches Studienmaterial zum Lehrgebiet Sportspiele. Sie diente zur Ausbildung nicht nur im nationalen Rahmen. Ein Hochschullehrbuch "Sportspiele" (1988) wurde von ihm in Zusammenarbeit mit G. Stiehler und I.Konzag erarbeitet, das als ein grundlegendes Werk für die Ausbildung von Sportlehrern und Trainern zählt. Er war als Mitautor für Lexika, viele Fachbücher und Sammelbände zur Sportwissenschaft gefragt.
Wenn Prof. Dr. Döbler sich auch den großen Sportspielen hauptsächlich zuwandte, so bezog seine Theoriebildung die Gesamtheit der Spiele ein, und er diente durch Veröffentlichungen auch dem Breiten-, Freizeit- und Gesundheitssport. Hier ist das Handbuch "Kleine Spiele" hervorzuheben. Das Buch, welches er zusammen mit seiner Frau Erika Döbler erarbeitete, erfuhr kurz vor seinem 70. Geburtstag die 20. Auflage. Es wurde auch in andere
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Sprachen übersetzt, u.a. ins Japanische. Durch herausragende wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Theorie und Methodik der Kleinen Spiele und der Sportspiele hat er im In- und Ausland hohe Anerkennung erworben.
Das Urteil von Prof. Dr. Döbler war in Fachkreisen gesucht. Er fertigte z.B. 70 Gutachten für Doktoranden an. Prof. Dr. Döbler fühlte sich mit einem großen Teil der Arbeitskollegen eng verbunden. Seine Aufrichtigkeit, das sich entwickelnde Vertrauen, seine Toleranz und sein Taktgefühl führten häufig dazu, daß aus Kollegen, Nachwuchswissenschaftlern, Mitstreitern in Theorie und Praxis oder anderweitigen Weggefährten Freunde wurden.
Sein Freundeskreis war groß und seine Ausstrahlung auf die Freunde war stark. Für seine Freunde waren Begegnungen mit ihm eine Bereicherung für Herz und Verstand. Wie er humanistische Bildung und feinfühliges Verhalten bewies, das war und ist beispielhaft. Gewürzt war das mit einem Schuß Humor, der aus der Tiefe seiner positiven Lebenseinstellung kam. Alle, die Prof. Dr. Döbler erleben durften, zollen ihm Hochachtung und spüren mit Betroffenheit den großen Verlust. Das Lebenswerk und die Verdienste von Prof. Dr. Döbler werden ebenso in steter Erinnerung bleiben wie seine außerordentlichen menschlichen Qualitäten.
Eberhard Schramm

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 5 / 1997
INHALT:
DISKUSSION / DOKUMENTATION
Olympische Spiele 1956 in Melbourne und die Deutschen
Gerhard Oehmigen 4
DOKUMENT
Bericht der BRD-Botschaft zur Olympiamannschaft 1956
(Auszüge) 10
DOKUMENT
Bericht des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR über die Teilnahme von DDR-Sportlern an den Olympischen Spielen 1956
(Auszüge) 22
Operation Friedensfahrt
Klaus Huhn 34
Fragen und Fragwürdiges
Margot Budzisch und Heinz Schwidtmann 43
Olympische Erinnerung Ost
Peter Frenkel 53
Olympische Erinnerung West
Hildegard Kimmich-Falck 55
INTERVIEW
Olympische Zukunft untersuchen
Sven Güldenpfennig 56
REPORT
"Verhör" eines Zeitzeugen
Roland Sänger 60
JAHRESTAGE
Gedanken eines Scheidenden
Baron Pierre de Coubertin 64
Bilder eines Lebens - Ernst Jokl
Kurt Franke 68
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Glückwunsch und Schatten - Georg Wieczisk
Klaus Eichler 72
Die furchtbare Münchner Nacht
Klaus Huhn 76
REZENSIONEN
Sport - eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst
Günter Witt 82
Sportgeschichte in Zahlen
Helmut Horatschke 88
Sächsiche Bergsteiger Geschichte
Vom Nudeltopp zur Ufo-Halle
Klaus Huhn 90
Thüringer Sportgeschichte
Roland Sänger 90
Goldkinder
Klaus Huhn 95
Die Brücke - Sonderausgabe einer Schulzeitung
Wolfgang Helfritsch 96
Nurmi oder die Reise zu den Forellen
Kurt Graßhoff 97
Die Anfänge des Turnens in Friedland
Gerhard Grasmann 99
Volleyball in Deutschland
Jörg Lölke 100
ZITATE
Botschafter unseres Landes 103
Schulsport
Muskel-Turbo
Rachefeldzug
Jan Ullrich
Sprüche
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DIE AUTOREN
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theo-rie der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994.
KLAUS EICHLER, geboren 1939, Chemie-Ingenieur, Vizepräsident des DTSB 1984 bis 1988, Präsident des DTSB 1988 bis 1990.
KURT FRANKE, Dr. sc. med., geboren 1926, Prof. für Chirur-gie/Traumatologie an der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR 1977 bis 1990, Chefredakteur der Zeitschrift "Medizin und Sport" 1961 bis 1980.
GERHARD GRASMANN, Dr. paed., geboren 1948, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Turn- und Sportgeschichte beim LSB Meck-lenburg-Vorpommern.
KURT GRAßHOFF, geboren 1911, Studiendirektor i.R., Turn- und Sportlehrer.
SVEN GÜLDENPFENNIG, Dr. phil. habil., geboren 1943, Wissen-schaftlicher Leiter des Deutschen Olympischen Institutes (DOI).
WOLFGANG HELFRITSCH, Dr. paed., geboren 1935, Lehrer und Sportwissenschaftler.
HELMUT HORATSCHKE, geboren 1928, Dipl.-Sportlehrer.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der DVS.
JÖRG LÖLKE, Dr. phil., geboren 1955, Mitglied im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft des LSB Thüringen.
ROLAND SÄNGER, geboren 1935, Sportjournalist, Pressechef des Deutschen Skiläufer-Verbandes (DSLV) 1979 bis 1990.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) und dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1970 bis 1990, Rektor der DHfK 1963 bis 1965.
HANS SIMON, Dr. sc. paed., geboren 1928, Hochschullehrer für Sportgeschichte an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1951 bis 1990, Mitglied der DVS.
GÜNTER WITT, Dr. phil. habil., geboren 1925, Prof. für Kulturtheo-rie und Ästhetik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1982 bis 1990.
DISKUSSSION/DOKUMENTATION
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Die Olympischen Spiele 1956 in Melbourne und die Deutschen
Von GERHARD OEHMIGEN
Mit der Entsendung einer gemeinsamen Olympiamannschaft von Sportlern beider deutscher Staaten zu den XVI. Olympischen Spie-len vom 22. November bis zum 8. Dezember 1956 in Melbour-ne/Australien war - nachdem bereits an den VII. Olympischen Win-terspielen in Cortina d'Ampezzo/Italien eine solche Mannschaft teilgenommen hatte - ein Tatbestand geschaffen worden, der bis Mitte der 60er Jahre Bestand hatte und erst mit den Olympischen Spielen 1968 überwunden war. Es war ein Tatbestand, - von au-ßen erzwungen - mit dem beide Seiten leben mußten, mit dem aber ebenso gewiß weder die DDR noch die BRD glücklich werden konnten. Wie beide deutsche NOK im Rahmen der politischen Doktrinen ihrer gesellschaftlichen Systeme in den Olympiajahren bis 1964 mit den gemeinsamen Mannschaften umgingen und wel-che taktischen Varianten im Prozeß ihrer Bildung jeweils zum Ein-satz kamen, steht auf einem anderen Blatt und soll nicht Gegen-stand dieser Darlegung sein, die sich ausschließlich auf die Olym-pischen Spiele in Melbourne und drei in direktem Bezug zu diesen stehenden offiziellen Dokumenten - einem Bericht des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR vom 23.1.1957 sowie zwei Berichten der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Canberra an das Auswärtige Amt der BRD vom 16. November 1956 und vom 12. Dezember 1956 mit Anlagen1) bezie-hen. Fest steht jedenfalls, der Beschluß des 50. IOC - Kongresses vom 18.6.1955 zur Bildung gemeinsamer Olympiamannschaften für die Olympischen Spiele 1956 und gar das Festhalten daran bis Mitte der 60er Jahre war angesichts der entstandenen politischen Realitäten ein Anachronismus, ignoriert er doch das Bestehen zweier selbständiger, von den Alliierten abgesegneter deutscher Staaten ebenso wie die eigenständige Entwicklung des Sports in diesen Staaten. Zustande kam er, weil die überwiegende Mehrheit der IOC-Mitglieder einerseits aus verschiedenen Gründen nicht gewillt war, diese Realitäten zu akzeptieren - oder sie auch nicht richtig einschätzte -, andererseits aber auch ein Ausgrenzen der Sportler der DDR von den Olympischen Spielen nicht länger mit-
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tragen wollte. Damit war der Sport in den Beziehungen zwischen BRD und DDR in eine Rolle gedrängt worden, mit der er von An-fang an und vor allem auf Dauer hoffnungslos überfordert sein mußte, die er jedoch zumindest zeitweilig mehr schlecht als recht tatsächlich ausfüllte. Auf keinem anderen gesellschaftlichen Gebiet - weder in der Kultur noch in der Wirtschaft und Politik - gab es zu dieser Zeit trotz eindeutig gegenläufiger politischer Entwicklungen derartig massive äußere Zwänge, scheinbare und mitunter auch reale Gemeinsamkeiten zu schaffen und zu demonstrieren wie im Sport. Immerhin war auf diese Weise ein Kompromiß gegeben, der beiden Seiten Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Ziele beließ, aber auch beide Seiten in ihren weitgehenden politischen Intentio-nen begrenzte. Der DDR war damit die einzige Möglichkeit eröff-net, mit leistungsstarken Sportlern an den Olympischen Spielen, die zu dieser Zeit die bedeutendste internationale Sportveranstal-tung und ein erstrangiges gesellschaftliches Ereignis waren, teilzu-nehmen und sich in diesem Rahmen darzustellen. Das Maximal-ziel, einer souveränen selbständigen Olympiamannschaft, über die internationale Akzeptanz und staatliche Anerkennung vorangetrie-ben werden konnte, war nicht erreicht worden. Für die BRD, deren Olympiateilnahme ja von vornherein feststand, bestand zumindest die Möglichkeit, als leistungsstärkerer Partner die Führung der Mannschaft zu beanspruchen und damit dem politischen Grundan-liegen auf Alleinvertretung wenigstens teilweise zu entsprechen. Darüber hinaus bestand immer noch die geringe Hoffnung, daß angestrebte Ziel, die Teilnahme des DDR-Sports an den Olympi-schen Spielen überhaupt zu verhindern oder bestenfalls DDR-Sportler in die Olympiamannschaft der BRD einzureihen, über eine Hintertür zu erreichen. War doch im offiziellen Protokoll der 50sten IOC-Session die Möglichkeit offen gelassen, daß beim Nichtzu-standekommen einer gemeinsamen Mannschaft für Melbourne die provisorische Anerkennung des NOK der DDR automatisch ge-löscht werden könnte. Damit war die Position der Vertreter des NOK der DDR in den Verhandlungen um die Aufstellung der Mannschaft deutlich geschwächt und sie waren zur Zurückhaltung und zu Zugeständnissen gezwungen, zumal vorsichtig ausge-drückt, vieles darauf hindeutet, daß die Vertreter des NOK der BRD, vor allem dessen Präsident Ritter von Halt, durchaus bereit waren, diese Karte zu spielen. Als schließlich Anfang November
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1956 in mehreren Flügen die gemeinsame Olympiamannschaft mit 218 Personen, davon 169 aktiven Sportlern - 132 aus der BRD und 37 aus der DDR - nach Melbourne reiste, war das Ausdruck eines nach langen, zähen und harten Verhandlungen erreichten Kon-sens’, der letztlich zunehmend erreichter Einsicht und gutem Willen aller Beteiligten entsprach.
Man mag es Ausdruck politischer Wertschätzung nennen oder, wie es heute oftmals üblich ist, Ausdruck des Grades politischer Einmi-schung, daß der Mannschaftsteil der DDR vor der Abreise von Staatspräsident Wilhelm Pieck empfangen und vom damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Walter Ulbricht, verabschie-det wurde. Daß dagegen beim Abflug des Mannschaftsteils der BRD lediglich ein Mitglied des Hamburger Senats anwesend war, ist sicher Ausdruck von Mißtrauen und Unbehagen der Regierung der BRD gegenüber den Vertretern des Sports. Keinesfalls ist dar-aus zu schließen, daß dieser die politischen Vorkommnisse im Vor-feld und im Umfeld der gemeinsamen Olympiamannschaft gleich-gültig gewesen wäre. Im Gegenteil. Die Berichte des Botschafters der BRD an das Auswärtige Amt in Bonn geben deutlich Auskunft über die Grundhaltung regierungsamtlicher Stellen der BRD zu dieser vom IOC erzwungenen gemeinsamen Olympiamannschaft. Der Botschafter der BRD in Australien, Dr. Hess, schreibt in sei-nem Bericht vom 12. Dezember 1956: "V. Ich fürchte, daß die ge-samtdeutsche Olympiamannschaft des Jahres 1956 geradezu als ein klassisches Beispiel dafür angesehen werden kann, wie die Dinge politisch nicht gehen. Es ist reine Utopie, wenn auf west-deutscher Seite die Fiktion aufrechterhalten wurde, daß es - in Be-rührung mit dem Osten - noch wesentliche Lebensgebiete wie den Sport gibt, die man politisch ausklammern kann. Es ist bedauerlich, daß dies mit ziemlicher Naivität seitens des Nationalen Olympi-schen Komitees der Bundesrepublik versucht worden ist"2) Damit werden allerdings nur vielfach publizierte ähnlich lautende Äuße-rungen von Vertretern der Regierung Adenauer aus dem Vorfelde der Olympischen Spiele bestätigt. Die Brisanz des Berichts, vor al-lem der von Konsul Dr. Sarrazin und dem Attaché, Herrn von Groll verfaßten Anlagen, liegt weniger in solchen kurzgefaßten Gesamt-einschätzungen als vielmehr in den zahlreichen pikanten Details, die über Verhaltensweisen und Äußerungen der Verantwortlichen des westdeutschen Mannschaftsteils mitgeteilt werden. Es drängt
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sich nachgerade der Verdacht auf, daß die Botschaft der BRD in Canberra ihre Aufgabe weniger darin sah, die Mannschaftsleitung der BRD zu unterstützen, als vielmehr sie zu gängeln und zu ob-servieren. Möglich, daß sich damit einige besonders eifrige Bot-schaftsmitarbeiter neue Sporen verdienen wollten, am Tatbestand ändert das nichts. Praktisch entging niemand aus der Mannschafts-leitung der BRD der intensiven Beobachtung und den entspre-chenden oft sehr detaillierten, immer jedoch kompromittierenden Mitteilungen an das Auswärtige Amt. Nicht selten waren diese ver-bunden mit der direkten Empfehlung zur weiteren Beobachtung. Dem NOK- Präsidenten Ritter von Halt sowie dem Chef de Mission Gerhard Stöck wurde bescheinigt, sich nicht „...durch besondere Stehfestigkeit den sowjetzonalen Funktionären gegenüber auszu-zeichnen."3) und daß es den Vertretern des NOK der Bundesrepub-lik „...an Solidaritätsgefühl gegenüber der Bundesrepublik mange-le."4) Besonders übel wurde dem Präsidenten des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV), Dr. Max Danz mitgespielt. Über diesen heißt es: „Herr Dr. Danz, Präsident des Deutschen Leicht-athletikVerbandes, ein dem Vernehmen nach unter seinen Kolle-gen im NOK wegen seiner eigenwilligen und egoistischen Hand-lungsweise nicht geschätzter Herr, hat sich mit verschiedenen Ost-funktionären in wenig würdiger Weise angebiedert. Anläßlich eines Balls des hiesigen Deutschen Clubs hat man ihn hauptsächlich mit diesen Herren zusammen stehen sehen. Er soll nach der gleichen Quelle mit Herrn Schöbel, dem Präsidenten des NOK der sowje-tisch besetzten Zone, sogar Brüderschaft getrunken haben. Wie mir Herr von Halt wörtlich sagte, soll Herr Dr. Danz ziemlich links stehen. Er soll in der Organisation des Deutschen Sports erhebli-che Ambitionen haben. Es mag daher vielleicht von Interesse sein, seine künftige Aktivität von dort aus etwas im Auge zu behalten."5) Das alles entstammt keinen ehrabschneiderischen Aufzeichnungen eines übereifrigen bezahlten Spitzels, sondern offiziellen, an das Auswärtige Amt der BRD gerichteten Dokumenten der Botschaft der BRD in Australien.
Es mag aus heutiger Sicht verblüffen, aber völlig anders liest sich der offizielle Bericht des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR. Überwiegend sachlich, auf das Wesentliche, nämlich die Belange der Auswahl der Mannschaft, das Training vor Ort, die Ergebnisse der Wettkämpfe und deren
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Auswertung bezogen. Natürlich wird auch in diesem Bericht auf Unstimmigkeiten und Auseinandersetzungen in der Leitung der gemeinsamen Olympiamannschaft verwiesen und natürlich versu-chen sich auch die Vertreter des NOK der DDR, in ihren Aktionen und deren Ergebnissen so positiv wie möglich darzustellen. Etwa bei der Diskussion um die Einmarschordnung zur Eröffnung der Spiele. Da heißt es, in der „...Frage der Einmarschordnung... ver-trat Herr von Halt, wie er sich ausdrückte, den unumstößlichen Standpunkt, daß bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in der Mitte der drei Offiziellen Deutschlands der Chef de Mission mar-schieren müsse. Dieser Führungsanspruch, der einem Diktat gleichkam und in Anwesenheit der NOK-Mitglieder der Bundesre-publik mitgeteilt wurde, mußte befremden. Herr von Halt wurde deshalb von Herrn Schöbel gebeten, zur Kenntnis zu nehmen, daß es der unumstößliche Entschluß des NOK der DDR sei, daß in der Mitte der drei Offiziellen der Präsident des NOK der DDR zu mar-schieren habe."6) Insgesamt aber ist der Bericht unter Berücksichti-gung des damaligen Erkenntnisstandes eine vorzügliche Analyse der sportlichen Wettkämpfe, der Ergebnisse und der zu ziehenden Schlußfolgerungen aus trainingsmethodischer, sportmedizinischer und leitungspolitischer Sicht.
Es ist in der Vergangenheit - sowohl von Sporthistorikern der DDR wie auch der BRD - viel über die Olympischen Spiele von 1956 sowie die Problematik der gemeinsamen Olympiamannschaften publiziert worden. Manches wird Bestand haben, manches weni-ger. Warum also jetzt diese Darlegungen zu einer mehr oder weni-ger begrenzten Problematik und warum die Dokumentation dieser Berichte? Wolfgang Buss schreibt in seinem Beitrag auf dem Workshop des BISP zur Geschichte des DDR-Sports am 18. April 1997: „Hierbei konnte die Tatsache der besonderen Involviertheit des Sports im Rahmen der Deutschlandpolitik jener Jahre nicht mehr überraschen - gleiches gilt auch für den Schaden, den der Sport an sich und im besonderen die Sportler dieser Zeit durch die Instrumentalisierung für übergeordnete politische Auseinanderset-zungen erfuhren... Deutlich relativiert werden kann aber die vor al-lem in der westlichen Literatur fixierte einseitige Verantwortlichkeit für diese Entwicklung. Auf beiden Seiten gab es „Opfer", auf beiden Seiten aber auch „Täter“,...7)
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Wenn Aufarbeitung der Geschichte des Sports ernstgenommen, seriös betrieben und kein bloßes Schlagwort für die Sicherung ge-genwärtiger Machtverhältnisse bleiben soll, kann an dieser Tatsa-che nicht vorübergegangen werden. Leider sind heute in die Sport-geschichtsschreibung - vor allem auch zur Sportgeschichte der DDR - soweit sie institutionell organisiert und staatlich gefördert be-trieben wird, nahezu ausschließlich Kollegen aus den alten Bun-desländern einbezogen. Und leider wird sie überwiegend sehr ein-äugig betrieben. Einseitige Schuldzuweisungen sind häufig und die vielfach postulierte Absicht zur Verifizierung von Aussagen mit Zeitzeugen und Sporthistorikern aus der ehemaligen DDR zusam-menzuarbeiten, zumindest zu diskutieren, wird genauso vielfach durch Vorverurteilung erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht.
Die hier zitierten Dokumente zeigen aber erneut, daß Geschichte immer konkret und vielschichtig ist und Geschichtsschreibung die-se Vielschichtigkeit beachten muß, wenn sie mit ihren Aussagen der Wahrheit nahekommen will. Es ist nicht wegzudiskutieren, daß jede Entwicklung im Sport der DDR wie der BRD auch und nicht zuletzt Aktion oder Reaktion auf Entwicklungen der anderen Seite war.
Teilweise mit Recht wird uns Sporthistorikern aus der DDR vorge-worfen, genau dies nicht genügend beachtet, einseitige politische Schlüsse gezogen und damit herrschende politische Auffassungen begründet zu haben. Die heutige institutionalisierte Sportge-schichtsschreibung in Deutschland läuft begründet Gefahr, sich eben diesem Vorwurf auszusetzen.
1) Alle drei Dokumente werden in dieser Ausgabe - höchstwahrscheinlich erstma-lig - in längeren Auszügen veröffentlicht. (Die Dokumente wurden wegen der teil-weise mangelhaften Qualität der vorliegenden Kopien nicht im Original publiziert.)
2) Bericht des Botschafters der BRD vom 12.Dezember 1956, Seite 3.
3) Bericht des Botschafters der BRD vom 16.November 1956, Seite 2.
4) Anlage zum Bericht der Botschaft der BRD vom 16.November 1956, Seite 3
5) Bericht des Konsulats der BRD in Melbourne vom 12.Dezember 1956, Seite 3.
6) Bericht des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR vom 25.Januar 1957, Seite 10/1 1.
7) Dr. Wolfgang Buss: Der Sport im Spannungsfeld der frühen Deutschlandpolitik - die erste Phase der Anerkennung - und Abgrenzungsbemühungen im deutsch-deutschen Beziehungsgeflecht, 1950 - 1955, Seite 15.
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BERICHT DER BRD-BOTSCHAFT ZUR
OLYMPIAMANNSCHAFT 1956 (AUSZÜGE)
BOTSCHAFT DER Canberra, 16.November 1956
BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
Mit Luftpost !
Canberra
472-00/1440/56 II
An das Auswärtige Amt
B o n n
Betr.: Olympische Spiele in Melbourne
Bezug: Bericht vom 27.September d.Js. - 472-00/1440/56 -
Erlass v.16.Oktober d.Js . - 604/472-00/5752a/56 -
Die politischen Ereignisse der letzten Wochen in den Satellitenstaa-ten und im Vorderen Orient haben sich naturgemäss auch bereits auf die am 22.November in Melbourne beginnende Olympiade aus-gewirkt. Bis heute haben sechs Länder ihre Meldung für die Olympi-ade zurückgezogen: Rotchina als Protest gegen die Teilnahme For-mosas, - Ägypten, Libanon und Irak wegen des englisch-ägyptischen Konflikts, bei dem Australien vorbehaltlos auf der Seite Großbritanniens steht, - Holland und Spanien, weil sie es ablehnen im augenblicklichen Zeitpunkt mit Sowjetrussen in den Spielen in Wettbewerb zu treten...
Die deutsche Olympia-Mannschaft einschliesslich des Präsidenten des deutschen NOK Dr.Ritter von Halt ist nunmehr vollzählig in Mel-bourne versammelt, nicht ohne dass sich bereits für uns die ersten Schwierigkeiten zeigen. Nach den mir bisher von unserem Konsulat in Melbourne vorliegenden Nachrichten scheinen sich weder Herr von Halt noch der Chef de Mission der deutschen Mannschaft, Herr Gerhard Stöck, durch besondere Stehfestigkeit den sowjetzonalen Funktionären gegenüber auszuzeichnen. Ich darf diesbezüglich auf die in der Anlage abschriftlich beigefügte Aufzeichnung, von Konsul Dr. Sarrazin vom 12.ds. verweisen, der nur hinzuzufügen wäre, dass Herr v.Halt es bisher nicht für notwendig gehalten hat, mir auch nur Mitteilung von seiner veränderten Haltung zu machen...
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Anlage zum Bericht der Botschaft
Canberra vom 16.11.56 Nr. 1440/56
Abschrift
A u f z e i c h n u n g
über meine Besprechungen mit den Herren Gerhard STÖCK, Chef de Mission der deutschen Mannschaft, und Walter KÖNIG, Ge-schäftsführer des NOK der Bundesrepublik über die Frage der Ein-ladung der deutschen Mannschaft durch Herrn Botschafter DR.HESS zu einem Empfang am 2.Dezember d.J.
Am Montag, den 5. November rief Herr ELTON, der hiesige Gehilfe des deutschen Olympischen Attachés... auf dem Konsulat an und teilte mit, dass Herr König ihn nach seinem Eintreffen in Melbourne am Sonnabend, den 3. November von folgendem unterrichtet habe:
Während der Schlussverhandlungen der beiden deutschen NOK's in Köln Mitte Oktober habe ein aus drei Vertretern des westdeutschen NOK bestehendes Gremium, nämlich die Herren Ritter von Halt, Dr. Bauwens und Dr. Daume, nachdem die Vertreter des sowjetzonalen NOK eine Reihe Konzessionen gemacht hätten, sich auf Verlangen ebenfalls zu einer Konzession veranlasst gesehen. Diese habe in der Versicherung des Herrn von Halt bestanden, sich in Melbourne dafür einzusetzen (sich dafür „stark" zu machen, wie Herr Elton wört-lich sagte) dass der von Herrn Botschafter Dr.Hess geplante Emp-fang für die gesamte deutsche Mannschaft nicht stattfindet. Er mein-te, damit müsste wohl nun der beabsichtigte Empfang unterbleiben. Herr Elton wollte weiter wissen, ob Herr von Halt Herrn Botschafter Dr.Hess bereits entsprechend schriftlich unterrichtet habe. Er habe sich gegenüber Herrn KÖNIG vor dessen Abflug nach Melbourne Ende Oktober jedenfalls in diesem Sinne geäussert...
...Zwei Tage später traf in Melbourne der Chef de Mission der deut-schen Mannschaft, Herr Gerhard STÖCK, ein. Am Freitag, den 9.November bat Herr König Herrn von Groll um eine Unterredung im Olympischen Dorf. Dort eröffnete er Herrn von Groll..., dass sie mit Rücksicht auf die Halt'sche Erklärung keine Möglichkeit sähen, eine an die gesamte deutsche Mannschaft gerichtete Einladung... den Teilnehmern auch bekanntzugeben...
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...Angesichts dieser neuen Lage habe ich nochmals einen Versuch unternommen, zu einer vernünftigen Lösung dieser ganzen Frage zu kommen und habe daher die Herren Stöck und König am Samstag, den 10.11. zum Abendessen eingeladen, um in Ruhe mit ihnen sprechen zu können. Ich habe ihnen unverblümt zu verstehen gege-ben, dass das Verhalten der Vertreter des NOK der Bundesrepublik für den deutschen Botschafter in Australien nicht akzeptabel sei. Für ihn käme ausschliesslich eine Einladung an die deutsche Mann-schaft infrage. Unzumutbar sei es für ihn, sich gewissermassen vor-schreiben zu lassen, wie und wen er einladen solle. Dies käme einer Brüskierung gleich. Herr von Halt, der sich gegenüber Herrn Bot-schafter Dr. Hess schriftlich mit dem geplanten Empfang einverstan-den erklärt habe, sei umgefallen und habe es noch nicht einmal für nötig befunden, seine Sinnesänderung brieflich nach Canberra mit-zuteilen. All das zeige, dass die Vertreter des NOK der Bundesre-publik sich gegenüber der Handvoll Funktionäre der Sowjetzone viel zu weich zeigten, sich offensichtlich von ihnen diktieren liessen und es ihnen an Solidaritätsgefühl gegenüber der Bundesrepublik man-gele...
Melbourne, den 12. November 1956
gez. Sarrazin
Canberra, den 12.Dezember 1956
472-00/1674/56
An das
Auswärtige Amt
B o n n
Betr: XVI.Olympiade in Melbourne
Bezug: Bericht v.16.v.Mts. - 472-00/1440/56 II...
I. Die XVI. Olympischen Spiele, die am 22.November in Melbourne durch den Herzog von Edinburgh feierlich eröffnet wurden, sind am 8. ds. mit einer Schlußzeremonie im Melbourner Hauptstadion zu Ende gegangen. Die Olympiade hätte wohl schwerlich zu einem politisch ungünstigeren Zeitpunkt stattfinden können als in diesem Spätjahr 1956, - man hätte aber andererseits zu diesem Zeitpunkt die Olympiade in keinem geeigneteren Land abhalten können als in Australien, das durch seine Lage und Entfernung von den akuten politisch-geographischen Gefahrenzonen die politischen Spannun-gen stärker auszugleichen vermochte, als dies in einem anderen
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Land und auf einem anderen Kontinent möglich gewesen wäre. So ist die Olympiade des Jahres 1956 ohne wesentliche politische Zwischenfälle über die Bühne gegangen. Nachdem die ungarische Mannschaft ihre ursprüngliche Absicht, mit umflorter Fahne in das Stadion einzuziehen, in letzter Minute aufgegeben hatte, erschien selbst das ungarisch-sowjetische Verhältnis während der Spiele nach außen hin - von einzelnen Zusammenstössen abgesehen - unbelasteter, als es innerlich war...
II. Auf den politischen Beobachter mußte das olympische Bild eines sportlichen Weltfriedens im augenblicklichen Zeitpunkt allerdings eher gespenstisch wirken. Man gewann nicht den Eindruck, als ob unter den Männern des Internationalen Olympischen Komitees auch nur ein leiser Zweifel daran aufgedämmert wäre, dass an ih-rer Idee vielleicht nicht mehr alles in Ordnung sei. Und dass die olympische Wirklichkeit des Jahres 1956 bestenfalls noch römisch-byzantinischer Zirkus war, aber bestimmt nicht mehr griechisches Olympia. Dass der Kampf der Gladiatoren die Szene beherrschte, und nicht der Kampf um den friedlichen olympischen Lorbeer. Dass kurz gesagt auch der Kampf um die olympischen Medaillen ein po-litischer Kampf war. Auf diesem Hintergrund muss auch die Beteili-gung der gesamtdeutschen Mannschaft bei den Melbourner Spie-len gesehen werden...
IV. Wenn man davon ausgeht, dass wir politisch bei der Olympiade nicht staatliche Zerrissenheit sondern völkische Zusammengehö-rigkeit demonstrieren wollten (das Gegenteil wäre vom hiesigen Gesichtspunkt aus eindeutig falsch gewesen, weil es im sportbe-geisterten Australien auf keinerlei Verständnis gestoßen wäre), so kann nach aussen hin das Auftreten einer gesamtdeutschen Mannschaft als ein Erfolg bezeichnet werden. Die Spannungen in-nerhalb der Mannschaft traten nach aussen nicht in Erscheinung, die Mannschaft wirkte als eine Einheit, und auch „Freude schöner Götterfunken“ als gesamtdeutscher Nationalhymnen-Ersatz hinter-liess keinen ungünstigen Eindruck. Anders sieht es allerdings aus, wenn man sich die Frage stellt, ob unter innerdeutschem d.h. sozusagen gesamtdeutschem Gesichtspunkt das Auftreten unserer Mannschaft ein Erfolg war. Diese Frage muss leider mit einem ein-deutigen Nein beantwortet werden. Doch liegt der Grund für diesen Mißerfolg m. E. stärker im Persönlichen als im Sachlichen.
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V. Ich fürchte, dass die gesamtdeutsche Olympiamannschaft des Jahres 1956 gradezu als ein klassisches Beispiel dafür angesehen werden kann, wie die Dinge politisch nicht gehen. Es ist reine Uto-pie, wenn auf westdeutscher Seite die Fiktion aufrechterhalten wurde, dass es - in Berührung mit dem Osten - noch wesentliche Lebensgebiete wie den Sport gibt, die man politisch ausklammern kann. Es ist bedauerlich, dass dies mit ziemlicher Naivität seitens des Nationalen Olympischen Komitees der Bundesrepublik ver-sucht worden ist. Die selbstverständliche Konsequenz dieser Hal-tung war, dass die westdeutschen Sportsmanager den sowjetzona-len Funktionären gegenüber hoffnungslos am kürzeren Hebel sas-sen, was zu einigen recht unerfreulichen Situationen und entspre-chend deutlichen Aussprachen zwischen mir und dem Präsidenten des NOK der Bundesrepublik, Dr.Ritter v.Halt, sowie dem "Chef de Mission“ der gesamtdeutschen Olympiamannschaft, Herrn Gerhard Stöck, führte...
gez. Hess
Anlage zum Bericht der Botschaft
Canberra vom 12.12.56 Nr. 674/56
Aufzeichnung
Betrifft: Olympische Spiele in Melbourne
1.) Die XVI. Olympischen Spiele fanden vom 22.November bis 8. Dezember 1956 in Melbourne statt. Deutschland, das bei den XV. Olympischen Spielen in Helsinki 1952 durch Sportler der Bundes-republik und Westberlins vertreten war, nahm diesmal mit einer ge-samtdeutschen Mannschaft teil...
Die internen Verhandlungen über die Aufstellung der gesamtdeut-schen Mannschaft zwischen dem NOK der Bundesrepublik (Präsi-dent: Dr. Karl Ritter von Halt) und dem NOK-Ost (Präsident: Heinz Schöbel) gestalteten sich bei der starken Gegensätzlichkeit der Ansichten über die Stärke und Zusammensetzungen der deut-schen Mannschaft, ihre Kleidung, Unterbringung, den „Chefs de Mission" und vor allem die Hymnenfrage äusserst schwierig. Erst bei der letzten Sitzung am 15. Oktober 1956 in Köln einigten sich die beiden NOK's, als Hymne für die Siegerehrung das „Lied an die Freude" (Beethoven) spielen zu lassen - gegenüber der unglückli-chen Regelung von Cortina (bei Einzelsiegen: Deutschlandlied bezw. „Eis-Becher-Hymne“, beim Sieg einer gemischten Mann-
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schaft: Schweigeminute) wohl die bessere Lösung -, als Chef de Mission Gerhard Stöck, Direktor des Hamburger Sportamtes (0lympiasieger 1936 im Speerwerfen), zu wählen und eine Mann-schaft von 169 Aktiven und 49 Begleitern nach Melbourne zu ent-senden...
5.) Die Tagung des Internationalen Olympischen Komitees in Mel-bourne in der Woche vor den Spielen stand ganz im Banne der weltpolitischen Ereignisse. Der Beschluß einiger Nationen, den Olympischen Spielen fernzubleiben, wurde vom IOC als unverein-bar mit dem Olympischen Gedanken scharf kritisiert, und der Ver-such der arabischen Staaten, den Ausschluß Großbritanniens und Frankreichs von den Spielen zu erwirken, sowie der Antrag ungari-scher Exilverbände auf Ausschluß der Sowjetunion wurde ener-gisch zurückgewiesen.
Die Tagung war für die Bundesrepublik von besonderem Interesse, da nach Rücktritt das Herzogs Adolf Friedrich von Mecklenburg die Neuwahl eines deutschen IOC-Mitglieds notwendig wurde. Es ist zweifellos dem persönlichen Einfluß des Präsidenten des NOK der Bundesrepublik, Dr.Karl Ritter von Halt (IOC-Mitglied seit 1929) zu-zuschreiben, dass der sowjetische Antrag, einen sowjetzonalen Vertreter in das IOC zu wählen, zurückgezogen und der Präsident des Deutschen Sportbundes, Willi Daume (Dortmund) einstimmig auf Lebzeiten als zweites deutsches Mitglied in das Internationale Olympische Komitee gewählt wurde.
Die Aufnahme der Sektion Leichtathletik der sowjetischen Besat-zungszone in den Internationalen Leichtathletikverband (IAAF) und die Abgabe eines der sieben ständigen deutschen Sitze an einen sowjetzonalen Vertreter wiegt dagegen wohl nicht allzu schwer, nachdem die meisten sowjetzonalen Sportsektionen bereits früher in die jeweiligen internationalen Fachverbände aufgenommen wor-den sind.
6.) Sportlicher Erfolg der gesamtdeutschen Mannschaft: Vom sportlichen Gesichtspunkt kann man der gesamtdeutschen Olym-piamannschaft einen Erfolg nicht absprechen. Die Erkämpfung des vierten Platzes in der inoffiziellen Gesamtwertung hinter der Sow-jetunion, den Vereinigten Staaten und Australien scheint die Ent-sendung der unerwartet grossen Mannschaft von 218 Personen (von den 169 Aktiven waren 37 aus der sowjetischen Besatzungs-zone), mit der Deutschland unter den anwesenden 67 Mannschaf-
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ten mit einer Gesamtstärke von ca. 4500 Personen hinter der Sow-jetunion (510), den Vereinigten Staaten (427), Australien (360) und Großbritannien (239) an fünfter Stelle stand, zu rechtfertigen. 4 Gold-, 10 Silber- und 6 Bronze-Medaillen wurden von den deut-schen Sportlern in Melbourne errungen. Nicht uninteressant ist die Verteilung der Medaillen auf Sportler der Bundesrepublik und der sowjetischen Besatzungszone (3 goldene, 6 silberne und 5 bron-zene gegenüber 1 goldenen, 4 silbernen und 1 bronzenen - siehe Anlage), die etwa dem jeweiligen Anteil an der Gesamtmannschaft entspricht, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass mehrere Me-daillen der westdeutschen Sportler durch Mannschaftssiege errun-gen wurden. Damit war der sowjetzonalen Propaganda die Mög-lichkeit genommen, durch arithmetische Spiegelfechtereien an Hand der Medaillenverteilung die Überlegenheit der volksdemokra-tischen Gesellschaftsordnung nachzuweisen...
7.) Auftreten der gesamtdeutschen Mannschaft: Auch nach aussen hat die gesamtdeutsche Mannschaft einen recht guten Eindruck gemacht und sich mit ihrer einheitlichen Kleidung, Flagge und Hymne durch Nichts von den homogenen Mannschaften anderer Nationen unterschieden. Hierauf sowie auf die weltpolitische Lage ist es wohl auch zurückzuführen, dass die Problematik der ge-samtdeutschen Mannschaft, die vor den Ereignissen in Ungarn und Ägypten in Australien einiges Interesse erregt hatte, während der Spiele von der Öffentlichkeit fast völlig ignoriert wurde....
8.) Während die gesamtdeutsche Mannschaft nach aussen als eine homogene Gemeinschaft wirkte, waren die internen Schwierigkei-ten doch recht erheblich.
Sie begannen mit dem Fall der „Vier deutschen Olympia-Attachés“. Dem „eigentlichen“ Olympia-Attaché Baron von Nordegg-Rabenau wurde, da er in Sydney ansässig war, als Gehilfe der Melbourner Mr. Elton beigegeben, der schliesslich die Hauptarbeit leistete. Der urspüngliche Saar-Attaché, Herr Seyler, wurde nach der Angliede-rung der Saarmannschaft an die gesamtdeutsche Mannschaft ar-beitslos und mit der Betreuung der Ruderer im fernen Ballarat be-auftragt. Mit Herrn Walter Kaufmann stellte sich schließlich kurz vor Beginn der Spiele der für die Betreuung der sowjetzonalen Sportler zuständige „Assistant Attaché“ vor. Kaufmann, ein hochintelligen-ter, gründlich geschulter australischer Kommunist deutsch-jüdischer Abstammung, soll bei einem Deutschlandbesuch im ver-
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gangenen Jahr vom NOK-Ost angeworben und auf seine bevor-stehende Aufgabe eingeschult worden sein.
Das späte Eintreffen der Mitglieder des NOK’s der Bundesrepublik hatte die nachteilige Folge, dass der Chef de Mission der gesamt-deutschen Mannschaft, Gerhard Stöck, Hamburg, anfänglich völlig in den Einfluß so gewiegter sowjetzonaler Funktionäre wie Rudi Reichert, Vorsitzender des „Deutschen Sportausschusses“, der für die Unterwanderung des westdeutschen Sports verantwortlich zeichnen soll, Günther Heinze, Stellvertretender Staatssekretär für Sport und Körperkultur, Heinz Schöbel, Heinz Schlosser, Ge-schäftsführer des NOK-Ost, und nicht zuletzt Walter Kaufmann ge-riet, die ständig sein Zimmer im Olympischen Dorf belagerten und ihn für ihre Absichten zu gewinnen suchten. Im Verkehr Stöcks mit amtlichen Vertretern der Bundesregierung machte sich dies an-fangs recht unliebsam bemerkbar. Stöck weigerte sich z.B., eine Einladung des deutschen Botschafters an die Olympiamannschaft weiterzugeben; er forderte den Präsidenten des Deutschen Vereins in Melbourne auf, in einem Brief an die Mannschaft die Stelle zu streichen, in der dieser Empfang erwähnt wurde; er verlangte schliesslich anlässlich eines Balles des gleichen Vereins, zu dem auch ostdeutsche Sportler und Funktionäre geladen waren, das sonst bei solchen Gelegenheiten übliche Deutschlandlied nicht zu spielen. Mit Eintreffen Ritter von Halts, der Mitglieder des NOK’s der Bundesrepublik und vor allem des mit ihm persönlich befreun-deten Sportreferenten im Innenministerium, Regierungsdirektor Dr. Hans Heinz Sievert, korrigierte Stöck später seine Haltung und be-gann, sich über seine undankbare Position und Bespitzelungen sei-tens der sowjetzonalen Funktionäre zu beklagen.
Unerfreulich und dem deutschen Ansehen wenig förderlich waren auch die Spannungen und Rivalitäten unter den Mitgliedern des NOK der Bundesrepublik, die es den sowjetzonalen Funktionären gestatteten, im Trüben zu fischen. Besonders unangenehm wirkten sich die Divergenzen zwischen dem ehrgeizigen Präsidenten des deutschen Leichtathletikverbandes, Dr. Max Danz, und Dr.Karl Rit-ter von Halt aus, den Dr.Danz, wie er sich wiederholt Journalisten gegenüber äußerte, möglichst bald als NOK-Präsident und deut-sches Mitglied des IOC ablösen möchte. Dr.Danz scheint zur Errei-chung dieses Zieles jedes Mittel recht zu sein, wie zum Beispiel Anbiederung an sowjetzonale Funktionäre und Konzessionen an
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das NOK-Ost. Wie mir ein glaubwürdiger Augenzeuge versicherte, scheute sich Dr. Danz z.B. nicht, bei dem Schlußball des deut-schen Vereins in aller Öffentlichkeit mit dem Präsidenten des NOK-Ost, Heinz Schöbel, Brüderschaft zu trinken und sich von diesem oft unterschätzten geschulten Kommunisten für alle Umstehenden gut hörbar belehren zu lassen, dass, wenn die Politiker es den Sportlern nachmachen würden, bald ein gesamtdeutsches Ge-spräch in Gang kommen könnte und sich dann in fruchtbarem Ne-beneinander nach Beseitigung der beiderseitigen Fehler heraus-stellen würde, welches gesellschaftliche System das bessere sei. Diese Episode ist zwar nicht an die australische Öffentlichkeit ge-langt, hat aber im deutschen Club in Melbourne gewiss keinen günstigen Eindruck hinterlassen. Den Sowjetzonalen Offiziellen und ihrem Pressekollektiv, das sich einzig durch Sprechchöre zur Anfeuerung sowjetzonaler Sportler im Hauptstadion gelegentlich unliebsam bemerkbar machte, ist in Melbourne gewiss klargewor-den, dass es ihnen nicht gelungen ist, in der stark antikommunisti-schen australischen Öffentlichkeit ein Echo zu finden. Doch fragt es sich, ob dies überhaupt ihre Absicht gewesen ist. Ihr zahlreiches Auftreten bei allen Veranstaltungen der deutschen Kolonie und ihr Fernbleiben von den meisten offiziellen Veranstaltungen legen die Vermutung nahe, dass die Beteiligung der sowjetischen Besat-zungszone an den Olympischen Spielen eher den Zweck verfolgte, unter den deutschen Einwanderern in Melbourne Kontakte zu ge-winnen, die dann allmählich zu kommunistischen Zellen ausgebaut werden könnten, vor allem, da ein so vorzüglich geschulter Verbin-dungsmann wie Walter Kaufmann zur Verfügung steht...
Für Deutschland und insbesondere für die Bundesrepublik schei-nen die Spiele auf den ersten Blick erfolgreich verlaufen und das Experiment der gesamtdeutschen Mannschaft scheint über Erwar-ten gut gelungen zu sein. Wenn man aber näher hinsieht, wird ei-nem die Zweischneidigkeit des ganzen Unternehmens deutlich: Es hat sich in Melbourne wieder einmal mit aller Eindringlichkeit ge-zeigt, dass „volksdemokratische" Sportfunktionäre, seien sie nun sowjetische oder sowjetzonale Kommunisten, den Sport stets als Mittel der Politik betrachten und nur darauf warten, mit gutgläubi-gen Enthusiasten bzw. Ehrgeizlingen unter den Sportführern der westlichen Demokratien zusammenzukommen, um diese rück-sichtslos für ihre Zwecke zu missbrauchen. Es ist nur zu hoffen,
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dass auch die Sportführer der Bundesrepublik diese Gefahr erken-nen und künftig dementsprechend handeln werden.
Canberra, den 12.Dezember 1956 gez. G.v.Groll
KONSULAT DER
BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
MELBOURNE
RK 472 00 Tgb. Nr. 1272/56
Ber. Nr. 318/56
Vertraulich
Betr.: Olympische Spiele in Melbourne
Auftreten der Gesamtdeutschen Mannschaft.
Die XVI. Olympischen Spiele in Melbourne haben am 8.12. 56 ih-ren Abschluss gefunden.
Die Teilnahme einer Gesamtdeutschen Mannschaft hat das deut-sche Interesse an den Spielen diesmal nicht nur auf das Sportliche allein beschränkt. An dieser Tatsache konnte auch der Präsident des IOC, der Amerikaner Avery Brundage, der ein Gegner jeder Verquickung von Sport und Politik ist, nichts ändern, da von Anfang an kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass durch die Teilnah-me von Funktionären der sowjetisch besetzten Zone im Rahmen einer Gesamtdeutschen Mannschaft von dieser Seite her der Sport als politisches Propagandamittel eingesetzt werden würde.
Rückblickend kann gesagt werden, dass das Experiment „Gesamt-deutsche Mannschaft" in sportlicher Hinsicht ein Erfolg gewesen ist. Dies bezieht sich nicht nur auf die unerwartet hohe Anzahl von errungenen Medaillen, sondern auch auf die Tatsache, dass unse-re Sportler in Melbourne stets als „The Germans" bezeichnet wur-den. Bis auf eine kleine Panne bei Hissung der Flagge im Olympi-schen Dorf, bei welcher ich eine irreführende Zeitungsnotiz über das Vorhandensein zweier deutscher Flaggen sofort richtigstellen konnte, ist in der Presse, in den Kampfbahnen und bei Siegereh-rungen im Fall der Beteiligung deutscher Sportler als Herkunftsland stets Germany genannt worden...
Ich bin der Ansicht, dass die sowjetzonale Gruppe die hiesige At-mosphäre von Anfang an richtig eingeschätzt und deshalb erst kei-nen Versuch unternommen hat, selbständig aufzutreten wie in Cor-
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tina. In dieser Hinsicht ist sie sicherlich von Herrn Kaufmann, dem Assistant Attaché, entsprechend beraten worden (siehe meinen Bericht vom 31.10. 56 - 472-00 Tgb. Nr.1144/56)...
Wenn auch in Melbourne aus den angeführten Gründen nach aus-sen hin die Fassade gewahrt werden konnte, so hat sich doch un-ter der Oberfläche gezeigt, dass die Ostfunktionäre es nicht lassen koennen, überall die Politik hineinzubringen. Herr von Halt, mit dem ich mehrfach hierüber sprach, letztmalig noch kurz vor seiner Ab-reise, sagte mir, dass die genannte Gruppe führungsmässig dau-ernd Schwierigkeiten gemacht hätte. Dies träfe vor allem auf die erste Zeit zu, d.h. solange die Ostfunktionäre noch in der Überzahl gewesen seien, also vor Eintreffen der westdeutschen Offiziellen.
Nach meiner Kenntnis entspricht dies durchaus den Tatsachen. Ich darf in diesem Zusammenhang auf meine Aufzeichnungen vom 12.11.56 verweisen, welche dem Bericht der Botschaft vom 16.11.56 - 472-00 Tgb.Nr.1440/56 II - beilagen. Hier ist aber auch ausgeführt, dass sich unsere Offiziellen seinerzeit durch einen er-heblichen Mangel an Festigkeit gegenüber den Funktionären der sowjetisch besetzten Zone und an Loyalität gegenüber der Bun-desrepublik ausgezeichnet haben...
Mangelnde Stehfestigkeit unserer Offiziellen gegenüber den Ost-funktionären wird immer nur für diese von Vorteil sein.
Um ein Beispiel zu nennen:
Herr Dr. Danz, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, ein dem Vernehmen nach unter seinen Kollegen im NOK wegen seiner eigenwilligen und egoistischen Handlungsweise nicht ge-schätzter Herr, hat sich mit verschiedenen Ostfunktionären in we-nig würdiger Weise angebiedert. Anlässlich eines Balls des hiesi-gen Deutschen Clubs hat man ihn hauptsächlich mit diesen Herren zusammen stehen sehen. Er soll nach der gleichen Quelle mit Herrn Schöbel, dem Präsidenten des NOK der sowjetisch besetz-ten Zone, sogar Brüderschaft getrunken haben. Wie mir Herr von Halt wörtlich sagte, soll Herr Dr. Danz ziemlich links stehen. Er soll in der Organisation des deutschen Sports erhebliche Ambitionen haben. Es mag daher vielleicht von Interesse sein, seine künftige Aktivität von dort aus etwas im Auge zu behalten.
Als Fazit des Auftretens der Gesamtdeutschen Mannschaft in Mel-bourne ist meines Erachtens folgendes festzustellen:
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Die Mannschaft hatte ein zu lockeres Gefüge, und zwar sowohl im organisatorischen Sinne wie auch in Bezug auf die Ausrichtung der Ostfunktionäre einerseits und die labile Haltung einiger unserer Of-fiziellen andererseits. Um in einer künftigen Gesamtdeutschen Mannschaft den zu erwartenden Selbständigkeitsbestrebungen der östlichen Gruppe in einer für sie günstigeren Umgebung wirksam begegnen zu können, wäre erforderlich, dass für unsere Seite bes-sere organisatorische und sicherere personelle Voraussetzungen geschaffen werden.
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Bericht über die Teilnahme von DDR-Sportlern an den Olympischen Spielen 1956 (Auszüge)
STAATLICHES KOMITEE Berlin C2, den 23.1.1957
FÜR KÖRPERKULTUR UND SPORT
beim Ministerrat
der Deutschen Demokratischen Republik
Der Vorsitzende
B e r i c h t
über die Teilnahme von Sportlern der Deutschen Demokratischen Republik an den XVI. Olympischen Sommerspielen im Rahmen ei-ner gesamtdeutschen Mannschaft
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Einleitung
Die Teilnahme der besten Sportler der Deutschen Demokratischen Republik im Rahmen einer gesamtdeutschen Mannschaft an den XVI. Olympischen Sommerspielen in Melbourne war richtig und er-folgreich. Das Auftreten unserer Aktiven und Funktionäre hatte zur Folge, daß international
a) die Autorität der Deutschen Demokratischen Republik gefestigt und das Ansehen unter den Sportlern aus aller Welt gehoben wur-de,
b) unsere Position im Internationalen Olympischen Komitee ge-stärkt wurde,
c) der Einfluß unserer Fachverbände in den internationalen Föde-rationen stärker geworden ist,
und daß national
a) das NOK und die Fachverbände der Bundesrepublik unsere Selbständigkeit anerkennen und respektieren mußten.
b) unsere Leistungen große Teile der westdeutschen Bevölkerung beeindruckten.
c) der Kontakt eines Teils der westdeutschen Sportler und Funktio-näre zu uns hergestellt und vertieft werden konnte, so daß wir oft-mals als Interessenvertreter des ganzen deutschen Sports auftra-ten.
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Danach wurden die Bemühungen der Bonner Regierungskreise durchkreuzt, die nach unseren Erfolgen in Cortina versuchten, eine gesamtdeutsche Mannschaft für Melbourne zu verhindern und, als ihnen das nicht gelang, bemüht waren, die gesamtdeutsche Mann-schaft unter ihren Einfluß und ihre Führung zu bekommen, um dadurch die Existenz der DDR und ihrer selbständigen Sportver-bände zu verschleiern...
Zur Aufstellung einer gesamtdeutschen Olympiamannschaft fanden zwischen den Sektionen Leichtathletik, Schwimmen, Boxen, Rin-gen, Gewichtheben, Segeln und Radsport und den entsprechen-den Fachverbänden der Bundesrepublik Verhandlungen statt. Zum Teil wurden Ausscheidungskämpfe durchgeführt.
Im Fußball konnte keine Einigung über die Entsendung einer ge-samtdeutschen Mannschaft erzielt werden, so daß die Fußball-mannschaft ausschließlich von der Bundesrepublik gestellt wurde.
Im Basketball einigte man sich, keine 'Mannschaft zu entsenden, da die Leistungen nicht dem internationalen Niveau entsprechen.
Im Fechten wurde der Teilnahme eines einzigen Vertreters und im Schießen der Entsendung von zwei Schützen der Bundesrepublik zugestimmt, weil von den Sektionen der DDR keine Sportler nomi-niert werden konnten.
In Gymnastik/Turnen verzichtete die Sektion der DDR auf die Ent-sendung einer Frauenmannschaft, da der derzeitige Leistungs-stand nach dem Ausfall der beiden Spitzenturnerinnen nicht dem internationalen Niveau entsprach und stimmte der Entsendung ei-ner Männermannschaft der Bundesrepublik zu. Auf Ausschei-dungskämpfe bei den Männern wurde verzichtet, da die Sektion nicht mit gleichen Leistungen aufwarten kann. Desgleichen wurden im Hockey keine Ausscheidungskämpfe durchgeführt, da die Leis-tungen der westdeutschen Hockeyspieler besser sind.
Im Kanu und Wasserball wurden die Leistungen unserer Sportler von den verantwortlichen Funktionären der Sektionen überschätzt, so daß die DDR in diesen Sportarten bei gesamtdeutschen Aus-scheidungskämpfen empfindliche Niederlagen einstecken mußte.
Im Rudern dienten die Europameisterschaften in Jugoslawien als Klassifikation. Da sich keine Boote der Sektion Rudern unter den ersten placieren konnten, wurde auf eine Entsendung zu den Olympischen Spielen verzichtet...
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I. Vorbereitung
1. Auswahl der Sportler
Alle Sektionen der demokratischen Sportbewegung, deren Sportar-ten zum olympischen Programm gehören, beschäftigten sich un-mittelbar nach der Anerkennung des NOK der DDR durch das In-ternationale Olympische Komitee, 1955 in Paris, mit den olympi-schen Vorbereitungen.
Ein bestimmter entwicklungsfähiger Personenkreis wurde ausge-wählt. Auf der Grundlage einer langfristigen Trainingsplanung, die vor allem die zeitliche Saisonverschiebung berücksichtigte, wurde im Jahre 1955 mit der individuellen Vorbereitung dieses kleinen Kreises von Aktiven begonnen. Die Starts der Leichtathleten und Schwimmer Dezember 1955/Januar 1956 in der Volksrepublik Chi-na brachten wichtige Hinweise für die Verbesserung des Trai-ningsaufbaues für das Jahr 1956...
...Um allen Sektionen die notwendige Hilfe geben zu können bzw. von seiten des NOK eine straffe Führung zu garantieren, wurde am 12. März 1956 der Sommersportausschuß der DDR konstituiert.
Er befaßte sich in seiner Arbeit mit der inhaltlichen Gestaltung der Vorbereitung für Melbourne, mit der Erarbeitung von Vorschlägen über spezielle Fragen, die die Vorbereitung, den Transport, den Aufenthalt usw. betrafen und war für die Koordinierung der Aufga-ben der einzelnen Sportsektionen und die einheitliche Anleitung derselben verantwortlich...
2. Vorbereitung der Sportler
Die auf der Grundlage der Wettkampfergebnisse des Jahres 1955 und der zu erkennenden Entwicklungsmöglichkeiten ausgewählten Sportlerinnen und Sportler wurden unter Anleitung ihres Heimtrai-ners in den Clubs vorbereitet.
Auf die Durchführung längerer Lehrgänge wurde verzichtet, da die Mitglieder der Olympia-Kommission den kleinen Kreis der in der Vorbereitung befindlichen Aktiven gut überblicken, anleiten und kontrollieren konnten...
In einigen Fällen, wo in den Heimatorten ungenügende Vorausset-zungen für eine gute Trainingsarbeit gegeben waren (zu niedrige Wassertemperaturen, schlechte Segelmöglichkeiten usw.) wurden die nötigen Ausweichmöglichkeiten geschaffen...
In Kienbaum übergaben die Heimtrainer ihre Sportler an die Olym-piatrainer und sprachen mit ihnen die weitere Vorbereitung ab.
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Die tägliche Arbeit in Kienbaum begann mit dem Morgenappell, der abwechselnd von den einzelnen Mannschaften vorbereitet und durchgeführt wurde... Großen Anklang fand ein Lichtbildervortrag Sportfreund Schlossers über seine Augustreise nach Melbourne...
Am 26. und 27. wurde die Einkleidung vorgenommen. Die Herstel-lung der Bekleidung für die gesamtdeutsche Mannschaft war au-ßerordentlich kompliziert, da durch die späte Nominierung der Mannschaft die Maße erst im September und Oktober gegeben werden konnten. Wenn trotzdem die Einkleidung termingemäß vollzogen werden konnte, dann gebührt den Kollegen Tischer und Drozd vom Staatlichen Komitee, dem Kollegen Kriechbaum vom VEB „Elegant" und den Werktätigen in der Produktion Dank und Anerkennung. Unsererseits wurde alles getan, um die Einkleidung der gesamtdeutschen Mannschaft sicherzustellen. Wenn in Mel-bourne trotz unserer termingemäßen Auslieferung an das NOK der Bundesrepublik vieles für die westdeutschen Sportler fehlte, dann lag das an der Unfähigkeit der westdeutschen Funktionäre, ihre Einkleidung richtig zu organisieren.
Der Empfang bei unserem Staatspräsidenten Wilhelm Pieck auf Schloß Hohenschönhausen sowie die Verabschiedung vor der Ber-liner Bevölkerung in der Deutschen Sporthalle, wo der Erste Stell-vertreter des Ministerpräsidenten, Walter Ulbricht, die letzten ver-pflichtenden Worte an unsere Mannschaft richtete, waren für alle Olympiateilnehmer ein großes Erlebnis. Der Empfang beim Staats-präsidenten und die Verabschiedung durch Walter Ulbricht bedeu-teten für die demokratische Sportbewegung sowie für alle Teilneh-mer eine hohe Ehre und brachten gleichzeitig das enge Verhältnis und die Fürsorge unserer Regierung zu den Sportlern klar zum Ausdruck.
Die Regierung der Bundesrepublik nahm vor den Olympischen Spielen wenig Notiz von den Olympiakämpfern. Die westdeutschen Sportler wurden lediglich vor ihrem Abflug nach Melbourne in Hamburg jeweils von einem Vertreter des Senats und einem Mit-glied des NOK der Bundesrepublik oder der Olympischen Gesell-schaft verabschiedet...
III. Tätigkeit der Leitung
1. Zusammenarbeit der Präsidenten
Durch eine Venenentzündung, die Herrn von Halt bis zum Beginn des IOC-Kongresses ans Bett fesselte, war die erste Fühlungnah-
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me mit ihm erst am 19. November möglich. Bei dieser Aussprache, in der es um die Frage der Einmarschordnung ging, vertrat Herr von Halt, wie er sich ausdrückte den unumstößlichen Standpunkt, daß bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in der Mitte der drei Offiziellen Deutschlands der Chef de Mission, Herr Stoeck, mar-schieren müsse.
Dieser Führungsanspruch, der einem Diktat gleichkam und in An-wesenheit der NOK-Mitglieder der Bundesrepublik mitgeteilt wurde, mußte befremden. Herr von Halt wurde deshalb von Herrn Schö-bel gebeten, zur Kenntnis zu nehmen, daß es der unumstößliche Entschluß des NOK der DDR sei, daß in der Mitte der drei Offiziel-len der Präsident des NOK der DDR zu marschieren habe.
In einer weiteren Beratung am anderen Tag wurde in Anwesenheit Herrn von Halt’s von Herrn Stoeck der gleiche Standpunkt vertre-ten. Herr Schöbel wies im Beisein von NOK-Mitgliedern der Bun-desrepublik nochmals darauf hin, daß die gesamtdeutsche Mann-schaft lt. Beschluß der beiden Komitees von beiden Präsidenten geführt werde, und daß Herr Stoeck demzufolge nur Beauftragter beider Präsidenten sein könne. Nach längerer Diskussion und ei-ner Rücksprache der NOK-Mitglieder der Bundesrepublik mit Herrn von Halt einigte man sich, daß der Chef de Mission mit einigen Me-tern Abstand hinter den Offiziellen der beiden NOK in das Stadion einzumarschieren habe...
2. Zusammenarbeit der beiden Chef de Mission
In der Zusammenarbeit der beiden Chef de Mission im Olympi-schen Dorf ging es entsprechend den Vereinbarungen der beiden NOK um die Verwirklichung der gleichberechtigten Führung der gesamtdeutschen Mannschaft. Entgegen den Festlegungen der beiden NOK versuchte Herr Stoeck, aus dem Chef de Mission als dem Beauftragten der beiden NOK den Mannschaftsleiter zu ma-chen.
Obwohl Herr Stoeck bereits vor der Abreise der gesamtdeutschen Olympiamannschaft Erklärungen abgegeben hatte, daß er bereit sei, in enger Zusammenarbeit mit den Funktionären der DDR die Aufgabe des Chef de Mission zu übernehmen, zeigte die weitere Zusammenarbeit, daß Herr Stoeck bestrebt war, die von der Bon-ner Regierung herausgegebene Direktive auf das genaueste zu be-folgen, die Mannschaftsführung der DDR von ihren Sportlern zu isolieren, um einen größeren Einfluß auf dieselben ausüben zu
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können und zu versuchen, sie enger an die westdeutsche Mann-schaftsführung zu binden. Zu diesem Zweck arbeitete er unmittel-bar mit dem Vertreter des Bonner Innenministeriums, Herrn Sie-vert, zusammen. So versuchte Herr Stoeck die Leitung der ge-samtdeutschen Mannschaft an sich zu reißen und seinen Stellver-treter Heinze von der Arbeit fernzuhalten...
Auch in den Sitzungen der Mannschaftsleitungen versuchte Herr Stoeck ohne vorherige Rücksprache mit Herrn Heinze, seine An-weisungen auch für die Mannschaft der DDR zu geben. Das mußte als Einmischung in die Angelegenheiten des NOK der DDR zu-rückgewiesen werden. In einer gemeinsamen Aussprache wurde festgelegt, daß die Anweisungen an die Sportler der DDR nur durch die Mannschaftsleitung der DDR und keine Anordnungen für die gesamtdeutsche Mannschaft gegeben werden können, die nicht zwischen den Chef’s de Mission abgesprochen wurden...
6. Arbeit der Mannschaftsleiter und Trainer
Die Trainer und Mannschaftsleiter waren für die Tätigkeit ihrer Sportler, für die Vorbereitung zum Training, für die Freizeitgestal-tung und den notwendigen Ausgleich voll verantwortlich. Alle Mannschaftsleiter und Trainer haben in Melbourne ihre Aufgaben voll und ganz erfüllt und die Sportler in einen guten Trainingszu-stand gebracht, der später auch zu Erfolgen bei den Wettkämpfen führte.
Positiv wirkte sich aus, daß unsere Mannschaftsleiter gleichzeitig Trainer waren, was beim NOK der Bundesrepublik nicht der Fall war. Es muß auch betont werden, daß alle Trainer bereit waren, jederzeit die Anweisungen der Delegationsleitung durchzuführen. In den Mannschaften selbst herrschte eine gute Disziplin, die auf den Einfluß von Trainer und Mannschaftsleiter zurückzuführen war.
Die Ausfälle bei den Wettkämpfen sind nicht auf spezielle Fehler in der Trainingsarbeit in Melbourne, sondern auf die schlechten Trai-ningsbedingungen auf dem Sportplatz des olympischen Dorfes, auf Formschwankungen, ungenügende Wettkampferfahrung und auf Verletzungen zurückzuführen.
7. Arbeit der Attaché’s
Die Berufung eines eigenen Attaché’s, der die Belange der DDR-Sportler vertrat, hat sich als außerordentlich gut und notwendig er-wiesen. Der für die gesamtdeutsche Mannschaft ernannte Attaché, Herr Baron von Nordegg-Rabenau, sah seine Aufgabe in der
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Hauptsache auf repräsentativem Gebiet und wälzte die wichtige Kleinarbeit auf seinen Gehilfen, Mr. Elton aus Melbourne oder auf unseren Attaché, Walter Kaufmann, ab. Mr. Elton konnte sich ge-gen die Anweisungen des Barons nur ungenügend zur Wehr set-zen, wurde deshalb mit Arbeit überhäuft, fing alles an - zumal er auch Aufträge von Herrn König bekam - aber führte nur Weniges zu Ende.
Herr Kaufmann bemühte sich vom ersten Tage an, einen engen Kontakt zum Organisationskomitee herzustellen und bei der Lö-sung der Fragen der gesamtdeutschen Mannschaft die Interessen der DDR-Sportler zu berücksichtigen. Er war von den bei den meis-ten verantwortlichen Mitarbeitern des Organisationskomitees, die mit der praktischen Arbeit etwas zu tun hatten, der Bekannteste...
IV. Unterkunft...
2. Aufteilung der Unterkünfte
Seitens des NOK der Bundesrepublik, deren Geschäftsführer, Herr König, vor uns in Melbourne war, wurde versucht, die Einteilung der Quartiere so vorzunehmen, daß die Teilnehmer der DDR im viel größeren Kontingent untergehen. Einer solchen Einteilung wurde unsererseits nicht zugestimmt und erreicht, daß unsere Mannschaftsteile gemeinsam mit ihren Trainern wohnten. Diese Regelung wirkte sich in der Praxis noch günstiger aus, als wenn unsere Mannschaft insgesamt zusammengewohnt hätte.
Durch die engen Berührungspunkte, die unsere Sportler und Trai-ner mit den westdeutschen Athleten bekamen, entwickelte sich teilweise ein guter Kontakt, der vielfach so weit ging, daß sich die westdeutschen Athleten bei unseren Betreuern Rat und Hilfe hol-ten...
VI. Ärztlicher Bericht
Für die ärztliche Betreuung während der Vorbereitungsperiode und des Aufenthalts in Melbourne war Herr Prof. Dr. Nöcker verantwort-lich. Sämtliche Olympiakandidaten wurden in Leipzig einer gründli-chen Untersuchung unterzogen und entsprechend den vorge-schriebenen Bedingungen geimpft. In diesen Untersuchungen wur-de festgestellt, daß unsere Sportlich sich in einem ausgezeichne-ten Trainingszustand befanden...
Sorge bereitete in der Vorbereitung das Ausmaß der Rückwirkung der Umstellung auf den Tag-Nacht-Rythmus. Nach der Ankunft wurde das Training bereits am 2. Tag voll aufgenommen und auf
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diese Weise die Rythmus-Umstellung beschleunigt. Es kann ge-sagt werden, daß auch die Rythmus-Umstellung bei weitem nicht die Rolle gespielt hat, die man ihr vorher zuzuschreiben geneigt war...
Bereits im Rahmen der gesamten Vorbereitung in Melbourne gab es bei vielen Ländern eine verhältnismäßig hohe Verletzungsquote. Vor allem bei den europäischen Nationen, weil hier die Athleten über ein halbes Jahr hoher und höchster Wettkampfbelastung aus-gesetzt waren. Aufgrund dieser langen Höchstbelastung durch Training und Wettkampf ist die Gefahr der Schädigung der Kreis-lauf- und Atmungsorgane viel geringer als die Schädigung des Bin-degewebes. So ist es auch kein Zufall, daß bei allen europäischen Mannschaften eine abnorme Häufung von Achillessehnenentzün-dungen auftraten, daß man von einer neuen „Olympia-Krankheit“ sprach...
VII. Trainingsvorbereitungen in Melbourne ...
2. Allgemeine Trainingsprobleme
Durch die in Berlin bereits gegebenen Hinweise über die physiolo-gischen Auswirkungen der neuen klimatologischen Bedingungen sowie die Veränderung des Tageszeitrythmus sahen wir der Trai-ningsarbeit in Melbourne verhältnismäßig skeptisch entgegen. Wir waren bemüht, Wege zu finden, auch unter den neuen Bedingun-gen den Nachtschlaf unserer Sportlerinnen und Sportler zu garan-tieren. Aus diesem Grunde wurde bereits am Morgen nach unserer Ankunft, ebenso am Nachmittag, mit einem harten und intensiven Training begonnen...
Grundlage für die Trainingsarbeit waren die zu Hause aufgestellten individuellen Trainingspläne. Je nach dem Befinden der Aktiven wurde die Dosierung vermindert oder erhöht. Durch diese Methode wurde in 75 % aller Fälle erreicht, daß unsere Jungen und Mädel ihre Höchstform bei den Wettkämpfen hatten...
3. Training in Mount Macedon
60 Meilen von Melbourne entfernt in ca 6 - 700 m Höhe, hatte un-sere Leitung ein Ausweichquartier gemietet. In herrlicher Land-schaft und wunderbarer Ruhe nahmen unsere Leichtathleten (Mit-tel- und Langstreckler) sowie unsere Straßenfahrer Gelegenheit zur Vorbereitung. Es war dort möglich, auf einem Kricket-Platz und einer Pferderennbahn zu trainieren, während sich unsere Rad-sportler dem olympischen Kurs ähnelnde Strecken zum Training
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heraussuchten. Alle Sportler fühlten sich dort oben sehr wohl und kamen nervlich erholt und auch physisch gestärkt ins olympische Dorf zurück. ...
IX. Kurze Berichte der einzelnen Sportarten
1. Leichtathletik...
Einige Schlußfolgerungen, die z.T. für alle Sportarten zutreffen:
a) Nur der Athlet, der über Jahre hinaus bei hoher Trainingsbelas-tung und Intensität kontinuierlich aufgebaut ist und zur Selbstän-digkeit erzogen wurde, konnte im Olympischen Wettkampf beste-hen.
b)Um die in Melbourne errungenen Erfolge unserer Sektion fundie-ren, festigen und ausbauen zu können, ist eine generelle Orientie-rung auf die Entwicklung unserer Jugend erforderlich.
c) Das Prinzip der Vielseitigkeit muß in unserer Jugendarbeit ziel-strebiger und folgerichtiger Anwendung finden...
e) Unsere Leistungsplanung sollte jeweils für den Zeitraum einer Olympiade (4 Jahre) aufgestellt werden. Die zwischen den Spielen stattfindenden Europameisterschaften sollten jeweils Prüfstein für die Richtigkeit des methodisch eingeschlagenen Weges in der sportlichen Ausbildung sein.
f) Internationale Erfahrung muß unseren Athleten systematisch an-erzogen werden. Nachdem wir Mitglied der Internationalen Födera-tion geworden sind, dürfen wir nicht mehr blind jeder internationa-len Einladung mit unseren Spitzenathleten folgen...
Auf die gesamtmethodische Auswertung wird an dieser Stelle be-wußt nicht eingegangen, da die... DDR-Trainer nach Fertigstellung der 1000 m Filmmaterial (16 mm) ... diese Auswertung vornehmen werden...
6 a) Bahnradsport
Nachteilig war, daß von der Vierermannschaft die drei DDR-Sportler rund 12 Tage allein trainieren mußten, da der westdeutsche Sport-freund Gieseler erst sehr spät in Melbourne ankam... Während Ma-litz, Nitsche und Köhler auf 725 Trainings-km. kamen, konnte Giese-ler nur 210 km zurücklegen...
6 b Radsport (Straße)
... Hätte der westdeutsche Sportfreund Pommer nach seinem Her-anfahren in der letzten Runde nicht den Fehler begangen, einen Vorstoß zu unternehmen, wäre Schur’s Vorhaben auf Grund seiner guten Form gelungen, am letzten Berg seinen überraschenden
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Vorstoß zu unternehmen. Damit wäre im Einzelfahren die Silberne Medaille noch zu gewinnen gewesen...
X. Berichte über Kongresse...
5. Kongreß der FIH (Hockey)
Auf diesem Kongreß wurde die endgültige Anerkennung der Sekti-on Hockey beraten. Bisher war die Sektion nur provisorisches Mit-glied... Der Antrag... wurde von Herrn Frank (Generalsekretär) und den Vertretern Indiens und Pakistans unterstützt. Auch nach der Begründung des Antrages durch Herrn Staake sprach niemand dagegen. Wieder wurde vom indischen Vertreter offene Abstim-mung gefordert, während Herr Reinberg... Präsident des westdeut-schen Hockey-Verbandes... die geheime Wahl wünschte. Die Sek-tion wurde mit 13 zu 6 Stimmen als Vollmitglied in die Internationa-le Föderation aufgenommen...
6. Kongreß der FIHC (Gewichtheben)
Im Kongreß der FIHC stand die Wahl des Präsidenten im Mittel-punkt. Bei der Diskussion ging es ziemlich erregt zu. Entsprechend den Statuten war Herr Nyberg (Finnland) als einziger für die Wie-derwahl vorgeschlagen worden... Durch ein abgestimmtes Manö-ver zwischen USA, Trinidad, Malaia und Südkorea wurde versucht, den von den USA vorgesehenen Kandidaten Johnson als Gegen-kandidat aufzustellen. Nach dreistündiger heftig geführter Diskus-sion, wo den Delegierten der USA seitens des französischen Ge-neralsekretärs schwere Vorwürfe über Wahlbeeinflussung und ein-seitige zweckgerichtete politische Propaganda gemacht wurde, kam es zur geheimen Abstimmung, ob Johnson kandidieren dürfe. Mit 18 zu 15 Stimmen wurde für Johnsons Kandidatur gestimmt. Vor der Abstimmung gab es eine Diskussion über die Stimmbe-rechtigung der DDR. Von einigen Präsidiumsmitgliedern wurde dieselbe abgelehnt, vom Präsidenten, dem Generalsekretär jedoch zugebilligt. Der als Mitglied des IOC anwesende Baron von Frenkel setzte sich ebenfalls für die Stimmberechtigung der DDR ein. In ei-ner spannungsgeladenen Kampfabstimmung... wurde Präsident Nyberg mit unserer Stimme im Gesamtergebnis 17 zu 16 für weite-re vier Jahre wieder gewählt...
2. Unser Zusammenwirken mit den befreundeten Ländern
Die Mannschaftsleitung der DDR-Delegation hatte mit den Vertre-tern der befreundeten Länder einen guten Kontakt. Beim Eintreffen
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des sowjetischen Delegationsleiters Romanow waren Vertreter der befreundeten Länder auf dem Flugplatz...
Die ungarischen Emigranten in Australien waren bemüht, Unsi-cherheit in die Mannschaft zu tragen, Falschmeldungen zu verbrei-ten, die Sportler von der Rückreise in die Heimat abzuhalten und die Tätigkeit der schiedenen Agenten- und Spionage-Organisationen in Australien zu unterstützen... Nachdem bekannt war, daß die Flug-Gesellschaft einen Tag vor dem Abflug der unga-rischen Delegation die Forderung nach Bezahlung stellte und eine entsprechende Deckung bei der Australischen Bank für die ungari-schen Sportler nicht vorhanden war, sollte die Australische Regie-rung als „Retter in der Not“ auftreten. Die befreundeten Länder ent-schieden sich für die Übernahme der Kosten. Die DDR-Delegation gab 6000 Pfund = 12 000 Dollar von insgesamt 40 - 50000 Dollar...
XII. Ausflüge und Freizeitgestaltung...
Um den Sportlern die Möglichkeit zu geben, in ihrer Freizeit die Umgebung Melbournes kennenzulernen, wurde auf Anregungen zurückgegriffen, die durch den Deutschen Club in Melbourne ge-macht wurden. So war es möglich, daß zu jeweils vereinbarten Zei-ten Vertreter des Deutschen Clubs mit ihren Kraftfahrzeugen be-reitstanden, um den Sportlern in kleineren und größeren Gruppen die Umgebung von Melbourne zu zeigen. Des weiteren wurden vom Deutschen Club zwei Bälle zu Ehren der gesamtdeutschen Olympiamannschaft organisiert, an denen auch eine Reihe Sportler der DDR teilnahm...
Eine Gepflogenheit hatte sich in der Mannschaft der DDR während der Zeit der Olympischen Spiele herausgebildet, daß alle die Sportarten, die mit ihrem Wettkampf zu Ende waren, eine kleine Feier gaben, wo die erfolgreichsten Sportler mit kleinen persönli-chen Geschenken geehrt wurden... Vor allem wurden gerade bei diesen Zusammentreffen die guten Verbindungen mit den west-deutschen Sportlern, die teilweise an diesen Feiern teilgenommen haben, hergestellt...
XIV. Zusammenfassung
Zusammenfassend muß gesagt werden, daß das Auftreten der DDR-Sportler im Rahmen einer gesamtdeutschen Delegation er-folgreich war. Unsere Beteiligung an den Olympischen Spielen trug dazu bei, das Ansehen der Deutschen Demokratischen Republik zu stärken...
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Auch leistungsmäßig hat die Sportdelegation unserer Republik die in sie gestellten Anforderungen erfüllt und sich im Gesamtklasse-ment unter 67 Nationen einen achtbaren 15. Platz erkämpft...
Die im Bericht aufgezeigten während der Vorbereitung und der Spiele aufgetretenen Mängel und Schwächen müssen Anlaß sein, schon jetzt die entscheidenden Schlußfolgerungen für die Weiter-führung der olympischen Arbeit und die Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 1960 zu ziehen. Die Hauptschlußfolgerungen sind:...
3. Die bestehenden Kontakte zum Nationalen Olympischen Komi-tee der Bundesrepublik müssen weiter aufrechterhalten werden. Das kann in der Hauptsache in schriftlicher Form erfolgen.
4. Das Nationale Olympische Komitee der DDR muß sich bemü-hen, in den kommenden Jahren die volle Anerkennung des IOC zu erhalten, da die in Paris gestellte Forderung - mit einer gesamt-deutschen Mannschaft in Melbourne teilzunehmen - erfüllt wurde.
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OPERATION FRIEDENSFAHRT
Von KLAUS HUHN
I. Briefwechsel mit einem Lektor
Sachverhalt:
Im Frühjahr 1997 erschien im Berliner Sportverlag das Buch „100 Highlights Friedensfahrt“. Als Autoren wurden Manfred Hönel und Olaf Ludwig genannt. Im Innentitel: „Redaktion: Michael Horn“.
„BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE“ publizierte ein Sonder-heft zur 50. Friedensfahrt, herausgegeben von dem Mitglied des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, Rolf Kutzmutz, und Klaus Huhn. Das Sonderheft enthielt auch ein Interview mit Klaus Huhn.
Zitat:
„KLAUS HUHN: ...die ganze Geschichte des Rennens wurde schlicht umgeschrieben... Ein Redakteur von „Bild“ und ein Redak-teur der „Welt“ taten sich zusammen und gewannen Olaf Ludwig als Co-Autor... Daß das Kapitel ‘Prolog’ wie ein billiger Krimi be-ginnt, ist Sache des Verlages, aber eben typisch für das ganze Produkt: ‘Über Warschau liegt leichter Nebel. Es ist, als wolle je-mand ein Tuch über die Stadt werfen, damit man die ungeheuren Trümmerberge nicht sieht. Zygmunt Weiss, Sportjournalist der ‘Trybuna Ludu’ schaut an diesem Herbsttag des Jahres 1947 mit starrem Blick aus dem Fenster. Angestrengt denkt er nach: Was kann ich nur tun, um diese bedrückend graue Erbschaft eines fürchterlichen Krieges aufzuhellen? Vor seinen Augen rollt das bunte Fahrerfeld der Tour de France vorbei, wie er es in den drei-ßiger Jahren gesehen hatte... Plötzlich ein schrilles Klingeln. Das Telefon. Am anderen Ende eine unbekannte Stimme. In einem Kauderwelsch aus Polnisch und Tschechisch versteht Weiss den Namen der Prager Zeitung ‘Rude Pravo’. ‘Es muß Gedankenüber-tragung gewesen sein. Weiß der Teufel, wer zuerst auf die Idee gekommen ist. Aber wahrscheinlich Karel, aber zumindest hatte er die Initiative ergriffen und mich angerufen. Beide, Weiss und sein Prager Kollege Karel Tocl, werden sich schnell einig. Jawohl, wir veranstalten ein Radrennen. Im Mai 1948 von Prag nach War-schau.’
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Mein Kommentar zu dieser Darstellung der Geschichte: Hollywood läßt grüßen. Tatsache ist: Zygmunt Weiss war nie Redakteur bei ‘Trybuna Ludu’, die damals auch gar nicht ‘Trybuna Ludu’, sondern ‘Glos Ludu’ hieß. Der ehemalige tschechische Mittelstreckenläufer Tocl war in Prag nie auch nur einen Tag in der Redaktion der ‘Ru-de Pravo’ tätig gewesen - er fertigte Überland-Omnibusse ab, war also auch nie Kollege von Weiss. Sie haben auch im Herbst 1947 nie miteinander telefoniert, auch nicht kauderwelschend...
BEITRÄGE: Ist es so wichtig zu erfahren, wie es zur ersten Fahrt kam?
KLAUS HUHN: Für ‘Bild’ sicher nicht. Es mag auch Wichtigeres geben, als der Geburtsstunde der Friedensfahrt nachzuspüren, aber es muß doch Gründe geben, allgemein Bekanntes hem-mungslos auf den Kopf zu stellen. Und nach diesen Gründen muß man nicht lange forschen. Die Weiss-Tocl-Story macht die Tour de France endlich unwiderruflich zur Patin der Friedensfahrt. Und da-mit sind die geschichtlichen Zusammenhänge endlich in den ‘neu-en’ Bahnen. Daß der gleiche Verlag, der dieses Buch herausbrach-te, früher zahlreiche Friedensfahrtpublikationen präsentiert hatte, die sich auf verbürgte Quellen stützten, stört niemanden... Zwei kommunistische Zeitungen hatten dieses Rennen gegründet. Und das mißfiel.“
1.Brief:
(Absender: Michael Horn auf Kopfbogen des Sportverlages am 14.5.1997) Sehr geehrter Herr Huhn,
Ihre Ein- und Auslassungen zum Friedensfahrt-Buch des Sportver-lags habe ich als betreuender Lektor mit Interesse zur Kenntnis genommen. Daß Sie als d e r Chronist der Fahrt zumindest bis 1989 gewisse historische Details besser kennen, davon war aus-zugehen; insofern dürfen Sie auch die Aufzählung Ihrer Bücher im Impressum als Würdigung Ihrer Arbeit verstehen.
Ich freue mich, daß Sie die Frage nach der Empfehlbarkeit des Bu-ches bejahen. Nicht nur Täve Schur, Wolfram Lindner, Otto Fried-rich etc. halten allein die Tatsache für bemerkenswert, daß sich in diesem Land ein Verlag findet, der das Risiko eingeht, in einem re-präsentativen Text-Bild-Band eine große Fahrt zu würdigen, die zwei Drittel der Bevölkerung höchstens vom Hörensagen kennen. Aber das nur nebenbei. Daß hier samt und sonders einstige DDR-
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Journalisten (mich einbegriffen) am Werk waren, halte ich für wich-tig, um Authentizität zu wahren und gleichzeitig der "FF" ihren Glo-rienschein zu nehmen, der tatsächlich Geschehenes hinter "perfek-ter Organisation - Völkerverständigung - Friedenserhaltung - rasan-tem Sport" auch mit beleuchtet. Sie haben also völlig recht, wenn Sie eine "umgedeutete" oder umgeschriebene" Geschichte ausma-chen. Wann erfuhr der geneigte Leser aus früheren DDR-Publikationen schon etwas über Dieter Wiedemann, Wolfgang Lötzsch, Siegbert Schmeißer oder Bernd Knispel? Oder über di-verse "Gefechte", wie sie jüngst im ORB Olaf Ludwig zum besten gab? Leider konnten wir diesbezüglich in alten "FF"-Büchern nicht fündig werden. Vermutlich wurde auch etwas umgeschrieben und umgedeutet. Aber, na gut, das ist Schnee von gestern. Wir vom Sportverlag freuen uns jedenfalls über das Wiedererblühen der Friedensfahrt, und auch in dieser Hinsicht sind wir ja einer Mei-nung!
Michael Horn
2. Brief
(Absender: Klaus Huhn a, 16. 5.1997)
Sehr geehrter Herr Horn!
Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief, den ich vor allem amüsiert gelesen habe. Mir fehlte für die Oktober-Ausgabe der von uns her-ausgegebenen „Beiträge zur Sportgeschichte“ für den Beitrag „Operation Friedensfahrt“ ein guter Aufhänger. Den habe ich nun und deshalb ist der Dank durchaus ernst gemeint. In diesem Heft werde ich mich ausführlich mit der umgeschriebenen Geschichte befassen. Deshalb wäre es auch müßig, jetzt darauf einzugehen, was Ihr „geneigter Leser aus früheren DDR-Publikationen“ nicht er-fuhr. Besonders amüsant empfand ich Ihren Hinweis auf das Risiko „eine Fahrt zu würdigen, die zwei Drittel der Bevölkerung höchs-tens vom Hörensagen kennt.“ Ich las in dem von Ihnen lektorierten Buch keinen Hinweis darauf, wie sich das jahrzehntelange - gelin-de formuliert - Mediendesinteresse an der Fahrt in dem Wohnge-biet der zwei Drittel wohl erklären lassen könnte. Das hätte den „geneigten Leser“ in dem einen Drittel vielleicht auch interessiert...
Dr. Klaus Huhn
3. Brief
(Absender: Michael Horn auf Kopfbogen des Sportverlages am 21.5.1997)
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Sehr geehrter Herr Huhn,
ich bestätige den Erhalt Ihres Briefes vom 16. Mai. Das Amüse-ment war ganz auf meiner Seite, aber vielleicht kommt die selbst-gefällige Art, mit der Sie sich selbst huldigen, bei den Lesern Ihrer Produkte besser an als bei mir.
Doch Sie haben eine Frage gestellt, deren Antwort ich nicht schul-dig bleiben will: Mit dem Medieninteresse im "Wohngebiet der zwei Drittel" (West) wird es sich wohl so verhalten haben, wie mit dem "Interesse" des ND unter Ihrer Ägide an der "Tour de France". Der Unterschied war allerdings der, daß Sie sich zusätzlich die Macht nahmen, Journalisten, die nicht so wollten wie Sie, das Leben schwer zu machen. Sie hatten 40 Jahre Zeit, Ihre Meinung zur Friedensfahrt mitzuteilen. Jetzt sind auch mal andere dran!
Bitte vergessen Sie nicht in Ihrem nächsten Beitrag in der Oktober-Ausgabe der "Beiträge zur Sportgeschichte", diese meine Zeilen in vollem Wortlaut zu zitieren.
Ich habe diesbezüglich allerdings leider nur geringe Erwartungen.
Michael Horn
KOMMENTAR
Der zuweilen Haß tangierende Ton - „ Sie hatten 40 Jahre Zeit, Ih-re Meinung zur Friedensfahrt mitzuteilen. Jetzt sind auch mal ande-re dran!“ - soll ebensowenig Gegenstand eines Disputs sein, wie Unterstellungen, die mit meiner früheren Tätigkeit zu tun haben und schon gar nicht die vagen Verdächtigungen, die Herr Horn mit dem Hinweis auf „Schwierigkeiten“ umschreibt, die ich anderen be-reitet hätte. Es ließe sich allenfalls als Symptom für den Stil der Auseinandersetzungen werten, die heute geführt werden.
Zu den Fakten:
1. Daß die Autoren des Buches die hinlänglich bekannten Fakten über die Entstehung der Fahrt verfälschten, wurde von niemandem bestritten. Im Gegenteil, Lektor Horn bekannte: „Sie haben also völlig recht, wenn Sie eine ‘umgedeutete’ oder ‘umgeschriebene’ Geschichte ausmachen.“
2. Zu der auch von ORB-Reporter Boßdorf in einer Fernsehrunde immer wieder strapazierte Frage nach den Prügeleien der Renn-fahrer unterwegs, speziell der Fahrer der DDR und der UdSSR. Herr Horn: „Wann erfuhr der geneigte Leser aus früheren DDR-Publikationen schon etwas über... diverse "Gefechte", wie sie
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jüngst im ORB Olaf Ludwig zum besten gab? Leider konnten wir diesbezüglich in alten ‘FF’-Büchern nicht fündig werden.“
Bedauerlich für Herrn Horn. In früheren Publikationen, aber auch in dem 1995 von Täve Schur im Spotless-Verlag herausgegebenen Taschenbuch „Friedensfahrt“ findet sich zum Beispiel folgender Text aus dem Jahre 1965: „Der kubanische Winzling Herr hatte sich inzwischen an die rauhe Luft des Rennens gewöhnt. Als ihn bei einer harten Jagd auf dem Weg nach Poznan ein Däne von der Straßenkante drängte, langte er nach seiner Luftpumpe und hieb kräftig auf den Rücken des Mannes im roten Trikot. In der wilden Hatz blieb keine Zeit, den Fall zu klären, aber beim Abendessen vertrugen sich beide wieder und ein am Nebentisch sitzender Bel-gier meinte grinsend: ‘Vorsicht mit den Kubanern!’“
Nie war behauptet worden, daß die Versammlung von Rennfahrern auf den Straßen mit dem Ausflug eines Mädchenpensionats zu vergleichen wäre. Es wurde oft gedrängelt, zur Luftpumpe gelangt und auch schon mal ein Hieb ausgeteilt. Sahen es die Schiedsrich-ter fand man das geahndete Delikt abends im Resultat vermerkt, die Zahl der verhängten Strafsekunden ebenfalls.
3. Horn: „Wann erfuhr der geneigte Leser aus früheren DDR-Publikationen schon etwas über Dieter Wiedemann, Wolfgang Lötzsch, Siegbert Schmeißer oder Bernd Knispel?“
In dem 1987 vom Sportverlag herausgegebenen Friedensfahrtbuch „Jedesmal im Mai“ erfuhr man auf Seite 260, daß Dieter Wiede-mann in der Gesamtwertung Dritter der 17. Friedensfahrt geworden war. Das war sein einziger Friedensfahrtstart. Daß er einige Mona-te später am Morgen der Olympiaausscheidung in Gießen nicht am Start erschien, hat mit der Friedensfahrt erkennbar nichts zu tun.
Siegbert Schmeißer und Bernd Knispel waren 1978 in eine Affäre verwickelt, die in dem von Herrn Horn lektorierten Buch so darge-stellt wird: „Der Wunsch nach einer Stereoanlage bringt Siegbert Schmeißer den Karriereknick. Bei einem Trainingsaufenthalt im winterlichen Zakopane entdecken die Radasse Hifi-Geräte, die in der DDR nicht zu haben sind. Die Jungen zögern nicht lange und tauschen auf dem Schwarzmarkt DDR-Mark gegen Zloty. Die An-lagen werden im Kleinbus von Trainer Dr. Bernd Knispel verstaut. Doch da gerade im exklusiven Zakopane die Überwachungsme-chanismen bestens funktionieren, erwarten die Zöllner an der Nei-ße bereits die Trainingsgruppe. Der Bus wird auseinandergenom-
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men, die Mitbringsel beschlagnahmt. Es folgt das Übliche: Meldung an den DTSB. Siegbert Schmeißer, Peter Koch und der Frankfurter Tilo Fuhrmann fliegen nicht nur aus dem Nationalkader, sondern gleich noch aus ihren Sportclubs raus.“ Der geneigte Leser mag sich selbst sein Urteil bilden und entscheiden, was jener Fall von Schmuggel mit der Friedensfahrt zu tun hat?
Herr Horn sollte sich vielleicht die Frage stellen, wo man in seinem Buch etwas von den beiden BRD-Nationalfahrern Grupe und Reineke erfährt, die mit einer spektakulären politischen Erklärung von der BRD in die DDR gewechselt waren und 1955 in der DDR-Friedensfahrtmannschaft starteten? Das wurde in früheren Frie-densfahrtpublikationen nicht hervorgehoben aber wenn die Ge-schichte nun „umgedeutet“ wird, sollte man diesen Fakt nicht un-terschlagen.
4. Tour de France. Hier genügen zwei Sätze. Herr Horn konstruiert: „Mit dem Medieninteresse im ‘Wohngebiet der zwei Drittel’ (West) wird es sich wohl so verhalten haben, wie mit dem ‘Interesse’ des ND unter Ihrer Ägide an der ‘Tour de France’“. Der simple Unter-schied: An der Tour war die DDR nicht beteiligt. Dennoch berichte-te „Neues Deutschland“ etwa so auführlich wie „Bild“ 1997 über die Friedensfahrt.
II. Das Stasigespenst
Die Nachricht
Am 7. Mai war die Friedensfahrt in Potsdam gestartet worden - üb-rigens im Gegensatz zu DDR-Zeiten a) von einem Politiker (Minis-terpräsident Stolpe) und b) mit einer Pistole statt mit einer Start-flagge. 72 Stunden nach dem von Zehntausenden umjubelten Auf-takt verbreitete die Nachrichtenagentur sid folgende Nachricht:
„Sa./So., 10./11. Mai 1997
Staatssicherheit fuhr mit
Friedensfahrt-Direktor Klaus Huhn Stasi-Spitzel
Täve Schurs Fluchtversuch/
Rad-Fernfahrt Klassenkampf-Instrument
Köln (sid) Die internationale Rad-Friedensfahrt war für die Staats- und Sportführung der DDR offenbar ein Instrument des Klassen-kampfes. Die DDR-Staatssicherheit observierte Teilnehmer und Journalisten aus Belgien und Frankreich, wo mit der "Tour de France für Amateure" ein Konkurrenzrennen zu entstehen drohte. Wie aus dem Deutschlandfunk vorliegenden Unterlagen hervor-
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geht, soll zudem der letzte Tour-Direktor vor der Wende ein lang-jähriger Stasi-Spitzel gewesen sein: 'Klaus Huhn (Deckname ‘Heinz Mohr’), der als Sportchef des Mitveranstalter-Parteiorgans Neues Deutschland jahrelang Rundfahrt-Direktor war.
Den Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zu-folge wurde die Absage der Belgier für die Friedensfahrt im Jahr des Mauerbaus 1961 von der DDR als ‘ein Erfolg für die reaktionä-ren katholischen Kräfte im belgischen Radsportverband’ gewertet. Im selben Jahr organisierte die französische Sportzeitung L'Equipe erstmals eine ‘Tour de France’ für Amateure.
Die Teilnahme der Polen hätten sich die Franzosen durch eine Zahlung von 1.000 Francs an die polnischen Friedensfahrt-Akteure erkauft, so das MfS. Die Stasi habe daraufhin verfügt, L'Equipe-Journalisten ins Visier zu nehmen ‘und festzustellen, welche neuen Verbindungen sie knüpfen’. Huhn soll es übernommen haben, ‘die Vertreter des kapitalistischen Auslandes’ zu beobachten.
In den Stasi-Akten dokumentiert ist auch die Ausbootung des Rad-sportlers und Trainers Klaus Ampler vor der Weltmeisterschaft 1961 in der Schweiz. Der Vater des Telekom-Profis Uwe Ampler soll demnach von seinem Sportkollegen Gustav ‘Täve’ Schur, Frie-densfahrt-Sieger 1955 und 1959, der DDR-Flucht verdächtigt wor-den sein.
DDR-Staatstrainer Weissbrodt habe darauf folgenden Plan entwi-ckelt: Ampler wird für die DDR offiziell nominiert, danach werde ‘organisiert, daß Ampler zwei bis drei Tage vor der Abfahrt der Mannschaft leicht erkrankt und aus diesem Grunde nicht mitfahren kann’. Am 11. September 1961 habe Klaus Huhn in Berlin-Schönefeld berichtet: ‘In der DDR-Mannschaft gab es zu den ge-gen Ampler eingeleiteten Maßnahmen keinerlei negative Stimmun-gen.’
Während die Internationalität der Friedensfahrt in der DDR-Propa-ganda stets betont wurde, trafen sich die sozialistischen Staaten zu eigenen ‘Friedensfahrt-Konferenzen’, bei denen es in der Diskussi-on um Änderungen an der Rundfahrt-Konzeption vor allem Ausei-nandersetzungen zwischen Vertretern der DDR und der UdSSR gab.
Zugleich spiegeln die Dokumente der Friedensfahrt die Zustände im DDR-Sport: Ausdelegierungen von Fahrern wegen politischer Unzuverlässigkeit, Streit ums Geld zwischen Dachverband DTSB
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und Radsportverband der DDR sowie Vorwürfe menschlichen Fehlverhaltens.
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Kommentar
Interessanterweise ließ der Deutschlandfunk mehrere Bitten, Hö-rern den Originaltext oder wenigstens den Mitschnitt zu überlassen, unbeantwortet. Obendrein scheint die Material-Lieferung aus der Gauck-Behörde dritte Wahl gewesen zu sein.
Möglicherweise hatte niemand mit einem so enormen Zuschauer-zuspruch bei der durch Täve Schurs Energie wiederbelebten Fahrt gerechnet - Fachleute konstatierten über eine Million am Straßen-rand in den neuen Bundesländern. Also wurde eine Nachricht be-nötigt, die den Ruf des Rennens beschädigen sollte. In der Eile fiel die angeforderte „Enthüllung“ höchst oberflächlich aus.
1. Es gab nie eine „Tour de France für Amateure“. Gemeint sein könnte die „Tour de l’Avenir“. Sollte das MfS trotz „Mitfahren“ die-sen Unterschied nicht wahrgenommen haben, würde das entweder gegen das MfS oder die Verfasser der ihm zugeschriebenen Do-kumente sprechen.
2. Die Behauptungen über Klaus Huhn waren bereits 1996 von „Focus“ verbreitet worden und gewannen durch die Wiederholung nicht an Beweiskraft.
3. Die Absage der Belgier zur Friedensfahrt mit dem Mauerbau in Verbindung zu bringen ist ein weiterer schlüssiger Beweis gegen die Glaubwürdigkeit der „Akten“: Die Friedensfahrt fand im Mai, der Mauerbau im August statt. Das MfS sollte das wahrgenommen ha-ben.
4. Das MfS dürfte auch gewußt haben, daß es bei der Fahrt keinen Vertreter der „L’Equipe“ gab und sich eher damit befaßt haben, wie man der auch in der DDR unüberhörbaren Pfeifkonzerte gegen sowjetische Fahrer beikommen könnte. In Leipzig wurde zum Bei-spiel ein FDJ-Orchester aufgeboten, das die Pfiffe übertönen sollte. Das Problem: bei der Ankunft der Fahrer legten die FDJler die In-strumente beiseite und pfiffen. Keine Zeile darüber in den Stasi-Akten?
5. Für die „Qualität“ der Dokumentation zeugt auch die Unterzeile der Nachricht: „Täve Schurs Fluchtversuch“...
6. „Während die Internationalität der Friedensfahrt in der DDR-Propaganda stets betont wurde, trafen sich die sozialistischen
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Staaten zu eigenen ‘Friedensfahrt-Konferenzen’, bei denen es in der Diskussion um Änderungen an der Rundfahrt-Konzeption vor allem Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der DDR und der UdSSR gab.“ Die Internationalität kann durch besagte Konferenzen nicht beschädigt worden sein. Gemeint sind die alljährlichen Zusammenkünfte der Sportleitungen der sozialistischen Länder, in denen wohl auch über die Friedensfahrt geredet wurde. Zum Bei-spiel forderten UdSSR-Sportfunktionäre mehrmals, die Strecke durch die Sowjetunion zu führen. Das wurde von den Veranstaltern immer wieder abgelehnt und erst 1985 - zum 40. Jahrestag der Be-freiung - mit dem Auftakt in Moskau akzeptiert.
Zu konstatieren bliebe, daß man bei der „Operation Friedensfahrt“ gewissen in den letzten Jahren im Hinblick auf den DDR-Sport praktizierten Prinzipien treu blieb. Geraten Geschichtsschreiber (genauer: Geschichtenschreiber) in Not, hilft die Gauck-Behörde aus. (Partiell, denn im Falle Stolpe - Starter der 50. Fahrt - verzich-tete man in diesem Fall auf die Erwähnung von Vorkommnissen.)
Es gäbe keinen hinlänglichen Grund dieser Methode soviel Auf-merksamkeit zu schenken, wäre da nicht die Gefahr, daß die Wahrheit in einigen Jahren in den Hintergrund gerät.
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Fragen und Fragwürdiges
Von MARGOT BUDZISCH und HEINZ SCHWIDTMANN
Die folgenden Zeilen sollen als Anmerkungen zu einem Workshop des Bundesinstituts für Sportwissenschaften in Köln zur Geschich-te des DDR-Sports verstanden werden, dessen Beiträge uns schriftlich erreichten. Das Institut verdient Achtung dafür, einem solchen Gedankenaustausch nicht nur sein Dach geliehen, son-dern ihn auch engagiert realisiert zu haben.
Die dargebotenen Inhalte offenbaren aber Widersprüchliches und sind Anlaß, Fragen aufzuwerfen. Schon in der kurzen Information zur Entstehung dieses Forschungsprojektes erfuhr man am Beginn des Workshops am 18. April diesen Jahres nur, daß es dafür zwei Beweggründe gab. Einmal die Arbeit und Aussagen der „Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung von Geschichte von Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ und zum anderen ein Bericht auf der Grundlage der Unterlagen des Staats-sicherheitsdienstes der DDR zu den Verflechtungen des Sports mit der Stasi. Es wird auch festgestellt, daß der deutsche Sport großes Interesse an der Aufarbeitung der Geschichte der DDR zeigt. Man kann also in der kurzen Information keinerlei sachbezogene und an zeitgeschichtlichen Entwicklungstatsachen orientierte wissen-schaftliche Begründungen für diese Forschungsprojekte erkennen. Insofern und aufgrund mancher der vorgetragenen Ergebnisse drängen sich einige ganz grundsätzliche Fragen auf:
1. Es hat bis 1990 zwei völkerrechtlich anerkannte deutsche Staa-ten gegeben, die seit ihrer Existenz besonders aufeinander bezo-gen waren. Und das nicht nur in den zwei Jahrzehnten des Bemü-hens um die internationale Anerkennung der DDR1) in denen es Ziel der BRD, insbesondere ihrer Außenpolitik, war, diese Aner-kennung zu verhindern, und zwar auf allen Ebenen und in allen Be-reichen, auch in den internationalen Organisationen des Sports. Wer diese Tatsachen berücksichtigend für sich in Anspruch nimmt, Historiker zu sein und eine wissenschaftlich begründete Arbeits-weise zu praktizieren, muß zunächst einmal fragen: Ist es nicht notwendig, Forschungsprojekte zur Geschichte des deutschen Sports als Ganzes von 1945 bis 1990 vorzusehen und darin einge-schlossen die Geschichte des Sports in der BRD und der DDR zu
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untersuchen in ihrem Aufeinanderbezogensein und mit ihren sys-temspezifischen Besonderheiten? Zumal - will man JESSEN und seinen Mitautoren glauben - die konzeptionellen Überlegungen der zeithistorischen Forschung „nicht auf eine isolierte 'nachholende' DDR-Historiographie, eingezwängt zwischen den 7. Oktober l949 und den 3. Oktober 1990, sondern auf eine Geschichte in Zusam-menhängen“2) zielen. Historiker und unvoreingenommene Zeitzeu-gen werden wohl nicht bestreiten, daß die Sportgeschichtsschrei-bungen beider deutscher Staaten Korrekturen, veränderte Sicht-weisen u.a. notwendig haben, wie HUHN3) und BUSS4) exempla-risch nachweisen konnten. Wer mehr beziehungsweise am meis-ten davon braucht, bleibt abzuwarten. Das DAUME-aide-memoire von 1956 läßt das nicht nur vermuten5). LANGENFELD stellte au-ßerdem für die Sportgeschichtsschreibung der BRD bereits 1989 fest: „Die Ermittlung von neuen Quellenbeständen, die eine kriti-sche Überprüfung traditioneller Geschichtsauffassungen unter an-derem Blickwinkel und vergleichende Quellenanalysen gestattet hätten, wurde vernachlässigt.“6) Beide Geschichtsschreibungen wa-ren in starkem Maße durch den Kalten Krieg bestimmt, durch mehr oder weniger richtige oder falsche Feindbilder, durch gewollte und ungewollte ideologische Orientierungen und gewiß auch durch mancherlei Unwissenschaftlichkeiten. Dabei sind uns solche Un-terstellungen fremd - wie bezogen auf die DDR auch zu lesen ist -, ob die vorhandenen wissenschaftlichen Ergebnisse durch die Sporthistoriker im Streben um Vorteilsnahme, wegen der Karriere oder aus Überzeugung entstanden sind.
2. Während BUSS die in seinem Vortrag behandelte Problematik in den komplexen Zusammenhang einer in großen Teilen systemati-schen Entwicklung der Zeit vom Ende des Krieges 1945 bis 1965 einordnet, die angestrebten Zusammenhangerkenntnisse charakte-risiert, die Untersuchungsthese nennt und die Untersuchungshypo-thesen seinen Ausführungen voranstellt7), fehlt das alles bei SPITZER8) ebenso wie bei REINARTZ9) und TEICHLER10). Das ist um so erstaunlicher, da SPITZER 1994 in „Aktuelle Konzepte zur Zeitgeschichte des Sports" nachdrücklich konstatiert: "...sportgeschichtliche Ergebnisse werden nur dann von der mo-dernen Historiographie abgefragt und zur Theoriebildung benutzt, wenn die Forschungen auf der Basis anerkannter Methoden und relevanter Fragestellungen beruhen."11) Trotzdem werden von ihm
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selbst in seinem Beitrag zum Workshop die wissenschaftlichen Problem- und Fragestellungen oder die wissenschaftlichen Ar-beitshypothesen nicht genannt, so daß sie weder überprüft noch diskutiert werden können. Es fehlt auch ein Verweis, um sie zu-gänglich zu machen. Das ist bedeutsam, da die spezifische Frage-stellung sowohl die Quellenauswahl, die Ausschöpfung des Quel-lenpotentials, die Formulierung des Erkenntniswertes der Quellen für die spezifische Fragestellung, die Quellenkritik und über diese die historische Erkenntnis bestimmt. SCHULZ hebt aus zeitge-schichtlicher Sicht hervor: "Es ist also die jeweils spezifische Fra-gestellung des Historikers, die eine bestimmte Auswahl von 'Zeug-nissen' der Vergangenheit zu Quellen historischer Erkenntnis wer-den läßt.“12) Und LANGENFELD erklärt aus forschungsmethodolo-gischer Sicht der Sportgeschichte, daß „der Sporthistoriker sich et-wa stets von neuem seiner forschungsleitenden Interessen zu ver-gewissern hat, daß er die Grundüberzeugungen, auf denen seine Interpretationen basieren, selbst klar erkennen und anderen offen-legen muß, daß ihn uneingestandene oder erklärte didaktische Ab-sichten nicht zu unreflektierten Werturteilen verführen dürfen, ver-steht sich von selbst aus den Grundsätzen wissenschaftlichen Ar-beitens."13) Wie die Beiträge von SPITZER14) und REINARTZ15) zeigen, versteht sich das wohl doch nicht so von selbst.
3. Es drängt sich nach der zumindest nicht ausreichenden Offenle-gung der Einordnung der, zum Beispiel in Potsdam zu bearbeiten-den Projekte, und der wissenschaftlichen Fragestellungen dafür sowie nach den nun vorliegenden ersten Arbeitsergebnissen - im-mer nachdrücklicher - die Frage auf: Wird tatsächlich historische Zusammenhangerkenntnis angestrebt und soll eine der Grundre-geln geschichtswissenschaftlichen Arbeitens eingehalten werden, "seinerzeit divergierende Perspektiven gegeneinanderzuhalten o-der aus einer möglichst umfassenden heutigen Perspektive die damalige Situation in ihrer Vieldeutigkeit zu begreifen"?16) Oder soll die historische Zusammenhangerkenntnis in einzelne Bruch-stücke aufgelöst werden, in Miniaturen und insulare Darstellungen? Geht es um Geschichten und Mythen statt Geschichte, um Insze-nierung statt Erklärung, soll - so wäre mit KOCKA bezogen auf die Geschichte des DDR-Sports - weiter zu fragen, "historische Zu-sammenhangerkenntnis als entweder überflüssig oder unmöglich... denunziert"17) werden mit dem Ziel, Zusammenhänge weder aufzu-
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decken noch begreifbar und erklärbar zu machen? Es wird bei-spielsweise von REINARTZ die Zweiteilung des DDR-Sports - trotz aller Belege aus dem DTSB-Bundesvorstand und dem ZK der SED18) nur höchst einseitig dargestellt, wenn nicht grundsätzliche Bedingungen, wie die soziale Sicherung oder der Stellenwert des Sports und die für alle Bürger der DDR geltenden Förderbedingun-gen des Sporttreibens wenigstens zur Kenntnis genommen wer-den. Das gilt - um einige dieser Bedingungen zu erwähnen - für die geringen Mitgliedsbeiträge in allen Sportvereinen (bis 1,35 M) ebenso wie für die versicherungsrechtliche Sicherung, für die eine Mitgliedschaft in einem Sportverein nicht erforderlich war, durch die Gleichstellung des Sportunfalls mit dem Arbeitsunfall, die generell kostenlose sportmedizinische Versorgung, die kostenlose Nutzung der Sportstätten und die kostenfreie Materialbereitstellung durch die Vereine (einschließlich solcher kostenaufwendigen Vorausset-zungen, wie Segelboote). Wie notwendig es ist, nicht nur den re-pressiv-autoritären Grundzug der Kultur- und Sportpolitik in der DDR wahrzunehmen, sondern auch die spezifischen Freiheiten, die mit der selbstverständlichen generellen sozialen Sicherung verbunden waren19), belegt unseres Erachtens die Antwort von Ma-rianne BUGGENHAGEN als sie gefragt wurde, ob es heute für Be-hinderte insgesamt schwieriger geworden ist, Leistungssport zu be-treiben: "Ich bin die Ausnahme. Es gibt viele, durchaus internatio-nal erfolgreiche Sportler, die zuzahlen müssen. Das war in der DDR nicht der Fall, der Versehrtensport war für jeden durchführbar, weil er für jeden bezahlbar war. Jetzt zahlt man für jeden Wett-kampf Fahrkarten, Hotelunterbringung. Viele können sich das nicht leisten. Das ist bitter."20)
Und ihr Trainer Bodo HEINEMANN fügt hinzu: "Von denen, die frü-her Leistungssport getrieben haben, sind ganz wenige übrig ge-blieben. Die meisten haben aus finanziellen Gründen aufgege-ben."21)
So zwei sicher unverdächtige Zeugen des zweigeteilten Sports in der DDR, denen Kenntnis der übergreifenden Zusammenhänge in ihrer Komplexität zweifelsfrei zugestanden werden muß.
4. Die Abhängigkeit dessen, was von den Spuren der Vergangen-heit als Quelle genutzt wird, von der historischen Fragestellung be-deutet "auch, daß die vorherrschende Beschränkung auf die schriftlichen Zeugnisse nicht das Quellenpotential ausschöpft." 22)
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Außerdem ist seitens des DDR-Sports alles offen, sämtliche Archi-ve, Internes und öffentliches, Akten und oft auch Persönliches, das in die Archive aufgenommen wurde. Es existiert eine „ungewöhnli-che Zugänglichkeit."23) Und im Zwange der Stasi-Hysterie müssen nun also auch die Stasi-Akten herangeholt werden, um „richtige" DDR-Sportgeschichte zu schreiben. Seitens des Sports der BRD liegt - daran gemessen - kaum etwas vor. Alles unterliegt den ge-setzlichen Sperrfristen. Angesichts dieser Tatsachen spricht WEBER von „archivalischer Asymmetrie". Zudem sprechen Quel-len, welcher Art auch immer, nicht für sich. Sie haben lediglich In-dizien- aber keinen Beweiswert. Das gilt insbesondere für Urkun-den und Akten, vor allem für Akten eines Geheimdienstes, zum Beispiel von der Staatssicherheit, und erst recht für sogenannte Treffberichte, die Geheimdienstangehörige nach gesprächsweise übermittelten Informationen anfertigten.24) Ihr Aussage- und Wahr-heitsgehalt bleibt begrenzt.25) Es kann auch kein Bearbeiter davon ausgehen, „daß die Quellenarbeit eindeutige Antworten erbringen könne."26) Insofern ist nicht nur die Quellenlage unter dem Aspekt der wissenschaftlichen Ausgangsfrage einzuschätzen. Es ist Quel-lenkritik und Quelleninterpretation vonnöten und - so SCHULZ - „die Bestimmung des Erkenntniswertes für die eigene Fragestel-lung muß als Ergebnis der Quellenarbeit ausdrücklich formuliert werden."27) Die Quellenkritik zum Beispiel fehlt aber - ob bei SPITZER28), REINARTZ29) oder TEICHLER - eigentlich völlig, ob-wohl nicht nur die archivalische Asymmetrie oder die westdeutsch dominierte Bearbeitung und Diskussion der Sportgeschichte der DDR auf ein komplexes asymmetrisches Gefüge hinweisen, son-dern - bekanntlich allein bei der vorhandenen Quellenfülle „der 'Ideologieverdacht' sowohl für den Interpreten wie für die von ihm ausgewählten Quellenstücke untersucht werden muß.“31) Nach der von LANGENFELD 1989 vorgenommenen Einschätzung ist in „der Sportgeschichtsschreibung... die Quellenkritik bislang häufig nicht mit der erforderlichen Umsicht geübt worden"32), so daß die Sport-geschichtsschreibung dazu eigentlich besonders verpflichtet wäre, damit die „historische Sinnbildung... als vielschichtiger, komplexer Vorgang deutlich gemacht werden (kann), indem Rückbezüge auf die Auseinandersetzung mit den einschlägigen Theorien aufge-zeigt, Quellenprobleme und Wissenslücken nicht verschwiegen,
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ggf. die Wahrheitsgrade wichtiger Aussagen zusätzlich explizit be-nannt werden."33)
5. Im Schlußteil seines Vortrages hebt SPITZER hervor: „Die wis-senschaftliche Auseinandersetzung mit Herrschaftsmechanismen in der DDR, einer 'modernen Diktatur', wie die Formel des Sozial-kritikers KOCKA lautet, muß von großer Sachlichkeit geprägt sein".34) Dem steht aber nicht nur der Grundtenor des eigenen Bei-trages im Workshop entgegen, sondern auch der keineswegs im-mer vorurteilsfreie Umgang mit den in den Quellen aufgefundenen Informationen und der offensichtliche Mangel, „komplexe Vorgänge soweit wie möglich aufzuklären, ihre Mehrdimensionalität zu er-kennen und in differenzierter Abwägung der Argumente zur Dar-stellung zu bringen."35) Die Gefühle werden - wie KOCKA fordert gedanklich nicht eingeholt.36) Und es wird erneut deutlich und konk-ret nachvollziehbar, was daraus werden wird, sollten Zeitzeugen ihr unbestreitbar ehrliches Bemühen bekunden, einen anderen deut-schen Sport als den im Kapitalismus und Faschismus erlebten beim Neubeginn nach dem zweiten Weltkrieg gewollt und nach besten Kräften angestrebt zu haben. Man wird vermutlich früher oder später in der Gauck-Behörde irgendeine - von den Betroffe-nen nicht einmal nachprüfbare - Information aufspüren, mit der man sie an den Pranger stellen kann. Und schon ist das von ihnen Gesagte, vielleicht früher schon einmal Geschriebene, unwahr, un-richtig, ideologisch tendenziös, eben eine Handlangerei für die SED-Diktatur und den „Unrechtsstaat DDR". Das könnte dazu ver-leiten, allen zu raten, die Zeitzeugenschaft zu unterlassen. Zumal man ohnehin sieht, daß die Neuschaffung der DDR-Sportgeschichte von anderen geleistet wird als von jenen, die diese Geschichte getragen, gestaltet und/oder erlebt haben. Angesichts dessen und der auch bei westdeutschen Historikern nicht zu über-sehenden ereignisbedingten Befangenheit dürfte es unerläßlich sein, die Sportgeschichte der Nachkriegszeit in der SBZ und DDR - eingeordnet in ihre Kulturgeschichte - auch mit ostdeutschem Blick und Sachverstand zu prüfen. Das würde eigentlich der für offene Gesellschaften reklamierte "Pluralismus der Lesarten“38) ohnehin erfordern.
Resümierend wäre hier zusammenzufassen: Eine wissenschaftli-che Untersuchung und Darstellung der Geschichte des ostdeut-schen Sports muß von der Entstehung her und komplex erfolgen.
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Es sind - so WONNEBERGER - vor allem der „Gegenstand mit den klassischen Instrumenten der Geschichtswissenschaft (Literatur-analyse, Aktenstudium, Zeitzeugenbefragung) anzugehen und die historischen Ereignisse und Prozesse sowie die agierenden und reagierenden Personen und nicht zuletzt die Wechselwirkungen zwischen Ost und West zu erfassen. Vorgefaßte Theoreme sind dazu kontraproduktiv."38)
Die zunächst allein aus methodologischen Erwägungen gestellten Fragen wären darüber hinaus zu ergänzen durch solche, die sich aus der Forschungslage ergeben. Die Historiographie zur DDR in den alten Bundesländern war zum Beispiel "fast ausschließlich Po-litikgeschichte“39, während Zeitgeschichte als Sozialgeschichte noch entsprechenden Nachholebedarf hat.40) Diese Forschungsla-ge legt nahe zu fragen, wie sollen politikzentrierte Verengungen vermieden und die gängigen Klischees von der ostdeutschen Ge-sellschaft nicht weiterhin bedient und kolportiert werden? Damit im Prozeß sporthistorischer Forschung die von GAUS bereits 1995 aufgeworfene Frage - „Müssen wir die ostdeutsche Vergangenheit verfälschen, um sie aufarbeiten zu können?"41) schließlich nicht zur bitteren Wahrheit wird. Oder: Wie soll es gelingen, daß das Politi-sche in der ostdeutschen Sportgeschichte nicht auf das Ethische reduziert und kurzschlüssig moralisiert wird? Solche Fragen drän-gen sich angesichts der Darlegungen von REINARTZ zum Leis-tungssport der DDR und den leistungssportlich geförderten und nicht geförderten Sportarten auf, weil das für die Urteilsbildung er-forderliche Phänomen des Zielkonflikts nicht ausdrücklich bewußt gemacht, nicht einmal in den Blick genommen wird. Es wird weder die damalige Situation noch ihre Problemstruktur und ihr Konflikt-charakter dargestellt.42) Obwohl die politische Urteilsbildung als zentrale Aufgabe gebietet, die gegebenen Zielkonflikte wahrzu-nehmen und zu erörtern und die Analyse der Problemsituation und der Möglichkeiten zur Problemlösung nicht übersprungen werden dürfen.43) Solche und andere Fragen stellen sich auch unter der Bedingung, daß es bisweilen dringlicher ist, nach den politischen Bedingungen sozialer Prozesse zu fragen und „Sozialgeschichte... als separate Teildisziplin (in Absetzung zur Politikgeschichte) bei der Untersuchung der DDR noch weniger möglich als sonst“44) ist. Solche Fragen aus dem Blickwinkel eines einzigen - exemplarisch genannten - Aspekts der Forschungslage sind auch keinesfalls al-
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lein der Tatsache geschuldet, daß gegenwärtig in der Sportge-schichtsschreibung wie in der DDR-Geschichtsschreibung generell noch die materialreiche, materialgesättigte Detailstudie im Vorder-grund steht und die vereinigenden Fragestellungen und Begriffe noch nicht klar hervortreten.45) Es geht um grundsätzliche Fragen des Umgangs mit Geschichte, um wissenschaftlich exakte Analyse, um Zusammenhangeinbettung und Zusammenhangerkenntnis so-wie um Klarheit und Distanz im Prozeß der Abwägung, Wertung und Kritik, weil Geschichtsschreibung - so KOCKA - „nun einmal nicht primär in Anklage und Verteidigung, in Entrüstung oder Nos-talgie, auch nicht in eilfertiger Enthüllungshistorie oder in Betrof-fenheitspflege bestehen"46)kann. Selbst legitime wissenschaftliche Fragestellungen führen dann allenfalls zu Fragwürdigem.
1) Vgl. u.a. Joas, H./ Kohli, M.: Fragen und Thesen.-In: Joas,H./ Kohli,M. (Hg): Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen.-Frankfurt a.M. 1993, S. 25
2) Jessen, R. u.a.: Geschichtsschreibung in der Möglichkeitsform. Frankfurter Rundschau Nr. 124, 31.5.1994, S. 12
3) Vgl. Huhn, K.: Kommentar (zum Schreiben des DSB-Präsidenten Willi Daume vom 26. Januar 1956 an den Innenminister Dr. Gerhard Schröder). - Beiträge zur Sportgeschichte, Berlin 4/1997, S. 77
4) Vgl. Buss, W.: Der Sport im Spannungsfeld der frühen Deutschlandpolitik - Die erste Phase der Anerkennungs- und Abgrenzungsbemühungen im deutsch-deutschen Beziehungsgeflecht, 1950 1955. - BISp-Workshop 18.4.1997, S. 16
5) Daume, W.: Schreiben an den Innenminister Dr. Gerhard Schröder vom 26. Januar 1956 (Auszüge). - Beiträge zur Sportgeschichte, Berlin 4/1997, S. 61 - 75
6) Langenfeld, H.: Sportgeschichte. - In: Haag, H. u.a. (Red.): Theorie- und The-menfelder der Sportwissenschaft.- Schorndorf 1989, S. 89
7) Vgl. Buss, W.: A.a.0.
8) Vgl. Spitzer, G.: Die Aggressivität der Kontrolle des MfS über den Sport nach innen und außen. Das Scheitern der internationalen Diskretitierung Willi Daumes sowie der Abschaffung des Dopings. - BISp-Workshop 18.4.1997
9) Vgl. Reinartz, K.: Die Zweiteilung des DDR-Sports: Leistungssport in nicht ge-förderten Sportarten. - BISp-Workshop 18.4. 1997
10) Vgl. Teichler, H.J.: Die Leistungssportförderung der DDR unter den Bedin-gungen der ökonomischen Krise in den 80er Jahren unter besonderer Berücksich-tigung des Sportstättenbaus. - BISp-Workshop 18.4.1997
11) Spitzer, G.: Aktuelle Konzepte zur Zeitgeschichte des Sports unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion in der Geschichtswissenschaft.- Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 8 (1994) 3, S. 70 f.
12) Schulz, G.: Einführung in die Zeitgeschichte.-Darmstadt 1992, S. 120
13) Langenfeld, H.: A.a.O., S. 87
14) Vgl. Spitzer, G.: Die Aggressivität .... A.a.0.
15) Vgl. Reinartz, K.: A.a.0.
16) Kocka, J.: Geschichte und Aufklärung. - Göttingen 1989, S. 149
17) Ebenda, S. 156
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18) Vgl. Reinartz, K.: A.a.0.
19) Vgl. Mühlberg, D.: Die DDR als Gegenstand kulturhistorischer Forschung. - MKF Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 16 (1993) 8, S. 41 f.
20) Buggenhagen, M./Heinemann, B.: Unsere Auftritte hatten Seltenheitswert.-In: Hartmann, G.: Goldkinder. Die DDR im Spiegel des Spitzensports. - Leipzig 1997, S.256 f.
21) Ebenda, S. 257
22) Schulz, G.: A.a.O., S. 120
23) Kocka, J.: Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozial-Geschichte der DDR.-Aus Politik und Zeitgeschichte: Beilage zur Wohenzeitung Das Parlament B 40/94, S. 34
24) Vgl. Fricke, K.W.: Kein Recht gebrochen? Das MfS und die politische Straf-justiz der DDR. - Aus Politik und Zeitgeschichtel Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 40/94, S. 33; Vgl. Vorländer, H.: Mündliches Erfragen von Geschich-te.- In: Vorländer H. (Hg): Oral History: mündlich erfragte Geschichte.-Göttingen 1990, S.7ff. Vgl. Strate, G.: Wenn Opfer über Täter richten. ...über den Umgang mit Stasi-Akten.-Der Spiegel 46. Jg./ Nr.1 vom 30 Dezember 1991, S. 26 ff. Beim Umgang mit Urkunden und Akten ist auch der juristische Aspekt zu beachten. Auch aus juristischer Sicht gilt uneingeschränkt, "Papier alleine... führt keinen Be-weis." (Strate, S. 27). Urkunden und Akten vermögen allenfalls Hinweise zu ge-ben. Für Schuldfestellungen ist laut § 250 der deutschen Strafprozeßordnung das Gebot der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisführung zu befolgen. Al-lerdings gilt dieses Gebot trotz der Festlegungen in der deutschen Strafprozeß-ordnung nicht für die Verwendung von Stasi-Akten in Deutschland. Ein Verfahren, welches die legitimen Rechte der Betroffenen wahrt, ist nicht vorgesehen. Das wi-derspricht rechtsstaatlichem Vorgehen. Insofern folgert Strate: "Die Stasi-Vergangenheit hunderttausender Bürger wird durchleuchtet und bewertet mit den Beweismitteln und Maßstäben des Inquisitionsprozesses." (S. 27) Diese Beson-derheit des juristischen Umgangs mit den Stasi-Akten schränkt die wissenschaftli-chen Prinzipien der Quellenarbeit in keiner Hinsicht ein. Es wäre u.E. eher noch größere Sorgfalt geboten.
25) Vgl. Fricke, K.W.: A.a.0.
26) Schulz, G.: A.a.O., S. 174
27) Ebenda, S. 173
28) Vgl. Spitzer, G.: Die Aggressivität der Kontrolle des MfS über den Sport ...-A.a.0.
29) Vgl. Reinartz, K.: Die Zweiteilung des DDR-Sports.- A.a.0.
30) Vgl. Teichler, H.J.: A.a.0.
31) Schulz, G.: A.a.O., S. 121
32) Langenfeld, H.: A.a.O., S. 89
33) Ebenda
34) Spitzer, G.: Die Aggressivität der Kontrolle des MfS über den Sport ... .-A.a.O., S. 14
35) Schulz, G.: A.a.O., S. 174
36) Vgl. Kocka, J.: Geschichte und Aufklärung.- A.a.O., S. 152
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37) Habermas, J.: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung.-In: „Historikerstreit“ - München 1987, S. 74
38) Wonneberger, G.: Besprechung.-Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 11 (1997) 1, S. 84
39) Jessen, R. u.a.: A.a.0.
40) Vgl. ebenda
41) Gaus, G.: Infizierte Sieger.-Freitag Nr. 40 vom 29. September 1995, S. 1
42) Vgl. Reinartz, K.: A.a.0.
43) Vgl. Sutor, B.: Kategorien politischer Urteilsbildung.-Aus Politik und Zeitge-schichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 32 / 97, S. 16 ff.
44) Kocka, J.: Ein deutscher Sonderweg.-A.a.O.,'S. 37
45) Vgl. ebenda, S. 35
46) Ebenda, S. 34
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Olympische Erinnerung Ost
Von PETER FRENKEL
Das Nationale Olympische Komitee der Bundesrepublik Deutschland hatte im Spätsommer 1997 deutsche Medaillen-gewinner der Olympischen Spiele 1972 aus der BRD und aus der DDR zu einem Treffen eingeladen. Dort wurden zwei Re-den gehalten, die wir geringfügig gekürzt wiedergeben.
Namens der deutschen Olympiamedaillengewinner von Sapporo und München 1972 möchte ich mich beim Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland und der Stadt München sehr herzlich für die Einladung zum Wiedersehenstreffen bedanken. Ich denke ich spreche im Namen aller, wenn ich meiner tiefen Genugtuung Aus-druck verleihe, daß ein solcher Tag wie heute möglich wurde, denn - wie bekannt - errangen wir unsere Medaillen in verschiedenen Mannschaften. Durch die Unterschiedlichkeit unserer politischen Systeme, denen wir entstammen, waren wir damals sportliche Ri-valen. Doch aus den Konkurrenten von einst sind heute oft Freun-de geworden, und ich bin sicher, daß dieses Treffen dazu beitra-gen wird, daß wir uns künftig noch besser verstehen werden.
Wenn ich von mir ausgehe, so habe ich an München '72 vor allem angenehme Erinnerungen. Ganz oben steht das Glücksgefühl, eine Goldmedaille im 20-km-Gehen gewonnen zu haben, was der Lohn für elf Jahre Anstrengungen war. Empfangen wurde ich an jenem 31. August 1972 von einem freundlichen, sachkundigen Publikum, so daß ich mir wie bei einem „Heimspiel" vorkam. Das war nicht immer so. In dankbarer Erinnerung möchte ich deshalb auf jene verweisen, die damals - wie Bundeskanzler Willy Brandt - mit ihrer Politik überhaupt erst die Grundlagen für diese wichtige Phase der Entspannung schufen, was sich auch auf das Verhalten der Men-schen übertrug.
Zu meiner Reminiszenz gehört auch die Nacht nach meinem Olympiasieg, die ich mit unserem Masseur, der einen beträchtli-chen Anteil an meiner Goldmedaille hatte, beim Wein in Schwabing verbrachte. Nicht vergessen werde ich auch den aufgeregten Manf-red Ewald, dem ich am nächsten Morgen beim Betreten des Olym-pischen Dorfes geradezu in die Arme lief, als dieser von Willi Dau-
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me zurückkehrte, um die bayerische Polizei um Amtshilfe für einen angeblich spurlos verschwundenen Olympiasieger der DDR zu bit-ten.
Leider gibt es - auch im Sport - noch viele Defizite. Kein Beitrag zur Versöhnung ist für mich und andere Medaillengewinner der DDR die Tatsache, daß zur gleichen Zeit, in der wir unser Wiedersehen feiern, von staatlicher Seite gegen Trainer, Wissenschaftler, Medi-ziner und Funktionäre, denen wir oftmals viel zu verdanken haben, ermittelt wird bis hin zu Versuchen, uns als Zeugen der Anklage gegen unsere eigenen Trainer zu gewinnen. Das ist bitter. Um nicht mißverstanden zu werden. Wer schuldig ist, soll dafür einste-hen müssen, in Ost und West.
Ich möchte Sie bitten, mit Ihren Möglichkeiten dazu beizutragen, daß auch die deutsche Sportgeschichte, die nicht eindimensional verlaufen ist, möglichst sachlich und objektiv gesehen wird. Ich stimme Herrn Tröger zu, der aus Anlaß der Feier des 100jährigen Jubiläums des Deutschen Olympischen Komitees am 13. Dezem-ber 1995 in Berlin erklärte, daß die bedeutsame Rolle, die Sportle-rinnen und Sportler der DDR in gesamtdeutschen und eigenständi-gen Mannschaften spielten, „auch nach der deutschen Einheit we-der abgewertet noch nostalgisch verklärt" werden darf...
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Olympische Erinnerung West
Von HILDEGARD KIMMICH-FALCK
In einigen Wochen ist es 25 Jahre her, daß wir mit klopfenden Her-zen und auch zittrigen Beinen erwartungsvoll und spannungsgela-den nach München kamen, um an den Olympischen Spielen 1972 in dieser schönen Stadt teilzunehmen. Diese Tage sind für mich ein unvergeßliches Erlebnis. Alle, die mit mir heute Abend hier sind, konnten als Krönung für den enormen Trainingsaufwand eine oder mehrere Medaillen mit nach Hause nehmen.
Damals starteten wir noch in zwei verschiedenen Mannschaften, Ost und West. Unser Wiedersehenstreffen ist sicher eines der be-sonderen Art: 25 Jahre - bei so vielen, wie wir hier heute sind, ist das mehr, als eine Silberhochzeit feiern. Manche Menschen haben sich nach 25 Jahren nicht mehr viel zu sagen. Bei uns allen habe ich den Eindruck, es ist gerade das Gegenteil. Der gestrige Abend und auch der heutige Tag haben gezeigt, daß das Wochenende viel zu kurz sein wird, um all die Gespräche zu führen, die jeder führen möchte.
So viel Muße und Entspanntheit hatten wir während unserer Akti-venzeit nicht, und durch die Teilung Deutschlands waren viele Kon-takte nicht möglich. Deshalb genießen wir alle diese Tage sehr. Diese Art von Silberhochzeit ist aber nur möglich, weil ihr eine ganz besondere Hochzeit vorausging, die Zusammenführung der beiden Länder, der beiden Mannschaften von Ost und West. Dafür sind wir dankbar.
In den vergangenen 25 Jahren hat sich vieles verändert. Der Schritt vom Amateur zum Profitum hat viel verwandelt. Ich wün-sche den jungen Athletinnen und Athleten der heutigen Generation, daß sie es schaffen, über ihre Wettkämpfe hinaus auch vielfältige Möglichkeiten der Kommunikation zu finden. Viele Kontakte und Freundschaften, die während der Aktivenzeit entstehen, können auch darüber hinaus das weitere Leben bereichern...
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INTERVIEW
Olympische Zukunft untersuchen
Gespräch mit SVEN GÜLDENPFENNIG
Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Olympischen Instituts (DOI)
BEITRÄGE: Uns geht es auch um die Vergangenheit, aber die des Instituts. Es gab in Deutschland schon mal ein Olympisches Insti-tut, das sich allerdings „Internationales Institut“ nannte und aus dem uns ein Buch des Direktors Carl Diem aus dem Jahre 1942 „Der olympische Gedanke im neuen Europa“ überliefert ist. Wie sehen Sie jenes Institut heute?
SVEN GÜLDENPFENNIG: Es gibt, außer dem gemeinsamen Ort, keinerlei Kontinuitäts- oder Verbindungslinien zwischen dem dama-ligen Internationalen und dem heutigen Deutschen Olympischen Institut: Das DOI arbeitet nicht im Auftrag des IOC. Das DOI arbei-tet nicht auf dem Boden und unter den Bedingungen eines faschis-tisch verfaßten und regierten, verbrecherischen Staates. Das DOI arbeitet auf der inhaltlichen Grundlage einer Programmatik, die sich nirgends auf Carl Diem beruft. Insofern sieht sich das DOI in keiner Weise aufgefordert, sich für einen „Vorgänger" zu rechtferti-gen. Es gehört aber selbstverständlich grundsätzlich zu seinen Aufgaben, im Rahmen seiner (zur Zeit äußerst engen!) Arbeitska-pazitäten auch die frühere Tätigkeit eines Olympischen Instituts auf deutschem Boden kritisch zu untersuchen.
BEITRÄGE: Der so strapazierte „olympische Gedanke“ scheint in der rauhen See der Kommerzialisierung der Spiele über Bord ge-gangen zu sein. Sehen Sie heute noch einen realen Sinn darin, sich mit der olympischen „Ideologie“ zu befassen?
SVEN GÜLDENPFENNIG: Wenn ich in der Beschäftigung mit Fragen der Olympischen Idee und olympischer Realität keinen Sinn mehr sehen könnte, hätte ich die Tätigkeit am DOI nicht auf-zunehmen brauchen. Mein Engagement hier ist keine Frage des Broterwerbs. Den könnte ich mir woanders bequemer vorstellen. Nein. Der Sinn liegt genau darin, daß die Olympische Idee natürlich noch längst nicht, wie Sie annehmen, „in der rauhen See der Kommerzialisierung der Spiele untergegangen" ist. Daß von au-ßersportlichen und sportunverträglichen wirtschaftlichen Interessen
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Gefahren für den Olympismus und den Sport insgesamt ausgehen, ist unbestreitbar. Und diese Gefahren stehen auch nicht mehr an einem entfernten Horizont, sondern wirken bereits mitten in der Olympischen Bewegung und sind mit Händen zu greifen. Aber, und das ist das Entscheidende: Bisher haben diese Gefahren den Kern der Olympischen Idee nicht beschädigen oder gar aufheben kön-nen. Diese Idee erweist sich als außerordentlich robust: Wir erle-ben weiterhin Olympische Spiele als herausragende sportliche und kulturelle Ereignisse, mit Erfolgen von Athletinnen und Athleten aus immer mehr Nationen, als Begegnung aller Nationen der Weltge-sellschaft vergleichbar der UNO, mit einer ungebrochenen Reso-nanz und grundsätzlichen Akzeptanz in der weltweiten Öffentlich-keit. Primäre Aufgabe eines Olympischen Instituts ist es, bei aller berechtigten Skepsis gegenüber den Risiken den Blick dafür offen-zuhalten bzw. wieder zu öffnen, daß und wie diese Olympische Bewegung „lebt", sich gegen massive Gefährdungen behauptet und weiterentwickelt. Das Institut hat dies sichtbar zu machen, um damit die Zukunftsfähigkeit des Olympismus zu unterstützen und nicht einfach zerreden zu lassen, wie es vielfach versucht wird. Danach aber ist es selbstverständlich nicht weniger wichtig, jene Risiken, Gefährdungen und Fehlentwicklungen kritisch und genau unter die Lupe zu nehmen und Wege zu ihrer Beherrschung aufzu-zeigen.
BEITRÄGE: Außer der Olympischen Akademie in Olympia gibt es kaum eine Institution, die sich überhaupt diesen Fragen zuwenden könnte. Welche Wege sehen Sie angesichts dieser Situation, vor allem aber: wo sehen Sie Schwerpunkte? Welchen Fragen müßte man zu Leibe rücken?
SVEN GÜLDENPFENNIG: Die Methoden und Wege müssen, wenn sie über die Grenzen und falschen Stereotype pragmatischen Alltagshandelns, -denkens und -redens hinausführen sollen, wis-senschaftlicher Natur sein. Dieser Anspruch ist angesichts der ge-ringen personellen Ausstattung des Instituts nicht einfach zu reali-sieren. Außerdem wirft wissenschaftliche Praxisberatung stets Probleme von gegenseitigen Erwartungsunterschieden und Ver-ständigungshindernissen auf beiden beteiligten Seiten auf. Trotz-dem kann die Arbeit nur auf kritisch-wissenschaftlicher Grundlage fruchtbar sein. In diesem Rahmen wird es um die Initiierung von Forschungsvorhaben, von fachlichem Erfahrungsaustausch und
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von institutionalisiertem Streitgespräch gehen. Zur inhaltlich-thema-tischen Seite haben wir ein sogenanntes „50-Punkte-Programm" ausgearbeitet, das die Arbeit des Instituts in den kommenden Jah-ren strukturieren und inspirieren wird. Es umfaßt alle wichtigen Probleme, vor denen der Olympismus steht, und das ist wesentlich differenzierter, detaillierter und bisweilen auch subtiler als solche Fragen, die aktuell besonders brisant sind und stets ganz oben auf jeder Krisenliste stehen, wie Doping, Kommerzialisierung, Politisie-rung, Medien u.ä. Es würde an dieser Stelle sicherlich zu weit füh-ren, in Einzelheiten zu gehen. Aber ich denke, es wird dem DOI ge-lingen, seine Arbeit auch im einzelnen in der Öffentlichkeit sichtbar und seine Stimme hörbar und verständlich zu machen. Ob die Er-gebnisse dieser Arbeit dann allerdings auf den verschiedenen Ebenen der Öffentlichkeit auch die erhofften Wirkungen erzielen und berücksichtigt werden, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt.
BEITRÄGE: Halten Sie für denkbar, daß Ihr Institut zu Ergebnissen gelangt, die das bekanntlich sehr sensible und von sich fast wie der Vatikan überzeugte Internationale Olympische Komitee beunruhi-gen könnte?
SVEN GÜLDENPFENNIG: Eine akademische Einrichtung wie das DOI hat keine Macht, und sie strebt solche Macht auch nicht an. Sie hat nur Argumente. Ob sportpolitisch mächtige Institutionen sich von Ergebnissen unserer Arbeit beunruhigen lassen, hängt al-so davon ab, wieweit sie sich in der Wahrnehmung ihrer Verant-wortung auch tatsächlich von Prinzipien leiten und von begründe-ten Argumenten beeinflussen lassen wollen. Das DOI aber wird von seiner Seite aus das tun, was „in seiner Macht steht" - nämlich von einer unabhängig-kritischen Position des wissenschaftlichen Beobachters aus die Entwicklung des Olympismus in allen seinen wesentlichen Facetten begleiten und dabei dann das, was sich als überzeugend zeigt, „überzeugend" nennen und das, was sich als nicht überzeugend, als Irrweg oder gar als verwerflich zeigt, "Fehl-entwicklung" nennen. Dabei wird sich das DOI nicht davon beein-drucken lassen, wenn seine Stellungnahmen nicht gern oder gar vielleicht überhaupt nicht gehört werden sollten.
BEITRÄGE: Sehen Sie eventuell die Gefahr, zu einem Rufer in der Wüste zu werden?
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SVEN GÜLDENPFENNIG: Gegen diese Gefahr kann die Stimme der Wissenschaft - siehe oben - grundsätzlich nie gefeit sein. Aber ich baue darauf, daß es in der Olympischen Bewegung eine Viel-zahl von zukunftsverantwortlich denkenden Menschen und Ver-antwortungsträgern gibt, die ein dringendes Interesse daran haben, ihre Arbeit durch seriös verfahrende wissenschaftliche Beobach-tung, Beschreibung und Kommentierung begleitet, bereichert und unterstützt zu sehen. Zum Beispiel das NOK für Deutschland und der Senat von Berlin als die finanziellen Hauptträger des DOI un-terstreichen durch ihr Engagement, daß dieser Optimismus nicht unbegründet ist. Und der Trägerverein des DOI, dem alle deut-schen olympischen Fachverbände angehören, hat mich berufen, ob-wohl - oder, wie ich hoffe, weil - ich unmißverständlich erklärt habe: Eine solche Einrichtung macht dann, aber auch nur dann Sinn, wenn sie den klaren Auftrag zu unabhängig-kritischer Analyse und Stel-lungnahme hat. Also: Wir rufen nicht in eine Wüste hinein, und wir versuchen unsere Rufe so zu formulieren, daß sie auch gehört, ver-standen und aufgenommen werden können.
BEITRÄGE: Sie haben Ihren Standpunkt zwar schon erläutert, doch wären wir Ihnen dennoch für eine knappe Erklärung dankbar: Wie sehen Sie an der Schwelle dieses Jahrhunderts den Olympis-mus?
SVEN GÜLDENPFENNIG: Voller Zuversicht, daß diejenigen Kräfte im Olympismus, die sich ernsthaft um seine Glaubwürdigkeit, seine Ausstrahlungskraft und Zukunftsfähigkeit bemühen, die Oberhand behalten werden gegenüber den Gefahren, die von außen von ökonomischer und politischer Instrumentalisierung des Sports und von innen von fehlgeleiteten Sportverständnissen und Lei-stungsmanipulationen ausgehen. Berechtigt ist diese Zuversicht al-lerdings nur unter der Voraussetzung, daß diese Gefahren ernst-genommen, gründlich analysiert und durch angemessenes und konsequentes politisches Handeln beantwortet werden. Hieran will das Deutsche Olympische Institut mitwirken.
BEITRÄGE: Vielen Dank und die Versicherung, daß wir Ihnen für Ihr wichtiges wohl aber auch gewagtes Vorhaben alles Gute wün-schen.
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REPORTAGE
„Verhör“ eines Zeitzeugen
Von ROLAND SÄNGER
Fast 76 Jahre, manchmal - freilich - ein bißchen müde und den-noch entschlossen, nicht aufzugeben: Kurt Lauterbach in Suhl leitet die Abteilung Basketball beim 1. Suhler SV 06 mit immerhin 140 überwiegend jungen Mitgliedern, nachdem er diese Sportart vor zehn Jahren aus dem Nichts mit aufgebaut hatte.
Der hagere, hochgewachsene Mann stand in jungen Jahren im Fußballtor der Thüringerwald-Gemeinde Schnett, mußte wie die meisten jener Jahrgänge in den faschistischen Krieg und kam 1944 in sowjetische Gefangenschaft. In Kiew besuchte er eine Antifa-Schule, kam im Dezember 1949 nach Hause und wurde 1950 für den Vorbereitungslehrgang zum Studium an der eben entstehen-den DHfK ausgewählt, den er erfolgreich abschloß. Im Oktober des gleichen Jahres wurde er mit 95 Kommilitonen an der DHfK immat-rikuliert. Er bestand das Jahr mit solchem Erfolg, daß er 1951 mit sechs weiteren Sportfreunden ans Institut für Körperkultur in Mos-kau (IfK) delegiert wurde.
Als Zeuge und Gestalter einer Sportbewegung, die in der objektiv urteilenden Fachwelt viel Anerkennung erntete, beurteilt Kurt Lau-terbach im folgenden Gespräch Wege und Irrwege, Vergangenheit und Gegenwart des Sports, dem er auch als 76jähriger seine gan-ze Freizeit widmet.
FRAGE: Basketball verlor wie manche andere Sportart 1968 durch Beschluß des DTSB-Bundesvorstandes seinen „Olympiastatus“ und damit die uneingeschränkte Förderung. Wie nahmen Sie diese Ent-scheidung auf?
KURT LAUTERBACH: Mit jenem Beschluß wurde Basketball zum sogenannten Freizeit- und Erholungssport, was Einschränkungen nicht nur finanzieller Art zur Folge hatte. So wurden nur noch ein-zelne hauptamtliche Trainer, beispielsweise in Halle und Berlin, beschäftigt.
Ich habe darunter sehr gelitten, weil mit diesem Einschnitt dem Sport insgesamt Schaden zugefügt wurde. Basketball kann auch in kleinen Hallen gespielt werden, und wir waren damals leistungs-mäßig auf dem Weg nach oben. In Begegnungen mit Mannschaf-
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ten der Bundesrepublik Deutschland erwiesen wir uns auch in den Ausscheidungsspielen für die Olympischen Spielen 1960 in Rom als besser.
Andererseits diktierten die ökonomische Vernunft und die nicht un-begrenzt vorhandenen finanziellen Mittel, vor allem der leidige De-visenmangel der DDR, die Konzentration auf bestimmte Sportar-ten. Nicht alles war eben in der DDR machbar. Ich habe jedenfalls auch unter den neuen Bedingungen als Trainer weiter ehrenamtlich mit Jugendmannschaften gearbeitet.
Als ich 1987 als Rentner von Leipzig nach Suhl übersiedelte, weil ich halt ein Wäldler geblieben bin, gründete ich eine Sektion Bas-ketball bei Motor Suhl. In den meisten Hallen hingen Körbe an der Wand, und die wurden fortan erobert. Die Förderung in der DDR war zwar nicht berauschend, aber konstant. Heute muß ich um je-den Pfennig betteln, und die Zukunft unserer Abteilung ist keines-wegs sicher.
FRAGE: Überall in diesem Land wird Geschichte "aufgearbeitet" und meist stützt man sich dabei auf Akten. Wurden Sie nur nach Moskau geschickt, um zu lernen, wie man für die DDR Medaillen erkämpft?
KURT LAUTERBACH: Die neugegründete DDR brauchte Fach-kräfte auf allen Gebieten, auch für die Entwicklung des Sports. Deshalb wurden wir sieben 1951 über Nacht nach Moskau zum Studium geschickt. Wir waren übrigens die ersten deutschen Stu-denten überhaupt in der UdSSR.
Wir haben uns mit der Spezialisierung auf unterschiedliche Sportarten Wissen und Kenntnisse angeeignet, mit denen der Sport in der DDR generell entwickelt werden konnte. Unser „Fähnlein der sieben Auf-rechten" hat mit vielen anderen dazu beigetragen, die Grundlagen der Körperkultur zu schaffen, und dazu gehörte selbstverständlich auch der Leistungssport. Schließlich führte der Weg zur sportlichen Aner-kennung in der Welt über Spitzenleistungen, an denen keine internati-onale Föderation vorbeigehen konnte.
FRAGE: Der Krieg war noch in böser Erinnerung. Wie war - ohne Beschönigung - das Verhältnis zu den sowjetischen Studenten?
KURT LAUTERBACH: Von 1944 bis 1949 war ich in sowjetischer Gefangenschaft gewesen. Schon damals hatte ich die Menschen dort schätzen gelernt. Mit vielen habe ich zusammengearbeitet. Nicht um Rache ging es, sondern - um das heute so gängige und
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Wort zu gebrauchen - um ehrliche Aufarbeitung der Geschichte zwi-schen uns.
Es ging im Dezember 1951 von heute auf morgen los, das Studien-jahr hatte in Moskau längst begonnen. Wir waren natürlich nicht die einzigen ausländischen Studenten. Mit uns lernten Tschechen, Slowaken, Polen, Spanier, Ungarn und andere. Der Internationa-lismus war stark ausgeprägt und die Hilfe uneigennützig. Bis in die Nacht hinein haben die sowjetischen Freunde Schularbeiten mit uns gemacht, denn wir hatten ja ein halbes Jahr „aufzuholen“. Noch heute korrespondiere ich mit Freunden, die ich in jener Zeit am Moskauer Institut für Körperkultur kennengelernt habe. Der letzte Brief aus Moskau kam im Juli dieses Jahres. Die Freund-schaft hat also mehr als vier Jahrzehnte und die Wende überstan-den.
FRAGE: Welche Aufgaben übernahmen Sie nach der Rückkehr?
KURT LAUTERBACH: Nach den Festlegungen der damaligen Sportführung kümmerten sich nach dem Studien-Ende Lothar Oelmann ums Schwimmen, Sepp Breitschaft um die Leichtathletik, und Karl-Heinz Zschocke wirkte im Turnverband. Gerade diese drei wurden in den Jahrzehnten ihres Wirkens international hochgeachte-te Fachleute. Ebenso wie Gerda Enke und Alfons Lehnert, die sich um Gymnastik und Fußball verdient machten. Nachdem ich mein Diplom mit der Arbeit „Der schnelle Angriff im Basketball" erworben hatte, arbeitete ich als Basketballtrainer an der DHfK bis 1968 und war ab 1957 zugleich ehrenamtlicher Verbandstrainer. Ab 1968 wirkte ich am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport, wobei ich mich speziell mit den Auswirkungen des Höhentrainings befaß-te. In den letzten Jahre vor der Rente habe ich im Zentrum für Wis-senschafts-Organisation gearbeitet. Wissen und Erfahrungen aus der ganzen Welt haben wir dort zusammengetragen, vermittelt und genutzt. Eines der vielen „Geheimnisse“ der DDR-Erfolge im Sport. Meine Liebe zum Thüringer Wald ließen mich mit meiner Frau Margot 1987 nach Suhl zurückkehren, wo ich sofort mit einem Basketball-Lehrgang für Sportlehrer begann. In Suhl war dieses Spiel kaum verbreitet und so formierten wir die erste Sektion 1988 mit sieben Mädchen und zwei Jungen.
FRAGE: Ein heißes Thema der „Aufarbeiter" ist das angeblich flä-chendeckende Doping in der DDR.
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KURT LAUTERBACH: Was nach der Eingliederung der DDR in die BRD ablief, war die Kriminalisierung der DDR und ihres Sportes. Ich habe nichts gegen eine weltumfassende Aufarbeitung des Miß-brauchs im Sport, bin aber gegen tendenziöse und politisch moti-vierte „Vergangenheitsbewältigung", mit der Erfolge von Athleten und das Wirken von Trainern und Wissenschaftlern in der DDR zu Straftaten herabgewürdigt werden sollen.
FRAGE: Wie sehen Sie die Situation im deutschen Sport heute, vornehmlich in Ihrer heimatlichen Umgebung?
KURT LAUTERBACH: Nach der Wende hatten wir die aufrichtige Erwartung, daß in den neuen Bundesländern neue Wege in Wirt-schaft, Kultur und Sport beschritten würden - mit weiter demokrati-scher Öffnung. Bonner Politiker versprachen, die DDR in ein blü-hendes Land zu verwandeln. Diese Hoffnungen erfüllten sich be-kanntlich nicht. Im Gegenteil, der Niedergang in Wirtschaft, Kultur und Sport ist heute offensichtlich. Im Leistungssport wurden die Strukturen trotz ernsthafter Mahnungen einzelner Vertreter der al-ten Länder zerschlagen, die Kinder- und Jugendsportschulen auf-gelöst, die Sportklubs geschlossen, die Auswahlsysteme negiert und erfolgreiche Trainer entlassen. Besondere Hoffnungen hegten Breiten- und Freizeitsport. Trotz vielfältiger Initiativen ehemaliger Sportler, Trainer und Übungsleiter der DDR können sich die zahl-reichen neugegründeten Vereine mit ihren Mitgliedsbeiträgen und geringen Sponsorenzuschüssen kaum über Wasser halten. Es fehlt das Engagement der Politiker auf allen Ebenen, es fehlt das Geld für die Erhaltung der Sportstätten, für Sportgeräte und für die oh-nehin magere Bezahlung der Trainer, Kampfrichter und für Fahrten zu Wettkämpfen. Konkretes Beispiel: unsere Abteilung Basketball im 1. Suhler SV 06 kann aus finanziellen Gründen keine weiteren Mitglieder aufnehmen, und dabei gehören unsere Teams in Thü-ringen zur Spitze im Basketball. Nicht ein Beschluß sorgte dafür, sondern die Realität der Marktwirtschaft.
Nur der Star gilt heute etwas und die Show - dafür ist Geld haufen-weise da. Die Talente aus dem Osten werden von reichen Vereinen im Westen abgeworben. So wachsen auch keine Vorbilder mehr in den östlichen Regionen heran, was wiederum Auswirkungen auf die Breitenentwicklung hat. Wenn sich das soziale Umfeld nicht ändert, geht der einst so blühende Kinder- und Jugendsport kaputt. Von Al-mosen kann man auf die Dauer nicht leben.
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JAHRESTAGE
Gedanken eines Scheidenden
Von PIERRE BARON DE COUBERTIN
Am 2. September 1937, entschlief Baron Pierre de Coubertin, Begründer der modernen Olympischen Spiele, in Genf auf einer Parkbank, auf der er während seines täglichen Spa-ziergangs rasten wollte. Aus seinem umfangreichen Werk zi-tieren wir die Rede, die er 1925 während der IOC-Session in Prag gehalten hatte, nachdem er zuvor mitgeteilt hatte, nicht mehr für das Amt des IOC-Präsidenten zu kandidieren. Cou-bertin besuchte danach nie wieder Olympische Spiele.
Wer sich von dem fruchtbringenden Acker zurückzieht, über den er jahrzehntelang geherrscht hat, den er eigenhändig bestellte und auf dem für ihn Erfolg und Freundschaft zur Blüte gediehen, der möchte zum Abschluß noch einmal den Hügel besteigen, von dem aus der Blick sich bis zum Horizont weitet. Und dort oben denkt er an die Zukunft, an die ungelösten Aufgaben, an mögliche Weiter-entwicklungen und an Maßnahmen, die es gegen eventuelle Ge-fahren zu treffen gilt...
...Zur Zeit ist Sport in Mode gekommen, eine zwar unwiderstehli-che, aber auch schnell wieder erschöpfte Macht. Man muß wirklich nichts von Geschichte verstehen, wollte man sich einbilden, die Schwärmerei der Massen heute würde unbegrenzt andauern. Vor vierzig Jahren haben meine Freunde und ich nach Kräften dazu beigetragen, diese Schwärmerei auszulösen, weil sie uns einen geeigneten Hebel abgeben sollte. Sie wird vergehen, wie sie ge-kommen ist. Die Sattheit wird sie abtöten. Und was bleibt dann noch an diesem Tage? Gibt es beim Menschen das B e d ü r f- n i s zum Sport? Nein. Der lärmende Aufwand, der um einzelne Spit-zensportler entfaltet wird, ist nicht imstande, das Bedürfnis zu we-cken. Es wird sich erst dann durchsetzen, wenn der Spitzensportler selbst nicht mehr darauf sieht, ob man auf ihn schaut oder nicht. Für den echten Sportler existiert der Zuschauer nur als Zufalls-erscheinung. Ja, von dieser Seite betrachtet, wie viele Sportler die-ser Art gibt es dann in Europa? ... Nur sehr wenige.
In dieser Richtung muß mithin gearbeitet werden. Weniger Rum-mel, weniger Reklame, weniger einengende Organisationen, weni-
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ger intolerante Verbandsgruppierungen, weniger schwerfällige hie-rarchische Strukturen. Aber die einzelnen Formen des Sports - al-ler Sportarten einschließlich des Reitens - im höchstmöglichen Maße kostenlos zur Verfügung a l l e r Bürger, das ist eine der Auf-gaben moderner Kommunalpolitik. Aus diesem Grunde fordere ich die Wiedereinführung des städtischen Gymnasiums der Antike, zu dem alle ohne Unterschied von Anschauung, Glauben oder gesell-schaftlicher Stellung Zutritt haben und das der unmittelbaren, allei-nigen Aufsicht der kommunalen Gesellschaft unterstellt ist. In die-ser Form, und nur in dieser, wird man eine gesunde und umfas-send sportliche Generation heranbilden können.
Eine weitere Utopie besteht in der Vorstellung, der Sport gehöre im Namen der Wissenschaft automatisch zum Maßhalten und müsse zwangsläufig mit ihm zusammengehen. Das wäre eine ungeheuer-liche Verbindung. Wird dem Sport Zurückhaltung und Vorsicht ein-geimpft, dann wird auch seine Lebenskraft beeinträchtigt. Er braucht die Freiheit des Übermaßes. Darin liegt sein Wesen be-gründet, seine Existenz, das Geheimnis seiner moralischen Bedeu-tung. Lehrt man, ein Wagnis mit Überlegung einzugehen, so ist das vollkommen in Ordnung; lehrt man aber, das Wagnis zu scheuen, so ist das Unsinn...
...Der Sport hat sich in einer Gesellschaft entwickelt, der durch die Jagd nach dem Gelde Verderben bis aufs Mark droht. Es liegt nun an den Sportvereinen, mit gutem Beispiel voranzugehen, Ehre und Anständigkeit wieder zu pflegen, Lüge und Heuchelei aus ihrem Bereich zu verjagen...
Für diesen Reinigungsprozeß wird der erneuerte Olympismus der wirkungsvollste Hebel sein, vorausgesetzt, es wird damit Schluß gemacht, die Olympischen Spiele mit Weltmeisterschaften zu ver-quicken. Weil einzelne Fachleute von diesem Gedanken nicht los-kommen, suchen sie dauernd die olympische Struktur zu zertrüm-mern, um sich dann eine Macht anzueignen, zu deren Ausübung sie sich in vollem Umfange in der Lage glauben. Es lag mir daran, meine Kollegen im Internationalen Olympischen Komitee noch einmal vor jeder Konzession ihrerseits in diesem Punkt zu warnen. Wenn der moderne Olympismus vorangekommen ist, dann nur deshalb, weil an seiner Spitze ein Gremium mit absoluter Unab-hängigkeit stand, das zu keiner Zeit von irgendwem subventioniert wurde, das sich durch sein ihm eigenes Ergänzungssystem von
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jeglichem Einfluß aus Wahlmanövern freihält sowie keinerlei Ein-wirkung seitens nationalistischer Leidenschaften oder durch Druck korporativer Interessen zuläßt...
Muß ich denn darauf hinweisen, daß die Spiele weder einem Land noch insbesondere irgendeiner Rasse gehören und daß sie von keiner irgendwie gearteten Gruppierung monopolisiert werden kön-nen? Sie sind weltumspannend. Sie müssen, ohne Diskussion, für alle Völker da sein. Alle Sportarten müssen hier gleichberechtigt behandelt werden, ohne Rücksicht auf Schwankungen oder Stim-mungen in der Öffentlichkeit. Die schöne Bezeichnung „Athlet“ wird übrigens auf den Reckturner ebenso anwendbar sein wie auf den Boxer, den Dressurreiter, den Ruderer, Fechter, Läufer oder den Speerwerfer... Die Spiele wurden geschaffen zur Glorifizierung des Champions als Individuum, dessen Leistung zur Pflege allgemei-nen Strebens und Wollens notwendig ist...
Vereinfachtes organisatorisches Getriebe, einheitlichere und zu-gleich ruhigere Unterkünfte, weniger Festveranstaltungen, insbe-sondere engere, tägliche Kontakte zwischen Sportlern und Funkti-onären, ohne Politiker und Karrieremacher, um sie zu entzweien, das werden, so hoffe ich, die Spiele der IX. Olympiade bringen.
Abschließend habe ich die Pflicht, meinen Dank für den Nach-druck abzustatten, mit dem man in allen Ländern bedacht war, mich weiterhin an der Spitze des Internationalen Komitees zu se-hen. Solche Beweise der Sympathie sind eine Ehre für mich. Ich möchte darum bitten, sie auch auf meinen Nachfolger zu übertra-gen, damit ihm die Aufgabe erleichtert wird. Länger zu bleiben, konnte ich nicht akzeptieren. Dreißig Jahre sind eine Frist, die man klugerweise nicht sehr überschreiten sollte. Ich möchte die mir ver-bleibende Zeit noch darauf verwenden, eine dringende Arbeit vo-ranzubringen, in dem Maße, wie es mir möglich sein wird: den Durchbruch einer Pädagogik, die geistige Klarheit und kritische Ruhe bringt. Meines Erachtens hängt die Zukunft der Zivilisation derzeit weder von ihren politischen noch von den ökonomischen Grundlagen ab. Sie hängt einzig und allein von der erzieherischen Orientierung ab, die sich abzeichnen wird...
Europa besitzt den Reichtum einer langsam gewachsenen, herrli-chen Kultur, aber es gibt in ihr keinen leitenden Faden mehr für den gesellschaftlich Privilegierten, während der Zutritt zu ihr für den Nichtprivilegierten ganz einfach untersagt bleibt. Die Zeit ist ge-
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kommen, ein pädagogisches Gebäude zu errichten, dessen Bau-weise den Erfordernissen der Zeit besser gerecht wird.
...Sicherlich habe ich bereits den einen oder anderen meiner Zuhö-rer überrascht, wenn nicht gar schockiert, wenn ich revolutionäre Tendenzen in einem Alter durchblicken lasse, in dem sich norma-lerweise das konservative Denken verstärkt. Aber meinen Mitarbei-tern, meinen treuen Freunden war ich eine freie und offene Erörte-rung meiner Pläne schuldig...
Sie selbst werden im gleichen Geiste den Aufstieg zu jener Höhe fortsetzen, auf der wir den Tempel errichten wollen, während unten in der Ebene ein riesiger Markt entstehen wird. Der Tempel wird überdauern, der Markt vergehen. Markt oder Tempel, die Sportler werden zu wählen haben. Sie können nicht begehren, gleichzeitig auf dem einen und im anderen zu sein, ...sie müssen wählen!
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Bilder eines Lebens
Von KURT FRANKE
Am 3. August 1997 beging Prof. Dr. med. Ernst Jokl in Lexington (Kentucky) im Kreise seiner Familie und vieler Freunde aus Europa und den USA seinen 90. Geburtstag.
Als Introduktion zur Feierstunde erinnerten Fotos aus neun Dekaden an einen Lebensweg, der die Höhen und Tiefen der europäischen und Weltgeschichte auch am Schicksal des Individuums nachzeichnete. Weiterhin führten viele Bücher und Publikationen in wissenschaftli-chen Zeitschriften den Gratulanten nochmals das Ergebnis eines lan-gen Gelehrtenlebens vor Augen.
Der im schlesischen Breslau geborene Ernst Jokl erhielt in seinem jüdischen Elternhaus alle Möglichkeiten zur umfassenden Bildung. Er besuchte das Johannes-Gymnasium seiner Heimatstadt, lernte beim Organisten W. Reimann Klavierspielen - das er bis ins hohe Alter auch zur Erbauung anderer wohlklingend praktiziert - und trieb erfolgreich Sport. Unter diesen günstigen äußeren Vorausset-zungen reifte eine vom Humanismus geprägte Persönlichkeit, der diese Laudatio nach einem Thema von Mussorgski-Ravel gelten soll.
1.BILD: Ernst Jokl als Deutscher Studentenmeister über 400 m Hürden und als Mitglied des Kandidatenkreises für die Olympia-mannschaft 1928, an deren medizinischer Betreuung er mithilft.
2.BILD: Ernst Jokl als Medizinstudent in Breslau (1925 -1930). Be-sonders beeindruckt ihn der Neurochirurg Prof. Otfried Foerster. „Er war der bedeutendste klinische Lehrer in meinem Leben und weckte in mir das jahrelang anhaltende Interesse an neurologi-schen Problemen im Sport.“
3.BILD: In den Wintermonaten 1930 - 1932 arbeitet der junge Arzt als Rockefellerstipendiat am Internationalen Institut für Hochge-birgsphysiologie in Davos. Dessen Leiter, Prof. Adolf Loewy, wünscht ihn sich als seinen Nachfolger. Als Loewy 1936 stirbt, weilt Jokl bereits in Südafrika als Emigrant.
4.BILD: Ernst Jokl wird 1931 wegen seiner wissenschaftlichen Ar-beiten zur Physiologie der sportlichen Leistung zum Leiter des sportmedizinischen Universitäts-Institutes Breslau ernannt - der ersten Einrichtung dieser Art in Preußen. (Leipzig und Hamburg
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hatten derartige Institute seit 1928). Zum ärztlichen Partner dieser Zeit zählt auch Ludwig Guttmann, der später als Emigrant in Eng-land die moderne Rehabilitation von Querschnittsgelähmten entwi-ckelte.
5. und 6.BILD: Ernst Jokl als Flugschüler in Breslau 1931. Einer seiner Fluglehrer hieß Erhard Milch. Einige Jahre später berichtet Captain Ernst Jokl M.D. als Angehöriger einer Armee der Anti-Hitler-Koalition über „Medical Aspects of Aviation“ und das Foto zeigt ihn als Berater von General Smuts.
Zwischen diesen beiden Fotos liegen elf Jahre, in denen die relativ heile Welt des deutschen Bürgertums zerbrach. Die Parteigänger des Fluglehrers und späteren Luftmarschalls Milch hatten nach dem initialen physischen Terror gegen Andersdenkende mit Gesetz vom 11. 4. 1933 Zehntausende von jüdischen oder demokratisch gesinnten Staatsangestellten für nicht beamtenwürdig erklärt und aus dem öffentlichen Dienst entfernt. Gelehrte von Weltruf und Wissenschaftler am Beginn ihrer Laufbahn wurden aus Hochschu-len und Instituten eliminiert, ohne daß die nicht von der Säuberung Betroffenen protestierten - der Atomphysiker W. Heisenberg war eine der wenigen Ausnahmen. Sehr viele der im Amt Belassenen haben wohl einen Karrierevorteil aus dem Verschwinden lästiger Konkurrenten gezogen.
7.BILD: 1933 wandert Jokl mit seiner jungen Frau, der Berliner Sportlehrerin Erica Lestmann (Olympiateilnehmerin 1928), nach Südafrika aus. Noch 1936 publiziert er als Dozent an der Universi-tät Stellenbosch deutschsprachig in Wien über „Zusammenbrüche beim Sport". Er setzt seine in Breslau unter 0. Foerster begonne-nen Untersuchungen zu den medizinischen Folgen des Boxens fort und es erscheint „Medical Aspects of Boxing", das den Autor als Leiter der Abteilung für Körpererziehung an der TH Witwaters-rand/Johannesburg ausweist. E. Jokl propagiert in seiner neuen Heimat den täglichen Sport als wichtige Möglichkeit der Gesund-heitsförderung so nachhaltig, daß dieses Prinzip ins Afrikaans als „Jokln" Eingang findet.
8.BILD: Unter dem Eindruck der beginnenden Apartheid in Südafri-ka zieht es den "jüdischen Deutschen" wie sich Ernst Jokl selbst bezeichnet, mit seiner Familie wieder in die alte Heimat, wo er 1950 eintrifft. Der Lehrstuhl für Sportmedizin an der gerade ge-gründeten Deutschen Sporthochschule Köln erscheint ihm erstre-
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benswert, hatte er doch bereits 1923 an der Deutschen Hochschu-le für Leibesübungen in Berlin einen Kurs absolviert. Aber mit der Standortverlagerung nach Köln sind dort diejenigen weiterhin in verantwortlichen Positionen, die wenige Jahre zuvor in Berlin "Sportlerbataillone für den Endsieg" propagierten. Sie haben wohl das ihnen Mögliche veranlaßt, einen Emigranten ihren Kreisen fernzuhalten.
W. Hollmann umschreibt das Geschehen in seiner Laudatio zum 80. Geburtstag von E. Jokl mit „Leider erlebte er hier Enttäuschun-gen und wandte sich nunmehr den USA zu". Der Jubilar enthielt sich dazu jeder öffentlichen Wertung, äußerte aber mit Bitternis 1987: „Es war eine große Tragik, bei der Rückkehr nach dem Krieg keine Gelegenheit zu finden, in der Heimat Fuß zu fassen... Nie wieder habe ich in Deutschland ein Institut für Sportmedizin gelei-tet. Meine wichtigsten wissenschaftlichen Beiträge nach 1945 sind auf fremdem Boden gewachsen...“
9.BILD: Von 1953 - 1976 als Professor an der Universität des Staa-tes Kentucky in Lexington tätig, entfaltet E. Jokl zahlreiche Aktivitä-ten zur Integration von Sportwissenschaft und Sportmedizin. Diese gipfeln in der Gründung des Weltrates für Sportwissenschaft und Leibeserziehung (ICSSPE) der UNESCO im Jahre 1960. Das For-schungskomitee des Weltrates leitet der Jubilar von 1960 - 1977. Gemeinsam mit dem ICCSPE-Präsidenten Lord Philip Noel Baker bestand E. Jokl darauf, „daß Vertreter des Sports aus allen Natio-nen zur Mitarbeit herangezogen werden sollten und daß keinerlei politische Beschränkungen die Arbeit des Weltrates beeinflussen". Sein universales Bemühen ließ Vorurteile nicht zum Tragen kom-men und aus dieser Grundhaltung erwuchsen enge fachliche Kon-takte auch zu den Ländern, die bis 1990 als sozialistische Staaten Bemerkens- und Erhaltenswertes für Sport, Sportwissenschaft und Sportmedizin leisteten. Die Fachgremien in beiden deutschen Staaten erfuhren von Ernst Jokl viele wissenschaftliche Anregun-gen, schätzen die Persönlichkeit und ehrten sein Lebenswerk viel-fältig.
10. BILD: Nebeneinander ausgestellt lagen die Urkunden für Prof Dr. Ernst Jokl als Ehrenmitglied des Deutschen Sportärztebundes und der Gesellschaft für Sportmedizin der DDR.
Das enzyklopädische Wissen von Ernst Jokl läßt das Lesen seiner Publikationen zum geistigen Hochgenuß werden, wie es auch beim
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Anhören seiner Vorträge der Fall war. Er hatte die seltene Gabe, vielfältige medizinische Probleme in ihrer Verbindung zum Sport zu analysieren und sie im Kontext mit historischen Geschehnissen, soziologischen Forschungen, philosophischen Fragen und den Schöpfungen der Musik, Literatur und darstellenden Kunst zu wer-ten.Wer sich mit Jokl befaßt, muß ihn als eine das internationale Profil bestimmende Persönlichkeit einordnen.Dafür einige Zitate aus seinen Publikationen:
- Für Musik und Sport in ihren besten Bestandteilen trifft gleichermaßen die Aussage zu: Kultur ist das Streben nach Vollkommenheit.
- Sportliches Üben verlängert das Leben, beschleunigt das Wachstum und verlangsamt das Altern.
- Wenn jemand während des Sports stirbt, stirbt er nicht infolge des Sports.
- Das Freisein von Symptomen bestätigt keinesfalls das Nichtvorhanden-sein einer kardiovaskulären Krankheit.
- Das Prinzip Leistungsmessung reicht nicht aus, um Wert und Erlebnis-qualität, die der Sport vermittelt, zu beschreiben.
Turnen und Eislaufen eröffnet die Welt der Ästhetik, Behindertensport spendet Trost, Zuversicht erlebt der Teilnehmer am Altersturnen.
- Sport als Wettkampf ist das große Welttheater unserer Zeit ...
Er hat fünf neue Menschentypen geschaffen. Es sind die Phänotypen
- des Kindes.das ganze Sportdisziplinen beherrscht,
- der Frau mit einer enormen Leistungsexplosion nach dem 2.Weltkrieg,
- des alternden Menschen, der durch lebenslanges Sporttreiben mit 6o - 80 Jahren ein Leistungsniveau aufgebaut hat, das untrainierten 20 - 30-jährigen überlegen sein kann (!).
- des sozial Hintangestellten, z.B. des Afroamerikaners, der sich durch gu-te sportliche Leistungen von der Armut und den Nöten seiner Jugend be-freien konnte.
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Glückwunsch und Schatten
Von KLAUS EICHLER
Der 75. Geburtstag Georg Wieczisks vereinte viele Freunde des Jubilars in Kienbaum. Die Palette der fröhlichen Runde reichte vom sächsischen Vereinsvorsitzenden einer kleinen traditionsreichen sächsischen Leichtathletikgemeinde bis zu Olympiasiegerinnen und Siegern, von heute als Landesvorsitzenden Tätigen bis zum bewährten Kampfrichter und langjährigen Kampfgefährten des weltweit angesehenen Leichtathletikfunktionärs.
Geboren am 20. Juli 1922 im oberschlesischen Gleiwitz wuchs Georg Wieczisk in einem Elternhaus auf, in dem „Schmalhans“ ständiger Küchengast war. Sein Vater war oft arbeitslos. In der ka-tholischen Volksschule lernte er in acht Jahren vor allem beten und die Legenden der preußisch-deutschen „Unbesiegbarkeit“. Mathe-matik, Physik, Chemie gehörten nicht zum Bildungssystem. Seine größte „Reise“ war die mit dem Fahrrad zum 40 km entfernten „hei-ligen“ Annaberg. Aus dieser Enge herauszukommen, begleiteten die Träume der Jugendjahre. Die vierjährige Lehre in einer Schuh-fabrik beendete er mit dem Diplom eines Facharbeiters.
Vom Taumel der „Siege“ im ersten Jahr des zweiten Weltkriegs geblendet, meldete er sich wenige Tage nach seinem 18. Geburts-tag freiwillig zur Kriegsmarine, ohne den Eltern ein Wort zu sagen. Der Krieg öffnete ihm bald die Augen. Im Mittelmeer und in der Ägäis lernte er das Grauen des Völkermord kennen.
Mit Millionen, die den Faschismus und seine Schrecken überleb-ten, leistete er den Schwur, der von nun an sein Leben und sein politisches Wirken prägen sollte: „NIE WIEDER KRIEG UND FASCHISMUS!“
Als eine Folge des Krieges heimatlos geworden, schlug er sich als Land- und Bergarbeiter durch und engagierte sich politisch getreu dem geleisteten Schwur.
1946 nutzte er die ihm in der auch mit vielen Bildungstraditionen brechenden Sowjetischen Besatzungszone gebotenen Chancen und ließ sich an der Vorstudienanstalt, der späteren Arbeiter- und Bauernfakultät der Berliner Humboldt-Universität einschreiben, ab-solvierte den Abiturkurs und begann danach Geschichte, Soziolo-
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gie und Sport zu studieren. Dem Staatsexamen folgte die Wissen-schaftliche Aspirantur und 1956 die Promotion.
Man übertrug ihm die Leitung der Abteilung Sportwissenschaft im Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport und danach fungier-te er - wo immer er gebraucht wurde - als Direktor der DHfK-Forschungsstelle, als Stellvertretender Vorsitzender des Staatli-chen Komitees und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates. Schließlich fand er seine wissenschaftliche Heimat 1961 am Institut für Sportwissenschaft der Humboldt-Universität, an die er als Do-zent für Sporttheorie - später Sportsoziologie - und Geschichte be-rufen wurde. Hier wirkte er als Professor in diesen Fächern und in der Sportpsychologie bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1987. Er leitete die Promotions- und Graduierungsverfahren, fungierte als „Doktor-Vater“ für mehrere Doktoranden, von denen heute sieben den „Doktorhut“ tragen, betreute weit mehr als hundert Diplom- und Staatsexamensarbeiten und war Leiter zahlreicher Forschungsvor-haben. Deren Palette reichte von der Rolle des Sports im Freizeit-verhalten bis zu den Problemen der Kommerzialisierung des olym-pischen Sports.
Er publizierte zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Beiträge, war Mitgestalter wissenschaftlicher Konferenzen und Symposien.
Über sein privates Leben sei vermerkt, daß er Vater zweier er-wachsener Kinder, Mathias (36) und Christine (34), und Großvater dreier Enkelkinder ist.
Sportlich aktiv war er in verschiedenen Sommer- und Wintersport-arten bis 1952. Schon früh bekleidete er ehrenamtliche Funktionen und war von 1948 bis 1951 Vorsitzender des Studentensports in der DDR und danach Übungsleiter bis 1955.
1958 kandidierte er auf dem Gründungsverbandstag des Deut-schen Verbandes für Leichtathletik der DDR als Vizepräsident, wurde gewählt und gelangte ein Jahr später an die Spitze eines der erfolgreichsten Leichtathletiklandesverbände der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. In dieser Funktion profilierte er sich in seiner 31jährigen Amtszeit zu einem national und international geachteten Experten der Leichtathletik. Unvergessen bleibt seine über Fairneß wachende Rolle bei den Ausscheidungswettkämpfen der deut-schen Leichtathletikverbände für die von der Internationalen Föde-ration (IAAF) bis 1964 geforderten „gemeinsamen“ Mannschaften und sein kreatives Engagement auf allen Gebieten der Leichtathle-
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tik der DDR. Auf den IAAF-Kongressen vertrat er die Interessen des DVfL und genoß hohen Ruf dank seines sachlichen und fach-kundigen Auftretens. Ein Beispiel für viele: 1972 setzte er vor den Olympischen Spielen in München durch, daß alle Teilnehmer mit gleichen Voraussetzungen im Stabhochsprung an den Start gin-gen. Er war Mitglied der Präsidien des Nationalen Olympischen Komitees und des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, wurde 1970 in das Council der Europäischen Leichathletik-Association (EAA) und 1972 zum IAAF-Ratsmitglied gewählt. In beiden Funktionen erwarb er sich hohes internationales Ansehen. Er übernahm die Organisation und Leitung von Kampfrich-terlehrgängen, war federführend an der Ausarbeitung der Regeln für internationale Meisterschaften der Senioren und Junioren betei-ligt und arbeitete an richtungweisenden, heute noch gültigen Stan-dardwerken der internationalen Leichtathletik mit. Als Technischer Delegierter bei Welt- und Europameisterschaften, bei Kontinental-meisterschaften in Asien und Afrika erwarb er sich internationales Ansehen.
Seine Tätigkeit wurde mit hohen Auszeichnungen gewürdigt. In der DDR verlieh man ihm den Titel „Verdienter Meister des Sports“ und die „Friedrich-Ludwig-Jahn-Medaille, in Finnland zwei Sportver-dienstkreuze, in Italien den Ritter-Orden und das IOC den Olympi-schen Orden.
1990 wurde er zum Ehrenpräsidenten des DVfL und danach ein-mütig zum Ehrenpräsidenten des Deutschen Leichtathletikverban-des gewählt. Begründet wurde diese Wahl mit seinen jahrzehnte-langen Verdiensten um die deutsche Leichtathletik. 1993 verlieh man ihm die Ehrenmitgliedschaft des sächsischen und 1994 des brandenburgischen Leichtathletikverbandes. In zahlreichen Publi-kationen in Ost und West würdigte man ihn als Brückenbauer bei der Vereinigung der beiden deutschen Leichtathletikverbände.
Zu bedauern blieb, daß auf den Tag, an dem er seinen 75. Ge-burtstag feiert, ein böser Schatten fiel. Der DLV, zu dessen Ge-wohnheiten es gehört, solche Jubiläen in würdiger Form auszurich-ten, begann mit den Vorbereitungen, doch nahm Präsident Prof. Dr. Digel dann an einigen Gästen, die Prof. Dr. Georg Wieczisk seit Jahrzehnten zu seinen Wegbegleitern und Freunden zählt, politisch Anstoß. Es kam zu endlosen zermürbenden Debatten, in denen der Jubilar veranlaßt werden sollte, auf die Einladung dieser Gäste
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zu verzichten. Seinen Lebensmaximen treu bleibend beharrte der Ehrenpräsident auf seiner Gästeliste. Viele Mitglieder des Präsidi-ums und des Verbandsrates bekundeten ihm ihren Respekt und ih-re Achtung für diese Haltung, die auch den zahlreichen Appellen des Bundespräsidenten Roman Herzog folgt und das Aufeinander-zugehen der Deutschen höher bewertet als kleinliche Vorurteile.
Die das Ereignis geschmacklos abwertende überschriftenlose Notiz im Fachorgan rundete die Aktion ab. Prof. Digel wird nicht vermei-den können, daß man ihn künftig an der Haltung mißt, die er an diesem Tag demonstrierte. Möglicherweise begriff er das auch selbst, trommelte deshalb sein geschäftsführendes Präsidium zu-sammen und ließ es einen diesbezüglichen Beschluß fassen. So glaubte er, die Alleinschuld losgeworden zu sein. Daß er den Eh-renpräsidenten bei der nächsten Begegnung am Rande der Leicht-athletik-Weltmeisterschaften in Athen aufforderte, sich für die Ver-gehen des DDR-Sports öffentlich zu „entschuldigen“ - eine Forde-rung, die dieser energisch zurückwies - offenbarte deutlicher als jeder „Beschluß“ die an „Bild“ erinnernden Denkschemen zwischen denen der Darmstädter Professor seit langem herumirrt.
Wiederholt werden aber soll: Die Geburtstags-Stimmung in Kien-baum war fernsehreif und hatte viele Höhepunkte: die Rede des Jubilars, die Glückwünsche, der ungeachtet des Digels’schen Bannstrahls gekommenen offiziellen Gratulanten und schließlich das Trompetensolo des ersten DDR-Olympiasiegers Wolfgang Behrendt, der sich erinnerte, 1956 an gleicher Stelle vor dem Auf-bruch der Mannschaft nach Melbourne gespielt zu haben und da-mit einen Zeitrahmen stimmungsvoll schloß.
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Die furchtbare Münchner Nacht
Von KLAUS HUHN
Der Überfall auf die israelische Olympiamannschaft vor einem Vier-teljahrhundert, am frühen Morgen des 5. September 1972, war eine schreckliche Zäsur der olympischen Geschichte. Die Attentäter wa-ren nicht irre Amokläufer, sondern Terroristen, die kaltblütig Men-schenleben aufs Spiel setzten und die Olympischen Spiele in er-bärmlicher Weise mißbrauchten. Die Welt - und in ihr die olympi-sche Bewegung - werden die Opfer nicht vergessen.
Diese Trauer rechtfertigt allerdings nicht die Oberflächlichkeit der Untersuchungsberichte, die die Geschehnisse, die dem Überfall folgten, auflisten. Leider hat bislang kein namhafter westdeutscher Sporthistoriker - oder auch Kriminologe - eine gründliche Untersu-chung in Angriff genommen. Hinweise auf die Mitwirkung namhaf-ter Politiker an der Affäre können kein Grund für diese unerklärliche Zurückhaltung sein. Der 25. Jahrestag des Desasters hätte jeden-falls eine solche Arbeit in jeder Hinsicht gerechtfertigt.
Die Vorfälle am 5. und 6. September im Olympischen Dorf in Mün-chen und vor allem auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck liegen nach wie vor in einem unerklärlichen Halbdunkel. Schon die Berichte über die erste Wahrnehmung der Täter widersprechen sich. Die glaubwürdigste Version nennt zwei ahnungslose Postbeamte als erste Augenzeugen. Sie hatten am Morgen des 5. September ge-gen 4 Uhr - also mindestens 30 Minuten vor dem ersten Schuß - mehrere Personen über den mannshohen Zaun des Olympischen Dorfes steigen sehen, hielten sie aber für Athleten, die nach einem überlangen Stadtbummel Ärger mit ihren Mannschafts-Chef entge-hen wollten. So setzten die Postboten ihren Weg fort, wohl auch, weil sie nie aufgefordert worden waren, besondere Vorkommnisse während der olympischen Tage unverzüglich zu melden. Sie erin-nerten sich ihrer Beobachtung erst im Laufe des Tages. Ihre Aus-sage bestätigte im Nachhinein, daß weder der alle Sicherheits-maßnahmen der Olympischen Spiele koordinierende bayrische In-nenminister Merk noch der ihm unterstellte Münchner Polizeipräsi-dent Schreiber es für nötig befunden hatten, Doppelstreifen in dich-ten Abständen um das Dorf patrouillieren zu lassen und diese
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nachts zu verstärken. Insgesamt standen 10.000 Polizisten zur Verfügung!
Es soll daran erinnert werden, daß man nicht umhin konnte, nach der Katastrophe ein förmliches Verfahren gegen Schreiber und an-dere Verantwortliche einzuleiten, das deren mögliche Mitschuld klären sollte. Man kam überraschend schnell zu dem Resultat, die-ses Verfahren einzustellen. Das Dokument trägt den Stempel vom 4. Februar 1973.
Zu denen, die ernste Vorwürfe gegen die Sicherheitsmaßnahmen in München erhoben, gehörte auch die damalige israelische Minis-terpräsidentin Golda Meir, doch kann bei ihr nicht übersehen wer-den, daß sie sich mit ihrer strikten Order an den israelischen Bot-schafter in Deutschland, keinerlei Vereinbarungen mit den Attenttä-tern zu treffen, nicht nur im krassen Widerspruch zum Bundeskanz-ler Willy Brandt befand, der sich stundenlang und mit großem Eifer um eine Lösung bemühte, sondern durch ihre starre Haltung auch Mitverantwortung für den tragischen Verlauf übernahm. Der Disput zwischen Merk und dem Botschafter wurde damals im „Stern“ (17.9.1992) gedruckt und nie dementiert: Die Frage „Herr Botschaf-ter, eine gewaltsame Befreiungsaktion ist mit einem hohen Risiko für das Leben der Geiseln verbunden. Nehmen Sie dieses Risiko in Kauf?“, beantwortete Botschafter Ben-Horin „mit einem klaren ‘Ja’.“
Der Ablauf des Überfalls kann hier nur in Stichworten wiedergege-ben werden. Das Quartier für die israelische Mannschaft war von Mitarbeitern des israelischen Geheimdienstes lange vor den Spie-len ausgesucht worden. (Daß es sich gegenüber der Unterkunft der DDR-Mannschaft befand, könnte darauf schließen lassen, daß die als Sicherheitsfaktor betrachtet wurde.) Der Vorschlag des für die Sicherheit der Athleten zuständigen Bonner Amtes für Verfassungs-schutz, besondere Sicherheitsmaßnahmen für die israelische Mann-schaft zu treffen, wurde von israelischer Seite mit dem Kommentar abglehnt: „Das machen wir allein!“ Man kann also annehmen, daß sich unter den Opfern auch Offiziere des israelischen Geheimdiens-tes befanden, was aus verständlichen Gründen nie offenbart wurde.
Die Täter waren, nachdem sie den Zaun am Kusocinski-Damm überstiegen hatten, mit ihren Waffen ungehindert in die Kellerebe-ne des Dorfes eingedrungen und dort zum Haus der israelischen Mannschaft gelangt. Die Tür war unverschlossen. So kamen sie unentdeckt in die oberen Etagen. Der erste Schuß tötete den Rin-
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gertrainer Moshe Weinberg. Mehrere Athleten konnten in dem ent-stehenden Durcheinander flüchten, neun blieben in der Gewalt der Terroristen, die gegen 9 Uhr das von ihnen zu Papier gebrachte Ul-timatum aus dem Fenster des besetzten Hauses warfen. Die ent-scheidende Forderung lautete, 200 palästinensische Häftlinge in Is-rael sofort freizulassen. Den ganzen Tag über fanden Verhandlun-gen statt. Der Termin des Ultimatums wurde mehrmals verlängert. Am Abend wurde die Forderung der Attentäter, mit ihren Geiseln nach Kairo geflogen zu werden, von deutscher Seite akzeptiert, al-lerdings nur zum Schein.
Lange nach dem 5. September 1972 hat der von den bundesdeut-schen Sicherheitsbehörden als Verbindungsmann in das Organisa-tionsbüro der Olympischen Spiele entsandte Beamte erklärt, daß er zwar vor den Spielen bereits eine Warnung über arabische Aktivitä-ten erhalten hatte, dieser aber nicht die nötige Aufmerksamkeit ge-schenkt habe, weil er mit Aufträgen, die den „Ostblockmann-schaften“ galten, überhäuft worden war. Daß auch der BND nicht überrascht sein konnte, geht daraus hervor, daß der Geheimdienst am 24. August 1972 der Lufthansa eine dringende Warnung über-mittelt hatte: „Nach Informationen, die bei Interpol eingegangen sind, planen angeblich arabische Terroristengruppen für den 6. o-der 12. 10. 1972 Anschläge gegen ein Flugzeug der Sabena... Die Terroristen bestehend aus drei Gruppen, sollen am 14. bzw. 30.9.1972 aus Rumänien, Österreich und der Bundesrepublik ein-treffen...“
Am 30. August hielt es die Lufthansa für angeraten, ihre Außenstel-len zu informieren: „Die bekannten Mitglieder der palästinensischen Befreiungsfront L... K... verließen Beirut am 29. August mit unbe-kanntem Ziel.“ Es ist für die Beurteilung des Sachverhalts unerheb-lich, ob tatsächlich die Genannten oder andere den Anschlag auf das Olympische Dorf unternahmen. Jeder halbwegs ausgebildete Kriminalist hätte angesichts der Warnung augenblicklich empfoh-len, die Sicherheitsmaßnahmen für die Olympischen Spiele - und angesichts der Nationalität der Avisierten in besonderem Maße die für die Mannschaft Israels - zu erhöhen. Es kam nicht einmal je-mand auf die Idee, wenigstens Zivilposten vor dem Haus der israe-lischen Mannschaft zu positionieren und die für alle Häuser „neu-ralgische“ Kellerebene stärker zu überwachen. Schon Rund-um-
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die-Uhr-Posten an der Tür, durch die die Attentäter eingedrungen waren, hätten den Dingen einen anderen Lauf gegeben.
Die Vorbereitungen auf den Transport der Geiseln und der Geisel-nehmer aus dem Dorf zum Flugplatz muten nach den derzeitigen Erkenntnissen stümperhaft an. Zunächst ging man davon aus, man werde die Attentäter überreden können, mit ihren Geiseln zu Fuß den Weg vom Mannschaftshaus durch die Kellerebene zu dem Platz, auf dem der Hubschrauber wartete, zurückzulegen. Deshalb wurden im Keller zahlreiche - die genaue Zahl wurde nie bekannt, wäre aber wegen der folgenden Ereignisse wichtig - Scharfschüt-zen postiert. Der Anführer der Palästinenser lehnte - kaum überra-schend - den langen Fußmarsch ab, forderte einen Bus und ver-langte dann, die Wegstrecke des Fahrzeugs vorher inspizieren zu können. Man vergaß, die im Keller hinter den Pfeilern postierten Scharfschützen abzuziehen, so daß der Polizeipräsident bei sei-nem Gang durch den Keller an der Seite des Palästinensers stän-dig laut rufen mußte: „Dies ist ein Probegang! Dies ist ein Probe-gang!“ Spätestens zu diesem Zeitpunkt wußte der Anführer der At-tenstäter also, daß die Zusage, ihn nach Kairo auszufliegen, nicht ganz ernst gemeint sein könnte.
Dementsprechend verhielt er sich und warnte auch seine Gefährten. Neben den beiden Hubschraubern mit den noch lebenden neun Is-raelis, die tagsüber vergeblich ihre Regierung gebeten hatten, die Palästinenser freizulassen, startete ein dritter Hubschrauber. In ihm hätte man die erfahrensten Kriminalisten erwartet. Aber tatsächlich stieg der „Krisenstab“ ein: Bundesinnenminister Genscher, der bay-rische Innenminister Merk, der Münchner Polizeipräsident Schreiber, der israelische Geheimdienstchef Zamir und Franz Josef Strauß. Genschers spätere Begründung für dessen Anwesenheit: „Sollten wir etwa den ranghöchsten erreichbaren Vertreter der Opposition verprellen?“ Diese Auskunft erklärt die Anwesenheit der Politiker hin-reichend: man wollte sich möglichst zahlreich als Befreier feiern las-sen und zwar nicht nur die Koalition, sondern eben auch die Opposi-tion.
Da die Scharfschützen noch in Scharen im Dorf saßen, waren auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck nur fünf (!) anwesend. Der fast ein-fältige Operationsplan bestand darin, die Geiselnehmer und die Geiseln in eine zum Abflug bereitstehende Boeing 727 der Luft-hansa steigen zu lassen und sie dann durch ein an Bord versteck-
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tes Kommando zu überwältigen. Drei (!) Kriminalbeamte wurden als Besatzungsmitglieder verkleidet und sollten die Operation durchführen. Sie erklärten jedoch schon wenige Minuten, nachdem sie die Maschine bestiegen hatten, daß sie nicht bereit seien, die Aktion durchzuführen. Schreiber später vor dem Untersuchungs-ausschuß: „Die Einsatzleitung konnte sich den Argumenten der Beamten nicht verschließen. Sie wurden aus der Maschine abge-zogen.“
In diesem Augenblick wußte niemand mehr, was man eigentlich wollte und der „Krisenstab“ flog ratlos neben den beiden Hub-schraubern her. Nach der Landung begab sich der Anführer der Palästinenser zum Flugzeug, stellte fest, daß niemand an Bord war - ein Mitglied der Crew, das die zum Schein laufenden Triebwerke überwachte, hatte sich im Cockpit versteckt - und wußte endgültig, das nun mit einem Überfall zu rechnen war. In diesem Augenblick wäre ein letzter Versuch, ein Gespräch mit den Palästinensern zu führen, vermutlich nicht gescheitert, aber der dafür zuständige „Stab“ hockte irgendwo in der Dunkelheit und der zum Einsatzleiter ernannte Polizeioffizier Wolf gab - möglicherweise durch die Ereig-nisse irritiert - den fünf Scharfschützen den Befehl, das Feuer zu eröffnen. Die Folge war eine wilde Schießerei, in deren Verlauf die neun Israelis, fünf Palästinenser und ein Polizeioffizier ums Leben kamen. Regierungssprecher Conrad Ahlers versicherte eine Stun-de nach dieser Katastrophe im ZDF: „Man kann wohl sagen, diese Operation ist glücklich und gut verlaufen.“ ZDF-Chefredakteur Wol-ler fügte hinzu: „Alle Geiseln sind am Leben...“ Bald darauf rief Mi-nister Merk bei Bundeskanzler Brandt an und sagte: „Es ist doch nicht so schön, wie wir geglaubt haben...“
Die „New York Times“ erschien am nächsten Morgen mit der Schlagzeile „Münchner Polizei schickte fünf in den Kampf gegen acht Terroristen“.
Jeder, der damals in München sein Leben verlor, ist zu beklagen, aber es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die hohe Zahl der Opfer letztlich denen zuzuschreiben ist, die, statt Experten zu rufen und sie überlegte Pläne vorlegen zu lassen, im Vordergrund agie-ren wollten.
Nur ein Beispiel: Der Dolmetscher, der die ersten Verhandlungen übersetzte, war ein in München studierender Syrer, mit dem ich mich am 8. September unter fast konspirativen Umständen traf. Er
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hatte das Vertrauen der Geiselnehmer erworben und erzählte mir, daß er gegen Mittag echte Hoffnungen hegte, es könne mit den At-tentätern zu einer Übereinkunft kommen. Als Israels Geheim-dienstchef in München eintraf, brachte er einen Dolmetscher mit und verlangte als erstes, den bis dahin tätigen Dolmetscher aus-zuwechseln. Die Palästinenser hatten keine Mühe, sich zu erklä-ren, wieso der Mann, der seit dem frühen Morgen mit ihnen ver-handelt hatte, plötzlich verschwunden war.
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REZENSIONEN
Sport – eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst
Peter Kühnst legt mit „Sport - Eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst“ ein umfängliches Buch vor, immerhin sind es 427 Seiten mit 411 Abbildungen, kommentierendem Text und Anhang. Es ist eine Neuerscheinung, aber keineswegs, wie einige Zeitungsartikel und - verständlich - buchhändlerische Werbetexte voreilig verlauten las-sen, der erste Versuch, die geschichtliche Entwicklung des Sports im Spiegel der Kunst darzustellen. Erinnert sei an R.Carita "Lo Sport nelle` Arte" (1960) und andere, die auch der Autor in seiner Literaturauswahl (S. 405 - 410) nicht unerwähnt läßt. Aber man kann dem Satz im Vorwort des Präsidenten des IOC J.A.Samaranch zu diesem Buch wohl wörtlich nehmen, daß eine "lebendige Geschichte über das sportliche Bewegen und Verhal-ten" entstand, "wie sie in dieser Form noch nicht existiert".(S.7)
Das beginnt mit der Gliederung des Buches, die laut P.Kühnst ei-ner "kunstgeschichtlichen Periodisierung" folgt (S. 10), in folgende Kapitel:
1. "Im Gehen, Reiten und Reden untadelig..."
Sport und Kunst in der Renaissance S. 13
2. Vom Prunk zur Praxis
Barocke Exerzitien und aufklärerische Leibesübung S. 61
3. Nach Gramm, Meter und Sekunde
Leibesübungen zwischen Verklärung und Versachlichung S. 111
4. Sport in vibrierenden Bildern
Von der Sporting-art zum Impressionismus S. 153
5. "...die Sieger zu bekränzen"
Die Frau und ihre Rolle im Sport S. 189
6. Die Verstädterung des Sports
Nachimpressionismus und Reformbewegungen S. 229
7. Die Schönheit der Geschwindigkeit
Sport zwischen Euphorie, Kritik und Entartung S. 271
8. Vorstoß an die Grenzen
Postmoderner Sport S. 335
Auf den ersten Blick erscheinen die Kapitelüberschriften wie attrak-tive Schlagzeilen, die neugierig machen sollen. Beim näheren Hin-sehen stellt sich allerdings heraus, daß darunter eine historisch-
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chronologische Kulturgeschichtsschreibung leidet, weil lediglich präsente Fakten, Episoden, Zeitzeugnisse, gesellschaftliche Vor-gänge, Ideen usw. jeweils unter die werbewirksame Schlagzeile gruppiert und durch Abbildungen drapiert werden. Zudem sind die Kapitelüberschriften sprachlich zum Teil unsinnig, wie "aufkläreri-sche Leibesübungen" (2) oder "vibrierende Bilder" des Impressio-nismus (4). Kühnst begibt sich damit in das gegenwärtige Begriffs-wirrwarr der Kunstwissenschaft und - noch mehr - der Kunstpubli-zistik. Auch er weiß mit dem Begriff "Moderne", der immer mehr zur Worthülse verkommt, der zerbröckelt, weil er für alles einen Deckel bildet, was zu mühselig ist, konkret und differenziert untersucht und benannt zu werden, nicht umzugehen. Das fängt bei der zeitlichen Bestimmung des Beginns der „Moderne" in der bildenden Kunst an. Und bei dem Begriff „Postmoderne" herrscht nur noch geistige Ka-pitulation vor dem visuellen Durcheinander in der bildenden Kunst, und das alles vor dem Hintergrund der Bilderflut der Massenmedi-en. Die Kunst der Moderne ist nicht identisch mit der Kunst des 20. Jahrhunderts, und wenn die in der Kunstwissenschaft üblichen Stilbezeichnungen für Kunst, die nebeneinander zeitlich koexistie-ren nicht sorgfältig angewandt werden, entsteht ein pauschales Bild der Kunst, das sie ärmer erscheinen läßt, als sie wirklich ist.
Die vorgebliche Orientierung an kunstgeschichtlichen Periodisie-rungen bleibt mehr oder weniger verschwommen. Insofern stimmt es, daß „in dieser Form" noch keine Kulturgeschichte des Sports existiert, jedenfalls nicht in einer solchen üppigen Buchform und dem damit verbundenen Anspruch.
Der Buchtitel verspricht eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst. Im Text und bei den Abbildungen geht es dann aber nicht einmal um die bildende Kunst als Ganzes, sondern der Autor grenzt seine Abhandlung und seine Bildauswahl noch weiter auf die Malerei, Grafik und Fotografie ein. Seine Erklärung dafür: „Grundlage der Untersuchung bildet ein Bestand von mehr als 1400 Bildern, deren Thema das sportliche Bewegen und Verhalten des Menschen ist. Aus diesem Fundus wurde eine Auswahl getroffen, die sich an der sportgeschichtlichen und sozialen Bildaussage sowie der Epochenzugehörigkeit und an den differenzierten Möglichkeiten der formalen Umsetzung menschlicher Bewegung in der Kunst ori-entiert". (S. 10) Die Eingrenzung wird aber dennoch kaum plausibel, denn wie sich sein Bestand bildete, systematisch oder zufällig, er-
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fährt man nicht. Und seine Charakterisierung dieses Bestandes trifft mehr oder weniger auf alle Werke der bildenden Kunst zu, die das Thema Sport zum Gegenstand haben.
Wenn P. Kühnst sein Weglassen der Plastik damit begründet, daß "anders beispielsweise als bei der Plastik aus der griechischen An-tike die Bildkunst...als Quelle für die Geschichte des Sports bisher selten oder nur sporadisch in Anspruch genommen worden" sei (S. 9), dann geschieht dies wider besseren Wissens. In seiner 1986 im Selbstverlag herausgegebenen "Bibliographie Sport und Kunst" (mit über 3000 Titeln auf 148 Seiten) sind Literaturquellen in reich-licher Zahl angeführt, aus denen das Gegenteil seiner Behauptung zu beweisen wäre.
Die durch sein Buchkonzept selbst verordnete Einäugigkeit läßt ihn zwangsläufig jene Ursprünge körperlicher Übungen und Wettkämp-fe in der Frühgeschichte der Menschheit und deren Zeugnisse in Gestalt von Kunstwerken (wie Wandmalereien u.a.) übersehen, aus denen Sporthistoriker in hohem Maße ihre Erkenntnisse ablei-ten. Und oft sind das - bei aller Subjektivität bildkünstlerischer Aus-sagen - die einzigen Quellen der Forschung. Selbst wenn sie nicht als Zeitzeugnisse von dokumentarischem Wert klassifiziert werden können, vermitteln sie Imaginationen wie Reflexionen von Künst-lern aus ihrer Zeit heraus und können deshalb für die historische Forschung von Interesse sein. Das trifft besonders auf die antike bildende Kunst zu, die ja beileibe nicht nur Plastiken zum Thema Sport hervorbrachte. Was wäre beispielsweise die Geschichts-schreibung über die griechische Körperkultur und deren Illustration wert ohne die antike Malerei auf Vasen und Schalen in ihrer un-glaublichen Vielfalt von Themen und Motiven ?
Und ist die Renaissance wirklich als Wandel (Kapitel 1) zu verste-hen, wenn nicht eindeutig gesagt wird, daß sich der Geist der Re-naissance an den wiederentdeckten griechischen Vorbildern ent-zündete? Die Wiedergeburt war die geistige Voraussetzung und Grundlage für die stürmische Umwälzung der Wissenschaft, der Technik, der Kunst und des gesellschaftlichen Lebens. Das kann doch nicht einfach übergangen werden, um willkürlich und voraus-setzungslos den Beginn einer Kulturgeschichte des Sports zu da-tieren.
Im übrigen ist wohl kaum zu übersehen, daß Kunstverständnis und ästhetische Ansichten sich bis in unser Jahrhundert hinein an die-
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sem griechischen Vorbild und Muster bildeten. Auch der Begründer der modernen olympischen Spiele Baron Pierre de Coubertin war davon geprägt und zeitlebens bemüht, seine Vorstellungen von ei-ner "Hochzeit von Muskel und Geist" der eurhythmischen Gestal-tung des Festes der olympischen Spiele und besonders den von ihm angeregten olympischen Kunstwettbewerben zugrunde zu le-gen. Diese Voraussetzungen und Zusammenhänge müßten doch einer Kulturgeschichte des Sports - und sei es als Prolog - voran-gestellt werden.
Es erstaunt, daß der Marques de Samaranch, als Sponsor des ganzen Projekts, dieses Weglassen akzeptiert und auch in seinem Vorwort nichts in dieser Richtung anklingen läßt, obwohl der unter seiner Schirmherrschaft 1994 erschienene Band "Olympismus und Kultur" gerade diesen Aspekt akzentuiert heraushob.
Und schließlich soll ein letzter Gesichtspunkt genannt werden, dessen übersehen gleichfalls unergründlich ist. Coubertin vertrat die Auffassung vom "Sport als Auftraggeber und Gelegenheit für die Kunst". Wäre es nicht angemessen gewesen, die Bemühungen in den verschiedenen Ländern oder auch anläßlich internationaler sportlicher Höhepunkte (Olympischen Spielen, Weltmeisterschaf-ten usw.) um Verbindungen zwischen Kunst und Sport auf ihren Wert und ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen? Es ist damit mehr bewegt worden, als auf den ersten Blick von manchem geahnt wird. Erinnert sei nur an solche Sternstunden, die durch die Anwe-senheit der bildenden Kunst in den Ausstellungen beispielsweise bei den Olympischen Spielen in Amsterdam 1928, in Rom 1960, in Seoul 1988, in Barcelona 1992 und anderen Höhepunkten des Weltsports unvergeßliche Eindrücke und nachhaltige Wirkungen hin-terließen. Das bei der Thematik des Buches nicht entsprechend dar-zustellen ist einfach ärgerlich.
Verwundert muß man auch feststellen, was der Autor an nationalen Entwicklungen auf diesem Gebiet ignoriert, ob in Italien, in Polen, in Spanien, in den USA. Wenn er die Bemühungen und Ergebnisse in der DDR, die nicht zuletzt der IOC-Präsident bei den ver-schiedensten Gelegenheiten (so anläßlich der 90. IOC-Session in Berlin 1985) in den höchsten Tönen rühmte, einfach ausläßt, folgt Peter Kühnst einem modischen Trend der Politik, und das muß er mit seinem Gewissen als Wissenschaftler ins Reine bringen.
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Natürlich kennt Peter Kühnst die Früchte wie die - kritisch und sachlich zu analysierenden - Probleme des Zusammenwirkens zwischen Kunst und Sport in der DDR, denn nach seiner Disserta-tion 1980 über den DDR-Sport führte er in seiner schon erwähnten Bibliographie von 1986 lange Listen von Titeln zu dieser Thematik auf und widmete ihr 1985 sogar eine reich bebilderte Broschüre „Sport und Kunst - Sporting Art in der DDR", was immer man sich auch unter dieser ahistorischen Übernahme einer Benennung für ein Phänomen in der Kunst- und Sportgeschichte Englands Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts vorstellen soll.
Die Leugnung seines Wissens über diese Tatsachen ändert jedoch nichts an deren Existenz in vier Jahrzehnten.
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Man wird das Gefühl des Unbehagens vom Anfang bis zum Ende dieses umfänglichen Buches nie ganz los, obwohl man sich durch das reichhaltige Bildangebot und die exzellente Gestaltung und Herstellung des Buches durch den Dresdener Verlag der Kunst auf das angenehmste angesprochen fühlt.
Das Wiedersehen mit bekannten Bildern und sporthistorischen Be-gebenheiten frischt Erinnerungen auf, das Entdecken weniger be-kannter bildkünstlerische Zeugnisse und Geschichten bereitet dem Leser ganz gewiß ausgesprochenes Vergnügen, auch dem Sport- (und Kunst-)historiker. Aber ihm wird dies immer wieder verdor-ben, wenn er auf unklare Begriffe wie „postmoderner Sport" oder auf willkürliche historische Zuordnungen wie „Nachimpressionis-mus und Reformbewegungen" stößt, wenn er vergeblich nach Spiegelbildern des Sports im Alltag, als Teil der Lebensweise in Gestalt der Gebrauchsgrafik (Plakate etc.) oder der angewandten Kunst (Sporttrophäen etc.) sucht, wenn er Werke von Malern und Grafikern vermißt, die bedeutende Beiträge zur bildkünstlerischen Darstellung des Sports leisteten, wie der Schweizer Hans Erni, der Deutsche Fritz Genkinger, der Japaner Tatsuo Toki und andere.
Verdruß stellt sich auch ein, wenn man auf gedrechselte Formulie-rungen stößt, wie (S. 13) die Schilderung der Ballspiele im Italien des 14. Jahrhunderts als „irdisches Treiben" und „der Welt zuge-wandte Betätigung" (?!), oder wenn Kühnst die Illustration der „Rin-gerkunst..." des Fabian von Auerswald uneingeschränkt Lucas Cranach d.Ä. zuweist (S. 37) und den erreichten Forschungsstand zu diesem Sachverhalt ignoriert, von Ungenauigkeiten ganz zu
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schweigen, wenn er beispielsweise Manfred Rommel einen Aus-spruch aus den Jahre 1992 in den Mund legt (S. 372) und in der Anmerkung 77 dann als Quelle eine Tageszeitung aus dem Jahre 1989 nennt.
Manche Passagen wirken unfreiwillig geradezu komisch, wenn zum Beispiel (S. 240) davon die Rede ist, daß die victorianische, bonapartistische oder wilhelminische Ordnung ein „Goldenes Zeit-alter der Sicherheit" verkörperten und das „Versicherungswesen einen ungeheuren Aufschwung" (!?) erlebte. Noch schlimmer ist dann der unmittelbar folgende Satz: „Die Befunde gesellschaftli-cher Analysen von Max Weber, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Oswald Spengler u.a. fielen ganz unterschiedlich aus." (Früher pflegten wir, wenn wir derartige Platitüden hörten oder lasen, zu sagen: "Au weia, wenn das rauskommt !") Mit ernsthafter kulturge-schichtlicher Analyse haben solche Ausführungen beim besten Wil-len nichts zu tun.
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Für solche Einschränkungen in der Bewertung seines Buches fand Peter Kühnst - möglicherweise als vorauseilende Schutzbehaup-tung gegen zu erwartende Kritik - schon auf Seite 10 die Erklärung, daß dieses Buch „keine kunstwissenschaftliche Arbeit" sei. Es fällt nicht schwer, dem nicht zu widersprechen.
Sie als sportwissenschaftliche Arbeit zu qualifizieren, erscheint ge-nauso bedenklich. Sein Buch ist eher ein nicht uninteressanter Streifzug durch die Kulturgeschichte aus ganz persönlicher Sicht des Autors, schöpfend aus seinem Wissen, seinen Ansichten, sei-nem gesammelten Material und seinen Quellen.
Der Satz von Peter Kühnst (S. 10) ist sicher keine Koketterie, aber er markiert die Grenzen einer Einzelarbeit mit dem anspruchsvollen Titel seines Buches. Ein solches Projekt kann wohl nur in einer in-tensiven Gemeinschaftsarbeit von Vertretern verschiedener Diszip-linen der Kultur-, Kunst- und Sportwissenschaft (Historiker, Sozio-logen u.a.) erfolgversprechend gedeihen.
Abschließend soll festgestellt werden, daß das vorliegende Buch von Peter Kühnst nicht nur reich mit ausgezeichneten Abbildungen gefüllt und zudem vorzüglich gestaltet ist, sondern zeugt es auch von der mühseligen und fleißigen Sammlertätigkeit des Autors. Es ist darüber hinaus auch - mit vielen Vorbehalten aus der Sicht des Wissenschaftlers - durchaus zum Nachschlagen geeignet, und die
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Abbildungen wie auch so manche Texte können dem Leser Ver-gnügen bereiten, einem jeden nach seiner Weise.
Eine wirkliche Kulturgeschichte des Sports im Spiegel der Kunst steht noch aus. Peter Kühnst soll das Verdienst nicht geschmälert werden, einen Beitrag dazu gewagt zu haben. Prüft man ihn aller-dings auf seinen Erkenntnisgewinn für die Sporthistorik, so hält er sich in Grenzen.
Sport - Eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst, Verlag der Kunst Dresden 1996, 427 S.
Günter Witt
Sportgeschichte in Zahlen
Wer kennt heute noch die Namen der Pioniere unseres modernen Sports,ihre Leistungen und Rekorde? Wo kann man sie finden, oh-ne das Schicksal eines gewissen Sisyphos zu erleiden? Detaillierte sportartenübergreifende Ergebnislisten liegen für die Olympischen Spiele der Neuzeit vor, z.B. erschienen im Sportverlag Berlin. Inso-fern bietet der betreffende Abschnitt der vorliegenden Scherer-schen Chronik (Karl Adolf Scherer, Sportgeschichte in Zahlen), au-ßer einer Reduzierung auf die Medaillenränge, nichts Neues. Eine annähernd zuverlässige Sportstatistik über Welt- und Kontinental-meisterschaften, die Sportartengrenzen überschreitet, wird man hingegen vergeblich suchen und man ist zunächst geneigt,jeden Vorstoß in diese empfindliche Lücke zu begrüßen.
Der im Geleitwort der Chronik-Redaktion selbst gestellte Anspruch, „es ging nicht um Zahlenspielerei, sondern darum, die Leistungen der Sportgeschichte so umfassend, aussagekräftig und sinnvoll wie möglich zu dokumentieren", ermuntert zu prüfen, ob das Werk auch hält, was das Geleit verspricht.
Die „Rekorde der Sportgeschichte" erfassen 58 Sportarten mit ei-genständigen internationalen Meisterschaften und Wettkämpfen. Vergeblich sucht man allerdings die beliebte Sportart Kegeln (As-phalt- oder Kunststoffbahn), oder Rugby, Motorbootsport und Mo-torradgeländesport.
Breiten Raum, nämlich 56 Prozent der Seitenzahl, erhalten die 6 Sportarten Leichtathletik, Gewichtheben, Schwimmen, Boxen, Rin-gen und Radsport. Auch Skisport, Eisschnellauf, Tennis und Ka-nurennsport liegen noch gut im Rennen. Der Rest der Seitenzahl,
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es bleiben noch 30 Prozent, muß für die übrigen 46 Sportarten ge-nügen. Dafür werden nur die Vertreter individueller Sportarten und in Ausnahmefällen Sportpaare namentlich genannt. Mannschaften bleiben anonym. Im Rudern ist sogar der Frauen-Einer namenlos geblieben. Lag es in der Absicht des Verfassers, bestimmte (kom-merzielle?) Interessen gut und andere weniger gut zu bedienen?
Die Ländertabellen der Spielsportarten ausgenommen, könnte man von einem „Buch der Sieger" sprechen. Einerseits, weil 2. und 3. Plätze bei Welt- und Europameisterschaften nicht ausgewiesen sind, und andererseits, weil als Deutsche Meister der Jahre 1950 - 1990 ausschließlich Sportler der BRD in ihren damaligen Grenzen geführt werden. Sind die Leistungen der DDR-Meister einer statis-tischen Anerkennung nicht wert, weil ihr Land nicht zu den Siegern der Geschichte gehört?
Ein ähnliches Schicksal ist der Friedensfahrt beschieden, deren 50-jährige Geschichte offensichtlich nicht erwähnenswert ist. Obwohl im Radsport über Jahrzehnte eine deutliche Trennung zwischen Amateur- und Profisport bestand, findet man in dieser Chronik au-ßer den internationalen und nationalen Meisterschaften nur 10 Profi-rundfahrten bzw.-Rennen, aber keine Amateurrundfahrt: Ungeliebte Sportgeschichte statistisch abgeblendet? Der Autor fühlt sich offen-sichtlich sehr betont dem Profisport und seiner Geschichte verpflich-tet. Warum sollte man sonst die chaotischen Verhältnisse des Profi-boxens mit 4 konkurrierenden „Welt"-Organisationen, unterschied-lichen Gewichtsklassen und insgesamt 68 Weltmeistertiteln auf 25 Sei-ten akribisch auflisten? Oder warum werden Radball und Kunstfahren komplett dem Profiradsport zugeordnet, obwohl über Generationen hinweg die aufgeführten Sportler mehrheitlich Amateure waren? Unter den Ergebnissen von Atlanta (S. 659) fehlt Frauen-Hockey, um nur zwei Beispiele zu nennen. So sehr man sich auch einen sportstatisti-schen Lückenschluß gewünscht hätte - mit dieser Chronik werden lei-der nur bevorzugte Pfeiler befestigt. Die Lücke wird uns um so deutli-cher bewußt.
Karl Adolf Scherer; Sportgeschichte in Zahlen; Chronik Verlag Güters-loh/München 1997; 751 Seiten, 49,90 DM
Helmut Horatschke
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Sächsiche Bergsteiger-Geschichte
Verblüffend, was die Autoren des Heftes „Aus der Sächsischen Bergsteigergeschichte“ auf 36 Seiten untergebracht haben: 10 Ka-pitel, eins so solide wie das andere. Darunter die 1409 beginnende Chronik des Falkensteins und die Liste der All-Gipfel-Besteiger der Sächsischen Schweiz. Die kleine Broschüre wird man vergeblich in den Schaufenstern suchen, aber gewiß in vielen fundierten Biblio-theken finden.
„Aus der sächsischen Bergsteiger Geschichte“ , Herausg. von der Interes-sengemeinschaft Sächsische Bergsteigergeschichte; Dresden 1995.
Klaus Huhn
Vom Nudeltopp zur Ufo-Halle
Der Titel versprach reizvolle Lektüre, aber wer sich durch die 65 Sei-ten mühte, stand am Ende vor der Frage, was die Edition Luisenstadt wohl bewogen haben mochte, dieses Büchlein derart ungeordnet her-auszubringen. „120 Jahre Radsportstätten in Berlin - Historisches und Kurioses“ wurden im Untertitel angekündigt, aber die Autoren erwähn-ten die Amateur-Sechstagerennen in der legendären Werner-Seelenbinder-Halle weder als historisch noch als kurios. Hier wurde die große Chance vergeben, wenigstens einen kleinen sachlichen Ab-riß Gesamtberliner Radsportgeschichte zu präsentieren.
Wolfgang Helfritsch, Heinz Boehm, Achim Mahling; „Vom ‘Nudeltopp’ zur ‘Ufo-Halle’“; Berlin 1997.
Klaus Huhn
Thüringer Sportgeschichte
In der Reihe "THÜRINGEN gestem & heute" der Landeszentrale für politische Bildung, 99092 Erfurt, Bergstraße 4, erschien Anfang 1997 die "Thüringer Sportgeschichte" der Autoren Willi Schröder (Kapitel 1 und 2), Jörg Lölke (Kapitel 3 bis 6) und Manfred Thieß (Kapitel 7 bis 9) mit Anlagen (Manfred Thieß, Jörg Lölke). Auf rund 220 Seiten unternehmen die Autoren - legitimiert als langjährig täti-ge Experten in Lehre und Wissenschaft der Körperkultur - einen chronologisch gegliederten Exkurs von den germanischen Ur-sprüngen der Leibesübungen bis ins Jahr 1996, als "150 Jahre or-ganisierter Vereinssport in Thüringen" gefeiert wurden. Daß wir
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dieses Werk als die Sportgeschichte bezeichnen, ist begründet in dem von den Autoren formulierten Anspruch, „die Thüringer Sport-geschichte umfassender, komplexer und gleichzeitig präziser als bisher darzustellen". Während die ersten beiden Attribute als ge-lungen akzeptiert werden können, müssen beim letzten Abstriche gemacht werden.
Daß als (nicht gerade attraktives) Titelfoto ein Motiv vom Eis-schnellauf gewählt wurde, spricht nicht gerade von sporthistori-schem Feingefühl in der Gestaltung. Wenn auch diese Sportart zu den wenigen (wie Biathlon) international erfolgreichen dieser Tage in Thüringen zählt, so gibt es doch viele traditionsreichere in die-sem nunmehrigen Freistaat. Vom Turnen, dem die Autoren richtig-erweise den größten Platz einräumen, ganz zu schweigen. Weit über die Landesgrenzen hinaus und sogar international erfolgreich waren nach 1945 Thüringer Geräteturner wie Fritz Limburg (Ruhla), Albin Lätzer (Greiz), Egon Gipser (Greiz), Fritz Böhm (Lauscha). Die letzten beiden Namen fehlen völlig in dieser Chro-nik wie so mancher andere, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Ihre Absichten formulieren die Autoren im Vorwort mit „...wollen wir beim Leser Stolz auf die Leistungen der Vergangenheit we-cken und gleichzeitig Mut und kritisches Denken zur Lösung ge-genwärtiger und künftiger Aufgaben bei der Ausgestaltung des Thüringer Sports entwickeln helfen. In diesem Sinne widmen wir diese Schrift den vielen ehrenamtlich Tätigen, die für den Sport tagtäglich viel Zeit, Engagement und Fachkompetenz einbringen."
Für diese also und den großen Kreis sportbegeisterter und -interessierter Menschen liegt hier ein faktenreiches Werk vor, das man immer mal wieder zur Hand nehmen kann. Thüringens Sport hat kräftige und tiefgehende Wurzeln, wenn seine Kommunen in der Vergangenheit auch nicht den Glanz großstädtischer Triumphe er-reichten. Gerade die Kapitel über die Geschichte körperlicher Übun-gen enthalten zahlreiche interessante Fakten.
Von Thüringen aus gingen viele Impulse in die Welt des Sports. In Jena begründete die berühmte Dynastie der Kreußler im 16./17. Jahrhundert das deutsche Fechten. Das Allgemeine Deutsche Turn- und Jugendfest im Juni 1860 in Coburg mit 1000 Teilneh-mern aus allen deutschen Landen war faktisch die Geburt der Deutschen Turnerschaft, die sich am 21. Juli 1868 in Weimar kon-
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stituierte. Und noch einmal erlebte das Thüringen jener Jahre eine Premiere, als am 11. Juli 1861 in Gotha das 1. Deutsche Schützen-fest stattfand, dem die Gründung des Deutschen Schützenbundes folgte. Wenn auch in Thüringen manches langsamer reifte als an-derswo, in diesen Beispielen war es der Primus, wie in dieser Chronik anschaulich dargestellt wird.
In verdienter Ausführlichkeit wird das Wirken von Johann Christoph Friedrich GutsMuths in Schnepfenthal und des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn in Thüringen allgemein und in Jena besonders gewür-digt. GutsMuths fand dank liberaler Duodezfürsten der ernestini-schen Sachsen-Dynastie im Thüringischen fruchtbaren Boden für sein Wirken; Schnepfenthal errang mit ihm weltsporthistorischen Rang - im Auslande fand er um die Wende des 18./19. Jahrhunderts mehr Jünger als in Deutschland. Seine „Gymnastik für die Jugend" wurde zur Bibel der Körperkultur, von Willi Schröder in seinen Chro-nik-Teilen (1 und 2) ausführlich gewürdigt wie jene gesamte Epoche. Daß sich GutsMuths schon 1795 zwei Schneeschuhe anfertigen ließ - den einen (längeren) aus Kiefer, den anderen aus Birke - vermerkt der Autor allerdings nicht. GutsMuths lief im Thüringer Wald Ski! Und wurde damit zum deutschen Pionier des Schneeschuhsports, für den er in seiner "Gymnastik" Anleitungen gab. Leider blieben sie oh-ne Resonanz, so daß dieses Kapitel in späteren Auflagen weggelas-sen wurde. Nun also fehlt es auch in der Thüringer Sportgeschichte. In dieser!
Mit Friedrich Ludwig Jahn gewann Jena außerordentlich an Bedeu-tung und wuchs unter seinen Schülern Dürre und Maßmann, die zu Fuß aus Berlin gekommen waren, zum Zentrum des Turnens in Deutschland.
In klarer Gliederung werden Sportarten und ihre Entwicklung in den jeweiligen Zeitabschnitten und Kapiteln geschildert. Die Anschau-lichkeit wird dabei immer wieder von Statistiken und Zahlen doku-mentiert, so daß sowohl der zügige Aufstieg des Turnens und der Körperübungen wie auch die Zunahme der sportlichen Fascetten anschaulich wird. Fügen wir hier den Hinweis hinzu (denn in der "Sportgeschichte" fehlt er), daß die Französische Revolution grund-legend auch für die Leibesübungen feudale Fesseln beseitigte und die Voraussetzungen für eine stürmische Entwicklung schuf. Erst mit der (bürgerlichen) Freiheit entstand schließlich jene Freizeit für den Sport.
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Wenn auch verständlicherweise in unterschiedlichem Umfang, so finden sich in dieser Schrift die einzelnen Thüringer Regionen mit ih-ren Beiträgen zur Sportgeschichte wieder. Daß nun mal Zentren wie Jena und Erfurt ungleich umfangreicher vertreten sind als die Peri-pherie wie das Gebiet "hinterm Wald", erklärt sich aus Umfang, Be-deutung und Vielfalt des Sportes in diesen Städten und liegt sicher-lich nicht an der Wirkungsstätte der Autoren. Dennoch ist ihnen zu-zustimmen, wenn sie einleitend formulieren: "Wir sind uns jedoch bewußt, daß in den Thüringer und auch in außerthüringischen Staatsarchiven, Bibliotheken und in Privatbesitz weiteres Material seiner Erschließung harrt. Wir bauen nicht zuletzt auf unsere Verein-schronisten, die bereits mit zahlreichen gelungenen Festschriften ei-nen unabschätzbaren Beitrag zur Aufarbeitung der Thüringer Sport-geschichte geleistet haben." Wenn damit die Absicht der Autoren bekundet wird, diesen Fundus in einer weiteren Auflage der „Thürin-ger Sportgeschichte“ zu erschließen, darf man Lölke, Schröder und Thieß nur dazu ermuntern.
Mit besonderer Aufmerksamkeit hat der Rezensent die Kapitel 7 (Die Neuorientierung des Sports nach dem Zweiten Weltkrieg in Thürin-gen), 8 (Sport in den thüringischen Bezirken als Bestandteil des DDR-Sports) und 9 (Die Gründung des Landessportbundes Thürin-gen e. V. und die Entwicklung des selbstverwalteten und öffentlichen Sports seit 1990 in Thüringen) gelesen. Jene Zeitabschnitte, in dem eine neue Tradition begründet wurde, die mit vielen Mühen (interieur) und gegen große Widerstände (exterieur) neue sportliche Helden und Vorbilder hervorbrachte und sie schließlich wieder stürzte und aus-löschte, so weit sie sich nicht als manipulierbar genug erwiesen.
Im Gegensatz zu den Autoren mancher Nachwende-Vereinschronik hat Manfred Thieß diese Zeitabschnitte mit sportlicher Haltung, wis-senschaftlicher Gründlichkeit und ritterlichem Geist durchmessen. Hier wird fair und objektiv geschildert und beurteilt, so weit es nötig war. Vor allem dafür ist Dank zu sagen in einer Zeit, in der vielerorts wild „aufgearbeitet" wird. Diese Feststellung wird auch nicht in Frage gestellt durch Formulierungen wie, "daß die neugegründete DDR mit gesetzgeberischen Mitteln den Sport sofort in ihre politische Struktur integrierte und in ihrem Sinne vereinnahmte". Es sei höchstens be-merkt, daß es für den Sport und seine Vereine jetzt außerordentlich segensreich wäre, würde er durch Bundestag und Bundesregierung zur Staatsangelegenheit gemacht; vereinnahmt wird er genug.
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Daß schon im Sommer 1945 ein Fußballspiel stattfand (Schmalkal-den- Näherstille), ist der Sportbegeisterung eines örtlichen sowjeti-schen Kommandanten zu danken.Deren gab es auch in Thüringen etliche. Manfred Thieß konzentriert sich in seiner Darstellung auf die politischen und administrativen Abläufe und Anordnungen von Be-satzungsmacht, Kommunalorganen und Organisationen, macht Zu-sammenhänge und Bedingungen klar.
Dennoch wünschte sich der Autor etwas mehr an "Fleisch" aus je-nen fleischarmen Jahren, mehr lebendige Geschichte. Schon 1947 wurden Heinz Stephan, Willi Engelmann (beide Jena) und Siegfrie-de Weber-Dempe (Weimar) Berliner Leichtathletik-Meister. Wie Heinz Birkemeyer (Erfurt), Rolf Herbst, Erika Junghans (beide Jena), Hilde Peters (Apolda) und die Staffelfrauen der SG Abbé Jena im Jahr darauf Ostzonenmeister in der gleichen Sportart. Ihre Namen gehören in eine Sportgeschichte von Thüringen wie auch der der le-gendären Gisela Köhler oder der Ringer Herbert und Helmut Alb-recht, Schedler, Hoffmann, Becker, Lohr und Fleischhauer. Und wo blieb der Hinweis auf den Menterodaer Matadoren Hans Grodotzki? Landesweit und international bekannt waren auch die Meisterakro-baten aus Suhl, die Fechter aus Zella-Mehlis mit vielen DDR-Titeln, die Sportangler aus Gera und Meiningen, die Faustballer aus Bach-feld, die Billardkünstler aus Suhl und Erfurt. Aber auch die Erfurter Radsportler Gebr. Stoltze, Zieger, Scherner (nicht Schurner) und die Boxer aus der Blumenstadt. Die Reihe ließe sich fortsetzen.Daß die Ostzonenmeisterschaften im Wintersport nicht 1948, sondern ein Jahr später in Oberhof stattfanden, sei angemerkt wie auch die Tat-sache, daß Turbine Erfurt 1952 nicht DDR-Fußballmeister wurde. Es gibt eine schwungvolle Darstellung von Johann Wolfgang von Goe-the als Eisläufer. Insofern hat diese Sportart also auch in Thüringen eine stattliche Tradition, die durchaus titelbildwürdig ist. Vielleicht mit einer würdigeren Aufnahme. Ergo: Die „Thüringer Sportge-schichte" sei der geflissentlichen Aufmerksamkeit empfohlen, eine erweiterte Neuauflage ist erwünscht.
Jörg Lölke, Willi Schröder, Manfred Thieß; Thüringer Sportgeschichte; Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 1996; 223 Seiten
Roland Sänger
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GOLDKINDER
Der Leipziger Forum-Verlag befleißigt sich, DDR-Geschichte „auf-zuarbeiten“. Einem Band „DDR-Witze“ folgte jetzt eine Analyse des DDR-Sports von Grit Hartmann. Witze lassen sich frisieren, sportli-che Realität kaum. Mit „Goldkinder“ wird das Gegenteil versucht. Das Buch präsentiert eine streckenweise atemberaubende Collage von Halbwahrheiten, bei deren Klebarbeiten die Herren des Pots-damer Instituts für Sport-Zeitgeschichte der Autorin emsig zur Hand gingen und nebenbei auch noch längst gehaltene Vorträge publizierten, ohne deren Ursprung wenigstens kundzutun.
Bei dieser streckenweise durchaus cleveren Collage nimmt man es mit den Klebstücken allerdings nicht immer sehr genau. Drei Beispiele von hunderten:
Die unter den Verweisen 62 und 67 (Kapitel 2/S.50,51) angeführten Texte sind nie in „Theorie und Praxis der Körperkultur “ erschienen.
Der Coup, mit dem der Sieger der Segel-Ausscheidungen Bernd Dehmel in Tokio 1964 um seine olympische Startchance gebracht wurde, liest sich so: „Die Westfunktionäre... hieven sein Boot, des-sen Maße sie reklamieren, mit einem Kran aus dem Wasser.“ (S. 54) In der Finn-Dinghi-Klasse stellen bekanntlich die Veranstalter die Boote...
„So heißt es in der über 200 Seiten starken Broschur ‘München ‘72 - Schicksalsspiele’:...“(S.73) Wer nachblättert kommt allenfalls auf 106 Seiten und deren letzte ist noch unbedruckt.
Die Absicht des Buches wird schon früh transparent: „Nachgewie-sen“ werden soll, daß die DDR dank unseriöser und krimineller Me-thoden an die Spitze des Weltsports gelangte und Athleten mit al-len Mitteln dazu trieb, Medaillen zu erkämpfen, mit denen sonst versagtes weltweites politisches Ansehen erzwungen werden soll-te.
Bei dem Versuch, auch noch Stars des DDR-Sports als Kronzeu-gen für diese These aufzurufen, nahm die Autorin Zitate in Kauf, die der Collage nicht eben Glanz verliehen.
Roland Matthes: „Was mich stört ist, daß man es sich so einfach macht und sagt, der Leistungssport war führend, weil gedopt wur-de. Das ist Schwarz-Weiß-Malerei. Damit erspart man sich die Mü-he genauer hinzusehen... Deshalb ist es Schwachsinn, zu sagen,
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die Leitungssportler wären Marionetten des sogenannten SED-Regimes.“
Wolfgang Behrendt: „Ich habe in der DDR drei Berufe erlernen können, habe nie Not gelitten, auch meine Familie nicht. Das war ja nicht wenig.“
Zugegeben: Die Interviews sind - einschließlich ihrer sehr kriti-schen Passagen - höchst lesenswert, aber es sind eben nur 58 von 328 Seiten...
Grit Hartmann; Goldkinder, Die DDR im Spiegel des Spitzensports; Leipzig 1997; 39,80 DM
Klaus Huhn
Die Brücke – Sonderausgabe einer Schulzeitung
Eine Brücke ist weit mehr als nur ein Mittel zur Überwindung land-schaftsbedingter oder verkehrstechnischer Hindernisse. Obliegt es ihr doch, Menschen zu vereinen, die zusammengehören oder das zumindest glauben, alte Gemeinsamkeiten zu bekräftigen und neue zu befördern, ungewohnte Verbindungen zwischen Men-schen einst einander entgegengesetzter Ufer zu knüpfen. Insofern ist eine Brücke etwas völlig anderes als eine Mauer, wenn nicht gar das glatte Gegenstück dazu.
Die "Macher" der Schulzeitung der damaligen KJS Bad Blanken-burg haben sich sicher etwas dabei gedacht, als sie sich in der Gründungsetappe der Sportschule im Herbst 1954 für diesen ver-pflichtenden Namen entschieden. Auf 47 Ausgaben brachte es die Bad Blankenburger "Brücke“ bis zum Dezember 67, dann fiel sie dem eskalierenden top-secret-Status des DDR-Leistungssports und der in ihn eingebundenen Kinder- und Jugendsportschulen zum Opfer. Ähnlich erging es anderen KJS-Editionen wie der KJS-Öffentlichkeitsarbeit überhaupt.
Aber all das ist Geschichte. Die Kinder- und Jugendsportschulen in den Farben der DDR verschwanden von der Bildfläche oder mu-tierten zu bundesdeutschen Sportgymnasien, und für eine ausge-wogene Bewertung der abgerüsteten "Geheimwaffe des DDR-Leistungssports" ist die Zeit offensichtlich noch immer nicht reif.
Umso begrüßenswerter ist eine Neuauflage der „Brücke“ mit dem erfrischenden Titel "Sonderausgabe der Schulzeitung der ehemali-gen KJS Bad Blankenburg/Jena und des heutigen Sportgymnasi-
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ums Jena Johann Chr. Fr. GutsMuths zu ihrem 40. Geburtstag". Da ist es doch Ende April 1995 tatsächlich gelungen, Alt-Aktive der KJS-Gründerjahre und Profilgeber eines Sportgymnasiums gegen-wärtiger Prägung zur gemeinsamen Würdigung einer 40jährigen Jubilarin und zurück- und vorausschauenden Begegnungstagen zusammenzuführen!
Schüler, Sportler, Lehrer und Sportpädagogen von einst und jetzt vereinten sich zu einem „Weißt du noch?" oder „Was ist eigentlich aus der X oder dem Y geworden?" sowie zu informativen Gesprä-chen über die Geschichte, die gegenwärtige Situation und die künf-tigen Vorhaben eines traditionsreichen Thüringer Sportgymnasi-ums.
Allein das Erscheinen des in einer Sondernummer veröffentlichten Berichts über ein in Nachwendezeiten leider höchst ungewöhnli-chen Treffens verdiente eine positive Bewertung. Was die Ausgabe darüber hinaus bemerkens- und auch für Nichtkenner der alten und neuen Bildungseinrichtung lesenswert macht, sind die persönliche Identifikation der „Ehemaligen" mit ihrer erlebten und mitgestalteten Schulhistorie und die ohne Besserwisserei versicherte Würdigung deren Engagements durch die Akteure von heute.
Last not least: Das Bändchen belegt am Beispiel einer Sportschule, daß sich die KJS nicht der Produktion von Sportrobotern widmeten, sondern der Lebensvorbereitung gebildeter und kulturvoller junger Menschen. Es fordert den Leser dazu auf, auch oder gerade unter gegenwärtigen Bedingungen Zusammenarbeit, Vernunft und Tole-ranz zu bewahren und zu praktizieren. Empfehlung:Nachlesen und nachmachen.
Die Brücke. Sonderausgabe der Schulzeitung der KJS Bad Blanken-burg/Jena und des heutigen Gymnasiums Jena;
Wolfgang Helfritsch
Nurmi oder die Reise zu den Forellen
Erinnerungen an den großen finnischen Langstreckenläufer Nurmi durchlaufen als roter Faden die Erzählung "Nurmi oder die Reise zu den Forellen“.Teile seiner Lebensgeschichte werden vermittelt! Und dann gibt es noch Lektionen im Fliegenfischen auf Forellen durch ei-nen Onkel,der im Familienkreis den Spitznamen Nurmi trägt. Dieser hat seinen Neffen - hier etwa 16 Jahre alt, später dann Notar - zu ei-
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ner Autofahrt durch Finnland eingeladen. Der Neffe ist der Erzähler,er erklärt, warum man den Onkel Nurmi genannt hat: Er war in seiner Jugend Langstreckenläufer und hat Rennen gegen Nurmi gelaufen und mit vielen anderen Konkurrenten verloren.Das erste Ziel ihrer Reise sollte Turku, die Heimat Nurmis sein. Aus dessen Lebensge-schichte werden außer seinen läuferischen Erfolgen die letzten, von Krankheit gekennzeichneten Jahre erinnert. Zurück in Deutschland fand der Onkel eine Zeitungsmeldung vom Tode Nurmis. Darin hieß es: „...auf die Frage eines Reporters, welchen Sinn sein Leben gehabt habe",soll er geantwortet haben: "Gar keinen. Ich war ein idiotischer Nichtstuer. Sport ist Humbug, Medaillen sind nichts wert, Olympia ist ein Zirkus für Dreißigjährige."(Zwanzigjährige!)
Der Onkel hat geweint, berichtet der Neffe. Dieser charakterisiert ihn als ein Unikum: Junggeselle, Arzt, Universitätsprofessor, Ehrendoktor der Universität Helsinki. Seinem Neffen flunkert er vor, diese Aus-zeichnung erhalten zu haben, weil er eine Laufwissenschaft, er spricht von einer Currologie, erfunden habe. "Laufen. Laufen,das sei immer sein Leben gewesen... Seit seinem Studium habe er sich mehr und mehr in die Philosophie des Laufens vertieft und über die Zusammen-hänge von Laufen und Denken nachgedacht? Über weite Strecken der Reise werden Gespräche über den Dauerlauf geführt,sie enden schließlich in einer aus eigener Erfahrung gewonnenen Erkennt-nis:"Das Laufen sei zur esoterischen Privatreligion von Bürohengsten und Akademikern geworden.“ Der Neffe spürt, daß der Onkel ein Ge-heimnis mit sich herumträgt, er vermutet, daß es mit einer Liebschaft zusammenhängt. Er kann es nicht lüften, der Onkel nimmt es mit in den Tod. Erst späterhin, als Notar, erfährt er aus Akten,daß sein On-kel in Dresden ein Verhältnis mit einer Frau namens Köhler hatte, die ihn sitzen ließ und den SS-Sturmbannführer Koch heiratete. Sie ist als "Bestie und Hexe von Buchenwald" unrühmlich in die Geschichte ein-gegangen. Die Darstellung ihres Schicksals nach 1945 bildet den ent-behrlichen Abschluss dieser Erzählung. Die Reise ist zu einer Irrfahrt geworden und endete am nördlichen Polarkreis in den Armen der Po-lizei. Der Neffe fand im übrigen die Fahrt - immer nur "Birken, Felsen, Wasser, Sumpf" - stinklangweilig.
Gerhard Köpf: Nurmi oder Die Reise zu den Forellen. Eine Erzählung. Mün-chen(Luchterhand)1996.184 S.
Kurt Grashoff
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Die Anfänge des Turnens in Friedland
Eine Sonderausstellung mit sporthistorischem Inhalt wurde am 7. März 1997 in der Aula des "Neuen Friedländer Gymnasiums" eröff-net. Dr. Dietrich GRÜNWALD (Neubrandenburg), Autor dieser Ausstellung, machte die Anwesenden mit dem Anliegen und dem Inhalt dieser kleinen Exposition bekannt. Sie ist das Ergebnis jahre-langer Forschungen zur Entwicklung des Turnens in Mecklenburg-Strelitz und stimmte alle Interessenten gleichermaßen auf die Mo-nographie ein, die in Kürze erscheinen wird. In sachlicher und zeit-licher Ordnung beschäftigt sich die Ausstellung in mehreren Abtei-lungen mit dem Anteil Friedlands und seines Turnplatzes von 1814/15 an der Entwicklung des Turnens in Deutschland. Aus-gangspunkt sind die praktischen und theoretischen Arbeiten von „Turnvater" F. L. Jahn, der nach seinen Erfolgen mit dem Turnplatz in der Hasenheide bei Berlin nach 1811 eine besondere Unterstüt-zung den Friedländern angedeihen ließ. Dabei spielten auch fami-liäre Verbindungen - 1814 heiratete er Helene Kollhof aus Neu-brandenburg - eine nicht unwesentliche Rolle. Initiator des Turnens in Friedland war der Konrektor der Friedländer Gelehrtenschule, Christian Carl Ehregott LEUSCHNER. 1814 begann er mit regel-mäßigen Turnübungen auf dem ersten, ein Jahr später auf dem zweiten Turnplatz an der Schwanebecker Chaussee. JAHN hatte in den Folgejahren nachweislich mindestens dreimal den Turnplatz besucht, er selbst oder von ihm entsandte Vorturner gaben Rat-schläge und Hinweise zur weiteren Ausgestaltung des Turnplatzes oder zu den Inhalten und Formen des praktischen Turnbetriebs.
Von überregionaler turn- und sporthistorischer Bedeutung ist ohne Zweifel das „Jahrbuch des Turnplatzes zu Friedland". Es wurde von LEUSCHNER im Jahre 1814 angelegt und vermittelt uns heute viele interessante Details über die Anfänge des Turnens in der mecklenburgischen Kleinstadt Friedland. Aus den Angaben dieses Jahrbuches ließen sich weitere Teile der Ausstellung rekonstruie-ren, so z.B. können Aussagen über die Ausstrahlung des Friedlän-der Turnens hinein nach Mecklenburg oder nach Pommern getrof-fen werden. Nach detaillierten Beschreibungen stellte eine Schü-lerarbeitsgemeinschaft ein maßstabgerechtes Modell des Friedlän-der Turnplatzes her.
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Die Traditionen des Turnens werden in Friedland seit über 180 Jahren wachgehalten. Seit 1990 heißt die überaus rührige und er-folgreiche Sportgemeinschaft, zu DDR-Zeiten die BSG Traktor, wieder TSV Friedland 1814 e.V. Damit darf sich Friedland mit Recht zu den ältesten Orten in Deutschland zählen, in denen das Turnen beheimatet ist.
Den Anlaß der Eröffnung der Ausstellung nutzte die Arbeitsge-meinschaft "Turn- und Sportgeschichte in Mecklenburg-Vorpommern" beim Präsidium des Landessportbundes M-V, um ih-re erste Tagung in diesem Jahr durchzuführen. Der folgende Tag brachte dann noch interessante Begegnungen mit der älteren und jüngeren Turn- und Sportgeschichte in Friedland. Wolfgang BARTHEL, langjähriger Initiator und Motor des Turnens und des Sports in Friedland, Direktor des Friedländer Gymnasiums, der am Tag zuvor in die Arbeitsgruppe aufgenommen wurde, führte zu ei-nigen bekannten und unbekannten Stätten sporthistorischer Tradi-tionspflege in Friedland, so in das Traditionszimmer des TSV Fried-land 1814 e.V., zum Gedenkstein auf dem neuen Sportplatz, der an den Begründer des Friedländer Turnens, Chr. C. E. LEUSCHNER, erinnert, sowie an das Grab von Heinrich RIEMANN, Sprecher der Burschenschaften auf dem Wartburgfest von 1817. Ein Höhepunkt war die Besichtigung des historischen Turnplatzes von 1815, der heute noch in seinen Grenzen gut zu erkennen ist. Beeindruckend die drei Eichen, die bei der Anlage des Turnplatzes zur Kennzeichnung des Tie, des Versammlungs-platzes, gepflanzt worden waren.
Zusammengefaßt: das Wochenende in Friedland war für alle ein Gewinn bei der weiteren Erkundung, Aufarbeitung und Publizierung der Turn- und Sportgeschichte in Mecklenburg-Vorpommern.
Volleyball in Deutschland
Die Freunde des Volleyballspiels konnten 1995 gleich zwei Jubilä-en feiern. Zum einen wurde vor 100 Jahren, am 7. Juli 1895, zum ersten Male in der Welt ein öffentliches Volleyballspiel - damals noch Mintonette genannt - ausgetragen, und zwar auf Initiative von W.G. Morgan in Springfield/USA. Zum anderen erinnerte man sich des 40. Gründungstages des Deutschen Volleyball-Verbandes (DVV), der am 5. Mai 1955 in Kassel aus der Taufe gehoben wor-
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den war. Das diesen Anlässen gewidmete 261 Seiten starke Buch „Volleyball in Deutschland. Geschichte und Geschichten“ bezieht sich nicht zufällig auf das erste Jubiläum und stellt die Frage in den Mittelpunkt, „welchen Beitrag der deutsche Volleyball für den Auf-stieg zu einer Weltsportart geleistet hat" (S. 5) und wie dieser Weg in den beiden deutschen Staaten gepflastert war. Im Vorwort be-tont der Hauptautor Dr. Klaus Helbig (Freital), langjähriger Ver-bandsfunktionär im DSVB der DDR und Vizepräsident des DVV, die Notwendigkeit, zu historisieren und differenzieren: „Die Darstel-lung der deutschen Volleyballentwicktung in einer komplizierten historischen Periode darf zu den gegenwärtigen sportpolitischen Erfolgen oder Niederlagen nicht paßfähig gemacht werden." (S. 5) Diesem Anspruch wird die Publikation, an der Funktionäre und Trainer aus Ost und West mitarbeiteten, gerecht.
Nachdem im Kapitel 1 die Wurzeln und Anfänge des Volleyball-spiels behandelt werden, widmet sich Kapitel 2 dem schweren Weg des Volleyballspiels in Deutschland aus dem Schatten anderer Sportarten. Dabei wird dokumentiert, daß die Geschichte des heu-tigen Deutschen Volleyball-Verbandes in der DDR begann, wo das „Spiel der Freunde“ zuerst Popularität erlangte. Die am 8. Februar 1951 in Leipzig gegründete „Sektion Volleyball der DDR im Deut-schen Sportausschuß", der spätere „Deutsche Sportverband für Volleyball", wurde am 21. September 1951 in Paris in den 1947 gegründeten Internationalen Verband, die FIVB aufgenommen. Im Unterschied zu den meisten anderen Sportarten ging der entspre-chende Antrag ohne Probleme durch - ein anderer deutscher Vol-leyballverband existierte noch gar nicht. Im gleichen Jahr fanden in der DDR die ersten Deutschen Meisterschaften statt, und 1952 kam es zur Einführung eines organisierten Punktspielbetriebes. Zu dieser Zeit steckte das Volleyballspiel in der BRD noch in den An-fängen. Von Interesse ist auch die Tatsache, daß die Aufnahme des DVV in den Weltverband 1956 mit Unterstützung des DDR-Verbandes erfolgte und der Anerkennung durch den DSB (1960) vorausging.
In den folgenden Kapiteln entsteht ein ausgewogenes Bild von der Entwicklung des Volleyballsports in der DDR und der BRD (Kap. 2-6), wobei immer wieder Phasen der Kooperation und Gemeinsam-keit, z.B. zu Beginn der 50er Jahre oder beim Auftreten als ge-meinsame Delegation mit getrennten Mannschaften bei der WM
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1956 in Paris, eine besondere Aufmerksamkeit gilt. In der DDR entwickelt sich das Volleyballspiel zu einer sehr beliebten Breiten- und Volkssportart, in der auch bald international beachtete Leis-tungen erzielt werden. (Vgl. Kap. 4.2. ans Netz - Symbol der Ent-wicklung des DSVB) In den 70er Jahren erreichten die Männer ihre größten Erfolge (Weltmeister 1970, EM-Vierter 1971, Silbermedail-lengewinner bei den Olympischen Spielen 1972, WM-Vierter 1974), um bald darauf im Schatten der Frauenauswahl zu stehen (Olym-piazweiter 1980, Europameister 1983 und 1987). Solche Höhe-punkte in der Geschichte des Volleyballsports in Deutschland las-sen die Autoren noch einmal Revue passieren.
Im Kapitel 7 wird die Vereinigung der beiden deutschen Volleyball-verbände im Jahre 1990 nachvollzogen, ein Vorgang, der die Ver-treter des DSVB zwischen „Nostalgie, Wehmut und neuem Auf-bruch“ (S. 154) sah. Als historisch älterer und eindeutig leistungs-stärkerer Teil mußte man sich den Strukturen des DVV anpassen und zusehen, wie der größere Teil der Leistungsträger ins Ausland oder in die finanzkräftigen Vereine der Altbundesländer abwander-te.
Kapitel 8 betrachtet die Entwicklung des Volleyballspiels als Brei-ten- und Freizeitsport und die Förderung neuer Volleyball-Spielarten wie Beach-Volleyball und Mix-Volleyball sowie Volleyball als Behindertensport. Die interessante Darstellung wird abgerundet durch kurze Abhandlungen zur Geschichte der verschiedenen Landesverbände (Kap. 9) sowie Statistiken und Übersichten.
Im ausblickenden Kapitel 10 werden die gegenwärtigen Probleme und Perspektiven der Sportart Volleyball und des DVV besprochen. Die Situation im Verband, der in den letzten Jahren u.a. von gro-ßen finanziellen Problemen betroffen war, wird dabei als "Balancie-ren auf der Netzkante' gekennzeichnet (S. 231).
„Volleyball in Deutschland“ ist informativ, aufschlußreich und emp-fehlenswert, auch wenn manche Frage noch unbeantwortet bleibt.
Klaus Helbig u.a: Volleyball in Deutschland. Geschichte und Geschich-ten, Hrsg.: Stiftung Deutscher Volleyball, 1. Auflage 1995.
Jörg Lölke
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ZITATE
Botschafter unseres Landes
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl hat die Rolle des Sports in einem Beitrag für das neue "Jahrbuch des Sports" gewürdigt, das der Deutsche Sportbund herausgab. Der Text - hier Aus-züge - wurde vorab vom DSB verbreitet.
Beim Sport geht es vor allem um die Menschen - diejenigen, die aus Begeisterung Sport treiben, die ihn organisieren und fördern sowie nicht zuletzt um die vielen Millionen von Zuschauern, die „ih-ren“ Sport im Stadion oder am Fernsehschirm miterleben. Kaum ein anderer Bereich bindet und verbindet so viele Menschen wie der Sport...
...Die Vereine brauchen den Nachwuchs im Breitensport. Dieser bildet die Basis für den Spitzensport. Nur wenn genügend Talente frühzeitig erkannt und gefördert werden, kann der deutsche Sport auch in Zukunft eine Spitzenstellung in der Welt einnehmen. Ich bin dem Deutschen Sportbund dankbar, daß er zusammen mit der Bundesregierung das Förderkonzept 2000 entwickelt hat und seit den Olympischen Sommerspielen in Atlanta 1996 zügig umsetzt...
...Aus gutem Grund wenden sich die Verantwortlichen im deut-schen Sport verstärkt den sportbetonten Schulen zu, in denen das Training in die Vermittlung des normalen Lehrstoffs integriert ist. Der Wirtschaft bietet sich hier ein sinnvolles Feld für Sponsoring. Diese Chance zu nutzen ist umso wichtiger, als die Zuschüsse für den Sport in der nächsten Zukunft nicht erhöht werden können. Auch für Sportvereine und -verbände werden sparsames Haushal-ten und die Erschließung neuer Finanzierungsquellen immer grö-ßere Bedeutung erlangen. Aber trotz aller Sparzwänge bleibt die Politik gefordert. So müssen Länder und Kommunen sicherstellen, daß der Sport auch weiterhin seine wichtigen gesellschaftlichen Funktionen erfüllen kann.
Nach der in unserem Grundgesetz vorgegebenen Aufgabenvertei-lung ist die Bundesregierung ausschließlich für die Förderung des Spitzensports zuständig. Im Haushalt der Bundesregierung stehen dafür 1997 rund 360 Millionen D-Mark bereit. Dies ist sinnvoll aus-gegebenes Geld: Spitzensportler, die die Bundesrepublik Deutsch-land bei internationalen Wettkämpfen vertreten, sind Botschafter unseres Landes. Sie sind Vorbild für Kinder und Jugendliche. Ihre
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Vorbereitung auf den sportlichen Wettkampf erfordert Leistungsbe-reitschaft, Durchsetzungsvermögen und Zielstrebigkeit, nicht zu-letzt auch den Verzicht auf manche Annehmlichkeit des Lebens, die ihre Zeitgenossen ganz selbstverständlich in Anspruch neh-men. Diese Frauen und Männer stehen aber nicht nur dafür, daß Spitzenleistungen hart erarbeitet werden müssen; sie zeigen uns auch, daß wir auf diese Weise Freude und Genugtuung gewinnen können. Sie gehören zu den Leistungseliten unseres Landes, die wir so dringend brauchen und immer wieder ermutigen müssen. Die Bundesregierung wird auch in Zukunft ein verläßlicher Partner des deutschen Sports sein.
Schulsport
Vor dem „Ausverkauf"' des Schulsports hat die GEW-Sportkommission gewarnt. Nachdem im laufenden Schuljahr Bay-ern, das Saarland und Hamburg (ab dem Juli 1997) und Nieder-sachsen den Sportunterricht in den Stundentafeln gekürzt haben, hat Hamburg beschlossen, den Sportunterricht an Berufsschulen an den organisierten Sport abzugeben. Das heißt, an Hamburgs Berufsschulen soll der Sportunterricht künftig ersatzlos wegfallen. Dafür können Schülerinnen und Schüler freiwillig mit einem Scheckheftsystem kostenlos an Sportangeboten von Vereinen teil-nehmen.
Die GEW-Sportler sehen in dieser Entwicklung die Gefahr, daß sich der Staat zunehmend aus einem wichtigen Bereich des Bil-dungsauftrages zurückzieht und den Versuch unternimmt, diesen zu privatisieren.
In einer Stellungnahme weist die GEW-Sportkommission alle Ver-suche zurück, den Sportunterricht zu kürzen. Mit der Forderung nach Absicherung des gegenwärtigen Standards von Sportstunden in den Stundentafeln verbindet die GEW die Notwendigkeit, zeit-gemäße Angebote im Sportunterricht zu machen.
Erziehung und Wissenschaft, 7-8/97
Muskel-Turbo
Das Geheimnis um die neue Langsamkeit des deutschen Sprints ist gelüftet. Die offenbar falsch dosierte Einnahme des schon seit Jahren von Linford Christie und vielen anderen Sportstars (u.a. bei der italienischen Spitzen-Fußballmannschaft Juventus Turin) ver-
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wandten „Muskel-Turbo“ Kreatin wirkte vor Olympia in Atlanta als Beschleuniger und seit den Spielen als Bremse.
„Vor der Hallensaison haben wir es abgesetzt. Der Muskeltonus ging einfach nicht mehr runter“, gestand Hallen-Europameister Marc Blume nach seinem fünften 100-m-Titel bei der Leichtathletik-DM in Frankfurt/Main als „Temposünder“ in beschämenden 10,46 Sekunden. Als das Mittel vor Atlanta positiv durchschlug, hatte der Wattenscheider Rotschopf den Titel noch in 10,16 gewonnen.
DLV-Präsident Professor Helmut Digel reagierte empört auf Blu-mes Erfahrungsbericht zum Umgang mit Kreatin. „Wer solches Zeug braucht, sollte lieber mit dem Leistungssport aufhören. Ich bin für ein Verbot“, erklärte Digel und wandte sich ausdrücklich gegen die Einnahme von Medikamenten zur Leistungssteigerung, auch wenn diese nicht gegen AntiDoping-Bestimmungen verstoßen.
„Kreatin ist wirklich ein Wahnsinnszeug, bringt eine ganze Menge an Leistung. Ich würde mich nicht wundern, wenn es bald auf der Dopingliste steht, sagt Michael Möllenbeck (Magdeburg), Weltrang-listen-Dritter im Diskuswerfen, zu dem chemischen Wirkstoff, der den Energiespeicher vergrößert und dadurch kurzfristig die Mus-kelkontraktion erhöht. Die leistungsfördernde Wirkung ist nach den Worten von Professor Wilfried Kindermann wissenschaftlich doku-mentiert.
(Frankfurter Rundschau/sid; 30.6.1997)
Doping-Rachefeldzug
Astrid Kumbernuss... erhielt... Post aus dem Berliner Polizei-Präsidium. Die zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereini-gungskriminalität, ZERV 225, bat sie um Klärung zur Doping-Praxis in der DDR... Für Astrid Kumbernuss ist das Begehren der ZERV 225 ein Affront: „Ich weiß allein, an wen ich mich wenden muß, wenn ich jemanden verklagen will. Und eine Aufforderung dazu brauche ich auch nicht. Für wie unmündig halten die uns eigent-lich?“... Knackpunkt sind die Fragen 4 bis 7, in denen die Athleten (versteckt) zur Denunziation animiert werden... Dazu Dieter Kollark: „Die schießen mit der Schrotflinte blind um sich, in der Hoffnung, daß einer aufgrund einer persönlichen Enttäuschung auspackt und einen Rachefeldzug führt... Frage 6: „Ist bei Ihnen ein über die blo-ße Verabreichung der Anabolika hinausgehender möglicherweise bleibender körperlicher Schaden eingetreten?“ Zu beantworten mit
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ja oder nein. Kommentar Kumbernuss: „Üble Fangfragen. Egal, was man ankreuzt, man beschmutzt sich.“ Kollark: „Leider ist mei-ne Athletin Franka Dietzsch darauf hereingefallen, weil sie nicht exakt gelesen hat. Sie hat Frage 6 mit Nein beantwortet. Im Klar-text: Damit hat sie sich selbst des Anabolika-Konsums bezichtigt.
Frage 7: „Wünschen Sie eine strafrechtliche Verfolgung?“ ja oder nein.
Astrid Kumbernuss lehnt die Beantwortung (vorerst) ab und hat DLV Sportwart Rüdiger Nickel, einen Rechtsanwalt, um Hilfe gebe-ten. Auf ihre Frage ob der Verband schon zuvor Kenntnis von den Briefen hatte, antwortete Nickel: „Öffentlich hatten wir keine Bestä-tigung.“ Intern sehr wohl. Und das schon seit längerem. Folgt: Der Verband ließ seine Asse ins Messer laufen, anstatt sie zu beraten, zu schützen. Präsident Digel wird nun wohl von seiner Behauptung eingeholt, die er in Frankfurt zum besten gab. Auf die Frage, ob er denn die Interessen deutscher Athleten in der Doping-Problematik nachhaltig vertreten würde, antwortete er: „Ich schwätze nicht, ich handele.“
(C.Tuchfeldt/C.Wittkowski in Sport-Bild, 3. 7. 1997)
Jan Ullrich
...Es fiel auf, daß unter den Tour-de-France-Siegern aus so vielen Ländern - Luxemburg darunter, die Niederlande und Dänemark - bislang ein Deutscher „fehlte“. 1997, da man die 84. Fahrt durch Frankreich fuhr, beseitigte ein 23jähriger diesen Makel in brillantem Stil. Jan Ullrich schien keine Paßstraße zu steil, kein Zeitfahren zu lang, kein Rivale gefährlich zu sein. Er fuhr und fuhr und selbst die bislang immer nur Tour-Sieger anderer Nationen kommentierenden Reporter an den Fernsehmikrofonen vermochten sein Hinterrad nicht zu halten und offenbarten mit einfallsloser Schreierei ihre Ni-veaulosigkeit.
Die Folgen in Deutschland waren vorauszusehen. Matthias Frank aus 22769 Hamburg faxte an „Bild“: „Die Tour de France spricht Deutsch!“ Michel Gutjahr aus 42289 Wuppertal witterte: „Offen-sichtlich wurde versucht, daß die Tour von den Franzosen be-herrscht werden kann.“ und „Sport-Bild“ druckte den Verdacht. Das gemeinhin unantastbare Fernsehprogramm - allerhöchstens durch verheerende Naturkatastrophen gewandelt - wurde über Nacht Jan Ullrichs wegen auf den Kopf gestellt, die Einschaltquoten kletterten
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prompt in Fabelhöhen und wer diesen Star nicht präsentierte, war verloren. Gottschalk hätte sich höchstens als Ansager für die Tour-Übertragungen behaupten können.
Die sportliche Leistung Ullrichs war unbestritten zwei olympische Goldmedaillen wert, aber wer zählt heute noch Medaillen? Der Werbefaktor gilt als das Maß der Dinge und da Ullrich ausgerech-net in diesem Metier noch untrainiert ist, hatte man das Vergnügen einen höchst sympathischen Sportsmann hautnah zu erleben. Kei-ne Lasershow beim Erscheinen, keine musikalische Melodramatik auf dem Weg zum Start, sondern ein Athlet, dessen Interesse vor allem den Rivalen galt und den Herausforderungen des kommen-den Tages. Und der das auch jeden spüren ließ. Die Manager schienen ihre liebe Not zu haben mit diesem Neuling von einem anderen Stern, der ohne Werbespots lebt. Telekom war so clever, mit ihm einen Vertrag bis Ende 1998 abzuschließen. Der Toursie-ger kann also frühestens 1999 mit Gehaltserhöhung rechnen.
Hinzu kam: es ist nicht einmal ein ganz waschechter „Germane“, denn er stammt aus der DDR, wuchs dort auf, wurde dort entdeckt und besuchte eine der Schulen, die man gleich nach der Wende gründlich „säuberte“, weil die dort eingesperrten Kinder mit Do-pingpillen aufgezogen - sagte man höheren Orts - und mehr poli-tisch gedrillt als sportlich trainiert - sagte man höheren Orts - wor-den waren. Und nun kommt einer aus solcher Zwangsanstalt und gewinnt als erster Deutscher die Tour de France. Vielleicht war es auch das, was die Kommentatoren so irritierte, daß sie sich meist in die Vokabel „unglaublich“ flüchteten. Kein ganz „richtiger“ Deut-scher, der da triumphierte, aber in diesem Fall sah man darüber hinweg und verriet auch nicht, ob die „Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungskriminalität“ (ZERV) dem Arzt des Tour-Siegers wie hunderten anderen Ex-DDR-Athleten einen Fragebogen geschickt hatte, auf dem er bestätigen sollte, in der DDR sportmedizinisch mißbraucht worden zu sein.
Um alle Irrtümer auszuräumen: diese Pikanterie des ersten deut-schen Toursiegs mindert in keiner Weise den Beifall für Jan Ullrich und die Bewunderung für seine Leistung. Er schrieb ein großes Kapitel im dicken Buch der Geschichte der Tour de France. Einge-weihte raunten allerdings auch unüberhörbar: „Paß auf Dich auf, Junge!“
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Die 87. Tour ist Geschichte. Jan Ullrich wird noch immer gefeiert, die Namen der Unterlegenen geraten schnell in Vergessenheit. Wird schon mal in dieser sonst Thesen und Theorien vorbehalte-nen Zeitschrift über ein so profanes Ereignis wie die Tour de France geschrieben, wollen wir nicht versäumen, Internationalis-mus auf unterer Ebene zu demonstrieren.
(Marxistische Blätter 8/9 1997,Essen)
SPRÜCHE
Sportliche Höhepunkte wie die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Athen wären selbst für den Zuschauer daheim am Fernseher ein Vergnügen, wenn diese unsäglichen Sprüche nicht wären. Erst muß man die Reporter ertragen, die Dieter Baumann bis in die Zielgerade als Medaillengewinner sehen... Hat man diesen Psychostreß hinter sich, marschieren die Funktionäre auf. Rüdiger Nickel, Sportwart des DLV tönte: „Wir haben unsere Stellung halten können. Die Weltmeisterschaft bestätigt unser zukunftsorientiertes System!"... Herrn Nickel würde ich gern eine modifizierte Länder-wertung offerieren...:
1. USA 7 3 8
2. Kuba 4 1 1
3. Kenia 3 2 2
4. (DDR) 3 1 2
5. Ukraine 2 4 1
6. Marokko 2 1 1
7. BRD 2 - 2
Diese Tabelle macht transparent, wo die Leichtathleten der Bun-desrepublik Deutschland gelandet wären, hätten sie nicht noch die Stars der DDR-Leichtathletik in ihren Reihen. So sehr wir Lars Riedel und den anderen wünschen, daß sie noch lange aktiv blei-ben können, so notwendig ist es, darauf zu verweisen, daß Rüdiger Nickel nicht mehr allzu lange mit ihnen rechnen kann, und wenn er dann noch von einem "zukunftsorientiertem System" spricht, kann man nicht umhin, ihm Scharlatanerie vorzuwerfen.
(Ulf Ulfsen, „UZ“ Essen)
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 6 / 1998
INHALT:
DISKUSSION / DOKUMENTATION
Die 63. IOC-Session und Willi Daumes Ärger mit der
Bundesregierung
Gerhard Oehmigen 4
DOKUMENTE
Auszug aus der Ergebnisniederschrift der Staatssekre-tärberatung im Bundesministerium des Innern
am 13. Oktober 1965 10
Ergänzungen zur Ergebnisniederschrift 13
Aufzeichnung zu den Protokollkorrekturen 15
Brief Willi Daumes an Ministerialrat Dr. von Hovora 16
Brief Willi Daumes an BM Lücke 17
Brief Willi Daumes an 5 Staatssekretäre (Anlage) 22
Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes der Bundesregierung über die Kontakte der BRD-Diplomaten zu den IOC-Mitgliedern 25
Endphase des DDR-Sports
Sebastian Drost 31
Zum „Märchen“ vom Breitensport
Margot Budzisch 48
Der Fall „Natan gegen Mengden“
Klaus Huhn 53
REZENSIONEN
Der geteilte deutsche Sport
Hans Simon 56
Schlüsseldokumente zum DDR-Sport
Klaus Huhn 65
Die unendliche Doping-Story
Heinz Schwidtmann 67
Höllenritt auf der Himmelsleiter
Roland Sänger 70
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ZITATE
Zum Dopingprozeß 74
JAHRESTAGE
Zum 100. Geburtstag von Bertolt Brecht
Günter Witt 79
Gedenktafel für zwölf Weltmeister
Bertolt Brecht 80
GEDENKEN
Ernst Jokl
Kurt Franke 83
Harry Glaß
Werner Lesser 85
Ludwig Schröder
Roland Sänger 87
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DIE AUTOREN
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theorie der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994.
SEBASTIAN DROST, geboren 1975, Student der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen.
KURT FRANKE, Dr. sc. med., geboren 1926, Prof. für Chirurgie/Traumatologie an der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR 1977 bis 1990, Chefredakteur der Zeitschrift "Medizin und Sport" 1961 bis 1980.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der DVS.
WERNER LESSER, geboren 1932, Trainer, Teilnehmer an den Olympischen Winterspielen 1956 (Skisprung 8. Platz), Sieger des Skifliegens 1956.
GERHARD OEHMIGEN, Dr. sc. paed., geboren 1934, Prof. für Geschichte des Sports am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1981 bis 1991.
ROLAND SÄNGER, geboren 1935, Sportjournalist, Pressechef des Deutschen Skiläufer-Verbandes (DSLV) 1979 bis 1990.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) und dem Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1970 bis 1990, Rektor der DHfK 1963 bis 1965.
HANS SIMON, Dr. sc. paed., geboren 1928, Hochschullehrer für Sportgeschichte an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1963 bis 1990, Mitglied der DVS.
LOTHAR SKORNING, Dr. paed., geboren 1925, Hochschullehrer für Geschichte der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1969 bis 1991.
GÜNTER WITT, Dr. phil. habil., geboren 1925, Prof. für Kulturtheorie und Ästhetik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1982 bis 1990.
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DISKUSSION/DOKUMENTATION
Die 63. IOC-Session und Willi Daumes
Ärger mit der Bundesregierung
Von GERHARD OEHMIGEN
Am 8. Oktober 1965 beschloß die 63. Session des IOC mit der großen Mehrheit seiner anwesenden Mitglieder und mit 52 gegen 7 Stimmen, dem NOK der DDR für die Olympischen Winterspiele in Grenoble 1968 und für die Olympischen Spiele in Mexiko City 1968 eigenständige Olympiamannschaften zu gewähren. Wenn dieser Beschluß, auf Vorschlag des amerikanischen IOC-Präsidenten Avery Brundage gefaßt und auf einen Antrag des NOK der DDR zurückgehend auch zunächst ausdrücklich nur für die Olympischen Spiele 1968 galt, so zweifelte doch niemand mehr daran, daß damit das Kapitel der gemeinsamen Olympiamannschaften von Sportlern beider deutscher NOK abgeschlossen war. Die Einschränkung, daß im Beschluß das DDR-NOK als Olympisches Komitee „für das geographische Gebiet Ostdeutschlands“ bezeichnet wurde und als Zugeständnis für das vehement gegen jede selbständige Anerkennung des NOK der DDR kämpfende NOK der BRD für beide Mannschaften gleiche Fahnen (schwarz-rot-gold mit olympischen Ringen) und gleiche Hymnen (Beethovens Ode an die Freude) auch weiterhin gefordert wurden, änderte daran nichts.1) Mit seinem Beschluß hatte das IOC den entstandenen politischen und sportlichen Realitäten weitgehend Rechnung getragen und einen historischen Anachronismus überwunden, mit dem beide deutsche Staaten seit 1955 leben mußten und es in differenzierter Weise auch konnten - die Bundesrepublik, wenn auch nicht problemlos zumindest partiell besser als die DDR.2) Für die DDR war der Verzicht auf eigene Olympiamannschaften auf Dauer unannehmbar und selbst für das NOK der BRD waren die gemeinsamen Olympiamannschaften ein ungeliebtes kleineres Übel gewesen um den politischen Anspruch der Alleinvertretung aller Deutschen wenigstens einigermaßen demonstrieren zu können. Nicht von ungefähr schrieb der damalige Präsident des NOK der BRD, Willi Daume am 28. Juni 1966 in einem persönlichen Brief an den Bundesminister des Innern, Paul Lücke, mit einiger Bitterkeit: „ Wir hätten es sportlich wesentlich
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leichter gehabt, wenn wir nicht...die Strapazen einer gesamtdeutschen Mannschaft auf uns genommen“3) hätten. Gerade deshalb empfanden das NOK der BRD und vor allem die Bundesregierung den Beschluß des IOC als politische Niederlage mit verheerenden Folgen für die Deutschlandpolitik der Bundesregierung. Nicht nur, daß damit ihrer Doktrin der Alleinvertretung international ein wesentliches, weil juristisch scheinbar unanfechtbares Fundament entzogen war, auch im - nach BRD-Diktion - innerdeutschen Sportverkehr mußte umgedacht werden.4) Diese Niederlage mußte vom NOK der BRD und vor allem der Bundesregierung auch deshalb so schmerzlich empfunden worden sein, weil sie im Vorfeld der Madrider IOC-Session nichts unversucht gelassen hatten, ein anderes Ergebnis der Debatte zu erreichen. Einladungen und Besuche, verbunden mit der Übergabe wertvoller Geschenke durch NOK-Präsident Willi Daume an Mitglieder des IOC, um diese für den Standpunkt der BRD zu gewinnen, sind dabei unstrittig und ganz offensichtlich eine noch harmlose Variante der Versuche zur massiven Beeinflussung von IOC-Mitgliedern gewesen. In den Akten des Auswärtigen Amtes in Bonn werden wesentlich brisantere, nach der Satzung des IOC eindeutig verbotene Aktionen der Bundesregierung zur massiven Einflußnahme auf die Meinungsbildung der Mitglieder des IOC sowie zur ungeheuerlichen Ausspähung ihrer politischen Überzeugungen und ihres zu erwartenden Wahlverhaltens dokumentiert.5) Die hier zur Sprache kommenden Aktenbände sind bisher kaum offiziell ausgewertet und schon gar nicht dokumentiert. Deshalb wird im Folgenden näher auf diese Akten eingegangen und gleichzeitig auf die sich anschließende Dokumentation verwiesen in der sie in der Originalfassung auszugsweise publiziert werden.
Am 21.Juli 1965 schickte der zuständige Staatssekretär im Auswärtigen Amt - vermutlich Staatssekretär Lahr - ausgeliefert mit Depesche vom 27. Juli 1965 die Aufforderung an 39 Botschaften und weitere 12 konsularische Vertretungen der BRD „ ...umgehend bei der Regierung des Gastlandes an hoher Stelle - möglichst beim Außenminister selbst - vorstellig zu werden und darum zu bitten, auf das IOC-Mitglied in dem betreffenden Land (in manchen Ländern: die IOC-Mitglieder) in unserem Sinne einzuwirken. Durch einen Schritt an so hoher Stelle soll sowohl der Regierung des
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Gastlandes als auch den IOC-Mitgliedern vor Augen geführt werden, welche Bedeutung die Bundesregierung und der deutsche Sport einer Beibehaltung der gemeinsamen Olympiamannschaft beimessen. Bieten sich weitere Möglichkeiten, auf das betreffende IOC-Mitglied einzuwirken, ist hiervon Gebrauch zu machen.“6) Diese Aufforderung war verbunden mit einer Sammlung von zu gebrauchenden Argumenten aber auch aus gutem Grunde dem Hinweis, sich auf rechtliche Erörterungen nicht einzulassen.7) Als Ergebnis dieser Aktion legte die Abteilung IV des Auswärtigen
Amtes durch Legationsrat Gracher dem zuständigen Staatssekretär eine Liste vor, in der die politische Position und das zu erwartende Abstimmungsverhalten von 56 IOC-Mitgliedern aus nichtsozialistischen Ländern beschrieben ist.8) In der Zusammenfassung dieser Liste, - die gleichfalls dem Innenministerium, dem Ministerium für gesamtdeutsche Fragen sowie dem NOK der BRD übergeben wurde - werden für die Abstimmung im IOC 44 Stimmen für die Beibehaltung der gesamtdeutschen Olympiamannschaften vorhergesagt, wobei von höchstens 63 anwesenden IOC-Mitgliedern ausgegangen wurde.9) Umso schockierter war die Bundesregierung, als von den prognostizierten 44 Stimmen bei der tatsächlichen Abstimmung am 8. Oktober 1965 in Madrid lediglich 7 Stimmen übriggeblieben waren. Entscheidend für dieses aus der Sicht der Bundesrepublik desolate Ergebnis war natürlich die wachsende Sicht der Mehrheit der IOC-Mitglieder auf entstandene politische Realitäten und die Erkenntnis, daß man der DDR als geographisches Gebiet Ostdeutschland (wie im Be-
schluß formuliert) die eigene Mannschaft nicht länger verwehren konnte, zumal die große Mehrheit der internationalen Sportföderationen diesen Schritt längst vollzogen hatte. Nicht unwesentlich zu dem Abstimmungsergebnis hat aber mit Sicherheit auch die Empörung über die plumpen und für die Mitglieder des IOC - nach ihrem Selbstverständnis als politisch unabhängige Vertreter der Olympischen Bewegung - beleidigenden Versuche der Bundesregierung, ihr Abstimmungsverhalten zu manipulieren. Bereits am Vorabend der Abstimmung, am 7. Oktober 1965, war in einem um 23.45 Uhr abgesandten verschlüsselten Fernschreiben an das Auswärtige Amt in Bonn mitgeteilt worden, nach Auffassung des NOK-Präsidenten Willi Daume „ ... seien die demarchen
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unserer botschaften bei den ioc-mitgliedern und insbesondere ueber die regierungen kritisch diskutiert worden. schweizerisches ioc-mitglied albert mayer habe brief botschaft bern verlesen und daenisches ioc-mitglied vind habe dieserhalb offizielle schritte ioc bei bundesregierung angeregt.“10) Im gleichen Zusammenhang hatte Willi Daume in seiner Enttäuschung verschiedenen Bonner Auslandsvertretungen Karriererücksichten und Wunschberichterstattung vorgeworfen.11) Übrigens hatte Daume nie ein Hehl daraus gemacht, daß er die Aktion der Bundesregierung in dieser Form zumindest für nicht günstig gehalten hatte, da sie seiner Auffassung nach anders abgesprochen gewesen sei.
Der offensichtliche Frust über die Niederlage in Madrid hatte erstaunlicherweise zu einer deutlichen Abkühlung des Verhältnisses zwischen dem NOK-Präsidenten und einigen Regierungsstellen, vornehmlich dem Auswärtigen Amt, geführt. Die vorliegenden Bände 1604 und 1618 aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn weisen eine Fülle gegenseitiger Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Erklärungsversuche und Beschwerden aus. In einer Ergänzung zur Ergebnisniederschrift über eine Staatssekretärsbesprechung im Bundesministerium des Innern vom 13. Oktober 1965 fordert der NOK-Präsident, einen Hinweis auf die Schädlichkeit der Aktion des Außenministeriums sowie auf seine eigenen Bemühungen im IOC um Schadensbegrenzung aufzunehmen.12) Im Gegenzug warf der Staatssekretär im Außenministerium, Lahr, Willi Daume vor, von einer „in Übereinstimmung mit ihm“ unternommenen Maßnahme abzurücken und „...verwahrte sich auch dagegen, daß Herr Daume in Madrid vor deutschen Journalisten die Berichterstattung der deutschen Botschafter mit Karriererücksichten erklärt habe“.13) Immer wieder jedoch wies NOK-Präsident Daume daraufhin, daß er „... Wert auf die Feststellung lege, daß (er) die Bundesregierung...energisch und auch mit Erfolg verteidigt habe...,“14) wie in einem persönlichen Schreiben vom 9. Dezember 1965 an den im Bundesinnenministerium für den Sport zuständigen Ministerialrat Dr. von Hovora. Tatsächlich war die Position Willi Daumes nicht einfach. Einerseits war er als IOC-Mitglied und NOK-Präsident an die Satzung des IOC gebunden, die von ihm strikte staatspolitische Unabhängigkeit und Gewissensfreiheit
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voraussetzte, andererseits stand er unter dem massiven Druck seiner Regierung, die von ihm vorbehaltlose Unterstützung ihrer Politik erwartete, eine Erwartung, die er auch stets nach Kräften zu erfüllen bemüht war.15) Um für seine Person dieses Problem zu klären, schrieb er am 18. Juni 1966 einen persönlichen Brief an den damaligen Bundesinnenminister Paul Lücke in dem er diesen letztlich um Unterstützung gegen seine vermuteten oder tatsächlichen ministeriellen Widersacher bat. In diesem Brief stellte er zunächst die besondere Wichtigkeit seiner Person für die Sportpolitik der Bundesrepublik - nach der Vergabe der Olympischen Spiele 1972 an München war Daume auch Chef des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele 1972 - heraus: „Diese Wahl (Münchens als Austragungsort. G. Oe.) ist doch fast ein Wunder, denn eigentlich sprach alles gegen uns. Ich möchte Ihnen mit aller gebotenen Bescheidenheit und Diskretion sagen, daß sie im wesentlichen auf dem persönlichen Vertrauen zu mir begründet ist, weil man weiß, daß Spiele dieser Art eben nur durch uns in der Idee, im Gehalt und in der Durchführung gestaltet werden können“.16) Mag dies noch persönlicher Eitelkeit zuzurechnen sein, die Art und Weise, wie er sich im weiteren der Politik der Bundesregierung andient und seine ideologische und politische Ergebenheit zum Ausdruck bringt ist für ein Mitglied des IOC zumindest eigenartig und der Satzung des IOC ganz eindeutig widersprechend. „Vielmehr glaube ich - es sei dies in aller Vertraulichkeit - vermuten zu dürfen, daß Sie meine weltanschauliche Haltung und Einstellung kennen ... , wenn wir uns also vorbehaltlos hinter die politische Linie der Bundesregierung stellen, jeden, aber auch wirklich jeden Wunsch der Regierung erfüllen, dann mögen wir einfach nicht mehr hören, „der Sport dürfe keine Außenpolitik machen wollen.‟17) Und an anderer Stelle im gleichen Brief. „Vergleichen Sie, sehr geehrter Herr Minister, bitte, mal die Haltung des Sportes beispielsweise mit der der Wirtschaft! Und ich glaube, wir haben dann und wann die Bundesregierung auch gut beraten.“18.)
Das Gesagte und vor allem die zitierten Dokumente weisen die enge Verzahnung sportlicher und insbesondere sportpolitischer Überlegungen und Entscheidungen mit staatspolitischen Kalkülen in der dargestellten Situation und die enge Bindung der entscheidenden Amtsträger im Sport an die Politik der
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Bundesregierung aus. Zweifelsfrei haben wir es hier zwar mit besonders krassen Sachverhalten zu tun, aber sonderlich sensationell ist es eigentlich nicht. Im Prinzip ist es - wenn auch im Einzelfall differenziert zu sehen - bis heute in der ganzen Welt so, wobei jetzt neben den politischen in noch stärkerem Maße wirtschaftliche Interessen und Überlegungen das Verhalten dominieren. Bei der Aufarbeitung deutscher Sportgeschichte, scheint es aber,muß auf derartige Details hingewiesen werden.
ANMERKUNGEN:
1.) In der Tat hielt diese Einschränkung nur eine Olympiade und wurde bereits am 12. Oktober 1968 vom IOC auf seiner 67. Session in Mexiko-City bei nur 4 Gegenstimmen aufgehoben.
2.) vgl.: Oehmigen, Gerhard: Die Olympischen Spiele 1956 in Melbourne und die Deutschen In: Beiträge zur Sportgeschichte, Berlin, Heft 5, 1997, S.31/32;
3.) Archiv Auswärtiges Amt Bonn (im Folgenden: AAAB), IV/5, Band 1618, Betreff: Gesamtdeutsche Fragen im Sport, 190/66 S.2. Vgl. auch die Dokumentation in diesem Heft.
4.) Am 30. Oktober 1965 hob das DSB-Präsidium die am 16. August 1961 gefaßten Beschlüsse über den Abbruch des Sportverkehrs mit der DDR formell auf, da „...diese Beschlüsse durch die IOC-Entscheidung obsolet geworden seien“ AAAB, IV/5,Bd. 16618 - 86.11, Ergebnisniederschrift über die Staatssekretärbrsprechung im Bundesministerium des Innern am 13. Oktober 1965, 15.00 Uhr, S.5
5.) AAAB, IV/5 Bd.1618 und 1604
6.) AAAB, IV/5 Bd. 1604 - 88/12022/23, S. 4/5
7.) ebenda, S.5
8.) AAAB, IV/5, Bd. 1604 - 88/12022/23, Aufzeichnung Betr. Gesamtdeutsche Olympiamannschaft
9.) ebenda
10.) AAAB, IV/5, Bd. 1604 - 88/12022/23, Fernschreiben aus Madrid vom 7. Oktober 1965 S.1
11.) ebenda, S.2
12.) AAAB, IV/5, Bd. 1618 - 86.11, Ergänzungen zur Ergebnisniederschrift vom 14.10.1965
13.) ebenda, Betr. Ergebnisniederschrift über die Staatssekretärbesprechung im Bundesministerium des Innern vom 13. Oktober 1965
14.) ebenda, Betr. Ergebnisniederschrift vom 14.10.1965, Ihr Telefonat mit Herrn Hattig, S.2
15.) AAAB, IV/5, Bd. 1604, -88/12022/23, Betr: Olympiade 1968, Übersetzung des Diskussionsbeitrages von Herrn Daume zur Beschuldigung der Bundesregierung durch verschiedene IOC-Mitglieder.
16.) AAAB, IV/5, Bd. 1618, Sport - 370-935/5, Brief Willi Daume an den Bundesminister des Innern vom 28. Juni 1966, S.5
17.) ebenda, S.6
18.) ebenda, S.3
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DOKUMENT 1
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 0/1)
Auszug aus der Ergebnisniederschrift über die Staatssekretärbesprechung im Bundesministerium des Innern am 13. Oktober 1965, 15.00 Uhr
Thema der Besprechung war der IOC-Beschluß vom 8. Oktober 1965 zur Frage des Fortbestands der gesamtdeutschen Mannschaft, die aus diesem Beschluß zu ziehenden Folgerungen, insbesondere der gesamtdeutsche Sportverkehr.
Bei der Besprechung, an der der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees und des Deutschen Sportbundes, Herr Daume, teilnahm, waren ferner zugegen:
Bundesministerium des Innern: Staatssekretär Dr. Schäfer, Ministerialrat Dr. von Hovora, Regierungsrat Höfling
Bundeskanzleramt: Ministerialdirektor Dr. Mercker
Auswärtiges Amt: Staatssekretär Lahr, Vortr. Legationsrat I Dr. Dvorak
Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen: Ministerialdirektor Dr. Müller Ministerialrat Dr. von Dellingshausen
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung:
Ministerialdirigent Niebel
Staatssekretär Dr. Schäfer begrüßte die Teilnehmer und erläuterte den Zweck der Besprechung; er bat zunächst Präsident Daume, die neueren Einzelheiten über den in Madrid gefaßten IOC-Beschluß darzulegen.
Präsident Daume gab einen Überblick über den Verlauf der IOC-Sitzung am 7./8. Oktober 1965, in der das Zonen-NOK schließlich mit Einschränkungen als vollgültiges IOC-Mitglied für das geographische Gebiet „Ostdeutschland“ anerkannt worden sei. Im Hinblick auf die Folgerungen, die aus diesem Beschluß zu ziehen seien, verdiene festgehalten zu werden, daß sich vor allem drei Umstände günstig für den Antrag der Zone ausgewirkt hätten.
Die Mehrzahl der IOC-Mitglieder seien von der Überlegung aus-gegangen, daß man das Zonen-NOK auf Grund der politischen Gegebenheiten nicht gegen seinen Willen zur weiteren Teilnahme an der gesamtdeutschen Mannschaft zwingen könne. Das IOC sei daher zu dem Schluß gekommen, daß man der Zone nach der Satzung nicht die IOC-Anerkennung (als geographisches Gebiet)
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verweigern könne, wenn man Guinea, Togo und Singapur als neue Mitglieder aufnehme.
Ausgehend von der Tatsache, daß der Arbeit des IOC ohne Unter-sützung der mächtigen internationalen Fachverbände der Boden entzogen würde, habe man ferner nicht übersehen, daß fast alle diese Verbände die Anerkennung des Zonen-NOK empfohlen hätten...
In dieser Situation habe es sich dann noch besonders nachteilig ausgewirkt, daß ausgerechnet ein französisches IOC-Mitglied, der Graf de Beaumont, bereits zu Anfang der Sitzung einen Kompromißvorschlag vorgebracht habe, nach dem - offensichtlich im Interesse der Olympischen Spiele in Grenoble - die gesamtdeutsche Mannschaft zunächst nur für die kommenden Olympischen Winter-Spiele beibehalten und in Mexiko getrennt werden sollte, um danach unter Berücksichtigung der weiteren Erfahrungen eine endgültige Entscheidung zu treffen,... Auch sei äußerst mißlich gewesen, daß der Antrag auf vollgültige Anerkennung des Zonen-NOK von einem Schweizer, dem Ex-Kanzler des IOC Albert Mayer, mit ungewöhnlichem Nachdruck und - wie sich teilweise erst nachträglich herausgestellt habe - mit unfairen Argumenten vertreten und von dem Dänen Vind unterstützt worden sei, während insbesondere die - dem hiesigen Standpunkt aufgeschlossenen - einflußreichen Inder und Japaner nicht anwesend gewesen seien. Dabei sei jedoch lobend zu erwähnen, daß die südamerikanischen Länder sich für die Beibehaltung der gesamtdeutschen Mannschaft ausgesprochen und aus diesem Grund abschließend gegen die Annahme des Antrages auf vollgültige Anerkennung des Zonen-NOK gestimmt hätten.
Nach der für die Belange der Bundesrepublik ungünstig verlaufenen Diskussion am ersten Tage habe sich (handschriftlich eingefügt: auf Daumes Intervention)der Marquess of Exeter Donnerstagnacht erboten zu helfen, daß die Zone aus ihrer Anerkennung als geographisches Gebiet kein politisches Kapital schlagen könne. Eine kleinere Gruppe Gleichgesinnter habe daraufhin die mögliche IOC-Entscheidung im wesentlichen so vorbereitet, wie sie am Freitagmorgen der Versammlung von Präsident Brundage als eigener Vorschlag unterbreitet worden sei und dann die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der
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Mitglieder gefunden hätte. Dabei habe - abgesehen von seiner eigenen Stimmenenthaltung und den bereits erwähnten Gegenstimmen der Südamerikaner - vor allem der Ostblock geschlossen gegen die Annahme dieses Antrags gestimmt. Das sowjetische IOC-Mitglied habe nach Verlesen des Absatzes über den Berlin-Status dem IOC vorgeworfen, dies sei „Natopolitik“...
Staatssekretär Dr. Schäfer verwies auf die bereits in der Pressekonferenz am 8. Oktober 1965 abgegebenen Erklärungen des Bundespressechefs. Er betonte, daß nach seiner Überzeugung Präsident Daume keine Mühe bei der Vorbereitung dieser wichtigen IOC-Sitzung gescheut und sich in Madrid unter offenbar widrigen Umständen klug, entschlossen und mit Nachdruck für die gute Sache des deutschen Sports eingesetzt habe. Er dankte Präsident Daume auch dafür, daß er den Anwesenden durch seinen Bericht die außergewöhnlichen Schwierigkeiten aufgezeigt habe, denen er als gegenwärtig einziges deutsches Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee gegenübergestanden habe. Wer den Kampf und die Erfolge der gesamtdeutschen Olympia-mannschaft aufmerksam verfolgt habe und um ihre menschliche und politische Wirkung auf Sportler und Öffentlichkeit wisse, müsse die Trennung dieser Mannschaft zutiefst bedauern. Es gelte aber auch das zu sehen, was an dem Madrider Beschluß positiv zu werten sei, nämlich gemeinsame Flagge, gemeinsame Embleme, gemeinsame Hymne, Einbeziehung Berlins zur Bundesrepublik. Die weiteren Bemühungen der Spitzenorganisationen des deutschen Sports um Normalisierung ihrer Wettkämpfe sollten Unterstützung finden. Dabei gehe es vor allem darum, den in Madrid für den olympischen Sport abgesteckten Positionen auch im gesamtdeutschen und im internationalen Sportbereich aller Fachverbände ebenso bestimmt wie nachhaltig Anerkennung zu verschaffen.
Staatssekretär Lahr betonte, man müsse sich im Kreise der Veranwortlichen darüber klar sein, daß der IOC-Beschluß eine große Niederlage für unsere gesamtdeutschen Bemühungen, ja ein böser Rückschlag gewesen sei, auch wenn dies in der Öffentlichkeit aus Gründen der Zweckmäßigkeit vielleicht nicht überall herausgestellt würde. Es ginge darum, aus dieser Erkenntnis die Lehre zu ziehen, daß die politischen Bestrebungen
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der SBZ im Bereich des Sports kritisch beobachtet und jeweils möglichst frühzeitig das Erforderliche veranlaßt werden müsse.
Alle Besprechungsteilnehmer waren sich darüber einig, daß es müßig sei, rückschauend Kritik zu üben. Auch sei eine abschließende Stellungnahme der Bundesregierung als Ergänzung zu der Pressekonferenz vom 8. Oktober 1965 nicht erforderlich. Es erscheine vielmehr angezeigt, daß nunmehr die Spitzenorganisationen des deutschen Sports die richtigen Folgerungen aus dem IOC-Beschluß ziehen und ihre Bemühungen koordinieren...
Präsident Daume wies ferner darauf hin, daß die SBZ für eine Wiederaufnahme des gesamtdeutschen Sportverkehrs u.a. die Aufhebung des Beschlusses des Bundesgerichtshofs verlange, der jedes Mitglied des Deutschen Turn- und Sportbundes der Zone beim Betreten der Bundesrepublik „zum Freiwild“ mache. Er bat um Prüfung, welche Auswirkungen von dem Beschluß des BGH (vom 14.3.1961 - 1 StE 5/60,abgedr. in BGHSt 16,15) auf eine mögliche Wiederaufnahme des gesamtdeutschen Sportverkehrs zu erwarten seien. Staatssekretär Schäfer sagte dies zu.
Nach Erörterung der Düsseldorfer Beschlüsse stimmten die Be-sprechungsteilnehmer Ministerialrat Dr. von Dellingshausen darin zu, daß diese Beschlüsse durch die IOC-Entscheidung obsolet geworden seien...
Ministerialrat Dr. von Dellingshausen teilte mit, daß in seinem Haus die vom IOC für die Zone gewählte problematische Bezeichnung „Ostdeutschland“ erörtert worden sei. Man sei zu dem Schluß gekommen, daß es - auch im Hinblick auf die gewünschte Intensivierung des gesamtdeutschen Sportverkehrs - ratsam erscheine, diesen Begriff im Bereich des internationalen Sports nicht zu beanstanden, ohne ihn im innerstaatlichen Bereich zu übernehmen...
DOKUMENT 2
(auf Daumes Schreibmaschine geschrieben)
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 0/1)
Ergänzungen zur Ergebnis-Niederschrift vom 14.1.1965
1) Und schließlich wies Präsident Daume darauf hin, daß sich die Bemühungen der Bundesregierung auf diplomatischer Ebene
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teilweise genau gegenteilig ausgewirkt hätten. Sein Rat sei gewesen, keine direkten Kontakte zwischen unseren Botschafter und den ausländischen IOC-Mitgliedern herzustellen, sondern über die Außenminister der in Frage kommenden Länder Einfluß zu nehmen. Wo es so geschehen sei, hätten wir auch zumindest Sympathien geweckt, wenngleich die durchweg optimistischen Berichte der Botschafter doch wohl nicht genügend berücksichtigt hätten, daß die IOC-Mitglieder ja letztlich nicht gegen die Satzungen des IOC entscheiden können. “Die gesamtdeutsche Mannschaft ist nur in beiderseitigem Einvernehmen möglich, die bisherige Unterschrift der Zone gilt nur bis 1964; danach würde die gemeinsame Mannschaft zwar auch von der überwiegenden Mehrheit des IOC begrüßt werden, die Zone kann aber nicht dazu gezwungen werden“, - so sei die allgemeine Meinung gewesen, und es habe auch an Versuchen nicht gefehlt, die sowjetzonalen Funktionäre durch Zureden für die bisherige Regelung zu gewinnen, was natürlich von vornherein aussichtslos gewesen sei. Sehr schädlich seien dann aber teilweise die Auswirkungen der diplomatischen Aktion in den Fällen gewesen, wo unsere Botschafter den direkten Kontakt zu den IOC-Mitgliedern gesucht hätten. Katastrophal habe sich geradezu der <+)Schriftwechsel zwischen dem deutschen Gesandten in der Schweiz und dem schweizer IOC-Mitglied Albert Mayer ausgewirkt>+), den dieser verlesen und damit eine sehr schlechte Stimmung für uns erzeugt habe. Ausdruck des allgemeinen Protestes sei dann ein Antrag des dänischen IOC-Mitgliedes Vind gewesen, eine offizielle Protestaktion gegen die Bundesregierung zu beschließen, die in der gesamten Weltpresse einen höchst negativen Eindruck für uns gemacht haben würde. Präsident Daume sei es nur mit großer Mühe gelungen, dies zu verhindern, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß die sowjetzonale Seite ja nachweisbar den Sport ausschließlich zu politischen Zwecken und sogar zu subversiver Tätigkeit mißbrauche, wogegen sich zu schützen jede Regierung der Welt und somit auch die Bundesregierung das Recht habe.
*)handschriftlich eingefügt
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DOKUMENT 3
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 0/1)
Bonn, den 30. November 1965
A u f z e i c h n u n g
Betr.: Ergebnisniederschrift über die Staatssekretärbesprechung im Bundesministerium des Innern am 13. Oktober 1965
Herr Daume hat beim Bundesinnenninisterium zu der obigen Erebnisniederschrift einige Ergänzungen vorgelegt. Ergänzung Nr. 1 (Seite 2 der beiliegenden Ergebnisniederschrift) enthält Angriffe auf die diplomatische Demarche des Auswärtigen Amts, die nicht ohne Erwiderung bleiben sollten. Abteilung IV schlägt deswegen vor,
a) gegen die Aufnahme der Ergänzung Nr. 1 des Herrn Daume in das Ergebnisprotokoll Einspruch zu erheben;
b) falls Herr Daume dennoch auf Aufnahme seiner Ergänzung Nr. 1 bestehen sollte, den Absatz 2, Seite 3 der beiliegenden Ergebnisniederschrift durch nachstehende Ausführungen zu ergänzen:
„Im übrigen wies Herr Staatssekretär Lahr darauf hin, daß alle Bemühungen der Bundesregierung auf diplomatischer Ebene auf Wunsch von Herrn Daume und in Übereinstimmung mit ihm unternommen worden seien. Dabei habe sich herausgestellt, daß zum Teil die IOC-Mitglieder den Kontakt mit den Botschaftern begrüßt und es ausdrücklich abgelehnt hätten, sich durch das eigene Außenministerium kontaktieren zu lassen, wie umgekehrt in anderen Fällen die Außenministerien es ablehnten, die IOC-Mitglieder zu kontaktieren. Die Vorgänge seien also erheblich komplizierter und nuancierter verlaufen als Herr Daume sie dargestellt habe. Was das Schweizer IOC-Mitglied Albert Mayer betreffe, so sei festzustellen, daß
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dieser selber schriftlich den deutschen Botschafter um eine schriftliche Darstellung gebeten habe. Daß ein deutscher Botschafter grundsätzlich davon ausgehe, daß IOC-Mitglieder ehrenhafte Leute seien und ein Verhalten wie das des Herrn A. Mayer nicht in seine Überlegungen einbeziehe, könne ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Herr Staatssekretär Lahr verwahrte sich auch dagegen, daß Herr Daume in Madrid vor deutschen Journalisten die Berichterstattung der deutschen Botschafter mit „Karriererücksichten“ erklärt habe. Es gehe nicht an, den amtlichen deutschen Auslandsvertretungen unsachliche Motive zu unterschieben. Im übrigen halte er es für sinnlos, nachträgliche Schuldkonten aufzustellen...
DOKUMENT 4
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 10/1)
CITIUS - ALTIUS - FORTIUS
NATIONALES OLYMPISCHES KOMITEE
FÜR
DEUTSCHLAND
Herrn Ministerialrat
Dr. von Hovora
i.Hs. Bundesministerium des Innern
53 Bonn 46 Dortmund, 9. Dez. 1965
Rheindorfer Str. 198 Postfach 362
Sehr geehrter Herr Dr. von Hovora,
natürlich stimme ich Herrn Staatssekretär Lahr zu, daß man nachträglich nicht mehr polemisieren soll. Das war auch in gar keiner Weise mit meinem Ergänzungsvorschlag beabsichtigt. Aber ein Protokol1 muß doch wahr und vollständig sein, sonst brauchte man gar keines zu machen.
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Tatsache ist, daß die in einigen Fällen so sehr mißglückte diplomatische Aktion der Bundesregierung ein ganz wesentlicher Grund für das Scheitern der gesamtdeutschen Mannschaft war, und Tatsache ist weiterhin, daß ich das in Bonn berichtet habe. Ich habe mir dabei auch noch durchaus Zurückhaltung auferlegt, z.B. die vollständig deplacierte Intervention des Herrn Franz-Josef Strauß, in seiner Eigenschaft als CSU-Vorsitzender beim IOC-Präsidenten Brundage nicht erwähnt. Auch die Tatsache, daß das dänische IOC-Mitglied Vind die Bundesregierung aufs schwerste angegriffen und einen offiziellen Protestschritt des IOC in Bonn beantragt hat, ist doch in solchem Zusammenhang wichtig und müßte meiner Ansicht nach protokollarisch festgehalten werden. Daß ich persönlich wiederum Wert auf die Feststellung lege, daß ich die Bundesregierung bei der Gelegenheit energisch und auch mit Erfolg verteidigt habe, ist doch auch keine Polemik, sondern schlichte Tatsache.
In keiner Weise soll allerdings der Eindruck entstehen, daß ich für den diplomatischen Fehlschlag der Bundesregierung allein die Verantwortung zuschieben möchte. Das wäre nicht fair, denn wir haben ja die Aktion gemeinsam besprochen. Nur hat sich beispielsweise der Schweizer Gesandte - vielleicht steht zu befürchten, aus Bequemlichkeit - nicht an die Bitte gehalten, den Konktakt über den Außenminister zu nehmen, sich vielmehr auf einen Briefwechsel beschränkt, was mir auch bis heute ganz und gar unverständlich geblieben ist, nachdem er doch sicher wußte, wie kritisch Herr Albert Mayer in diesem Zusammenhang zu beurteilen ist...
DOKUMENT 5
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 0/1)
WILLI DAUME 28. Juni 1966
An den
Bundesminister des Innern
Herrn Paul Lücke
53 Bonn
Rheindorfer Str. 198
Sehr geehrter Herr Minister Lücke,
anbei darf ich Ihnen den Durchdruck eines Schreibens übermitteln, mit welchem ich den letzten Brief Ihres Kollegen, Herrn Bundesminister Dr.
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Schröder, beantwortete. Im Zusammenhang mit dem darin weiterhin angesprochenen Problem der Zulassung sowjetzonaler Sportjournalisten bei den Fußball-Weltmeisterschaften in England möchte ich diese Gelegenheit auch noch zu einigen grundsätzlichen Ausführungen benutzen, die ich so knapp wie möglich halten werde. Anlaß dazu gibt mir zunächst einmal der für mich nur wenig befriedigende Verlauf unserer letzten Münchner Zusammenkunft. Was also die Vorbereitung der Olympischen Spiele von München angeht, die uns allen mit Sicherheit eine Fülle großer und größter Belastungen bringen werden, so war ich doch ziemlich betroffen, als ich zu spüren glaubte, es ginge jetzt zunächst mal um ein Taktieren mit Stimmenmehrheiten. Herrn Staatsminister Dr. Huber konnte ich insoweit überhaupt nicht verstehen. Und es wäre doch wohl das Allerschlimmste, wenn es letztlich auf ein Gegeneinander zwischen den Gebietskörperschaften und dem Sport hinausginge. In einer solchen Atmosphäre können Olympische Spiele einfach nicht vorbereitet werden, und schon gar nicht Spiele solcher Art, wie wir sie dem IOC offeriert haben. Die darin liegenden Chancen sind - ich drücke es mit Bedacht so allgemein aus - für Deutschland außergewöhnlich. Ich bin absolut sicher, daß das noch nicht hinreichend erkannt worden ist.
An dieser Stelle, sehr geehrter Herr Minister, darf ich auch nochmals um Ihr Verständnis dafür bitten, daß ich den Spielen das geistige Gesicht geben möchte, das der olympischen Entwicklung nach meiner festen Ueberzeugung not tut. Ich habe meine Vorstellungen in monatelanger Vorarbeit den Kreisen des Internationalen Olympischen Komitees dargelegt, die in dieser Hinsicht urteilsfähig sind und die letztlich einflußreich genug waren, die Wahl Münchens durchzusetzen. Diese Wahl ist doch fast ein Wunder, denn eigentlich sprach alles gegen uns. Ich möchte Ihnen mit aller gebotenen Bescheidenheit und Diskretion sagen, daß sie im wesentlichen auf dem persönlichen Vertrauen zu mir begründet ist, weil man weiß, daß Spiele dieser Art eben nur durch uns in der Idee, im Gehalt und in der Durchführung gestaltet werden können. Ich fühle mich insoweit auch gegenüber dem IOC im Wort. Es ist für mich ganz und gar ausgeschlossen, nun wieder auf einen engen landläufigen Zuschnitt zurückzukommen, der beispielsweise die Folge wäre, wenn der Präsident des Organisations-Komitees, bzw. der Vorstand oder das Komitee überhaupt, an die Bedingung einstimmiger Beschlüsse gekettet werden sollte. Ich erinnere mich, daß Sie sagten, wir müßten uns dann eben zusammen raufen. Das hatte ich in bezug auf die große finanzielle Planung verstanden, und jeder vernünftige Mensch wird akzeptieren, daß
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öffentliche Haushalte nicht der Bewilligungsfreudigkeit eines olympischen Organisations-Komitees ausgesetzt sein dürfen. Wenn wir aber für jeden kleinen und kleinsten Beschluß die Zweidrittel- Mehrheit brauchen, was ja nach den von Herrn Staatsminister Dr. Huber vorgerechneten Exempeln praktisch auf Einstimmigkeit hinauskommen soll, dann werden wir oft genug lahm liegen und, wie man so sagt, „eingemauert“ sein, - denn für mich gibt es in Fragen des Stils und des anzustrebenden höchsten Niveaus im allgemeinen keinen Kompromiß. Die damit verbundenen ganz und gar unfruchtbaren Auseinandersetzungen wären auch weder zeitlich noch nervlich ertragbar, ich denke für keinen von uns. So verbleibt mir, sehr geehrter und lieber Herr Minister Lücke, auch an dieser Stelle noch einmal die sehr herzliche Bitte, im Interesse der Sache den Aufassungen, wie sie Herr Dr. Wülfing in seinem Kommentar zur Satzung äußerte, zu folgen...
Betroffen war ich auch, daß Sie in München ausführten, der Sport und die Kommunen könnten keine Außenpolitik machen. Nein, sehr geehrter Herr Minister, das kann der Sport nicht. Er hat es auch niemals beabsichtigt. Aber die Bundesregierung hat den Sport seit langen Jahren gebeten, daß seine führenden Männer ihre staatsbürgerlichen Pflichten auch insoweit erfüllen, daß sie die Außen- und Wiedervereinigungspolitik der Bundesregierung stützen. Wir hätten es sportlich wesentlich einfacher gehabt, wenn wir nicht - immerhin mehr als zwanzig Jahre lang - die Strapazen einer gesamtdeutschen Mannschaft auf uns genommen oder wenn wir nicht die von uns verlangten harten Konsequenzen nach dem Bau der Berliner Mauer gezogen und unter größten Schwierigkeiten die Politik der Bundesregierung auch dann in internationalen Sportkreisen vertreten hätten, wenn der eine oder andere von uns sie im Einzelfall für falsch hielt. Vergleichen Sie, sehr geehrter Herr Minister, bitte, mal die Haltung des Sportes beispielsweise mit der der Wirtschaft! Und ich glaube, wir haben dann und wann die Bundesregierung auch gut beraten. Vielleicht haben Sie die Geschehnisse früher nur am Rande verfolgt; Ihre Herren Kollegen Dr. Schröder und Höcherl - leider lebt Herr von Brentano nicht mehr - und ebenfalls die Herren Staatssekretäre Dr. Schäfer, Prof. Carstens und Lahr werden Sie möglicherweise ins Bild setzen können. Und um auf den speziellen Fall zurückzukommen, so wiederhole ich an dieser Stelle nochmals, daß es ganz sicher nicht klug wäre, die sowjetisch-russische Flagge zu gegebenem Anlaß von einem Sportfeld zu entfernen, wenn sie in Rolandseck noch weht. Ich bitte Sie sehr herzlich, meine Warnung nicht mit der Meinung, die ich in München
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vernehmen mußte, abzutun, der Sport sei ja eine gute und populäre Sache, ein Sportbund aber nicht. Wir wissen, daß ehrenamtliche Arbeit bei uns nicht immer hoch veranschlagt wird; was aber die Verbindung zwischen der Bundesregierung und der Führung der deutschen Turn- und Sportbewegung anbetrifft, so war das Verhältnis bisher stets denkbar vertrauensvoll und gut, auch wenn es im einen oder anderen Falle unterschiedliche Auffassungen gab. Ich habe das ungute Gefühl, daß sich hier eine Wandlung anbahnt. Was mich angeht, so würde ich das sehr bedauern. Und es ist nicht die Tatsache, daß der Deutsche Sportbund in diesem Jahr erheblich über 7,2 Millionen eingeschriebene Mitglieder nachweist, die mich die Bitte aussprechen läßt, daß Sie einer solchen Entwicklung steuern möchten. Vielmehr glaube ich - es sei dies in aller Vertraulichkeit - vermuten zu dürfen, daß Sie meine weltanschauliche Haltung und Einstellung kennen. Wenn ich es politisch sähe, würde ich annehmen, daß die von mir befürchtete Entwicklung insoweit ihre Problematik hätte. Vielleicht darf ich raten, daß Sie mal mit dem Ihnen ja sicher bekannten und möglicherweise geschätzten Prälaten Bokler, der ja zum engeren Kreis unserer Mitarbeiter gehört und die Zusammenhänge gut kennt, ein Gespräch führen.
Die Einleitung ist recht lang geworden... Natürlich weiß ich, daß die Intervention des Internationalen Presse-Verbandes zugunsten der Zone auf falschen Voraussetzungen beruht. Pressefreiheit ist ein moralischer Begriff, der im Osten einfach nicht zutrifft. Und wer Pressefreiheit fordert, müßte eigentlich auch Pressefreiheit geben, allerdings dann ebenfalls mit Wirkung nach innen. Die Zonenregierung würde nur ausgesuchte, systemhörige Journalisten nach London ausreisen lassen. Aber wir gehen von falschen Voraussetzungen aus, wenn wir meinen, eine internatíonale Organisation würde uns in der Ueberlegung folgen, daß hier eigentlich die Pressefreiheit beginnen müßte. „Das ist Politik“, so ist dann die Antwort, und mit Politik haben wir im Sport nichts zu tun. Hier ist das gleiche Problem wie unmittelbar vor der Entscheidung von Rom, als ich - gemeinsam mit dem Oberbürgermeister von München und dem deutschen Botschafter in Rom - den Herrn Bundeskanzler um einen freundlichen Brief an den IOC-Präsidenten bat, der schon aus protokollarischen Gründen vermißt wurde. Als mir dann der Text des beabsichtigten Briefes durchgesagt wurde, in dem es hieß, die Bundesregierung müsse auf dem Alleinvertretungsrecht Deutschlands bestehen, da habe ich nur gestaunt, wie falsch man das Interesse und die Reaktion internationaler Gremien an den politischen Ansprüchen der Bundesrepublik sieht. Mit einem solchen
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Brief auf dem Tisch des IOC hätten wir in Rom gar nicht erst München zur Abstimmung zu stellen brauchen. Außer unserer eigenen würden wir keine einzige Stimme bekommen haben. Ich habe Ihnen von Rom aus nochmals telegrafiert, als wir die Abstimmung schon gewonnen hatten, und meine Enttäuschung nicht verschwiegen, daß wir in einer so schwierigen Situation so wenig Einfühlsamkeit in Bonn spürten. Mein Betrübnis galt der Tatsache, daß dieses Telegramm niemals beantwortet wurde. Den deutschen Sport kann man ja nun ganz sicher nicht der Nachlässigkeit zeihen, wenn es um die Vertretung der Moralität politischer Rechtsansprüche geht oder darum, dem politischen Mißbrauch des Sports der anderen Seite entgegenzutreten. Und wir haben die Aufgabe zur Wahrung der politischen Neutralität durchaus auch immer aktiv aufgefaßt, haben es an Aufklärung nicht fehlen lassen; aber es besteht eben kein Zweifel an der Tatsache, daß man in internationalen Gremien dieser Art den dauernden Ärger mit den Deutschen leid ist, auch in westlichen Kreisen einfach kein Interesse mehr daran hat, sich für unsere rechtmäßigen politischen Ansprüche einzusetzen, und insoweit hat es die kommunistische Seite noch leichter, weil sie in einem scheinbaren Recht auf Grund der Satzungen aller internationaler Institutionen ist. Wenn wir trotzdem wieder und immer wieder versuchen, den Kampf der Bundesregierung um Wiedervereinigung selbst dann zu unterstützen, wenn wir von der Richtigkeit seiner Strategie nicht in allen Teilen überzeugt sind, wenn wir uns also vorbehaltlos hinter die politische Linie der Bundesregierung stellen, jeden, aber auch wirklich jeden Wunsch der Regierung in dieser grundsätzlichen Linie erfüllen, dann mögen wir einfach nicht mehr hören, „der Sport dürfe keine Außenpolitik machen wollen“...
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DOKUMENT 6
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1604/IV 5 - 88 - 12022/23)
Der Präsident des Deutschen Sportbundes
und des
Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland
- Sekretariat -
46 Dortmund, 12. Okt. 1965
Postfach 362/ 13.10.
Herren
Staatssekretär Dr. Krautwig
- Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen -
Staatssekretär Lahr
- Auswärtiges Amt -
Staatssekretär Dr. Schäfer
- Bundesministerium des Innern -
Ministerialdirektor Dr. Mercker
- Bundeskanzleramt -
Sehr geehrte Herren,
wie zwischen Herrn Staatssekretär Dr. Schäfer und Herrn Daume telefonisch abgesprochen, werden zur Vorbereitung der morgigen Besprechung anbei überreicht:
1. Uebersetzung der in französischer Sprache vor dem Internationalen Olympischen Comitee von Herrn Daume gehaltenen Rede
2. Uebersetzung des Diskussionsbeitrages von Herrn Daume zur Beschuldigung der Bundesregierung durch verschiedene IOC-Mitglieder.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Sekretariat Daume
(unleserlich)
Anlagen
Rede
NIEMAND MEINE HERREN, KANN MEINER REGIERUNG VERBIETEN, DASS SIE DIE IHR ERFORDERLICHEN MASS-NAHMEN ZUM SCHUTZE DER FREIHEIT UNSERES LANDES
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TRIFFT. AUCH SIE ALS INTERNATIONALES OLYMPISCHES KOMITEE KÖNNEN DAS NICHT, DESWEGEN MUSS ICH DIE FORDERUNG NACH EINEM PROTESTSCHRITT, WIE SIE VON MEINEM GESCHÄTZTEN DÄNISCHEN KOLLEGEN IVAR VIND ERHOBEN WURDE, SCHARF ZURÜCKWEISEN. DASS ABER MEIN EBENFALLS SEHR GESCHÄTZTER RUSSISCHER KOLLEGE ANDRIANOW DIESE FORDERUNG UNTERSTÜTZT HAT, ENTBEHRT NICHT EINER GEWISSEN KOMIK, DENN ER SELBST WAR ES JA WOHL, WIE ICH SCHON VORHER AUSGEFÜHRT HABE, DER BEI UNSERER SITZUNG IN TOKIO DURCH MINISTER MASHIN DEN GEIST UND DIE BOTSCHAFT DES HERRN CHRUSCHTSCHOW PERSÖNLICH IN UNSER KOMITEE EINFÜHRTE, SCHNELL NOCH EINEN TAG BEVOR HERR CHRUSCHTSCHOW VON DER POLITISCHEN BÜHNE VERSCHWAND. ABER SOLLTE, WAS ICH NICHT WEISS, HERR ANDRIANOW WIRKLICH MIT UNSEREM BOTSCHAFTER IN MOSKAU EIN GESPRÄCH GEHABT HABEN, SO KANN ICH WEDER IHM NOCH UNSEREM BOTSCHAFTER DAS RECHT DAZU BESTREITEN. IM GEGENSATZ ZU HERRN ANDRIANOW IN MOSKAU, DULDE ICH ABER NICHT, DASS UNSERE REGIERUNG IN BONN UNS HINSICHTLICH IM SPORT ZU TREFFENDER ENTSCHEIDUNGEN VORSCHRIFTEN MACHT. ANDERERSEITS WIRD UNSERE REGIERUNG SICH VON MIR NICHT VORSCHREIBEN LASSEN, WELCHE MASSNAHMEN SIE ZUR VERTEIDIGUNG DER SICHERHEIT UNSERES LANDES ZU TREFFEN HAT. DAS IST IHR ZUSTÄNDIGKEITSBEREICH, IHR RECHT UND IHRE PFLICHT. UND ICH BIN IN DER LAGE, MEINE VEREHRTEN KOLLEGEN, IHNEN HIER MATERIAL AUF DEN TISCH ZU LEGEN, AUS DEM SIE ERSEHEN KÖNNEN, DASS DAS KOMMUNISTISCHE DEUTSCHLAND DIE FRAGE DER DEUTSCHEN OLYMPIA-MANNSCHAFT ZU EINEM POLITIKUM ERSTER ORDNUNG AUFGEBAUSCHT HAT - UND ZU SCHLIMMEREM. NICHT NUR, DASS EINE GEWALTIGE PROPAGANDAWELLE - UNTER STARKER EINBEZIEHUNG EINER EINHEITLICH GELENKTEN PRESSE, FUNK UND FERNSEHEN, BRIEFAKTIONEN, SOGENANNTE „ENTSCHLIES-SUNGEN“ VON BETRIEBEN UND SPORTGEMEINSCHAFTEN USW. - UNSERER SITZUNG HIER IN MADRID DIE DEUTUNG GIBT, DASS HIER DAS HÖCHSTE SPORTLICHE GREMIUM
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DER WELT DIE KOMMUNISTISCHE THESE VON ZWEI ODER GAR DREI DEUTSCHEN STAATEN ZU RATIFIZIEREN HABE, NEIN, MAN HAT BEWUSST PROVOZIERT UND GRUPPEN VON BEKANNTEN OSTDEUTSCHEN SPORTLERN UND OLYMPIA-SIEGERN IN DIE BUNDESREPUBLIK GESCHLEUST, UM HIER POLITISCHE DISKUSSIONS-VERANSTALTUNGEN DURCHZU-FÜHREN. TEILWEISE WURDE DAS SOGAR IN EINER FORM BETRIEBEN, DIE IN IHRER ZIELSETZUNG WEIT WENIGER HARMLOS IST ALS DER ZWECK DIESES KONGRESSES. DIESE SUBVERSIVE TÄTIGKEIT WURDE MIT UNTERSTÜT-ZUNG KOMMUNISTISCHER TARNORGANISATIONEN DURCH-GEFÜHRT UND VERSTÖSST EINDEUTIG GEGEN DIE IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND GELTENDEN GESETZE. DASS EINE REGIERUNG SICH DAGEGEN SCHÜTZEN MUSS, IST, WIE GESAGT, SELBSTVERSTÄNDLICH; JEDE IHRER EIGENEN REGIERUNGEN WÜRDE DAS AUCH TUN. UND WENN DAS NUN ALLES IM HINBLICK UND MIT DER ZIELSETZUNG AUF MADRID GESCHIEHT, DANN KANN ICH MIR DURCHAUS DENKEN, DASS ES REGIERUNGSSEITIG FÜR OPPORTUN GEHALTEN WIRD, AUCH MAL MIT EINEM IOC-MITGLIED ZU SPRECHEN. IM ÜBRIGEN DARF ICH DOCH SICHER ANNEHMEN, DASS SIE: MEINE HERREN KOLLEGEN, IHR EIGENES. URTEIL HABEN, DAS UNBESTECHLICH UND DURCH DIE UNTERHALTUNG MIT EINEM BOTSCHAFTER, DIE JA DOCH NUR INFORMATIVEN CHARAKTER HABEN KANN, NICHT BEEINFLUSSBAR IST. ICH GLAUBE, WIR SOLLTEN... WIEDER ZUR TAGESORDNUNG ÜBERGEHEN.
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DOKUMENT 7
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 10/1)
Abteilung IV 53 Bonn, den 30. September 1965
IV 5 - 88;12022/23
Ref. i. V.: BR I Gracher
A u f z e i c h n u n g
Betr.: Gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft
Hiermit legt Abteilung IV
dem Herrn Staatssekretär
eine Liste der IOC-Mitglieder mit einer kurzen Zusammenfassung
ihrer Haltung, wie sie sich aus der Berichterstattung unserer
Auslandsvertretungen ergibt, sowie eine Namensliste mit dem vermutlichen Verhalten bei der Abstimmung über die gesamtdeutsche Mannschaft mit der Bitte um Kenntnisnahme vor.
Das Bundesministerium des Innern, das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sowie Herr Daume, das Sekretariat des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland und Referat II A 1 erhalten die Listen gleichfalls...
Haltung der nichtkommunistischen IOC-Mitglieder in der Frage der gesamtdeutschen Olympia-Mannschaft aufgrund der Berichterstattung unserer Auslandsvertretungen.
Argentinien
Mario L. Negri’s Haltung ist unverändert positiv in unserem Sinne. Er will seine Argumente gegen zwei deutsche Mannschaften dem IOC noch schriftlich vorlegen (Äußerung des Verbindungsmanns der Botschaft im argentinischen NOK, Rank).
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Australien
Hugh Weir will für Beibehaltung des jetzigen Zustandes stimmen.
Lewis Luxton kann nicht nach Madrid reisen.
Belgien Prinz Alexandre de Mérode wird für Beibehaltung gesamtdeutscher Mannschaft stimmen.
Brasilien
Jean Havelange und Major Silvio Magalhaes Padilha wollen sich für uns einsetzen.
Chile
Dr. A. Rivera Bascur wird für uns stimmen.
Dänemark
Ivar Emil Vind ist nicht von der Botschaft aufgesucht worden, da ein derartiger Schritt angesichts der dänischen Empfindlichkeit unerwünschte Reaktionen hätte hervorrufen können. Vind ist dagegen vom dänischen Außenministerium davon unterrichtet worden, daß die dänische Auffassung über die gesamtdeutsche Mannschaft sich mit unserer decke.
Finnland
Erik von Frenckell erklärte, unserem Standpunkt aufgeschlossen gegenüber zu stehen. Gab zu erkennen, daß er sich in Madrid wahrscheinlich nicht exponieren, sondern mit der Mehrheit stimmen werde.
J.W. Rangell wurde von unserer Handelsvertretung nicht aufgesucht, da er bereits im Vorjahre sein Desinteresse an der Frage deutlich zum Ausdruck gebracht hat.
Frankreich
Francois Piétri, Armand Massard und Comte de Beaumont sind von der Botschaft über das französische Außenministerium um Unterstützung unseres Standpunktes gebeten worden. Sie werden uns nach Ansicht des Quai d'Orsay wie bisher unterstützen.
Griechenland
Admiral Lappas als designiertes neues griechisches IOC-Mitglied versicherte, König Konstantin und er seien gegen eine Änderung des gegenwärtigen Zustandes.
Großbritannien
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Der Marquess of Exeter war nicht umzustimmen. Er will jedoch auf der Tagung in Madrid nicht mit Anträgen hervortreten.
Lord Luke erklärte, er sei persönlich für die Erhaltung der gesamtdeutschen Mannschaft.
Kanada
A.Sidney Dawes kannte und interessierte sich für das Problem nur wenig. Er brachte zum Ausdruck, daß man es im IOC wegen der Form der deutschen Beteiligung an den olympischen Spielen nicht zum Bruch mit der Sowjetunion kommen lassen dürfe.
Kolumbien
Julio Gerlein Comelin will sich mit Nachdruck für uns einsetzen.
Indien
...-D. Sondhi und Raja Bhalindra Singh sind beide eindeutig für die gesamtdeutsche Mannschaft, werden aber nicht an der Tagung teilnehmen.
Iran
Iranisches Außenministerium hat Einwirkung auf Prinz Gholam Reza Pahlawi in unserem Sinn zugesagt. Dieser selbst konnte von der Botschaft nicht erreicht werden, da er sich auf Europa-Urlaub befindet. Iranisches Außenministerium hat jedoch versichert, der Prinz kenne die Problematik und werde den deutschen Standpunkt vertreten.
Irland
Lord Killanin will unseren Standpunkt in Madrid unterstützen. Er hält den Ausgang wegen des Einflusses des Marquess of Exeter jedoch für ungewiß.
Island
Benedikt-G. Waage bezeichnete den Appell von Brundage auch als seine Linie, legte sich jedoch nicht fest. Offenbar findet vor der Abstimmung noch eine nordische Regionalabsprache statt, wobei allerdings nach Ansicht der Botschaft Reykjavik die NATO-Solidarität beachtet werden soll.
Italien
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Giulio Onesti erklärte, auch für de Stefani, er habe volles Verständnis für unseren Standpunkt. Botschafter gewann den Eindruck, daß beide bereit seien, sich für die gesamtdeutsche Mannschaft auszusprechen.
Japan
Dr. Takaishi kann krankheitshalber nicht nach Madrid reisen.
Dr. Ryotaro Azuma bejaht die gesamtdeutsche Mannschaft vorbehaltlos.
Kenia
Reginald Stanley Alexander nahm Demarche der Botschaft wohlwollend auf, ohne sich endgültig festzulegen.
Korea
Das koreanische Außenministerium hat volle Unterstützung unseres Standpunktes zugesagt. Botschaft wird mit Sang Beck Lee kurz vor seinem Abflug nach Madrid sprechen. Ein „Ja“ kann erwartet werden.
Libanon
Cheik Gabriel Gemayel wird auch weiterhin für die gesamtdeutsche Mannschaft eintreten.
Liechtenstein
Der regierende Fürst von Liechtenstein konnte erst am 27. September aufgesucht werden. Bericht liegt noch nicht vor.
Luxemburg
Großherzog Jean wird an der Sitzung teilnehmen. Im Außenministerium fand Botschaft volles Verständnis für unseren Standpunkt. Ein „Ja“ kann erwartet werden.
Marokko
... Mohammed Benjelloun hat sich in einem Brief an unseren Konsul in Casablanca nicht klar geäußert. Der marokkanische Erziehungsminister hat der Botschaft gegenüber erklärt, Benjelloun instruiert zu haben, in unserem Sinne für die Beibehaltung des jetzigen Zu-standes einzutreten.
Mexiko
Marte - R. Gomez und General Jose de Clark haben sich beide eindeutig für uns ausgesprochen.
Nigeria
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Sir A. Ademola glaubt, daß sich in Madrid nichts an der gesamtdeutschen Mannschaft ändern werde. Er ließ durchblicken, daß er mit dem Marquess of Exeter befreundet sei. Legte sich nicht fest, erklärte sich aber bereit, unsere Argumente unvoreingenommen zu prüfen und sich an Ort und Stelle zu entscheiden.
Neuseeland
Sir Arthur Porritt reist nicht nach Madrid.
Niederlande
Jonkheer Herman A. van Karnebeek hat gegenüber dem niederländischen Außenministerium Unterstützung unseres Standpunktes zugesagt.
Norwegen
O.Ditlev - Simonsen Jr. will ohne Vorbehalt für eine gemeinsame deutsche Mannschaft eintreten.
Österreich
Ing. Dr. h.c. Manfred Mautner Ritter von Markhof reist nicht nach Madrid.
Pakistan
Syed Wajid Ali reist nicht nach Madrid.
Panama
Das panamaische Außenministerium hat Dr. Agustin Sosa angewiesen, sich für die Beibehaltung der gesamtdeutschen Mannschaft einzusetzen.
Peru
Eduardo Dibos hat zugesagt, für uns zu stimmen.
Philippinen
Jorge Vargas wird vom philippinischen Außenministerium „entsprechend“ instruiert. Seine positive Stellungnahme dürfte uns sicher sein.
Portugal
Das portugiesische Außenministerium hat zugesichert, auf General Raoul Pereira de Castro einzuwirken, daß er gegen die volle Anerkennung des NOK der SBZ stimme.
Schweden
Bo Ekelund und Lt.-General Gustav Dyrssen wollten sich nicht festlegen. Offenbar wollen sie sich erst in Madrid über die allgemeine Stimmung unterrichten.
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Ekelund will sich im SBZ- Fernsehen für die gesamtdeutsche Mannschaft ausgesprochen haben.
Schweiz
Major Albert Mayer ist wiederholten Bitten der Botschaft um eine Unterredung ausgewichen. „Nein“ wahrscheinlich. Marc Hodler will nicht für zwei Mannschaften stimmen, falls dann Spalterfahne gezeigt und Becherhymne gespielt würde. Sucht nach rechtlichen Argumenten für unseren Standpunkt.
Spanien
Baron de Guell hat sich unzweideutig auf deutschen Standpunkt festgelegt.
Südafrika
Reginald Honey wird das tun, „was sein Freund Daume von ihm will“.
Türkei
Türkisches Außenministerium hat jede Unterstützung zugesagt. Über Gespräch der Botschaft mit Suat Erler liegt noch kein Bericht vor. Dürfte mit „ja“ stimmen.
Uruguay
Dr. Alfredo Inciarte wird sich in Madrid für den Fortbestand der gesamtdeutschen Mannschaft einsetzen. Er glaubt, daß die Entscheidung möglicherweise wiederum verschoben wird.
Venezuela
Dr. Julio Bustamante versprach, den deutschen Standpunkt in Madrid zu unterstützen. Er will sich in Madrid mit dem NOK für Deutschland absprechen.
Vereinigte Staaten von Amerika
Avery Brundage, John-Jewett Garland und Douglas F. Roby sind eindeutig für uns. Brundage stimmt als Präsident nur bei Stimmengleichheit ab.
(Dem Dokument ist noch eine „Abstimmungsliste“ mit mehreren Spalten angefügt, in der das nach den Gesprächen erwartete Abstimmungsverhalten durch kleine Kreuzchen markiert worden war.)
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Die Endphase des DDR-Sports
Von SEBASTIAN DROST
Georg-August-Universität Göttingen Institut für Sportwissenschaften. Vertiefungsveranstaltung Sport und Gesellschaft Blockseminar: „Entwicklung des DDR-Sports“ Sommersemester 1997, Leitung: Dr. Wolfgang Buss
VORBEMERKUNG: Um mir einen leicht „verdaulichen” und zugleich faktenreichen Einstieg in das für mich bisher unbekannte Terrain DDR-Sport zu ermöglichen, habe ich zunächst mehrere Bücher von Klaus Huhn, der auch manchmal unter Klaus Ullrich - oder Klaus Ullrich Huhn - publiziert, gelesen. Parallel las ich ausgewähltes Material, das als Handapparat in der Bibliothek reserviert war. Auf diese Weise und, ergänzend durch Referate von Kommilitoninnen und Kommilitonen, die das Seminar DDR- Sport vor mir belegt hatten, begann sich langsam ein Bild des Themas zusammenzusetzen, welches für mich auch nach diesem Referat noch lange nicht vollständig bearbeitet ist. Schließlich habe ich, da das verwendungsfähige Material zu dem Thema ”Endphase des DDR-Sports” nicht gerade umfangreich ist, Bücher über die Geschichte der DDR gelesen. Schließlich habe ich, um einen Experten zu Wort kommen zu lassen, den Nachfolger Manfred Ewalds, den bis zum 31. Januar 1990 amtierenden Präsidenten des DTSB, Klaus Eichler, am 11. 9. 1997 in Berlin interviewt.
Die politische Situation Ende der 70er Jahre
”Während nach Abschluß der Ostverträge das Wort Entspannung Konjunktur gehabt hatte, wehte 1979 der politische Wind merklich kühler”1), schreibt Markus Wolf in seinem Buch „Spionagechef im geheimen Krieg“ unter der Überschrift „Ein neues 1914?“. In der Tat standen die Zeichen auf Sturm. Die Rüstungsspirale drehte sich immer schneller. Atomraketen mit strategischer Reichweite sollten auf deutschem Boden stationiert werden, als Trennungslinie zwischen den Machtblöcken. Im Dezember 1979 marschiert die Rote Armee in Afghanistan ein. Daraufhin streicht der amerikanische Präsident Jimmy Carter die Zusage einer Lieferung von 17 Millionen Tonnen Weizen an die UdSSR. Zusätzlich stoppen die USA den Export moderner Technologie für die
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sowjetische Erdölförderung und nehmen ihre Waffenlieferungen an Afghanistan und Pakistan wieder auf. Parallel dazu fordert der US-Außenminister Cyrus Vance vom irischen IOC-Präsidenten Killanin und vom Internationalen Olympischen Komitee, Moskau die im Oktober 1974 in Wien zugesprochenen Olympischen Spiele des Jahres 1980 zu entziehen oder sie ausfallen zu lassen. Der Kanadier Kent Pritchard wertet in seinem 1992 erschienenen Buch „Olympia am Abgrund?“ diese Forderung als Ausgangspunkt einer in der olympischen Geschichte beispiellosen Zerreissprobe zwischen Politik und Sport. Daß der Boykott doch relativ „klein” blieb, rechnet Pritchard dem IOC-Präsidenten Killanin an, der mit unbeirrbarem Engagement für die Olympische Idee mit den Worten zitiert wird.“Und wenn ich allein in Moskau antreten sollte - die Spiele finden statt”2). Sie fanden statt, und bis auf die USA und die BRD waren die meisten großen Sportnationen vertreten... Jedoch war es angesichts des Boykotts und der gespannten politischen Lage fraglich, ob die Staaten des Warschauer Vertrages 1984 in Los Angeles an den Start gehen würden. 1983 reiste der IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch zum Turn- und Sportfest nach Leipzig und überreichte unter tosendem Beifall der begeisterten Zuschauer eine olympische Flagge mit folgenden Worten: „An die Staatsführung der Deutschen Demokratischen Republik... Liebe Freunde! Das Internationale Olympische Komitee möchte ihrem Nationalen Olympischen Komitee Dank und Anerkennung für seinen ständigen Einsatz im Sinne der olympischen Ideale und die großartigen Erfolge seiner Sportler bei den Olympischen Spielen ausdrücken. Ich überreiche Ihnen hiermit die gestickte Olympische Fahne zur Erinnerung an das VII. Turn- und Sportfest und die IX. Kinder- und Jugendspartakiade der Deutschen Demokratischen Republik hier in Leipzig”3). Die Flaggenverleihung diente sicherlich auch als Appell an Erich Honecker und Manfred Ewald zu den Olympischen Spielen nach Los Angeles zu kommen, denn für politisch denkende Menschen war es ziemlich sicher, daß der Boykott der USA von 1980 1984 entsprechend beantwortet werden würde. Gegenüber Los Angeles gab es nicht wenige organisatorische und sicherheitstechnische Bedenken, da das IOC zum ersten Mal die Olympischen Spiele einem privatem Organisationskomitee übertragen hatte. Fragen zu Einreiseverfahren, Visa, Landeerlaubnisse, Sicherheit der
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Mannschaft etc. blieben nach Anfrage offen. Besonders die Sowjetunion bestand auf offiziellen staatlichen Garantien, die entsprechend dem IOC Status zu geben waren. „Es gab in den USA offizielle und geduldete Kräfte, die gegen die Sowjetunion hetzten, sie beschimpften und ihren Sportlern mit Mord drohten”4).
So kam es, daß das NOK der DDR am 10. Mai 1984 u.a. folgende Erklärung verabschiedete: „[...] Mit seinem offenen Brief vom 11. April 1984 an den Präsidenten des Organisationskomitees hat der Präsident des NOK der DDR nochmals auf die Verletzungen der Olympischen Charta hingewiesen und die Probleme sichtbar gemacht, deren umgehende Klärung für die Teilnahme der Sportler der DDR an den Spielen der XXIII. Olympiade unerläßlich ist. Dieser Brief wurde bis heute nicht beantwortet, und wir müssen auch feststellen, daß sich nichts zum Guten geändert hat. [...] Das Nationale Olympische Komitee der DDR hat daher in Wahrnehmung der Verantwortung für den Schutz der Ehre, der Würde und des Lebens der Sportler und unter Beachtung der Tatsache, daß somit keine regulären Bedingungen für die Teilnahme der DDR-Sportler gegeben sind, entschieden, nicht an den Spielen der XXIII. Olympiade 1984 in Los Angeles teilzunehmen. Diese Entscheidung richtet sich weder gegen die Bürger noch gegen die Sportler der USA, mit denen wir vielfältige Beziehungen unterhalten und dies auch in Zukunft gedenken werden.5)” Wesentlich für diesen Entschluß ist sicherlich die in der olympischen Geschichte beispiellose Entscheidung des State Department, dem sowjetischen Olympia-Attaché die Einreise mit der Begründung zu verweigern, er stünde im Verdacht, KGB-Agent zu sein6). Das hatte zur Folge, daß die Ostblockstaaten nicht in Los Angeles antraten. Natürlich barg dies Probleme in sich, die Klaus Eichler rückblickend wie folgt formuliert:
„Jeder, der sich im Sport auskennt, weiß ja, wie schwerwiegend eine solche Entscheidung ist. Der bedeutendste sportliche Höhepunkt aller vier Jahre ist mit einer starken Motivation verbunden. Und dann die Frage, ob eine Teilnahme gerechtfertigt ist. Damals hat es in allen Sportverbänden Gespräche gegeben, die letztlich die Überzeugung der Sportler, der Trainer und Offiziellen zum Ausdruck brachten, daß eine Teilnahme nicht geraten ist. Und so lautet auch die Erklärung des NOK der DDR. Obschon wir darüber nicht glücklich waren. Ich schließe hier auch die Führung der DDR ein, was zur Folge hatte, daß der Generalsekretär des ZK der SED,
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der Vorsitzende des Staatsrats, Erich Honecker, seinerzeit unmittelbar nach den Spielen in Los Angeles empfahl, daß unabhängig von dem uns nicht besonders nahestehenden Austragungsort der Olympischen Spiele 1988 in Seoul, die DDR- Manschaft in jedem Fall dort an den Start gehen solle. Was Erich Honecker auch persönlich dann international in die Waagschale geworfen hat z.B. in seinem Auftreten bei der Beratung der Generalsekretäre der Kommunistischen Parteien in Moskau, als er erklärte, daß DDR-Sportler 1988 in Seoul teilnehmen werden. Wohl auch um seinen Kollegen die Entscheidung etwas zu erleichtern. Wir haben argumentiert, die Olympische Idee und alles was sich mit Olympia verbindet, ist so kostbar, daß man es nicht durch politische Rangeleien länger strapazieren kann.7)”
II. Das besondere Verhältnis zwischen DDR und der Sowjetunion
Die Fage, ob die DDR allein überlebensfähig war, erübrigt sich allein anhand der geographischen Betrachtung und der Ausgangssituation nach der Befreiung vom Faschismus. Insbesondere der Außenhandel der DDR mußte zu 70 % mit der SU und anderen sozialistischen Ländern abgewickelt werden, schreibt Erich Honecker in seinen Moabiter Notizen und auf die Frage, ob die DDR ohne die SU nicht lebensfähig gewesen wäre, antwortet Klaus Eichler:
„Sicher, das ist objektiv so gewesen. Was ja zum herannahenden Ende der DDR führte.” Weiter führt er aus: ”Der weltgrößte Handelsvertrag bestand zwischen der DDR und der Sowjetunion (40 % des gesamten Außenhandelsvolumen der DDR). Ganze Industriezweige waren aufs engste mit den gegenseitigen Lieferungen verbunden. Dies hatte seine Gründe, u.a. auch in der Politik der Bundesrepublik, wenn ich folgendes in Erinnnerung rufen darf: Auf dem Gebiet der ehemaligen Ostzone waren nach der Zerschlagung des Faschismus vier Hochöfen vorhanden, die zum Teil so beschädigt waren, daß sie nicht mehr funktionierten. Dagegen verfügte Westdeutschland zur gleichen Zeit über 120 intakte Öfen, vor allem im Ruhrgebiet. Es gab also eine unterschiedliche Ausgangslage. Als es dann einen Roheisen- und Stahlboykott gab, blieb der DDR gar nichts anderes übrig, als eine eigene Basis zu bauen, die dann in Eisenhüttenstadt errichtet wurde. Mit polnischer Kohle und sowjetischem Erz wurde hier Roheisen geschmolzen. Wir haben bis auf unbedeutende eigene Erzvorkommen nichts gehabt, was verwendungsfähig gewesen wäre.
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[...] Die DDR und die Sowjetunion waren wirtschaftlich, selbstverständlich durch die Arbeitsteilung auch wissenschaftlich und nicht zuletzt militärisch so ineinander verwoben, daß die kleine DDR ohne die Sowjetunion nicht überlebensfähig gewesen wäre9).”
Ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der kommunistischen Bewegung stellt dann das Jahr 1985 dar: Im Frühjahr 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. „Die „Wende‟ 1989 wurde, wie man jetzt noch deutlicher sehen kann, durch die radikale Änderung in der Weltpolitik erzwungen, die ihren Ausgangspunkt in der radikalen Änderung der Politik der sowjetischen Führung unter Gorbatschow hatte10), meint Erich Honecker. Und in der Tat ist eine Diskrepanz zu erkennen: Während es innerhalb der Sowjetunion immer mehr abwärts ging, die Versorgung auf das Niveau des Kriegskommunismus sank, Gorbatschow wachsender Kritik, Ablehnung und Feindschaft im eigenen Land gegenüberstand, stieg die internationale Popularität Gorbatschows...
III. Die Auswirkungen der ökonomischen Krise auf den Sport
Dies hatte zur Folge, daß es durch diese Verschiebungen zu Engpässen auf verschiedenen Gebieten kam. So auch im Sport. Mit drastischen Kürzungen hatten alle Bereiche sowohl des Massensports als auch des Leistungssports zu kämpfen, worauf H.J. Teichler, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Potsdam in seiner „Auswertung der Aktenbestände der SED, des Staatssekreteriats für Körperkultur und Sport (STKKS)11)„ hinwies. Daraus lassen sich die Auswirkungen der schlechten ökonomischen Lage auf den Bereich des Sports deutlich ablesen. Doch dies bedeutet keineswegs, daß der Sport am Ende war. So wurde 1970 ein gemeinsames Sportprogramm von Sport-, Gewerkschafts- und Jugendorganisationen ins Leben gerufen, um den Sport in den Betrieben anzukurbeln. Kritische Kenner des DDR-Sports... bewerten dieses Programm wie folgt: „[...] Im Verlaufe der Jahre gewöhnten sich die Betriebsleitungen auch daran, daß sie sich um den Sport zu kümmern haben. Hier war die Wechselwirkung zwischen den erfolgreichen Leistungssportlern und dem Massensport durchaus gegeben. Der Sport als gesellschaftliche Erscheinung geriet immer häufiger in die Schlagzeilen. Die höchsten Parteifunktionäre beschäftigten sich damit, weshalb man
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als kleiner Betriebsleiter natürlich auch auf seiner Ebene dem Sport Aufmerksamkeit zu widmen habe. Sport kam in die Betriebspläne, und die Betriebspläne unterlagen der Rechenschaftspflicht.12)”
Man versuchte, das bestehende Programm auszubauen. Auf der II. IOC-Konferenz zum Massensport schlägt Klaus Eichler am 18.5.1988 in Prag folgenden Weg des Sporttreibens vor:
”Sportkurse, getragen von den Sportgemeinschaften und ihren Sektionen, sind eine populäre Form, Hemmschwellen fürs Sporttreiben abzubauen. Wer gerät als Neuling schon in eine eingespielte Volleyballmanschaft oder in eine durchtrainierte Gymnastikgruppe? In den Kursen kann man lernen, sich sportlich gesund zu belasten, man kann eine, seine Sportart kennenlernen und erntet außerdem als Nebeneffekt das schöne Gefühl, so ganz unsportlich ja nun doch nicht zu sein.13)”
Über die neuen in den Sportgemeinschaften angebotenen Sportkurse wird erstaunt festgestellt, daß vier von fünf der 80.000 vorwiegend nicht im DTSB organisierten Sportfreiwilligen Frauen und Mädchen sind.
Während der Nationalen Gesundheitskonferenz im September 1989 analysiert DTSB-Präsident Eichler, daß die regelmäßige sportliche Betätigung der 19- bis 25jährigen geringer ist als die im Altersbereich von 10 bis 18 Jahren. Dies könne einerseits an den nicht immer in den vielfältigen und unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen der durch den Wandel von Wertvorstellungen und Einstellungen betroffenen Zielgruppen liegen, zum anderen wird der Schluß gezogen, daß es in Zukunft gelingen muß, eine bessere Übereinstimmung zwischen den Angeboten der Schulsportgemeinschaften und den Angeboten, die in den BSG fortgeführt werden können, zu erlangen. Konkret bedeutet dies:
„Gewiß müssen wir noch direkter auf die jungen Leute zugehen. Kraftsport, Skateboard, Karate sind zwar nicht olympiaträchtig, aber machen offensichtlich Freude und sind auch gesund14).”
Hier wird deutlich, daß der DDR-Sport durchaus ein lernfähiges System darstellt.
IV. Interview mit Klaus Eichler am 11. 9. 1997 in Berlin
In dem folgenden Interview geht es um die Schwerpunkte Sport im Alltag und Massensport. Ich erhoffe mir durch die Befragung eines Zeitzeugen eine besondere Authentizität. Das Interview zeigt eine Vielfalt von Aspekten auf, auf die meiner Einschätzung nach im
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Zusammenhang mit der Betrachtung des DDR-Sports hingewiesen werden muß.
Grundsätzliche Bedeutung des DDR- Sports
”Zweifelsfrei sind für den Sport wesentliche Eckpunkte mit den gesamtgesellschaftlichen Entscheidungen verbunden. Wir gingen ja davon aus, daß der Sport Teil der Nationalkultur ist und die Kultur wiederum ein Teil der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Und die Weichen dafür wurden in der DDR auf Parteitagen der SED gestellt, sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Ansprüche an die gesellschaftliche Tätigkeit als auch ihrer materiellen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, was ja für den Sport von großer Bedeutung ist.” ...
„Was die Leistungsfähigkeit unserer Sportler betrifft, so sage ich zunächst einmal, daß sie Ausdruck des Wollens der sozialistischen Gesellschaft war, alle Talente des Volkes, besonders der jungen Generation zu entwickeln. Was zweifelsfrei im Sport besonders gut gelang - aber nicht nur dort.
Wir hatten nicht nur Kinder- und Jugendsportschulen. Es gab spezialisierte Schulen für Kinder mit besonderer musischer Begabung, mit besonderen mathematisch- naturwissenschaftlichen Talenten, wir hatten Schulen für Kinder, die besonders sprachbegabt waren. Wenn die DDR in Sachen Nachwuchsförderung nur im Sport genannt wird, ist dies ein kardinaler Fehler. Der Sport hat nur den Vorzug, daß er meßbar ist. Die internationalen Erfolge der DDR-Sportler konnte man nicht negieren, weil es bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften ein Treppchen gibt. Wenn dort Sportler der DDR draufstanden, konnte man nicht sagen, daß es ganz anders ist. Man kann aber Erfolge auf kulturellem Gebiet, wie wir das gegenwärtig gerade den offiziellen Medien der Bundesrepublik entnehmen können, totschweigen oder diskreditieren. Man kann auch wissenschaftlich-technische Erfolge negieren, aber bei den sportlichen ist dies aufgrund des internationalen Wertmaßstabs eben unmöglich.
Millionen DDR-Bürger waren mit Stolz und Freude mit dem Sport verbunden und freuten sich über die Erfolge. Der Auftritt des DDR-Sports in den internationalen Arenen war für viele auch eine Bestätigung der Leistungsfähigkeit unseres kleinen Landes. Das stärkte auch unsere Motivation. Anfang der achtziger Jahre hat ein westdeutscher Industrieller geäußert, daß der Unterschied zwischen der DDR und der Bundesrepublik unter anderem darin besteht, daß die in der DDR den Sport so leiten, wie
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wir die Wirtschaft, und in der Bundesrepublik der Sport so geleitet wird wie die Wirtschaft in der DDR.
Die sportliche Leistungsfähigkeit ist an gesamtgesellschaftliche Prämissen gebunden und kann nur aus dem Geflecht der Möglichkeiten hervorgehen. Es ist uns dort auf besondere Weise gelungen. Das hat mehrere objektive und subjektive Gründe. Zum Beispiel der Zugang der Talente zum Sport. Für die musische Ausbildung kommen am ehesten die Mädchen und Jungen in Frage, deren Eltern zuhause ein Klavier haben. Daraus resultierte z.B., daß annähernd die Hälfte der Studenten dieser Fachrichtung sich aus Elternhäusern wie Pfarrer, Lehrer und ähnliche rekrutierte. Trotz Musikschulen.
Zum Sport haben ausnahmslos alle Zugang! Im obligatorischen Schulsport ging das los, dann haben wir Spartakiaden veranstaltet. Alle Kinder sollten, konnten und wollten natürlich. Schon der kleinste Erfolg förderte den Ehrgeiz, sich durch regelmäßiges Üben zu vervollkommnen, besser als andere zu sein, den Idolen nachzueifern. So erklärt sich schon, daß wir auf dem Gebiet des Sports besonders erfolgreich waren. Es gibt aber eine Reihe anderer, ganz wichtiger Momente. Ich möchte hier kurz anführen, daß bereits 1950, als es in der DDR noch in manches Haus reinregnete, weil die Dächer nach dem Krieg noch nicht repariert werden konnten, in Leipzig die Deutsche Hochschule für Körperkultur und Sport gegründet wurde. Wohl wissend, daß eine erfolgreiche sportliche Leistungsentwicklung vom Niveau, der Qualität der Trainingswissenschaft und der Trainer abhängt!
Die Trainerakademie in Leipzig, die zunächst darauf ausgerichtet war, bereits tätigen Trainern ihre Hochschulausbildung nebenher zu ermöglichen und dann speziell talentierte Abiturienten zu Sportlehrern, Hochschulsportlehrern und Trainern auszubilden, hat sich bewährt.
Und schließlich ist ein wesentlicher Aspekt das Organisationssystem des Sports. Es hat ermöglicht, die Vielschichtigkeit der Sportgemeinschaften und Sportverbände, die Meisterschaftssysteme, Talentsicht, Bewährungssituationen und öffentliches Interesses zu verbinden.
Zusammenfassend sind es im Wesentlichen vier Aspekte, die den Erfolg des DDR-Sports herbeigeführt haben: Die Talentauswahl und Nachwuchsförderung, die Trainingswissenschaft/Trainingsmethodik, die wissenschaftliche Ausbildung der Trainer und das erfolgreiche Organisationssystem des Sports.
Als der englische Sportminister uns besuchte, hat er bei seiner Rückkehr in London die Presse damit beruhigt, daß es nicht die besonderen
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materiellen Bedingungen sind, mit denen die DDR die außerordentlichen, außergewöhnlichen Höchstleistungen erzielt, sondern daß es das System ist, das diese Leistungen hervorbringt. In diesem Sinne haben sich viele andere Verantwortliche des Weltsports über uns geäußert, und sie haben wohl recht gehabt. Was man unter anderem daran sieht, daß bei den jetzigen internationalen Vergleichen die Bundesrepublik Deutschland immer noch von der Substanz der DDR lebt. Es läßt sich allerdings ablesen, wann dieses Reservoir aufgebraucht ist. Denn mit der „Verwässerung” der Anforderungen an den noch bestehenden Kinder- und Jugend-Sportschulen werden keine Spitzenleistungen erzielt.
Die Trainigszentren sind geschlossen worden, aber die Kinder- und Jugend-Sportschulen existieren zu mehr als der Hälfte noch. Die Aufnahme ist jetzt besonders demokratisch. Jeder, der denkt, daß es für sein Kind gut ist, an der Sportschule zu sein, kann es dort hinbringen. Wenn die Kinder keine Lust zum Trainieren haben, dann brauchen sie nicht zu trainieren. Die Mittel, die dafür eingesetzt sind, können eingespart werden, weil dabei nichts rauskommt. Spitzenleistungen verlangen auf allen Gebieten außerordentliche Anstrengungen, verlangen außergewöhnlichen Einsatz... Bei uns war der Besuch der KJS selbstverständlich freiwillig, aber wer sich dafür entschieden hatte, der unterstand den Regeln, mit höchster Motivation zu trainieren und ebenso fleißig in der Schule zu lernen...
Über die BSG
Es gab sowohl die Möglichkeit für die Kinder und Jugendlichen, in den Betriebssportgemeinschaften aktiv zu sein als auch in Schulsportgemeinschaften und Hochschulsportgemeinschaften.
Frage: Kinder konnten also in den BSG der Betriebe trainieren, in denen die Eltern arbeiteten?
Ja, der Betrieb wurde entsprechend der Gesetze über den volkseigenen Betrieb nicht nur als Gewinnerwirtschaftungsmaschine gesehen, sondern er war für die Werktätigen zugleich wesentlicher Lebensmittelpunkt. Er hat sowohl die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in den Territorien beeinflußt als auch die materiellen und kulturellen Lebensbedingungen der im Betrieb Beschäftigten und ihrer Familien vertreten. Es war ganz logisch, daß die Betriebe die Sportstätten unterhielten, die Kommunen hätten sie gar nicht finanzieren können. Die Betriebe verfügten über Ferienheime, Kinderferienlager, Jugendclub und viele andere Einrichtungen, die gern in Anspruch genommen wurden und die heute bekanntlich vielerorts vermißt werden. Es zählte zu den ersten
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Maßnahmen der Kolonisatoren aus dem Westen, daß sie alles, was keinen Gewinn erbrachte in den Betrieben stillegten. Dazu gehörten der Betriebskindergarten, das Betriebskulturhaus und die Sportanlagen....
Zur Freizeitsportbewegung
Wie viele andere Funktionäre im Sport habe ich natürlich gesehen, daß die sich aufklappende Schere zwischen dem Leistungssport und dem Massensport, die bis zu einem gewissen Grade eine Objektivität hat, sich nicht maßlos öffnen darf. Dafür gibt es verschiedene Gründe:
Wenn nicht mit größter Sorgfalt ständig Talente nachwachsen, verkommt der Leistungssport zum Showgeschäft, wie wir das ja gegenwärtig vielfach haben. [...]
Damit Talente nachwachsen bedarf es sportbegeisterter Menschen, die aufgrund ihrer eigenen sportlichen Tätigkeit, wenn sie älter, reifer, erfahrener werden, auch den Wunsch in sich verspüren, vieles von dem, was der Sport ihnen gegeben hat, der nächsten, der heranwachsenden Generation wiederzugeben. Als Funktionär, Trainer oder Kampf- und Schiedsrichter.
Im DTSB leisteten über 900.000 Menschen ehrenamtliche Arbeit. Rund 400.000 Mitglieder in den Vorständen, Sektionsleitungen bis hin zum Bundesvorstand und den Verbandsleitungen der Sportverbände. 260.000 ehrenamtliche Übungsleiter und 160.000 Kampf- und Schiedsrichter haben teilweise ein- oder gar zwei- bzw. dreimal die Woche einen Sportbetrieb in Gang gehalten, der seinesgleichen suchte. 3,7 Mio Mitglieder des DTSB, die einmal in der Woche sportlich aktiv waren, brachten uns faktisch eine tägliche Großveranstaltung von 500.000 Teilnehmern. Das ist ein Sportbetrieb, der überhaupt nur möglich ist, wenn es die Bereitschaft zur Ehrenamtlichkeit gibt... Wenn die Sporttreibenden das, was die besten Athleten demonstrieren, nicht nachvollziehen können, dann sinkt es herab zum Unterhaltungswert, mit dem man sich nicht mehr identifiziert. Das haben wir in den Sportarten gespürt, in denen es uns an technischer Ausstattung mangelte. Wir waren überzeugt, daß das Interesse der Menschen der entscheidende Faktor dafür war, daß der Sport solche Popularität genoß. [...] Als die DDR das erste mal aufsehenerregend erfolgreich bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexico war, wuchs bei den Offiziellen des DDR-Sports die Möglichkeit - und natürlich auch bei den Sportlern - , bei den Olympischen Spielen 1972 in München dieses Ergebnis noch zu übertreffen. Es war - ganz knapp und deutlich formuliert - eine Gelegenheit den Bundesdeutschen mal zu zeigen, „was ´ne Harke ist“. Das ging bekanntlich auf. Unter
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anderem dadurch, daß zur Erreichung dieses Ziels die Mittel auf die besonders medaillenträchtigen Sportarten konzentriert wurden. Das wird in anderen Ländern bekanntlich ebenso gehandhabt, wie man weiß auch in der heutigen BRD. Kleinere Länder, wie die DDR, verfügen schon objektiv nicht über ein Talentepotential, um alle Sportarten gleichermaßen „bedienen“ zu können.... Ein Land mit knapp 17 Millionen Einwohnern kann nicht so viel großgewachsene Athleten aufbieten, wie man sie im Basketball, Handball, Rudern, und in den Wurfdisziplinen der Leichtathletik braucht. Also wurde gesagt: „Basketball können wir uns schenken, der hat bei uns nicht solche Tradition.” Das war beim Volleyball schon anders, da war die DDR Weltmeister. Das Rudern zählte zu den Galadisziplinen des DDR-Sports... Im Handball hatten wir ein Riesenpotential, die Bundesrepublik ja auch. Heute sind sie aus den ersten Ligen der Welt raus und wurden interessanterweise bei den letzten Olympischen Spielen von Ägypten geschlagen. Was mich nicht so sehr wundert, denn der einstige DDR-Nationaltrainer trainierte jetzt die ägyptische Mannschaft.... Dazu kamen andersartige Beschränkungen im materiellen Bereich. Konkret: Im Schwimmen gab es, wenn ich mich recht entsinne, 38 Goldmedaillen und dazu eine im Wasserball. Die DDR-Wasserballer hätten unbestritten einen europäischen, wenn man gutwillig ist, vielleicht sogar Weltspitzenplatz einnehmen können, beanspruchten aber ein Drittel der überdachten Wasserfläche für das Training. Also war zu entscheiden: Sollen die Schwimmer bei den 38 Medaillen unsere Chancen optimal ausnutzen oder wollen wir auch Wasserball noch fördern? Was kam heraus? Wasserball in das zweite Glied. Das hat natürlich seinerzeit vielen nicht gefallen.... Der Absicht, bei den Olympischen Spielen in München besonders erfolgreich zu sein, folgte also die Konzentration der Mittel und Möglichkeiten. Alle haben sich damals über die Siege gefreut, und manche wollten noch weiter: „Jetzt haben wir die Westdeutschen im Sack, gelingt uns das mit dem Rest der Welt auch noch?” Und so wurden die eigentlich nur für eine gewisse Zeit vorgesehenen Beschränkungen nicht wieder aufgehoben, sondern noch verschärft. Das war ein Fehler. Den galt es 1988 zu reparieren.
Zum sogenannten „Sport zwei“
Die als „Sport zwei“ kategorisierten Sportverbände gibt es in der heutigen Bundesrepublik auch. Der frühere Generalsekretär des Bogenschützenverbandes der DDR sagte mir unlängst: „Damals habe ich mich bei Dir beschwert, daß ich zuwenig Geld für den Verband habe - heute bekommen wir noch viel weniger.” Die Bogenschützen sind also
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auch heute nicht gefragt. Aber diese schon in der Bezeichnung unselige Regelung „Sport eins“ und „Sport zwei“ hatte sehr negative Wirkungen, zumal sich etwa die Hälfte der DTSB-Mitglieder aus diesen Sportarten rekrutierte. Sie fühlten sich immer als die „Zweiten“. Das konnte auf die Dauer nicht gutgehen, zumal es auch dort ohne besondere Förderung Talente gab, denen man durchaus, auch unter Berücksichtigung der eingeschränkten Mittel, hier und dort die Möglichkeit hätte geben können, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen. Das betraf auch die beiden assoziierten Sportverbände, den ADMV, den Allgemeinen Deutschen Motorsportverband, und den DAV, den Deutschen Angler Verband, die beide heute noch bestehen, selbständig und unabhängig von den deutschen Dachorganisationen.
Die generelle Einschränkung der Startmöglichkeiten ist 1988 verändert worden. Daraufhin haben qualifizierte Sportler an verschiedenen internationalen Meisterschaften teilgenommen. Zum Beispiel der bekannte Berliner Motorwassersportler Beckhusen, der in dem Jahre 1989 schon Weltcupsieger wurde.... Den Schachsportlern wurde die Möglichkeit eröffnet, an der Schacholympiade teilzunehmen. Das waren erste und notwendige Schritte, denn das oberste Ziel bestand darin, möglichst allen die Möglichkeiten zur sportlichen Betätigung zu schaffen.... Wie man so schön sagt, erspart der Weg zum Sportplatz den Weg zum Arzt. Es ist viel geleistet worden, den Gedanken des Massensports mit vielen vorhandenen und interessanten Ideen zu fördern, die auch die Gewerkschaften, die Freie Deutsche Jugend unterstützt haben. Der DTSB war dem Verständnis seines Statuts entsprechend Initiator und Organisator des Sports. Und Initiator ist man auch, wenn man irgendwo Leute zum Sport bewegt, ohne festzulegen: ”Du mußt erst Mitglied sein, Du mußt Beitrag abliefern, du mußt irgendwen in den Vorstand wählen usw.” Das ist doch gar nicht nötig. Deshalb haben wir damals allgemeine Sportgruppen initiiert oder Kurse in verschiedenen Sportanlagen eröffnet, in denen junge Leute, oft besonders Frauen, die Möglichkeit wahrgenommen haben, Sport zu treiben, um sich einfach mal auszuprobieren...
Frage: Ist der Massensport gegen Ende der DDR verschwunden?
Verschwunden ist er nicht. Aber ich fürchte, daß er immer schwindsüchtiger wurde. Wir verfügten über etwa 500 bis 600 Sportler der internationalen Spitzenklasse. Weitere 4.000 waren im sogenannten Kaderkreis I, die gewissermaßen auf dem Sprung waren, zur internationalen Spitzenklasse aufzuschließen. Und weitere Kaderkreise,
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das will ich jetzt im einzelnen nicht weiter darstellen, haben vielleicht nochmal 20 - 25.000 Sportler umfaßt. Das wären rund 50.000 Aktive. Und wenn ich die, die in den Trainigszentren und in den Sportschulen aktiv waren, noch dazu zähle, waren es vielleicht rund 200.000... Alles andere war im Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb des DTSB, wie wir es bezeichnet haben. Dazu die allgemeinen Sportgruppen oder Sportkurse. Millionen! Es hat ein außerordentlich starkes Wettkampfsystem gegeben, da der Wettkampf bekanntlich das Salz in der Suppe ist und beim Sport der Vergleich besonders reizvoll ist. Da war früher an den Wochenenden eine Völkerwanderung in der DDR. Und das mit größtem Eifer! Es war ein mitreißendes sportliches Klima. Davon ist vieles weggebrochen...
Frage: Ist das Ende der DDR mit dem Antritt Gorbatschows besiegelt worden?
Mit dem Antritt sicher nicht. Da die DDR ohne die Sowjetunion nicht existenzfähig war, ist natürlich klar, daß mit dem Niedergang der Sowjetunion die Lebensfähigkeit der DDR gegen null ging. Aber es allein auf die äußeren Bedingungen zu schieben, würde nicht den Tatsachen gerecht werden. Leider sind wesentliche Weichenstellungen, die für die Stabilisierung des Sozialismus in der DDR notwendig gewesen wären, nicht oder zu spät vorgenommen worden. [...] Das hat viele objektive und subjektive Ursachen. Ich wäre der letzte, der das der Führung der SED allein in die Schuhe schiebt. Das ist völlig widersinnig, da die SED fast 2,3 Mio Mitglieder hatte und es mit den Mitgliedern der Blockparteien (die heute erfolgreich unter den Rock der bundesdeutschen Großparteien geschlüpft sind), mehr als drei Millionen Menschen waren, die in den Funktionen des Staates, der Wirtschaft, in Wissenschaft und Kultur Verantwortung trugen.
Viele dieser doch gestandenen Männer in der früheren Führung hatten andere Maßstäbe. Als sie aus den Konzentrationslagern und Zuchthäusern kamen, sorgten sie sich, daß die Menschen Arbeit, Brot und ein Dach über dem Kopf bekamen. Dafür haben sie ernsthaft gesorgt. Aber als das erreicht war, gab es andere Ansprüche. Die Bereitschaft, das anzunehmen und zuzuhören und bestimmte Dinge, die in der Startphase der Entwicklung der DDR richtig, notwendig, beispielhaft und förderlich waren, vielleicht auch mal in Frage zu stellen, und Dinge auch zu korrigieren, war nicht besonders ausgeprägt.... Oder daß alles für das Wohl des Volkes getan werden wollte und sollte, führte leider auch ab einem gewissen Punkt zur Gleichmacherei. Es wurde zwar ständig davon gesprochen, daß Leistung sich lohnen muß, aber die, die sich auf das
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soziale Netz gelegt haben, und ganz ruhig liegen blieben, konnten nicht durchfallen. Wir haben keine Szene gehabt, wie am Berliner Zoo, keine Obdachlosen, keine Menschen, die in den Mülltonnen was zu essen suchten. Aber wir hatten eben auch keine Neuseelandreisen. Nun ist die Frage, was Priorität haben soll, wenn es schon nicht für alle reicht. Da würde ich für die Ziele sprechen, die die DDR im Visier hatte, ohne die Dinge gegeneinander aufzurechnen.... Wenn ich es weiter an den Ursprung zurückführe, ist das, was sich in der Wirtschaft abspielte, ein Ausdruck (was ich nur schweren Herzens zugebe und sage) eines Defizits an Demokratie. Ich habe das zu Zeiten der DDR gar nicht so empfunden und hatte in meiner Arbeit kaum Beschränkungen. Was ich für richtig hielt, wurde dort angemeldet, wo es hingehörte und meistens auch umgesetzt. Aber generell galt das eben nicht und schon gar nicht durchgängig. Was zur Folge hatte, daß sich viele gute Gedanken auch von sehr klugen Köpfen in der Wirtschaft nicht umsetzen konnten. Das ist ein sehr tragischer Tatbestand, der viele der seinerzeit Verantwortlichen heute beschäftigt, weil mit etwas mehr Courage mehr möglich gewesen wäre. Vielleicht klingt es etwas unbescheiden, gerade das habe ich im Sport, als mir die Möglichkeit gegeben war, gemeinsam mit vielen Sportfreunden gemacht, die Veränderungen wollten.
Frage: Zur Zeit verschickt die Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) Briefe. Es wird auch versucht, Sportler zu finden, die gegen Trainer, Ärzte und Funktionäre des DDR- Sports Anzeige wegen Körperverletzung erstatten. Haben Sie auch Post bekommen?
Mir haben mehrere Sportler die Briefe gebracht und sich über dieses Vorgehen empört. In der Tat ist die Fragebogenaktion mit der verlangten „Erklärung”, die die genannten Personen bereits als Zeuge mit allen rechtlichen Folgen betrachtet, ungesetzlich und rechtsstaatswidrig. Sie kollidiert vor allem mit den Paragraphen der Strafprozeßordnung, die vorschreiben, daß jede Zeugenbelehrung mündlich und vor der Vernehmung zu erfolgen hat bzw. wie eine Vernehmung zur Sache durchzuführen ist. In wissentlicher Verletzung geltenden Rechts soll es offensichtlich der Einschüchterung rechtsunkundiger Sportler dienen, zeigt die Beweisnot um der unbedingten Verfolgung willen. Es ist übereiltes Handeln im Wettlauf mit der sich nähernden Verjährung. Wenn etwa in der DDR und die Erfolge des DDR-Sports auf die Anwendung unterstützender Mittel zurückgeführt werden soll, dann muß ich zunächst sagen, daß die unterstützenden Mittel in der DDR sehr breit gefächert
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waren. Dazu zählte das Entspannungsbecken nach dem Training, das Mützenaufsetzen zwischen Schwimmhalle und Internat und ging selbstverständlich bis zu medizinischen Mitteln und pharmazeutischen Präparaten. Für letztere wurden Erfahrungen des sportlichen Gegners erschlossen. Unsere Sportler haben bei den amerikanischen und westdeutschen Athleten gesehen, was es da so gibt. Die für unsere Sportler ungewohnte Pilleneinnahme ihrer Kollegen hat Neugier geweckt und die zurückgelassenen Pappschachteln haben schließlich enträtselt, was da eigentlich Sache ist.
Später wurde die systematische, von Ärzten arrangierte Verabreichung von Anabolika in den alten Bundesländern sogar wissenschaftlich dokumentiert. Die Kölner Fachzeitschrift ”Sportarzt und Sportmedizin” Heft 11/1968 veröffentlichte die von dem Ex-Sprinter Prof. Dr. Manfred Steinbach gewonnenen Erkenntnisse aus seinen Doping-Versuchen an 125 Jugendlichen. Das Zitat wird sicher noch eine Rolle spielen: ”In erklärlicher Sorge, ins Hintertreffen zu geraten, wird der Sportarzt ständig mit entsprechenden Wünschen von den Athleten angegangen ... Bedeutsam ist die Tatsache einer einwandfreien Erhöhung der Armkraft-Zuwachsrate bei... Dianabolabgabe... gelingt es tatsächlich bei verminderter Trainingsbelastung die Ergebnisse zu erreichen, die sonst erst bei stärkerem Training auftreten ... Nach bisherigen Beobachtungen erweist sich Anabolicum als ziemlich ungefährlich, dennoch ist es... nur unter strenger ärztlicher Aufsicht zu verordnen.” Also, wir haben das auf keinen Fall erfunden. Und allen, die sich einbilden, daß man mit Pillen zu Olympiasiegen kommen kann, kann ich nur sagen, wenn dem so wäre, dann gäbe es nur Olympiasieger in der Welt. Trotzdem wurde und wird - heute mehr denn je - gedopt. Die Zeitschrift ”DAS PARLAMENT” berichtet über die Sitzung des Sportausschusses des Bundestages vom 11. Juni 1997 ”von mehr als drei Todesfällen von Sportlern, die Anabolika eingenommen hatten, allein im Bereich des Instituts für Rechtsmedizin München”, die Prof. Hans Sachs benannte. Zugleich war von der Schwierigkeit die Rede, Doping zu definieren, was schon seit 1952 versuchte werde (Prof. Dirk Clasing, Münster). Im Falle des DDR-Sports ist das natürlich geklärt. Das sportliche Duell BRD/DDR sah meist die DDR vorn. Das soll nun nachträglich durch Staatsanwälte und Richter korrigiert werden. Ob das dem deutschen Sport hilft? Man wird sehen. Besonders gespannt kann man auf den denkbaren Gutachter Steinbach vor Gericht sein...
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In einem bin ich mir gewiß. Den sportbegeisterten Ostdeutschen wird die Erinnerung an die bedeutenden Erfolge der besten DDR-Athleten bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und anderen Höhepunkten des internationalen Sports nicht zu nehmen sein. Überhaupt, war Jürgen Sparwasser beim 1:0 in Hamburg nicht gedopt? Eigentlich wäre das Tor ja anders kaum zu erklären.
Und was ist mit den neuen Helden aus ostdeutschen Landen, mit Jan Ullrich, Erik Zabel, Mathias Sammer, Lars Riedel, Astrid Kumbernuss, Grit Breuer?
Schlußbemerkung
Bei der Betrachtung der Statistiken ist eine ständige Leistungssteigerung der Mannschaft der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) während der Olympischen Winterspiele ebenso zu erkennen wie bei den Sommmerspielen. Nur ist hier eine Besonderheit zu beachten: Die Zahl der Medaillen der olympischen Spiele in Moskau ist relativ hoch, da die USA als große Sportnation die Olympiade boykottiert hat. Berücksichtigt man diesen Hintergund, ist der statistische Abstieg von 1980 zu 1988 erklärbar, obwohl es einen qualitativen Anstieg gegeben hat. Die DDR ließ in der Rangliste der Medaillen die USA hinter sich. Während der Erstellung dieses Referats und bezüglich unseres Berlin-Aufenthalts am Wannsee ist mir aufgefallen, daß ein sehr hohes Augenmerk auf den Leistungssport gelegt wurde. Ich habe dadurch zunächst den Eindruck gehabt, daß der Massensport, der hauptsächlich in den Betriebssportgemeinschaften praktiziert wurde, vernachlässigt wurde und kaum noch existent sei. Ich habe jedoch eher den gegenteiligen Eindruck, soweit ich das beurteilen kann. Zur „Aufarbeitung” der Vergangenheit möchte ich bemerken, daß es offensichtlich Bestrebungen gibt, alles was mit der DDR in Verbindung steht, zu diskreditieren. Auch den DDR-Sport. Angesichts der Dopingfälle in der BRD empfiehlt sich meiner Meinung nach eine etwas zurückhaltendere und differenziertere Betrachtung. Eine Aufarbeitung der DDR-Geschichte, der die Justiz auf dem Fuße folgt und eher auf Rache als auf Aufarbeitung setzt, wird weder den olympischen Geist fördern, noch die sportliche Bewegung voranbringen.
ANMERKUNGEN
1) Wolf, Markus, Spionagechef im geheimen Krieg, München 1997, S. 323
2) Pritchard, Kent, Olympia am Abgrund?, Berlin 1992, S. 22
3) Pritchard, Kent, Olympia am Abgrund?, Berlin 1992, S. 31
4) Ewald, Manfred, Ich war der Sport, Berlin 1994, S. 181
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5) Erklärung des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, in : Der Leichtathlet 20/84, Berlin 1984, S. 2
6) Pritchard, Kent, Olympia am Abgrund?, Berlin 1992, S. 71
7) Interview mir Klaus Eichler am 11. September 1997 in Berlin
8) Ebenda
9) Ebenda
10) Honecker, Erich, Moabiter Notizen, Berlin 1994, S.23
11) Teichler, H.J., Projektbericht: Die Leistungsförderung der DDR unter den Bedingungen der ökonomischen Krise in den 80er Jahren unter besonderer Berücksichtigung des Sportstättenbaus, Kopie aus Ordner der IFL-Bibliothek, S. 2
12) Seifert, Manfred, Ruhm und Elend, Berlin 1990, S. 157 ff.
13) Manuskript der Rede Klaus Eichlers während der II. IOC-Konferenz zum Massensport am 18. Mai 1988 in Prag
14) Manuskript der Rede Klaus Eichlers während der Nationalen Gesundheitskonferenz im September 1989, S.8
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Zum „Märchen“ vom Breitensport
von MARGOT BUDZISCH
Ein Interview unter der Titelzeile "Das Märchen vom Breitensport"1), das die Märkische Allgemeine mit Prof. Dr. TEICHLER vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Potsdam im November des vergangenen Jahres veröffentlichte, war Anlaß für eine kontrovers geführte, vor allem aber aufschlußreiche Diskussion. Denn es meldeten sich Leser, die den Breitensport in der DDR ebenso aus eigener Erfahrung kannten wie den in der BRD heute. Frau D. (26.11.1997) stellte zum Beispiel zum DDR-Sport fest: "Für mich hat es sehr wohl eine breite Sportförderung gegeben. Meine beiden Kinder konnten intensiv ihrem Hobby Fechten beziehungsweise Judo nachgehen und wir konnten uns das durch die Kinder- und Jugend-sportförderung leisten."2) Sie schilderte auch, was sie selbst heute aufwenden müssen, damit der jüngste Sohn weiter Turniertanz betreiben kann und mahnte infolge ihrer eigenen Erfahrungen am Schluß ihrer Zuschrift an, es "gibt sicher vieles, was im Zusammenhang mit dem Sport der DDR kritikwürdig ist, aber dann bitte von jemandem, der es selbst erlebt hat und auch realistische Aussagen trifft."2) Herr B. (27.11.1997) machte auf offensichtliche Widersprüche im Interview aufmerksam und bezweifelte, daß einzelne Aussagen von Prof. Dr. TEICHLER auch belegt werden können.3) Herr K. (3.12.1997), Abgeordneter der PDS im Bundestag, verwies auf die Finanzierung der Betriebssportgemeinschaften (BSG) und nannte die Summen, die der BSG des Berliner Wohnungsbaukombinats 1972 und 1989 zur Verfügung standen, ohne die jeweiligen Mitgliederzahlen der BSG zu vergessen.4) Selbst Prof. Dr. BAUR vom selben Institut mahnte "analytische Schärfe" und "sorgfältige Prüfung von weitreichenden Schlußfolgerungen"5) an. Schließlich schrieb Prof. Dr. TEICHLER in einem Leserbrief (10.12.1997): "Natürlich gab es in der DDR Breiten- und Freizeitsport! ... Der Massen- und Volkssport, wie er auch genannt wurde, wurde in der DDR in erstaunlich großem Umfang praktiziert aber ungleich weniger gefördert als der prestigeträchtige Spitzensport."6) Und er versuchte, diese These durch ausgewählte Beispiele zu belegen. Bezüglich der Lesermeinungen stellte er fest: "Das...Mißverständnis geht
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offensichtlich auf die unglücklich formulierte Überschrift des Artikels zurück, auf die der Interviewte keinen Einfluß hatte."6) Die kontrovers aber sachlich geführte Debatte krönte am 12. Dezember ein offenbar durch die verschiedenen Zuschriften herausgeforderter Leser, der sich vehement für die im Interview geäußerten Auffassungen einsetzte und empört äußerte: "Übrigens stammt der attackierte Prof. Dr. TEICHLER aus Finsterwalde (DDR). Er sollte auch deshalb nicht mit Totschlagargumenten bekämpft werden, weil er im Gegensatz zu den bis heute auffällig schweigsamen hiesigen Sportexperten seine Thesen mit soliden Befunden unterlegt."7)
Diesen insbesondere durch den zuletzt veröffentlichten Leserbrief keineswegs mehr sachlich zu bezeichnenden Diskurs brauchte man weder erwähnen oder gar dokumentieren, wäre er nicht auch symptomatisch für Forschungen zur Sportgeschichte der DDR. Denn in dem Interview wurde von Prof. Dr. TEICHLER tatsächlich gesagt: "Bei der enormen Leistungsfähigkeit des DDR-Spitzensports ist verwunderlich, daß heute nur noch zehn Prozent der einstigen DDR-Bevölkerung im Sport organisiert sind und im Westen über 30 Prozent. Die Mär von der Pyramide, also vom Breitensport als Unterbau für den Spitzensport, kann wohl ad acta gelegt werden."8)
Diese These - im zweiten Teil mehr als Hypothese formuliert - spricht für sich. Sie bedarf keines Kommentars oder einer wertenden Interpretation weder aus fachwissenschaftlicher noch untersuchungsmethodischer oder logischer Sicht. Sie ist entlarvend und macht deutlich, daß allein hinsichtlich der wissenschaftlichen Exaktheit vielfältige Fragen aufgeworfen werden können und sicher auch müssen. Denn die Leser haben als Zeitzeugen reagiert und eigentlich alle mittels eigener Belege die Chronistenpflicht des Forschers zur Zeitgeschichte angemahnt, falls dieser dem Anspruch einer distanzierend-vermittelnden wissenschaftlichen Analyse des historischen Geschehens gerecht werden will. Und der Leserbrief von Prof. Dr. TEICHLER selbst hat genau das ganz nachdrücklich offenbart, was die Zeitzeugen vermißten, wenn es heißt: "Thema des Interviews war nicht der Breitensport, sondern allein und ausschließlich der Leistungssport der DDR, der gegenüber dem Breitensport privilegiert wurde.
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Der DTSB hatte zum Schluß über 3,4 Millionen Mitglieder. Die Masse des Geldes wurde aber für die 1800 Trainingszentren, die 25 KJS und die Sportclubs, d.h. für rund 80 000 Nachwuchs- und Leistungskader in den drei Förderstufen ausgegeben. Die daraus resultierende Vernachlässigung der Sportinfrastruktur für die Bevölkerung ist neben dem schwierigen Neuaufbau eines freien Vereinssystems eine der Hauptursachen für den heute noch zu beklagenden geringen Organisationsgrad."9) Angesichts des Forschungsstandes10) muß sich der Historiker schon fragen lassen, warum Sportförderung so beharrlich und offenbar auch wider besseres Wissen nahezu einzig und allein auf den DTSB, sein Budget, seine Orientierung auf Sport I und II reduziert und zurückgestutzt wird. So ist der Frage nach der Sportförderung in ihrer Gesamtheit oder der Frage, inwieweit das in der Verfassung garantierte Recht der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich von Körperkultur und Sport11) in der DDR realisiert worden ist, nicht im mindesten beizukommen, so bedeutungsvoll der DTSB im System der Sportförderung auch gewesen sein mag.
Das wird auch nicht durch die verschiedenen Verweise, z.B. auf "die von der DTSB-Führung mehr geduldete als geförderte Rennsteig-Laufbewegung" oder das Ausbildungsprofil oder den Absolventeneinsatz der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) von 1989 und andere Daten12) gemildert. Die angeführten Belege sind und bleiben einzelne Primärdaten, die bekanntlich für sich genommen keinen großen Wert besitzen. Sie erhalten ihren wissenschaftlichen Wert erst als Elemente einer Datenmenge, die das Gesamte repräsentieren und den Verhältnissen dieser Gesamtheit gerecht werden. Außerdem - so RÜSEN - "Geschichten sind nicht schon dann gut begründet, wenn das, was sie erzählen, sich wirklich ereignet hat. Da man dieselben Ereignisse auch in durchaus unterschiedlichen, ja einander widersprechenden Geschichten erzählen kann, bezieht sich die Begründbarkeit einer Geschichte als Geschichte gar nicht ausschließlich auf ihren Erfahrungsgehalt, sondern vielmehr auf die narrative Organisation dieses Gehalts in einer Geschichte."13) Allein die Eigenarten wissenschaftlicher Primärdaten nicht hinreichend zu berücksichtigen oder die Bevorzugung einzelner Daten führt letzlich zur Verdrängung oder gar zur Ignoranz geschichtlicher
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Wahrheiten, die dann aus möglicherweise lauteren Absichten und Bemühungen nichts weiter als eine Farce machen.
Es reicht auch nicht der Hinweis, daß man nur einen bestimmten Zeitabschnitt der Geschichte des DDR-Sports oder des Leistungssports untersucht, insbesondere dann, wenn man zugleich behauptet: "Der Massen- oder Volkssport ... aber ungleich weniger gefördert als der prestigeträchtige Spitzensport."14) Solch eine generelle Aussage ist also schon formuliert, das Urteil ist gefällt. Und es sind wesentliche Ursachen für heutige Kalamitäten natürlich im Gestern gefunden, obwohl weder ausreichend Daten noch Dokumente für die Sportförderung als Ganzes, in ihrer Gesamtheit berücksichtigt wurden. Auch die für die Verifizierung und Falsifizierung solcher und anderer Aussagen notwendigen Analysen mehrerer historisch relevanter Quellen15) stehen noch aus oder sind noch nicht abgeschlossen, ganze Quellenbereiche fehlen und es ist vor allem fast ausschließlich mit Archivbelegen gearbeitet worden. Aber aus "Archivalien allein entsteht noch kein zutreffendes Geschichtsbild"16) betont H. WEBER im Wissen um die Probleme bei der Erforschung der DDR-Geschichte ebenso nachdrücklich wie den Umstand, daß offenbar "beim Stolz über neue Quellenfunde so manche Binsenwahrheit vergessen (wird), die zum Handwerkszeug des Historikers gehört und bereits im Proseminar gelehrt wird." 17) Dem ist nichts hinzuzufügen.
ANMERKUNGEN:
1) Das Märchen vom Breitensport. Prof. Dr. Hans Joachim Teichler erforscht die Erfolge des DDR-Leistungssports. Interview. - Märkische Allgemeine vom 20.11.1997, S. 3
2) Daenzer, C.: Finanzieller Aufwand in keinem Vergleich zu früher. - Märkische Allgemeine vom 26.11.1997, S. 11
3) Bardeleben, G.: Nicht alle maßen nur nach Punkten und Medaillen. - MAZ 27.11.1997, S. 12
4) Kutzmutz, R.: Bitte mehr Akribie. - Märkische Allgemeine vom 3.12.1997, S. 11
5) Baur, J.: Unscharfe Begriffe taugen nicht für scharfe Analysen. - Märkische Allgemeine vom 6./7.12.1997, S. 11
6) Teichler, H.J.: Mißverständnis geht auf Überschrift zurück. - Märkische Allgemeine vom 10.12.1997, S. 11
7) Kruczek, M.: An ehrenamtlichem Engagement keine Zweifel. - Märkische Allgemeine vom 12.12.1997, S. 11
8) Das Märchen vom Breitensport, a.a.O.
9) Vgl. Teichler, H.J.: Mißverständnis ..., a.a.O.
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10) Vgl. Bernett, H. (Hrsg.): Körperkultur und Sport in der DDR, Schorndorf 1994
11) Vgl. Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1974, S. 27 ff.
12) Vgl. Teichler, H.J.: Mißverständnis ..., a.a.O.
13) Rüsen, J.: Narrativität und Modernität in der Geschichtswissenschaft. - In: Rossi, P. (Hrsg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. - Frankfurt am Main 1987, S. 235
14) Vgl. Teichler, H.J.: Mißverständnis ..., a.a.O.
15) Weber, H.: "Asymmetrie" bei der Erforschung des Kommunismus und der DDR-Geschichte? - Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B26/97, 20. Juni 1997, S. 11
16) Ebenda
17) Ebenda
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Der Fall „Natan gegen Mengden“
Von KLAUS HUHN
Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn fiel mir mehr zufällig eine Akte in die Hand, die ebenso interessant wie aufschlußreich ist. Es geht um eine Eingabe, die der in England lebende Alex Natan über die bundesdeutsche Botschaft in London an die Bundesregierung gerichtet hatte. Zur Person Natans kann man ihn selbst zitieren. In seinem Buch „Sport aus Leidenschaft“1) schrieb er über sich in einem kurzen Nachwort: „In den Rekordlisten des Dritten Reiches konnte man lesen, daß der deutsche und der Weltrekord der 4 x 100-m-Meter-Staffel von drei Läufern und einer Lücke des Sport-Club Charlottenburg gehalten werde. Diese Lücke war ich.“ Zu Beginn der dreißiger Jahre war Alex Natan nach England emigriert und da er nach den bald darauf in Kraft tretenden faschistischen Rassegesetzen nicht mehr für Charlottenburg, Berlin oder Deutschland hätte starten dürfen, korrigierte man jene Rekordliste. Natan gehörte bald zu den renommiertesten britischen Sportpublizisten. Am 30. April 1964 schrieb er jenen leider in den Akten nicht bewahrten Protestbrief gegen den Nazi-Sportführer Guido von Mengden, der in der BRD 1951 zum Geschäftsführer der Olympischen Gesellschaft gewählt wurde, 1961 sogar zum Generalsekretär des NOK der BRD und von 1954 bis 1963 als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Sportbundes (DSB) fungiert hatte. Der Sporthistoriker Hajo Bernett hatte sich 1989 mit Mengdens Funktionen befaßt und schrieb über die, die er zwischen 1933 und 1945 bekleidete: „... einige Daten zur Information...: Geschäftsführender Direktor des Westdeutschen Spielverbandes (1925 - 1933), Pressewart des Deutschen Fußballbundes und Pressereferent des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen DRL (1935), Stabsleiter des NS-Reichsbundes für Leibesübungen NRL und Hauptschriftleiter von „NS-Sport“ (1939-1945)... Seine Glaubenssätze verpflichteten das Heer der Sportler zur Treue auf den Führer, der dem deutschen Sport erst die „richtige Gewehrlage“ beigebracht‟ hatte.“2) Der Protestbrief Natans war nach Bonn geleitet und von dort auch Willi Daume übermittelt worden. Der antwortete dem zuständigen Legationsrat Dr. Dvorak am 20. Januar 1965:
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„...anläßlich unserer kürzlichen Begegnung in Bonn erfuhr ich, daß Sie meine Stellungnahme in obiger Sache auch dem Petitionsausschuß des Bundestages zugängig machen wollen. Da scheint es mir nicht unerheblich zu sein, zwei eidesstattliche Erklärungen beizufügen, damit auch zur Persönlichkeit des Herrn von Mengden aus eigenem Erleben während der Zeit des Dritten Reiches ausgesagt wird. Damit soll nun von mir nicht auf das leidige System der sogenannten „Persil-Scheine‟ zurückgegangen werden...“3) Die „Persilscheine“ stammten von dem Kleinmachnower Sportjournalisten Carl Koppehel, und vom Präsidenten des DFB, Dr. P.J.Bauwens. Sie sind für die Klärung des Sachverhalts relativ unerheblich. Am 31. März 1965 schickte die bundesdeutsche Botschaft in London eine Mitteilung an das Auswärtige Amt in Bonn, in der mitgeteilt wurde, das dem „deutschen Emigranten“ Natan ein Brief Daumes übermittelt worden sei´. „Daraufhin hat Herr Natan in einem Schreiben an die Botschaft die Erklärungen von Herrn Daume als „völlig unbefriedigend‟ bezeichnet und seine alten Beschuldigungen wiederholt... Der Schriftwechsel in dieser Angelegenheit läßt erkennen, dass wohl kaum Aussicht besteht, einen Ausgleich zwischen beiden Seiten herbeizuführen. Die Botschaft möchte daher vorschlagen, die Angelegenheit bis auf weiteres auf sich beruhen zu lassen.“4) Lesenswert nicht nur für Historiker der Brief der Botschaft: „Dem Auswärtigen Amt liegt nunmehr eine Stellungnahme des Deutschen Sportbundes... vor. In dieser... heißt es: „Es ist zutreffend, dass Herr von Mengden im Dritten Reich eine führende Funktion in der Sportverwaltung hatte. Seine Verbindung zur NSDAP und deren Gliederungen war rein nominell. Sie wurde - zum Teil nachweislich ohne eigenes Wissen - automatisch vollzogen, nachdem von Mengden in die Reichssportführung berufen worden war. Der Genannte hat niemals irgendwelchen aktiven Dienst in der NSDAP oder deren Gliederungen ausgeübt... Von Mengdens Vergangenheit ist sehr sorgfältig untersucht worden. Das Ergebnis war die absolute Rechtfertigung des Genannten...‟5)
Auf diesen Brief hatte Natan am 26. Februar 1965 geantwortet: „Die mir übermittelte Stellungnahme... ist völlig unbefriedigend. Die Eintragungen in der NSDAP Karthotek, die im Documentary Centre in Berlin-Zehlendorf liegen, stehen in völligem Widerspruch zu der Versicherung, daß von Mengden‟s Verbindung zur NSDAP und
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deren Gliederungen „rein nominell‟ gewesen sein soll. Die Machtposition des Herrn von Mengden im Sport des Dritten Reichs war so überragend und gefährlich, dass sie ihm den Beinamen des „Mephisto des deutschen Sports‟ eingetragen hatte. Es ist bezeichnenderweise auffallend, daß der Deutsche Sportbund mit keinem Wort das Entnazifizierungsverfahren und das verhängte Schreibverbot gegen Herrn von Mengden erwähnt noch mit einem Wort auf die Hetzartikel eingeht, die Mengden im „Reich‟ veröffentlicht hat... Es hat den Deutschen Sportbund fast 10 Monate in Anspruch genommen, um diese völlig ungenügende Erklärung zusammenzustellen. Ich erwarte deshalb, dass sich das Auswärtige Amt weiterhin mit der Angelegenheit befassen wird.“6)
Die Erwartung Natans erfüllte sich nicht. Das Auswärtige Amt befand in Übereinstimmung mit dem Herrn Bundesminister des Innern die „Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen“7) und wies die Londoner Botschaft an, sich dementsprechend zu verhalten.
ANMERKUNGEN
1) Natan, Sport aus Leidenschaft. Zürich, 1956
2) Bernett, Stuttgarter Zeitung, 26.1.1989
3) Brief Daume, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn, IV 5, Band 1606
4) Brief der Botschaft der BRD, London, ebenda
5) Brief der Botschaft der BRD an Natan, ebenda.
6) Brief Natans an die Botschaft, ebenda.
7) Auswärtiges Amt an BdI vom 27. April 1965, ebenda
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REZENSIONEN
Der geteilte deutsche Sport
(Offener Brief - statt einer Rezension
An den Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft
Herrn
Dr. Martin-Peter Büch
Carl-Diem-Weg 4
50933 Köln
Sehr geehrter Herr Büch,
das von mir zu besprechende Büchlein erschien unter dem Namen der „Berichte und Materialien des Bundesinstituts für Sportwissenschaft; Bd.1997,3.“ Deshalb richte ich meinen Brief an Sie, denn es hat bei mir als Teilnehmer und Referent dieser Tagung einen höchst widersprüchlichen Eindruck hervorgerufen. Das rührt daher, daß eine beträchtliche Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Ablauf und dem Inhalt der Tagung und dem gedruckten Text besteht. Das ist auch aus den entsprechenden Veröffentlichungen des Jahres 1995 ersichtlich. Es wird Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, daß nicht nur in der Tagespresse, sondern auch in den dvs-Mitteilungen Nr.2/1995 S.44 f. recht ausführlich, - wenn auch beträchtlich subjektiv gefärbt und in mancher Hinsicht mißdeutend - berichtet worden ist. Ein Vergleich der dvs-Information mit dem vorliegenden Text der „ Dokumentation“ und den Unterlagen von der Tagung zwingt in verschiedener Hinsicht zu ergänzenden und kritischen Bemerkungen. Zunächst ist - inhaltliches danach - die Methodenfrage zu bewerten. In der Einleitung stellt HARALD BRAUN eine Tagung vor, die so nicht stattgefunden hat. Er weicht von der Wahrheit und Wahrhaftigkeit ab, indem er es unterläßt, drei Beiträge auf dieser Tagung zu nennen, die dort gehalten und diskutiert worden sind. Überdies geht er auch auf die gesamte Dis-kussion nicht ein. Es handelt sich um die Beiträge von KLAUS HUHN: Der Einfluß der Hallsteindoktrin auf die Entwicklung der deutsch-deutschen Sportbeziehungen unter Berücksichtigung KURT EDELs; GERHARD GRASMANN: Die internationalen Sportbeziehungen der DDR in den 60er Jahren, dargestellt anhand der internen sportpolitischen Akten der DDR, und HANS SIMON:
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Arbeitersport im Traditionsverständnis während der 40er und 50er Jahre in der SBZ/DDR.
HARALD BRAUN gibt keine Erklärungen für die Unterschlagung der genannten Beiträge und auch nicht dafür, daß einige andere der gedruckten Texte - schon aus Zeitgründen - so gar nicht hätten gehalten werden können. Sie sind m.E wenigstens in zwei Fällen entschieden erweitert und abgeändert worden. Giselher Spitzer hat im Text bzw. in einer Fußnote festgehalten, daß sein Manuskript erst ein halbes Jahr nach der Tagung beendet worden ist.
Es ist also zu fragen: Weshalb haben die Herausgeber bzw. HARALD BRAUN als Verfasser der Einleitung keine Begründung für die Eliminierung von drei Beiträgen gegeben?
Es wird so ein vom tatsächlichen Verlauf und Inhalt der Tagung abweichender Eindruck vermittelt. Das muß schon wegen des geschichtlich und politisch brisanten Themas der Tagung verwundern und verlangt Aufklärung.
Auffällig ist allerdings, daß die drei gestrichenen Autoren aus dem Kreis der DDR Sporthistoriker stammen. Bemerkenswert ist außerdem, daß die Einleitung mit herablassenden Formulierungen vermerkt, nachträglich die Stellungnahme von ARND KRÜGER zu den sensationell aufgemachten Zitaten aus den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zu den Kontakten von KURT EDEL zu ARND KRÜGER „ohne Änderung zu veröf-fentlichen!“ Das scheint wohl in den Augen der Herausgeber eine Gnade zu sein?
Es muß eine seltsame Objektivität sein, die es HANS JOACHIM TEICHLER gestattet, die MfS-Akten ausführlich zur Person von ARND KRÜGER zu zitieren und dem „Opfer“ ARND KRÜGER die Einsicht nicht bzw. erst in späterer Zukunft zu gestatten. Ist Weglassen oder Streichen anderer Meinungen und Inhalte ein mit wissenschaftlicher Redlichkeit zu vereinbarendes Verfahren? Wird nicht - wenigstens im Ansatz - geschichtliche Wirklichkeit des Jahres 1995 in der Gegenwart manipuliert?
Wird mit der angeblichen Anonymisierung, von der TEICHLER behauptet sie gepflegt zu haben, nicht Schindluder getrieben, wenn so viele Details aus dem Leben des „Anonymisierten“ auf der Tagung genannt wurden, sodaß sogleich nahezu allen An-wesenden klar war, daß es nur ARND KRÜGER sein konnte?
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Im Übrigen hat ARND KRÜGER in seinem Beitrag sehr prinzipiell Position bezogen. Insofern ist die tatsächlich erzwungene Aufnahme seiner Erklärung zugleich der Beweis für die methodologische Unzulänglichkeit wie der kollegialen Umgangs-formen TEICHLERscher Art.
Die Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft tat sich schon aus diesen Gründen - nicht nur aus juristischen - selbst einen guten Dienst, einer solchen Schrift ihr Protektorat zu verweigern. Allerdings bleiben Fragen offen, die von Ihnen oder den Herausgebern zu beantworten wären.
Zu einigen inhaltlichen Apekten der abgedruckten Beiträge: CHRISTOPH KLESSMANN vom Institut für Geschichte der Universität Potsdam referiert zu grundsätzlichen Problemen und Perspektiven der gegenwärtigen DDR-Forschung, weist auf das große Interesse, die Vielzahl der Projekte in Nutzung der (fast) gänzlich geöffneten DDR-Archive hin, warnt vor politisch motivierten „Schnellschüssen“, die „häufig abwägende Analysen“ ersetzen. Er behandelt die komplizierte Lage und die politischen Kontrapunkte in den Geschichtsauffassungen innerhalb der Bundesrepublik und fordert, Vielfalt und Komplexität des Lebens in der DDR zu erfassen. Noch geht er nicht so weit wie zwei Jahre später HERMANN WEBER, der besonders im Hinblick auf die verzahnte deutsche Geschichte von „Schieflage“ und „Asymmetrie“ in der Quellenlage spricht und Einsicht in die Überlieferungen der Parteien der BRD, des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes wünscht. (Das Parlament, Beilage 26/97 v.20.Juni 1997)
Die sportwissenschaftlichen Beiträge sind im Druck abweichend vom Ablauf geordnet.
NORBERT GISSEL und WALTER BERNSDORFF gehen vor dem Hintergrund „wiederaufkeimender rechtsradikaler Tendenzen in den 90er Jahren“ der Frage nach, welche Aktivitäten speziell in Hessen von der US-amerikanischen Besatzungsmacht, an deren Spitze mit Colonel James R.Newman ein promovierter Pädagoge steht, zur Reeducation entwickelt worden sind. Bereits in den Jahren von 1946 bis 1949 werden beträchtliche personelle Kräfte und finanzielle Mittel zur Förderung demokratischer Strukturen und Beeinflussung der Mentalität im Jugend- und Sportbereich einge-
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setzt. Die Verfasser legen methodische Probleme der weiteren Erforschung dieser Thematik dar.
ANDRÉ GOUNOT stellt - beträchtlich erweitert gegenüber dem Vortrag - Sportkonzepte der kommunistischen Arbeitersportbewegung 1921 - 1937, insbesondere die Wandlungen der RSI in ihren politischen Bündnisvorstellungen, abhängig vom Kurswechsel in der KI bzw. der sowjetischen Außenpolitik dar. Analog dazu präsentiert er die Diskussion über Wettkampf- und Leistungssport in der RSI, läßt allerdings außer Betracht, daß dies ein alte schon viel früher beginnende Diskussion speziell in der sozialdemokratisch geleiteten deutschen Arbeitersportbewegung gewesen ist. Es ist auch aus heutiger Sicht höchst strittig, ob die Auflösung der RSI im Frühjahr 1937 „zweifelsohne unter anderem deshalb beschlossen wurde, weil dem Sowjetsport langfristig der Weg auf die internationale Bühne des Hochleistungssports geebnet werden sollte.“(S.43)
HANS JOACHIM TEICHLER titelt zwar seinen erweiterten und in manchen Akzenten korrigierten Beitrag „Ausspähung des westdeutschen Sports durch das MfS der DDR“ sagt aber zugleich Gegenteiliges, indem er schreibt, daß „parallel zum Aufhol- und Überholprozess in der sportlichen Leistungsfähigkeit, sich die Gewichte von der Ausspähung zur Abschirmung verlagerten“ - also etwa Mitte/Ende der 60er Jahre - und er verweist auch auf eine „Information über Spionagetätigkeit des Bundesnachrichten-dienstes im Bereich der Sportmedizin der DDR“ (22. Oktober 1974) - also auf einen beiderseitigen Ausspähungsvorgang. (S.68) Im wesentlichen hat TEICHLER IM-Akten dokumentiert, darunter in breiter Ausführlichkeit die über KURT EDEL. Insofern ist es erklärlich, aber objektiv falsifizierend, daß der Vortrag von KLAUS HUHN aus der „Dokumentation“ der Tagung verschwunden ist. HUHN hat anhand des Berichts von KURT EDEL tatsächlich mehr zum Thema „der geteilte deutsche Sport“ beigetragen als die zitierten MfS-Akten hergeben. HUHN‟s Beitrag zeigt die wesentliche Seite im Leben eines DDR-Sportfunktionärs und seine Rolle im zeitgenössischen Kontext der deutsch-deutschen Sportbeziehungen. (Der Vortrag wurde in „Beiträge zur Sportge-schichte“ 1/1995 publiziert.) Da TEICHLER ausführlich die Kontakte ARND KRÜGERs zu KURT EDEL und die ausgetauschten sportwissenschaftlichen Materialien säuberlich
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nach „Soll und Haben“ aus den MfS-Akten auflistet und ihn quasi „verräterischer“ Handlungen bezichtigt, waren die Herausgeber gezwungen, die Gegendarstellung ARND KRÜGERs in die Dokumentation aufzunehmen. Tatsache bleibt: jeder deutsch-deutsche Kontakt läuft unter den Bedingungen des Kalten Krieges Gefahr, ins Visier des einen oder des anderen deutschen Geheimdienstes zu geraten. Die „reinen“ Zitate aus den Akten verdeutlichen aber auch, in welcher Weise heute nachträglich sämtliche deutsch-deutschen Verbindungen in ein „anstößiges“ politisches und moralisches Licht auch im Sport gerückt, ja gar justitiabel gemacht werden können. Die Schilderungen ARND KRÜGERs zeigen im Grunde normale Beziehungen zwischen Sportfunktionären, wie sie allenthalben üblich waren - nur daß sie hier von dritter Seite, dem MfS, mitgetragen wurden. ARND KRÜGER beschränkt sich jedoch nicht auf eine Ablaufschilderung seiner Gespräche, er wertet sie auch im historischen Kontext: „Der McCarthismus TEICHLERs ist kein geeignetes Analyseverfahren zum Verständnis der Versuche, die Verkrampftheit der offiziellen Kontakte auf vielen Ebenen zu umgehen.“ (S.115) Offen bleibt sowieso, wem diese vielen Informationen genutzt oder geschadet haben, denn das MfS pflegte - wie andere Dienste dieser Art auch - seine Erkenntnisse keineswegs operativ weiterzugeben.
GISELHER SPITZER berichtet unter angeblich quellenkritischen und methodologischen Aspekten über die Akten des MfS als „Reserve-Archiv des DDR-Sports“. Da der hier gedruckte Vortrag, angeblich am 25. März gehalten, aber erst am 1. September 95 (S.118 ) abgeschlossen wird, sind Vortrag und Druck schwer in Übereinstimmung zu bringen, nicht nur wegen der Schere zwischen der Dauer des Vortrags und den 37 Druckseiten. Spitzer vermittelt - er deutet die konzentrierten und gezielten Recherchen der Bundesbehörde für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR zum Sport nur an, die ihm zur Verfügung gestellt worden sind - einen Überblick über die Kontrolle des Sports durch das MfS, die detaillierten Zuständigkeiten von fast einem Dutzend Generalen samt ihren Abteilungen, Hauptabteilungen etc. für bestimmte Seiten bzw. Aufgaben im Sport, gibt einen quantitativen Einblick zur Zahl der hauptamtlichen und der inoffiziellen Mitarbeiter, der Zelleninformatoren, der Kontaktpersonen und der gesellschaftlichen Mitarbeiter. Er
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berichtet in denunziatorischer Art über Einzelvorgänge, auch gezielt über einzelne Personen und vermutete Zusammenhänge wie ein „Komplott der Gegner und des MfS zur endgültigen Demon-tage des DTSB-Präsidenten“ und auch über die Widerstände gegen das Doping unter Sportwissenschaftlern und Ärzten, einschließlich des FKS. Auch Spitzer läßt weitgehend die Antwort auf die Frage offen, wem das „Geheimwissen“ nutzte oder auch schadete.
GÜNTHER WONNEBERGER erinnert in seinem Beitrag als Zeitzeuge an die Auswirkungen des Leistungssportbeschlusses von 1969 auf den Basketballsport in Leipzig. Er macht darauf aufmerksam, daß vor allem die Teilnahme an internationalen Meisterschaften nun stark eingeschränkt wird, die Fördersysteme in den KJS und SC auslaufen, die spezielle Trainerausbildung für Basketball an der DHfK eingestellt, jedoch als Nebenfach für alle Diplomsportlehrer weitergeführt wird. Die Aktivitäten zur Pflege des Basketballs unter der Jugend, z.B durch die Turniere bei den Kinder- und Jugendspartakiaden, werden genannt. Wonneberger mahnt eine Versachlichung der Diskussion über den DDR-Sport an. Daß dieser Beitrag eines ostdeutschen Sporthistorikers überhaupt aufgenommen wurde, ist wohl vor allem der Tatsache geschuldet, daß er auf Wunsch der Veranstalter vorbereitet und vorgetragen worden ist. Allerdings scheint er zumindest einem der Veranstalter mißfallen zu haben, hat dieser doch Aussagen des Beitrages lange vor seiner Veröffentlichung für eine gezielte Polemik gegen den Autor zu Verfügung gestellt. (Vgl. Hartmann,Grit: Goldkinder, Leipzig 1997 S. 314 ) Da die dabei angegriffene Meinung WONNEBERGERs sowohl bei HARTMANN als auch nachfolgend in der Presse verkürzt und sinnentstellend kommentiert widergegeben worden ist, sei sie hier vollständig zitiert: „Das Leistungssportsystem der DDR ist nach 1989 in den meinungsführenden Medien der BRD aus verständlichen politischen Gründen fast ausnahmslos und meist in Bausch und Bogen verteufelt worden. Erst nach und nach haben sich Stimmen durchgesetzt, die eine Versachlichung der Diskussion anmahnen. Dazu müßte mehr gesagt werden - auch im Sinne der personen-, sach- und zeitbezogenen Differenzierung. Was aber die Zeit 1969 und danach angeht, so wird eine genaue Analyse m.E. erbringen, von einer eindrucksvollen wissenschaftlichen und operativen
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Leistung zu sprechen, die im Sinne eines gegebenen Auftrages zu außerordentlich effektiven Ergebnissen führte. Sie ist natürlich in den Kalten Krieg und die deutsch-deutschen Auseinandersetzun-gen einzuordnen und wird in Zukunft insofern je nach Standpunkt auch weiterhin unterschiedlich bewertet werden. Jedoch sollte eine zukünftige Sportgeschichtsschreibung zumindest die sachlich-kühlen Maßstäbe anlegen, die in der Militärge-schichtsschreibung für Generalstabsarbeit und Truppenführung z.B. für die des Zweiten Weltkrieges üblich geworden ist. Die Sportgeschichtsschreibung könnte dies mit gutem Gewissen tun; denn ihr Gegenstand ist zwar mit Widersprüchen und Problemen behaftet, sie braucht aber nicht - wie manche kriegsgeschichtlichen Darstellungen es tun - von Kriegsverbrechen, Massenmorden, Millionen Gefallenen und Ermordeten, von Massenelend und Zerstörung zu abstrahieren, wenn sie den Kampf um bessere Leistungen und Lösungen im Leistungssport der vergangenen Jahrzehnte untersucht. Warum sollte man die Tätigkeit und Wirksamkeit von Stäben im Leistungssport, die im kalten Krieg wirkten, nicht wenigstens ebenso sach- und fachbezogen ana-lysieren und darstellen wie die von Stäben der Armeen heißer Kriege?“ (S.158)
BERNARD WOLTMANN von der Akademie für Körpererziehung in Poznan dokumentiert die Entwicklung der Sportbeziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR von 1949 bis 1988. Er hebt die relative breite und im Laufe der Zeit stark zunehmende Zahl sportlicher Verbindungen auf der Grundlage entsprechender Verträge zwischen dem Hauptkomitee für Körperkultur und dem DTSB sowie der regionalen Vereinbarungen und der zwischen den Sporthochschulen bzw. den Sektionen für Sportwissenschaften hervor, während die Kontakte auf dem Gebiet des Schulsports eher sporadisch und im Bereich der Forschung des Leistungssports „durchgehend schlecht“ blieben.
ANDREAS HÖFER behandelt die Gesellschaft zur Förderung des Olympischen Gedankens in der DDR als „propagandistische und agitatorische Speerspitze“, was sie schon wegen fehlender Massenauflagen ihrer Publikationen, von einzelnen Dokumen-tationen einmal abgesehen, gar nicht sein konnte. Ausführlich - manchmal auf zeilenschindernde Art - werden diverse Details der Vorbereitung der Gründung aus den Akten zitiert und entgegen den
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belegten und nachgewiesenen Auslassungen KURT EDELs als Generalsekretär, selbige als falsch hingestellt (S.175/76), indem das in den alten Bundesländern übliche Karrieredenken als allgemeingültig und verbindlich für jedermann unterstellt wird. Tatsächlich war die Zusammenarbeit mit Manfred von Brauchitsch als Präsident aus mehreren Gründen von vornherein als kompliziert abzusehen. Dokumentiert werden die ökonomischen Erfolge der Gesellschaft zur finanziellen Absicherung der Olym-piamannschaft seit 1964. In diesem Zusammenhang von einem „Spagat zwischen Profil und Profit“ zu sprechen, ist schlechthin unzutreffend oder böswillig.
JÜRGEN BUSCHMANN und KARL LENNARTZ vom Carl- und Lieselott- Diem-Archiv verteilten bereits auf der Tagung ihr Manuskript: „Auch in der Olympischen Gesellschaft - Am Anfang war Carl Diem“. Zurückgreifend auf das Jahr 1913 und die finanziellen Probleme für die Vorbereitung der deutschen Olympia-mannschaft gehen die Verfasser dokumentierend auf die Jahre 1946 bis 1952 ein und belegen ihre im Titel formulierte Aussage.
Der Ordentlichkeit (!) wegen soll hier auf die zwei Beiträge eingegangen werden, die - wie der oben erwähnte von KLAUS HUHN - nicht in den „Bericht“ aufgenommen worden sind.
GERHARD GRASMANN stellt anhand der Archive des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport und des DTSB nach dem Stand Mitte der 80er Jahre sowie in Auswertung von Literatur aus den alten Bundesländern nicht nur die im engeren Sinne sportlichen Verbindungen sondern auch die Funktion z.B. der Ständigen Gemeinsamen Kommissionen, der Lehrgänge für kubanische Sportinstrukteure in Bad Blankenburg, die Sportbeziehungen zu den arabischen und afrikanischen Staaten, natürlich auch der westeuropäischen Staaten, unter dem Aspekt der gegenseitigen sportpolitischen gleichberechtigten Anerkennung vor.
HANS SIMON spricht als Zeitzeuge über die Notwendigkeit neuer sporthistorischer Konzepte nach dem Ende des zweiten Weltkrieges in Deutschland und über die ersten Bemühungen um eine - tatsächlich auch erfolgte - Gesamtdarstellung der Geschichte des Sports in Deutschland seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, erstmalig unter Würdigung des Anteils des deutschen Arbeitersports. Die Kritik von Sporthistorikern der DDR an diesem
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Versuch geht über in die gemeinsame Konzipierung der vierbändigen Geschichte der Körperkultur in Deutschland, die seit Mitte der 50er Jahre immer deutlichere Konturen annimmt. Der Leiter der Tagung dankte dem Vortragenden - auch für die Einhaltung der Redezeit - und der Herausgeber nahm - sehr zöger-lich zwar - das Manuskript des Vortrages entgegen, um es dann offenbar zu vergessen oder zu übersehen.
In Stil und Ton weisen die Vorträge gravierende Unterschiede auf. Sachlich informierende, analysierende stehen neben anderen, die gegenüber dem DDR-Sport an schamanenhafte Rituale rezenter Völker erinnern, die nach dem Kampf mit Feinden, sie auch noch als Tote weiter bekämpfen, um sie „noch töter“ zu machen. (Freilich ist bei Siegmund Freud in Totem und Tabu auch über entgegengesetzte Verhaltensweisen nachzulesen.) Was den DDR-Sport insgesamt angeht, ist dem alten Theodor Fontane nur zuzustimmen, der dem Major und Grafen Dubslav von Stechlin die Worte in den Mund legt: “Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, sind sie langweilig“. Es bleibt mir zu hoffen, daß weitere Publikationen Ihres Bundesinstituts zur umfassenden und sachlich-realistischen Darstellung der Geschichte des Sports in Deutschland beitragen.
Giselher Spitzer/Harald Braun (Hrsg); Der geteilte deutsche Sport; Tagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 24.-26. März 1995 in Potsdam; 1.Aufl. Sport und Buch Strauss, Köln 1997
Hans Simon
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Schlüsseldokumente zum DDR-Sport
Wer Schlüssel verteilt, muß mit der sinnfälligen Frage rechnen, welche Tür sich damit öffnen läßt. Weiß er darauf keine „schlüssel“ige Antwort, kann er kaum darauf hoffen, Beifall zu ernten. Giselher Spitzer, Hans Joachim Teichler und Klaus Reinartz - auch sonst vereint wirkend im Potsdamer Institut für Zeitgeschichte des Sports - haben dank eines Schecks der Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung - 338 Seiten „Schlüsseldokumen-te zum DDR-Sport“ herausgebracht. Sie allein haben entschieden, was „Schlüsseldokumente“ sind und geben auch keinerlei Auskunft darüber, wie sie zu diesem Prädikat gelangten. Tatsächlich handelt es sich um in DDR-Archiven gefundene mehr oder minder interessante Papiere, mit denen sich das Trio - wie die meisten DDR-Ausforscher aus westlichen Gefilden eingewandert, wobei Teichler in seiner Kurz-Vita allerdings gebührend darauf verweist, daß er bereits mit 13 Jahren aus der DDR floh - durch den DDR-Sport zu schlüsseln versucht. Historiker-Akribie ist nicht auszumachen. Zum Beispiel: Die einmal mehr bemühte mißglückte Begegnung zwischen IOC-Mitgliedern und DDR-NOK-Beauftragten 1952 in Kopenhagen wird - wie bislang üblich - „verschlüsselt“: „Als Ewald kurz darauf selbst in die Niederungen praktischer Verhandlungskunst steigen mußte, kam es auch unter seiner Leitung zu erheblichen Fehlleistungen: Bei der Vermittlungssitzung des IOC rettete sich die DDR-Delegation aus dem Spagat zwischen Parteiauftrag (bei Versagen drohte das Karriereende) und Gesprächsverpflichtung, in dem es nach verspäteter Anreise die Zimmer nicht verließ, bis die Gruppe um Sigfrid Edström verärgert den Verhandlungsort verließ.“
Als unverdächtiger und verläßlicher Schlüssel-Zeuge jener gescheiterten Sitzung dürfte die angesehene - bürgerliche - dänische Zeitung „Politiken“ wohl von allen akzeptiert werden. Am 10. Februar 1952 schrieb das Blatt zu den Ereignissen am 8. Februar: „Herr Coubertin, der Gründer unserer modernen Olympischen Spiele hatte mit seinen idealistischen Gedanken die Hoffnung vertreten, daß sich ein ritterlicher Geist entfalte... Oft mag es für die Teilnehmer in der Hitze des Gefechts nicht leicht sein, ihr Gemüt in diese Schranken zu zwingen. Aber weit schlimmer ist es
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doch, den Mangel an Verständigung in jenem Falle zu beobachten, wie er bei der vom IOC anberaumten Sitzung mit den Delegierten der deutschen Ostzone deutlich wurde. Aus dieser Sitzung wurde bekanntlich nichts, obgleich die Teilnehmer nur 100 Meter voneinander entfernt waren. Schon gleich zu Beginn entstand ein peinliches Intermezzo, das nichts Gutes versprach und das hat man wahrscheinlich hätte vermeiden können... Die Ostdeutschen erhielten ihr Visum zu spät, so daß sie nicht rechtzeitig kommen konnten... Aber das IOC wußte ja davon, daß die Ostdeutschen nach einer strapaziösen Reise hierher gekommen waren. Hinzu kamen die unglücklichen Umstände im Hotel mit nur einem Doppelzimmer für vier Menschen. Daß die Deutschen ein Bad nehmen und sich etwas ausruhen wollten, bevor sie zu einer Sitzung gingen, von der sie von vornherein wußten, daß sie dort nicht besonders willkommen sein würden, ist an sich nicht absonderlich. Wenn das IOC überhaupt ein Interesse gehabt hätte, diese Sitzung zustandezubringen, hätte sie wohl durch ein Telefongespräch oder ein persönliches Gespräch auf den Abend oder den nächsten Tag verschoben werden können. Stattdessen ging das IOC seiner Wege und verschwand... Ein Auftreten, das sowohl einen etwas kindlichen Anschein erweckte, als auch den Ostdeutschen Propagandastoff in die Hände gab.“
Diesen Schlüssel zu jenem Treffen hatte das Trio bei seiner Suche nicht gefunden. Oder wollte ihn auch nicht finden, weil es ihm - und das wird seitenweise vordergründig - weniger um den DDR-Sport als seine Verurteilung geht.
Wohl, um dabei sicher zu sein, wird Personen wie dem Autor die-ser Zeilen, schon auf Seite 12 die „rote Karte“ gezeigt: „Selbstver-ständlich ist Wissenschaft offen für alle Weltanschauungen, solange die Spielregeln von Methodik und Theorie eingehalten werden.“ (Wie wahr! A.d.A.) „Problematisch ist dabei jedoch das publizistische Wirken eh. SED-Kader, die heute noch Propaganda-thesen weiterverbreiten, die dem Phänomen in keiner Weise ge-recht werden, wie z.B. Dr. K.U.Huhn.“ Eine Behauptung, die durch obenstehendes Beispiel erhärtet wird. Statt Propagandathesen müßte es in diesem Fall allerdings heißen “Politiken“-Thesen...
Schlüsseldokumente zum DDR-Sport; Spitzer/Teichler/Reinartz (Hrsg.) Meyer & Meyer-Verlag; Aachen 1998
Klaus Huhn
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Die unendliche Doping-Story
Das Wort Doping hätte es eigentlich eher verdient - gemessen am nahezu täglich weiter zunehmenden Medienaufwand -, zu einem Unwort des Jahres gekürt zu werden als zum Beispiel das Wort Reformstau. Allerdings sind beide Begriffe bestens geeignet, tatsächliche Probleme zu verschleiern und von den jeweiligen sozialen Ursachen abzulenken. Das offenbart auch der von Klaus HUHN vorgelegte Tatsachenreport "Die unendliche Doping-Story".
In bekannter kompetenter Manier hat sich der Autor erneut den Vorgängen um die angebliche Aufarbeitung von Doping im Sport zugewandt, viele notwendige Fragen aufgeworfen und überzeugende Antworten gegeben. Dabei hebt sich der Report wohltuend von der nun schon üblichen Einseitigkeit, Sensationshascherei und oftmals übersteigerten Profilierungssucht ab, wenn es um Doping im Sport und um die gegenwärtige Aufarbeitung in Deutschland geht, die sich - trotz all der nun schon bekannten Tatsachen - nahezu ausschließlich auf den DDR-Sport bezieht.
Klaus HUHN trägt vor allem Fakten zusammen, ohne das gefundene Material zu überschätzen oder gar geäußerte Meinungen in feststehende Tatsachen umzumünzen. Er doku-mentiert das Geschehen und läßt nüchterne Tatsachen sprechen, baut den Spannungsbogen des Reports durch die Auswahl und Anordnung von Tatsachen, Geschehnissen und Berichten auf.
Doping im Sport wird von ihm - in der gebotenen Knappheit und im Gegensatz zur gängigen Praxis - in den Zusammenhang des Genußmittel -, Pharmaka- und Drogengebrauchs und -mißbrauchs eingeordnet. Und er versucht, zumindest auf generelle Zusammenhänge zu verweisen und Doping im Sport nicht völlig losgelöst davon darzustellen, wie das inzwischen üblich geworden ist und wodurch eine Instrumentalisierung des Problems Doping im Hochleistungssport begünstigt und ermöglicht wird.
Jenseits der gegenwärtig gängigen Klischees, Vorurteile und Schwarz-Weiß-Malerei wird die Komplexität deutlich, die eine den Tatsachen entsprechende oder diesen weitgehend nahekommende Rekonstruktion des jeweils Geschehenen erfordert, um überhaupt urteilen oder gar verurteilen zu können.
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Denn der Gebrauch von Pharmaka ist offensichtlich eine Tatsache, an der Hochleistungssportler gar nicht vorbeikommen können, und zwar unabhängig davon, wie man Doping immer auch definiert. Hier spannt sich der Bogen von der Gabe zusätzlicher Substanzen, die für den Energie- und Baustoffwechsel benötigt werden, da bekanntermaßen die ungenügende Zufuhr nicht nur die sportliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, sondern auf Dauer auch die Gesundheit. Und das reicht bis zur Behandlung physischer und biochemischer Mangelerscheinungen. Der Einsatz von Dopingmitteln und -methoden aber, um sich während des Leistungsvollzugs Vorteile zu verschaffen, ist dagegen strikt abzulehnen und hat ebensowenig mit Fairness im Sport zu tun wie mit Chancengleichheit, ohne die der leistungssportliche Wettkampf letzlich sinnlos würde. Da aber der Einsatz von Dopingmitteln und -methoden - bei ständig zunehmender politischer und ökonomischer Instrumentalisierung des Leistungssports - auch unter dem Motto einer angeblichen Herstellung von Chancengleichheit weltweit erfolgte, ist dem ebenso weltweit zu begegnen und es sind durch das Regelwerk und die medizinischen Vorschriften entsprechende Schranken zu setzen. Den ganzen Sachverhalt Doping im Sport nur am DDR-Sport festzumachen oder festmachen zu wollen, ist nicht nur eine Manipulation, sondern auch eine eklatante moralische Entgleisung, die - so die Zeichen der Zeit - aber zunehmend mehr zur Selbstentlarvung gerät. Die Geschehnisse der letzten Monate, beispielsweise bei den Weltmeisterschaften im Schwimmen in Australien oder die offensichtlich gelenkten Reaktionen ehemaliger britischer Spitzenathleten belegen das. "Die unendliche Doping-Story" hilft nachdrücklich, diese und andere Zusammenhänge begreifbar zu machen.
Besondere Brisanz enthalten die Berichte über die Befragung von DDR-Leistungssportlern mittels einer Fragebogenaktion der Zentralen Ermitttlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV), die nach dem Berliner Rechtsanwalt WOLFF "tatsächlich ein ungewöhnlicher Schritt" ist, und die Dokumentation eines Verhörs der Olympiasiegerin Petra Felke und ihres vierjährigen Sohnes, die das Ungewöhnliche geradezu abstrus erscheinen lassen. Dadurch und durch den Bericht über eine Niederlage bei dem in Paris angestrengten Prozeß gegen einen DDR-Erfolgstrainer wird auch Einblick in die
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Mechanismen der Diskriminierung und Kriminalisierung des DDR-Sports, in dafür geschaffene Bedingungen und Vorgehensweisen gewährt. Allerdings bleiben - zwangsläufig - gerade diesbezüglich für den Leser manche Fragen offen. Wenngleich er nun sicher noch aufmerksamer das Vorgehen der ZERV und der Staatsanwaltschaft II verfolgen und deren Wirken an den Kriterien des ständig gepriesenen Rechtsstaats messen wird.
Nach "Doping, Doping und kein Ende" (1991) hat Klaus HUHN in den neunziger Jahren den zweiten hochaktuellen Report zu dieser Problematik vorgelegt. Er hat sich wiederum streng ans Faktische gehalten und gerade dadurch vehement gegen den unaufhörlichen Fluß von Halb- und Unwahrheiten, Entstellungen und Vorverurteilungen, die meist als Sensa- tionsmeldungen aufgemacht sind, angeschrieben. Dabei kommt kein Zweifel darüber auf, daß ein entscheidender Maßstab der Wertung das humanistische Anliegen des DDR-Sports ist, welches dieser stets weltweit offenbart hat, und daß die Gesetze, das geschriebene Recht der DDR gelten. Der Report ist nicht nur hochaktuell, sondern auch spannend und hilfreich, die nicht abreißenden Sensationsmeldungen zum Doping im Sport, vor allem im DDR-Sport, werten und einordnen zu können. Wenngleich er - angesichts der aktuellen Entwicklungen - nur ein Zwischenbericht sein kann und offenbar auch sein will. Eine Fortsetzung scheint in mehrfacher Hinsicht nicht nur vonnöten, sondern aus Gründen der Dokumentation auch dringend erforderlich.
Der Autor hat dem Report einen Standpunkt des DSB-Präsidenten, Manfred von RICHTHOFEN, vorangestellt, in dem dieser bekennt: "Selbstverständlich ist im Westen auch gedopt worden. Aber dort ist nicht so preußisch gründlich aufgeschrieben worden wie im Osten von der Staatssicherheit." (1997) Als aufmerksamer Leser der Schrift und angesichts der unumstößlichen Tatsachen und solcher Bekenntnisse erwartet man nun eigentlich, daß Trainer und Athleten der alten Bundesrepublik sich scharenweisen outen. Denn darauf wäre man wohl angewiesen, um die kaum noch zu überbietende Heuchelei zu beenden. Man darf also auch gespannt sein, welche Taten den Bekenntnissen und hehren Worten folgen werden.
Die unendliche Doping-Story, Klaus Huhn, Berlin 1997
Heinz Schwidtmann
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Höllenritt auf der Himmelsleiter
Der Titel ist sensationslüstern und vielversprechend: „Höllenritt auf der Himmelsleiter“. Kaum aus dem Sattel der Rennmaschine schwingt er sich auf den Rücken von Pegasus; Olaf Ludwig erzählt aus seinem Rennfah-rerleben. Ein umfängliches, episodenreiches und reichbebildertes Buch liegt vor uns; erschienen Ende 1997 im Rhino Verlag Arnstadt & Weimar. Kein Top-Athlet der Welt erklimmt allein den Turm von Babylon, und so ist als Coach bei Ludwigs literarischer Rundfahrt an die Stelle seines einstigen sportlichen Trainers Werner Marschner nun der Erfurter Sportjournalist Helmut Wengel getreten. Als Herausgeber der Name bescheiden in corpus, aber im Top des Titels noch über Olaf Ludwig, der freilich vier cicero größer und in sattem Rot. „Olle Wengel“, wie ihn mancher (einstige) Kollege wohlwollend nennt, hat sich in der DDR einen Namen gemacht als Baumeister der Erfurter Burgenfahrt und Schöpfer der Losung „Eile mit Meile“, die einst Zehntausende von Rügen bis zum Rennsteig in Trab brachte. Wer aus diesem Geistesblitz folgert, daß der Erfurter eine feine stilistische Klinge führen muß, liegt richtig. Er findet sich bestätigt, wenn er die rund 300 Seiten des „Höllenritts“ mit Anstand hinter sich gebracht hat. Denn zweifellos hat der Journalist dem Athleten (behutsam) die Hand geführt; die Steine geschliffen, die der Akteur in so überreichem Maße darbot. Ein durchaus legitimes und sogar wünschenswertes Omnium, denn was dieses Duo dem Leser bietet, ist lobens- und bedenkenswert. Olaf Ludwigs Größe als Radrennfahrer bedarf keiner wortreichen Kommentare. Es sei denn, sie kommen von Radsport-Legenden wie Täve Schur und Eddy Merckx, die - in getrennten Welten - Radsport-Geschichte schrieben. Beide wie auch die Trainer Wolfram Lindner und Werner Marschner, Mutter Sieglinde und Gattin Heike Ludwig, Freund Mario Kummer, Rivale Djamolidin Abduschaparow und Promoter Hans Hindelang runden mit ihren Beiträgen diese Ludwig-Story ab. Sie spannt sich über 25 Jahre eines Lebens im Sattel; als Zwölfjähriger bekam Olaf sein erstes Rennrad, vor Jahresfrist fuhr er seine letzten Spurts in den Hallen von Berlin und Stuttgart. Über eine solch lange Distanz bleibt natürlich nicht jeder Rennkilometer im Gedächtnis; ihn zu schildern, wäre auch müßig und ermüdend.
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Olaf Ludwig filtert Episoden und Erlebnisse, die Knotenpunkte seiner Laufbahn heraus und macht sie so erlesenswert nicht nur für den puren Radsport-Anhänger und Ludwig-Fan. Geprägt hat ihn das Leben in der DDR, die dem sportlichen Talent alle Tore öffnete. Ludwig hat sie entschlossen und dankbar durchmessen, er war ein Musterschüler an der „Volkshochschule des DDR-Sports“, wie Täve formuliert, die er erfolgreich bestand, um derart gewappnet zu sein auch für die unerbittlichen Duelle seiner letzten Pedal-Jahre bei den Profis.
Die Friedensfahrt vor allem prägte den Jungen aus Thieschitz. Am Anfang stand der Etappensieg von Karl-Heinz Oberfranz 1972 in Gera. „Wir Jungen waren jedenfalls in jenen Maitagen 1972 alle kleine Friedensfahrer...“, so Olaf Ludwig, der selber einer der erfolgreichsten werden sollte mit seinen unübertrefflichen 36 Etappenerfolgen und zwei Gesamtsiegen. Für Ludwig war der Course de la Paix „in erster Linie ein knallhartes Rennen der weltbesten Amateure mit einem politischen Hintergrund, geboren in der guten Absicht, in der Nachkriegszeit ein sportliches Zeichen der Versöhnung zu setzen“. Millionen im Osten haben alljährlich bis heute (auch) diesem politischen Hintergrund an der Strecke zugestimmt. In vielen Episoden und Erlebnissen offenbaren sich Erkenntnisse des Geraers. Heute darf man aussprechen, was einst im Dunstkreis des DTSB-Bundesvorstandes nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert und „auf Anfrage“ stets energisch in Abrede gestellt wurde. Also bekam der 17jährige Olaf Ludwig 1977 für den Junioren-WM-Titel eine Prämie von 1500 Mark. 20 Jahre später vermerkt er in seinem Buch darüber: „Das war zwar keine Unsumme, aber man hätte davon gut zwei Jahre lang die Miete für eine Neubauwohnung in Gera-Lusan bezahlen können.“ Der aufschlußreiche Vergleich läßt heute soziale Zusammenhänge und Unterschiede umso deutlicher werden. Später sollte Ludwig (wie andere „Spitzensportler“) angemessenere Erfolgsprämien einheimsen; Beispiele für die diffuse Haltung der Sportführung, die ex officio im entschiedenen Kampf gegen die Kommerzialisierung des Sports stand. Eher war es eine hinhaltende Verteidigung mit taktischen „Frontbegradigungen“. Spätestens mit dem Ausrüstervertrag zwischen DTSB und adidas wurde dieses Duell gegen einen übermächtigen Gegner de facto als verloren anerkannt. Deshalb muß man diesen Weg des Sports in die
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hemmungslose Vermarktung nicht gutheißen. „Panem et circensis“, praktiziert vom IOC als Marktführer in einem fragwürdigen Sama-Ramsch. Für den Profi Ludwig öffnete sich dadurch die Tür zu Atlanta 1996. Über das olympische Ereignis urteilt er (S. 220): „...auf Schritt und Tritt hatte man den Eindruck, daß die Spiele ein großer Jahrmarkt waren. Und hinter all dem Kommerz und der Werbung standen wir Sportler meist in der zweiten Reihe. Als 16. des olympischen Straßenrennens bestand der große Friedensfahrer und Olympiasieger von 1988 seine letzte große Prüfung auf Asphalt sportlich mit Anstand. Profis gegen Amateure: „Auch wenn ich rein gefühlsmäßig gegen die Neuerung war, die den Amateuren keine Chance mehr läßt - für mich als Profi war es eine“, urteilt die ehrliche Haut hinterher. Wer Geheimnissen der „Sportnation DDR“ auf die Spur kommen will, muß sich die (vergnügliche) Mühe machen, das Ludwig-Buch nicht nur zu überfliegen, denn die Belege dafür sind nicht im Paket auf etwa einer Seite konzentriert. Nicht gemeint sind Beispiele für die unendliche Doping-Story, die den DDR-Sport komplett kriminalisieren möchten, sondern Epitheta, die auch Olaf Ludwig vom ersten Kilometer an auf dem Rad begleiteten: Spartakiade, Kleine Friedensfahrt, Spartakiade-Kilometer, Jugendwettkämpfe der Freundschaft, Internationale Junioren-Sternfahrt, Olympiapreis. Aber auch Höhentraining und - Unterdruckkammer. Jene Unterdruckkammer übrigens, mit der Verhältnisse in der Höhe simuliert werden können, hat der frischgebackene finnische Langlauf-Olympiasieger Mika Myllylä sogar in seiner Wohnung installiert, um so im Hahnumdrehen 2000 Meter und höher zu steigen. Werfen nicht heute manche Auguren der DDR vor, daß sie solche modernen Trainingsbedingungen zur Leistungssteigerung allen zugänglich gemacht und so den Staatsamateur als besonders verwerfliche Form des Profis geschaffen hat? Olaf Ludwig stellt dazu (S. 141) fest: „Alles wurde plötzlich in Frage gestellt, auch das, was gut war.“ Seinen Entschluß, als 19jähriger Mitglied der SED zu werden, erklärt er in seinem Buch (S. 36) glaubwürdig mit: „Ich hatte bis dahin in der DDR nur Förderung und Anerkennung erfahren. Warum sollten mich Menschen, denen ich vertraute und die mir vertrauten, wie mein Trainer Werner Marschner, nicht Genosse nennen dürfen?“ Diese Aussagen und unzählige andere untermauern die Feststellung, daß der „Höllenritt auf der
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Himmelsleiter“ ein ehrliches und interessantes Buch ist. Zumal auch manche Ungereimtheit jener Tage nicht unausgesprochen bleibt. Viele entstanden aus dem hemmungslosen Trieb manches Verantwortlichen (nicht nur im Sport), Erfolge um jeden Preis „abrechnen“ zu wollen. „Ich bereue nichts“, bekennt Olaf Ludwig. „Auch nicht meine Vergangenheit in der DDR, zu der ich stehe. Dem System habe ich meine Ausbildung, meine Förderung und meinen Aufstieg in die Weltspitze des Amateurradsports zu verdanken. Daß wir das System, in dem wir sorgsam behütet, gefördert und auch bewacht wurden, nicht in Frage stellten - wer will uns das im nachhinein vorwerfen? Entscheidend war für mich immer das Menschsein, der Umgang miteinander, die Hilfe untereinander, die Fürsorge des einen für den anderen.“ Poetische Einlassungen erhärten den Eindruck, daß auch „Olle Wengel“ ein beträchtlicher Anteil an diesem empfehlenswerten Werk zukommt: „Die Sonne strich an den roten Plüschvorhängen vorbei, hüpfte auf meinem Bett lang und endete in schillerndem Grün.“ Schillernde Schilderungen, wenn auch - wer mag das verlangen? - keine Schillerschen. Alle Plazierungen Olaf Ludwigs seit 1972 machen das Werk auch statistisch komplett - 25 Seiten voller Fakten aus 25 Rennfahrerjahren. Das Buch auf „Fehler“ abzuklopfen, bleibe dem Kümmelspalter überlassen. Einen habe ich selbst gefunden. Ein Foto auf Seite 187 zeigt Olaf Ludwig beim Kampf gegen die Uhr mit dem Bildtext: Contre la monde. Da selbst dieser großartige Rennfahrer im Duell gegen die Welt keine Chance hätte, muß es richtig heißen: Contre la montre. „Olaf Ludwig - Höllenritt auf der Himmelsleiter“ paßt in die Zeit.
Höllenritt auf der Himmelsleiter, Olaf Ludwig, Arnstadt & Weimar, 1997
Roland Sänger
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ZITATE
Zum Dopingprozeß
Moralisten
Das Spektakel (des Berliner Doping-Prozesses)... wirkt wie eine bizarre Kopie des Prozesses gegen die sogenannten Mauerschützen, doch inreressant daran ist weniger der ideologisch-juristische Aspekt. Es ist vielmehr die Naivität jener, die den Strafverfolgern nicht aus politischen, sondern aus sportmoraIischen Erwägungen journalistischen Feuerschutz geben. Hinter ihrer Forderung, den Sport von Dopingpraktiken freizuhalten und Übeltäter zu bestrafen, verbirgt sich die Illusion, daß Sport quasi in einer Luftblase existieren kann - ohne gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt zu sein. Diese Moralisten wollen einen Sport, der sauber ist und dem vor allem zwei Maximen gelten: „Fair geht vor“ und „Der Bessere möge gewinnen“. So einen Sport hat es allerdings nie gegegeben. Und das ist vielleicht auch ganz gut so.
( René Martens in taz, Berlin, 19.3.1998)
Vorrücker?
Noch saßen sie mit Vertrauten im Zuschauerraum des Saales 700 im Kriminalgericht Moabit. Doch bald schon sollen sie nach vorne rücken, auf die Anklagebank Egon Krenz, Manfred Ewald, Günter Erbach und Rudi Hellmann. Die staatliche Sportführung der DDR hatte es schon einmal aus den hinteren Reihen ganz nach vorne geschafft, als sie ihren Athleten und vor allem Athletinnen derart auf die Sprünge half, daß ihr kleiner Staat sich als sogenannte Sport-Nation mit reichlich Medaillen und Titeln schmücken lassen konnte... Mit freundlichem Blick und ernstem Gruß versicherten die Anführer von einst den Schwimmtrainern und Sportärzten von heute ihre Verbundenheit... Zwei der vier Schwimmtrainer... waren bis zur Anklage Bundestrainer. Dieter Krause ist nicht mehr im Sport aktiv. Ihr Kollege Rolf Gläser ist in Österreich tätig... Dort hat auch der ebenfalls... angeklagte Sportmediziner Bernd Pansold eine Beschäftigung gefunden. Nach Berichten... ist er am privat finanzierten Olympiastützpunkt Obertauern mit der persönlichen Betreuung des Doppel-Olympiasiegers im alpinen Ski, Hermann Maier befaßt. Sein Arbeitgeber, Stützpunktleiter Heinrich
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Bergmüller, wird mit den Worten zitiert, der Berliner Dopingprozeß sei einfach lächerlich...
(Michael Reinsch in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.1998)
Hexenjäger
CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, Christoph Bergner, hat angesichts des ersten Prozesses gegen ehemalige DDR- Trainer wegen Doping-Verdachts gerechte Maßstäbe und eine Gleichbehandlung bei der Verfolgung möglicher Vergehen gefordert. „Aufgrund der teilweise akribischen Kontrolle und Bespitzelung des DDR-Sports durch das damalige Ministerium für Staatssicherheit existieren über die Ost-Trainer eine Fülle gesammelter Informationen, die es so im Westen nicht gibt‟, so Bergner am Mittwoch in einer Presseerklärung. Dieses unkontrollierbare Material dürfe nicht zu einer „Hexenjagd“ und pauschalen Denunziation der Trainer im Osten führen, so Bergner. Das Problem des Dopings sei ein internationales Phänomen und dürfe nicht einseitig aufgearbeitet werden.
(dpa 18.3.1998)
Looser
Tatsache bliebt, daß der DDR-Sport äußerst erfolgreich war. Das Geheimnis lag in dem hoch entwickelten System von Freizeit-, Kinder- und Jugend- sowie Leistungssport, zu dem eine anerkannt leistungsfähige Sportwissenschaft und -medizin gehörte. Bei den Sportoffiziellen der alten Bundesrepublik bewirkte der notorische Medaillenregen für die DDR Neid und Frust. Das hält weiter an. „Alles nur Doping‟, behaupten die Looser von damals. Sogar von „staatlich angeordneten Menschenversuchen‟ ist die Rede. Wenn‟s denn so gewesen wäre, hätte die Bundesrepublik 1990 die DDR-Athleten zurückweisen können. Nix Franziska van Almsick, nix Henry Maske, nix Jan Ullrich. Was soll also der als Pilotverfahren angekündigte Berliner Dopingprozeß?
(Junge Welt 19.3.1998)
Skandal
Daß mit Anabolika-Pillen Olympiasieger und Weltmeister gemacht wurden, ist schon verwerflich genug. Daß dabei aber wissentlich
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die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen massiv geschädigt wurde, ist ein Skandal.
(Westfälische Nachrichten, 20.3.1998)
Menschenjäger
Natürlich muß eine Aufarbeitung her, aber es wird daraus eine Menschenjagd gemacht... Doping wird immer ein Thema bleiben. Man darf sich aber nicht nur auf die DDR-Vergangenheit stürzen.
(Heike Drechsler in Leichtathletik 6. 1. 1998)
Medailleneinsammler
Die derzeit... geführte Diskussion um die Rückgabe von Medaillen ehemaliger DDR-Athleten,... veranlaßte den DLV, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen... Aus verbandsrechtlicher Sicht läßt das Regelwerk der IAAF... die Rückgabe von Medaillen nur unter bestimmten Voraussetzungen zu.
(DLV-Pressedienst 16.1.1998)
IOC-Generaldirektor Francois Carrard denkt bereits intensiv über die Entscheidung nach, die Sportgeschichte umschreiben zu lassen. Das werden sie tun müssen, die Heuchler. Sie haben dabei viele praktische Fragen zu klären: Müssen alle persönlich zur Medaillen-Sammelstelle kommen? Oder gehen die alten Trophäen per Post an die damals Unterlegenen? Per Einschreiben? Und werden jetzt die einstigen negativen Dopingproben per Dekret zu positiven erklärt?... Am besten, man radiert einfach alles aus, was nach DDR-Sport riecht.
(Sächsische Zeitung, 8. 1.1998)
Stümper?
Auch etliche Fragen fachlicher Art sind nicht beantwortet: Was taugt eigentlich die Verabreichung eines Muskelaufbaupräparats, wenn der Athlet nicht erfährt, daß es eines ist: Gibt es das, was die pharmakologische Forschung „PIacebo-Effekt“ nennt, überall, nur beim Mittel „Oral-Turinabol“ nicht? Oder: Welchen sportlichen Effekt konnte es erbringen, wenn ein Schwimmtrainer elfjährigen Mädchen Anabolika gegeben haben soll, obwohl schon seit Jahrzehnten bekannt ist, daß Muskelzuwachs erst nach der Pubertät sportlich sinnvoll ist? Wäre das eine Tat gewesen, die nur
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der einzelne Trainer zu verantworten hat, spräche das erstens gegen dessen fachliche Qualität und zweitens gegen die These vom Staatsdoping. Wäre das aber, wie ja die meisten Kommentatoren überzeugt sind, eine Tat gewesen, die auf Anordnung von DDR-Behörden geschehen wäre, hätte man nicht glaubhaft machen können, warum die DDR bei Olympischen Spielen so erfolgreich abschnitt. Einen Mangel an Beweisen kann man schon jetzt attestieren, und die ideologische Bewertung, wenn es deshalb im Juli zu einem Freispruch kommen sollte, ahnt man jetzt schon: Nur aus Mangel an Beweisen, werden die Kommentare lauten, sind die sechs Herren nicht verurteilt worden.
(Martin Krauß in Freitag, 27.3.1998)
Verlierer
Wer glauben machen will, es ginge vor dem Berliner Gericht um Pillen oder Spritzen, um Ethik von DDR-Ärzten oder Moral von DDR-Trainern, gerät unweigerlich in die Nachbarschaft von Heuchlern. Nicht Atteste sollen geprüft werden, sondern eine uralte Rechnung beglichen. Die oft rüden bundesdeutschen Schlagzeilen über die jahrzehntelang erfolgreicheren DDR-Athleten, Trainer und Ärzte hinterließen breite Narben in den Gemütern. Und deshalb nun das „Rückspiel“ vor Gericht, in dem die Ankläger ein leichtes Heimspiel sehen. Tatsächlich spricht vieles für sie.
Als „Sieger der Geschichte“ haben sie schon Erfahrungen in unverlierbaren Prozessen gesammelt, selten zuvor haben so viele ahnungslose Journalisten so viele Vorverurteilungen formuliert und damit eine für die Angeklagten fast hoffnungslose Atmosphäre erzeugt. Alles dient dem einen Ziel: Richter sollen mit einiger Verspätung die Entscheidungen von Zielrichtern, Preisrichtern, Ringrichtern korrigieren. Und Doping ist dafür das ideale Feld des Zwielichts, überwuchert mit geheimnisvollen Medikamentennamen, bewässert mit umstrittenen Urinproben, beackert von dubiosen Horrorärzten.Trainer werden bezichtigt, Siege manipuliert zu haben; Ärzten wird vorgeworfen, den Eid des Hippokrates gebrochen zu haben.
Und weil das - wie die Aktenlage verrät - von den Staatsanwälten auch nach vierjährigen Tag-und-Nacht-Schichten kaum nachzuweisen ist, werden Stasi-Akten in die Gerichtssäle gekarrt. Damit läßt sich großzügig umgehen. Die Anklage des ersten
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Prozesses basiert auf einem Stasi-Papier, das eindeutig ein verworfener Entwurf war. Es wurde deshalb vernichtet. Bis auf das eine Exemplar, das die Stasi archivierte. Das amtliche Dokument - Fundament aller Anklagepunkte - wurde nie gefunden. Nicht einmal von Gauck. Daß die Staatsanwälte vergaßen, der Pflicht nach-zukommen, auch Entlastendes für die Angeklagten zu recherchieren, erhärtet die „Heimspiel“-These.
Man sollte sich an das Gleichheitsprinzip erinnern. Da müßten Juristen vielerorts noch einmal tätig werden. Die Ermittlungen im Todesfall der Mehrkämpferin Birgit Dressel glichen der Suche nach einem Karnickeldieb. Sie wurden eingestellt. Professor Manfred Steinbach, einst führender Funktionär der BRD-Leichtathletik und hochrangiger Beamter in der Bonner Ministerialdemokratie, hatte bereits 1968 in der Zeitschrift „Sportarzt und Sportmediziner“ bekannt, daß er „125 Jungen im Alter von 17-19 Jahren 3,5 Monate lang in einer Untersuchungsreihe erfaßt hatte“, ihnen Anabolika verabreichte und dabei ermittelte, es seien „keine Nebenwirkungen zu beobachten“.
Ein wichtiger Gutachter wäre auch der Kölner Professor Hollmann, lange Jahre Präsident des Weltverbandes der Sportärzte, der schon am 28. September 1977 vor dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages unwidersprochen prophezeit hatte: „Wir sind überzeugt, daß es unmöglich ist, auf alle Zeit eine chemische und physikalische Beeinflussung der Leistungsfähigkeit des Spitzensportlers auszuschließen.“
Brecht,der allerorten zitiert wird, schrieb einmal: „Die Armen sind auf die Gerechtigkeit angewiesen, die Reichen sind auf Ungerechtigkeit angewiesen, das entscheidet.“ Obwohl Brecht-Fan, hoffe ich, der kluge Mann möge in diesem Fall nicht recht behalten.
(Klaus Huhn in DIE ZEIT, Hamburg, 19.3.1998)
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JAHRESTAGE
Zum 100. Geburtstag von Bertolt Brecht
Von GÜNTER WITT
Es sind vor allem seine Wortmeldungen zum Thema Sport, die Bertolt Brecht auch für Sporthistoriker interessant machen. Sie entsprangen nicht seinem sinnlich-praktischen Verhältnis zum Sport. In seiner Kindheit und Jugend war er beim Radfahren und Schwimmen, beim Schlittschuhlaufen und Rodeln kein Spielverderber, aber durch besonderen sportlichen Ehrgeiz fiel er nie auf, wie seine Freunde sich erinnern. Und das änderte sich bei Brecht zeitlebens nicht. Aber sein politisch-soziales Verhältnis zum Sport, das sich in vielgestaltigen Formen ausdrückte, zählt zu den Quellen für die Erforschung des Zeitgeistes der zwanziger Jahre in Deutschland. Sein Beitrag „Die Krise des Sports“ (1928) und dessen Version „Die Todfeinde des Sports“ werden oft als Haltung Brechts zum Sport überhaupt zitiert. Sie waren aber Ausdruck des wohlbegründeten Mißtrauens gegenüber der Gesellschaft in der Weimarer Republik, die den Sport für ihre politischen Zwecke mißbrauchen wollte, sie waren gegen die philosophische Verbrämung des Sports ebenso wie gegen seine Ästhetisierung gerichtet. Als leidenschaftlicher Anhänger des Boxsports war er zugleich ein scharfer Kritiker des kommerziellen Boxgeschäfts. Das künstlerisch-ästhetische Verhältnis Brechts zum Sport findet seinen Ausdruck in Gedichten (wie „Gedenktafel für 12 Weltmeister“), in Parabeln und Geschichten (wie „Der Kinnhaken“ und das Fragment „Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner“) und im Einsatz verbaler und inszenatorischer Elemente aus dem Boxsport als Gestaltungsmittel, als Vehikel für bildhafte Mitteilungen in seinen Theaterstücken (wie „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“). Maßgeblich für dessen Erfolg war seine Mitarbeit an dem Film „Kuhle Wampe“, der 1932/33 den politischen Kampf der Berliner Arbeitersportler - unter deren direkter Mitwirkung am Film - in einer Authentizität darstellte, die vom kommerziellen Film bis dahin uner-reicht war und unerreichbar ist. Zu seinem 100.Geburtstag wird oft zu hören sein: „Er hat Vorschläge gemacht - wir sollten sie annehmen.“ Es sind auch „Vorschläge“ für die Sportgeschichtsschreibung dabei.
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(LITERATUR: Berg, G., Bertolt Brecht - Der Kinnhaken und andere Box- und Sportgeschichten, Suhrkamp Frankfurt/Main 1995, 167 S.; Meisl,W., Der Sport am Scheidewege, Iris-Verlag Heidelberg 1928, 165 S., Witt, G., Bertolt Brecht - Gedichte, Parabeln und Geschichten zum Sport, Sportverlag Berlin 1989, 208 S.; Witt G., Das merkwürdige Verhältnis des Bertolt Brecht zum Sport, In: Der junge Brecht - Aspekte seines Denkens und Schaffens, Königshausen & Neumann Würzburg 1996, S. 200 - 225.)
Bertolt Brecht
GEDENKTAFEL FÜR ZWÖLF WELTMEISTER
Dies ist die Geschichte der Weltmeister im Mittelgewicht
Ihrer Kämpfe und Laufbahnen
Vom Jahre 1891
Bis heute:
Ich beginne die Serie im Jahre 1891
Die Zeit des rohen Schlagens
Wo die Boxkämpfe noch über 56 und 70 Runden gingen
Und einzig beendet wurden durch den Niederschlag
Mit Bob Fitzsimmons, dem Vater der Boxtechnik
Inhaber der Weltmeisterschaft im Mittelgewicht
Und im Schwergewicht (durch seinen am 17. März 1897 erfochtenen Sieg
Über Jim Corbett)
34 jahre seines Lebens im Ring, nur sechsmal geschlagen
So sehr gefürchtet, daß er das ganze Jahr 1889
Ohne Gegner war. Erst im Jahre 1914
Im Alter von 51 Jahren absolvierte er
Seine beiden letzten Kämpfe.
Ein Mann ohne Alter. -
1905 verlor Bob Fitzsimmons seinen Titel an
Jack O’Brien, genannt Philadelphiajack.
Jack O‟Brien begann seine Boxerlaufbahn
Im Alter von 18 Jahren
Er bestritt über 200 Kämpfe.
Niemals
Fragte Philadelphiajack nach der Börse
er ging aus von dem Standpunkt
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daß man lernt durch Kämpfe
Und er siegte, so lange er lernte.
Jack O‟Briens Nachfolger war
Stanley Ketchel
Berühmt durch vier wahre Schlachten
Gegen Billie Papke
Und als rauhster Kämpfer aller Zeiten
Hinterrücks erschossen mit 23 Jahren
An einem lachenden Herbsttage
Vor seiner Farm sitzend
Unbesiegt.
Ich setze meine Serie fort mit
Billie Papke
Dem ersten Genie des Infightings
damals wurde zum ersten Male gehört
Der Name: Menschliche Kampfmaschine
Im Jahre 1913 zu Paris
Wurde er geschlagen
Durch einen Größeren in der Kunst des Inifightings:
Frank Klaus.
Frank Klaus, sein Nachfolger, traf sich
Mit den berühmtesten Mittelgewichtern seiner Zeit
Jim Gardener, Billie Berger
Willie Lewis und Jack Dillon
Und Georges Carpentier war gegen ihn schwach wie ein Kind.
Ihn schlug George Chip
Der unbekannte Mann aus Oklahoma
der nie sonst Taten von Bedeutung vollbrachte
Und geschlagen wurde von
Al Maccoy, dem schlechtesten aller Mittelgewichtsmeister
Der weiter nichts konnte als einstecken
Und seiner Würde entkleidet wurde von
Mike O’Dowd
Dem Mann mit dem eisernen Kinn
Geschlagen von
Johnny Wilson
Der 48 Männer k.o. schlug
Und selbst k.o. geschlagen wurde
Von
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Harry Grebb, der menschlichen Windmühle.
Dem zuverlässigsten aller Boxer
Der keinen Kampf ausschlug
Und jeden bis zu Ende kämpfte
Und wenn er verloren hatte, sagte:
Ich habe verloren.
Der den Männertöter Dempsey
Den Tigerjack, den Manassamauler
verrückt machte, daß er beim Training
seine Handschuhe wegwarf
Das “Phantom, das nicht stillstehen konnte“
Geschlagen 1926 nach Punkten von
Tiger Flowers, dem Neger und Pfarrer
Der nie k.o. ging.
Heute ist Weltmeister im Mittelgewicht
Der Nachfolger des boxenden Pfarrers
Mickey Walker
Der den mutigsten Boxer Europas
Den Schotten Tommy Milligan
am 30. Juni 1927 zu London in 30 Minuten
In Stücke schlug.
Bob Fitzsimmons
Jack O‟Brien
Stanley Ketchel
Billie Papke
Frank Klaus
George Chip
Al Maccoy
Mike O‟Dowd
Johnny Wilson
Harry Grebb
Tiger Flowers
Mickey Walker -
Dies sind die Namen von zwölf Männern
Die auf ihrem Gebiet die besten ihrer Zeit waren
Festgestellt durch harten Kampf
Unter Beobachtung der Spielregeln
Vor den Augen der Welt.
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GEDENKEN
Ernst Jokl
Nur vier Monte nach der eindrucksvoll sein neunzig Jahre währendes Leben würdigenden Feier in Lexington/Kentucky (Beiträge zur Sportgeschichte 5/97) wurde den Freunden von Ernst Jokl in aller Welt die traurige Nachricht übermitteIt, daß er am 13. 12. 1997 verstorben war. Die Umstände seines Todes kennzeichnen sein Leben: nach Lektüre einer wissenschaftlichen Zeitschrift wollte er zum Essen mit der Familie gehen, wobei er ohne Schmerzen einschlief. „Falling asleep with no pain on the way to dinner with his family“, las man in der Todesanzeige.
Mit Ernst Jokl ist wohl der letzte kompetente Zeitzeuge von uns gegangen, der die Entwicklung der Sportmedizin vom Randgruppen-Hobby in den zwanziger Jahren bis zur nunmehr anerkannten Wissenschaftsdisziplin miterlebte. Er war aber nicht nur Zeitzeuge, sondern stest auch aktiver Mitgestalter eines Prozesses, der zur kontinuierlichen Erforschung von Physiologie und Pathologie der sportlichen Belastung beitrug. Die dabei weltweit gewonnenen Erkenntnisse über Leistungsmöglichkeiten und -grenzen des Menschen kamen nicht nur den Sporttreibenden zugute. Sie bereicherten auch Forschung und Lehre vieler medizinischer Fachgebiete, ferner der Sportwissenschaft, Soziologie, Psychologie und anderer Disziplinen.
Die Universalität Ernst Jokls wird durch die weit gefächerte Thematik seiner über 20 Bücher deutlich. Als Beispiele seien genannt: Zusammenbrüche beim Sport (1936), Aviation Medicine (1942), Research in Physical Education (1943), Sport in the Cultural Pattern of the World (1956), Alter und Leistung (1954), Sudden Death of Athletes (1985).
„Medical Aspects of Boxing“ enthält einen Satz, der exemplarisch für gründliche Analyse und deutliches Formulieren des Autors ist: „Die Weltliteratur über Hirntrauma und EEG enthält - außer Boxen - nichts über experimentelle Hirntraumen an Menschen!“
Zum wissenschaftlichen Werk des Verstorbenen zählen auch etwa 350 Publikationen in Zeitschriften und ebensoviele Vorträge, deren inhaltliche Aussage und Diktion die Zuhörer faszinierten.
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In seinen „Portraits from Memory“ (1990) erinnert sich der kalendarisch nun schon alte Ernst Jokl an Persönlichkeiten, durch deren Einfluß seine Entwicklung gefördert wurde oder aber Freundschaften, die auf der Basis gleicher Interessen entstanden. Glanzvolle Namen sind es, die auch Leben und Erleben des Autors widerspiegeln, so Begegnungen mit dem Serologen Paul Ehrlich (1854-1915) als Erinnerung an die Kindheit in Breslau. Er nannte die fachliche Prägung durch den Breslauer Neurochirurgen Otfrid Foerster (1873-1941), der als der glänzendste klinische Lehrer eingeschätzt wird, den Jokl zeitlebens traf. Oder den nach seiner Emigration in England für die Entwicklung der Rehabilitation von Querschnittsgelähmten geadelte Sir Ludwig Guttmann (1900-1980), der zu Jokls Partnern gehörte, als dem in Breslau das erste sportmedizinische Institut einer preußischen Universität angetragen wurde. Jokl nannte auch eine Reihe von Nobelpreisträgern - A.V. Hill, C.S. Sherrington, O. Warburg - und Lord Philip Noel-Baker, den Gründungspräsidenten des Weltrates für Sportwissenschaft und Körpererziehung der UNESCO (ICSSPE), dem er von 1960 bis 1977 als Vorsitzender des Forschungskomitees zur Seite stand. Gerade hier kamen Weltoffenheit und Toleranz des Verstorbenen zum Ausdruck, als er forderte, „daß Vertreter des Sports aus allen Nationen zur Mitarbeit herangezogen werden sollten und daß keinerlei politische Beschränkung die Arbeit des Weltrates beeinflussen.“
Das Leben des Humanisten Ernst Jokl widerspiegelt neben dem Streben nach wissenschaftlicher Höchstleistung auch die Tragik des jüdischen Deutschen, den das Land seiner Geburt erst verstößt und späterhin bei erneutem Integrationsbemühen zurückweist.
1933 konnte er durch die Emigration nach Südafrika der psychischen und physischen Tortur entgehen. Als Captain leistete er in einer Armee der Anti-Hitler-Koalition seinen Beitrag zum Sieg über den Faschismus. Der Frieden läßt ihn dann aber keinen Platz im Land seiner Eltern finden. Den angestrebten Lehrstuhl an der neu gegründeten Deutschen Sporthochschule Köln an einen zurückgekehrten Emigranten zu vergeben, halten diejenigen offensichtlich nicht für opportun, die noch 1945 „Sportlerbataillonen für den Endsieg“ das Wort redeten. Das Angebot, als Institutsdirektor an die Universität Lexington/Kentucky zu kommen,
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eröffnete ihm neue wissenschaftliche Möglichkeiten und gab seiner Familie seit 1953 ökonomische Sicherheit. Seine Empfindungen zu dieser Entwicklung formulierte Jokl mit den Worten: „Es war eine große Tragik, bei der Rückkehr nach dem Krieg keine Gelegenheit zu finden, in der Heimat Fuß zu fassen... Nie wieder habe ich in Deutschland ein Institut für Sportmedizin geleitet. Meine wichtigsten wissenschaftlichen Beiträge nach 1945 sind auf fremdem Boden gewachsen...“
Wir gedenken des universell gebildeten und humanistisch geprägten Arztes Prof. Dr. Ernst Jokl als einer Persönlichkeit, dessen vorurteilsfreies Wirken die Entwicklung von Sportmedizin und Sportwissenschaft im 20. Jahrhundert mit bestimmte.
Kurt Franke
Harry Glaß
Die Trauergemeinde am 29. Dezember 1997 in Klingenthal war groß: Harry Glaß, der mit seiner olympischen Bronzemedaille 1956 in Cortina d‟Ampezzo den Aufstieg des DDR-Sprunglaufs in die Weltspitze einleitete, hatte kurz vor Weihnachten seine Augen für immer geschlossen. Der Bergmann und Ästhet auf den Schanzen wurde 67 Jahre alt. Mit Gattin und Familienangehörigen trauerten viele ehemalige Springerkameraden und Freunde weit über seine Heimatstadt Klingenthal hinaus und gaben ihm wie wir Brotteroder das letzte Geleit.
In den allerersten Stunden des Skispringens nach 1945 fehlte sein Name noch in den Startlisten, 1949 bei den Ostzonenmeisterschaften in Oberhof war er noch nicht dabei. Er kam ein paar Jahre später wie Phönix aus dem Dunkel und gehörte schon nach kurzer Zeit zu den Besten. Es muß um 1952 gewesen sein, genau erinnere ich mich nicht mehr an das Jahr seines ersten Auftritts. In der damaligen Kernmannschaft standen Könner wie Franz Knappe, Kurt Meinel Il, Hans und Franz Renner, Herbert Queck, Heinz Kampf, Rudi und Werner Fischer. Er sollte sie bald alle übertreffen.
Schon 1954 in Falun gehörte er wie ich zur WM-Mannschaft der DDR, aber unser erstes große Kräftemessen mit der Weltspitze endete bekanntlich enttäuschend; Franz Renner war als 50. am
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besten plaziert, ich lag drei Plätze hinter ihm, und Harry Glaß (64.) stürzte, sonst wäre er unser Bester gewesen. Von 1954 bis 1956 landete er als dreifacher DDR-Meister einen Hat-Trick, und 1958 in Altenberg holte er sich den vierten Titel.
Harry Glaß, den wir Scherry nannten, zog vor den Olympischen Spielen 1956 von Klingenthal nach Zella-Mehlis, das sich unter Trainer Hans Renner zum Top-Zentrum im Skispringen entwickelt hatte. Fortan teilte ich mit ihm, wo immer wir auch waren ein Zimmer; Scherry wurde mein bester Freund. In jeder Lebenslage hielten wir zusammen, wir legten zusammen und teilten, wie es unter Freunden heißt. Er war der bessere Springer von uns beiden, ein unübertroffener Stilist, der auch im Turnen, Wasserspringen und Fußball glänzte. Was ich mir hart erarbeiten mußte, ihm fiel es zu, er war eben ein Talent im besten Sinne des Wortes. Was nicht heißt, daß er immer vor mir gewesen wäre.
Vor Cortina 1956 mußten wir durch die Mühle der Ausscheidungen mit den Athleten der Bundesrepublik, aber Harry Glaß und Max Bolkart wurden auf Grund ihrer überragenden Leistungen vornominiert. Im olympischen Duell hatte zwar jeder mit sich selbst zu tun, aber ich erinnere mich, daß wir beide mit unseren Leistungen zufrieden waren; Harry freute sich eher über Bronze, als daß er dem Gold nachgetrauert hätte. Und ich hatte als Achter ja auch nicht enttäuscht. Ein Jahr später rückte mit Helmut Recknagel ein junger Weitenjäger zu uns auf; als legendäres Trio machten wir fortan die Siege in der DDR unter uns aus und waren auch international Spitze.
Als wir uns auf die Olympischen 1960 in Squaw Valley vorbereiteten, war auch Harry Glaß wieder in glänzender Form. Ein unglücklicher Sturz aber machte alle seine Hoffnungen zunichte. Ich erinnere mich, daß wir im Januar 1960 von unserem Trainingsquartier in Oberwiesenthal im Bus nach Innsbruck fuhren, wo wir nach 18stündiger Fahrt um fünf Uhr früh ankamen. Nach kurzem Schlaf ging es schon am Nachmittag auf die Bergiselschanze, die leider nur unzureichend präpariert war. Der Aufsprung war zu weich, und das wurde Harry Glaß zum Verhängnis. Die Folge seines Sturzes war ein komplizierter Knöchelbruch - sein olympischer Traum war jäh zu Ende. Wir haben ihn danach im Innsbrucker Krankenhaus und vor unserer
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Abreise zu den Spielen in der Berliner Charité besucht; er wünschte uns traurig, aber aufrichtig alles Gute.
Nach langer Rekonvaleszenz hat es Harry Glaß nochmal mit dem Springen versucht. Im Herbst 1960 fuhren wir zusammen nach Oernskoeldsvik zu einem Mattenspringen. Dort vollzog Harry Glaß seinen allerletzten Sprung, die Schmerzen im Knöchel ließen nicht nach und sollten ihn bis zuletzt begleiten.
In den folgenden Jahren standen wir zusammen als Trainer an den Schanzen. Für uns beide war es eine erfolgreiche Zeit mit Klassespringern. Henry Glaß, Heinz Wosipiwo, Mathias Buse, Manfred Queck, Bernd Karwofsky, Wolfgang Stöhr, Manfred Deckert, Klaus Ostwald verkörperten die Harry-Glaß-Schule besonders eindrucksvoll.
1991 hatte ich ihn nochmal in Klingenthal besucht. Es ging ihm gesundheitlich schon nicht mehr gut, das Herz machte ihm Sorgen. Daß er fast am Ende des Jahres 1997 nur rund zwei Monate nach seinem 67. Geburtstag am 11. Oktober die Augen für immer schloß, hat uns tief getroffen. Sein Platz an den Schanzen ist leer, in den Annalen unseres schönen Skisports aber hat Harry Glaß für immer seinen Platz. Und in den Herzen seiner Freunde lebt Scherry weiter.
Werner Lesser
Ludwig Schröder
Als ich mit Ludwig Schröder im Mai 1997 in Blossin am Wolziger See während eines Treffens von Skisport-Veteranen der DDR zusammensaß; wer hätte ahnen können, daß es das letzte Mal sein sollte. Nur beiläufig sprach der stets kraftvolle Mann von seiner Krankheit, und so war man leichten Glaubens, sie sei gar nicht so schlimm, als daß er sie nicht besiegen könnte wie andere Schwierigkeiten in seiner Arbeit und seinem Leben. Wenige Monate später hatte dieser Siegertyp den Kampf verloren.
Zum erstenmal (von ferne) gesehen hatte ich ihn 1952 als Organisator eines Traktor-Sportfestes in Schmiedefeld am Rennsteig. Am Rande der Loipe damals noch Walter Ulbricht zu dessen großen Passionen ja der Skilauf gekörte. Für das Zusammentreffen mit dem Mann des Staates hatte sich Ludwig
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Schröder gründlich vorbereitet. Für alle Fragen von „Rolle und Bedeutung“ hielt er sich gewappnet, aber dann wollte der Staatsrnann beim ersten Kontakt wissen: „Wieviel Grad haben wir, Genosse Schröder?"
Wie hätte er mit dieser geradezu lächerlichen Frage rechnen können, der Ludwig? Um dann doch schlagfertig zu antworten: "Drei bis vier Grad minus.“ AIs sich die beiden später an der Strecke wiedertrafen, deutete Ulbricht auf seine wohl schlecht gewachsten Bretter und meinte: „Wenn man nicht weiß, wie kalt es ist, dann gibt man es zu.“
Es mag diese Episode nicht ausschlaggebend gewesen sein, daß Ludwig Schröder fortan in solcherart Bredouillen nicht mehr kam, typisch dafür war sie dennoch. Sein Name wurde zum Synonym für den Aufstieg des DDR-Skisports; kaum ein anderer DTSB-Funktionär blieb zeit seines Wirkens unangefochten wie Ludwig Schröder. Sein Wort hatte Gewicht, nicht nur wegen seiner zwei Zentner bei 1,86 m Größe, sein Wirken war effektiv und erfolgreich.
Am 21. Juli 1920 wurde er in Waren/Müritz geboren; Vater war Eisenbahner, Mutter Lagerarbeiterin. Der Sohn wurde Fleischer und spielte in seiner Freizeit Fußball. Eine schwere Verwundung an den Beinen ließ ihn das Kriegsende 1945 im Lazarett erleben und das ersparte ihm eine womöglich lange Gefangenschaft. Am 26. November 1945 wurde er Mitglied der KPD und erlebte den Vereinigungsparteitag in Mecklenburg als Gastdelegierter. Seine Sportfunktionärslaufbahn begann er als DS-Kreisvorsitzender in Waren, um sie als Chef der Sportvereinigung Traktor der DDR fortzusetzen.
So also stand der Flachländer endgültig im Schnee, nicht aber im Regen, denn Umsicht und Organisationstalent, Einfühlungsvermögen und Sachkenntnis führten ihn bald an die Spitze des DDR-Skisports, dessen Präsident er 1955 wurde. AIs 1958 der Deutsche Skiläufer-Verband gegründet wurde, übernahm Ludwig Schröder das Amt des Generalsekretärs. Aus dem Neuling, „der vor allem seine Ohren aufspannte, wenn Experten redeten“ (so Ludwig Schröder), war ein Fachmann geworden, der den Weg zum Erfolg spurte. Als Harry Glaß 1956 mit Bronze im Sprunglauf die erste olympische Medaille für den DDR-Sport errang, war der „Luden“, wie ihn seine Freunde scherzhaft nannten, schon Leiter des DDR-Teils der gesamtdeutschen Mannschaft.
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Eine Sternstunde erlebte er 1960 in Squaw Valley, als Helmut Recknagel zum Olympiasieg sprang, und Ludwig Schröder am Mikrofon das spannende Geschehen in die Heimat übertrug. Einigen Trainern und allen Sportjournalisten der DDR war damals die Einreise in die USA verweigert worden. Ludwig bewältigte auch diese Herausforderung meisterlich; tausendfache Dankespost sagte ungleich mehr über die Wirkung dieser Reportage als fachmännisches Urteil. Ludwig Schröder wußte endgültig, „wieviel Grad“ es in jeder Situation waren.
Als er nach den Weltmeisterschaften 1974 als DSLV-General-sekretär aufhörte, um im DTSB-Bundesvorstand die Aufgabe eines Abteilungsleiters zu übernehmen, hatte er den Gipfel seines Wirkens erreicht. Fünf WM-TiteI führten die DDR in Falun an die Spitze der Nationenwertung. Daß er an diesem Funktionswechsel selbst nicht unbeteiligt war, wußten die Insider. In der Sternstunde des Wirkens abzutreten, schaffen machtgeile Staatsmänner kaum. Ludwig Schröder bewies mit diesem Schritt nicht nur menschliche Größe, sondern auch die Bauernschläue eines UrMecklenburgers, der nun fortan nicht mehr ein Übermaß an sportlichen Erfolgen „abzurechnen“ hatte, das er selbst gesetzt hatte.
Was aber nun wieder nicht hieß, daß er in schwierigen Situationen nicht bereit gewesen wäre, erneut Verantwortung zu übernehmen. Als die DDR-Springer in den achtziger Jahren den Anschluß an die Weltspitze verloren, übernahm Ludwig Schröder das Amt des Mannschaftsleiters.
Sein höchstes Glück dennoch genoß er nach eigenen Worten 1970 in Strbske Pleso, als die DDR mit Gerhard Grimmer und der Frauen-Staffel dreimal WM Silber errang und der Langlauf des DSLV nach jahrelangen vergeblichen Mühen in die Weltspitze vorstieß. ln seiner Berliner Wohnung hing all die Jahre hindurch ein Foto auf dem sich zwei glückliche Menschen umarmen: Ludwig Schröder und Gerhard Grimmer.
Seit 1961 arbeitete Ludwig Schröder auch in Gremien des Internationalen Ski-Verbandes (FIS). Zuerst als Mitglied des Redaktionskomitees für das „FlS-Bulletin“. Dann wurde er in das Komitee Nordische Kombination berufen, dem er bis 1975 angehörte. In jenem Jahr wählte ihn der FlS-Kongreß in San Francisco zum Mitglied des FIS-Vorstandes. Ein Ehrenamt, das schon ein Jahr später mit einer Aufgabe gekoppelt wurde, die
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Konsequenz, Unbestechlichkeit und Feingefühl zugleich erforderte. Im Winter 1975/76 hatten die Österreicher mit gravierenden Neuerungen an Ski und Ausrüstung eine Materialschlacht eröffnet, die ins Uferlose zu führen drohte. Der FIS-Vorstand beschloß daraufhin die Konstituierung des Komitees für Wettkampfausrüstung mit dessen Leitung Ludwig beauftragt wurde.
Fast zwei Jahrzehnte lang hat Ludwig Schröder diesen schwierigen Posten gehalten und ausgezeichnete Arbeit geleistet. Seine Entscheidungen garantierten Chancengleichheit für alle und hatten stets den Athleten im Blickpunkt.
Am 4. Oktober 1996 wurde Ludwig Schröder im Beisein von FlS-Präsident Marc Hodler in Berlin aus dem Vorstand verabschiedet und zum Ehrenmitglied des FIS-Vorstandes gewählt. In einem Nachruf schrieb die FIS in ihrem Bulletin: "Wir alle wissen nur zu gut, welch große Lücke er hinterläßt.“ Für viele gilt: Der Freund und Mitstreiter Ludwig Schröder bleibt für sie unvergessen.
Roland Sänger

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 7 / 1998
INHALT:
ZITATE
Verein "Sport und Gesellschaft" gegründet
Gespräch mit dem Präsidenten Prof. Dr. Westphal 4
DISKUSSION / DOKUMENTATION
Beschluß der IAAF von 1966 und die Reaktion der
Bundesregierung
Gerhard Oehmigen 7
DOKUMENTE
Aufzeichnung Dr. Dvorak 11
Vermerk: ...Verwendung der Embleme, Fahnen und Hymne der SBZ 12
Fernschreiben (fsnr.) Bundesministerium des Innern 13
Brief Willi Daumes an Bundesministerium des Innern 14
Auswärtiges Amt: Fernschreiben (verschlüsselt) 15
Fragwürdigkeiten ohne Ende
Karsten Schumann und Heinz Schwidtmann 17
Anmerkungen zur historischen und ethischen Dimension von Doping und Dopingforschung
Arnd Krüger 25
Der durchsichtige Instrumentalismus einer sporthistori-schen Analogiekonstruktion
Helmuth Westphal 42
ZITATE
Weitgehende Abwicklung fragwürdig 51
Henselmann: Gedopte Paragraphen 52
Rietbrock-Interview 56
REPORTAGE
Thüringer Burgenfahrt - 150 000 für eine Millionen-Idee
Roland Sänger 57
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REZENSIONEN
Der Alpinismus. Kultur-Organisation-Politik
Fritz Leder 61
Der vergessene Weltmeister
Klaus Huhn 64
ZITATE
Festrede zum 100jährigen FLV-Jubiläum
Walter Jens 67
Sportler ans Bier heranführen?
Helmut Digel 68
JAHRESTAGE
Zum 100jährigen Leichtathletik-Jubiläum
Georg Wieczisk 71
Gedanken zur Bewegungslehre
Kurt Meinel 73
Zum 110. Geburtstag von Friedrich Wolf
Günther Witt 74
Zum 40. Todestag Johannes R. Bechers
Günther Witt 76
GEDENKEN
Gerhard Lukas
WolfhardFrost 79
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DIE AUTOREN
WOLFHARD FROST, Dr. phil. habil., geboren 1931, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg von 1985 bis 1991.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der DVS.
ARND KRÜGER, Dr. phil., Prof. an der Georg-August-Universität Göttingen, Direktor des Instituts für Leibesübungen, Mitglied der DVS.
FRITZ LEDER, geboren 1926, Ing.-Ökonom, Vizepräsident Berg-steigen im Deutschen Verband für Wandern, Bergsteigen und Ori-entierungslauf (DWBO) von 1970 bis 1987.
GERHARD OEHMIGEN, Dr. sc. paed, geboren 1934, Prof. für Ge-schichte des Sports am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1981 bis 1991.
ROLAND SÄNGER, geboren 1935, Sportjournalist, Pressechef des Deutschen Skiläufer-Verbandes (DSLV) 1979 bis 1990.
KARSTEN SCHUMANN, Dr. paed., geboren 1963, Absolvent der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) und am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1970 bis 1990, Rektor der DHfK 1963 bis 1965.
HELMUTH WESTPHAL, Dr. paed. habil., geboren 1928, Prof. für Theorie der Körperkultur und für Sportgeschichte an der Pädagogi-schen Hochschule Potsdam von 1958 bis 1988.
GEORG WIECZISK, Dr. paed., geboren 1922, Prof. für Geschichte und Soziologie des Sports an der Humboldt-Universität zu Berlin bis 1987, Ehrenpräsident des Deutschen Verbandes für Leichtath-letik (DVfL) und des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV).
GÜNTHER WITT, Dr. phil. habil., geboren 1925, Prof. für Kultur-theorie und Ästhetik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig von 1982 bis 1990.
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Verein „Sport und Gesellschaft“ gegründet
Gespräch mit dem Präsidenten Prof. Dr. WESTPHAL
Wie man hört, haben Sie in den letzten Wochen viel Post bekom-men?
Ja, sagen wir, mehr als sonst.
Zu- oder Absagen zu dem Verein, den Sie unlängst gegründet und beim Amtsgericht Potsdam haben eintragen lassen?
Bis jetzt nur Zusagen.
Könnten Sie die Ziele des Vereins „Sport und Gesellschaft e.V.“ in wenigen Sätzen skizzieren?
Wir haben viele Ziele. Fest steht, daß wir uns in dem Verein nicht treffen, um der Nostalgie zu frönen. Wir wollen versuchen zu be-wahren, was weltweit am DDR-Sport geschätzt wurde. Das Resul-tat des Engagements von Tausenden Übungsleitern, BSG-Funktionären, Trainern und Verbandsfunktionären ist nicht mit ein paar Schmähschriften heutiger Profilierungsneurotiker zu diffamie-ren. Wir wollen Geschichtsdarstellungen weder auf umstrittene Ak-tennotizen stützen, noch auf die Schablonen, die die Diktatur-Thesen vorgeben. Kurz: Wir wollen zusammentragen, was der DDR-Sport geleistet und was er versäumt hat.
Letztlich also eine „Geschichte des DDR-Sports“?
Wir können nicht damit rechnen, daß uns die Bundesregierung so großzügig unterstützt, wie die Historiker, die an bisherigen Projek-ten arbeiteten. Deshalb sind unsere Ziele realistisch bescheiden. Wichtig deucht uns, daß man irgendwann in der Zukunft nicht nur auf Literatur angewiesen ist, die in der Hektik der „Nieder-mit-der-DDR“-Epoche entstand.
Gibt es schon konkrete Vorhaben?
Ja. Am 1. Oktober werden wir in Berlin eine kleine Konferenz zum 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Sportausschusses veranstalten, deren Protokollband so etwas wie ein Grundstein für unser Anliegen sein soll.
Wer hat für die Konferenz bereits zugesagt?
Vor allem Zeitzeugen. Zu den Referenten gehören der erste DTSB-Präsident Rudi Reichert, der DS-Vorsitzende der frühen fünfziger Jahre, Fred Müller, Prof. Kurt Franke, der sich engagiert um die in-
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ternationale Anerkennung der DDR-Sportmedizin bemühte, die durch die Hallstein-Doktrin lange vereitelt wurde.
Sportmedizin ist in letzter Zeit zumindest in den Medien ins Zwie-licht geraten.
Sie meinen bestimmte Medien. Damit wäre eine weitere Aufgabe angeschnitten, die auf uns zukommen könnte, - nämlich sich frei von Vorurteilen, differenziert und im jeweiligen historischen Kon-text, die Leistungen der DDR-Sportmediziun zu behandeln. Dabei muß das Dopingproblem nicht ausgeklammert, jedoch das Proges-sive, das humanistische Wirken der DDR-Sportmedizin, das Vor-bildliche angesichts einer politisch tendierten Verleumdungskam-pagne sichtbar gemacht werden.
Wohin können sich weitere Interessenten für die Konferenz wen-den?
Wir sind zwar ein gemeinnütziger, aber noch büroloser Verein. Die Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“ hat sich bereit erklärt, un-sere Veröffentlichungen zu publizieren. Wer sich für unsere Vor-haben interessiert, sollte seine Post an die Hermann-Maaß-Straße 5 in 14482 Potsdam richten.
Würden Sie auch mit den Historikern, die sich jetzt mit Geschichte des DDR-Sports beschäftigen, zusammenarbeiten?
Selbstverständlich. Ich habe gelegentlich mit den Herren des Pots-damer Instituts Kontakte und bin sehr zuversichtlich, künftig auch gemeinsame Vorhaben realisieren zu können. Förderlich wäre es, wenn die Ausgrenzungsbedingungen für bewährte Sporthistoriker der DDR annulliert würden. Es ist auch nicht so, daß wir bei Null anfangen. In der schon zitierten Zeitschrift wird seit drei Jahren in Folgen eine Chronik des DDR-Sports publiziert, deren Qualität Respekt verdient.
Dann also „Sport frei!“ für den neuen Verein.
Die Fragen stellte Klaus Huhn
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Aus der Satzung des Vereins
§ 2
Vereinszweck
Der Verein läßt sich in seiner Tätigkeit von den olympischen Prin-zipien leiten und tritt für Humanismus und Demokratie im aktuellen nationalen und internationalen Sportgeschehen ein. Er unterstützt alle Bestrebungen zur Verwirklichung des Rechts auf Ausübung des Sports in der Lebensgestaltung der Individuen und ist den de-mokratischen wie allen fortschrittlichen Traditionen der deutschen Körperkultur und des Weltsports verpflichtet.
Die Zusammenarbeit der Mitglieder verfolgt das Ziel, wissenschaft-liche Untersuchungen, insbesondere zu sportpolitischen und sport-historischen Fragen, aufzunehmen, die Arbeitsergebnisse zu disku-tieren, publizieren und im Rahmen von Konferenzen oder Weiter-bildungsveranstaltungen vorzutragen. Zwangsläufig ergeben sich daraus auch Stellungnahmen zu aktuellen Problemen des Sport-geschehens.
§ 3
Unabhängigkeit
Der Verein ist politisch und konfessionell unabhängig.
§ 5
Vereinsmitgliedschaft
Mitglieder des Vereins können Einzelpersonen sowie Vereine oder Verbände sein.
§ 8
Beiträge
Zur Durchführung seiner Aufgaben erhebt der Verein von seinen Mitgliedern Beiträge, deren Mindesthöhe auf Vorschlag des Vor-standes durch die Mitgliederversammlung bestimmt wird. Die Bei-tragehöhe wird somit durch die Mitgliederversammlung beschlos-sen.
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Beschluß der IAAF von 1966 und die Reak-tion der Bundesregierung
Von GERHARD OEHMIGEN
Nachdem am 8. Oktober 1965 die 63. Session des IOC in Madrid mit übergroßer Mehrheit beschlossen hatte, dem NOK der DDR für die Olympischen Winterspiele 1968 in Grenoble sowie für die Olym-pischen Spiele 1968 in Mexico City eigenständige Olympiamann-schaften zuzubilligen mußte jedem, der politisch denken konnte und die sportpolitische Entwicklung einigermaßen real einschätzte, klar sein, daß damit endgültig ein Prozeß eingeleitet war, der letztlich früher oder später zur einschränkungslosen internationalen Akzep-tanz und Anerkennung des DDR-Sports führen mußte. Einschrän-kungslos heißt: nicht nur schlechthin eigene Mannschaften bei olympischen Spielen und internationalen Meisterschaften, sondern auch eigene nationale Symbole, wie Flagge und Hymne. Es liegt auf der Hand, daß sowohl die führenden Sportfunktionäre, vor allem aber die zuständigen Regierungsstellen der Bundesrepublik, we-nigstens zweifaches Interesse hatten, diesen Prozeß soweit wie möglich hinauszuzögern. Zum einen ermöglichte die festgelegte Bezeichnung „geographisches Gebiet Ostdeutschland" für die DDR und das festgelegte Flaggen- und Hymnenzeremoniell für die Sport-ler und Mannschaften der DDR1), wenigstens einen Rest von Allein-vertretung zu demonstrieren, und zum anderen mußte wohl die Vor-stellung des Einmarsches einer voll anerkannten DDR-Olympia-mannschaft ins Münchener Olympiastadion einem Trauma gleich-kommen. Deshalb wurde auch dort, wo es möglich erschien, kom-promißlose politische Stärke gezeigt. So wurden beispielsweise die Biathleten der DDR im Februar 1966 bei der Weltmeisterschaft in Garmisch-Partenkirchen (BRD) mit polizeilichen Maßnahmen am gleichberechtigten Start gehindert und faktisch von der Weltmeister-schaft ausgeschlossen. Es lag natürlich ebenso auf der Hand, daß die DDR so schnell wie möglich alle Einschränkungen bei internati-onalen Starts beseitigt haben wollte, um ihren Sportlern auch inter-national alle üblichen Rechte zu verschaffen - natürlich verbunden mit dem politischen Ziel dringend notwendiger Demonstration staat-licher Souveränität. Die Gelegenheit ergab sich bald und sie wurde
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mit der Hilfe der Partner der anderen sozialistischen Länder mit Er-folg genutzt.
Vom 30. August bis zum 4. September 1966 fanden in Budapest die Leichtathletik-Europameisterschaften statt. Dem bereits am 28. August tagenden Council der IAAF lag ein Antrag des Leichtathle-tikverbandes der DDR vor, die geltenden Beschränkungen für den Start der DDR-Mannschaft (Bezeichnung Ostdeutschland und ohne eigene Staatsflagge und Nationalhymne bei Siegerehrungen) auf-zuheben. Die Mehrheit der zwölf Mitglieder des Council sahen an-gesichts der internationalen Entwicklung und der Leistungsstärke der DDR-Leichtathletik offenbar keinen erkennbaren Grund mehr, einem selbständigen Verband eines selbständigen Landes auch weiterhin die allen anderen nationalen Leichtathletikverbänden zu-gebilligten selbstverständlichen Rechte zu verweigern. Mit nur einer Gegenstimme (Dr. Danz, BRD) sowie einer Stimmenthaltung wur-den die Beschränkungen für die Mannschaft des Leicht-athletikverbandes der DDR aufgehoben. Lediglich die Bezeichnung „Ostdeutschland" blieb weiter bestehen. Das diese Festlegung zu-nächst ausdrücklich nur für die EM in Budapest getroffen worden war, wurde offensichtlich von niemandem besonders wichtig ge-nommen. Keiner zweifelte daran, daß der DDR auf sportpolitischem Gebiet ein weiterer Durchbruch gelungen war. Man erinnere sich: schon einmal, am 22. Oktober 1964 auf der Council-Tagung in To-kio war der einflußreiche internationale Leichtathletikverband Vor-reiter gewesen, als er den Deutschen Verband für Leichtathletik (DVfL) der DDR in die IAAF aufnahm und damit seine künftige Teil-nahme mit eigenen Mannschaften bei internationalen Veranstaltun-gen der Leichtathletik ermöglichte - ein ganz bedeutsamer Schritt auf dem Wege zum Beschluß der 63. Session des IOC vom 8. Ok-tober 1965 in Madrid.2) Während der Präsident des Leichtathletik-verbandes der Bundesrepublik und Mitglied des Council der IAAF, Dr. Max Danz, sich mit der entstandenen Situation zwar mit Unmut doch weitgehend gelassen abfand und selbst der Präsident des DSB, Willy Daume, die Realität zur Kenntnis nahm, reagierte die Bundesregierung wieder einmal hektisch. Die Akten des Archivs des Auswärtigen Amtes der BRD offenbaren - angesichts der da-mals in der BRD noch üblichen Beteuerungen der Unabhängigkeit des Sports von staatlichen Eingriffen und seines insgesamt unpoli-tischen Wesens - ein bemerkenswertes Maß an regierungsamtli-
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cher Einmischung, Bevormundung der eigenen Sportfunktionäre und Erpressungsversuchen internationaler Sportorganisationen. Sofort nach Bekanntwerden des Beschlusses legte der Verantwort-liche Legationsrat I im Auswärtigen Amt, Dr. Dvorak, am 29. August 1966 dem zuständigen Staatssekretär (vermutlich Staatssekretär Lahr) einen offensichtlich bereits mit der Abt. II im Auswärtigen Amt sowie mit dem Bundeskanzleramt abgestimmten Beschlußvor-schlag vor. In diesem heißt es unmißverständlich: „Abteilung IV empfiehlt dem Vorschlag des Bundeskanzleramtes zuzustimmen: Herr Daume sollte ersucht werden, in einem Telegramm an den in-ternationalen Leichtathletikverband diesen zur Zurücknahme seines Beschlusses zu veranlassen und, falls dem nicht stattgegeben wird, die deutsche Mannschaft aufzufordern, unverzüglich abzureisen."3) In einem Aktenvermerk der Abt. II wird sogar auf Forderungen des Bundesinnenministers, Paul Lücke, nach: „Bemühungen, im Sinne des Schlußabsatzes des Fernschreibens des Herrn Bundesminis-ters des Innern die westeuropäischen Länder zu einem Boykott o-der aber zu einer Protestaktion zu bewegen..."4) verwiesen und gleichzeitig belehrt: „Eine diplomatische Intervention gegenüber der ungarischen Regierung ist schon deshalb nicht möglich, weil keine diplomatischen Beziehungen bestehen"5). Festzuhalten ist, daß sich diesmal die Sportfunktionäre gegenüber den Regierungsstellen durchgesetzt hatten und die Mannschaft nicht zurückzogen. Das Verhalten von Dr. Max Danz in diesem Zusammenhang brachte ihm wiederum6) im Nachhinein einen regierungsoffiziellen Akten-vermerk ein. In einem verschlüsselten Fernschreiben an das Aus-wärtige Amt vom 6. September 1966 - sinnigerweise unter Bezug auf „Neues Deutschland“ - wird hervorgehoben, „dass Dr. Max Danz, in einem Trinkspruch die anwesenden 'dreißig Nationen' be-grüßt habe, womit auch die 'DDR in den Kreis der Nationen einbe-zogen' worden sei".7) Auch habe er mit der Erklärung besonderen Beifall erhalten, die Mannschaft der Bundesrepublik sei der Auffor-derung der Regierung, abzureisen nicht nachgekommen, sondern werde „...im Kreis der Freunde..."8) bleiben. Übrigens, eine pikante Anmerkung am Rande. Dr. Max Danz hatte sich als Mitglied des Councils der IAAF bereits vorher den 800-m-Lauf der Männer zur Siegerehrung ausgesucht in der Überzeugung, der westdeutsche Läufer Franz-Josef Kemper würde Europameister. Kemper gewann schließlich die Silbermedaille. Europameister wurde Manfred Matu-
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schewski aus der DDR und Dr. Danz vollzog die erste Siegerehrung mit Flagge und Hymne der DDR in Budapest. Natürlich, an reinen Fakten bringen die Akten demjenigen, der sich seit über 40 Jahren mit der Geschichte des Sports und der Sportpolitik in Deutschland beschäftigt nur relativ wenig Neues. Aber, den aktenkundigen Be-weis bisherigen Wissens und für manches Vermutete des direkten Agierens der BRD-Regierung im „unabhängigen“ Sport der BRD in der Hand zu halten ist ein spannender Vorgang. Die Neugier da-rauf, was weitere neu zugängliche Akten über dreißig Jahre nach ihrer Anlage an Interessantem und Brisantem zu bieten haben, ist jedenfalls ungestillt.
Anmerkungen:
1) vgl. Oehmigen, Gerhard: Die 63. IOC-Session und Daumes Ärger mit der Bun-desregierung. In: Beiträge zur Sportgeschichte. Berlin, Heft 6, 1998 S.39f
2) ebenda
3) AAAB IV/5 86 10/10. Aufzeichnung, Betr.: Europameisterschaften für Leichtath-letik.
4) AAAB IV/5, 86.10/10. Vermerk, Betr. Europäische Leichtathletik-Meisterschaften in Budapest, S. 2
5) ebenda
6) vgl. Oehmigen, Gerhard: Die Olympischen Spiele 1956 in Melbourne und die Deutschen. In: Beiträge zur Sportgeschichte. Berlin, Heft 5, 1957, S.33/34
7) AAAB IV/5, 86.10/10. Schriftbericht-fernschreiben ( verschlüsselt ) vom 6. 9. 66. 9.50 Uhr.
8) ebenda
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DOKUMENT 1
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 10/10)
...A u f z e i c h n u n g
Betr.: Europameisterschaften für Leichtathletik in Budapest vom 29.8. - 3.9.1966
1) Der Internationale Fachverband für Leichtathletik hat an sich die Übernahme der Madrider IOC-Regelung für alle internationalen Veranstaltungen beschlossen.
2) Auf Drängen der SBZ hat er nunmehr im letzten Augenblick für Budapest (28.8.66) eine Ausnahmeregelung beschlossen, nach welcher die SBZ-Flagge gezeigt und das SBZ-Staatsemblem getragen und im Falle eines Sieges die Becher-Hymne gespielt wird. Die einzige Konzession zu unse-ren Gunsten besteht darin, daß unsere Mannschaft unter der Bezeichnung Deutschland und die Mannschaft der SBZ unter der Bezeichnung Deutschland-Ost angekündigt wird.
3) Im Augenblick versucht Herr Vizekanzler Mende mit Herrn Bundesminister Lücke zu einer Verständigung über die einzu-nehmende Haltung zu kommen. Die Neigung scheint dahin zu gehen, sich mit einem Protest zu begnügen. Abteilung IV empfiehlt dem Vorschlag des Bundeskanzleramtes zuzustim-men: Herr Daume sollte ersucht werden, in einem Telegramm an den Internationalen Leichtathletikverband diesen zur Zu-rücknahme seines Beschlusses zu veranlassen und, falls dem nicht stattgegeben wird, die deutsche Mannschaft aufzufor-dern, unverzüglich abzureisen.
4. Hiermit Herrn Staatssekretär mit der Bitte um Weisung vor-gelegt. Referat II A 1 hat mitgezeichnet.
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DOKUMENT 2
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt Band 1618/IV 5 - 86 - 10/10)
II A 1 - 85.50/1 Bonn, den 29. August 1966
V e r m e r k
Betr.: Europäische Leichtathletik - Meisterschaften in Budapest;
hier: Verwendung der Embleme, Fahnen und der Hymne der SBZ
Anlg.: - 1 -
1. Für die am 29.8. (abends) in Budapest beginnenden europäischen Leichtathletik-Meisterechaften ist am Vorabend in Durchbrechung der be-stehenden Regelung des Internationalen Leichtathletik-Verbandes der Be-schluß gefaßt worden, ausnahmsweise in Budapest die Embleme sowie Fahnen und Hymne der SBZ zu verwenden. Es ist noch nicht bekannt, wie die westeuropäischen Mitglieder des Europäischen Leichtathle-tik-Verbandes in dieser Angelegenheit gestimmt haben.
Der Internationale Leichtathletik-Verband hatte im Dezember 1965 beschlossen, die Olympia-Regelung für die Mannschaften aus Deutschland bei internationalen Wettkämpfen anzuwenden.
2. Der für Sportangelegenheiten zuständige Bundesminister des Innern sowie das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen sind mit dem Auswärtigen Amt in die-ser Angelegenheit in Verbindung. Das Bundeskanzleramt sowie die Abteilungen IV und II sind der Auffassung, daß die Mannschaft aus der Bundesrepublik Deutschland den Spielen fernbleiben müßte, wenn die vorbezeichnete Ausnahmeregelung für die Veranstaltung in Budapest tatsächlich praktiziert wird.
Der Bundesminister des Innern hat sich schließlich bereitgefunden, den Präsidenten des Deutschen Sportbundes, Daume, aufzufor-dern sicherzustellen, daß eine Diskriminierung der Bundesrepublik Deutschland bei den Wettkämpfen unterbleibt. (vgl. beiliegendes Telegramm des BMI an Herrn Daume vom 29. 8.).
3. Bemühungen, im Sinne des Schlußabsatzes des Fernschreibens des Herrn Bundesminister des Innern die westeuropäischen Län-der zu einem Boykott oder aber zu einer Protestaktion zu bewegen, könnten erst dann eingeleitet werden, wenn bekannt ist, wie der Präsident des Deutschen Sportbundes zu den Wünschen der Bun-desregierung in dieser Angelegenheit Stellung genommen hat.
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Eine diplomatische Intervention gegenüber der ungarischen Regie-rung ist schon deshalb nicht möglich, weil keine diplomatischen Beziehungen bestehen.
Hiermit
Herrn D II I. V.
vorgelegt.
gez. Wieck
DOKUMENT 3
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 10/19)
...innern bonn fsnr. 3078 2908 1745
1. bundeskanzleramt
2. auswaertiges amt
3. herrn minister fuer gesamtdeutsche fragen
bonn =
betr.: gesamtdeutscher sportverkehr
hier: flaggen - und hymnenzeremoniell bei den
leichtathletik - meisterschaften in budapest
ich bitte davon kenntnis zu nehmen, dasz ich auf grund der mir inzwi-schen zugegangenen pressemeldungen unverzüglich nachstehendes fernschreiben des praesidenten des deutschen sportbundes uebersandt habe:
„ nach pressemeldungen und berichten des deutschen fernsehens soll der internationale leichtathletikverband gestern in budapest entschieden haben, dasz die athleten aus der sbz zwar unter der bezeichnung "ost-deutschland“ starten sollen, jedoch fuer sie sowohl die zonelflagge ge-zeigt als auch die becherhymne gespielt werden.
sollten diese meldungen zutreffen, wuerde dies nicht nur eine abweichen von der vom internationalen leichtathletik-verband bereits akzeptierten madrider ioc-regelung bedeuten, sondern den bisherigen absprachen widersprechen. ich bitte sie daher, im einvernehmen mit dem dlv im sportlichen bereich diejenigen notwendigen masznahmen zu treffen, die allein geeignet sind, bei dieser w sachlage eine politische desavourie-rung der bundesrepublik deutschland - zu verhindern.
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durchschrift dieses fernschreibens leite ich dem bundeskanzleramt, dem auswärtigen amt und dem herrn bundesminister fuer gesamtdeutsche fragen zu.“
-- zusatz fuer dass auswaertige amt und den bundesminister fuer ge-samtdeutsche fragen: --
ferner bitte ich, die ihnen erforderlich erscheinenden masznahmen auf diplomatischem wege unmittelbar zu veranlassen.-
der bundesminister des innern
sp 1 - 370 - 330/5 - gez.: lueck+
DOKUMENT 4
822206 daume d 1.9.1966 15.45 Uhr
an das
bundesministerium des innern
z. hd. von herrn staatssekretaer prof. dr. ernst
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betr.: angelegenheit budapest
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sehr geehrter herr staatssekretaer,
der guten ordnung wegen teile ich noch mit, dass ich heute nacht den praesidenten des deutschen leichtathletik-verbandes telefo-nisch in budapest erreichen konnte. ich habe ihm die stellung-nahme der bundesregierung, wie abgesprochen, zur kenntnis ge-geben.
wie ich schon telefonisch sagte, hielt ich es fuer keinen der beteilig-ten fuer gluecklich, dass in der sache nun durch den sprecher der bundesregierung gestern der bundespressekonferenz auch noch eine stellungnahme gegeben wurde. meinerseits habe ich mich danach - im einvernehmen mit herrn ministerialdirektor dr. krueger - darauf beschraenkt, nur einen satz des inhalts dazu auszusagen, dass ich die meinung der bundesregierung zur kenntnis genommen haette. hoffentlich ist es moeglich, es dabei zu belassen.
aus budapest wurde mir noch berichtet, dass der internationale leichtathletik-verband wohl unter dem druck der ungarischen regie-rung gehandelt hat, die erklaert haben soll, dass man dort nichts anderes taete, was mit umgekehrten vorzeichen in den
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nato-laendern geschehe. angeblich ist die ganze veranstaltung ge-faehrdet gewesen. der internationale leichtathletikverband hat aber den antrag des ostblocks abgelehnt, diese regelung generell zu beschliessen. sie kommt ueberhaupt nur fuer Ostblockstaaten in frage und es muss von fall zu fall darueber befunden werden. kei-nesfalls ist sie auf dem boden der sowjetzone selbst moeglich, da bleibt es nach wie vor bei der madrider loesung. und gegen den protest des ostens bleie eee bleiben auch die bezeichnungen 'deutschland' fuer uns und 'ost-deutschland’ fuer die zone beste-hen. diese beschluesse sind von der vollversammlung der interna-tionalen Leichtathletik-federation offiziell gefasst worden, natürlich gegen die deutsche stimme aber dies war wohl die einzige gegen-stimme. heute nachmittag tritt der council der federation zusam-men, und bei der gelegenheit wird, ihren wuenschen entsprechend, die sache nochmals vorgetragen. mit einer aenderung der jetzt in budapest gegebenen verhaeltnisse ist jedoch nicht zu rechnen, auch nicht damit, dass unsere mannschaft abreisen wird. in diesen falle waere die reaktion gleichermassen in west und ost auch mit sicherheit hoechst negativ, zumal nach dem mir uebermittelten be-richt ganz offensichtlich ist, dass das verhaeltnis unter den sport-lern aus beiden teilen deutschlands so gut und herzlich ist wie nie zuvor...
mit vorzueglicher hochachtung
ihr sehr ergebener
gezeichnet willi daume
DOKUMENT 5
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5/ 86 10/10)
auswaertiges amt
- referat zb 6 -
schriftbericht-fernschreiben(verschluesselt)...
betr.: aufwertung der zone bel den europa-meisterschaften in buda-pest
wer bisher noch irgendwelche zweifel darueber hatte, dass die sbz sich an internationalen sportveranstaltungen in erster linie aus politi-schen gruenden beteiligt, der wurde jetzt durch die kommentierung der ereignisse in budapest in dem amtlichen organ des zentralkomi-
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tees der sed, "neues deutschland", eines besseren belehrt. unter der balkenueberschrift „die groessten verlierer“ beschaeftigt sich diese zeitung auf einer drittelseite ausschliesslich mit dem politischen erfolg, den die zone in budapest durch den „einmarsch einer selbstaendigen ddr-mannschaft“ und das „auftreten mit eigener hymne und flagge“ erzielen konnte. hierbei wir besonders hervorgehoben, dass der prae-sident des deutschen leichtathletik-verbandes, dr. max danz, in einem trinkspruch die anwesenden „dreissig nationen“ begruesst habe, wo-mit auch die „ddr in den kreis der nationen einbezogen“ worden sei. ferner betont „neues deutschland“, dass dr. danz in budapest beson-deren beifall erhalten habe, als er oeffentlich erklaerte, die bundesre-gierung in bonn sei beunruhigt und habe gefordert, die mannschaft solle abreisen (semi) die mannschaft sei dieser aufforderung jedoch nicht nachgekommen, sondern werde „im kreise der freunde bleiben“.
in dem bericht wird ferner hervorgehoben, dass von den zwoelf mit-gliedern des councils - des obersten gremiums der internationalen leichtathletik-foerderation (iaaf) -, naemlich marquess of exeter (gross-britannien), t. pain (grossbritannien), k. asano {japan), d. ferris (usa), s. oberweger (italien), c. da costa (brasilien), l. chomenkow (udssr), a. paulen (holland), m. danz (westdeutschland), lindahl (schweden), s. sir (ungarn), t. tulliura (finnland), in einer briefwahl zehn dafuer gestimmt haetten, die zonenflagge zu hissen und die becher-hymne zu spielen. ein delegierter habe sich der stimme enthalten, und danz habe als ein-ziger dagegen gestimmt.
bezeichnend ist der schluß des artikels, der wie folgt lautet: „es waere ein simples mathematisches vorhaben, die verlierer von budapest zu errechnen, weil es nur 36 sieger gab. noch einfacher ist es indessen, die groessten verlierer herauszufinden: es sind die bonner minister und ihre wieder einmal gescheiterte politik“.
der entsprechende ausschnitt aus der heutigen ausgabe von „neues deutschland“ wird mit dem naechsten kurier vorgelegt. ich moechte anregen, ihn allen deutschen sportlern, die an das unpolitische des sports glauben, in geeigneter form zur kenntnis zu bringen. - hoffmann +
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Fragwürdigkeiten ohne Ende
Von KARSTEN SCHUMANN und HEINZ SCHWIDTMANN
Man ist inzwischen allerhand von den Versuchen gewöhnt, eine - vorgeblich neue - Geschichte des DDR-Sports zu schreiben. Gisel-her SPITZER erreicht nun mit der Arbeit "Die DDR-Leistungssportforschung der 80er Jahre - Überlegungen zu einem Phänomen in differenzierungstheoretischer Perspektive"1) einen zweifelhaften Höhepunkt an Fragwürdigkeiten.
Schon das Thema gibt Anlaß nachzufragen, weil es in der Abhand-lung gar nicht, wie der Titel vorgibt, um die "DDR-Leistungssportforschung" geht, sondern entsprechend den Über-schriften für die einzelnen Abschnitte um die Sportwissenschaft als Ganzes, "als Subsystem", "als soziales Subsystem", ja um "Gren-zen der Entwicklung von Sportwissenschaft und Sport" oder die "Begrenzung der Leistungsfähigkeit der Sportwissenschaft".2) So etwas ist zwar keineswegs üblich, wäre aber möglich, würde sich eine Analyse anschließen, die nicht nur dem Untersuchungsge-genstand - Sportwissenschaft als Ganzes - gerecht wird, sondern sich auch eines Instrumentariums bedient, das geeignet ist, den gewählten Gegenstand in seiner Genese abzubilden. Stattdessen wird tatsächlich versucht, Wissenschaft und ihre Entwicklung auf der Basis von Akten und nur von Akten zu analysieren. Als "Quel-len" werden genannt: Akten der Abteilung Wissenschaft im DTSB, des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport, des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen, Sachakten des MfS, IM-Akten und Ak-ten des Vorsitzenden der SV Dynamo, Minister Erich Mielke.3) Als Belege im Text verwendet der Autor allerdings fast ausschließlich Akten des MfS, IM-Akten oder des Ministers für Staassicherheit, Erich Mielke, lediglich ein Aktenblatt Staatsrat/Staatsekretär und ein Protokoll der Leistungssportkommission, eins vom NOK und ein weiteres aus dem Büro Krenz. Außer Akten wird noch eine weitere Quellengruppe genannt, und zwar "retrospektive Gespräche mit Wissenschaftlern und DDR-Kaderathleten".4) Von den neun Ge-sprächen, auf die im Text Bezug genommen wird, gelten zwei als Interview. Belegt wird nicht ein einziges so, daß es hinsichtlich sei-ner methodischen Anlage und wissenschaftlichen Ergiebigkeit
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nachprüfbar wäre. In einem Fall wird auf eine künftige Examensar-beit verwiesen.5) Einen nachgewiesenen Bezug zu einem Ge-spräch mit einem DDR-Kaderathleten gibt es im vorliegenden Text nicht. Diese Quellengruppe erfüllt demnach ebenso wie ein Teil der aufgeführten Aktengruppen bestenfalls eine Alibifunktion. Sie sind also keinesfalls geeignet, die Asymmetrie der Quellenlage zu mil-dern. Um so mehr muß verwundern, daß "die für jeden Historiker selbstverständliche Quellenkritik"6) - so WEBER - wiederholt völlig vernachlässigt wird, schlicht fehlt.
Der erste Abschnitt der Abhandlung von SPITZER verspricht laut Zwischenüberschrift "Fragestellung und Forschungsstand"7) und es werden auch zwei Fragegruppen genannt. Die erste fragt: "War aber die Dominanz von Praxisorientierung nicht auch ein Menete-kel? Wem nutzte die DDR-Sportwissenschaft eigentlich? Hat sie ethische bzw. humanistische Standards verbessert, gehalten oder gar verloren oder zu ihrer Vernichtung beigetragen? Hat der Sys-temzwang nicht zur menschlichen Korrumpierung gezwungen, mit Geheimhaltung von Forschung, Parteiaufträgen, Stasi-Verstrickung?"8) Diese Fragen haben zwar etwas mit der zu analy-sierenden Wissenschaft zu tun. Hauptsächlich geht es aber um moralische Ansprüche und deren Entwicklung, die ganz offensicht-lich gar nicht - mit einem der Ethik gemäßen Instrumentarium - un-tersucht werden sollen. Bezugnehmend auf den "Potsdamer Ver-such" wird außerdem gefragt:
" -Worin besteht das 'Moderne' des SED-gesteuerten DDR-Sports und seiner (z.T. auch im guten Glauben selbst-) funktionalisierten Wissenschaft.
- An welchen Stellen fällt er hinter das 'Fortschrittliche' zurück, cul-tural lag, Strukturdefekt, Konservatismus, Bürokratismus, verstei-nertes Gesellschaftsbild, Antikapitalismus, nicht zuletzt die an 'alte Männer' gebundene Entscheidungsstruktur wären hier als Erklä-rungsmodell naheliegend. Was war in der gesellschaftlichen Reali-tät im Sportsystem mit den sog. 'Hausherrn von Morgen', also der Jugend allgemein und hier speziell dem wissenschaftlichen Nach-wuchs, geschehen?"9)
Diese Fragegruppe zielt auf den Untersuchungsgegenstand "DDR-Sport" und das "Sportsystem". Außerdem bezeichnet der Autor selbst, schon im nächsten Satz, diesen Teil seiner Ausführungen als "Befunde"10) und schränkt damit ihre Funktion als wissenschaft-
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liche Fragestellung nicht nur ein. Er führt sie eigentlich ad absur-dum. Die in der Zwischenüberschrift versprochene Fragestellung, die sich an dem im Thema genannten Gegenstand oder an dem in den Zwischentiteln wesentlich weiter gefaßten Untersuchungsge-genstand orientiert, wird also nicht vorgestellt. Die Problemanalyse als Ausgangspunkt für die Generierung von Fragestellungen ist ebensowenig wie der Prozeß der Generierung selbst in seinen wichtigsten Arbeitsschritten belegt und nachvollziehbar, obwohl auch das allgemein üblich ist, wenn es um Untersuchungen geht, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollen.
Wer nun erwartet, daß den nachfolgenden Abhandlungen wenigs-tens eine mehr oder weniger umfassende Analyse der Sportwis-senschaft in der DDR zugrundeliegt oder entsprechende Analysen genutzt werden, sieht sich getäuscht. Es wird lediglich auf eine Analyse von BERNETT11) aus dem Jahr 1980 zurückgegriffen, de-ren Belege zumeist Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre er-arbeitet worden sind. Außerdem hatte BERNETT am Anfang sei-nes analytischen Beitrages mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß "man keine absolute Authentizität erwarten" darf, weil kein "unmit-telbarer Zugang zu Ressourcen der Forschungsstätten und Archi-ve"12) in der DDR bestand. Die von SPITZER angegebenen Arbei-ten von AUSTERMÜHLE13) und HINSCHING14) leisten unverzicht-bare Beiträge stehen jedoch nicht für das Ganze weder der Sport-wissenschaft noch des Sports. Es wird also weder eine problem- und theorie- noch eine methodengeschichtliche Analyse, und zwar als Prozeßanalyse des Systems der DDR-Sportwissenschaft, vor-gelegt oder genutzt. Vielmehr wird nahezu völlig davon abstrahiert und lediglich versucht, bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedin-gungen historisch zu rekonstruieren. Das aber reicht weder für be-gründete Aussagen zur Entwicklung und Leistungsfähigkeit einer Wissenschaftsdisziplin noch für ein Wissenschaftssystem als Gan-zes aus, für seine Differenziertheit und Integration, für das Niveau des inter- bzw. transdisziplinären Zusammenwirkens und schon gar nicht für die erreichten wissenschaftlichen Ergebnisse. Aufgrund des Gegenstandes der Sportwissenschaft sind neben problem- und theoriegeschichtlichen Analysen methodengeschichtliche unver-zichtbar, die sich keinesfalls ausschließlich auf die Forschungsme-thoden beschränken dürfen. Vielmehr ist bei einer so stark anwen-dungsorientierten Wissenschaft außerdem das diagnose-, interven-
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tions- und evaluationsmethodische Instrumentarium in seiner Kom-plexität zu untersuchen und dabei sind weder die Genese dieses Instrumentariums noch seine Möglichkeiten im Prozeß der Verän-derung bestehender Zustände auszuklammern. Das zu betonen, gebietet u.E. nachdrücklich die Mahnung von WEBER, die er un-längst bezogen auf die Forschungen zur Geschichte der DDR äu-ßerte: "Doch die Wissenschaft muß sich stets von ihren eigenen Kriterien und den professionellen Standards leiten lassen ... Bei den Wertungen mögen monokausale Erklärungen für komplexe Vorgänge in der Öffentlichkeit 'gefragt' sein, der Historiker hat tun-lichst die kritische Differenzierung vorzunehmen, ... Die Wissen-schaft muß sich deswegen vor der Vereinnahmung durch die Poli-tik ebenso hüten wie vor dem jeweiligen 'Zeitgeist'."15) Die fehlende analytische Basis in der hier besprochenen Abhandlung von SPITZER kann keinesfalls durch das differenzierungstheoretische Instrumentarium ersetzt werden. Vor allem CACHAY16) oder BETTE17) haben nachgewiesen, daß trotzdem nicht auf Sachanaly-sen verzichtet werden kann. Um so mehr darf man natürlich auf die Ergebnisse einer "Analyse" gespannt sein, die so viele grundsätzli-che Fragen nach den "professionellen Standards" wissenschaftli-chen Arbeitens ermöglicht.
Zwei Aussagen sollen - exemplarisch für die gesamte Abhandlung - genannt und geprüft werden. Auf Seite 158 heißt es bei SPITZER: "Mit Bezug auf die zeitgenössische Literatur isolierte BERNETT drei Folgen der 'von Partei und Regierung' initiierten Entwicklung: eine 'Projektion der Sportwissenschaft in das Ge-samtsystem der Wissenschaften', die 'zunehmende Entfernung der Sportwissenschaft von der Pädagogik' und (letzlich als Folge:) die 'Zentrierung der Sportwissenschaft auf die Trainingswissenschaft'. Die damalige Analyse von außen wird durch die heutige Quellenla-ge eindrucksvoll unterstrichen und benötigt in dieser allgemeinen Form keine Korrekturen."18) Das eine (Entfernung von der Pädago-gik) ist so falsch wie das andere (Zentrierung auf die Trainingswis-senschaft). Und der Autor solcher "Wahrheiten" muß sich schon fragen lassen, welche Analysen zur tatsächlich vollzogenen Wis-senschaftsentwicklung er überhaupt selbst durchgeführt oder zur Kenntnis genommen hat. Entsprechende Belege und Literatur-nachweise bleibt er jedenfalls schuldig. Er nahm nicht einmal die Einschätzung von WINKER aus dem Jahr 1974 zur Kenntnis, daß
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jene Arbeiten und Schemata, welche die Trainingswissenschaft als "Kernstück der Sportwissenschaft" sahen, jeweils einen historisch geistigen Standort verdeutlichen19), was FORNOFF übrigens durch seine auf die Wissenschaftstheorie der Sportwissenschaft bezoge-ne Entwicklungsanalyse überzeugend nachweist.20) Auch solch ei-ne Aussage "Enfernung ... von der Pädagogik"21) für die Sportwis-senschaft der DDR, in der nach SCHNABEL der Gegenstand der Trainingswissenschaft "pädagogische Gesetzmäßigkeiten der kör-perlich-sportlichen Tätigkeit der Menschen"22) sind und nach THORHAUER Training und Wettkampf immer als ein pädagogi-sches Phänomen definiert wurde23), bedarf wissenschaftlich rele-vanter Belege. Diese schließen die zweifelsfreie Zurückweisung der Gegenhypothese, ob sich die Entwicklung nicht vielmehr hin zur Pädagogik vollzogen hat, ein. Angesichts der weithin bekann-ten Orientierung auf den Trainer als Pädagogen und der nachprüf-baren Ergebnisse in der Prozeßführung des Grundlagen-, Aufbau-, Anschluß- und Hochleistungstrainings als pädagogischen Prozeß muß zwangsläufig nicht nur die Hypothese (Entfernung von der Pädagogik) wissenschaftlich bestätigt, sondern auch die Gegenhy-pothese (weitere Hinwendung zur Pädagogik) zweifelsfrei zurück-gewiesen werden können. Und dazu reichen scheinbare Belege oder unbelegte Behauptungen keineswegs aus.
Nachdem von SPITZER u.a. die Dominanz des Leistungssports, die Rekrutierung und Sozialisation der Kader im Systemsinn oder Chancenungleicheit der Geschlechter in der Sportwissenschaft der DDR24) thematisiert wurden, behauptet er abschließend: "Es ist nämlich verhältnismäßig leicht zu zeigen, daß trotz der 'Medaillen-bilanzen' der DDR-Höchstleistungssport (verstanden als Berufs-sport!) seit 1983/84 in einer inneren Krise befand, aus der er sich bis zur Wende nicht mehr aus eigener Kraft befreien konnte (so wurde auch das gute Abschneiden in Seoul (intern!) als Überra-schung gewertet.) ... Die DDR-Sportwissenschaft konnte unter die-sen Bedingungen ihre eigentliche Leistungskraft im Sinne der Mo-derne nicht entfalten:"25) Das klingt zwar plausibel, insbesondere wenn es um Entwicklungen in einem Staat geht, den es nicht mehr gibt und der auf eine solche Weise - wie die DDR - untergegangen ist. Es muß aber, wie so mancher Schluß solcher Art, noch lange nicht den Tatsachen entsprechen. Berücksichtigt man, daß nach FORNOFF aus "verschiedenen Gründen ... die Situation der
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Sportwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland am Ende der 1980er Jahre als Krise beschrieben" und für die Entwicklung "im Übergang zu den 1990er Jahren ... von verschiedenen Autoren eine Krise der Sportwissenschaft diagnostiziert"26) wurde, liegt die Vermutung nahe, nun sollen Defizite der Sportwissenschaft in den alten Bundesländern flugs auf die in der DDR projiziert werden. Ähnliches gilt für die Einschätzung zur Sportpädagogik. MEINBERG stellte angesichts der Probleme dieser Wissenschafts-disziplin in den alten Bundesländern fest: "Die Theorie versagt vor den Problemen der Praxis"27) und beklagt die weitgehende "Abwe-senheit pädagogischer Reflexionen auf den Spitzensport".28) Nicht weniger drastisch sind diesbezüglich die Einschätzungen von KURZ29) , KRÜGER30) oder FRANKE.31) Die Konsequenzen dieser - hier nur knapp skizzierten - Entwicklung hatten eine "starke Redu-zierung der Fördermittel" und eine "geringere Förderpriorität" der Sportpädagogik zur Folge.32) Da nach MEINBERG diese und ande-re "Probleme der gegenwärtigen Theorie der Sportpädagogik ... zu einem großen Teil die unbewältigten Probleme einer Theorie der Leibeserziehung ..."33) in den alten Bundesländern sind, wird auch überdeutlich, wie unterschiedlich die Entwicklungen offenbar waren und wie sehr simple Analogieschlüsse vor der tatsächlichen Ent-wicklung der Wissenschaft versagen. Sie dienen dann lediglich der Bestätigung und Untersetzung bereits seit langem entwickelter Po-sitionen und befördern letzlich nur ein von inhaltlichen und metho-dischen Vorentscheidungen geprägtes Bild, ob des Sports oder der Sportwissenschaft in der DDR. Wenn es allerdings genau darum geht, dann stören am Untersuchungsgegenstand orientierte und den "professionellen Standards"34) der Wissenschaft entsprechen-de Analysen nur. Und man darf insofern getrost auf weitere Erzäh-lungen und Nacherzählungen dieser Machart gespannt sein.
ANMERKUNGEN
1) Spitzer, G.: Die DDR-Leistungssportforschung der achtziger Jahre - Überlegun-gen zu einem historischen Phänomen in differenzierungstheoretischer Perspekti-ve. In: Gissel, N./Rühl J. K./Teichler, H. J.: Sport als Wissenschaft. Hamburg 1997, 151-185
2) Ebenda, 156 ff.
3) Ebenda, 153
4) Ebenda
5) Ebenda, 170
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6) Weber, H.: Zum Stand der Forschung über die DDR-Geschichte. Deutschland Archiv 31 (1998) 2, 252
7) Spitzer, G.: A.a.O., 151
8) Ebenda, 151 f.
9) Ebenda, 155
10) Ebenda
11) Vgl. Bernett, H.: Entwicklung und Struktur der Sportwissenschaft in der DDR. Sportwissenschaft 10 (1980) 4, 375-403
12) Ebenda, 375
13) Vgl. Austermühle, T.: Der DDR-Sport im Lichte der Totalitarismus-Theorien. Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 11 (1997) 1, 28-51
14) Vgl. Hinsching, J.: Zwischen Arbeitsgesellschaft und Erlebnisgesellschaft - Modernisierung und Sport in den neuen Bundesländern. In: Hinsching, J./Borkenhagen, F. (Hrsg.): Modernisierung und Sport. Sankt Augustin 1995, 65-82
15) Weber, H.: A.a.O., 253
16) Vgl. Cachay, K.: Sport und Gesellschaft, Schorndorf 1988
17) Vgl. Bette, K.-H.: Strukturelle Aspekte des Hochleistungssports in der Bundes-republik. Sankt Augustin 1984; Bette, K.-H.: Die Trainerrolle im Hochleistungs-sport. Sankt Augustin 1984
18) Spitzer, G.: A.a.O., 158
19) Vgl. Winker, R.: Historisch vergleichende Betrachtung der zur Struktur der Sportwissenschaft in der DDR entwickelten schematisch-sytematischen Darstel-lungen (von 1960 - 1973). Wissenschaftliche Zeitschrift der Deutschen Hochschu-le für Körperkultur 15 (1974) 2, 83-103
20) Vgl. Fornoff, P.: Wissenschaftstheorie in der Sportwissenschaft. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich. Darmstadt 1997
21) Spitzer, G.: A.a.O.
22) Schnabel, G.: Zur Begründung der Trainingsmethodik als Wissenschaftsdis-ziplin. Theorie und Praxis der Körperkultur 20 (1988) 1, 59
23) Vgl. Thorhauer, H.-A.: Struktur der sportlichen Leistung unter besonderer Be-rücksichtigung des Beziehungsgefüges konditioneller Fähigkeiten. In: Thieß, G. (Hrsg): Beiträge zur Theorie und Methodik des Trainings. Zwickau 1990, S. 1 ff.; Thorhauer, H.-A.: Zur Stellung der Theorie und Methodik des Trainings in der Sportwissenschaft. Theorie und Praxis der Körperkultur 37 (1988) 1, 51 ff.
24) Vgl. Spitzer, G.: A.a.O., 161 ff.
25) Ebenda, 181 ff.
26) Fornoff, P.: A.a.O., 311
27) Meinberg, E.: Hauptprobleme der Sportpädagogik. Darmstadt 1984, 21
28) Ebenda, 180
29) Vgl. Kurz, D.: Sportpädagogik - Eine Disziplin auf der Suche nach ihrem Profil. In: Gabler, H.:/Göhner, U. (Hrsg.): Für einen besseren Sport. Schorndorf 1990, 236-251
30) Vgl. Krüger, A.: Trainer brauchen Pädagogik! Leistungssport 19 (1989) 5, 31-33; Krüger A.: Hat sich die Sportpädagogik aus dem Leistungssport verabschie-det? Leistungssport 21 (1991) 6, 15-18
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31) Vgl. Franke, E.: Handlungstheorien und Sport - ein Blick hinter die Kulisse der Selbstverständlichkeit sportlichen Tuns. In: Hagedorn, G./Bös, K. (Red.): Handeln im Sport Clausthal-Zellerfeld 1985, 60-77
32) Oestreich, J.: Die Entwicklung der Sportwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a.M. 1991, 129
33) Meinberg, E.: Erziehungswissenschaft und Sportpädagogik. Sankt Augustin 1979, 225
34) Weber, H.: A.a.O.
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Anmerkungen zur historischen und
ethischen Dimension von
Doping und Dopingforschung
Von ARND KRÜGER
Einleitung
12 (= 3 x 4) Tassen Kaffee1) zum falschen Zeitpunkt getrunken und Du bist ein Leben lang wegen Dopings gesperrt2); einen Sportler beraten, wann er Kaffee trinken darf oder gar zu einer Tasse Kaf-fee eingeladen, und bekannte Potsdamer Sporthistoriker werden Dich einen Fachdoper nennen – oder schlimmer noch, behaupten, man gehöre "zu den Mittätern der Menschenexperimente und der Abhängigmachung vieler junger Menschen von Drogen"3); festge-stellt, welche Wirkung Kaffee hat und Klaus Huhn wird behaupten, daß Du Dopingforschung betreibst4). An den Haaren herbeigezo-gen? Nein, traurige Realität in der öffentlichen Diskussion um Do-ping im Jahre 1998, bei der gerade in Deutschland vieles durchei-nander geht und dabei die eigentlichen Fragen auf der Strecke bleiben. Es sollte zunächst einmal festgehalten werden, daß nicht jede Verwendung von leistungsfördernden Substanzen „Doping" ist, sondern nur die Verwendung von bestimmten und dieses auch erst von dem Zeitpunkt an, da deren Verwendung (ggf. auch durch Festsetzen bestimmter Höchstgrenzen) verboten ist. Manches, was man ißt, stellt einen Ernährungszusatz dar, manches wird als Sub-stitution5) bezeichnet, manches als Medikament. Die Trennungsli-nien verlaufen in den unterschiedlichen Staaten an unterschiedli-chen Stellen. Es ist auch nicht jede ungewöhnliche leistungsför-dernde Praktik verboten, denn Experimente im Training sind ge-stattet.
Grundlagen
Das Beispiel mit dem Kaffee zeigt, daß es bei Dopingge- und -verboten kaum um Regelungen für die Gesundheit geht. Wem die Gesundheit der Sportler am Herzen liegt, müßte erst einmal Boxen verbieten, denn die olympische Sportart verursacht mehr gesund-heitliche Schäden als Kaffee. Wenn man die Dopingge- und -
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verbote an Fairplay festmachen will, muß man sich mit dessen Ur-sprung befassen und dabei feststellen, daß es sich nicht um eine abstrakte Norm handelt ("Ritterlichkeit"), sondern um die Einfüh-rung eines präzisen Regelwerks und den Versuch, dieses, z. B. mit einer eigenen Gerichtsbarkeit des Sports, durchzusetzen.6) Damit ist von der historischen Entwicklung her aber deutlich, daß es sich nicht um Fragen eines wie auch immer gearteten "Geistes" des Sports handelt, sondern um das Einhalten/Nichteinhalten von Re-geln.
Es geht auch nicht bei Doping um Chancengleichheit. Wer Kade-rathleten durch bessere Finanzierung einen Wettbewerbsvorsprung gegenüber Nicht-Kaderathleten im eigenen Land verschafft, ver-stößt gegen das Prinzip der Chancengleichheit im Inneren - selbst wenn dies im Interesse einer Chancengleichheit nach Außen sinn-voll erscheint.
Da in der Doping-Diskussion viele Meinungen vertreten werden, es mit der elementaren faktischen Grundlage aber häufig hapert, soll im Folgenden erst einmal versucht werden, einige Fakten und Da-ten zusammenzutragen. Dies erscheint mir um so notwendiger, als z. B. im verdienstvollen Buch von Brigitte Berendonk falsche Fak-ten zur Grundlage genommen wurden: Anabolika sind nicht schon 1970 verboten worden (Behauptung auf S. 19), sondern vom IOC erst am 6.5. 1974 mit Wirkung von den Olympischen Spielen 1976 an – und das auch nur für Wettkämpfe und nicht für Training.7)
Ich lege Wert auf diese Ausgangslage, da ich 1973 als Redakteur der Zeitschrift Leistungssport drei Beiträge zur Anabolika-Forschung in Deutscher Übersetzung veröffentlicht habe8) - und dieses natürlich nicht hätte machen können, wollen und dürfen, wenn dies in irgendeiner Weise gegen den Geist des Sports ver-stoßen hätte, der damals wie heute beim Bundesausschuß (heute Bundesvorstand) Leistungssport des DSB, dem Herausgeber der Zeitschrift, in guten Händen ist.9)
Wenn ich mich hier auf Doping beziehe, gehe ich vom Normalfall aus, daß es sich um eine Handlung von informierten Erwachsenen handelt. Was der informierte Erwachsene in unserer Gesellschaft mit seinem Körper macht, ist dem/der einzelnen überlassen. Selbstmord steht nicht unter Strafe. Schwangerschaftsabbrüche gelten als nicht verboten, wenn nach einem festen Ritual die Infor-mation/Aufklärung über das Sicherheitsrisiko und die ethischen
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Probleme stattfand. Beides ist deutlich gefährlicher und konse-quenzenreicher als Doping. Im Falle des Schwangerschaftsabbru-ches ist „erwachsen“ im Hinblick auf den eigenen Körper sogar weiter gefaßt. Ohne entsprechende Information ist das Verabrei-chen von Medikamenten nach meinem Verständnis von der Rolle der Freiheit der Wahl nicht nur in unserem Gesellschaftssystem, sondern aufgrund der Menschenrechte für jeden, eine Form von Körperverletzung und Betrug.10) Trainer haben gegenüber ihren Schützlingen eine besondere Verpflichtung, auf die Unversehrtheit des Körpers zu achten. Wer sich – unter welchen gesellschaftli-chen Bedingungen auch immer – gegen die pädagogische Verant-wortung für seine Schützlinge entscheidet, handelt als Trainer ver-antwortungslos.11) „Informed consent“ gilt auch bei wissenschaftli-chen Experimenten mit nicht ausgetesteten Medikamenten als die Formel, die ein eher problematisches Verabreichen moralisch ak-zeptabel macht. Dies aber setzt voraus, daß die Person, der das problematische Medikament verabreicht wird oder die umstrittene Praxis verwendet, unterrichtet ist und verstanden hat, welche Risi-ken und Chancen eine solche Behandlung haben. Ohne „informed consent“ wird keine Ethikkommission Menschenversuchen zu-stimmen. Solche Ethikkommissionen gibt es in Deutschland aber auch noch nicht so lange.12) Sportverbände haben natürlich eine Verpflichtung, Schaden von ihren Mitgliedern abzuwenden. Inso-fern handelt der Radsportverband verantwortungsbewußt, Sportler für 14 Tage zu sperren, deren Haematokritwert eine Sicherheits-marge überschritten hat – unabhängig davon, ob dies auf natürli-che (z. B. Höhentraining) oder unnatürliche Weise (z.B. EPO) zu-stande gekommen ist.
Es gibt im Zusammenhang gerade mit Anabolika und anderen Do-pingsubstanzen noch drei weitere Probleme, die man ansprechen muß, um die Diskussion besser zu verstehen.
1. Die Doping-Bestimmungen nicht aller Sportorganisationen sind gleich. Im allgemeinen geht man von denen des Internationa-len Olympischen Komitees aus, dem sich die meisten internationa-len Sportfachverbände angeschlossen haben. Aber in Realität ist die Angelegenheit komplizierter, da nicht alle Sportler immer für denselben Verband starten. Die meisten olympischen Schwimmer und Leichtathleten der USA starten während der größten Zeit des
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Jahres für einen der amerikanischen Hochschulsportverbände, z. B. für die NCAA. Diese haben eigene, andere Dopingbestimmun-gen, die sich stärker an amerikanischer Gesetzgebung orientieren. Das bedeutet nicht nur, daß z. B. 5 statt 4 Tassen Kaffee vor dem Wettkampf zulässig sind (1,5 mcg/ml zu 1,2 Koffein), sondern daß im Interesse von gerichtsverwertbaren Fakten die Prinzipien der fo-rensischen Medizin und nicht die der medizinischen Kommission des IOC angewandt werden.13) Während das IOC darauf besteht, daß aus einem Urin-Sample eine A- und eine B-Probe entnommen und diese im selben Labor untersucht werden, sehen amerikani-sche Gerichte dieses Verfahren nur als eine freiwillige Möglichkeit an und erwarten im Normalfall Analysen aus zwei verschiedenen Laboren, um die Fehlerquote und die falsch positiven Befunde ver-ringern zu können.14) Schließlich beträgt die Sperre bei Erstmiß-brauch in Dopingvergehen nicht die im IOC üblichen 2 Jahre, son-dern nur 90 Tage.15)
Größer noch sind die Unterschiede zu den Profiverbänden, die un-ter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls seit dem IOC-Kongreß 1981 in Baden-Baden ihre Athleten zu den Olympischen Spielen entsenden können. Die Teilnahme der Eishockeyspieler der NHL und der Tennisspieler der ATP führt dazu, daß man hier Sportlerin-nen und Sportler bei den Olympischen Spielen zuläßt, denen Ana-bolikakonsum während des ganzen Jahres gestattet. Nur bei den Olympischen Spielen selbst müssen sie anabolikafrei starten, nicht aber beim Daviscup, den Grand-Slam-Turnieren oder im Training in der Vorbereitung auf diese Turniere – und damit auch auf die Olympischen Spiele. Wer 1996 in Wimbledon erfolgreich - also mit Anabolika - spielen wollte, konnte nicht in Atlanta starten - umge-kehrt, wer in Atlanta starten wollte, mußte schon deutlich vor Wimbledon Anabolika absetzen. Anabolika beschleunigen nicht nur die Wiederherstellungsprozesse bei langen Turnieren, sind fast ei-ne zwingende Notwendigkeit bei viel Training und Turnieren auf Hartplätzen, sie verbessern auch deutlich die Ballgeschwindigkeit beim Aufschlag.16)
2. Doping-Kontrollen wurden bis 1989 nur nach Wettkämpfen durchgeführt, während seitdem 1.1.1990 auch gleichsam unan-gekündigte Trainingskontrollen nach dem IOC-Reglement in ein-zelnen Staaten einschließlich Deutschlands stattfinden. Einmal da-
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von abgesehen, daß auch diese nicht bei allen Verbänden zur sel-ben Zeit eingeführt wurden (in Irland werden sie nach den jüngsten Dopingbeschuldigungen z.B. erst zum 1.1.1999 eingeführt – wäh-rend sie in Nordirland seit 1990 eingeführt sind17)), daß es Verbän-de gibt, die „unangekündigt“ unterschiedlich interpretieren (da mit Hilfe von rezeptfreien Mitteln der Testosteron/Epitestosteron-Quotient innerhalb von 6 - 8 Stunden als Beweismittel für Anabo-likakonsum ausgeschaltet werden kann, ist die tatsächliche Vor-warnzeit durchaus von Bedeutung)18), gibt es außerdem auch indi-viduelle Unterschiede bei den Auswahl- und Vorwarnverfahren. Zum Beispiel findet eine Trainingskontrolle für afrikanische Läufer, die ihren Wohnsitz in den USA oder Europa haben und für ihr Hei-matland starten, praktisch nicht statt.
Im Hinblick auf die Vorwürfe gegenüber der Verabreichungspraxis von anabolen Steroiden im Training in der ehemaligen DDR stellt sich jedoch noch eine andere Frage: Ist es ein Dopingvergehen, Anabolika im Training einzusetzen, wenn nur deren Kontrolle im Wettkampf vorgesehen ist, die Verabreichung unter ärztlicher Auf-sicht erfolgte und die DDR sich zu keiner trainingsbegleitenden Dopingkontrolle freiwillig verpflichtet hat? Im Sinne der Fair-Play-Definition im engeren Sinne (erlaubt ist, was nicht verboten ist), ist das zunächst für die Anfangszeit problematisch, da trainingsbeglei-tende Kontrollen nicht einmal diskutiert wurden. Auch die Tatsache, daß man in der DDR vorbeugende Dopingkontrollen vor der Aus-reise durchgeführt hat, ist im internationalen Maßstab nichts Un-gewöhnliches. Es ist für die vom IOC akkreditierten Anti-Doping-Labors erst im Februar 1988 verboten worden.
Nach allgemeinem Rechtsverständnis ist ex post facto Gesetzge-bung unzulässig. Niemand hat gefordert, der Olympiasieger 1904 im Marathonlauf solle seine Goldmedaille zurückgeben, da er Strychnin regelmäßig zu sich nahm, ein wirksames aber damals nicht verbotenes Doping-Mittel.19)
Gaston Roelants war ein starker Kaffeetrinker. 30 - 35 Espressos am Tag waren nicht ungewöhnlich. Er kann in vielen seiner Trai-ningseinheiten und zu den meisten Wettkämpfen nach heutigen Kriterien als gedopt gelten. Niemand hat bisher gefordert, ihm sei-ne Goldmedaille 1964 (3000 m Hindernis) abzuerkennen, obwohl seine Trainingsmengen an Koffein mit ähnlicher Zuverlässigkeit be-
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rechenbar sind wie Mengen von Anabolika im Urin von manchen DDR-Athletinnen.
1976 wurden Schwimmern der westdeutschen Olympiamannschaft in Montreal der Darm aufgeblasen, um die Wasserlage zu verbes-sern. Dies wurde erst nach den Olympischen Spielen für den Wett-kampf verboten („physiologische Mittel, unphysiologisch zuge-führt“). Als Trainingsmaßnahme zur Verbesserung der Wasserlage bei Schwimmern im Modernen Fünfkampf macht das Verfahren je-doch noch immer Sinn, da die Schulung einer verbesserten Tech-nik mit technischen Hilfsmitteln zum Anpassen an eine verfeinerte Technik zum Durchbrechen eines motorischen Stereotyps sinnvoll ist. Obwohl das Verfahren verboten ist für den Wettkampf, wird es im Training nicht kontrolliert. Aufgrund des Analogieschlusses halte ich es für überaus problematisch, die Verwendung von Anabolika im Training als Doping zu brandmarken, ehe sie nicht auch für das Training verboten wurde, und das Verbot entsprechend kontrolliert wurde – vor allem wenn die Verabreichung unter ärztlicher Kontrol-le erfolgte; die freie Arztwahl und die freie Wahl der Therapie (z.B. bei Überlastungsschäden) sind ein hohes Gut, das sich nicht so einfach durch eine zweifelhafte Interpretation von Verbandsregeln aufheben läßt. Ich klammere hier die Problematik von Minderjähri-gen und von Vertrauensbruch bewußt aus, da ich erst einmal vom "Normalfall" für die meisten westlichen Länder, freie Arztwahl, freie Therapiewahl, "mehr oder weniger informed consent", ausgehe.
1984 waren Radrennfahrer der USA bei den Olympischen Spielen in Los Angeles mit Blutdoping behandelt worden. Auch wenn man sie unter der Generalklausel („physiologische Mittel auf unphysio-logischem Wege“) hätte anklagen können, ist darauf verzichtet worden, da Bluttransfusionen gängige medizinische Praxis sind und das IOC es vorzog, Eigenbluttransfusionen als einen separa-ten Dopingtatbestand erst 1985 aufzunehmen, statt vor einem amerikanischen Gericht mit dem Fall zu verlieren. Auch dies bestä-tigt nur, daß es bei der internationalen Verfolgung von Dopingver-gehen nicht um das besondere Rechtsverständnis in einzelnen Staaten gehen kann, sondern – ähnlich wie bei internationalen Ge-richtshöfen – nur um verbindliche internationale Regelungen.
3. Medikamente, die für Doping eingesetzt werden, haben in al-ler Regel auch eine medizinische Anwendung. Anabolika sind
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die Mittel der Wahl nach Operationen, um die Muskulatur wieder aufzubauen. Erythropoietin hilft Personen mit Nierenkrebs vor dem Erstickungstod. Sich mit einer Substanz in der Forschung ausei-nanderzusetzen, die das Potential hat, Menschen zu helfen oder auch nur mehr über den menschlichen Körper zu erfahren, ist legi-tim.
Mit dem Begriff „Dopingforschung“ würde ich sehr vorsichtig umge-hen, denn meistens handelt es sich um Forschung, die man auch zu Dopingzwecken mißbrauchen kann, die aber durch die grund-gesetzliche Freiheit der Forschung legitimiert ist. Bevor die Ver-wendung einer Substanz als "Doping" deklariert ist, handelt es sich in keinem Fall um Dopingforschung. Ich würde es auch für abwegig halten, anschließend die Forschung in die Grauzone der unkontrol-lierten Selbstversuche wegzuschieben. Wir wissen heute, wie man eine/n Heroinsüchtige/n behandeln muß, wenn er/sie eine zu hohe (aber noch nicht tödliche) Dosis genommen oder bekommen hat, aber über anabolikabedingte (Spät)Schäden wissen wir so wenig, daß ein Arzt keine vernünftige Therapie ansetzen kann. Niemand hat behauptet, wer mit Heroin Forschung betreibt, begünstige den Heroinkonsum. Wer für Forschung mit Anabolika ein Denkverbot erlassen will, handelt unverantwortlich.
Prof. Dr. Joseph Keul ist kritisiert worden, da er Anabolika für „si-cher und effektiv“ hält20). Als Verbandsarzt der Tennisnational-mannschaft, die unter ATP-Regeln beim Davis-Cup spielt, darf er Anabolika verwenden, er muß auf dem Gebiet systematische Er-fahrungen sammeln, um seinen ärztlichen Aufgaben verantwor-tungsvoll nachgehen zu können. Selbst wenn es sich also um Do-ping-Forschung im engeren Sinne handelt, so ist es Doping in einer Sportart, „Substitution“ in einer anderen und Forschung auf dem Gebiet erscheint nicht nur legitim, sondern dringend notwendig.
Dies läßt sich auch leicht an einem anderen Beispiel zeigen: Öst-rogen, in Konzentrationen, wie es in vielen Anti-Konzeptiva enthal-ten ist, hat eine nachgewiesene erheblich leistungssteigernde Wir-kung. Durch die entsprechende Östrogenkonzentration wird der Kreatinkinaseanstieg nach intensiver (z. B. exzentrischer) Muskel-arbeit deutlich begrenzt (auf 1/3 des Üblichen in entsprechenden Trainingsversuchen; beim ebenfalls auf intensive Muskelarbeit an-sprechendes Serum-Insoenzym CK-MB sogar auf 1/2721)), wodurch das Trainingsvolumen deutlich gesteigert werden kann. Warum
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wird die "Pille" dann nicht auch auf den Dopingindex gesetzt? Dies zeigt nur in einem anderen Bereich, wie willkürlich die Grenze zwi-schen Doping und anderen Medikamenten gezogen ist.
Wenn viele der in der öffentlichen Aufregung beschriebenen Phä-nomene also anders interpretiert werden müssen, wenn man sie sich in Ruhe anschaut, stellt sich die Frage, warum es zu diesem Geschrei um Doping überhaupt kommt, wo doch die ATP vor-macht, daß man auch Anabolika verwenden kann, ohne in die Schlagzeilen zu geraten.
Interpretation
Ich glaube, daß man gerade aus dem Fall der ATP, vom Kaffee und vom Umgang mit den Fällen in der DDR und China viel lernen kann, um das Phänomen besser zu verstehen. Man muß hierzu Doping in den Kontext der Diskussion um die innere Struktur des Spitzensports stellen. In einer solchen Diskursanalyse wird dann deutlich, daß es erhebliche Diskrepanzen zwischen Worten und Taten gibt. Wer Olympianormen aufstellt, die man nur mit Doping-substanzen erreichen kann, braucht sich nicht zu wundern, wenn man ihm vorhält, daß er Doping eigentlich nicht nur nicht ablehnt, sondern fordert und fördert.22)
Als die ATP sich als Gewerkschaft der Tennisspieler vom ITF los-gelöst hat, ging es um die Frage: Wer hat Kontrolle über den Sport. Kontrolle über den Sport wurde dabei in zweierlei Hinsicht verstan-den: Kontrolle über die Körper der Sportler und Kontrolle über die Geldströme, die der Sport generiert. Von Foucault wissen wir, wie wichtig es ist, Kontrolle über den Körper von solchen Personen zu bekommen, die man gern abhängig halten will.23) Wobei geht es bei der Abhängigkeit? Natürlich um die Richtung der Geldströme im Sport, aber auch um das Grundverständnis von Funktionärsdasein. Dient der Funktionär dem Sportler oder dient der Sportler dem Funktionär?
Es ist interessant zu sehen, was die ATP dazu selbst an Dopingre-geln erlassen hat, als sie die Autonomie für ihren Teil des Sports gewann. Verboten sind Heroin, Kokain und Amphitamine. Einer-seits geht es also um die Befürchtung, daß junge Leute - schnell zu Geld gekommen - dies in harten Drogen umsetzen. Da die ATP keine Drogendealer in der Tour haben will, sind Rauschgifte verbo-
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ten und wer sie verwendet, wird in die Rehabilitation geschickt, bis er/sie wieder clean ist. Wer Drogen dauerhaft verwendet, fliegt aus der Tour. Bei Amphitaminen geht es um die Sicherheit der Spieler. Aufputschmittel bei Hitzeschlachten stellen ein lebensbedrohendes Sicherheitsrisiko dar, wie wir spätestens seit dem Fall Simpson (1967) im Radrennsport wissen.
Außerdem ging es um die Verteilung der Preisgelder und den An-teil der Veranstalter an den Einnahmen. Hier wurde die Frage dis-kutiert, wie weit man in einem Turnier kommen muß, um bis ans Preisgeld zu kommen und Antrittsgagen - d. h. die Priviligierung der Stars - wurden versucht zu vermeiden. Die Diskussion erinnert an die der Berufsläufer um den Sir John Ashley-Belt, die für den Sechs-Tagelauf zu Fuß ebenfalls regelmäßig darum stritten, wie man mit solchen Sportlern umzugehen hatte, die zwar auch 6 Tage gerannt waren, aber mit dem Ausgang des Rennens nichts zu tun hatten.24)
Auch der Fall des Dopings durch Kaffee im olympischen Sport - nicht in irgendeinem Berufssport - macht deutlich, daß es vor allem um Macht und Kontrolle über die Sportler geht. Interessant hierbei auch der Zeitpunkt der Einführung dieser Bestimmungen. Daß Kaf-fee eine leistungssteigernde Wirkung hat, ist seit über tausend Jah-ren erprobt und seit über hundert Jahren wissenschaftlich erwie-sen.25) Trotzdem wurde Kaffee erst spät auf den Dopingindex ge-setzt. Als eine Interpretationsmöglichkeit möchte ich im Sinne Foucaults anbieten, daß es nach 1981 verstärkt um die Kontrolle über die Athleten ging.26) Bis 1981 konnten diese durch die Ama-teurbestimmungen im Zaum gehalten werden. Dann mußte ein neues, ebenso willkürliches Verfahren gefunden werden. Für diese Interpretation spricht auch, daß bei den verschiedensten internati-onalen Großereignissen immer nur so viele Sportler durch die Amateur- und später durch die Dopingbestimmungen ausgeschlos-sen wurden, wie man meinte zu brauchen, um Disziplin, Zucht und Ordnung, aufrecht zu halten. In Los Angeles wurden 1984 elf Do-pingfälle nicht verfolgt, in Seoul wenigstens 20, in Atlanta wieder elf etc. Dem IOC ging es mehr um die Reputation, um die Vermarkt-barkeit ihres Produktes27), als um eine wie auch immer geartete "Gerechtigkeit". Auch die Tatsache, daß die Verfolgung der aufge-deckten Dopingfälle den nationalen Institutionen zunächst überlas-sen bleibt, zeigt, daß es sich um die Aufrechterhaltung der Macht
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der nationalen Institutionen handelt. Das Auseinanderklaffen zwi-schen dem Überprüfungsprotokoll für sportliche Dopingfälle und Drogenkontrolle am Arbeitsplatz in den USA verdeutlicht ebenfalls, daß es um Macht und nicht um ein faires Verfahren im Sport geht. Das IOC verlangt, daß beide Fälle im selben vom IOC akkreditier-tem Labor durchgeführt werden. Wenn man getrost bei jedem La-bor einen gewissen Grad an Schlampigkeit unterstellen kann, be-deutet dies, daß man die finanziellen Pfründe der Labore als wich-tiger erachtet als die Unversehrtheit der Sportler.
Im Zusammenhang mit den aufgedeckten Fällen von Behandlung mit Anabolika in der ehemaligen DDR, von Trainern aus der ehe-maligen DDR und Chinas scheint noch ein anderes Phänomen von auffälligem Interesse: Die Dämonisierung der beiden Systeme hat wenig mit Kaltem Krieg zu tun. Hier geht es auch nicht um Sieger-mentalität. Hier geht es auf der Seite der Trainer, der Funktionäre und der Spitzensportler um die Erhaltung von gut bezahlten bzw. mit vielen Annehmlichkeiten ausgestatteten Arbeitsplätzen. Die DDR-Forschung über anabole Steroide entsprach auch schon 1988 kaum noch dem internationalen Standard. Heute noch einen solchen Aufstand um dermaßen veraltete Technologien zu machen und gar zu verlangen, DDR-Trainer müßten auf eine „Schwarze Liste“ 28), zeigt, daß es um Arbeitsplätze geht. In der DDR ist nicht mit HGH (menschlichen Wachstumshormonen) gearbeitet worden, weil es zu teuer war. Auch in maskierenden Substanzen und in veränderten kaum nachweisbaren Anabolika liegt die Technologie in den USA.29) Symptomatisch hierfür scheint mir, daß zwischen 1990 und 1992, als die meisten DDR-Trainer noch auf dem heimi-schen Arbeitsmarkt beschäftigt waren, sich niemand mit ihren "leis-tungsunterstützenden" Maßnahmen befaßte.
Bei China geht es um die Athletenseite des Arbeitsmarktes. Chine-sische Trainer tummeln sich nicht zu Dumpingpreisen auf dem Weltmarkt - aber Trainer aus der DDR. Bei den Sportlern ist dies anders. Die Leistungen vor allem der Chinesinnen verderben die Preise. Sie halten sich nicht an das Bubka-Prinzip, Weltrekorde immer nur um einen Zentimeter zu verbessern, um den Markt lang-sam auszureizen. Man könnte Maos Armee als Spielverderber be-zeichnen, da sie die Weltrekorde mit einem Mal so stark verbessert haben, daß es nun schwer ist, Weltrekordprämien zu erlaufen oder
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zu erschwimmen, und man sich mit solchen für Stadion-, Europa-, Amerikarekorden zufrieden geben muß.
Schlußbemerkung
Doping hat es im Sport immer gegeben. Es gehört zu den mensch-lichen Verhaltensweisen, Risiken einzugehen, wenn sich der Ein-satz zu lohnen scheint. Für Coubertin ging es im Wettkampfsport nicht um die Gesundheit. Er hat sich immer über das medizinische mens sana in corpore sano lustig gemacht und diesem sein mens fervida in corpore lacertoso ("ein überschäumender Geist in einem muskulären Körper") entgegen gehalten.30) Sich mit allen zur Ver-fügung stehenden Möglichkeiten um eine sportliche Leistung zu bemühen, ist im olympischen Citius-altius-fortius angelegt. Es ist sehr bedauerlich, daß dies ohne medizinische Hilfestellung heute nicht mehr geht. Es wäre auch schön, wenn man einen absolut si-cheren Test hätte, der es ermöglichen würde, alle Stoffe, die je-mand zu sich genommen hat, auszuweisen - aber so wenig wie man den geclonten Menschen haben will, so sollte man auch von der Vorstellung Abstand nehmen, daß man im Bereich der Ernäh-rungszusätze wirkliche Gleichheit erzeugen kann.
Abschließend läßt sich feststellen, daß es natürlich auch andere Erklärungsmuster gibt, um die Verhaltensweisen von Sportlerinnen und Sportlern sowie von Verbandsfunktionären zu erklären, aber, ob diese den gleichen Grad von Plausibilität der Diskursanalyse haben, müßte erst unter Beweis zu stellen sein.31)
ZEITLEISTE DER INTERNATIONALEN DOPINGBESTIMMUNGEN
(nach J. & T. TODD 199832))
1960 - Knut Jensen (Radrennsport) 1. Dopingtote (Amphitamine plus Hitze) bei Olympischen Spielen seit 1912
1965 - Anti-Doping-Gesetze in Frankreich und Belgien
1967 - IOC beschließt, daß Athleten künftig unterschreiben müs-sen, daß sie keine Mittel zu sich genommen haben, die dem Kör-per fremd sind und ausschließlich der Leistungssteigerung im Wettkampf dienen. Eine genaue Definition bleibt aus. Gründung der Medizinischen Kommission des IOC.
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1968 - Bei den Olympischen Spielen in Mexico werden erstmals probehalber Dopingkontrollen zu Forschungszwecken durchgeführt
1972 - Erstes Olympische Dopinglabor (Leiter Dr. M. Donike) (für Amphitamide etc. ohne Anabolika bei Olympischen Spielen in München)33). Jay Silvester führte eine Befragung über Anabolika-Gebrauch in der Leichtathletik in München durch und gab an, daß 68 % der Olympiateilnehmer aller Disziplinen Anabolika nehmen.
Feb.1974 - Bei den Commonwealth Spielen werden erstmals Ana-bolika-Kontrollen durchgeführt. 9 von 55 Untersuchungen sind po-sitiv. Da keine Rechtsgrundlage besteht, werden keine Sperren ausgesprochen.
Mai 1974 - IOC beschließt, daß 1976 bei O.S. erstmals auf Anabo-lika (ohne Testosteron) verbindlich bei Wettkämpfen kontrolliert wird.
1975 - Beim Europa-Cup wird erstmals in der Leichtathletik offiziell auf Anabolika getestet und 2 Sportler als Dopingsünder gesperrt. Bei den Pan-Am Spielen wird der Testosteron/Epites tosteron Spiegel zum ersten Mal benutzt. 86 amerikanische Athleten hatten einen zu hohen Wert bei den US-Ausscheidungen wurden jedoch nur verwarnt, da in den USA noch keine rechtliche Grundlage für eine Sperre bestand.
1976 -DDR-Schwimmerinnen kamen nach Montreal zum Schwim-men und nicht zum Singen.
1984 - Dr. Robert Kerr (Autor von The Practical use of Anabolic Steroids with Athletes) sagt, daß die von ihm betreuten Me-daillengewinner bei den O.S. Spielen in LA in den letzten 14 Tagen vor den Spielen auf hGH umgestiegen seien und so die Doping-kontrollen überwunden hätten. Positive Dopingbefunde bei den Olympischen Spielen werden vom IOC unterschlagen.
1984 - Genentech und Lily beginnen, synthetisches hGH wesent-lich billiger als natürliches zu verkaufen.
März 1986 - Die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) begrenzt die legale medizinische Verwendung von Anaboli-ka und nimmt einzelne (z.B. Dianabol) wg. Fehlender medizini-scher Notwendigkeit vom Markt.
1987 - Bei den Pan-Am Spielen in Indianapolis kaschieren viele Sportler ihren Anabolika-Befund mit dem Gichtmittel Probenecid, das ein Jahr später auf die Liste der verbotenen Substanzen des IOC gesetzt wird.
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Febr.1988 - IOC beschließt, daß akkreditierte Labore keine Vorwett-kampftests an Athleten zu deren Warnung durchführen dürfen.
Sept. 1988 - Ben Johnson verliert seine Goldmedaille, nachdem ihm Stanozolol nachgewiesen wurde.
Okt. 1988 - Kanadische Leichtathletikverband beginnt damit, re-gelmäßig Trainingskontrollen durchzuführen. Dr. B. Voy, der ver-antwortliche Mediziner des USOC sagt, daß Athleten bis 5 Ta-ge vor dem Wettkampf Anabolika verwenden und dann eine mas-kierende Substanz, so daß sie nicht auffallen.
Nov. 1988 - Dr. Park Jong Sei, Leiter des Dopinglabors bei den O.S. in Seoul, sagt aus, daß noch wenigstens 20 weitere Athleten positiv gewesen seien, ohne daß das IOC tätig geworden wäre. Dr. Voy weist auf 12 Dopingsubstanzen, die bei den IOC-Tests (noch) nicht ermittelt werden könnten.
Dez. 1988 - Yesalis rechnet eigene Forschungsergebnisse hoch und verweist darauf, daß in den USA ca. 500.000 Teenager regel-mäßig Anabolika nehmen.
Dez. 1989 - Dr. Clausnitzer, Direktor des Doping-Labors in Kreischa, sagt aus, daß in der DDR seit 1978 regelmäßig Anaboli-ka-Kontrollen vor der Ausreise von Sportlerinnen und Sportlern stattgefunden haben.
Dez. 1989 - 11 Staaten (darunter USA, UdSSR, Deutschland) ver-abreden, ab 1.1.90 regelmäßig trainingsbegleitende Dopingkon-trollen durchzuführen.
1996 - 11 Positive Dopingbefunde bei den O.S. in Atlanta werden vom IOC unterschlagen.
Dez. 1997 - Nach Hochrechnungen von Forschungen aus Penn State Univ. haben 175,000 weibliche Teenager in den USA Erfah-rungen mit Anabolika
Juni 1998 - Der Deutsche Bundestag verabschiedet ein Anti-Dopinggesetz, das wie in den USA den Handel mit Rezepten an-kurbelt.
QUIZ
1. Frage: Warum lassen sich Schwimmer den Kopf scheren?
2. Frage: Warum sind die Sportmediziner gegen Erythropoietin?
3. Frage: Können Asthmatiker schneller schwimmen?
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4. Frage: Werden alle Sportler/innen gesperrt, die so viel Testoste-ron be-
kommen haben, daß der Testosteron/Epitestosteron-Quotient 6:1 über
schreitet?
5. Frage: Welche Amerikanische Firma hatte 1996 den größten Umsatz an Anabolika auf dem Amerikanischen Markt?
6. Frage: Wer hat dem Organisationskomitee für die Olympischen Spiele in Atlanta das kostspielige Dopingkontroll-Labor eingerich-tet?
Antwort 1: Nein, mit Badehaube ist der Wasserwiderstand gerin-ger. Aber aus einer Haaranalyse läßt sich der chronische Ge-brauch von wenigstens 27 verschiedenen Substanzen der Doping-liste (u.a. Testosteron und dessen Derivate) nachweisen.
Antwort 2: Fahren Sie nicht auch lieber nach St. Moritz zur Kon-trolle des Höhentrainings als schon wieder nur ins Labor zur Ar-beit?
Antwort 3: Im Prinzip nein. Aber 100 % der Britischen Schwimmer und mehr als 50 % der amerikanischen bei der Schwimm-WM 1998 in Australien waren registrierte Asthmatiker, weil hierdurch die Verwendung von gespraytem Salbutamol und von Terbutalin (beliebtere beta2 Agonisten als Katrin Krabbes Clenbuterol) gestat-tet ist.
Antwort 4: Im Prinzip ja, aber die zulässigen Ausnahmen sind:
1. Alkoholkonsum vor dem Test,
2. Bakterien im Urin,
3. Verwendung von Hydrokortisonsalbe gegen Juckreiz
4. Zyklusabhängige Fluktuation bei Frauen,
5. Endocrine Krankheiten,
6. Stoffwechsel (Enzym)anormalitäten.
7. U.v.a.m.
Antwort 5: SmithKline Beecham
Antwort 6: SmithKline Beecham
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ANMERKUNGEN
1 Bei Koffeinverstößen sind drei Sperren erforderlich, um eine lebenslange Sperre hervorzurufen.
2 Vorsicht: Es handelt sich hier nicht um eine medizinische Empfehlung. Um auf 12 microgramm Koffein/Milliliter Urin zu kommen, muß man das Körpergewicht berücksichtigen. 10 mg Koffein/Kg Körpergewicht erreichen einen Wert, der dem Grenzwert entspricht. Dies entspricht bei einer Langstrecklerin (die von Koffein den größten Nutzen hätte) von 50 Kg Körpergewicht ca. 4 Tassen, vgl. M. H. Wil-liams: Ergogenics Edge. Champaign, IL: Human Kinetics 1998, S. 149 – 153. Das USOC geht von 6 – 8 normalen Tassen Kaffee (aber amerikanischer ist sehr dünn) 2-3 Stunden vor dem Wettkampf aus, vgl. U.S. Olympic Committee. Division of Sports Medicine and Science. Drug Education and Control Policy 1988, abgedruckt in: G. I. Wadler & B. Hainline (Hg.): Drugs and the Ath-lete.Philadelphia: F.A. Davis 1989, S. 258.
3 Zit. aus der Klageschrift von RA Dr. Schulenburg im Fall Dr. Fröhner gegen Dr. Spitzer vor dem Landgericht Berlin vom 15.4.98.
4 Vorwort und Veränderung der Überschrift zu Manfred Steinbach: Über den Ein-fluß anaboler Wirkstoffe auf Körpergewicht, Muskelkraft und Muskeltraining, in: Sportarzt und Sportmedizin (1968), 11, 485 – 492. In Beiträge zur Sportgeschichte Nr. 4, S.102 heißt es sattdessen: "Zu Dopingforschungen in der BRD 1968". In dem Beitrag von Steinbach ging es neben der Leisr´tungssteigerung im Sport u.a. um Tumorkachexie, Untergewicht, Gedeihstörung bei Kindern, Magen-Darm-Krebs mit Ernährungsdefizit, Untergewicht in der Geriatrie, Ausgleich der Eiweiß-relationen im Serum Leberkranker osteoporotischer und damit zusammenhängen-der orthopädischer Störungen (S. 486f.). Ich glaube, man muß es Manfred Stein-bach 1968 zugute halten, daß er sich von der Euphorie der frühen Verwendung von Anabolika hat anstecken lassen. Noch heute werden Anabolika allerdings le-gitimerweise für alle diese Krankheiten verwendet.
5 W. Kindermann: Doping und Sportmedizin, in: H. Lisen u.a. (Hg.): Regulations- und Repairmechanismen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 1994, S. 957 – 962.
6 Zur Einführung des Fair Play vgl. J.A. Mangan: Coubertin and Cotton. European Realism and Idealism in the Making of Modern European Masculinity, in: A. Krüger & A. Teja (Hg.), La Commune Eredità dello Sport in Europa. Rom: Coni, S. 238 – 241.
7 B. Berendonk: Doping Dokumente. Von der Forschung zum Betrug. Heidelberg: Springer 1991.
8 Zur Diskussion gestellt: Anabolika, in: Leistungssport 3 (1973), 1, 49 – 57. Im Vorwort habe ich damals geschrieben und sehe das heute nicht anders: "Mit den folgenden Übersetzungen amerikanischer Beiträge zur Leistungssteigerung durch Anabolika soll nicht eine Befürwortung der medikamentösen Leistungssteigerung ausgedrückt werden, sondern lediglich der letzte Stand der Forschung vermittelt und zur Diskussion gestellt werden. Da Anabolika benutzt werden, müssen wir auch bereit sein, die Konsequenzen des Gebrauchs zu sehen und das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen zum Gebrauch von Anabolika kritisch unter die Lupe zu nehmen."
9 Zur Rolle des BAL in der damaligen Zeit vgl. A. Krüger: Sport und Politik. Vom Turnvater Jahn zum Staatsamateur. Hannover: Fackelträger 1975, S. 143ff.
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10 A. Krüger: Schutz der Privatsphäre oder Schutz des Fair Play? In: Leistungs-sport 21 (1991), 1, 12 - 13.
11 A. Krüger: Trainer brauchen Pädagogik! In: Leistungssport 19 (1989), 5, 31-33.
12 Vgl. R. Toellner (Hg.): Die Ethik-Kommission in der Medizin. Problemgeschich-te, Aufgabenstellung, Arbeitsweise, Rechtsstellung und Organisationsformen me-dizinischer Ethik-Kommissionen. Stuttgart: Fischer 1990.
13 The NCAA Drug-Testing Program, in: Wadler & Hainline 1989, S. 272 – 285.
14 A. Krüger: Doping im Spitzensport. Bericht eines Seminars der AAF vom 24./25.4.1998, in: Leistungssport 28 (1998), 4, (im Druck).
15 The NCAA Drug Testing Program, Wadler & Hainline 1989, S. 272 ff.
16 Drug Policy of the Men's Tennis Council, in: Wadler & Hainline 1989, S. 330 – 334.
17 Pressemeldung des Irischen Sportministers McDavid vom 21.6.1998, zit. n. V. Kilfeather: All Sports Targeted in Drugs Test Plan, in: Press Service "Doping", Jim Ferstle vom 23.6.1998 ("Jim Ferstle" Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!); E. O'regan: Ath-letes who refuse dope test face new crackdown, in: Ebenda; K. MacGinty: GAA in Front Line for War on Drugs, in: Ebenda.
18 A. Krüger: Postmoderne Anmerkungen zur Ethik im Spitzensport, in: A. Hotz (Hg.): Handeln im Sport in ethischer Verantwortung (= Schriftenreihe der ESSM Bd. 62). Magg lingen: ESSM 1995, 292 - 317.
19 M. Verroken: Drug Use and Abuse in Sport, in: D. R. Mottram (Hg.): Drugs in Sport (2. Aufl.). London: Spon 1996, S. 19.
20 In Anhörung vor dem Deutschen Bundestag 1987, vgl. Der Spiegel "Willige Sklaven" 19.10.1987, S. 226.
21 Vgl. zuletzt R. Hayward, C.A. Dennehy u.a.: Serum Creatine Kinase, CK-MB, and Perceived Soreness Following Eccentric Exercise in Oral Contraceptive Us-ers, in: Sports Med, Training and Rehab 8 (1998), 2, 1998 – 207.
22 J. Hoberman: Mortal Engines, The Science of Performance and the Dehumani-zation of Sport. New York: Free Press 1992, u.a. für die Situation in Deutschland S. 252.
23 N. Crossley: Body-Subject/Body-Power: Agency, Inscription and Control in Foucault and Merleau-Ponty. In: Body & Society 2, (1996), 2, 99 – 116.
24 J. A. Lucas: Pedestrianism and the Struggle for the Sir John Astley Belt, 1878 - 1879, in: Research Quarterly 39 (1968), 3, 587 - 594.
25 Wadler & Hainline, S. 107 ff.
26 T. L. Dumm: Michel Foucault and the Politics of Freedom. London: Sage 1996; M. Foucault: The History of Sexuality. 3 Bände, New York: Vintage 1988 - 90. (Französisches Original 1976).
27 A. Krüger: Hundert Jahre und kein Ende? Postmoderne Anmerkungen zu den Olympischen Spielen, in: I. Diekmann & J.H. Teichler (Herg.): Körper, Kultur und Ideologie. Sport und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert. Bodenheim: Philo 1997, 277 - 300.
28 J. Hoberman: How Drug Testing Fails: The Politics of Doping Control, in: W. Wilson (Hg.): Doping in Elite Sport. Doping Tagung der AAFLA 24/25.4.1998 (im Druck)
29 Einen guten Überblick gibt T. Todd: Anabolic Steroids: The Gremlins of Sport, in: Journal of Sport History 14 (1987), 87 – 107.
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30 A. Krüger: Mens fervida in corpore lacertoso oder Coubertins Ablehnung der schwedischen Gymnastik, in: HISPA 8th Int. Congress. Proceedings. Uppsala: University Press 1979, S. 145 - 153.
31) Mein primärer Erfahrungsbereich erstreckt sich auf die Leichtathletik, von der ich zwischen 1964 und 1971 gelebt habe, einschließlich Mannschaften 8x Deut-scher Meister, 11 Länderkämpfe, Olympische Spiele 1968 Halbfinale, Starts in 23 Staaten. Ich habe aber auch systematische Befragungen im Sinne der Oral Histo-ry und entsprechende Fachgespräche mit Spitzensportlern und Trainer vieler an-derer Sportarten in unterschiedlichen Funktionen, z.B. als Vorstandsmitglied des Verbandes der Deutschen Diplomtrainer, geführt. Die trainingwissenschaftlichen Auswirkungen von Substitution und Doping behandele ich seit Jahren regelmäßig in der Rubrik "Trainers Digest" in der Zeitschrift Leistungssport. Ich habe zu na-turwissenschaftlichen Problemen des Sport in der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin, in Annals of Sports Medicine und in Life Sciences primäre For-schungsarbeiten publiziert. Insofern nehme ich für mich in Anspruch, mich in sehr unterschiedlichen Bereichen spitzensportlicher Probleme umgesehen und mit dem Diskurs befaßt zu haben .
32 J. & T. Todd: Drug Testing and the Olympic Movement. 1960 – 1998. An Anno-tated Time Line, In: Wilson: Doping-Tagung (im Druck). Die Tabelle ist durch ei-gene Untersuchungen ergänzt.
33 Damit Minister HG Genscher, der mit dem historischen Knopfdruck den Compu-ter anstellte, auch zwischen "gedopten" und "ungedopten" Urin unterscheiden konnte, wurden mein Freund und Trainingspartner Dirk Stratmann (Donikes Assis-tent) und ich vom Meister persönlich mit Amphitaminen für ein Training in Mün-chen gedopt.
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Der durchsichtige Instrumentalismus einer
sporthistorischen Analogiekonstruktion
Von HELMUTH WESTPHAL
Von jeher sind wissenschaftliche Theorien und Methodologien mißbraucht worden, um zu einer vorgegebenen Aussage zu gelan-gen, die für eine politische Manipulierung von Menschengruppen im Interesse bestimmter Ziele genutzt werden kann. Obschon die-se Art von Finalismus immer wieder angeprangert wird, um die Produktivität und Glaubwürdigkeit der Wissenschaft nicht in Gefahr zu bringen und verläßliche Orientierungen zu finden, setzen sich in Abhängigkeit von Machtkonstellationen politische Erwartungen und Karriereziele durch, wodurch Elaborate produziert werden, die der beabsichtigten Irreführung, nicht aber der Verbreitung von Wahr-heiten dienen. So werden in jüngster Zeit auf der Grundlage einer Rollentheorie mit Hilfe phänomenologischer Kriterien zwischen dem deutschen Faschismus und dem DDR-Sozialismus Analogien konstruiert, die gläubigen Bundesbürgern, vor allem Jugendlichen, das Gefühl vermitteln sollen, als hätte es kaum Unterschiede zwi-schen den genannten gesellschaftlichen Systemen gegeben. Die sogenannte Medien- und Meinungsfreiheit erlaubt die Willkür sol-cher Gleichsetzung und fragt nicht nach stichhaltigen Belegen. Und die "unabhängige" Justiz der Bundesrepublik verteidigt sogar politi-sche Diffamierungen, sofern sie gegen den Marxismus und Sozia-lismus gerichtet sind.1)
Solche Elaborate gibt es in vielfältiger Hinsicht, so auch im Bereich des Sportes. Anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel zu Ehren des 100. Jahrestages der deutschen Leichtathletikorganisation verstieg sich der derzeitige Präsident des DLV der BRD zu der Be-hauptung:
„Ähnlich, wie es später in der DDR unter dem SED-Regime der Fall sein sollte, wurden leichtathletische Erfolge von der NSDAP instrumentalisiert. Sportführer wie Ritter von Halt o-der später Manfred Ewald erwiesen den Regimes in voraus-eilendem Gehorsam ihren Dienst bzw. waren selbst tragende Säulen der jeweiligen Diktatur“.2)
Zu einer solchen Kolportage gelangte der Sportsoziologe Digel vermittels einer wissenschaftlich nicht haltbaren Interpretation ei-
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nes rollentheoretischen Vergleichs, wodurch er dieser Theorie als Instrument soziologischer Wissenschaften keinen guten Dienst er-weist. Tatsächlich spielte der Sport in beiden politischen Systemen eine äußerst wichtige Rolle, wodurch er jeweils instrumentalisiert war. Anders ausgedrückt, war der Sport konzeptionell gesteuert ein Mittel der Politik und somit spezifisch systemkonform, woraus sich einerseits Kongruenzen zwischen den Zielen der NSDAP und dem NSRL sowie andererseits Übereinstimmungen zwischen den Wert-orientierungen der SED und dem DTSB erklären. Bezüglich seiner Funktionen ist auch der DSB wie alle Sportorganisationen der Welt gesellschaftlich instrumentalisiert, selbst dann, wenn sie sich als unpolitisch verstehen und zuweilen sogar um einen unpolitischen Status kämpfen. Auch unabhängig von ihrem Selbstverständnis nehmen sie objektiv bestimmte gesellschaftliche Funktionen wahr, wodurch sich die Instrumentalisierung des Sportes als eine Ge-setzmäßigkeit herausstellt, der sich keine Sportbewegung entzie-hen kann, selbst dann nicht, wenn sie als Nischensozialisation be-trieben wird. Diese Instrumentalisierung existiert nie abstrakt und besitzt in der Wirklichkeit stets konkrete Inhalte, die durch die Ziele bestimmt werden, denen der Sport folgt. Methodologisch bedarf es deshalb des Vergleichs der Zielstellungen jener Sportsysteme, die Digel angesprochen hat. Unabhängig von seinem Faschismusver-ständnis kann der westdeutsche Sportsoziologe nicht leugnen, daß in Deutschland die Kommunisten und Faschisten die extremsten Antipoden waren, weil sie von unterschiedlichen Klassenkräften getragen wurden und entgegengesetzte Ziele verfolgten. Diese Gegensätzlichkeit reflektierte sich auch im deutschen Sport, spie-gelte sich auch folgerichtig im Wirken der beiden genannten Sport-führer wider. Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts nahmen viele deutsche Funktionäre des bürgerlichen Sportes, darunter auch Rit-ter von Halt, ihre Funktionen wahr, um den rassistisch begründeten Führungsanspruch deutscher Imperialisten gegenüber anderen Na-tionen im Interesse des deutschen Monopolkapitals zu verwirkli-chen, indem sie sich daran beteiligten, mit Hilfe des Sportes das Wehrpotential für Eroberungskriege zu mehren, die Volksmassen faschistisch zu ideologisieren sowie nach der Besetzung zahlrei-cher Staaten während des Zweiten Weltkrieges eine faschistische Neuordnung des europäischen Sportes durchzusetzen.
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Unter den bürgerlichen deutschen Sportführern nahm Ritter von Halt als Mitglied des „Freundeskreises" Himmler und vom Septem-ber 1944 an als amtierender Reichssportführer eine maßgebende und exponierte Stellung ein. Für seinen Aufstieg an die Spitze der faschistischen Sportorganisation war seine Position in den Chef-etagen der Deutschen Bank gewiß nicht bedeutungslos, wodurch sich den deutschen Sporthistorikern die Frage aufdrängt, ob Ritter von Halt daran beteiligt war, das insbesondere europäischen Juden geraubte Eigentum in dunkle Nazikanäle zu leiten. Trotz oder ge-rade wegen eines solchen poltischen Profils hielten die Grün-dungsmitglieder des damaligen westdeutschen NOK zu ihm.
Geleitet von dem Ziel, den deutschen Sport nicht jener sogenann-ten Führungselite auszuliefern, die seinen Mißbrauch jahrzehnte-lang praktiziert hatte, formierten sich in allen Besatzungszonen Deutschlands jene Kräfte, die unmittelbar nach Beendigung der Kriegshandlungen begannen, gestützt auf das Potsdamer Abkom-men und unter Wahrung progressiver Traditionen, dem deutschen Sport neue Inhalte und Strukturen zu verleihen. Die Direktive 23 der damaligen Besatzungsmächte bahnte dafür einen geeigneten Weg. Sie war keine Vorschrift der Demütigung, sondern ein hoff-nungsvolles Dokument des humanistischen Neubeginns. Und so kam es in allen Besatzungszonen zu einer Auseinandersetzung um das neue Profil des deutschen Sportes, um neue Organisations-formen, andere Leitbilder und Führungspersönlichkeiten. In der sowjetischen Besatzungszone fanden jene Initiatoren bei den sow-jetischen und deutschen Administrationen tatkräftige Hilfe, die den Mißbrauch des deutschen Sportes bereits in der Weimarer Repub-lik und im Dritten Reich bekämpft hatten3) In ihren Reihen fehlten jene, die von den Faschisten hingerichtet worden waren, darunter Ernst Grube, Werner Seelentinder, Paul Zobel, Käte Niederkirchner u.a. Die Pioniere des Neubeginns waren stets dem Vermächtnis des Kampfes dieser Athleten verbunden, wodurch es in der Kör-perkultur der DDR zu einem ausgeprägten antifaschistischen Tradi-tionskult kam, der nach der Wende fast zum Erliegen gebracht wurde. Die Abkehr von der antifaschistischen Traditionspfege des DDR-Sportes muß als Bestandteil des Werteverfalls des Sportes der neuen Bundesländer verstanden werden.
In den westlichen Besatzungszonen kam der Erneuerungsprozeß bald ins Stocken. Die Restauration gewann in dem Maße an Dy-
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namik, wie die Roosevelt-Politik durch die Trumann-Doktrinen des Kalten Krieges ersetzt wurde und Churchill mit seiner Fulton-Rede zum Kreuzzug gegen die Sowjetunion und die revolutionären Ver-änderungen in Osteuropa aufrief. Ihren konservativen und aggres-siven politischen Idealen verhaftet, bekamen nunmehr die alten fa-schistischen und militaristischen Sportführer wie Ritter von Halt, Guido von Mengden sowie Carl Diem erneut entscheidenden Ein-fluß auf die Profilierung des Sportes im Westen Deutschlands. Obschon durch die faschistische Instrumentalisierung ihrer bisheri-gen Tätigkeit im nationalen und internationalen Maßstab moralisch äußerst stark belastet und weitgehend abgelehnt, wuchs ihre Macht in dem Maße, wie es der Trumann-Administration gelang, die Exponenten der antifaschistischen Rooseveltära in den Füh-rungsetagen der Diplomatie, Wirtschaft, Aufrüstung und Medien abzulösen und damit den Kalten Krieg anzuheizen. Französische und englische Sonderinteressen konnten diesen Prozeß zwar par-tiell beeinflussen nicht aber unterbinden. Aufgabe der Sportge-schichtsschreibung ist es, endlich überzeugend nachzuweisen, welche Kräfte im In- und Ausland den Protagonisten des militaristi-schen und faschistischen deutschen Sportes aus welchen Gründen den Weg in die Spitze des Sportes der BRD gebahnt haben. Poli-tisch diametral entgegengesetzt nahm Manfred Ewald seine Arbeit zum Neuaufbau und zur Entfaltung des Sportes in Ostdeutschland auf. Wie die Wertungen der verschiedenen Seiten seines Wirkens auch ausfallen werden, es bleibt nun einmal eine Realität, daß er der namhafteste Sportfunktionär der DDR war, und, soweit es Ein-zelpersonen vergönnt ist, den größten Einfluß auf die Profilierung des DDR-Sportes ausübte. Tatsächlich war auch das Werk Manf-red Ewalds instrumentalisiert, indem es an den Zielen der DDR ori-entiert war und von den konkreten Rahmenbedingungen dieses Staats auszugehen hatte. Zu welchen Abweichungen es von den marxistischen Gesellschaftsdoktrinen auch gekommen sein mag, wovon der DDR-Sport sicher nicht unberührt blieb, stets war die Politik dieses Staates auf die Erhaltung des Friedens, die Respek-tierung fremder Territorien, Gleichberechtigung aller Rassen und Kulturen, die friedliche und respektvolle Zusammenarbeit mit ande-ren Vökern, die soziale Sicherheit aller Staatsbürger und die Aus-bildung von Fähigkeiten der Heranwachsenden fixiert.
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Von ihrer Gründung bis zu ihrem Untergang blieb die DDR ein anti-faschistischer Staat und ein Baustein des europäischen Friedens-gebäudes. Gemäß diesen allgemeinen politischen Prämissen ge-langte der DDR- Sport zu seiner spezifischen Identität, indem er sich, gesellschaftlich instrumentalisiert, folgenden Aufgaben wid-mete:
- Befriedigung sportlicher Bedürfnisse der Bürger, insbesondere der Jugendlichen
- Sinnvolle Gestaltung des Freizeitlebens, von freud- und erfolgs-betonten Lebensvollzügen
- Pflege sozialer Beziehungen, verbunden mit der Herausbildung von Persönlichkeitseigenschaften
- Streben nach einer stabilen Gesundheit und nach einem hohen Leistungsvermögen, orientiert an humanistischen Körperidealen
- Befriedigung des Bewegungshungers, Aktivierung der motori-schen Vitalität, Hinführung zu Bewegungserlebnissen
- Erziehung der Sporttreibenden im Geiste der Völkerfreundschaft, des Friedens, der Achtung fremder Territorien sowie des Respek-tes vor der Souveränität anderer Völker
- Sicherung des Verteidigungspotentials der DDR
- Mehrung des internationalen Ansehens der DDR durch hohe sportliche und sportwissenschaftliche Leistungen, Hilfen zur Ent-wicklung des Sportes in vielen Ländern verschiedener Kontinente sowie durch eine tatkräftige Unterstützung der Entfaltung des inter-nationalen Sportgeschehens.
Obwohl diese Inhalte von allen Strukturen und ihren Leitungen des DDR-Sportes getragen wurden, verlief ihre Realisierung nicht kon-fliktlos. Die Auseinandersetzungen um die Akzentuierungen und Umsetzungsmodalitäten gehörten permanent zur Wirklichkeit des DDR-Sportes, woraus sich auch erklärt, daß es immer wieder Po-pulationen gab, die mit bestimmten Tendenzen des DDR-Sportes haderten. So widersprüchlich, facettenreich, letztendlich aber er-folgreich die Entwicklung des DDR-Sportes verlief, so erklärt sich dieser Prozeß einerseits aus der spezifischen Genese der DDR als staatliches Gebilde, wie andererseits die Profilierung des DDR-Sportes darauf gerichtet war, die Existenz seiner gesell-schaftlichen Basis in Form der DDR zu sichern, wodurch er poli-tisch instrumentalisiert war. Ohne Zweifel hat Manfred Ewald diese Instrumentalisierung mit getragen und an hervorragender Stelle mit
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all seinen Persönlichkeitseigenschaften praktisch umgesetzt. E-wald hat mit Ritter von Halt lediglich die Rolle eines instrumentali-sierten Sportführers gemein. Als Exponenten antangonistischer Gesellschaftssysteme wirkten sie auf dem Gebiete des Sportes po-litisch entgegengesetzt. Halt war ein Aktivist des faschistischen Deutschland, dessen Monopolkapital sich von den Eroberungsplä-nen und Menschenvernichtungsprogrammen der Nazis Superprofi-te versprachen. Die von Halt getragene Politik war von der Formie-rung Fünfter Kolonnen, insbesondere in den osteuropäischen Län-dern, der Annexion fremder Territorien, der Ausrottung und Ver-sklavung anderer Völker, dem Raub und der Vernichtung von Kul-turgütern sowie der Installierung faschistischer Herrschaftssysteme in anderen Ländern gekennzeichnet. Ewald hingegen diente einem Staat, der sich in Europa als Faktor der Friedensstabilisierung ver-stand und der internationalen Konstellationen sowie seines gesell-schaftlichen Charakters wegen dem Frieden verpflichtet sein wollte und mußte. Somit war es kein glücklicher Zufall des DDR-Sportes, die Reputation eines friedliebenden Staates gemehrt zu haben, wodurch er zugleich als friedensstiftender Sport in die Geschichte der deutschen Körperkultur eingehen wird. Das ist nicht in erster Linie das Verdienst Manfred Ewalds4), sondern der spezifischen In-strumentalisierung des Sportes durch das gesellschaftliche System der DDR, die von Ewald und vielen seiner Mitarbeiter permanent praktiziert wurde. Diese Instrumentalisierung hatte auch zur Folge, daß der DDR-Sport, obwohl er zu den erfolgreichsten nationalen Sportsystemen der Welt gehörte, nie dem Chauvinismus verfiel, in-ternationale Führungsansprüche erhob, keiner anderen Nation sein System aufzwang oder Alleinvertretungsstrategien praktizieren mußte, wie sie dem Sport der BRD von seinen Regierungen ver-ordnet wurden5) und welche durch Ritter von Halt unter der dema-gogischen Losung vom „unpolitischen Sport“ dienstbeflissen um-gesetzt wurden.
Wegen seiner spezifischen Instrumentalisierung als Mittel der Pfle-ge friedlicher Beziehungen zwischen den Völkern genoß der DDR-Sport internationales Ansehen und trug schließlich in einem bescheidenen Maße dazu bei, daß die Existenz der DDR als Frie-densstaat nicht nur von Marxisten geschätzt wurde, sondern auch von jenen, die ein unter Bonner Führung vereintes Deutschland als verhängnisvoll für die internationale Kräftedynamik werteten, wes-
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halb nicht nur in Großbritannien und Frankreich, sondern auch in den Vereinigten Staaten von Amerika die Einverleibung der DDR nicht bejubelt wurde. Mit wissenschaftlicher Redlichkeit hat die Aussage Digels über die historische Rolle der beiden genannten Sportfunktionäre nichts zu tun. Deshalb bleibt die Frage offen, wa-rum die Wirklichkeit mit einer pervertierten Rollentheorie verfälscht worden ist. Neben möglichen anderen Absichten sollte eine nicht ausgeschlossen bleiben, nämlich die stolze Erfolgsbilanz des DDR-Sportes zu verteufeln und das Experiment einer gesellschaft-lichen Umgestaltung auf deutschem Boden zu diffamieren. Anlaß dazu gibt es in wachsendem Maße, denn der Niedergang des Sportes in der Bundesrepublik stimmt viele ehemalige DDR-Bürger nachdenklich, aktiviert Nostalgien. Verbunden mit einer allgemei-nen Verunsicherung des Daseins durch die Tendenzen der stei-genden Arbeitslosigkeit, der steigenden Kriminalität, der Perspek-tivlosigkeit unter der Jugend sowie der Zerstörung sozialer Bindun-gen kommt es zur Aufwertung verlorener Errungenschaften, die ei-ner Identifizierung mit den derzeitigen politischen Bedingungen zuwiderläuft. Auf dem Spiele steht die Systemstabilität. Nunmehr wird versucht, die Meinungsdynamik mit der Manipulierungsmatrit-ze „Sozialismus gleich Faschismus“ zu beeinflussen. Sie ist nicht jüngsten Datums. Von welcher Zentrale sie wieder stärker aktuali-siert wurde, muß späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Jedenfalls befindet sich Digel mit seiner Analogiekonstruktion in der Gesellschaft des Bonner Regierungssprechers Hauser, der die Partei des Demokratischen Sozialismus mit der NSDAP verglich. Zur Massenmanipulierung müssen nunmehr Analogien herhalten, die von dem politischen Normalverbraucher nur begrenzt kritisch hinterfragt werden können. Autoritär in die Welt gesetzt, wohnt ihnen eine elementare Suggestivkraft inne, derer sich besonders skrupellos Hitler und Goebbels bedienten. Solche Manipulierungs-methoden setzen auf die Unwissenheit. Bezüglich der alten Bun-desländer mögen sie den gewünschten Erfolg bringen. Und um die geht es schließlich vor allem, denn dort leben 80 % der bundes-deutschen Bevölkerung mit ihrem Wählerpotential. Jene aber, die das soziale Profil des DDR-Sportes mit erlebt und gestaltet haben, können in ihrer überwältigenden Mehrheit Herrn Digel ebenso we-nig folgen wie politisch wache Bürger der Bundesrepublik Hausers Vergleichen.
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Die negativen Resultate der Handhabung einer solchen finalisier-ten Wertungsmatritze sollten in verschiedener Hinsicht nicht unter-schätzt werden. Weil sie inhaltlich gezielt tendenziös ist, trägt sie dazu bei, den mentalen Graben zwischen 0st und West zu vertie-fen. Kontraproduktiv wirkt sich eine solche Matritze vor allem aber auf die Dynamik des Sportes in den neuen Bundesländern aus. Ein großer Teil der Bevölkerung war auf den DDR-Sport stolz, darunter auch Bürger, die partiell oder generell zur Politik der DDR aus den verschiedensten Gründen in Opposition standen. Mehr als aus westdeutscher Sicht eingeräumt wird6), war sie sportlich aktiv tätig, teilweise in Strukturen, die in den alten Bundesländern nicht exis-tierten oder unterentwickelt waren. Es mangelte in der DDR nicht an Funktionären, Trainern, Übungsleitern, Sportlehrern und jungen Leuten, die nach persönlichen und hohen sportlichen Leistungen strebten. Im Weltmaßstab war vom Sportwunder der DDR die Re-de, das sich in seinem Wesen überhaupt nicht mit einer perfektio-nierten Dopingpraxis erklären läßt. Der DDR-Sport war eine echte Volksbewegung mit den verschiedensten Motivationsebenen. Bei aller Notwendigkeit, auch seine Widersprüche aufzuarbeiten, ist ei-ne politisch instrumentalisierte Wertungsmatritze wie sie ein west-deutscher Sportsoziologe und DLV-Präsident anbietet, dazu nicht geeignet. Sie muß kontraproduktiv sein, weil sich damit nicht die schlummernden Potenzen des ehemaligen DDR-Sportes reaktivie-ren lassen, denn Millionen von ehemaligen DDR-Bürgern mit einer sportlichen Biografie werden ausgesrenzt, indem ihnen vorgehalten wird, widerstandslos unter einem Manne Sport betrieben zu haben, der ihn angeblich einem perfiden Gesellschaftssystem ausgeliefert hat, das dem der Faschisten ähnlich war. Das Bedürfnis nach sportlicher Betätigung ist inzwischen von solch elementarer Natur, daß es auch in den neuen Bundesländern wegen unzumutbarer Diffamierungen Digelscher Prägung nicht zu einem Sportboykott kommen wird. Aber viele Eltern der ehemaligen DDR werden de-motiviert, angesichts anhaltender Entstellungen des DDR-Sportes ihre Kinder leistungssportlich zu stimulieren. Und es bleibt abzu-warten,ob solche Diffamierungspraktiken den Trend verstärken, den sportpolitisch bevormundeten Sportverein zu meiden, ausge-grenzt in einer Nische Sport zu treiben oder in den kommerziellen Einrichtungen die sportliche Heimat zu finden.
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Hoffnungslos muß die Leichtathletikgemeinde der ehemaligen DDR nicht sein, denn noch dominiert die Diffamierungstendenz nicht; denn anläßlich der Festveranstaltung zu Ehren des 100. Jahresta-ges der deutschen Leichtathletik blieben ihr Digels Weisheiten er-spart und es kam ein so kritischer Geist und weitsichtiger Kultur-theoretiker wie Walter Jens von der Universität Tübingen zu Wort, der dem Sport der BRD im allgemeinen und der deutschen Leicht-athletik im besonderen wegweisende Ratschläge erteilte, 7) die vom humanistischen Auftrag des Sportes, nicht aber von den Profitinte-ressen des Kapitals und schon gar nicht von Diffamierungsaufträ-gen abgeleitet wurden.
Anmerkungen:
1) Vgl. PDS-Anzeige abgewiesen. In: Märkische Allgemeine, 10.7.1998,S.2
2) Einführung des DLV-Präsidenten,Prof. Dr. Helmut Digel, anläßlich der Enthül-lung einer Gedenktafel am 31.1.1998 in Berlin, Manuskriptdruck, S.1
3) Zu dieser Opposition gehörten auch Repräsentanten des bürgerlichen Sports.
4) Dieser an der Friedenserhaltung orientierte Instrumentalismus schließt nicht aus, daß Ewalds Führungsstil, seine internationale Repräsentation und einige von ihm initiierte Entscheidungen auch kritisch beleuchtet werden müssen.
5) Käme die rollentheoretische Analogiematritze im Stile Digels zur Anwendung, käme der Sport der alten BRD im Vergleich mit dem des Dritten Reiches nicht gut weg, denn immerhin waren es die gleichen faschistischen Sportfunktionäre, die nach 1945 Führungsansprüche für Organisationen und Territorien erhoben, für die sie weder sportpolitische noch völkerrechtliche Legitimationen besaßen. Aber auch in diesem Falle ist eine rollentheoretische Analogiematritze ungeeignet, die-ses spezifische Problem geschichtswissenschaftlich aufzuarbeiten.
6) Antikommunistische Doktriniertheit erschwert es westdeutschen Gesellschafts-wissenschaftlern, in die Wirklichkeit des DDR Sportes einzudringen und wahrhaf-tig zu reflektieren. Vgl. M. Budzisch: Zum Märchen vom Breitensport. In: Beiträge zur Sportgeschichte, Nr.6, S.74 - 77
7) Vgl.100 Jahre Leichtathletik, Kritische Rede von Walter Jens, in: Neues Deutschland, 5.7.1998, S.14
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ZITATE
Weitgehende Abwicklung fragwürdig
Auch die Erneuerung der Sportwissenschaft hat in einer weitge-henden Abschaffung der DDR-Sportwissenschaft (strukturell, per-sonell und inhaltlich) bestanden, ohne daß zuvor eine (verglei-chende) Bestandsaufnahme der Disziplin in beiden deutschen Staaten vorgenommen wurde. ...Die Untersuchung ...anhand der Aufarbeitung der dazu existierenden empirischen Arbeiten führt zu dem Ergebnis, daß
1. die Entwicklung der Sportwissenschaft in der Bundesrepublik auf institutioneller Ebene und in quantitativer Hinsicht zwar zügig voranging, aber nicht von einer inhaltlichen Konsolidierung beglei-tet war, so daß sich die Disziplin im Übergang zu den 1990er Jah-ren sehr uneinheitlich darstellt und von verschiedenen Autoren ei-ne Krise der Sportwissenschaft diagnostiziert wird...;
2. die Entwicklung der Sportwissenschaft in der DDR im Vergleich dazu einheitlicher vonstatten ging und sich die Disziplin insgesamt inhaltlich und konzeptionell gesichert darstellt;
3. die Beschäftigung in der bundesdeutschen Sportwissenschaft mit der DDR-Sportwissenschaft aus einer einseitigen zum Teil ideologischen Perspektive heraus erfolgte und das hier vorhande-ne Wissen insofern nur bedingt brauchbar ist für eine sachgerechte Beurteilung des sportwissenschaftlichen Bestandes der DDR.
Vor dem Hintergrund dieser Befunde erweisen sich die Maßnah-men, die im Zuge der Erneuerung des Wissenschaftssystems der ehemaligen DDR im Bereich der Sportwissenschaft durchgeführt wurden - und die hier auf weitgehende Abwicklung, das heißt Auf-lösung der Sportwissenschaft hinausliefen - in doppelter Hinsicht als fragwürdig. Zum einen befindet sich die Sportwissenschaft der Bundesrepublik - soweit man dies so pauschal beurteilen kann - im Übergang zu den 1990er Jahren offensichtlich in keinem 'muster-gültigen' Zustand, der es gerechtfertigt erscheinen lassen konnte, dieses 'Modell' auf das Gebiet der ehemaligen DDR zu übertragen. Zum anderen ist die weitgehende Abschaffung der DDR-Sportwissenschaft - zumindest ihrer Strukturen und weiter Teilbe-reiche der Disziplin - auf der Basis des in der bundesdeutschen Sportwissenschaft vorhandenen Wissens über die DDR-Sportwissenschaft nicht zu legitimieren. ...
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Ein im Mai 1994 durchgeführtes wissenschaftliches Kolloquium zur Gegenstandsbestimmung der Sportwissenschaft ist ... symptoma-tisch. Weder nahmen daran Sportwissenschaftler aus der ehemali-gen DDR als Referenten teil, noch wurden irgendwelche Ideen o-der konzeptionelle Ansätze aus der DDR-Sportwissenschaft aufge-griffen. Insbesondere haben die Tatsache, daß der Gegenstand der Sportwissenschaft in der ehemaligen DDR eine andere Be-stimmung erfuhr als in der Bundesrepublik, sowie der Begriff "Kör-perkultur" keinerlei Erwähnung gefunden. Die gehaltenen Vorträge wurden 1995 in einem Sammelband abgedruckt und um ein Litera-turverzeichnis ergänzt, das bei über 300 Quellen lediglich 11 Bei-träge aus der ehemaligen DDR aufweist, die alle aus den 1960er oder frühen 1970er Jahren stammen. Diese Veranstaltung hat dar-über hinaus zur Anschauung gebracht, was auch als ein Teilergeb-nis der vorliegenden Untersuchung festgehalten wurde: Die wis-senschaftstheoretische Diskussion in der BRD-Sportwissenschaft hat bislang nur wenige Fortschritte zu verzeichnen; vielmehr wer-den in der "Sportwissenschaft heute" - so der Titel des Sammel-bandes - nach wie vor die gleichen Fragen gestellt und (was sicher bemerkenswerter ist) darauf auch mehr oder weniger die gleichen Antworten gegeben.
Aus diesem kurzen Szenario ist das Fazit zu ziehen, daß die Ver-einigung der beiden deutschen Staaten bzw. die Vereinigung der beiden Wissenschaftssysteme - und mithin die Erneuerung der Sportwissenschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR - auf die wissenschaftstheoretische Diskussion der Sportwissenschaft bis-lang keinerlei Einfluß hatte. Diese Diskussion setzt sich fort, als sei nichts geschehen - oder gar: als habe die DDR-Sportwissenschaft niemals existiert.
(Peter Fornoff: Wissenschaftstheorie in der Sportwissenschaft. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich. (Diss.) Darmstadt 1997, 311 ff.)
Henselmann: Gedopte Paragraphen
Seit Jahren bemüht sich die Justiz, ehemalige DDR-Sportler, -Trainer und -Ärzte wegen Dopingvergehens anzuklagen. Seit Jah-ren wird ermittelt. Erste Prozesse werden geführt. Verjährung gibt es nicht, eine Amnestie auch nicht. Die Parallele zu den Mauer-
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schützenprozessen ist klar: Erst die Kleinen und dann die Gro-ßen...
Die Presse berichtet gerne und wartet mit Geschichten auf, die die Betroffenen zum Teil gar nicht kennen. Denn die Redaktionen be-kommen aus der Gauck-Behörde ohne Probleme Auszüge aus Stasi-Akten. Die Betroffenen erhalten sie meistens erheblich spä-ter.
Mit welchen Problemen müssen sich die Staatsanwaltschaft, die Verteidigung, das Gericht und die Angeklagten auseinanderset-zen?
Straftaten, die zu DDR-Zeiten begangen wurden, sollen nach dem Willen des Einigungsvertrages nach DDR-Recht be- und abgeur-teilt werden. Ausnahmen sind Vergehen und Verbrechen, die DDR-Unrecht und Regierungskriminalität darstellen. In diesen Fällen gilt BRD-Recht.
Weil nach DDR-Recht die bisherigen Dopingvorwürfe verjährt sind, müssen die Dopingvergehen zur Regierungskriminalität qualifiziert werden. Dann kann auch die zentrale Ermittlungsbehörde der Staatsanwaltschaft (ZERV) eingreifen. Dort arbeiten mehr Staats-anwälte, als man sich denken kann. Gegen bekannte Sportärzte und Trainer wurden Ermittlungsverfahren eröffnet und damit eine Verjährung verhindert.
Wie bei allen Problemen, die ihre Ursachen in der DDR-Vergangenheit haben, bearbeiten die Ermittler Angelegenheiten, die sie nur aus Geschichtsbüchern kennen. Das Resultat sind schlechte Ermittlungsergebnisse.
Was Dopingmittel sind, entnimmt man einer nationalen und interna-tionalen Liste. Zu DDR-Zeiten und auch heute konnte und kann sich jeder damit versorgen und sie einnehmen. Das ist nicht straf-bar. Ein Medikament wird erst zum Dopingmittel, wenn es zur Er-zielung von sportlichen Leistungen in einem Wettkampf oder zur gezielten Vorbereitung darauf eingenommen wird... So gesehen stellt die Verabreichung nicht gleich ein Dopingvergehen dar. Der Zeitpunkt, die Dosierung und der Zweck sind juristisch zu prüfen.
Wer Regierungskriminalität nachweisen will, braucht auch Opfer. Die Opfer müssen zum Zeitpunkt der Vergabe von Dopingmitteln minderjährig gewesen sein. Erwachsene können behaupten, sie hätten alles freiwillig und selbst eingenommen.
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Die Minderjährigen müssen nun auch noch gesundheitliche Schä-den erlitten haben. Der Nachweis muß also geführt werden, daß Anabolika oder andere Mittel gesundheitliche Veränderungen oder Schäden verursacht haben. Um solche Fragen zu prüfen, ordneten Gerichte beispielsweise die zwangsweise medizinische Untersu-chung von involvierten DDR-Sportlerinnen an, auch gegen deren Willen. Ziemlich einmalig. Es gibt eben zuwenig Beweise.
Außer Frage steht, es wurde gedopt, es sind Schäden verursacht worden. Das darf nicht vergessen werden.
Das Problem der Staatsanwaltschaft ist, nun Regierungskriminalität zu beweisen. Nach ihrem Verständnis ist das nicht so schwierig, weil alles in Plänen erfaßt und dokumentiert wurde - DDR-Planwirtschaft. Alles wurde geplant und beschlossen. Alles wurde von der Stasi beobachtet und dokumentiert - Material gibt es also genug.
Das Problem des Gerichts ist: Juristen der BRD haben ein anderes Rechtsverständnis von Doping, als es zu DDR-Zeiten üblich war. Zu DDR-Zeiten konnte ein Arzt einem Sportler beispielsweise Ana-bolika zur Wiederherstellung seiner angegriffenen Gesundheit ver-abreichen. Das war nicht strafbar. Nach dem Recht der Bundesre-publik macht sich der Arzt schon strafbar, wenn er Anabolika ver-abreicht, ohne umfassend über Folgen und Wirkungen aufgeklärt zu haben. Schriftlich und nachweisbar.
Das Gericht glaubt natürlich auch an die Regierungskriminalität. Wenn nicht, hätte es die Anklagen abweisen müssen. Richter sind unabhängig, aber in ihrem System aufgewachsen und ausgebildet.
Das Problem der Verteidigung besteht im Kampf gegen schlechte Ermittlungen, schlechte Presse, Unverständnis gegenüber den Strukturen und Zusammenhängen der Leitung und Organisation des Leistungssports in der DDR. Unverständnis der Außenstehen-den. Die Verteidigung verteidigt immer nur Personen - Angeklagte. Sie verteidigt nicht den Leistungssport der DDR, dessen Erfolge oder Mißerfolge.
Die Verteidigung muß bestimmte Argumente vortragen, damit sie eventuell eine Revision beim Bundesgerichtshof beantragen kann und damit sie sich nicht dem Vorwurf aussetzt, nicht alles zur Ver-teidigung der einzelnen Mandanten vorgetragen zu haben. Das Ar-gument, daß das Recht der BRD nicht angewendet werden kann, muß jedesmal neu geprüft werden.
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Das Problem der DDR-Sportler, als Zeugen der Anklage, ist ein anderes. Was passiert mit ihnen nach dem Prozeß? Keine sportli-chen Titel, keine Ehre mehr. Wer wird sich um sie kümmern? Der väterliche Freund, die großen Zeitungen. Der Strafprozeß ist kein Zivilprozeß. Nur Zeugenauslagen werden erstattet. Es gibt ein Op-ferentschädigungsgesetz, aber wer kann das in Anspruch neh-men? Lohnen sich der Aufwand und der Nutzen? Es geht um Moral und nicht um Geld.
Was ist das Resümee? Die Prozesse werden noch Jahre dauern, die Justiz hat Arbeit, das Unternehmen kostet den Steuerzahler ein Vermögen, und das Ergebnis ist mager.
Gedopt wird national und international weiter.
(Rechtsanwalt Andreas Henselmann in der Berliner Zweiwochenschrift „Das Blättchen“ 15/98)
Riebrock-Interview
Professor Norbert Rietbrock war von 1977 bis 1997 Lehrstuhlinha-ber für Klinische Pharmakologie in Frankfurt... Als Gutachter war seine Expertenmeinung unter anderem 1992 im Sportgerichtsver-fahren gegen die Sprinterinnen um Katrin Krabbe sowie seit März dieses Jahres beim ersten DDR-Dopingprozeß in Berlin gefragt.
Die ersten Urteile gegen ehemalige Schwimmtrainer und Ärzte aus der DDR sind nach jahrelangen, aufwendigen Ermittlungen auf simple Geldstrafen hinausgelaufen. Viel Lärm um nahezu nichts?
Ich halte es grundsätzlich für wichtig, daß dies aufgearbeitet wurde. Aber von der Staatsanwaltschaft hätte ich erwartet, daß sie sich in-tensiver mit den einzelnen Fällen befaßt und mit der Frage: Was ist überhaupt Doping? Ich habe das im Prozeß nicht herausgefunden.
...Der ganze Aufwand hat doch etwas Schizophrenes. Erythropoie-tin, also Epo, ist bis heute nicht nachweisbar und sich dann hinzu-stellen und zu sagen: ‘Wir brauchen Geld’ - also so bin ich früher jedenfalls nicht an meine Forschungsmittel gekommen... Es kann keinen gesunden Hochleistungssport geben, weil der Hochleis-tungssport so angelegt ist, daß der Körper dadurch geschädigt wird... Natürlich kann man sich nicht hinstellen und verlangen, daß der Hochleistungssport abgeschafft wird. Das Publikum, die Medi-en - sie alle wollen das ja sehen. Ich gebe zu: Ich schaue mir auch gerne Sport im Fernsehen an.
( „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 2. September 1998)
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Thüringer Burgenfahrt –
150.000 für eine Millionen-Idee
Von ROLAND SÄNGER
Am 4. Juli 1998 startete sie mit Nummer 25 als Jubiläumsfest. Bei Regen. Die Startgebühr betrug immerhin 10 D-Mark, von rund 10 000 Teilnehmern (Kinder inklusive) als nicht zu teuer für ein Vergnügen gehalten, das es einst gratis, aber nicht umsonst gegeben hatte. Einst, das war noch in der DDR, als Anfang der siebziger Jahre vom DTSB die Meilenbewegung als spezielle Form volkssportlichen Treibens ins Leben gerufen wurde. Die einzelnen Jahren vorbehaltenen Fest- und Jubiläumsmeilen mündeten schließlich in der verallgemeinerten und gängigen Losung (Slogan oder Spot waren seinerzeit wenig ge-bräuchlich, wenn dieser Geistesblitz auch spotless, also tadellos war) "Eile mit Meile". Das Wortspiel ist geistiges Eigentum des Erfurter Sportjournalisten Helmut Wengel, nach dem sich fortan Millionen in Bewegung aller Art setzten. Auftakt dieser populären Meilen-Kampagne in Berlin war übrigens am 20. April 1974. Die neben Lau-fen, Wandern, Schwimmen, Paddeln oder Rudern auch 8 km Radfah-ren als Sport- oder Fortbewegung einschloß. Damit war der Boden bereitet für ein Ereignis, bei dem der Drahtesel im Mittelpunkt stand. Am 27. Juli 1974 startete die erste der Thüringer Burgenfahrten von Erfurt ins Freudenthal bei Wandersleben über 20 km. Der Initiator war einmal mehr jener Helmut Wengel, dem die Idee zu dieser Tour inmit-ten sportlicher Frauen kam.
50 Näherinnen des Erfurter Bekleidungswerkes nämlich schwärmten während der anschließenden Fete von ihrem Radausflug in besagtes Freudenthal, zu dem sie der Sportorganisator jenes Betriebes na-mens Scheel animiert hatte. Der mitfeiernde Wengel - eben erst stol-zer Schöpfer jener Spotless-Meile geworden - behauptete selbstbe-wußt, es ließen sich wohl ohne weiteres 200 Radler zu dieser Tour finden, wenn man nur laut genug die Trommel in der Zeitung schlagen würde. Der Ansicht wurde heftig widersprochen und mit einer Wette bekräftigt, daß man wohl jeden organisierten Ausflügler ins Freudent-hal mit Handschlag begrüßen könne. Als der gute Wengel einschlug, wurde eine Ansicht zur Absicht, die nun in die Tat umzusetzen zur Sache der Ehre wurde. Kurzum, nach entsprechendem Aufruf in der Erfurter Bezirkszeitung "Das Volk" schwangen sich an jenem 27. Juli
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1974 genau 607 Radler in den Sattel zur Tour in ein Tal, für die es zum nomen est omen wurde. Der Burgenfahrt-Initiator schrieb zum Geleit der Jubiläumstour 1998: "Von da an wurde Wandersleben zu Rad-Wandersleben. Aus der Radfamilie wurde eine Riesenradfamilie. Bald schon waren es Tausende, die da einmal im Jahr zu den Drei Gleichen radelten, um mit Gleichgesinnten und Sportlern am Busen der Natur zu schmusen." Die Thüringer Burgenfahrt war geboren. Was den Sieger als einen Menschen charakterisiert, dem das Materi-elle im Leben wohl nicht das Wichtigste ist, was an späteren Hand-lungen wohl noch deutlicher wird. Die allerersten Urkunden hatte der Erfurter Graphiker Otto Damm gestaltet. Leider erwies sich die kühn kalkulierte Auflage von 500 als zu wenig. 107 mußten mit einem Wimpel des SC Turbine Erfurt als Trostpreis zufrieden sein. Die Bur-genfahrt wuchs schon in ihren ersten Jahren zusehends; 1975 bra-chen 1100 Radanhänger in ihr Tal der Freuden auf, und im Jahr da-rauf waren es schon 2170. Unter ihnen auch Helmut Ripperger aus Halle, der das Angenehme mit dem Köstlichen verband. Er pflegte nämlich öfter aus dem Anhaltinischen ins Thüringische zu strampeln, weil es nur dort den beliebten Born-Senf gab. So erfuhr er schließlich von der Burgenfahrt und wurde zu einem ihrer treuesten Anhänger. 1977 standen auch erstmals Rad-Weltmeister an der Startlinie; Bern-hard Eckstein, der Sieger vom Sachsenring, und Thomas Huschke, Verfolgungschampion von Venezuela. Beide traten im Freudenthal zu einem launigen Duell auf dem Hometrainer an - Sieger: unwichtig. Damit hatte der Burgenfahrt-Vater Wengel bei der vierten Auflage die-ses originellen Ereignisses jene Mixtur gefunden, die fortan den Erfolg garantierte: "Die Burgenfahrt bot Sport für jeden und dazu viel sportli-che Prominenz und das brachte Zuzug." Der DTSB-Bundesvorstand hatte das Neugeborene der Volkssportbewegung dankbar lächelnd und wohlwollend begrüßt, konkrete Hilfe bekam die Burgenfahrt an-fangs von "Volk"-Mitarbeitern und Sportorganisatoren des DTSB-Bezirksvorstandes. Dieter Weyert war der erste von ihnen, später wuchs natürlich der Kreis der Organisatoren. Unvorstellbar, daß bei der ersten Fahrt zwei Volkspolizisten auf Krädern genügten, um den Troß wohlbehalten ins Freudenthal zu lotsen. Der Rat des Bezirkes schließlich gab zehn- und später fünfzehntausend Mark als Beihilfe, und der VEB Kowalit Waltershausen brachte an die hundert Schlauchreifen mit, was damals ein seltenes Schnäppchen in der nicht marktorientierten Szene war. Mancher kam gleich mit einem
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Platten zum Start, um sich einen Schlauchlosen zu sichern: "Der Fa-vorit fährt Kowalit!" Daß die "Partei" nicht nur ideologische Hilfe leiste-te, sondern auch materielle, bewies der Wirtschaftssekretär der Erfur-ter Bezirksleitung, der alljährlich zur Burgenfahrt-Familie gehörte; er ließ 1987 die Schlaglochpiste bei Ingersleben mit frischem Asphalt versehen, was nicht nur die Radler beklatschten. Und der Rat des Be-zirkes tat das Seinige in Gestalt von Sonderzuteilungen an Deli-Hering (der ja heute wieder Bismarcks Namen trägt) oder Bananen. Das Fazit: Der Thüringer Burgenfahrt waren Existenzsorgen zu DDR-Zeiten so fremd wie dem Arbeiter- und Bauernstaat die Marktwirt-schaft.
Zunehmend gelang es schon damals, die Radsportprominenz der DDR auf Burgen-Touren zu bringen. Huschke und Eckstein folgten später Detlef Macha und Bernd Drogan, Manfred Weißleder und Wolf-ram Kühn, Andreas Petermann und Maik Landsmann, Tutti Geschke und Jörg Windorf, Lutz Heßlich und Gerald Mortag, Falk Boden und Thomas Barth, Mario Kummer und Andreas Bach. Und selbstver-ständlich die Radsport-Legenden Täve Schur und Olaf Ludwig. Letz-terer stiftete 1990 sein grünes Sprinterkönig-Trikot von der Tour de France. Der finanzielle Aufwand für den Start eines Prominenten war gering; die Stars begnügten sich mit Spesen und Taschengeld. Die Burgenfahrt war eben keine Tour der Francs. Die legendäre Profi-Rundfahrt durch Frankreich war 1990 mit den berühmtesten ihrer Pe-daleurs auch im Freudenthal vertreten; Eddy Merckx und Bernard Hinault gaben ihre Visitenkarte ab, und dazu kamen andere Cracks wie Francesco Moser und Danny Clark. Die Burgenfahrt rekrutierte ih-re Teilnehmer nun nicht mehr nur aus Dresden und Leipzig, Halle und Potsdam, Warnemünde und Cottbus als den entfernteren Orten, son-dern zunehmend aus Kassel und Fulda, Bremen und München. Der 43jährige Burkhard Mehl aus Bremen war 1991 mit 336 km Anreise (in 13:30 h) Kilometerkönig.
1989 fand die 16. und letzte Burgenfahrt - auf den Straßen der DDR statt. Die Chronik vermerkt für den 1. Juli: "Rekordfelder in allen Hauptstartorten und insgesamt 4289 Pedalritter aus nah und fern; Prominenz in der ersten und zweiten Startreihe. Olaf Ludwig, der Friedensfahrtzweite Olaf Jentzsch, Belgienrundfahrtsieger Thomas Barth, Exweltmeister Detlef Macha und die Erfurter Verfolgergilde Bach, Stück, Windorf, Preißler. Blumen gab's diesmal schon vor dem ersten Auftritt: Konvoileiter Gottfried Grünzig, verdienstvoller Polizei-
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meister war zum zwölften Male dabei." Für Schöpfer und Schützer der Thüringer Burgenfahrt stand nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik die sorgenvolle Frage, woher nun Geld und Helfer kommen sollten. Der verdienstvollle DDR-Nationaltrainer Wolfram Lindner verschaffte den Erfurtern eine Agentur, die für Sponsoren sorgen wollte. Als Garantiesumme hatte Helmut Wengel erst einmal 10 000 DM zu hinterlegen. Er hat bis heute seiner Frau verschwiegen, daß es ihr ganzes Umtauschkapital vom Juli 1990 war. 8000 davon bekam er später wieder, aber immerhin auch einen Sponsoren, bei dem es kräftig sprudelte: Pepsi-Cola. Die Fahrt war gerettet. Würden aber die Teilnehmer wenige Tage nach Einführung der D-Mark gleich fünf davon für den Startschein hinblättern? 2870 taten es und zeigten damit ihre ungebrochene Zuneigung für ein Kind des DDR-Sports. Die neuen Colagonisten der Tour waren von Resonanz und Begeisterung rund um Freudenthal und die Drei Gleichen so überrascht, daß sie dem Schöpfer dieses Volkssport-Spektakels 150 000 DM boten, wenn er ihnen die Burgenfahrt verkaufen würde. Helmut Wengel hatte eini-ge schlaflose Nächte, bevor er das Angebot ablehnte: Eine Burgen-fahrt mit viel Pep ja, eine Pepsi-Tour nein. Und: "Ich hatte den Ehrgeiz als Ossi weiterhin zu zeigen, was wir draufhaben." Daß sich 1997 mit Pavel Dolezal, Thomas Barth, Jörg Strenger, Täve Schur und Prof. Dr. paed. habil. Volker Mattausch das gesamte Friedensfahrt-Komitee zur Burgenfahrt traf, sagt mehr über den Geist dieses Radereignisses als die wachsende Zahl der Sponsoren, ohne die heute ein solches Ereignis nicht mehr realisierbar wäre. Viele freilich sind Fachgeschäf-te, die von früheren Radsportlern wie Wolfram Kühn und Mario Kum-mer betrieben werden; sie helfen auch heute so
uneigennützig wie sie das in der DDR erlebt haben. Seit ihrer Premie-re 1974 hat die Thüringer Burgenfahrt rund 110 000 Radler vereint, die viele Millionen Kilometer zurückgelegt haben. 1998 startete sie von rund zwei Dutzend Orten ins Mekka am Fuße der Mühlburg, wo seit 1974 für die Radsportfreunde das Tal der Freuden liegt. Sie ist die größte Radsternfahrt der Welt und steht als solche vor der Aufnahme ins Guinessbuch der Rekorde.
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REZENSIONEN
Der Alpinismus. Kultur – Organisation - Politik
Das Buch des Wiener Sporthistorikers Rainer AMSTÄDTER "Der Alpinismus. Kultur - Organisation - Politik"1) war Anlaß für eine symptomatische Diskussion. "Der Spiegel" stellte nach seinem Er-scheinen fest: "SS-Führer gaben im Alpenverein schon zu einer Zeit den Ton an, als Himmlers Elitetruppe noch nicht mehr war als das Schlägerkommando einer unbedeutenden NSDAP ... Tatsäch-lich nahm der Alpenverein die spätere Judenpolitik des Dritten Rei-ches um genau zehn Jahre vorweg. Schon 1924 ... setzten radikale Sektionen auf einer stürmischen Münchner Versammlung einen 'Arierparagraphen' durch ...". Außerdem wird eine Episode aus der österreichischen Zeitschrift "Profil" wiedergegeben, die das noch verdeutlicht: "Im Abendlicht humpelt Otto Margulies bergauf. Seit er ein Bein bei einem Absturz verloren hat, geht der begeisterte Alpi-nist seine Touren auf Krücken. Nach dem Aufstieg... bittet der Bergsteiger um ein Nachtlager. Der Hüttenwirt weist ihn ab - Mar-gulies ist Jude. Und im Guttenberghaus des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins gilt der Anschlag am Hüttenein-gang: 'Juden sind hier unerwünscht'".2) Das war im Jahr 1924 als der Alpenverein sich eine neue Satzung gegeben hatte. Deren Pa-ragraph eins lautete, "Der Verein ist unpolitisch". Ein Zusatz ver-deutlichte, wie das gemeint war: "Bestrebungen zur Wahrung und Förderung deutscher Stammesarbeit können selbstverständlich nicht als politisch anerkannt werden." Der Kernsatz dieses Para-graphen ist noch heute das Motto der Statuten. Über den einstigen Zusatz und seine Folgen "breiteten die Alpinisten seit 1945, als die völkischen Träume zerplatzt waren, schamhaftes Schweigen"3), so „Der Spiegel“. Und nicht nur das. Wer, wie AMSTÄDTER, das Schweigen bricht, dem wird zumindest mangelnde Seriösität vor-geworfen. Deshalb gerät er auch in das Visier einiger Manager des Deutschen Alpenvereins (DAV). So wandte sich der 1. Vorsitzende des DAV, Josef KLENNER, mit Schreiben vom 18. Dezember 1996 "An die Damen und Herren Sektionsvorsitzenden", um bezugneh-mend auf das Buch AMSTÄDTER's festzustellen, "... daß (es) sich in wenig objektiver Weise der Geschichte der Alpenvereine an-nimmt. Das Buch hat viel Widerspruch hervorgerufen, da es von einer tendenziösen bis voreingenommenen Grundhaltung des Au-
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tors geprägt ist ...". Zur Information der Sektionsvorsitzenden fügt KLENNER eine Abhandlung von Helmuth ZEBHAUSER, Kulturbe-auftragter des DAV, mit dem Titel "Alpinismus im Netz der politi-schen Konstellationen" bei. Darin wirft dieser AMSTÄDTER "Haß auf die Alpenvereine" vor und unterstellt: "Das Buch ist wissen-schaftlich verkleidete Agitation...".4) Außerdem verweist er auf die nach 1945 - zwar schrittweise - einsetzende Geschichtsaufarbei-tung im DAV. Welche Ergebnisse diese zeitigt, wird aber schon bei ZEBHAUSER selbst deutlich. Er schätzt z.B. ein: "Mit Erlaß der Nürnberger Gesetze 1935 ... konnten nur deutsche Staatsangehö-rige (Mitglieder) sein und somit war der Ausschluß von Juden ent-schieden, ohne daß der Alpenverein dies eigens so benennen mußte...".5) Allerdings hatte diesen Vorgang der damalige General-sekretär des DAV, von Schmidt-Wellenburg, 1938 noch ganz an-ders beschrieben: "Die Judenfrage wurde im Alpenverein aufgerollt und entschieden, lange noch, bevor im Binnenland sich weitere Kreise mit ihr befaßten...".6) Aufschlußreich sind auch drei Folgen in den DAV-Mitteilungen 1969 unter dem Titel "DAV - 100 Jahre un-terwegs" von DAV-Referent Peter GRIMM, in denen der Antisemi-tismus und seine Folgen für die jüdischen Vereinsmitglieder nicht einmal erwähnt werden.7) Ähnlich wird in den Jahren 1987 - 1990 die Geschichte des DAV in einer Serie - ebenfalls von Peter GRIMM - unter dem Titel "Gebeutelt, gebeugt und verboten - Der Weg des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins zwischen den Kriegen"8) dargestellt, so daß all diese Veröffentlichungen AMSTÄDTER, insbesondere das Kapitel "Die Vergangenheitbewäl-tigung des DAV" in seinem Buch9), bestätigen und keinesfalls wi-derlegen. Das gilt gleichermaßen für den Umgang mit einstigen Mitgliedern des DAV. Der französische Regisseur Claude Lanzman interviewte in seinem Film "Shoa" den stellvertretenden Komman-danten des Warschauer Ghettos Grassler. Danach befragt, was er nach dem Krieg gemacht habe, bekannte dieser, daß ihm "Bergluft besser bekam als Ghettoluft mit ihrem Leichengeruch" und daß er Bergbücher und alpine Zeitschriften herausgegeben habe. Tatsa-che ist, daß Dr. Franz Grassler (auch Graßler) nach 1945 Redak-teur im Bergverlag Rudolf Rother und ab 1957 Staatsanwalt beim Bayerischen Verwaltungsgericht München war. Von 1952 bis 1971 gehörte er dem Verwaltungsausschuß des DAV (ehrenamtlich) an und fungierte schließlich von 1981 bis 1984 als Pressereferent des
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DAV. Anläßlich des 85. Geburtstages von Grassler erweist GRIMM diesem in den Mitteilungen des DAV seine Referenz als altes Al-penvereinsmitglied, beschreibt dessen Werdegang und erwähnt u.a., daß dieser auch als Hauptschriftleiter gearbeitet hat. Die Tä-tigkeit im Warschauer Ghetto wird nicht genannt.10) Angesichts sol-cher und anderer Vorgänge weist AMSTÄDTER in seinem Buch auf teilweise fehlende Sachlichkeit und Objektivität im Prozeß der Geschichtsaufarbeitung hin und mahnt ehrliche Aufarbeitung ohne Ansehen der Personen an. Denn: "Wer Geschichte aufarbeiten will, habe das Herz, die Wahrheit nackt zu zeigen"11), lehrt schon Jo-hann Gottfried HERDER.
Inzwischen hat ZEBHAUSER ein Buch mit dem Titel "Alpinismus im Hitlerstaat" vorgelegt, das vom Deutschen Alpenverein (Berg-verlag Rother, München 1998) herausgegeben wurde. Auf fast 200 Seiten ist nun zwar mehr zur Geschichte des Alpenvereins nachzu-lesen aber eben nichts Neues. Wenn man von der Mitteillung ab-sieht, daß ein Verfahren gegen Grassler in München am 3. Juni 1971 "mangels ausreichender Anhaltspunkte für eine straf- und verfolgbare Handlung"12) eingestellt wurde. Auch dadurch konnte AMSTÄDTER also nicht widerlegt werden und es gilt nach wie vor auch uneingeschränkt seine Mahnung: "So totgeschwiegen können die braunen Schatten der Vergangenheit nicht aus dem Dunkel tre-ten, von dem so viele wollen, daß sie dort bleiben mögen. Doch die Probleme der deutschen wie der österreichischen Geschichte wer-den durch keine verordnete Schweigsamkeit gelöst, sondern nur durch offene Auseinandersetzung, durch langwierige erbitterte Dis-kussion...".13)
ANMERKUNGEN
1) Vgl. Amstädter, R.: Der Alpinismus. Kultur - Organisation - Politik. Wien 1996
2) Der Spiegel 52/1996, 62 f.
3) Ebenda
4) Zebhauser, H.: Alpinismus im Netz der politischen Konstellationen. Anlage zum Brief des 1. Vorsitzenden des DAV an die Sektionsvorsitzenden vom 19.12.1996
5) Ebenda
6) Schmidt-Wellenburg, W. v.: Aus dem Porzellanschrank des Alpenvereins. Mit-teilungen des DAV, Band 54/1938, 112 ff.
7) Vgl Grimm, P.: DAV - 100 Jahre unterwegs. Mitteilungen des DAV 1969
8) Vgl. Grimm, P.: Gebeutelt, gebeugt und verboten - Der Weg des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins zwischen den Kriegen. Mitteilungen des DAV 1/1987, 5/1987, 2/1988, 2/1990, 3/1990
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9) Amstädter, R.: A.a.O., 559 ff.
10) Vgl. Grimm, P.: Mitteilungen des DAV, 1/1997, 59
11) Herder, J. G.: Vorrede zu Palmblätter. Sammlung A. Liebeskind, Leipzig 1976, 10
12) Zebhauser, H.: Alpinismus im Hitlerstaat. München 1998, 355
13) Amstädter, R.: A.a.O., 241
Amstädter, R.: Der Alpinismus. Kultur - Organisation - Politik. Wien 1996
Fritz Leder
Der vergessene Weltmeister
Drei Biographien, zwei Autoren: Bewunderung und Irritation. Rena-te Frantz, Sportjournalistin in Köln schrieb „Der vergessene Welt-meister - Das rätselhafte Schicksal des Radrennfahrers Albert Richter“. Man liest es fasziniert und bewundert die schon unendlich zu nennende Arbeit, die da geleistet wurde, um Albert Richters Le-ben endlich - knapp 60 Jahre nach seinem mysteriösen Tod - kor-rekt nachzuzeichnen. Akten, Bilder, Zeitzeugen, Protokolle, Zitate zu Hauf. So entstand eine lückenlos zu nennende Biographie, die alle Stationen im Leben Richters berücksichtigt. Das sind: der sportliche Beginn, der Aufstieg Albert Richters, der in den zwanzi-ger und dreißiger Jahren zu den weltbesten Radsprintern der Welt gehörte. Sein Verhältnis zu den Faschisten und deren Sportführern ist vom ersten Tag an voller Spannungen. Von seinem jüdischen Manager trennt er sich auch nicht, als der aus Deutschland fliehen muß. Am 31. Dezember 1939 reist Richter in die Schweiz. Er gibt vor, dort - wie schon oft - in den Bergen trainieren zu wollen und versteckt Geld eines jüdischen Flüchtlings in den Reifen seines Rades. Jemand muß ihn verraten haben. In Lörrach holt man ihn aus dem Zug, sperrt ihn ins Gerichtsgefängnis. Zwei niederländi-sche Sechstagefahrer, die zufällig im gleichen Zug saßen, be-obachten die Szene. Am 2. Januar fährt Richters Bruder nach Lörrach, um Albert zu besuchen. Man verweigert ihm den Besuch, am nächsten Morgen steht der Bruder wieder vor den Amtstüren. Man eröffnet ihm, daß sich Albert Richter in seiner Zelle erhängt hat. Johann Richter sieht die Leiche seines Bruders für einige Au-genblicke. Sie liegt in einer Blutlache, das Jackett ist auf dem Rü-cken an drei Stellen von Schüssen durchlöchert. Versuche, den Mord nach 1945 aufzuklären, scheitern an der bundesdeutschen
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Justiz und ihrer auch in diesem Fall kaum nachvollziehbaren Tole-ranz gegenüber den Mördern. Auch faschistische Sportführer, die in der BRD wieder an die Spitze rücken, sehen kaum Gründe, dem Schicksal Albert Richters Aufmerksamkeit zu schenken. In der DDR benennt man Radrennbahnen nach Richter, ein Kinderheim und gestaltet eine Briefmarke in der Reihe „Ermordete Sportler“. Das hat die Autorin recherchiert und korrekt aufgeschrieben. Rena-te Frantz hat mit diesem Buch ein Zeichen gesetzt, das Achtung verdient. Und da die Stadtsparkasse Köln sie dabei förderte, negie-ren wir in diesem Fall unser Prinzip, auf Werbung zu verzichten und nennen sie.
Andreas Höfer gehört zu den gestandenen deutschen Sporthistori-kern, auch zu denen, die eine Gauck-Akte nicht nur mit Ehrfurcht betrachten. Als er jedoch in „Stadion“ „Die Dimensionen des Heinz Schöbel: Anmerkungen zu einem Verleger und Sportfunktionär in der DDR“ und in einer Abhandlung über die Gesellschaft zur För-derung des Olympischen Gedankens Heinz Schöbel, Manfred von Brauchitsch und Kurt Edel porträtierte, verzichtete er leider auf vie-le Mittel und Methoden, mit denen Renate Frantz bei ihrer Albert-Richter-Biographie zu Werke ging. Wer Schöbels Persönlichkeit aus Briefen und Aktennotizen rekonstruieren will, hat nicht viel Aussicht, damit erfolgreich zu sein. Man müßte, wollte man die 138 Druckseiten bis hin zu den ausgewählten Fotos analysieren, ein Buch schreiben, um den - wie Dümcke1) es formulierte - „dominant westlichen Diskurs über die DDR“ deutlich zu machen oder nach-zuweisen, wie „die Außenperspektive dominiert.“2)
Es fällt schwer, eine Antwort darauf zu finden, wie ein Historiker vom Range Höfers sich in diesem Fall mit solch dünn geklebten Lebensläufen begnügen konnte, zwischen deren Zeilen man immer wieder lesen kann: Im Zweifelsfall zuungunsten der DDR! Ein ein-ziges Beispiel. Höfer über die „Agitationsarbeit“ der Gesellschaft zur Förderung des Olympischen Gedankens in der DDR: „Im Mit-telpunkt der Schriften - stellvertretend sei der von Bernett bereits 1972 kritisch rezipierte Titel ‘München 1972 Schicksalsspiele?’ ge-nannt... standen persönliche Diffamierungen verantwortlicher Poli-tiker und Sportfunktionäre, die z.T., so im Falle Carl Diems, längst verstorben waren. Die ‘Botschaft’ wurde zwischen 1969 und 1972 auch in über 500 ‘Foren’... Interessierten nähergebracht sowie - nach dem Drehbuch ihres Pressechefs Klaus Huhn - in einem in
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Zusammenarbeit mit der DEFA und dem staatlichen Fernsehfunk produzierten ‘Dokumentarfilm’ in Szene gesetzt.“
Das erwähnte Buch besteht zu rund 70 Prozent aus Zitaten altbun-desdeutscher Zeitungen, Ausführungen, an die zugegebenerma-ßen auch Historiker aus den alten Ländern heute nicht mehr gerne erinnert werden. Höfer tat übrigens recht daran, das Wort Doku-mentarfilm in Anführungsstriche zu setzen, denn es handelte sich tatsächlich um einen Spielfilm, in dem drei berühmte Schauspieler des Dresdner Schauspielhauses für eine Minigage spielten. DEFA und Fernsehen hatten nichts damit zu tun. Und auch in diesem Spielfilm wurde ein „Zitat“ - in diesem Fall ein Filmauschnitt - ver-wendet. Im UfA-Film „Wunschkonzert“ besuchte das Hauptrollen-paar die Eröffnung der Spiele 1936. Den Abend verbrachte das Paar in einem Weinrestaurant, wo der Hauptdarsteller überra-schend ans Telefon gerufen wird. Man teilt ihm mit, daß er am nächsten Morgen in unauffälligem Zivil nach Spanien zu fliegen hat. Die nächsten Szenen feiern den Bombenregen der „Legion Condor“. Die war nämlich im „Schatten“ derSpiele nach Spanien transportiert worden. Wohl mit Wissen Diems. Darüber allerdings haben deutsche Sporthistoriker bislang wenig geschrieben. Das war für mich damals schon ein Grund, den Film in Angriff zu neh-men.
Nach der Lektüre der vier Biographien würde ich vermuten, daß Renate Frantz sich den Film angesehen hätte, bevor sie darüber schrieb.
„Der vergessene Weltmeister - Das rätselhafte Schicksal des Radrennfah-rers Albert Richter“. Emons-Verlag, Köln 1998
„Stadion“ XXI/XXII, St. Augustin 1995/96, S. 332 ff, S. 267 ff
1) Dümcke, Berliner Debatte Initial 9 (1998) 2/3 S. 60
2) Ebenda
Klaus Huhn
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ZITATE
Festrede zum 100jährigen DLV-Jubiläum
Bei der vom DLV arrangierten Veranstaltung zum 100jährigen Jubi-läum der Gründung des DLV am 4. Juli 1998 hielt Prof. WALTER JENS die Festrede.. Sein Vorschlag, künftig einen Preis mit dem Namen Otto Peltzer zu verbinden, könnte vielleicht in Verbindung mit der Tatsache gesehen werden, daß der DLV noch immer ein Carl-Diem-Schild verleiht und damit einen Mann würdigt, dessen fa-schistische Vergangenheit unbestreitbar ist
...der Deutsche Leichtathletik-Verband täte gut daran, gerade heu-te, auf der Suche nach Vorbildern unter den Meistern vergangener Tage, eines Mannes zu gedenken der zeitlebens als geheimer „Aufwiegler" galt, - ein Leichtathlet, der die Interessen der Sportler gegen eine - so heißt es in den Memoiren - "selbstherrliche Sport-bürokratie" verteidigte und immer seinen eigenen Weg ging. Otto Peltzer, ein Sportsmann aus Deutschland, der seine Heimat ver-ließ, Trainer in Skandinavien wurde und nach der Rückkehr, die Aufenthaltsgenehmigung war abgelaufen, im Konzentrationslager Mauthausen Zwangsarbeit zu leisten hatte, wie sie grausamer nicht vorzustellen ist, - Otto Peltzer, ein Sträfling zwischen Leben und Tod: „lch mußte hinunter in den gefürchteten Steinbruch, um dort mit einer stumpfen Hacke die Felswand zum Sprengen freizulegen und nach der Sprengung das Geröllmaterial zu verladen. Abends hatte jeder Häftling einen Stein auf die Schulter zu laden und die 189 Stufen des Steinbruchs hinauf ins Lager zu schleppen."
Nun, Otto Peltzer hat die Martern überlebt, das jahrzehntelange Training hatte Kräfte wachsen lassen, die ihn, nach der Befreiung durch die Amerikaner, genesen ließen; aber er war ein im Inners-ten gebrochener Mann, dem die Welt, in welcher die dem National-sozialismus willfährigen Sport-Funktionäre immer noch das Sagen hatten, fremd erschien: Wer, im Kreis derer, die einst Hitlers Krieg glorifizierten, stand, in Verpflichtung gegenüber dem Außenseiter und eigener Schuld eingedenk, in den Jahren nach dem Krieg ei-nem Leichtathleten zur Seite, der, hochgeehrt in Indien und mehr und mehr vergessen in Deutschland, in einem Akt tieftraurigen Aufbegehrens einen Briefkopf mit den Worten "Dr. Otto Peltzer" benutzte, "Schriftsteller und Soziologe. Experte in Sportmedizin, -
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Technik und -Erziehung. Olympionike. Ehemaliger Weltrekordläu-fer"?
Und dennoch, an Abrechnung dachte er nie. So leicht es gewesen wäre, die auf eine makabre Kontinuität über die Zeiten hinweg ein-geschworenen Ideologen, die Sport mit Wehrhaftigkeit und An-griffslust identifizierten, an den Pranger zu stellen: Otto Peltzer wollte am Ende der Leidensjahre Frieden, Versöhnung und vor al-lem einen Ausgleich zwischen 0st und West schaffen, der, so hoff-te er schon in den fünfziger Jahren, in nicht sehr ferner Zeit, Deutschland vereinigen werde.
Otto Peltzer, ein Mann zwischen den Fronten, selbstbewußt und geschunden, eigenwillig und demütig, - der Deutsche Leichtathle-tik-Verband sollte ihn heimholen, diesen liebenswertesten Ketzer in seinen Reihen, den Träumer, der im Augenblick tiefster Demüti-gungen von dem Gedanken nicht lassen mochte, daß die Leicht-athletik, nach der Überwindung nationalsozialistischer Herrschaft, auferstehen werde, wie der Phönix aus der Asche. Ja, er sollte sei-ner gedenken, der Verband, indem er, zum Beispiel, eine Ehrung nach ihm benennt, - bestimmt für einen jungen Athleten, der in Peltzers Weise, unbeirrt, couragiert und bereit, gesellschaftliche Tabus im Blick auf andere - humane! - Werte in Frage zu stellen, der Leichtathletik zum Ruhm gereicht: einen Otto-Peltzer-Preis, den einer aus dem Kreis der alten Weggefährten und Mitstreiter überreichen mag: ich denke an Max Danz.
Sportler ans Bier heranführen?
Das folgende Zitat ist einem Referat des Präsidenten des DLV, Prof. Dr. HELMUT DIGEL, entnommen, das er am 18. Juni 1998 auf dem Forum „Bier und Gesundheit“ hielt und das sich den Bier-Sponsoren widmete. (Die Überschrift stammt von der Redaktion.)
Dem Sport in seiner Kooperation mit der deutschen Brauwirtschaft wird zu Recht die Frage gestellt, ob er über diese Kooperation die Vorbildfunktion des Sports gefährdet, die dieser notwendigerweise für unsere Gesellschaft zu übernehmen hat. Der Sport hat sich nicht nur in seiner nahezu 200jährigen Geschichte, sondern auch gerade in diesen Tagen in erster Linie durch seine Vorbildfunktion legitimiert. Nicht zuletzt ist es die Vorbildfunktion des Sports, die
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ihn anschlußfähig macht für verschiedenste Sponsoring-Partnerschaften macht. Wer wie der Deutsche Leichtathletik-Verband die Aktion „Keine Macht den Drogen" unterstützt, gemein-sam mit dem Ministerium für Gesundheit sich in der Aktion "Kinder stark machen" engagiert und unter der Schirmherrschaft von Frau Schäuble die Welt-hungerhilfe mit seiner Aktion „Lebensläufe" för-dert, der muß die Frage beantworten, inwieweit eine Sponsoring-Partnerschaft mit der deutschen Brauwirtschaft diese Aktionen un-glaubwürdig erscheinen läßt. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit stellt sich auch vor dem Hintergrund des Kampfes gegen Doping, wobei zu beachten ist, daß Alkohol auf der Doping-Liste steht und allein deshalb bereits Identifikationsprobleme von Athleten zu er-warten sind, wenn ihr Verband sich durch die Brauwirtschaft unter-stützen läßt. Das Problem der Verantwortlichkeit stellt sich jedoch nicht nur in bezug auf Kooperationen mit Brauereien. Ein Athlet der Nationalmannschaft des Deutschen Leichtathletik-Verbandes wies beispielsweise kritisch auf eine Kooperation mit einem Automobil-hersteller hin. Er stellte die Frage, wie der Verband es vereinbaren könne, daß er sich von einem Automobilhersteller fördern lasse, seine Läufer hingegen wegen zu hohen Ozonwerten ihr Training einzustellen haben. Vergleichbare Probleme haben manche Athle-ten mit der ihnen auferlegten Werbung am Mann. Athleten haben sich für Produkte einzusetzen, ohne daß sie diesbezüglich bei der Entscheidung mit einbezogen worden sind. Eine kleine Minderheit von Athleten weist deshalb darauf hin, daß sie sich mit den Produk-ten, für die mittels der Mannschaftskleidung geworben wird, nicht identifizieren können. Von Athleten wird auch die Frage aufgewor-fen, ob es überhaupt ethisch und moralisch verantwortbar ist, daß man bestimmte Läufe von bestimmten Sponsoren im Fernsehen präsentieren läßt, ohne daß die Betroffenen in dieser Angelegen-heit eine Mitsprache erhalten. All diese Äußerungen und Beobach-tungen deuten darauf hin, daß man in der Kooperation mit der Wirtschaft die Frage nach der ethischen, kulturellen und pädapogi-schen Bedeutung des Sports auf sehr grundlegende Weise mit zu beachten hat und die kulturelle Bedeutung des Sports über eine Kooperation mit der Wirtschaft nicht gefährdet werden darf...
Will der Sport seine Vorbildfunktion erhalten, will er in autonomer Selbstverantwortung seine Sportarten weiter entwickeln, so ist er dabei auf eine enge Kooperation mit der Wirtschaft angewiesen.
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Die finanziellen Leistungen der Brauwirtschaft sind dabei für die Fi-nanzierung der zukünftigen Verbandsarbeit eine wichtige Hilfe. Deshalb kann es meines Erachtens nur darum gehen, die Frage nach der Kooperation zwischen dem Sport und den deutschen Brauereien so zu stellen, daß eine konstruktive Antwort gefunden werden kann. Es geht somit darum, daß das Verhältnis der Koope-ration in verantwortungsvoller Weise so gestaltet wird, daß sowohl das aktive Sporttreiben als auch der Bierkonsum den Menschen eine Möglichkeit zum Wohlbefinden eröffnet und daß die Gefahren, die durch einen überzogenen Sport- bzw. Bierkonsum entstehen können, möglichst vermieden werden. Will man dies, so liegt die Zukunft in der Kultivierung und Ästhetisierung beider Bereiche, so-wohl des Sports als auch des Bierkonsums. Das besondere Probi-em ist die Maßlosigkeit. Will man diesem Problem begegnen, so benötigt man Regeln der Selbstbegrenzung. Für den Deutschen Leichtathletik-Verband ist es deshalb grundlegend, daß gegenüber Jugendlichen eine aufklärende Haltung eingenommen wird, daß bei DLV-Leichtathletik-Veranstaltungen der Jugend nicht für Alko-hol geworben wird, daß aber die eingenommenen Sponsoring-Einnahmen gerade auch einer pädagogisch verantwortungsvollen Jugendarbeit zugute kommen. Jugendlichen muß geholfen werden, daß ihnen ein bewußter Umgang mit Bier gelingt... Es muß ein be-wußtes Heranführen Jugendlicher an den Bierkonsum gelingen. Dazu bedarf es einer verantwortungsvollen Jugendbetreuung in den Vereinen, dazu bedarf es auch einer sinnvollen Preisgestal-tung bei Getränkeangeboten.
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JAHRESTAGE
Zum 100jährigen Leichathletik-Jubiläum
Von GEORG WIECZISK
Die Feierlichkeiten zum 100jährigen Jubiläum des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) und seiner Vorläufer wären geeig-net gewesen, allen Frauen und Männern unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher politischer Überzeugungen und Bindungen für ihr soziales Wirken zu danken, sofern es mit den humanisti-schen Idealen des Sports und seinen völkerverbindenden Ideen übereinstimmte. Diese Chance wurde eindeutig vertan. Und alle, die für die Leichtathletik wirkten und sich noch heute engagieren ebenso wie die der historischen Wahrheit Verpflichteten, müssen nun wohl bis zum nächsten feierwürdigen Jubiläum - noch 25 Jahre - warten, ehe über die Entwicklung der deutschen Leichtathletik, ohne Auslassungen und Unwahrheiten berichtet werden darf, ehe der derzeit von den politischen Eliten der Gesellschaft offenbar vorgegebene politische Rahmen gesprengt wird, der bestenfalls für eine "Torsographie" über das gesellschaftliche Phänomen Leicht-athletik im Zeitalter des "modernen" Sports ausreicht. Die Genera-tion aber, die das gesellschaftlich und politisch determinierte Ge-schehen in dieser Sportart mit gestaltete, die Kronzeugen des ins-gesamt erfolgreichen Weges wie auch mancher Verwerfungen wird es dann nicht mehr geben. In Ermangelung eines offenen, kon-struktiv-kritischen Dialogs zur seriösen Aufarbeitung der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert - und als Teil dessen der Sport-geschichte - bleiben so den einstigen Akteuren kaum Möglichkeiten für Ergänzungen und Korrekturen, um der offensichtlich gewollten Geschichtsklitterei und der Verdammung progressiver Ideen zu begegnen. Denn nicht nur der DLV und seine Vorläufer, sondern auch der Deutsche Verband für Leichtathletik (DVfL), boten in die-sem Jahrhundert vielfältige Möglichkeiten, sich Vereinen anzu-schließen, um das Laufen, Springen, Werfen auch wettkampfmäßig zu betreiben, die bei einer historischen Würdigung nicht vergessen oder ins Abseits gestellt werden dürfen. Das ist durch nichts zu entschuldigen und schon gar nicht angesichts der denkwürdigen Festrede von Professor Walter Jens, die zum Nachdenken über Geschichte und Gegenwart der deutschen Leichtathletik, ihre sozi-
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ale Mission und die Folgen ihrer Vermarktung geradezu herausfor-derte. Ganz in diesem Sinne nachzudenken ist zweifellos auch über die Gedenkrede des DLV-Präsidenten, Prof. Dr. Digel (Januar 1998), nicht allein wegen der historisch und politisch unhaltbaren Gleichsetzung des Sports im faschistischen Deutschland mit dem in der DDR, sondern auch weil die etwa 50 Jahre währenden Akti-vitäten des Arbeitersports und der 100 000 Leichtathleten im deut-schen Arbeitersport unerwähnt blieben. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, daß es bei meinen kritischen Bemer-kungen nicht um nostalgische Verklärungen, z.B. der 40jährigen Geschichte der Leichtathletik in der DDR, geht. Es steht außer Frage, daß die Verbandsarbeit auch mit Bedrängnissen für Aktive und Funktionäre belastet war. Die Verantwortung dafür muß und wird die Verbandsleitung übernehmen, sofern es ihre Zuständigkeit betraf. Gegenstand meiner kritischen Bemerkungen zur o.g. Ge-denkrede und zu anderen Verlautbarungen anläßlich des 100jährigen Jubiläums ist die Tatsache, daß eine angemessene Würdigung der in 40 Jahren DDR-Leichtathletik geschaffenen substantiellen Werte, die national und international Bestand haben, fehlte. Der historischen Wahrheit verpflichtete Geschichte, auch der Geschichte der Leichtathletik in der DDR, läßt sich nun mal nicht durch Verschweigen, Verstümmeln oder Verteufeln aufarbei-ten. Unstrittig ist, daß die Entwicklung der Leichtathletik in der DDR Zeichen setzte sowohl für die massen- und volkssportliche Betäti-gung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in allen Lan-desteilen und in allen Schichten der Bevölkerung als auch für die Förderung von Talenten und durch die dafür geschaffenen Bedin-gungen. Das Fördersystem, z.B. mit den Trainingszentren (TZ) o-der den Kinder- und Jugendsportschulen (KJS), half vor allem auf-grund der wissenschaftlich gestützten Trainingsmethoden im Grundlagen-, Aufbau-, Nachwuchs- und Hochleistungstraining die Basis für die weltweit beachteten Leistungen von DDR-Athleten zu schaffen. Die Bilanz der Weltspitzenleistungen dieser Athleten bis einschließlich 1990 ist einmalig. Sie kann weder verschwiegen o-der - mit welchen Argumenten auch immer - abgewertet werden. Jene "eigentümliche Art von Vergeßlichkeit" mancher Deutscher, sich "die Geschichte nach politischem Gusto zurechtzubiegen" (Ullmann 1998) bewirkt lediglich, daß die sich darin äußernde Miß-achtung und herablassende Geringschätzung der Leistungen und
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des oft tagtäglichen Engagements von vielen Athleten, Trainern und Übungsleitern, Sportorganisatoren und unentbehrlichen Hel-fern demotiviert und ihr Engagement erlahmen läßt. Über die Ver-weigerung und den Rückzug aus dem praktischen Mittun im Ver-band und in den Vereinen muß man sich dann nicht mehr wundern.
Gedanken zur Bewegungslehre
Am 1. Dezember 1898 wurde Professor Dr. phil. Kurt Meinel geboren, der Begründer einer pädagogisch orientierten Theo-rie der sportlichen Bewegung. Aus dem von ihm verfaßten theoretischen Grundlagenwerk "Bewegungslehre" sollen Ge-danken aus dem Vorwort an den ersten Professor der Deut-schen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig erin-nern, an der er bis zu seiner Emeritierung wirkte.
"Sportliche Bewegungen sind jedoch komplexe Erscheinungen. Es sind nicht nur biologisch mechanische Prozesse, sondern sinnvolle Funktionen mit Leistungscharakter, es sind Formen der aktiven Auseinandersetzung des ganzen Menschen mit der Umwelt. Sport-liche Bewegungen besitzen Handlungscharakter im Vollsinne des Wortes und können daher nur durch eine möglichst vielseitige Be-trachtung annähernd zutreffend erfaßt werden.
Die naturwissenschaftliche Betrachtung sieht die sportliche Bewe-gung als eine Erscheinung an, die nach physiologischen und phy-sikalischen Gesetzen zu erklären ist. Das auf diesem Wege ge-wonnene Tatsachenmaterial ist wertvoll, bedarf jedoch einer Syn-these und Transformierung, wenn es für die sportpädagogische Praxis fruchtbar sein soll. Es bedarf auch einer wesentlichen Er-gänzung durch eine morphologische und historisch-gesellschaftliche Betrachtung der realen sportlichen Bewegungsab-läufe.
Pädagogisches Handeln war zu allen Zeiten auf eine Synthese der Erkenntnisse aus sehr unterschiedlichen Einzelwissenschaften an-gewiesen. Die Bewegungslehre will diese Synthese und notwendi-ge Ergänzung vollziehen. Sie ist auf das sportpädagogische Han-deln ausgerichtet und will keine Theorie um ihrer selbst willen sein. Als Theorie der sportlichen Bewegung stellt sie den Versuch dar,
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das weit verstreute und heterogene Tatsachenmaterial unter dem Aspekt der Bildung und Erziehung zusammenzufassen, zu ergän-zen und für die Methodik des Unterrichts und des Trainings nutzbar zu machen. ...
Die Bewegungslehre in der vorliegenden Form stellt einen Beginn dar, der noch viele fruchtbare Einsichten und Erkenntnisse ver-spricht, aber auch eine intensive Forschungsarbeit auf lange Zeit erfordert, wenn die vorhandenen Lücken geschlossen werden sol-len. Das kann nur in kollektiver Arbeit gelingen. Es wäre daher ein fortwirkender und schöner Erfolg unseres Bemühens, wenn wir nicht nur den Vertretern der bereits beteiligten Fachwissenschaften einige Hinweise für die notwendige kollektive und praxisverbunde-ne Arbeit geben könnten, sondern auch das Interesse und die Mit-arbeit der in der Praxis tätigen Sportpädagogen gewinnen würden."
Zum 110. Geburtstag von Friedrich Wolf
Von GÜNTHER WITT
Sporthistoriker und Filmhistoriker wissen natürlich sofort um was es geht, wenn der Filmtitel "Wege zu Kraft und Schönheit" genannt wird: Ein Erfolg beim Publikum, ein Kulturfilm, der zum Kultfilm ge-riet, ein Riesengeschäft für die UFA, die ihn 1925 drehte und in die Kinos brachte. Weniger bekannt ist wohl sicher die Tatsache, daß sich der Autor und Regisseur dieses Films eines Filmmanuskripts mit dem Titel "Gymnasten über euch" bediente, das der Schriftstel-ler und Arzt Friedrich Wolf 1920/21 während seines Aufenthalts in der Künstlerkolonie Worpswede geschrieben hatte. Für ihn war es einer seiner Versuche, Gesundheitsvorsorge, in diesem Falle durch Gymnastik, zu propagieren. Die UFA hielt das für undurchführbar und finanziell nicht lukrativ. Sie kaufte Wolf die Idee und das Ma-nuskript trotzdem ab, legte sie zunächst auf Eis, um sie dann als abendfüllenden Film zu realisieren, allerdings nicht im Sinne des Urhebers. Dieser Film gab sich unpolitisch, tendierte indessen zur Werbung für eine körperliche Ertüchtigung, wie sie sich bestimmte nationalsozialistische politische Kräfte wünschten. Die Idee einer allgemeinen Gesundheitsvorsorge durch Sport blieb auf der Stre-cke. Der Name Friedrich Wolf wurde nicht erwähnt.
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In seinen Erinnerungen "Aus meinem Leben" (1930), in dem sei-nerzeit so erfolgreichen Buch "Die Natur als Arzt und Helfer" (1928) zugleich durch unzählige Fotos anschaulich dokumentiert, in sei-nem Aufsatz "Buch und Jugend" (1930), in Gedichten und Briefen finden sich die Erklärungen, warum Friedrich Wolf sich mit dieser Thematik beschäftigte. Es war nicht nur die wissenschaftlich be-gründete Einsicht des Arztes in den Nutzen sportlicher Aktivität für die Gesundheit. Er selbst hielt sich seit seinen Kindheits- und Ju-gendjahren sein Leben lang mit Leidenschaft und Konsequenz körperlich fit, durch Gymnastik, Schwimmen, Rudern, Wandern und als Student - auch erfolgreich - durch leichtathletischen Mehr-kampf. Wenn in seinem Jahreszeugnis des Königlichen Gymnasi-ums zu Neuwied aus dem Jahre 1901 zu lesen ist, "Deutsch: ge-nügend; Turnen: sehr gut", so war die sportliche Passion also schon früh erkennbar. Daß der Gymnasiast Fritz Wolf dann aber als Schriftsteller zu einem Meister der deutschen Sprache avan-cierte, hätten seine damaligen Lehrer kaum vermutet. Das literari-sche Lebenswerk Friedrich Wolfs ist beachtlich. Erinnert sei nur an seine Dramen "Cyankali" (1929), "Professor Mamlock" (1934) oder "Thomas Müntzer" (1953) u.a., die auch verfilmt wurden, an sein Theaterstück "Beaumarchais" (1941), an seine Erzählungen wie "Lucie und der Angler von Paris" (1946), an seine Geschichten für Kinder und an seine Gedichte.
Zeit seines Lebens war Friedrich Wolf ein streitbarer Autor von Ar-tikeln, Essays und Flugschriften, ob als Arzt zu gesundheitspoliti-schen oder als Schriftsteller zu kulturpolitischen Fragen. Diese Schriften entsprangen seinem politischen und sozialen Engage-ment, das ihn immer zur aktiven Teilnahme in Wort und Tat an Brennpunkte des Zeitgeschehens führte, ob in den Kämpfen der zwanziger Jahre in Deutschland, ob im Widerstand gegen die Nati-onalsozialisten in Frankreich und in der Sowjetunion im Kampf ge-gen die faschistischen Eindringlinge während des Krieges oder beim schwierigen Neuaufbau nach 1945 und beim Anfang in der DDR.
Friedrich Wolf hat durch sein Leben und seine Leistungen einen festen Platz in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nicht wenige seiner Werke bieten speziell auch dem Sporthistori-ker unverzichtbare Erkenntnisse, Erfahrungen, Fakten und Anre-gungen, die es noch auszuschöpfen gilt.
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40. Todestag von Johannes R. Becher
Von GÜNTHER WITT
Es liegt in der Verantwortung von Wissenschaftlern auf dem Gebiet de politischen und der Literaturgeschichte das Leben und Werk Johannes R. Bechers zu erforschen und darzustellen, denn seine Gedichte, Erzählungen und Dramen, seine Essays zu Fragen der Kunst und Ästhetik und sein Wirken als Kulturpolitiker bestimmen vor allem den Platz, den er in der Literatur-Geschichte einnimmt. Becher war nie unumstritten, weder als junger aufbegehrender Dichter, der sich der literarischen Richtung des Expressionismus leidenschaftlich hingab, noch später als Dichter und Politiker, der sein literarisches Schaffen und seine führende Stellung im kulturel-len Leben der DOR der Verwirklichung seiner politischen Überzeu-gung als Sozialist widmete. Als Dichter der Nationalhymmme der DDR und als Verfasser von Gedichten, die zur Schulbuchlektüre erklärt wurden, geriet er allerdings durch die offizielle Kulturpolitik auf ein Podest, das ihn einseitig erscheinen und den Blick auf sein großes poetisches Werk wie auf seine widersprüchliche Persön-lichkeit zusehends verengen ließ.
Johannes R.Becher verdient aber auch das Interesse der Sporthis-toriker, denn wie kein anderer zeitgenössischer Dichter beschrieb er den kulturellen Stellenwert des Sports mit geistiger Über-zeugungskraft, ließ er ihn in über 50 Gedichten in der Sprache sei-ner meisterlichen Poesie nacherleben.
Johannes R.Becher schöpfte dabei aus persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen. In seinem Roman "Abschied" (1935) schildert er seine Flucht aus der ihn umgebenden politischen, sozialen und geistigen Misere in den Münchener Schwimmverein "Blau-Weiß", in dem die Welt in Ordnung schien. Training und Wettkämpfe be-stimmten sein Leben, Erfolge ließen ihn davon träumen, deutscher Meister im Kurzstreckenschwimmen zu werden. Aber seine jähe Erkenntnis, daß dies einer Flucht aus der gesellschaftlichen Wirk-lichkeit gleichkomme, beendete diese Illusionen: "So hatte ich... meine Strecke heruntergeschwommen. ... Aus meinem Schwimm-bassin war ich in die Welt wie von einem Ausflug zurückgekehrt." Der erste Weltkrieg mit seinen verheerenden Folgen führte Becher
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zur zwingenden Folgerung, daß die Welt verändert werden müsse. Er entschied sich für den revolutionären Weg. "Ich trat unter die ro-te Fahne." Aber bis ans Ende seines nun beginnenden politischen Lebens, ob als Journalist und Dichter, ob in der Illegalität und im Exil in der Sowjetunion, ob als Schriftsteller und Kulturminister in der DDR, verlor er nicht die Freude an eigener sportlicher Aktivität, vor allem als Schwimmer, Bergsteiger und Segler. Das mag für seine zuversichtliche Lebenshaltung wie für seine hohe geistige Produktivität von Bedeutung gewesen sein. Johannes R. Becher hinterließ ein literarisches Werk, das zum unverzichtbaren Bestand der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts zählen dürfte.
Der DTSB der DDR bezog aus den kulturtheoretischen Ansichten Johannes R.Bechers wie aus seinen Gedichten zum Sport wesent-lich Impulse, als er am 22. Mai 1962, anläßlich des 71.Geburts-tages des Dichters mit dem l. Gespräch „Kunst und Sport" in Berlin den Weg eines fruchtbaren Zusammenwirkens mit Künstlern des Landes begann. Auch das ist wert, in Erinnerung behalten zu wer-den.
Johannes R. Becher
Allüberall, wo sich die Körper schmieden...
Dort auf dem Fußballplatz, wo in das Tor
Der Stürmer köpft den Ball: dort in der Halle,
Wo „Achtung! Losl!“ ertönt: schon schnellen sie
Dahin, die Schwimmer, und die Arme reißen
Das Ziel heran, und hochauf von dem Kraulschlag
Furcht wirbelnd sich die Bahn entlang das Wasser;
Dort in den winterlichen Bergen, wo
Errichtet ist die Schanze: Sprung, o Flug,
Wie er, der Meister, jetzt herüberschwebt
Auf schmalen Schis und niedergeht und steht;
Dort bei der tollen Jagd der Motorräder
Wenn knatternd an den überhöhten Kurven
Sich die Maschinen hetzen; dort wo aus
Dem Flammenrund der Sonne stürzt im Flug
Der Flieger, jede Wendung kühn berechnend
Und wieder stürzt er senkrecht himmelauf;
Dort, wo der Boxer tänzelnd sich entzieht
Den Haken und den Schwingern, aus der Deckung
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Springt er hervor und landet Schlag auf Schlag!
Dort in den Felsen, wo durch den Kamin
Sich kletternd zwängt der Mann und balanciert
Auf steilem Grate, eine letzte Wand
Klimmt er empor zum unerstiegenen Gipfel;
Dort, wo sich auf dem Flusse, angetrieben
Von Zuruf, pfeilspitz Boote überbolen;
Dort auch, wo in dem Endspurt der Stafetten
Die vorgewölbte Brust das Band durchschneidet -
Und dort beim Waldlauf, bei dem Hürdenrennen -
Dort, wo es „Tempo“ heißt und Körper sich
Athletisch spannen, dort, wo Start und Ziel
Geschrieben steht und wo die Bahnen sind
Gesämt von Tausenden, Lautsprecher künden
Die Zeiten an und nennen ihn: den Sieger -
Allüberall, wo sich die Körper schmieden
Und sich elastisch Muskelbänder straffen,
Dort weilt auch, sich trainierend, mein Gedicht.
Nenordnen sich in strenggesetzten Rhythmen
Begriffe und Gefühle neuverteilt
Wird Raum und Zeit, und seinen Anteil hat
Auch das Gedicht, es fügt, was vielzerteilt
Im Menschen war zu einem Unteilbaren -
Es ist die Zeit, wo kraftgeladene Sätze
Durchmessen die noch unbekannte Strecke.
Es ist die Zeit der Künder und Eroberer.
Es ist die Zeit der muskulösen Strophe.
Es ist die Zeit der hohen Hymne, die
Gekommen ist die Dichtung zu erfüllen.
Der Glücksucher und die sieben Lasten - Verlorene Gedichte
Aufbau-Verlag Berlin 1952, S. 13
GEDENKEN
Gerhard Lukas
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Am 9. März 1998 ist Prof. em. Dr. phil. habil. Dr. hc. mult. Gerhard Lukas verstorben. Als Wissenschaftler und in zahlreichen Funktio-nen hat er über vier Jahrzehnte maßgeblich die Entwicklung des Sports, imsbesondere der Sportlehrerausbildung, des Schulsports und der Sportwissenschaft, in der DDR beeinflußt. Seine bedeu-tendsten wissenschaftlichen Leistungen erbrachte er in der Sport-geschichte, für die er sich 1951 durch seine Habilitationsschrift zum Thema "Kritischer Beitrag zur olympischen Idee" wissenschaftlich auswies.
Aus seiner Feder stammen die in den 50er Jahren erschienenen "Lehrbriefe zur Geschichte der Körperkultur", das einzige aktuelle Lehrmaterial für die Sportstudenten in jener Zeit, und die 1964 bis 1982 erschienenen vier großen Monographien, Standardwerke der Sportgeschichte, die auch heute noch jeder kritischen Sicht stand-halten.
Gerhard Lukas wurde 1948 zum Direktor des neu zu gründenden Instituts für Körpererziehung (IfK) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg berufen. Die Gründungsphase des IfK war ausge-füllt mit intensiver Lehr- und Organisationsarbeit für den Aufbau und die Ausgestaltung der Sportlehrerausbildung. Es kennzeichnet die Aufbruchstimmung jener Jahre, daß der junge Institutsdirektor - eine in Deutschland einmalige und ungewöhnliche Lösung - junge geeignete Sportler direkt in die Ausbildung und zum Abschluß führ-te und diese die Hochschulreife quasi im Abendstudium nachhol-ten.
Während einer Beratung der sechs Institutsdirektoren aus der Sow-jetischen Besatzungszone im Jahre 1949 wurde Gerhard Lukas zum Leiter der Studienplankommission ernannt und 1950 das Kon-zept des halleschen Instituts als Muster für die übrigen IfK empfoh-len. Er war 1952 Mitbegründer des Wissenschaftlich-Methodischen Rates beim Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport und wurde gleichzeitig in den Wissenschaftlichen Rat des Ministeriums für Volksbildung berufen.
Bereits damals strebte er ein Ziel an, das den Gegensatz zu seinen Vorgängern aus der Zeit des Instituts für Leibesübungen sichtbar machte, von denen ihm einer geraten hatte: "Machen Sie nur aus den Leibesübungen keine Wissenschaft". Als Konsequenz seines erfolgreichen wissenschaftlichen Wirkens wurde Dr. habil. Gerhard Lukas 1952 zum Professor mit Lehrstuhl berufen und damit an der
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Universität Halle-Wittenberg der erste Lehrstuhl für Körpererzie-hung in Deutschland errichtet. Er hat das hallesche Institut drei Jahrzehnte geleitet und entscheidend dazu beigetragen, die Sportwissenschaft zu einer national und international anerkannten, in viele Disziplinen gegliederten Wissenschaft zu formen.
Als ein tiefer Einschnitt in seinem Leben und in dem des Instituts erwiesen sich die Ereignisse von 1958 bis 1961 mit ihren unge-rechtfertigten Wertungen, insbesondere über die Lehre in Sportge-schichte, und den schmerzhaften Maßregelungen. Trotzdem hat er seine wissenschaftlichen Ziele nie preisgegeben und baute nach seiner Rehabilitierung das hallische Institut zu einer anerkannten Lehr- und Forschungseinrichtung aus, von der wesentliche Impulse für die Sportwissenschaft der DDR ausgingen. Besonders darauf wies einer seiner Schüler anläßlich des Ehrencolloquiums zum 80. Geburtstag von Gerhard Lukas im Jahr 1994 hin, indem er feststell-te, daß es eine Entscheidung von strategischer Bedeutung gewe-sen ist, das Institut erhalten, zur selbständigen Sektion Sportwis-senschaft profiliert und ihr in den 60er und 70er Jahren den Weg in die Leistungssportforschung geöffnet und offen gehalten zu haben. Die damit verbundene Differenzierung sportwissenschaftlicher Dis-ziplinen gab zahlreichen Nachwuchswissenschaftlern die Möglich-keit zu anspruchsvoller Qualifikation und öffnete vielen von ihnen - über den Schulsport und das Ausbildungsprofil des Instituts hinaus - attraktive Arbeitsfelder.
Prof. Dr. Gerhard Lukas betreute 64 Doktoranden und 17 Habilitan-ten. Seine wissenschaftliche Kompetenz beschränkte sich nicht nur auf die Sportgeschichte. Er strebte auch danach, komplexe wis-senschaftliche Fragestellungen aufzuwerfen und zu ihrer Lösung beizutragen. Zu den Themen seiner Veröffentlichungen oder der von ihm betreuten Dissertationen und Habilitationen gehörten des-halb auch solche zu schulmethodischen, bewegungs- und trai-ningswissenschaftlichen und zu sportmedizinischen Fragen und Problemen.
Die seit 1948 bestehenden, für ihn unverzichtbaren wissenschaftli-chen Beziehungen zu den Instituten in Heidelberg, Mainz und Graz wurden später erweitert durch die Zusammenarbeit mit den Univer-sitäten Budapest, Poznan, Bratislava, Leningrad und Bagdad oder mit Partnern in Kuba, Schweden, Finnland, Ägypten und im Liba-non.
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Seine wissenschaftlichen Leistungen wurden zweimal mit dem GutsMuths-Preis und mit der Ehrendoktorwürde in Budapest und Poznan sowie durch die Berufung in wissenschaftsleitende Funkti-onen anerkannt. Nach langjährigem Wirken als Prodekan der Phi-losophischen Fakultät und als Prorektor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg war er Dekan (1963-1969), Mitglied des Senats (1963-1977) und Senator (1977-1982) an der Alma ma-ter halensis.
Das Ehrenkolloquium anläßlich seines 80. Geburtstages ermöglich-te es, den Jubilar und seine Leistungen für den Sport, die Sportleh-rerausbildung und die Sportwissenschaft zu würdigen. Viele Gene-rationen seiner Schüler, Mitarbeiter und Sportfreunde aus ganz un-terschiedlichen Bereichen des Sports überbrachten Glückwünsche und trugen dazu bei, das außerordentliche Lebenswerk von Gerhard Lukas differenziert zu bewerten und einzuordnen.
Seine wissenschaftlichen Leistungen, seine Verdienste, sein Le-benswerk als Ganzes werden unvergessen bleiben.
Wolfhard Frost
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 8/ 1999
INHALT:
WIDER DAS VÖLKERRECHT!
Gustav-Adolf Schur
DISKUSSION / DOKUMENTATION
Schwierigkeiten der Bundesregierung mit dem
internationalen Sport Mitte der sechziger Jahre
Gerhard Oehmigen
Brief Willi Daumes an den
Bundesminister des Innern
Brief des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Lahr
Aufzeichnung: Sitzung im Bundeskanzleramt
Aufzeichnung: „Behandlung der Spalterflagge...“
Aufzeichnung: Beratung im Bundeskabinett
Zum Verständnis von Erziehung und Volkserziehung im ursprünglich turnerischen Sinne
Siegfried Melchert
Bemerkungen zum Thema Spartakiaden
Ulrich Wille
Der Anti-Doping-Prozeß –
Argumente, Lehren und Kommentare
Plädoyer
NOK-Report
Aktivensprecher
Versuch einiger Ergänzungen zur Biographie
Werner Klingebergs
Klaus Huhn
REZENSIONEN
Doping in der BRD
Joachim Fiebelkorn
Gaby Seyfert: Da muß noch was sein.
Klaus Huhn
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Geschichte des DDR-Sports - 50. Jahrestag des DS,
Protokollband 1.
Heinz Schwidtmann
Der Absturz des IOC
Heinz Schwidtmann
Geschichten vom Sport in Dresden, Dresdner Hefte
Horst Forchel
JAHRESTAGE
Zum 100. Geburtstag von Ernest Hemingway
Günter Witt
Um eine Viertelmillion (Auszug)
Ernest Hemingway
Jahn und das Turnen in Mecklenburg-Strelitz
Gerhard Grasmann
GEDENKEN
Rudi Glöckner
Günter Schneider
Dieter Kabisch
(19.1.1931 - 20.2.1999)
Kurt Franke
Andrzej Wohl
Günter Erbach und Fred Gras
INFORMATIONEN
Verein „Sport und Gesellschaft e.V.“
Klaus Eichler
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DIE AUTOREN
KLAUS EICHLER, geboren 1939, Chemie-Ingenieur, Vizepräsident des DTSB 1984 bis 1988, Präsident des DTSB 1988 bis 1990.
GÜNTER ERBACH, Dr. paed., geboren 1928, Prof. für Theorie und Geschichte der Körperkultur an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1960 bis 1968, Rektor der DHfK 1956 bis 1963, Staatssekretär für Körperkultur und Sport der DDR 1974 bis 1989, Exekutivmitglied der Conseil International pour l’Education Physique et le Sport (CIEPS) 1973 bis 1983, Ehrenmit-glied der CIEPS.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur der Zeitung „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
HORST FORCHEL, Dr. paed., geboren 1931, Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1978 bis 1990.
KURT FRANKE, Dr. sc. med., geboren 1926, Prof. für Chirur-gie/Trauma-tologie an der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR 1977 bis 1990, Chefredakteur der Zeitschrift „Medizin und Sport“ 1961 bis 1980.
FRED GRAS, Dr. paed. habil., geboren 1927, Prof. für Sportsozio-logie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) 1979 bis 1990.
GERHARD GRASMANN, Dr. paed., geboren 1948, Mitglied der Arbeitsgruppe „Turn- und Sportgeschichte“ beim LSB Mecklen-burg-Vorpommern.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der DVS.
SIEGFRIED MELCHERT, Dr. paed. habil., geboren 1936, Prof. für Theorie und Geschichte der Körperkultur seit 1989 an der Universi-tät Potsdam, Mitglied der Akademie der Künste und der Wissen-schaften zu St. Petersburg, Mitglied der DVS.
GERHARD OEHMIGEN, Dr. sc. paed., geboren 1934, Prof. für Geschichte des Sports am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) 1981 bis 1991.
GÜNTER SCHNEIDER, geboren 1924, Generalsekretär des Deut-schen Fußballverbandes (DFV) 1968 bis 1976, Präsident des DFV 1976 bis 1982 und 1989 bis 1990, Mitglied des Exekutivkomitees
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der Europäischen Union der Fußballverbände (UEFA) 1978 bis 1991.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) und am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1970 bis 1990, Rektor der DHfK 1963 bis 1965.
ULRICH WILLE, Dr. phil., geboren 1937, Sektorenleiter Allgemei-ner Kinder- und Jugendsport im Bundesvorstand des DTSB bis 1990.
GÜNTER WITT, Dr. phil. habil., geboren 1925, Prof. für Kulturtheo-rie und Ästhetik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig von 1982 bis 1990.
CHRONIK 1982
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WIDER DAS VÖLKERRECHT!
Von GUSTAV ADOLF SCHUR
Ich habe während meiner vielen Friedensfahrten zahlreiche Jugo-slawen kennengelernt... Ich kannte sie als harte Bergfahrer oder schnelle Sprinter, aber ich habe nie von ihnen erfahren, ob sie Serben waren oder Kroaten oder Slowenen. Ich habe sie auch nie danach gefragt. Das war in jenen Jahren kein Thema. Jetzt be-herrscht diese Frage jede Nachrichtensendung. Krieg tobte zwi-schen Serben und Kroaten - die Alt-BRD gehörte bekanntlich zu den allerersten, die Kroatien und Slowenien diplomatisch aner-kannten und damit geopolitische Fakten schufen - und nun hat der selbsternannte Weltgendarm NATO seine „intelligenten“ Waffen eingesetzt, um ein paar mehr solcher Fakten zu schaffen... Wider alles Völkerrecht wird gebombt und mit Raketen geschossen. Im Bundestag wird darüber diskutiert und ich weiß nicht genau, ob alle diejenigen, die dort die Hand hoben und damit faktisch den Befehl zur Aggression gaben, selbst Bombenkriege erlebt haben. Ich kann mich noch daran erinnern, als wäre es gestern gewesen... Jugo-slawien war Schauplatz Olympischer Spiele, bei denen sich Athle-ten aus aller Welt trafen und im friedlichen Wettstreit um Medaillen kämpften. Es ist höchste Zeit, daß Athleten aus aller Welt ihre Stimme erheben und sich an die Seite der Mütter stellen, die dage-gen protestieren, daß ihre Söhne sterben sollen, weil gewissenlose Politiker intelligente mörderische Waffen für sinnvoller halten als eigene Anläufe, politische Lösungen zu finden.
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DISKUSSION/DOKUMENTATION
Schwierigkeiten der Bundesregierung
mit dem internationalen Sport
Mitte der sechziger Jahre
Von GERHARD OEHMIGEN
Am 4. Oktober 1966 übergab das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung der Presse folgende Mitteilung: „Unter Vorsitz des Bundeskanzlers fand auf Einladung von Bundesinnenminister Lücke eine Unterredung mit den Präsidenten des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees statt. An dem Gespräch nahmen außerdem die Bundesminister Dr. Mende und Gradl sowie eine Reihe weiterer Staatssekretäre anderer Res-sorts teil. Die Vertreter des deutschen Sports, Präsident Daume, die Vizepräsidenten Dr. Wülfing, Minister Weyer, Dr. Danz und Herbert Kunze sowie Hauptgeschäftsführer Gieseler unterrichteten die Regierungsmitglieder über die gegenwärtige Lage im internati-onalen Sport. Hierbei wurden insbesondere die Schwierigkeiten er-örtert, die sich im internationalen Sportverkehr ergeben haben. Ein weiteres Gespräch mit dem Ziel der Wahrnehmung gemeinsamer deutscher Interessen wird unter Hinzuziehung der im Bundestag vertretenen Parteien auf Einladung des Bundesinnenministers stattfinden.“1) Was hier so allgemein und scheinbar nichtssagend und unproblematisch daherkommt, war aber lediglich die für die Öf-fentlichkeit bestimmte Information über eine hochbrisante Beratung im Bundeskanzleramt, bei der sprichwörtlich die Fetzen flogen und sich die Vertreter der Bundesregierung und des Sports gegenseitig die Schuld an der entstandenen sportpolitischen Situation gaben. Anlaß zu dieser Beratung war die mit dem Beschluß des Internati-onalen Leichtathletikverbandes (IAAF) vom 29. August 1966 in Bu-dapest offensichtlich gewordene Tatsache, daß sich in den interna-tionalen Föderationen immer stärker die Auffassung durchsetzte, den Sportverbänden der DDR zunehmend die ihnen zustehende Gleichberechtigung zu gewähren.2) Die Bundesregierung befürch-tete ein weiteres Bröckeln ihres Alleinvertretungsanspruches und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Lahr, verlangte von den Sportfunktionären mehr Energie und Einsatzwillen, griff dabei er-neut den Präsidenten des Leichtathletikverbandes, Dr. Max Danz,
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an und hob positive Ergebnisse der vom Auswärtigen Amt unter-nommenen Demarchen bei den vorolympischen Wettkämpfen in Mexiko sowie den alpinen Ski-Weltmeisterschaften in Portillio/Chile hervor. DSB- und NOK-Präsident Daume erwartete vor allem Nachteile für sein „Lebenswerk“, die Olympischen Spiele 1972 in München. Er bat die Bundesregierung, „Politik Politik und Sport Sport“ sein zu lassen und malte als Schreckgespenst an die Wand, daß die Olympischen Spiele 1972 an Moskau oder Leipzig gehen würden, wenn in München keine DDR-Embleme gezeigt werden könnten. Um so schockierender muß es für ihn gewesen sein, daß die Bundesregierung in keiner Weise auf seine Argumente einging und im Gegenteil durch Bundesminister Gradl verkündete, „daß München noch abgesagt werden müsse, wenn selbst erst am Vor-abend des Beginns der Olympischen Spiele eine Fahne (der DDR - G. O.) gehißt würde.“3) In einem Schreiben an Bundesinnenminister Lücke vom 24. April 1967, unmittelbar vor der IOC-Session in Te-heran, kommt Daume deshalb nochmals auf diese Beratung zu-rück, beklagt das Ausbleiben der angekündigten erneuten Bera-tung und bittet um ein Gespräch. Zur Begründung verweist er nochmals auf das Phantom, die Olympischen Spiele 1972 könnten nach Moskau oder Leipzig verlegt werden, und kritisiert sehr deut-lich die in der Beratung im Bundeskanzleramt von Staatssekretär Lahr so sehr gelobten Demarchen des Auswärtigen Amtes als „sehr unglückliche Intervention eines Sonderbotschafters der Bun-desrepublik bei den vorolympischen Spielen des vergangenen Jah-res, die... uns viele Sympathien gekostet hat,“4) Natürlich war es kein Sichabfinden mit den Gegebenheiten und schon gar keine Sympathie mit dem außenpo-litischen Bodengewinn des DDR-Sports, die Willi Daumes Gedanken leiteten, sondern der Frust darüber, daß die Bundesregierung - vor allem die Abteilung IV im Auswärtigen Amt - Entscheidungen traf und Aktionen startete, ohne diese mit den Vertretern des Sports abzustimmen. Und es war ins-besondere der Ärger darüber, daß das Auswärtige Amt, allen voran Staatssekretär Lahr bemüht war, den Vertretern des Sports die al-leinige Schuld an den außenpolitischen Bodengewinnen des DDR-Sports den Vertretern des DSB und NOK der Bundesrepublik zu-schieben wollten. Tatsächlich wird genau das nicht nur in der ge-nannten Beratung vom 4. Oktober 1966, sondern bereits in deren regierungsinterner Vorbereitung sowie vielfältigen regierungsamtli-
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chen Runderlassen und Situationsberichten, vorher und nachher, deutlich. So heißt es in einem von Staatssekretär Lahr an das Bundesinnenministerium gerichteten Schreiben vom 2. September 1966 u.a. „Die taktische Position, die sich der Sport der Bundesre-publik Deutschland aufgebaut hat, nämlich daß der Sport Sport treibt, während Flagge, Hymne, Emblem und Bezeichnung politi-sche Probleme seien, welche die Bundesregierung...zu lösen habe, sollte nicht länger hingenommen werden. Der Sport hat sich damit die Möglichkeit geschaffen, die Bundesregierung für jeden Terrain-verlust verantwortlich zu machen, ...“ 5), und er fordert einen „...kämpferischen Einsatz des Sports selbst in den internationalen Gremien des Sports...“ 6) Und in einer Gesprächsaufzeichnung vom 20. September 1966 stellt Legationsrat Dr. Kolb von der Abt. IV. im Auswärtigen Amt eine Entwicklung zu ungunsten der BRD im inter-nationalen Sport fest, „...in erster Linie deshalb, weil der Sport der Bundesrepublik Deutschland die politischen Belange der Bundes-republik nicht energisch genug vertritt...“ 7) Natürlich war es eine Tatsache, daß die Sportorganisationen der DDR alles unternah-men, um als von den internationalen Föderationen anerkannte Or-ganisationen eines selbständigen Staates mit ihren Mitteln und Möglichkeiten den staatlichen Alleinvertretungsanspruch der Bun-desrepublik weiter zurückzudrängen und zu brechen. Aber das war schließlich ihr gutes Recht und möglicherweise waren sie dabei tatsächlich konsequenter als ihr bundesdeutsches Pendant bei der Abwehr. Nur - das Problem lag dabei allein bei den staatlichen In-stanzen der Bundesrepublik und bei deren Sportorganisationen. In-teressant - und wohl doch ein wenig überraschend - ist aber, daß das Auswärtige Amt der BRD bereits in dieser Zeit offenkundig um Schadensbegrenzung dadurch bemüht war, daß versucht wurde, politisch die Bedeutung von Beschlüssen internationaler Verbände auf gleichberechtigte Teilnahme des DDR-Sports an internationa-len Sportveranstaltungen (einschließlich staatlicher Symbole) ei-nerseits herunterzuspielen. Andererseits aber sollten die staatli-chen Stellen der BRD und ihre Sportverbände strikt auf dem Allein-vertretungsanspruch bestehen. Besonders beweisfähig und aussa-gekräftig ist hierzu ein extra beglaubigtes, völkerrechtsrelevantes Dossier der Abteilung V im Auswärtigem Amt der Bundesrepublik vom 4. November 1966.8) Wegen seiner Brisanz und Widersprüch-lichkeit, aber auch weil es in besonderem Maße die Starrheit der
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Bundesregierung in den zwischenstaatlichen Beziehungen BRD - DDR zum Ausdruck bringt, wird es im anschließenden Dokumen-tenteil in großen Auszügen veröffentlicht, ohne hier extra näher da-rauf einzugehen. Wieder zeigt sich, daß Geschichtsaufarbeitung kompliziert ist und jede Einseitigkeit weder der historischen Wahr-heit noch den Menschen gerecht wird, die die Geschichte mitge-staltet haben.
Anmerkungen:
1) AAAB, IV/5 Bd.1618, Nr.1375/66
2) vgl. Oehmigen, Gerhard: Die 63. IOC-Session und Daumes Ärger mit der Bun-desregierung. In: Beiträge zur Sportgeschichte. Berlin, Heft 6, 1998 S. 39 und der-selbe: Ein Beschluß der IAAF von 1966 und die Reaktion der Bundesregierung. In: ebenda, Heft 7, 1998, S. 30 f
3) AAAB, IV/5 Bd. 1618, Dg IV. Aufzeichnung. Betr. Sitzung im Bundeskanzleramt vom 4. Oktober 1966
4) AAAB, IV/5 Bd. 1618. Schreiben von W. Daume an den Bundesminister des In-nern, Herrn Paul Lücke. Betr. Sitzung des Internationalen Olympischen Komitees in Teheran vom 5. - 9. 5. 1967
5) AAAB, IV/5 - 86.10/1, Bd. 1618. Schreiben von Staatssekretär Lahr an das Bun-desministerium des Innern vom 2. September 1966, S. 2
6) ebenda
7) AAAB, IV/5 - 86.10/10, Bd. 1618. Aufzeichnung vom 20. September 1966
8) AAAB, V/1 - 80.23/1, Bd. 1618. Aufzeichnung: Betr.: Behandlung der Spalter-flagge, der Hymne und der Embleme der SBZ sowie der Bezeichnung „DDR“ bei internationalen Sportveranstaltungen
DOKUMENT 1
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV/5 Band 1618)
Brief des Präsidenten des Deutschen Sportbundes und des Natio-nalen Olympischen Komitees (Willi Daume) an den „Bundesminis-ter des Innern, Herrn Paul Lücke, 5300 Bonn, Rheindorfer Str. 198:
Aufgegeben: 46 Dortmund, Postfach 362, 24. April 1967,
...Betr.: Sitzung des Internationalen Olympischen Komitees in Te-heran vom 5. - 9. 5. 1967
Sehr geehrter Herr Minister Lücke,
es ist bekannt, daß die Sowjetunion, unterstützt durch eine Reihe von Ostblock-Staaten, die obige Sitzung erneut zu politischen An-griffen gegen uns nutzen wird. Aus Inside-Informationen ist mir zur Kenntnis gekommen, daß sich die Stoßrichtung im beonderen ge-gen die Olympischen Spiele von München wendet. Man weiß um
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deren eminente politische Bedeutung und rechnet immer noch da-mit, die Austragung der Spiele in der Bundesrepublik gefährden zu können. Diese Hoffnungen begründen sich im wesentlichen auf das deutsche Dilemma in den protokollarischen Fragen, also Fah-ne, Emblem und Hymne. (Man wird die Satzungswidrigkeit der jet-zigen, sogenannten Madrider Regelung auch schon in bezug auf die Spiele von Mexiko City 1968 angreifen, dabei aber, wie gesagt, immer in erster Linie München 1972 anvisieren. Die so sehr un-glückliche Intervention eines Sonderbotschafters der Bundesrepub-lik bei den vorolympischen Spielen des vergangenen Jahres, die genau das Gegenteil des ihr zugedachten Effektes erreicht und uns viel Sympathien gekostet hat, kommt den Bemühungen der ande-ren Seite zugute...
Obwohl dem Sport diese Probleme auf den Nägeln brennen, haben wir bisher vergeblich auf die Möglichlichkeit des für uns so drin-genden Gedankenaustausches gewartet, dessen Zweck ja sein sollte, zu einer gemeinsamen und realisierbaren Auffassung in die-sen Fragen zu kommen. Zwar hat es eine Reihe von Minister-Aussagen gegeben - vor allem nach Bildung der großen Koalition -, die auf eine Wandlung der früheren Konzeption der Bundesregie-rung schliessen ließen. Es wurde auch wiederholt in der Öffentlich-keit erklärt, daß eine Absprache dieser Probleme mit dem Sport unmittelbar bevorstünde, und Sie selbst, sehr geehrter Herr Minis-ter, stellten dies ja ebenfalls bei gelegentlichen Gesprächen mit mir in Aussicht. Ueber Andeutungen dieser und ähnlicher Art sind wir aber niemals hinausgekommen.
Nach Lage der Dinge schlage ich nun vor, daß wir den Komplex der Olympischen Spiele von München auf jeden Fall gesondert se-hen. Diese Veranstaltung hebt sich in jeder Beziehung vom allge-meinen innerdeutschen und internationalen Sportverkehr ab. Das ist in allen Ländern so, und so wurde es auch bei den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin gehalten ... Es sieht so aus, daß meine Aufgabe in Teheran sehr schwer sein wird. Gerade im Hinblick auf die Olympischen Spiele von München stehe ich, was die sowjeti-sche Offensive angeht, in vertraulichem Gedankenaustaustausch sowohl mit dem Präsidenten des Internationalen Olympischen Ko-mitees, Brundage, wie mit einigen anderen einflußreichen Mitglie-dern, auf deren Hilfe ich hoffe. Es ist aber klar ersichtlich, daß ich auch bereits für Teheran in irgendeiner Weise die Hilfe der Bun-
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desregierung benötige. Ich muß darauf ausgehen, daß schon Ge-spräche über Protokollarien der Olympischen Spiele von München vermieden und die dementsprechenden russischen Anträge abge-setzt werden. Nach Ansicht von Präsident Brundage ist das ohne weiteres möglich, wenn eine Erklärung der Bundesregierung vor-liegt, daß bei der Durchführung der Olympischen Spiele selbstver-ständlich die Regeln des Internationalen Olympischen Komitees beachtet werden. Regierungserklärungen dieser Art hatten alle Bewerber außer uns schon 1966 abgegeben, also auch die „Nato-Städte“ Detroit und Montreal. Im übrigen verpflichtet eine solche Erklärung zu nichts Besonderem; es ist doch ganz klar, daß Olym-pische Spiele nur nach den Regeln des Internationalen Olympi-schen Komitees, das ja Träger der Spiele ist, durchgeführt werden können. Nach meiner Ansicht bedarf es zur Abgabe einer derarti-gen Erklärung keiner großen Beratungen. Viel wichtiger ist, daß wir jetzt die sowjetische Absicht durchkreuzen, diese Themen in der in-ternationalen Öffentlichkeit hochzuspielen, womit noch gar nicht abzusehender Schaden eintreten könnte. Im letzten Oktober schon hat ein Kommentator des Deutschen Fernsehens uns ganz offiziell die Frage gestellt, ob es letztlich darauf hinausgehen sollte, daß die Olympischen Spiele 1972 in Moskau oder gar in Leipzig statt-fänden...“
DOKUMENT 2
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV/5 - 86.10/1)
Brief des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Lahr, an das Bun-desministerium des Innern; Bonn, den 2. September 1966:
Betr.:Kabinettsvorlage des BMI
Das Auswärtige Amt nimmt zu der Kabinettsvorlage des Herrn Bundesministers des Innern wie folgt Stellung:
Die („zunehmenden“ - handschriftlich eingefügt) Erfolge des Zo-nensports in der Flaggen- Hymnen- und Emblemfrage im internati-onalen Sportbetrieb beruhen vor allem auf der rücksichtslosen An-wendung der Drohung, an den Veranstaltungen nicht teilzunehmen oder wieder abzureisen, wenn nicht seinen Forderungen entspre-chend verfahren wird. Da der Sport der Bundesrepublik Deutschland aus Angst vor der sogenannten Selbstisolierung auf die Anwendung solcher Drohungen verzichtet, gehen die internationalen Gremien und die nationalen Veranstalter
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sowie die Regierungen keinerlei Risiko ein, wenn sie vor den Pres-sionen der SBZ-Funktonäre zurückweichen. Erst wenn der Sport der Bundesrepublik Deutschland mit der gleichen Drohung arbeitet, besteht für die internationalen Fachverbände Anlaß zu ernsthaften Bemühungen, die Madrider IOC-Regelung vom Oktober 1965 als für alle internationalen Veranstaltungen, an denen zwei deutsche Mannschaften beteiligt sind, verbindliche Regelung durchzusetzen. Es ist anzunehmen, daß der internationale Sport auf die Teilnahme des Sportes der Bundesrepublik Deutschland ebenso ungern ver-zichtet wie auf die Beteiligung des Zonensportes und deshalb genötigt ist, eine Lösung zu suchen, die nicht nur für die SBZ, sondern auch für die Bundesrepublik Deutschland annehm-bar ist.
Um weitere Erfolge der SBZ aufzuhalten, genügen die bisherigen Methoden des rein verbal hinhaltenden Widerstandes nicht mehr. Die taktische Position, die sich der Sport der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut hat, nämlich dass der Sport Sport treibt, während Flagge, Hymne, Emblem und Bezeichnungen politische Probleme seien, welche die Bundesregierung mit diplomatischen Mitteln für den Sport zu lösen habe, sollte von der Bundesregie-rung nicht länger hingenommen werden. Der Sport hat sich damit die Möglichkeit geschaffen, die Bundesregierung für jeden Terrain-verlust verantwortlich zu machen, wie es jetzt geschieht. Es ist un-möglich, mit dieser unrealistischen Position der angeblichen politi-schen Neutralität des Sports dem hochpolitisierten Sport der SBZ wirksam entgegenzutreten.
Die Bundesregierung müßte deswegen dem Sport klarmachen, daß die Flaggen- Hymnen-Emblem und Bezeichnungsfrage nicht durch diplomatische Interventionen allein zu unseren Gunsten ent-schieden werden kann, sondern auch und vor allem durch einen kämpferischen Einsatz des Sports selbst in den internationalen Gremien des Sports und in der Praxis des internationalen Sportbe-triebs. Die sogenannten Protokollfragen stellen sich für den Sport bereits in einem so frühen Stadium der Verhandlungen, in dem die Bundesregierung über die Planungen der internationalen Sportor-ganisationen überhaupt noch nicht unterrichtet ist...
... Das Auswärtige Amt verkennt nicht die Schwierigkeiten, die Sportführung und die Sportorganisationen der Bundesrepublik
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Deutschland für eine solche Kampfesweise zu gewinnen. Sie wer-den
1) darauf hinweisen, daß dann der deutsche Sport möglicherweise international nur durch die Zonensportler vertreten würde und
2) vor allem Rückwirkungen auf die römische IOC-Entscheidung zugunsten Münchens für die übernächsten Olympischen Spiele befürchten.
Zu 1) ist zu sagen, daß es sich nur um eine vorübergehende Isolie-rung in einzelnen Sportbereichen handeln könnte und daß es nicht an Versuchen fehlen wird, den Sport der Bundesrepublik Deutsch-land in den internationalen Sportbetrieb zurückzuholen, bei welcher Gelegenheit er dann seine Bedingungen stellen könnte.
Zu 2) ist zu sagen, daß gerade seit der römischen IOC-Entscheidung ein verstärkter und rücksichtsloserer Kampf der SBZ-Funktionäre festgestellt wird, dessen Ziel es ist, bis zu den Olympi-schen Spielen in München, und womöglich noch früher im gesam-ten internationalen Sportbereich, Fahne, Hymne, Emblem und poli-tische Bezeichnung der SBZ durchgesetzt zu haben, um dann auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland die Zweistaatlichkeit Deutschlands vor der ganzen Welt zu demonstrieren. Ausgerech-net die Olympischen Spiele in München würden dann zur Gele-genheit eines entscheidenden internationalen Durchbruchs der so-genannten „DDR“. Einer solchen Möglichkeit muß mit aller Energie entgegengewirkt werden...
DOKUMENT 3
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV/5 - 1618, Dg IV)
Aufzeichnung Betr.: Sitzung im Bundeskanzleramt über Fragen der gesamtdeut-schen Sportmannschaft;
hier: Fahnen, Hymnen und Embleme
An der heutigen Besprechung nahmen unter dem zeitweiligen Vor-sitz des Herrn Bundeskanzlers teil:
Minister Lücke Vizekanzler Dr. Mende Minister Dr. Gradl Staatssekretär Lahr Staatssekretär Schäfer Staatssekretär Krautwig Staatssekretär von Hase
W. Daume Dr. Wülfing Dr. Danz Minister Weyer Herr Kunze Herr Gieseler Minister Lücke eröffnete die Besprechung, die er als einen freien
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Meinungsaustausch geführt und nicht als eine Gerichtssitzung be-trachtet wissen wolle. Der Präsident des Deutschen Sportverban-des und des Olympischen Komitees, Herr Daume, versuchte, in längeren Ausführungen darzutun, daß der deutsche Sport sich bis-her immer den Wünschen der Bundesregierung gefügt habe. Jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, wo er genau wissen müsse, wie man aus den bekannten immer größer werdenden Schwierigkeiten her-auskomme. Es sei festzustellen, daß einerseits das Ausland, und zwar auch das uns durch den NATO-Vertrag verbundene, nicht mehr zuverlässig unsere Wünsche erfülle, und andererseits in den Kreisen des deutschen Sports und überhaupt in der ganzen Welt eine Ermüdung, Unlust und Ärger spürbar seien. Man solle doch Politik Politik und Sport Sport sein lassen. Er müsse darauf hinwei-sen, daß die Abhaltung der Olympischen Spiele in München ge-fährdet sei, wenn wir nicht zuliessen, daß in München die Embleme der Zone gezeigt werden könnten; die Spiele gingen dann nach Moskau oder nach Leipzig. Ferner sei zu erwarten, daß eine ganze Reihe von internationalen Sportausscheidungskämpfen in die Städ-te der Satellitenstaaten verlegt würden, weil wir dort die Zonen-embleme dulden müßten. Er habe aber auch kein passendes Re-zept, wie man der Schwierigkeiten Herr werden könne.
Der Bundeskanzler umriß ganz allgemein, wie sich die Bundesre-gierung bisher verhalten habe. Auch er gebe zu, daß es im Mo-ment nicht nach einer befriedigenden Lösung aussehe. Es müsse aber unbedingt ein Weg gesucht werden...
...Minister Weyer stellte die Frage, wie sich die Bundesregierung künftig bei Veranstaltungen
a) in der Sowjetunion und den Satellitenstaaten
b) in Staaten des NATO-Bereichs
c) bei uns befreundeten und
d) neutralen Staaten Verhalten solle. Seiner Meinung nach sei es unrealististisch, in den kommunistischen Staaten unsere Ansprü-che zu erheben. Bei den NATO-Staaten gäbe es eine Reihe, die wohl mitmachten, bei vielen habe es sich aber gezeigt - der Marquess of Exeter sei ein Beispiel -, daß wir auch dort unsere Wünsche nicht zuverlässig durchsetzen könnten. In der übrigen Welt verhalte es sich ähnlich.
Staatssekretär Lahr entgegnete zusammenfassend, daß die Bundesregierung immer den Willen bekundet habe, eng mit der
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Sportführung zusammenzuarbeiten. Dies müsse auch fortgesetzt werden. Vor allen Dingen warne er davor, zu glauben, daß wir un-sere Ansprüche und Wünsche nicht mehr durchsetzen könnten. Gewiß habe es Pannen gegeben, diese seien auch in Zukunft nicht auszuschließen. In der Regel hätten aber die vom Auswärtigen Amt unternommenen Demarchen Erfolg gehabt. Er wolle zwei Bei-spiele erwähnen: Letzthin Mexiko und einige Wochen vorher - er selbst habe diese Tage in Chile mit erlebt - Portillo. Diese beiden Erfolge brächten den Beweis dafür, daß man mit Energie doch sehr viel erreiche. An dem Erfordernis, nicht zu dulden, daß Fahne und Hymne der Zone in Erscheinung träten, und an der Aufrechterhal-tung und Befolgung der Madrider Beschlüsse müsse die Bundesregie-rung festhalten. Wie man sich zu den Fragen der Embleme auf der unterschiedlichen Sportkleidung verhalten wolle, müsse geklärt werden. Es sei aber niemals allein Sache der Bundesregierung, sondern Sache jedes Deutschen und damit auch jedes Sportlers, die Notwendigkeit der Behauptung der Ansprüche des freien Deutschland einzusehen und von sich aus dafür einzutreten. Er müsse dem deutschen Sport sagen, man habe nicht immer die Überzeugung gewonnen, daß der Sport hierin seine Aufgabe erkannt habe. Man könne eben nicht Politik Politik und Sport Sport sein lassen.
Vizekanzler Mende und Minister Gradl betonten die Unmöglichkeit des Gedankens, es könne auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland etwa die Zonenflagge gezeigt werden. Es gäbe hierzu auch eine Feststellung des Bundesverfassungsgerichts. Minister Gradl ging soweit zu sagen, daß München noch abgesagt werden müsse, wenn selbst erst am Vorabend des Beginns der Olympi-schen Spiele eine Fahne gehisst würde...
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DOKUMENT 4
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV/5 - 80.23/1)
Betr.: Behandlung der Spalterflagge, der Hymne und der Embleme der SBZ sowie der Bezeichnung "DDR“ bei internationalen Sport-veranstaltungen
Aufzeichnung
Zu der Frage der völkerrechtlichen Auswirkungen des Zeigens der Spalterflagge und der Embleme der SBZ auf internationalen Sport-veranstaltungen neben den Symbolen der Bundesrepublik Deutschland sowie des Abspielens der Becher-Hymne und des Gebrauchs der Bezeichnung „DDR“ ist folgendes zu bemerken:
I. Zwei grundsätzliche Vorbemerkungen
1) Eine Anerkennung im völkerrechtlichen Sinne kann nur von Staaten und deren verfassungsgemäß berufenen Organen ausge-hen. Sportverbände und die Veranstalter von sportlichen Wett-kämpfen sind rechtlich gar nicht in der Lage, eine völkerrechtliche Anerkennung vorzunehmen. Die Gefahr einer (stillschweigenden, implizierten) Anerkennung der SBZ kann daher nur beim Handeln staatlicher Organe entstehen. Handlungen von Sportverbänden und - veranstaltern sind dagegen nur unter dem Gesichtspunkt der - politisch nachteiligen - Aufwertung der SBZ zu sehen.
(Die Aufwertung ist ein Vorgang, der sich im vorrechtlichen Raum bewegt und daher mit völkerrechtlichen Maßstäben kaum gemes-sen werden kann; politisch muß diesem Vorgang jedoch ebenso entgegengewirkt werden wie den Vorstufen einer völkerrechtlichen Anerkennung selbst.)
Wegen der besonderen internationalen Bedeutung des Sports (Länderkämpfe, Nationenwertung, Ehrungen der Sieger als Reprä-sentanten ihres Staates) wird man sich jedoch nicht in allen Fällen mit der Erkenntnis beruhigen können, daß Handlungen von Sportver-bänden und -veranstaltern private Akte seien, die den staatlichen 'Organen nicht zugerechnet werden können. Vielmehr wird es unter Umständen notwendig sein, daß die Regierung sich von Handlun-gen der Sportverbände, die in Widerspruch zu den Grundsätzen ih-rer Politik stehen, so klar distanziert, daß jedes Mißverständnis über die Haltung der Regierung ausgeschlossen ist.
2) Bei dem Verhalten staatlicher Organe gegenüber der SBZ in al-len Lebensbereichen besteht ein grundlegender Unterschied zwi-
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schen dem, was andere Staaten und Regierungen tun oder nicht tun und dem, was die Regierung der Bundesrepublik Deutschland tut oder unterläßt. Denn für andere Staaten sind die Vorgänge in Deutschland Geschehnisse, die sie nur mittelbar berühren. Es ge-nügt daher, daß sie alle Handlungen vermeiden, die als eine völ-kerrechtliche Anerkennung der SBZ als Staat ausgelegt werden könnten. (Hinzuweisen ist jedoch darauf, daß die Drei Mächte und unsere NATO-Verbündeten hinsichtlich der Nicht-Anerkennung und der Nicht-Aufwertung der SBZ gegenüber der Bundesrepublik Deutschland besondere, erhöhte Verpflichtungen übernommen ha-ben.) Die Bundesrepublik Deutschland dagegen ist unmittelbar be-troffen. Für sie bedeutet das Streben der SBZ nach eigener Staat-lichkeit nichts anderes als den Versuch, einen Teil Deutschlands aus dem deutschen Staatsverband herauszulösen.
In diesem Zusammenhang sind die von der völkerrechtlichen Lehre und Praxis anläßlich der Losreißung der nord- und südamerikani-schen Kolonien von ihren Mutterländern im 18. und l9. Jahrhundert entwickelten Lehren über den völkerrechtlichen Aufstand und die vorzeitige Anerkennung als Denkmodell von Bedeutung, obwohl dieses Denkmodell in vielen Punkten nicht auf die heutige Rechts-lage Deutschlands übertragen werden kann:
Versucht ein Teil eines Staates, sich von diesem loszureißen und einen eigenen Staat zu gründen, so darf dieser Staatsteil so lange nicht als neuer Staat völkerrechtlich anerkannt werden, wie der Mutterstaat effektive Anstrengungen unternimmt, diesen Staatsteil wieder unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Eine trotzdem erfolgte Anerkennung durch dritte Staaten ist vorzeitig und stellt ein völker-rechtliches Delikt gegenüber dem Mutterstaat dar...
Das Verhältnis zwischen Bundesrepublik Deutschland und SBZ ist in vieler Hinsicht völlig anders als das zwischen einem Mutterstaat und seinem abtrünnigen Staatsteil. Doch in einem wesentlichen Punkt hält der Vergleich einer Prüfung stand: die SBZ ist ein Teil Deutschlands, in dem die derzeitigen Machthaber - wenn auch ge-gen den Willen des Volkes - den Versuch unternehmen, diesen Teil aus dem deutschen Staatsverband herauszulösen und zu einem eigenen, separaten Staat zu machen. Diesem Versuch hat die Bundesrepublik Deutschland ihren Alleinvertretungsanspruch ent-gegengesetzt. Ihr obliegt es, diesen Alleinvertretungsanspruch ef-fektiv. d.h. glaubthaft, konsequent und notfalls auch unter Hinnah-
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me erheblicher materieller und politischer.Opfer zu wahren. Wird der Alleinvertretungsanspruch nur noch verbal aufrechterhalten, ohne daß die tatsächlich betriebene Poiltik ihm noch glaubhaft Rechnung trägt, so hat auch die Bundesrepublik Deutschland den Raum freigegeben, in dem sich die „DDR“ als völkerrechtlich als Staat anerkennungsfähiges Rechtssubjekt zu etablieren vermag.
Es genügt daher nicht, daß die Bundesregierung lediglich Hand-lungen vermeidet, die als eine völkerrechtliche Anerkennung der SBZ ausgelegt werden könnten. Sie muß vielmehr - schon um sich der fortdauernden Unterstützung ihrer Verbündeten in dieser Frage zu versichern - im Rahmen des ihr Möglichen den Separationsbe-strebungen der SBZ effektiv entgegenwirken und darf gar nicht erst den Eindruck aufkommen lassen, als habe sie sich mit der Teilung Deutschlands, und dem Bestehen zweier staatlicher Ordnungen in Deutschland bereits faktisch abgefunden. An die Bundesrepublik Deutschland sind demnach andere, höhere Anforderungen zu stel-len als an die übrigen Staaten.
II. Das Verhalten fremder Staaten
Die Bundesrepublik Deutschland kann von fremden Staaten ver-langen, daß sie Handlungen unterlassen, die als eine Anerkennung der "DDR" als Staat ausgelegt werden müssen.
Die völkerrechtliche Anerkennung ist ein Willensakt. In der reinen Hinnahme des Zeigens von Flagge und Emblemen und des Ab-spielens der Hymne eines nicht als Staat anerkannten Gebildes bei nicht staatlichen Veranstaltungen kann daher in der Regel noch keine Anerkennung dieses Gebildes als Staat durch die Regierung des gastgebenden Landes gesehen werden. Eine derartige Aner-kennung würde nur dann impliziert sein können, wenn Organe ei-nes anderen Staates Flagge, Embleme und Hymne des umstritte-nen Rechtssubjekts diejenigen Ehrenbezeigunen erweisen würden, die nur den Symbolen eines Staates zukommen, und wenn zudem aus den Begleitumständen hervorginge, daß hiermit ein auf die Anerkennung gerichteter Wille der betreffenden Regierung zum Ausdruck gebracht werden soll.
In der Duldung der Symbole der SBZ bei sportlichen Veranstaltun-gen im Ausland braucht daher noch keine Anerkennung der SBZ durch die Regierung des gastgebenden Landes gesehen werden. Dadurch wird jedoch nicht die Pflicht der Bundesregierung berührt, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um das Zeigen der sowjetzo-
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nalen Symbole zu verhindern, das zur Aufwertung der SBZ beiträgt und sie damit der völkerrechtlichen An- erkennung näherbringt. Ebensowenig wird hierdurch bereits die Frage beantwortet, wie sich eine deutsche Mannschaft und offizielle deutsche Vertreter den Symbolen der SBZ gegenüber verhalten sollen.
III. Das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland
Der Satz, daß die reine Duldung der Symbole der SBZ durch staat-liche Organe noch keine Anerkennung der „DDR“ als Staat impli-ziere, ist - wie oben dargelegt wurde - auf das Verhältnis zwischen Bundesrepublik Deutschland und SBZ nicht ohne weiteres an-wendbar. Denn für die Bundesrepublik Deutschland ist die SBZ nicht irgendein beliebiges Rechtssubjekt, dessen Staatlichkeit strei-tig und von uns bisher nicht anerkannt worden ist (wie z.B. Rhode-sien, aber auch Nordkorea, Nordvietnam). Vielmehr handelt es sich hier um einen Teil Deutschlands, der von einem von der Besat-zungsmacht gegen den Willen des deutschen Volkes eingesetzten unrechtmäßigen Regime beherrscht wird, das den Versuch unter-nimmt, diesen Teil Deutschlands aus dem deutschen Staatsver-band herauszulösen und als separaten Neustaat zu etablieren. Je-des Zeigen der Spalterflagge und der Embleme Hammer und Zir-kel, jedes Spielen der Becher-Hymne und der Anspruch auf die Bezeichnung "DDR" sind ein sichtbarer Ausdruck des Strebens dieses Regimes naoh eigener separater Staatlichkeit.
Hieraus ist zu folgern:
1) Läßt die Bundesrepublik Deutschland es zu, daß auf ihrem ei-genen Gebiet die Symbole der SBZ gezeigt werden, so erkennt sie damit zwar noch nicht die „DDR" als Staat an, aber, da sie derarti-ge Manifestationen verhindern könnte, zeigt sie damit, daß sie nicht mehr gewillt ist, den gegen den Bestand des deutschen Ge-samtstaates gerichteten Bestrebungen auf die Schaffung eines Separatstaates "DDR effektiv entgegenzuwirken, um die Etablie-rung eines als Staat anerkennungsfähigen Rechtssubjektes in Mit-teldeutschland zu verhindern.
2) Bei einem entsprechenden Auftreten der SBZ im Ausland ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, energische Anstrengun-gen zu unternehmen, um das Zeigen der sowjetzonalen Symbole zu verhindern. Gelingt es ihr nicht, so muß mindestens deutlich werden, daß sie diese Beeinträchtigung ihres Alleinvertretungsan-spruchs nicht stillschweigend hinnimmt...
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3) Dasselbe gilt - mutatis mutandis - für die Konsequenzen, die der deutsche Sport selbst für seine Teilnahme an solchen Veranstaltun-gen ziehen sollte, auf denen Mannschaften aus der SBZ unter der Spalterflagge und mit den Emblemen Hammer und Zirkel auftreten, sich ein Schild "Deutsche Demokratische Republik" vorantragen und ihre Sieger unter den Klängen der Becher-Hymne ehren lassen. Hierfür dürften etwa folgende Grundsätze maßgeblich sein:
(a) Sportler und Sportverbände sind keine Staatsorgane und ge-nießen daher größere Freiheiten in ihren Entscheidungen. Ande-rerseits repräsentieren sie ihr Land in einer von der Öffentlichkeit oft als fast offiziell empfundenen Weise und können deshalb nicht mehr wie reine Privatleute auftreten, deren Handlungen ohne poli-tische Bedeutung sind. Weichen Sportler und Sportverbände in ih-rem Verhalten wesentlich von den von der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Verhaltensweisen ab, so ergibt sich gege-benenfalls für die Bundesregierung die Notwendigkeit, sich von diesem Verhalten offiziell zu distanzieren.
(b) Oberster Grundsatz in allen Situationen muß das eindeutige Bemühen aller Vertreter Deutschlands sein, den Alleinvertretungs-anspruch der Bundesrepublik, der die Auflösung des deutschen Staatsverbandes verhindern soll, effektiv zu wahren.
DOKUMENT 5
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV/5 - 86. 10/10)
Aufzeichnung
Betr.: Beratung aktueller Fragen der Deutschlandpolitik im Bundes-kabinett;
hier: Verhalten deutscher Mannschaften bei internationalen Sport-veranstaltungen (Budapest)
Bezug: Schreiben des Herrn Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen an den Herrn Bundesminister des Auswärtigen vom 12.9.1966
Zu Punkt 3 der wiederbeigefügten Tagesordnung für die o.a. Sit-zung wird folgendes ausgeführt:
I.
Die Gesamtsituation auf dem Gebiet des internationalen Sports hat sich zu unseren Ungunsten entwickelt. Nach hiesiger Auffassung in erster Linie deshalb, weil der Sport der Bundesrepublik Deutsch-
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land die politischen Belange der Bundesrepublik nicht energisch genug vertritt und nicht bereit ist, diese notfalls durch geeignete Maßnahmen, wie etwa Androhung der Nicht-Teilnahme bei interna-tionalen Sportveranstaltungen durchzusetzen. Dies mit der Be-gründung, daß es sich um politische Fragen handelt, deren Be-handlung über die Kompetenz der verantwortlichen Sportleute hin-ausgehe und im übrigen eine Aufgabe der politischen Instanzen sei.
Es kann davon ausgegangen werden, daß die Veranstalter interna-tionaler Sportveranstaltungen im Ausland den Forderungen der SBZ-Sportler vor allem dann nachgeben, wenn sie damit rechnen können, daß die Sportler aus der Bundesrepublik Deutschland über einen Protest hinaus keine Konsequenzen ziehen...
II.
Auch der Fall Budapest zeigt, daß der Protest des deutschen Ver-treters im internationalen Fachverband der Leichtathleten nicht energisch genug vorgebracht wurde. Es ist anzunehmen, daß der Beschluß, in Budapest nicht den Madrider Beschlüssen zu folgen, nicht gefaßt worden wäre, wenn der deutsche Vertreter mit dem nötigen Nachdruck glaubwürdig dargelegt hätte, daß unter diesen Umständen eine Teilnahme der Mannschaft aus der Bundesrepub-lik Deutschland nicht möglich ist. In diesem Sinne dürfte auch das Telegramm des Herrn Bundesministers des Innern an Herrn Dau-me aufzufassen gewesen sein:
"im Einvernehmen mit dem DLV im sportlichen Bereich diejenigen notwendigen Maßnahmen zu treffen, die allein geeignet sind, bei dieser Sachlage eine politische Desavouierung der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern."
III.
Abteilung IV ist der Auffassung, daß der Sport... mit mehr Energie unsere Forderungen durchsetzen und notfalls auch eine Nicht-Teilnahme riskieren sollte.
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Zum Verständnis von Erziehung und Volks-erziehung im ursprünglich turnerischen Sinne
Von SIEGFRIED MELCHERT
Um den erzieherischen Sinn und Zweck der frühen Turnfeste zu erkennen, ist es erforderlich, auf den Erziehungsbegriff jener Zeit einzugehen, wie er vor allem von den Begründern der Turnbewe-gung von JAHN selbst sowie von vielen Mitgestaltern, seinen Turn-schülern, Vorturnern und Turnlehrern der ersten Turnergeneration als Ziel ihrer eigenen Vervollkommnung als Turner verstanden wurde.
In seiner Schrift „Deutsches Volkstum“ hat JAHN der „Volkserziehung“1) ein ganzes Kapitel gewidmet und diesem ein Zitat aus der im „Hamburgischen Magazin“ veröffentlichten Encyklopädie vorangestellt: „Das Vaterland kann nicht ohne Tugend, die Tugend nicht ohne Bürger bestehen! Ihr werdet alles haben, wenn ihr Bürger bildet. Aber Bürger zu bilden ist nicht das Werk eines Tages, und wenn man Menschen an ihnen haben will, muß man sie schon als Kinder unterweisen. Wenn man sie beizeiten angewöhnt, ihr Individuum nie anders, als in seinen Verhältnissen mit dem Staatskörper zu betrachten und ihre eigene Existenz, so zu sagen, nicht anders gewahr zu werden, als insofern selbige einen Teil seiner Existenz ausmacht, so werden sie sich endlich mit diesem größeren Ganzen für identisch halten; so werden sie fühlen, daß sie Glieder des Vaterlandes sind...." 2) Das ist's, worum es Jahn geht: durch Bildung zur Tugend, sich als edle Glieder des Vaterlandes zu verstehen.
Die zweite wesentliche Aussage folgt in JAHNs eigener Definition des Erziehungsbegriffs, die mit den Worten beginnt:
„Erziehung ist der Menschheit Edelstein,
Nur den Auserwählten wird sie zuteil,
allgemein war sie noch niemals"3)
Würden wir unseren Studenten heute anbieten, daß wir sie erziehen wollen, so hätten sie kaum die gleichen Erwartungen, wie die Jahnschen Turner, die Lützower und Burschenschafter, wenn sie von Erziehung und Turnen sprachen. Wir müssen uns in jene Zeit
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versetzen, wenn wir den Edelstein „Erziehung" in seiner Plazierung zwischen den Begriffen Turnen und Turnfesten verstehen wollen.
Und nun fügen wir eine dritte Aussage aus JAHNs „Begriff von Volkserziehung" hinzu: „Volkserziehung soll das Urbild eines vollkommenen Menschen, Bürgers und Volksgliedes in jedem einzelnen verwirklichen. Auf alle natürliche, geistige und sittliche Bedürfnisse muß sie Rücksicht nehmen, mit ihnen sich zu einem rechten, wahren und schönen Volksgeist erheben und so als ein freies und selbständiges Werk in die Ewigkeit hineingebaut fortdauern....
So ist Volkserziehung ganz etwas anderes und höheres, als eine volksmäßige, volkstümliche Erziehungsweise...“ 4)
In diesem Sinne definierte JAHN viertens seinen Begriff der Menschenbildung mit den Worten: „Unerläßlich bleibt die Erziehung zum wahren Menschen, zu einem vernünftig denkenden, menschlich fühlenden und selbst handelnden Wesen. Nur die einträchtige Ausbildung des gesamten Menschen bewahrt vor aller und jeder leiblichen und geistigen Verkrüpplung und Verzerrung".5)
Diese Zitate mögen genügen, um Folgerungen bezüglich des zeitgemäßen Erziehungsbegriffs zu ziehen, wie er bereits von SCHILLER erhoben6), von Arndt, Fichte und Luden gelehrt und von der Entstehung des Turnens bis zur 48er Revolution im aktuellen Zeitbezug von Arndt über Fichte, Jahn, Wesselhölft, Sartorius, K.Follen, Brüggemann, Federsen, Ravenstein und viele andere bis Schärtner, von vielen Patrioten und speziell auch von den Turnern, Lützowern und Burschenschaftern als wesentliches Anliegen ihres gesamten Handelns verstanden wurde, als Ziel ihrer freien, selbstgewählten Ertüchtigung zu edlen Gliedern des Vaterlandes. Dabei ist auch daran zu denken, daß es zu dieser Zeit noch nicht die heutigen politischen Parteien gab, sondern daß Turner, Philosophen, Schriftsteller und die fortschrittliche akademische Jugend vorrangig Anliegen des Gemeinwohls vertraten, die später Gegenstand verschiedenster Parteiprogramme werden.
Sie verstanden das Vaterland als übergeordnete Kategorie, die Erziehung als der Menschheit Edelstein, Leibesübungen und Turnen als eine Schule gemeinschaftlicher Selbstertüchtigung, durch den nur die Auserwählten, die freiwillig daran teilnehmen, zu Gliedern des Vaterlandes werden, und zwar nicht durch Erziehung als Formung
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von außen, sondern durch Erziehung und Bildung als Verinnerlichung und bewußte Selbstvollendung.
Diesem Prozeß der Volkserziehung, der Reifung des Edelsteins, widmet Jahn 104 Seiten Betrachtungen zu den in den Zwischenüberschriften genannten Bezügen und Gegenständen, auch zur Leibeserziehung. Was er dazu im „Volkstum“ geschrieben hat, wird als bekannt vorausgesetzt. Aber es ist darauf hinzuweisen, daß Jahn seine theoretischen Aussagen über Erziehung vorgelebt, mit der Gründung des Turnens umgesetzt und aus seinen Erfahrungen in der „Deutschen Turnkunst" nochmals festge-schrieben hat.
Die im „Deutschen Volkstum" 1810 erklärten Ziele und Inhalte der Erziehung werden unter Jahns Leitung sowie durch seine Turnschüler im Entstehungsprozeß des Turnens auf der Hasenheide, bei den Turnfahrten durch deutsche Lande, im Lützower Freicorps und danach wiederum beim Turnen in der Hasenheide sowie durch seine in viele deutsche Städte entsandten Turnlehrer an Universitäten und auf neuen Turnplätzen verwirklicht. Sie werden auch in der 1816 erschienen „Deutschen Turnkunst" sowohl in den Forderungen an den Turnlehrer als auch in den Turngesetzen ausgewiesen7), sowohl in allgemein-erzieherischen Anforderungen, z.B.: „Gute Sitten müssen auf dem Turnplatz mehr wirken und gelten, als anderswo weise Gesetze. ...Tugendsam und tüchtig, rein und ringfertig, keusch und kühn, wahrhaft und wehrhaft sei sein Wandel. Frisch, frei, fröhlich und fromm - ist des Turners Reichtum. Das allgemeine Sittengesetz ist auch seine höchste Richtschnur und Regel.“8) Und auch in speziellen wehrhaft-patriotischen Anforderungen, z.B.: „...darf man nie verhehlen, daß des deutschen Knaben und deutschen Jünglings höchste und heiligste Pflicht ist, ein deutscher Mann zu werden und geworden zu bleiben, um für Volk und Vaterland kräftig zu wirken, unsern Urahnen den Weltrettern ähnlich."9)
An dieser Stelle ist es unerläßlich, auf die deutsch-nationale Überhöhung und Enge seiner Erziehungsforderungen zu verweisen. So schrieb er 1816: „Alle Erziehung aber ist nichtig und eitel, die den Zögling in dem öden Elend wahngeschaffener Weltbürgerlichkeit als Irrwisch schweifen lässet und nicht im Vaterlande heimisch macht. Und so ist selbt in schlimmster Franzosenzeit der Turnerjugend die Liebe zu König und Vaterland ins Herz gepredigt und geprägt
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worden....Keiner darf zur Turngemeinschaft kommen, der wissentlich Verkehrer der deutschen Vokstümlichkeit ist und Ausländerei liebt, lobt treibt und beschönigt.“10)
Dies deckt sich durchaus mit seiner bereits 1810 im „Deutschen Volkstum" geäußerten Auffassung zur Volkserziehung, aus der das deutsche Volk als „Tatvolk" hervorgehen wird „und nicht zu einer Weltflüchtigkeit verirren, gleich Zigeunern und Juden".11)
Jahn hat in seinem Fremdenhaß Reichtum und Vielfalt der Kultur anderer Völker verkannt. Und es ist zum Glück zu sagen, daß der Erziehungsbegriff der akademischen und turnenden Jugend seiner Zeit nicht nur von ihm geprägt wurde, sondern auch von den großen Humanisten Goethe, Schiller, Herder, Humboldt und vielen anderen. Und auch die beiden anderen Vertreter des sogenannten Dreigestirns der neuzeitlichen bürgerlichen Leibeserziehung in Deutschland, G.A..U. VIETH und J.Ch.F. GUTSMUTHS, haben an den Philanthropinen in Dessau und Schnepfenthal zur Entwicklung eines weltoffenen humanistischen Bildungswesens in Europa beigetragen.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß Jahn für seine jährlichen Turnfeste zwar den Tag der Völkerschlacht bei Leipzig und den Tag des Sieges der verbündeten Völker über den Agressor Napoleon wählt, aber selbst nur von der „Leipziger Schlacht" oder dem „Einzug in Paris" spricht und nicht von der Leistung der verbündeten Völker gegen Herrschsucht und Eroberung. Dies ist gerade heute zu erwähnen, da die gemeinsame Verantwortung der Völker für Sicherung eines menschenwürdigen Zusammenlebens gefordert ist.
Abschließend möchte ich darauf verweisen, daß weder einer allein kompetent sein kann, zu sagen, noch für alle Zeit übergreifend gesagt werden kann, worin der erzieherische Sinn turnerischen Handelns und der politisch-sozialen Festkultur bestehen soll. Dies ist zeitabhängig stets neu zu diskutieren. Begriffe wie Einheit, Freiheit, Vaterland und Gemeinwohl sind sozial- und zeitabhängig, ihr Wesen zu erkennen, bedarf der tieferen Prüfung und Annäherung, möglichst im Dialog.
Wenn Turner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts z.B. „Vaterland" sagten, so meinten sie Vater im Vertrauen auf den sorgenden, gütigen und gerechten Vater im Sinne des Vertrauens auf den bürgerlichen Familien-vater und den „Vater, der Du bist im
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Himmel". Für dieses Vaterland wollten sie als Erben mitreden und handeln, wohl auch im Vertrauen auf Anerkennung im Diesseits und im Jenseits. Und das Heil des Staates sahen sie wohl im PLATONschen Sinne, in der Herrschaft der Vernunft.12)
Wenn in späterer Zeit Vertreter der Macht des Staates von Turnern und anderen Festteilnehmern den Dienst fürs Vaterland beschworen und einforderten, so war und ist dies nicht unbedingt das Gleiche, zuweilen sogar Mißbrauch der Mehrheit des Vaterlandes zur Wahrung der Machtinteressen einer Minderheit. Man lasse sich nicht vom Gleichklang hehrer Worte täuschen, wenn sich ihr Sinn gewandelt oder für verschiedene soziale Gruppen unterschiedliche Bedeutung hat.
ANMERKUNGEN
1) JAHN, F. L.: Deutsches Volksthum. In: EULER, C.: Jahns Werke, 1. Bd. Hof 1884, S. 378
2) Ebenda, S. 229
3) Ebenda, S. 229
4) Ebenda, S. 234
5) Ebenda, S. 235
6) Vgl. SCHILLER, F. Äußerungen über die Rolle des freien starken Mannes, über Erziehung und selbstbewußtes Handeln, über Relation von Individuum und Vaterland, in seinen Werken, wie „Die Räuber" 1784, „Wilhelm Tell" 1805 und seinen von Arndtschen Auffassungen mitgeprägten „Briefen über ästhetische Erziehung des Menschen", 1795
7) JAHN, F. L.: Die Deutsche Turnkunst. In Jahns Werke, a.a.O, Bd. 2, Teil I, S. 113-115 und 122-125
8) Ebenda, S. 122/123
9) Ebenda, S. 123
10) Ebenda, S. 123
11) JAHN, F. L.: Deutsches Volksthum, a.a.O. Bd. 1, S. 234
12) Vgl. PLATON: Der Staat. Band 80 der Philosophischen Bibliothek, Verlag Meixner, Leipzig 1941, besonders 2. Hauptteil: Der Staat und seine Gerechtigkeit und 3. Hauptteil: Bedingungen für die Errichtung des gerechten Staates
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Bemerkungen zum Thema Spartakiaden
Von ULRICH WILLE
Es ist immer von großer Wertschätzung, wenn über die Kinder- und Jugendspartakiaden, die 25 Jahre in der DDR veranstaltet wurden, berichtet wird. H. SIMON ist es zu danken, dieses - keineswegs überholte - Thema aufgegriffen zu haben. Einige Fragen der Spar-takiadebewegung, die er uns aber im Rahmen seines Beitrages an-läßlich der Tagung „50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Sportausschusses (DS)“ schuldig blieb, sollen - unterstützend und vervollständigend - noch genannt werden.
Die Kinder- und Jugendspartakiaden waren die dominierenden Wettkämpfe, an denen die meisten der Kinder und Jugendlichen, der Mädchen und Jungen teilnahmen. Von den Vorwettkämpfen, den Spartakiadewettkämpfen in den Schulen und Bereichen eines Kreises, über die Kreis- und Bezirksspartakiaden bis hin zu den Kinder- und Jugendspartakiaden der DDR erwiesen sie sich als ei-ne Methode, um einerseits möglichst viele Kinder und Jugendliche für eine regelmäßige und organisierte sportliche Betätigung in den Schulsportgemeinschaften und Grundorganisationen des DTSB zu gewinnen und andererseits die Besten von ihnen für die langfristige leistungssportliche Entwicklung zu finden und zu interessieren.
Die Kinder- und Jugendspartakiaden waren - trotz ihres besonde-ren Stellenwertes - kein Wettkampfsystem für sich, sondern - ne-ben den anderen Arten von Wettkämpfen, wie den Meisterschaf-ten, den Pokalwettkämpfen oder den Freundschaftswettkämpfen, - Teil des einheitlichen Wettkampfsystems für Kinder und Jugendli-che. Insofern war der Terminus „Spartakiadebewegung“ keines-wegs nur ein Kurzbegriff, sondern ein Begriff für einen gesellschaft-lichen Prozeß zur allseitigen Entwicklung des Kinder- und Jugend-sports in der DDR, deren Kernstück die Spartakiaden aller Austra-gungsebenen waren. Maßgeblich für diesen Prozeß war das örtli-che, kreisliche, bezirkliche und zentrale Spartakiadekomitee, in de-nen Vertreter der jeweiligen staatlichen Organe und gesellschaftli-chen Organisationen mitwirkten. Die zunächst gegründeten Spar-takiadekomitees bei den Pionierfreundschaften verloren bald ihre Bedeutung. Sie hatten sich als Gremium mit Erwachsenen - analog den territorialen Komitees - etabliert und schwächten so die Sport-räte der Schulsportgemeinschaften (SSG). Statt dessen entstan-
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den später die Sportkommissionen bei den Freundschaftsräten und den Grundorganisationsleitungen der FDJ, und zwar als berufene Gremien.
Der Ministerrat der DDR hatte bereits 1967 umfassende Maßnah-men zur Unterstützung der Kinder- und Jugendspartakiade verab-schiedet. Im Jugendgesetz der DDR von 1974 wurde sie staats-rechtlich verankert. Jede historische Betrachtung des Phänomens Spartakiaden muß das berücksichtigen. Ansonsten bleibt sie letzt-lich einseitig.
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Der Anti-Doping-Prozeß -
Argumente, Lehren und Kommentare
Die Redaktion der „Beiträge zur Sportgeschichte“ hat auf einen ei-genen Beitrag zum Berliner Prozeß gegen Ärzte des Sportclubs Dynamo Berlin verzichtet und sich entschlossen, unterschiedliche Quellen zu zitieren.
PLÄDOYER
An erster Stelle stehen Auszüge des Schlußplädoyers, das Rechtsanwalt Henry Lange als einer der Verteidiger Dr. Bernd Pansolds am 30. November 1998 vor der 34. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin hielt: „Mehr als vierzig Tage mühte sich das Landgericht Berlin, in einem vermeintlich unpolitischen und fai-ren Verfahren zu einem sachgerechten Urteil zu kommen. Dabei handelte es sich um ein Verfahren, das auch hätte vor einem Ein-zelrichter stattfinden können, bei dem es wahrscheinlich bereits nach wenigen Verhandlungstagen zu einem Ende gekommen wä-re.
Aber wir hatten es ja nicht mit einem ‘normalen Strafprozeß’ zu tun, was die Sonder-Staatsanwaltschaft für die vorgebliche Regie-rungskriminalität ja auch veranlaßte, die Anklage vor dem Landge-richt, statt wie in jedem sonstigen Körperverletzungsverfahren vor dem Amtsgericht zu erheben. Das hiesige Verfahren war gedacht als Pilotprozeß, als Steigbügel für alle kommenden Verfahren, mit denen die vermeintlichen Rachegelüste der politisch Verantwortli-chen gegenüber der DDR als solcher und deren Sportfunktionären im besonderen befriedigt werden sollten.
Vielfach fällt der Ausspruch vom politischen Prozeß. Doch ist es auch ein solcher? Nun, wohl sicher nicht im Sinne der klassischen Definition, dennoch ist auch hier die Absicht sichtbar, politisches Verhalten als kriminelles Handeln zu determinieren. Und ohne Zweifel ist er auch politisch motiviert gewesen. So bleibt nicht aus, immer wieder an den vielzitierten Ausspruch des seinerzeitigen Justizminister Kinkel an die deutsche Richterschaft zu erinnern, es gelte die DDR mit allen Mitteln zu delegitimieren.
Und sei es mit den Mitteln, den Sport der nicht mehr existenten Republik und seine Erfolge zu negieren, madig zu machen, nach
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dem Grundsatz: ‘Haltet den Dieb!’, um nicht den überfälligen Hausputz im eigenen Gemäuer angehen zu müssen.
Führt man sich diesen Auftrag vor Augen, so wird deutlich, daß nicht das vermeintliche Interesse der wegen der Vergabe anaboler Steroide vorgeblich Geschädigten der treibende Punkt war, dieses Verfahren durchzuführen, sondern vor allem auf das Interesse Ein-zelner, die sich die Aufklärung von Dopingpraktiken zugegebener-maßen nicht nur in der ehemaligen DDR auf die Fahne schrieben, zurückzuführen ist.
Um so fragwürdiger wird jedoch das Verfahren, betrachtet man die Veröffentlichungen und Feststellungen der letzten Wochen. Da war der Dopingskandal der Tour de France, die Offenbarungen des ita-lienischen Fußballs, die Feststellungen in Südamerika, wo während des Trainings Sportler und Sportlerinnen (gar Schwimmerinnen!) der Einnahme verbotener Substanzen, u.a. von Anabolika über-führt wurden. Wir hören die Bezichtigungen der Schwimmer Warn-ecke und Brehmer, die namenlosen EPO-Verdächtigungen des LA-Verbandsarztes. Doch so notwendig diese Selbstreinigungskräfte auch sind, im Ergebnis bleibt nichts als ein weiterer Beitrag zur Kaffeesatzleserei.
Und nicht zu vergessen, die zum Teil Stilblüten treibende versuchte Manipulation durch die Medien, ausländische nehme ich dort nicht aus. Was ist das für eine Gesellschaft, in der, gedeckt durch die Meinungsfreiheit, Beschuldigte, die sich das Verfahren gegen ihre Person bzw. Strafverfolgung nicht ausgesucht haben, in der Öffent-lichkeit bloßgestellt, schwerster Bezichtigungen unterzogen und beleidigt werden?
Die Angeklagten, die nicht damit rechnen brauchten, daß sie sie-ben oder acht Jahre nach Wegfall der Existenz der DDR wegen Handlungen, die in der DDR nicht mit Strafe bedroht waren, vor ein bundesdeutsches Gericht gezerrt würden, sahen sich einer öffentli-chen Aggressivität gegenüber, die einem behaupteten Verbrechen zu Gesicht gestanden hätte.
Dabei ging es ‘nur’ um behauptete Fälle einer einfachen Körperver-letzung, einem Vergehen also!
Um was für ein Verfahren handelte es sich denn schließlich?
Angeklagt war, wie eben erwähnt, der Verdacht der Begehung von Körperverletzungsdelikten, also Vergehen, die im Strafgesetzbuch mit Strafe bedroht sind.
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Was war es für den Großteil der Öffentlichkeit? Ein DOPING-Prozeß!
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, Doping war weder in der DDR noch in der BRD ein Straftatbestand!
Doping, das ist grob gesagt, jeder Versuch der künstlichen Steige-rung der Leistungsfähigkeit eines Sportlers durch Anwendung von Substanzen vor oder während des Wettkampfes, hinsichtlich von Hormonen auch außerhalb des Wettkampfes, also im Training, so etwa die Auslegung auch durch den DSB. Das war nicht immer so hinsichtlich der in diesem Verfahren interessierenden Zeiträume. Wie allen bekannt, geht es hier um die Vergabe von anabolen Ste-roiden, männlicher Keimdrüsenhormone bzw. deren Abkömmlinge. Die Anwendung im Sinne eines Dopings war erstmals zu den Olympischen Sommerspielen in Montreal 1976 verboten, aber nur während des Wettkampfs. Kontrollen über die Anwendung von Anabolika während des Trainings wurden intemational erst ab dem 1.1. I990 eingeführt. Da wird man sich doch wohl fragen dürfen, was all die internationalen Aufschreie zu bedeuten haben, die ame-rikanische, australische, britische Sportler, vor allem ehemalige Athleten, von sich geben. Wir wissen doch ganz genau, daß es die USA-Sportler waren, die die segensreichen Wirkungen der Anabo-lika in Europa bekannt machten. Die Australier und die Briten sind ähnlich den osteuropäischen Staaten stets und sicher nicht ohne Grund der Einnahme dieser Substanzen verdächtigt worden. Was also soll das Getöse?
Es geht darum, Wunden, die durch unverkraftete Niederlagen ge-schaffen wurden, zu heilen. Aber mit Mitteln des Strafrechts? Sie fragen zu Recht, warum die Angeklagten sich nicht an der Aufar-beitung der diesbezüglichen DDR-Vergangenheit beteiligen! Weil dies auf einer Schiene geschieht, auf die es nicht gehört.
Das sind neben sporthistorischen Belangen, zu denen angesichts der gegenwärtigen Praxis dringendst ein östliches Äquivalent ge-hörte, insbesondere die sportmedizinischen, die einer sachlichen Diskussion und vergleichenden Forschung bedürfen. Wo sind die fähigsten Sportmediziner der Alt-BRD geblieben, wo sind deren Beiträge zur Forschung im Leistungssport? Sie trauen sich nicht aus ihren gutbezahlten Nischen, weil es trendy ist, über jeden Ge-danken zu Möglichkeiten der Leistungssteigerung den Nimbus des Verwerflichen zu spannen. Wo sind die Erkenntnisse der dottores
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Keul, Mader, Hollmann? Ah, werden einige wieder aufstöhnen, ge-nau die möglicherweise ‘berechtigten West-Doper’ nennt er? Mag sein, jene sind es doch aber, die ihre eigenen Erfahrungen mittei-len könnten, der wissenschaftliche Kenntnisstand aller auf diesem Gebiet Tätigen könnte auch im lnteresse der Sportler aller zu neu-em Wissensstand - auch zur Eindämmung der Dopingpraktiken - beitragen.
Aber dann müßten sie ja rausrücken mit der Wahrheit, daß in der BRD systematische Forschung auch auf dem Gebiet der Anwen-dung anaboler Steroide betrieben wurde. Prof. Keul wendet seit Jahren und völlig legal Anabolika im Profi-Tennis an. Amerikaner bescheinigen den Anabolika 1989, daß sie ‘nicht nur die Wieder-herstellungsprozesse bei langen Turnieren beschleunigen, (sie) sind fast eine zwingende Notwendigkeit bei viel Training und Tur-nieren auf Hartplätzen, sie verbessern auch deutlich die Ballge-schwindigkeit beim Aufschlag’1).
Den Spielern der Eishockeymannschaften der NHL und den Ten-nisspielern der ATP ist es durchaus gestattet, Anabolika zu kon-sumieren.
Alles Fälle der Körperverletzung? Keine medizinische Indikation ersichtlich?
Und weil wir gerade dabei sind, Sie hatten es in der Hand, Herr Vorsitzender, die entsprechenden Beweisanträge lagen ja vor, aber das haben Sie mit einem Federstrich abgewehrt, weil es nicht in das politische Kalkül paßte. Dann hätten Sie natürlich feststellen müssen, daß noch 1977 darüber diskutiert worden ist, ob Anaboli-ka in der Alt-BRD offiziell angewandt werden sollen. Nur daß sich eine Mehrheit durchgesetzt hat, die der Auffassung war, daß diese nicht angewendet werden sollen. Also, wenn auch in der BRD noch 1977 eine legale Anwendung diskutiert wurde, wie können dann diese ‘Taten’ in der DDR begangen, eine Straftat darstellen? Es sind auch keine diesbezüglichen Strafverfahren in der BRD durch-geführt worden. Und wenn, dann waren es sportrechtliche Verfah-ren oder allenfalls wegen des Verstoßes gegen das Arzneimittel-gesetz. Es gab aber kein Verfahren wegen angeblicher Körperver-letzung im Zusammenhang mit der Vergabe von verbotenen Sub-stanzen!
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An der fehlenden sportmedizinisch-wissenschaftlichen Diskussion krankte jedoch genau dieser Prozeß und die gesamte Doping-Diskussion in Deutschland und weltweit.
Es ist absurd, darauf abzustellen, in der DDR sei systematisch ge-dopt worden, in der BRD nur in kleinen Gruppen und vereinzelt...
Um es klarzustellen, hier soll nicht der Anwendung unerlaubter Substanzen das Wort gesprochen werden, es geht allein um die Art und Weise der ‘Diskussion’ hierüber und die Tatsache, daß Ge-schichtsaufarbeitung mit Mitteln des Strafrechts einfach untauglich ist.
Synonym für die eben erwähnte Untauglichkeit ist die Staatsan-waltschaft II beim Landgericht Berlin. Eingerichtet für die soge-nannte Regierungskriminalität im Zusammenhang mit der Vereini-gung beider deutscher Staaten, wurde sie vorliegend nach der Strafanzeige im Jahre 1991 durch den Molekularbiologen Prof. Franke aktiv.
Und sie hatte von Anfang an Probleme mit der Problematik als sol-cher, vor allem jedoch mit der Nachweisführung WER, WAS, WANN in strafrechtlich relevanter Art und Weise getan haben soll. Sie und ihre Hilfsbeamten von der ZERV hatten quasi nicht die ge-ringste Ahnung. Herr Staatsanwalt Hillebrand: Vielleicht hätten Sie mal jemand fragen sollen, der sich damit auskennt?
Die Ermittler kannten kaum Namen früherer Weltklassesportler aus eigenem Erleben oder Erinnern, sondern stützten sich auf Frau Be-rendonks Buch ‘Doping-Dokumente’. Über einen langen, langen Zeitraum, wurde lediglich dieses Buch ausgewertet! Auf der Suche nach Namen eventuell Geschädigter (Sportlerinnen/Sportler der DDR) und deren Trainer als potentielle Opfer der Strafverfolgung. Erst nachdem die in der Politik so gern mißbrauchte Gauck-Behörde Unterlagen zur Verfügung stellte und Durchsuchungen bei Beschuldigten Unterlagen zu Tage brachten, erst da begann die Anklagebehörde sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sich denn der eine oder andere auch hier Angeklagte strafrechtlich rele-vant verhalten habe.
Dies gipfelte schließlich in der Anklageschrift vom 24.10.1997, die Gegenstand des uns hier interessierenden Verfahrens war. Und ich bleibe dabei, wie ich dies bereits in meinem Antrag auf Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses deutlich gemacht habe, daß bei allem Fleiß, die der Staatsanwalt in das Fertigen dieser ge-
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steckt hatte, sie dennoch, jedenfalls soweit es den Vorwurf gegen-über meinem Mandanten betrifft, eine wirklich schwache Leistung war. Nun werden Sie sich fragen, wie ich darauf komme, daß diese Anklageschrift quasi wertlos sei, wo doch zwischenzeitlich rechts-kräftige Verurteilungen auf einer derartigen Anklageschrift beru-hend erfolgt sind. Nun, auch das habe ich bereits mehrfach ver-sucht darzustellen. Die Unzulänglichkeiten ergaben sich daraus, daß die Staatsanwaltschaft nicht in der Lage war, bis weit in dieses Verfahren hinein die Grundproblematik der Sportvereinigung Dy-namo, deren Einbindung in das System der DDR und die hieraus resultierenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Diese Feststellungen waren bedauerlicherweise bis zum Ietzten Tag der Beweisaufnah-me gültig.
Die Staatsanwaltschaft verwechselte die Hauptverhandlung mit § 160 StPO gleich in mehrfacher Hinsicht: das Ermittlungsverfahren ist die Vorbereitung der Erhebung der öffentlichen Klage, und, sie hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln. Mit Verlaub Herr Staatsanwalt, all ihr Vorgehen hat eine Berücksichtigung dessen nicht zu Tage gebracht.
Dabei hatten Sie sämtliche Unterlagen vorliegen, seit langem! Die Staatssicherheitsunterlagen, die Personalakte meines Mandanten vom Bundesinnemininisterium usw. Aber offensichtlich können Sie nicht mal lesen!
Und sie ergeben sich aus einem weiteren Punkt, nämlich der Tat-sache, daß mehrfach von außen eingewirkt wurde von Personen, die direkt gar nicht betroffen waren. Die Rede ist davon, daß Staatsanwalt Hillebrand sich nicht einmal zu fein war dafür, wort-wörtlich Formulierungen, die Prof. Franke in seinen sich ständig einmischenden Schriftsätzen an die Staatsanwaltschaft II versand-te, in die Anklageschrift aufzunehmen. Es gipfelte darin, daß Prof. Franke sich gar zum Juristen aufschwang, Beweiswürdigungen vornahm, die weder zu ziehen waren noch ihm zustanden, statt dessen den Ausspruch eines Beteiligten bestätigten, ‘jeder solle sich nur zu dem äußern, was er auch studiert hat...’ und letztlich nur den Schluß zuließen, es sollen Köpfe rollen, koste es was es wolle.
Die Kammer reihte sich bedauerlicherweise ein in diese Reihe, indem sie unendlich anmutende Beweiserhebungen anordnete,
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stets mit dem Ziel, gleichfalls die Angeklagten bloßzustellen, die Front des ihnen zustehenden Schweigens aufzubrechen. Was ha-ben Sie denn erwartet angesichts der Feindseligkeiten, die den Be-troffenen entgegenschlugen? Nach Ansicht einer Nebenklägerin hätte es meinem Mandanten gar verwehrt sein müssen, sich an-waltlichen Rates zu bedienen!
Aber dennoch, der Kammer muß ich Respekt zollen. Sie vermoch-te es als Einzige, Lernfähigkeit und -bereitschaft zu dokumentieren. Wenn sich dies auch nur zögerlich einstellte, was sicherlich wiede-rum eine Ursache darin hatte, daß der Kammer - vermutlich - kein früherer DDR-Bürger angehört. Und zeigte die Richtigkeit der Auf-fassung des früheren Bundesministers Dr. Wolfgang Schäuble, der kürzlich in der ‘Süddeutschen Zeitung’ äußerte: ‘Bei den Westdeut-schen herrscht das Vorurteil, die Ostdeutschen hätten das Lernen mehr nötig als sie. Das stimmt nicht.’...“
NOK-REPORT
Das offizielle Bulletin des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland - „NOK-Report“ - verfolgte den Prozeß mit großer Ak-ribie, schilderte einzelne Phasen des Verfahrens und wagte sogar Prognosen über die zu erwartenden Urteile. Am Neujahrstag 1999 erschien ein Kommentar, den wir in Auszügen wiedergeben: „Der Weg war lang, und er war nicht ohne Durststrecken. Als am 7. De-zember im Berliner Landgericht das letzte Urteil im sogenannten ‘Pilotprozeß’ um das Doping Minderjähriger im DDR-Sport gespro-chen worden war, lagen 44 Zeugenvernehmungen, 42 Ver-handlungstage und fast neun Monate hinter den Beteiligten. Die Gesamtkosten schätzte die Deutsche Presse-Agentur auf über ei-ne Million Mark. Das ist viel Geld für einen Prozeß, in dem 19 Fälle sogenannter mittelschwerer Körperverletzung im Schwimmsport des ehemaligen SC Dynamo Berlin verhandelt wurden und am En-de drei Verurteilungen zu Geldstrafen und drei Einstellungen gegen Geldbußen herauskamen. Der Berliner Prozeß soll freilich nur die Grundlage für weitere Anklagen nicht allein auf der Schwimmver-bandsebene, sondern auch gegen die oberste Sportführung um DTSB-Präsident Manfred Ewald, den für Sport im ZK zuständigen Rudi Hellmann und Staatssekretär Günter Erbach schaffen. Die Staatsanwaltschaft will den ehemaligen Leitungskadem die Ver-
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antwortung für jene Fälle vorwerfen, die auf der Klubebene gericht-lich ermittelt worden sind...
Den Weg zu solchen Anklagen wegen Beihilfe sieht die Staatsan-waltschaft durch das abschließende Urteil gegen den einstigen Dy-namo-Oberarzt Dr. Bernd Pansold vorgezeichnet. Zwar war dem 58jährigen - anders als Sektionsarzt Dr. Dieter Binus und Trainer Rolf Gläser, die bereits im Sommer zu jeweils 90 Tagessätzen ver-urteilt worden waren - nicht nachzuweisen, selbst Spritzen gesetzt oder Tabletten verabreicht zu haben. Doch sah es die 34. Große Strafkammer als erwiesen an, daß nur Pansold das Doping bei Dy-namo gesteuert haben konnte und verurteilte ihn wegen Beihilfe zur Körperverletzung in neun Fällen zu 180 Tagessätzen à 80 Mark. Auch Staatsanwalt Rüdiger Hillebrand hatte 180 Tagessätze gefordert, die Verteidigung hingegen Freispruch. Die Geldstrafe, die einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten entspricht, stellte zu-gleich die bisher höchste für einen ehemaligen Funktionsträger des DDR-Sports dar. Das war nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Denn der Vorsitzende Richter Hansgeorg Bräutigam hatte selbst an den vorausgegangenen Verhandlungstagen von einer ‘schwie-rigen Urteilsfindung’ gesprochen.
Als mitentscheidend für das Strafmaß bezeichnete der Richter, daß Pansold ‘nicht einen Funken zur Aufklärung beigetragen’ habe. Vielmehr hatte der als Kapazität auf dem Gebiet der Leistungsphy-siologie figurierende Angeklagte bis zuletzt geschwiegen. Weil auch die Zeugenaussagen Pansold nicht anfechten konnten, muß-te sich das Gericht am Ende einzig auf das stumme Zeugnis von Pansolds Stasi-Berichten verlassen, die unter dem Decknamen ‘Jürgen Wendt’ Aktenordner füllen. Vor allem ein Dokument vom 8. November 1979 belastete den Arzt, weil daraus hervorging, daß die Anabolikaverteilung bei Dynamo über seinen Tisch gelaufen sein muß.
Ein Überraschungs-Coup der Verteidigung, dieses als Anlage zu einem Treffbericht beigefügte Papier als Irrläufer in Pansolds Akte darzustellen und statt dessen dem Stellvertretenden Direktor des Sportmedizinischen Dienstes, Dr. Manfred Höppner, zuzuordnen, schlug beim Gericht nicht an: Bräutigam führte gleich mehrere Gründe an, warum an der Authentizität kein Zweifel bestünde, und sprach von einer ‘Nebelkerze’...
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Einen Vorwurf, der seit Beginn der Ermittlungen durch die Zentrale Ermittlungstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) schon häufiger laut geworden ist, verschwieg auch der Verteidiger Lange nicht: daß es sich bei der Verfolgung des DDR-Dopings durch bundesdeutsche Gerichte um einen politischen Akt handele. Richter Bräutigam wiederum verteidigte die Unabhängigkeit des Gerichtes und nannte die Vorhaltungen ‘absurd’. Ganz gewiß war dies kein Prozeß wie jeder andere, das belegte gegen Ende hin noch einmal das Erscheinen von Egon Krenz am Tag der letzten Zeugenvemehmungen: Es war, als wollte der Honecker-Nachfolger, der sich von der Staatsanwaltschaft im Gerichtssaal bescheinigen ließ, daß gegen ihn im Zusammenhang mit Sport kein Verfahren läuft, die Seinen in der feindlichen Diaspora des bundesdeutschen Gerichtes noch einmal zum Durchhalten ermuti-gen...
Daß der DDR-Sport über ein systematisches Dopingsystem verfüg-te, ist nach den ersten Dopingurteilen des ausklingenden Jahres gerichtskundig. Daß die medizinisch nicht indizierte Anwendung von Hormonmitteln im strafrechtlichen Sinne eine Körperverletzung darstellt, hat sich ebenfalls erwiesen. Letzteres müßte einmal der Staatsanwaltschaft in Freiburg gesagt werden, die unlängst ein Verfahren gegen den Sportmediziner Prof. Armin Klümper im Zu-sammenhang mit der angeblichen Hormonvergabe an die freilich nicht mehr minderjährige Sindelfinger Hürdensprinterin Birgit Ha-mann einstellte. Begründung: Doping stelle keinen Straftatbestand dar. Der Eindruck, daß die Justiz im vereinten Deutschland mit zweierlei Maß mißt, sollte jedoch vermieden werden.“
Wenn es eines Belegs für die Misere dieses Prozesses bedarf, dann lieferte ihn das Nationale Olympische Komitee mit diesem Bericht, woran auch der Hinweis nichts ändert, daß nicht alle Äuße-rungen im „NOK-Report“ offizielle Meinungen wiedergeben. Der Autor - ein gewisser Dirk Schmidtke - hatte sein fehlendes juristi-sches Wissen offensichtlich durch Unterhaltungen mit Staatsanwäl-ten auszugleichen versucht. Der Erfolg blieb minimal. Zum ABC solchen Wissens gehört zum Beispiel die Kenntnis von der Rolle eines Gutachtens in einem medizinischen Prozeß. Weil Richter lo-gischerweise nicht imstande sind, medizinische Prozesse zu be-werten, bestellt man Gutachter. Das waren in diesem Fall die Pro-fessoren Rietbrock und Lübbert. In einem Interview antwortete
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Rietbrock auf die Frage nach seinem Urteil über den Prozeß: „Die Enttäuschung liegt vor allem darin, daß Trainer und Mediziner we-gen Körperverletzung verurteilt worden sind, die nicht nachzuwei-sen war. Ich habe auch meine Zweifel, wenn Gericht und Staats-anwaltschaft ihre Weisheit überwiegend aus Stasiakten schöpfen, über deren Wahrheitsgehalt man streiten kann... Meine Kritik zielt... darauf ab, daß das Gericht in seinem Urteil Feststellungen getrof-fen hat, die teilweise im Widerspruch zum Sachverständigen-Gutachten stehen.“
Vielleicht hat Schmidtke nie mit Prof. Rietbrock gesprochen, aber die Äußerungen des renommierten Pharmakologen wiegen nun mal schwerer als das Geschwätz eines Staatsanwalts. Und den Beweis für die These antreten zu wollen, daß es sich um keinen normalen Prozeß handelte, in dem man den Namen eines Besu-chers im Gerichtssaal nennt und daraus seine Schlüsse zieht, ist billigster journalistischer Stil. Ohne ihn kam man in vielen Zeitun-gen nicht aus und - wie sich also erwies - nicht einmal beim „NOK-Report“. Das führte geradenwegs zum Gegenteil: Der sachliche Beobachter und derjenige, der diesen Prozeß historisch einzuord-nen gedenkt, kann nicht umhin festzustellen, daß die einzigen „Beweisstücke“ Akten aus dem Hause der Gauck-Behörde waren und solche Akten können nie den juristischen Rang von Aussagen an Eides statt oder Geständnissen beanspruchen. Die Gutachter wurden negiert und am Ende Geldstrafen verhängt. Daß Schmidtke nicht umhin kam, in seinem Schlußsatz wenigstens anzudeuten, daß „Recht“ in Berlin nicht mit dem „Recht“ in Freiburg identisch ist, rundet unsere Feststellungen ab.
AKTIVENSPRECHER
Das letzte Zitat stammt von dem Fechter Arnd Schmitt, der sich zum Thema Doping äußerte, als er von seiner Funktion als Akti-vensprecher zurücktrat.
Seine Erklärung wurde im „Leistungssport“ publiziert. Hier einige Auszüge: „Manchem Funktionsträger ist nichts lästiger als ein mündiger Athlet, der sich seine Unabhängigkeit bewahrt hat und es wagt, gegen Manipulationen im Sport anzugehen. Er wird rück-sichtslos abgeblockt und als rachsüchtiger Neider, Wichtigtuer oder den gesamten Sport in Mißkredit bringender Nestbeschmutzer ab-
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gestempelt und mit entsprechender Begleitmusik an den Pranger gestellt. So soll potentiellen ‘Nachahmungstätern’ von vornherein der Schneid abgekauft werden...
Wer heute noch auf die immer wieder zitierten Selbstreinigungs-kräfte des Sports baut, ist bestenfalls naiv. Es bedarf doch keines Beweises mehr, daß der Sport weder willens noch in der Lage ist, Mißstände an der Wurzel zu packen. Die Skandale der zurücklie-genden Monate haben nur einmal mehr verdeutlicht, wohin uns Funktionäre führen, die mit gespaltener Zunge reden. Sie gerieren sich als vehemente Verfechter eines sauberen Sports, vor deutli-chen Zeichen des Mißbrauchs aber verschließen sie die Augen, verlangen Beweise für Dinge, die längst bekannt sind. Daß es ihre Pflicht wäre, auch zwingenden Verdachtsmomenten nachzugehen, kommt ihnen gar nicht in den Sinn.
Um zu kaschieren, daß man an einer wirksamen Dopingbekämp-fung nicht ernsthaft interessiert ist, treten Rabulisten in Aktion, die der Öffentlichkeit Patentlösungen präsentieren und ihr vorspiegeln, man habe alles im Griff...
Doping ist nicht das einzige Krebsgeschwür in diesem ausufernden Geschäft mit der Ware Sport, in dem jeder versucht, sich ein mög-lichst großes Stück aus dem Kuchen zu sichern...
Eine Verschärfung des Strafmaßes und häufigere Kontrollen sind ein Weg neben anderen im Kampf gegen Doping; aber nur ein Ali-bi, wenn sie nicht die konsequente Ahndung von Verstößen nach sich ziehen.
Der Unterdrückung und Vertuschung positiver Testergebnisse muß ein Riegel vorgeschoben werden, um zu verhindern, daß - wie 1988 in Seoul - um einen ertappten Athleten, dem Kanadier Ben Johnson, ein riesiges Spektakel inszeniert wird, während andere durch Kontrollen überführte Olympiateilnehmer unbehelligt blieben. Weitere Beispiele ließen sich anführen.
Natürlich gibt es auch den Athleten, der sich mit Raffinesse Kontrol-len entzieht oder sie unterläuft, weil er dem Stand der Nachweisver-fahren stets einen Schritt voraus ist und der - sofern dennoch über-führt - der Strafmaßnahme zu entgehen versucht, indem er seinen Fachverband mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unter Druck setzt, einschließlich der Androhung einer Schadenersatzkla-ge. Das will ich hier deutlich herausstellen, um nicht mißverstanden zu werden... Gerade weil im Sport Spielregeln der Demokratie außer
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acht gelassen werden, ist auch die Berichterstattung sachlich-kritischer Journalisten, die sich ihre Unabhängigkeit bewahrt haben und sich nicht in die Rolle von Hofberichterstattem drängen lassen, ein unverzichtbarer Beitrag auf dem Wege zu mehr Transparenz.“
Arnd Schmitt zu zitieren verfolgte nicht die Absicht, festzustellen, wer wo in Dopingfragen mehr oder weniger „Recht“ hat, sondern nur um zu bekräftigen, daß ein von aufgeputschten - ein anderer Begriff bietet sich nicht an - Staatsanwälten und von einer manipu-lierten Öffentlichkeit bedrängten Richtern kein schlüssiges Urteil in einem Prozeß fällen konnten, dessen Fragwürdigkeit vielen klar war, bevor er noch begann.
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Versuch einiger Ergänzungen
zur Biographie Werner Klingebergs
Von KLAUS HUHN
Auf der Liste, der von den Sporthistorikern der Alt-BRD ob ihrer Verdienste um die Entwicklung des deutschen Sports im zu Ende gehenden Jahrhundert immer wieder Gerühmten, vermißt man seit langem einen Namen: Werner Klingeberg. Waren seine Verdienste bislang übersehen oder etwa vorsätzlich ignoriert worden? Nie-mand beantwortete bisher diese Fragen. In der seriösen Schriften-reihe „Sportführer des 3. Reiches“ - bekanntlich eine recht um-fängliche Sammlung - ist er kaum in den Namenregistern zu finden. Ein Versuch, diese Lücke zu schließen, fordert als erstes zu einem wenigstens überschaubaren Lebenslauf zu gelangen, was dank der freundlichen Unterstützung des Politischen Archivs des Minis-teriums für Auswärtige Angelegenheiten ermöglicht wurde. Von dort erhielt ich Anfang März 1999 präzise Unterlagen. Das Auswär-tige Amt war dafür zuständig, weil Klingeberg - wie aus dem Le-benslauf hervorgeht - seit 1952 im Diplomatischen Dienst der BRD tätig war.
Hier die offizielle Auskunft:
„Geboren am 15. Juli 1910 in Hannover
1929 - 1932 Deutsche Hochschule für Leibesübungen Berlin
1932 Sekretär der Deutschen Olympia-Mannschaft bei den X. Olympischen Spielen in Los Angeles
1932 - 1933 Austauschstudent an der University of California
1934 - 1936 Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin
(Englisch, Geographie)
1934 - 1937 Organisations-Komitee XI. Olympischen Spiele
(Leiter der Sportabteilung)
1937 - 1939 Internationales Olympisches Komitee, Lausanne
(Technischer Berater und Sekretär)
1940 - 1943 Deutsches Nachrichtenbüro, Berlin (Leiter der Aus-landsvertretungen in Helsinki und Paris)
1943 - 1945 Militärdienst 1946 Dolmetscher bei der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht
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1946 - 1947 Rundschau, Druckerei und Verlagsanstalt, Itzehoe (Verlagsleiter)
1948 - 1950 Handweberei Hablik, Itzehoe (Kaufmännischer Lei-ter) 1950 - 1952 United Press Association Deutschland-Zentrale, Frankfurt/M (Journalist)
10. 10. 1952 Einberufung in den Auswärtigen Dienst (Mit Wirkung vom 1.11.1952)
10. 10. 1952 Kultur- und Pressereferent bei der Gesandtschaft Stockholm (Dienstantritt: 1.1.1953)
1.6.- 20.6.56 Olympia-Attache anläßlich der XVI. Olympischen Reiterspiele für die deutsche Mannschaft
9. 8. 1956 Ernennung zum Gesandtschaftsrat unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Probe
29. 3. 1957 Auswärtiges Amt (DA 2.5.1957)
12.03.1958 Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit
20. 6. 1960 Abordnung für die Zeit vom 14.7.1960 - 20.9.1960 als Olympia-Referent an die Botschaft Rom (DA 20.7.1960) 16. 2. 1961 Botschaft Leopoldville (DA 20.03.1961)
30. 3. 1961 Ernennung zum Legationsrat I Kl.
30. 5.1963 Botschaft Washington (DA 26.10.1963)
1. 7. 1964 Abordnung an die Botschaft Tokyo zur Unterstüt-zung während der Olympischen Spiele (vom 1.9.1964 - 5.11. 1964) (DA 2. 9.1964)
23.11.1964 DA Botschaft Washington
14. 7. 1966 Botschafter Libreville (DA 22.10.1966)
23. 8. 1966 Ernennung zum Botschaftsrat
14.10.1968 Auswärtiges Amt (DA 14.10.1968)
23.12.1968 Botschaft Georgetown (DA 24.01.1969), Botschaft
Bridgetown (Doppelbeglaubigung mit Sitz in Georgetown) 5. 8. 1974 Versetzung in den Ruhestand mit Ablauf des Okto-ber 1974“1)
Auf den ersten Blick ließe sich das eine eher ungewöhnliche dip-lomatische Laufbahn nennen: Sportstudent, Sportfunktionär, Jour-nalist, Verlagsleiter, Kaufmännischer Direktor einer Weberei und schließlich Botschafter. Festzustellen ist, daß dieser Lebenslauf dringend einiger wesentlicher Ergänzungen bedarf.
Vorab bekennt der Autor, Klingeberg einmal kurz begegnet zu sein. Das war 1960 in den Tagen vor dem Beginn der Olympischen
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Sommerspiele in Rom. Damals hatte er ein Bürozimmer im Olym-pischen Dorf bezogen und assistierte dem Chef de Mission der Mannschaft der beiden deutschen Staaten, dem Speerwurf-Olympiasieger von 1936, Gerhard Stöck. Vom Autor befragt, wer dieser Klingeberg sei, antworte er „...zunächst, daß er die Frage nur mit Angaben zu beantworten imstande sei, die er selbst von Klingeberg erfahren habe. Danach war der Legationsrat aus Bonn 1936 im Organisationsbüro der Berliner Olympischen Spiele tätig. Dann - so versicherte Stöck glaubwürdig - habe er ihn lange nicht mehr gesehen. Nun habe ihn das Auswärtige als Berater für den in sportlichen Fragen unmündigen Bonner Botschafter an den Tiber entsandt. Er half uns, Büromöbel zu beschaffen!“2)
Die italienische Illustrierte VIA NUOVE hatte in ihrer wenige Tage zuvor erschienenen Ausgabe mehr über Klingeberg gewußt: „Für die führende Rolle Gehlens und der Westzonenregierung spricht weiter, daß der Chef des amerikanischen Geheimdienstes, Allan Dulles, in das westdeutsche Spionagezentrum nach Pullach kam und dort mit General Gehlen den sogenannten ‘Plan OR’ das Akti-onsprogramm der imperialistischen Agenten für Rom, beschloß. Ein weiteres Ergebnis dieser Besprechungen war, daß das Mitglied des Bonner Auswärtigen Amtes, Dr. Werner Klingeberg, sofort nach Rom entsandt wurde und dort für die Arbeit der Emigranten-Geheimdienste verantwortlich zeichnet. Insbesondere hat Klinge-berg die Aufgabe, sich mit den Sportlern der DDR in Verbindung zu setzen und sie zur Republikflucht zu überreden.“3)
Die Zeitschrift wußte auch zu berichten, daß sich Klingeberg täglich mit dem in Rom tätigen Bruder Gehlens zu „Arbeitsbesprechun-gen“4) traf.
Klingeberg verließ am Tage nach dem Gespräch des Autors mit Stöck das Olympische Dorf und kehrte nur noch einmal zurück, um Utensilien zu holen.
So kreuzten sich ein einziges Mal die Wege Klingebergs mit denen des Autors. Der stieß jedoch später noch einige Male auf seinen Namen. Carl Diem hatte ihn bereits 28 Jahre vor dieser Begegnung in seinem Tagebuch von den Olympischen Spielen 1932 notiert: „Heiß hat sich die Freundschaft der ganzen Mannschaft erworben, ebenso Müller und Klingeberg, die beide sehr gut massieren sol-len.“5) Ob die Tätigkeit als Masseur mit der vom AA jetzt offiziell genannten Funktion des Sekretärs der Mannschaft in Zusammen-
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hang steht, kann kaum mehr untersucht werden. Der Hinweis auf die Tätigkeit als Masseur macht jedenfalls Klingebergs enorme Vielseitigkeit deutlich. Wäre er tatsächlich Sekretär der Mannschaft gewesen, wäre das im Offiziellen Bericht der Spiele mit ziemlicher Sicherheit vermerkt worden. In diesem Buch war jeder Akkreditierte mit seiner Funktion aufgeführt worden war. Als Ausnahme von die-ser Gewohnheit findet man ihn funktionslos nur als „Klingeberg, W. (Germany)“6). Das könnte ein Zufall gewesen sein. Diem erwähnte Klingeberg übrigens auch noch in dem Zusammenhang mit einem Vortrag, den er in Los Angeles zu halten hatte: „Meine Rede hatte ich noch die Nacht vorher Herrn Klingeberg diktiert.“7) Das erhärtet die Feststellung von Klingebergs Vielseitigkeit: Der Student, der - nach dem offiziellen Lebenslauf - erst 1932 die Hochschule für Lei-besübungen absolviert hatte, verfügte über die Qualifikation eines Masseurs und auch über die eines der Stenographie mächtigen Protokollanten.
Der belgische Journalist André G. Popliment hat 1956 in dem vom IOC herausgegebenen „Bulletin du Comité International Olym-pique“ gegen Ritter von Halt und dessen Nachkriegs-Deutungen der Olympischen Spiele 1936 polemisiert und dabei einen Disput zwischen Hitler und dem damaligen IOC-Präsidenten Baillet-Latour erwähnt. Der belgische IOC-Präsident soll danach kurz vor den Olympischen Winterspielen 1936 in Garmisch-Partenkirchen - so Popliment - gegen antisemitische Plakate an den Straßen nach Garmisch-Partenkirchen protestiert haben.8) (Andere verläßliche Hinweise auf ein solches Gespräch fehlen.) Nach Popliments Erin-nerungen hatte Hitlers Dolmetscher Schmidt das Gespräch über-setzt, nach allerdings durch keinerlei Quellen belegten Behauptun-gen, soll Klingeberg an der Zusammenkunft teilgenommen haben.
Nicht übersehen werden sollte allerdings, daß sich Klingeberg 1934, also nach der Machtübernahme der Nazis, weiter im Umfeld Diems befand, was Zweifel daran beseitigen dürfte, wie er zu den neuen Machthabern stand. 1934 fanden die sogenannten Deut-schen Kampfspiele in Nürnberg statt. Diem war eingeladen und no-tierte in seinem Tagebuch: „Punkt vier Uhr früh verließ ich mit mei-nem Wagen die Garage. Ich lud erst Klingeberg, dann Berndt am Bahnhof Heerstraße ein.“9)
Nach der offiziellen Vita war Klingeberg bis 1936 Student an der Berliner Universität, aber bereits seit 1934 Leiter der Sportabteilung
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des Organisations-Komitees für die XI. Olympischen Spiele in Ber-lin. Das ist kaum glaubwürdig. Man kann nicht annehmen, daß die bekanntlich auch hinsichtlich des Personals sehr gründlich vorge-henden Nazis die Leitung einer Schlüsselabteilung im Organisati-onskomitee einem Studenten als eine Art „Nebenjob“ überlassen hätten. Das ist auszuschließen. Die Bedeutung der Funktion wird im Offiziellen Bericht der Spiele in einer Strukturskizze10) deutlich. Klingeberg wird als Leiter der „Sport-Abt - Zentral-Büro“ geführt. Er war nach dieser Skizze für den gesamten Zeitplan verantwortlich - allerdings wurde als dafür zuständig noch ein gewisser Hirt ge-nannt -, für den Fackellauf und für sieben weitere Büros. Noch einmal: Es ist auszuschließen, daß sich die Organisatoren dieser Spiele darauf eingelassen haben sollen, einen Studenten den Fa-ckellauf organisieren zu lassen. Hier ergeben sich kaum erklärbare Widersprüche in dem Lebenslauf. An anderer Stelle heißt es im Of-fiziellen Bericht der Spiele von 1936 zur Vorbereitung des Fackel-laufs - hier übersetzt aus der englischen Fassung des Reports -: „Herr Klingeberg, Direktor der Sportabteilung des Organisations-komitees, und Herr Carstensen vom Propaganda-Ministerium in-spizierten die Strecke persönlich im September 1935 und arran-gierten alle Einzelheiten der Organisation.“11)
Bekanntlich hatte man den Fackellauf mit einer Reihe politischer Operationen verbunden und nach dem Hinweis darauf, daß Klin-geberg gemeinsam mit einem Mitarbeiter des Propaganda-Ministeriums alle „Einzelheiten“ arrangiert hatte, können zum Bei-spiel die Ereignisse bei der Ankunft der Staffel in Wien nicht als „Zufälle“ bewertet werden.
Planmäßig sollte das olympische Feuer am 29. Juli nach Wien ge-langen. Das olympische Komitee des Landes hatte eine feierliche Begrüßung auf dem Heldenplatz arrangiert und die Presse sich da-rauf vorbereitet, das Ereignis als Symbol für die Freundschaft mit dem Nachbarn zu preisen. So erschien die NEUE FREIE PRESSE am Morgen des 30. Juli mit einem offensichtlich lange vorbereite-ten Leitartikel, in dem der Satz stand: „Die fünf Ringe sind ein Symbol des Friedens, eine Aufforderung zur Zusammenarbeit, zur Überwindung alles Kleinlichen und Engen.“12) Diese Formulierung bezog sich eindeutig auf den Abbau der Spannungen zwischen Hit-lerdeutschland und Österreich, die seit der Dollfuß-Affäre 1934 nicht ohne Spannungen waren. Doch der mit Wohlwollen vorberei-
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tete Empfang für das Feuer wurde zum Desaster. Kurz vor Redak-tionsschluß des Blattes hatte die Pressestelle der Regierung eine Mitteilung verbreiten lassen, die über dem Leitartikel plaziert war: „Amtlich wird verlautbart: Anläßlich der Olympia-Festlichkeiten ha-ben gewissenlose Elemente versucht, die Feier zu politischen De-monstrationen zu mißbrauchen. Sowohl auf dem Ring als auch auf dem Heldenplatz waren größere Gruppen von Demonstranten, die mit Sprechchören und Geschrei in die Feier Unruhe hineinzubrin-gen versuchten.“13)
Die Nachricht wurde durch eine unmißverständliche Zweizeilen-mitteilung ergänzt, wonach die Regierung die Amnestie eingestellt habe.
Damit war klar, wer hinter der Störung der Olympiafeier zu vermu-ten war: österreichische Faschisten, die nach den letzten Verein-barungen beider Regierungen glaubten, die Ankunft des Feuers völlig ungestört in eine Demonstration des „Anschlußwillens“ der Österreicher umfunktionieren zu können. (Von der Amnestie waren im Zusammenhang mit dem Mord an Dollfuß Verurteilte Faschisten betroffen.)
Die energische Reaktion Wiens auf die profaschistischen Demonst-rationen überraschte Berlin offensichtlich und löste voreilige Demen-tis aus. Die Berliner Börsenzeitung schrieb: „Es ist nicht schwer, die Hintergründe und Ziele dieser Provokation aufzuzeigen. Der Ab-schluß des deutsch-österreichischen Freundschaftsabkommens lös-te zweifellos den Entschluß aus, mit allen Mitteln eine Wiederver-giftung der politischen Atmosphäre zu versuchen. Man ließ den Wie-ner Mob in nationalsozialistischer Weise randalieren und benützte zur Inszenierung dieses Manövers mit der üblichen kalten Skrupello-sigkeit die Feier bei der Ankunft der Olympischen Fackel.“14)
Diese Zwischenfälle, die keineswegs etwa ausschließlich Klinge-berg angelastet werden sollen, verdienen deshalb so viel Aufmerk-samkeit, weil die Reaktion der deutschen Presse erkennen ließ, daß es sich um eine konsequent vorbereitete Aktion handelte, die nun ebenso konsequent antikommunistisch und antisemitisch aus-genutzt wurde. Die offizielle deutsche Nachrichtenagentur wußte schon wenige Stunden nach der Demonstration verblüffende Ein-zelheiten zu melden: „Die Demonstrationen trugen typisch marxis-tischen Charakter. Zur Tarnung wurden von den Anführern der Demonstration, die schon nach ihrem Aussehen jüdisch-
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marxistischen Kreisen angehören dürften, auch nationalsozialisti-sche Kampfrufe ausgestoßen, zweifellos um nationalsozialistische Teile der Bevölkerung zur Beteiligung an den Demonstrationen aufzureizen, ein Versuch, der, soweit sich übersehen läßt, fehlge-schlagen ist. Von den Demonstranten wurden ferner in großer Masse Marxistische Flugblätter zur Verteilung gebracht, die ein-deutig den Charakter der Zwischenfälle bewiesen.“15)
Allerdings gelangte die Wiener Polizei schon nach wenigen Tagen zu anderen Schlußfolgerungen. Am 6. August wurde „amtlich ver-lautbart: Die polizeilichen Erhebungen... haben ergeben, daß diese Demonstrationen durch die Führung einer illegalen Formation in Wien von langer Hand vorbereitet waren. Nach Geständnissen von Unterführern wurden die auf den Heldenplatz beorderten Demonst-ranten aus Wien und den nahegelegenen Orten Niederösterreichs nicht nur mit gefälschten Eintrittskarten beteilt, sondern auch mit genauen Weisungen bezüglich ihres Verhaltens versehen ... Von den 42 anläßlich der Juli-Amnestie aus der gerichtlichen Haft ent-lassenen Nationalsozialisten, bei denen sich im Zuge der Erhebun-gen der dringende Verdacht ergab, daß sie an der Demonstration aktiv teilgenommen hatten, wurden 19 zur Verbüßung restlicher Verwaltungsstrafen veranlaßt. Die polizeilichen Erhebungen, die sich insbesondere auf die Ausforschung der fahrenden Organisato-ren der Demonstration richten, stehen vor dem Abschluß.“16)
Beim Lauf durch die Tschechoslowakei hatte die Regierung das of-fizielle deutsche Plakat verboten, weil die darauf abgebildete Land-karte das „Sudetengebiet“ als bereits zu Deutschland gehörend auswies. Es fällt schwer, zu glauben, daß der im Organisationsko-mitee für die Spiele für den Fackellauf Zuständige von all dem nichts gewußt haben soll.
Unglaubwürdig ist auch jener Punkt in Klingebergs offiziellem Le-benslauf, der ihn von 1937 an als Technischen Berater und Sekre-tär des Internationalen Olympischen Komitees ausweist. Bei ge-nauerem Hinsehen ergeben sich andere Tatbestände. Die Session des IOC 1938 hatte auf einem Nildampfer zwischen Assuan und Kairo stattgefunden. Das deutsche IOC-Mitglied Lewald hatte - weil angeblich Halbjude - schriftlich seinen Rücktritt erklären und als Nachfolger den General von Reichenau vorschlagen müssen. Er wurde prompt gewählt. Der spätere IOC-Präsident Avery Brundage (USA) in seinen Erinnerungen über eine Episode am Rande der
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Flußfahrt: „Ein Regierungsarchäologe befand sich an Bord, und wann immer eine bedeutende Sehenswürdigkeit ... erreicht wurde, ging das Schiff vor Anker. Die Sitzung wurde unterbrochen und ei-ne kurze Besichtigungs-tour zu dem historischen Denkmal unter-nommen. Bei einer dieser Unterbrechungen stieß ein deutsches Militärflugzeug auf die Wüste herab, um eines der IOC-Mitglieder aufzunehmen, den deutschen General von Reichenau, der zu Hause gebraucht wurde.“17) Am 11. März 1938 waren die IOC-Mitglieder von Kairo nach Assuan gereist, um dort an Bord des Schiffes zu gehen. Am 12. März 1938 besetzten deutsche Luftlan-deeinheiten den Wiener Flugplatz Aspern, 200.000 deutsche Solda-ten marschierten über die österreichische Grenze und vollzogen die Annektierung. Da brauchte man jeden General zu Hause.
Auch Klingeberg gehörte zu den Passagieren des Schiffes. Als Sek-retär des IOC? Ich bat den früheren IOC-Kanzler Otto Mayer zu sei-nen Lebzeiten um Auskunft über die damalige Situation in Lausan-ne. Er fand heraus, daß der Sekretär des Komitees, der Schweizer Oberst Berdez, nicht zu der Sitzung erschien, weil er erkrankt war. Seine Funktion - für die Dauer dieser Session - wurde daraufhin von zwei Deutschen übernommen: Diem und Klingeberg.
Wie waren Diem und Klingeberg als Nicht-IOC-Mitglieder über-haupt an Bord des Schiffes gelangt?
Die Antwort lieferte Diem schriftlich: „In Kairo, nahe der Pyramiden, war die 37. Sitzung des Olympischen Komitees durch den jungen König von Ägypten feierlich eröffnet worden.“ (Hier weichen die Zeugen Brundage und Diem in ihren Erinnerungen voneinander ab, doch betrifft das nur den Ablauf der ungewöhnlichen IOC-Session auf einem Schiff - d. A.) „... Von deutscher Seite nahmen die Mit-glieder Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg, Dr. Ritter von Halt und das neugewählte Mitglied General v. Reichenau teil. Klinge-berg war zusammen mit der japanischen Delegation erschienen. Ich selbst wohnte in meiner Eigenschaft als Direktor des Internatio-nalen Olympischen Instituts der Sitzung bei.“18)
Klingeberg als Berater der Japaner? Davon war in dem Lebenslauf überhaupt nicht die Rede gewesen. Die Spiele des Jahres 1940 waren nach Tokio vergeben worden, wurden von den Japanern aber zurückgegeben, als sie ihre Aggression gegen China began-nen.
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Zur IOC-Session 1939 in London reisten die Deutschen wieder mit Klingeberg an und versuchten, ihn als Sekretär des Internationalen Olympischen Komitees bestätigen zu lassen. Damit wäre das IOC endgültig in deutscher Hand gewesen.
Otto Mayer fand in den Akten den Beschluß, der den schwerkran-ken Schweizer Oberst Berdez in der Funktion des Sekretärs noch einmal bestätigte, die Deutschen erzwangen Klingebergs Wahl zum stellvertretenden Sekretär. Da offensichtlich niemand mit Ber-dez' Genesung rechnete, wurde festgelegt, daß Klingeberg die Post des IOC für die nächsten Sommerspiele erledigen sollte. Da-mit hatte Klingeberg den Fuß in der Tür. Als Diem eine „Inspekti-onsreise“ nach Finnland antrat, traf er den dort die inzwischen nach Helsinki vergebenen Spiele 1940 vorbereitenden Klingeberg. Sei-nem Tagebuch vertraute er unter dem Datum des 10. Mai 1939 vergnügt an: „Klingeberg scheint völlig oben zu schwimmen.“19)
Nach der offiziellen Version des Auswärtigen Amtes mutierte Klin-geberg 1940 plötzlich zum Journalismus und leitete gleich zwei Bü-ros des Deutschen Nachrichtenbüros - das in Paris und das in Hel-sinki. Jeder Journalist wird die Problematik einer solchen Aufgabe - noch dazu für einen Neuling - mühelos nachvollziehen können. Klingeberg hatte übrigens seine Bindungen zum IOC keineswegs völlig abgebrochen. Davon zeugt ein Brief, den er drei Wochen, nachdem Diem in höchstem Auftrag den IOC-Präsidenten Baillet-Latour in seiner okkupierten belgischen Heimat besucht hatte, ver-faßte. Am 13. August 1940 schrieb Klingeberg aus der Unionsgata 7/18 in Helsinki an den US-Amerikaner Avery Brundage und teilte ihm mit, daß er nach wie vor in Helsinki arbeite und zwar für „Nach-richtenagenturen“. Er fuhr dann fort: „Die Sportentwicklung zu Haus geht weiter voran. Es gab mehr als 50 internationale Vergleiche in der Kriegszeit... Es gibt kein Gefühl von Haß und man hofft, daß der Sport gleich nach dem Krieg neue Brücken schlagen wird an Stelle der in diesen Tagen zerstörten. Man hat keine Absicht, eine Sportisolation für irgendeine Nation nach dem Krieg zu verkünden, wie es 1918 der Fall war.“20)
Klingt aus diesen Formulierungen nicht schon der Tenor desjeni-gen, der nach dem gewonnenen Krieg auch über die Zukunft des Sports befinden wird? Das erhärtet auch einer der nächsten Sätze: „Ihr Kollege von Reichenau ist zum Generalfeldmarschall befördert worden, und wie ich hörte, war er sehr erfolgreich im Feldzug ge-
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gen Belgien, wo er später mit einem anderen großen Sportler, dem König der Belgier, verhandelte. Auf eine Bitte von zu Hause flog ich vor einigen Tagen nach Stockholm, um Dr. Diem zu treffen, der ge-rade Graf Baillet-Latour in Belgien besucht hatte. Ich erfuhr, daß der Präsident wohlauf ist und in seinem Haus in der Stadt lebt. Auf besondere Weisung des deutschen Kanzlers wurde er in jeder Hin-sicht als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees res-pektiert, und alles wird gerade versucht, um die schwierige Situati-on seines Landes zu erleichtern. Ich habe gehört, daß die deut-schen Behörden in Brüssel spezielle Order haben, seinen Besitz und seine Person zu respektieren, eines Mannes, der soviel für in-ternationalen Goodwill und Zusammenarbeit getan hat.“21) Und dann kommt Klingeberg zum entscheidenden Punkt: „Das neue Europa wird sicher einige Veränderungen in der Arbeit des Interna-tionalen Olympischen Komitees erforderlich machen, weil die totali-tären Staaten, in denen der Sport zu den Aufgaben der Regierung gehört, mehr Rechte der Teilnahme an den Aktivitäten des IOC fordern werden als früher... Persönlich sagte mir Dr. Diem, daß der Präsident mit Nachdruck meine künftige Arbeit für das IOC gefor-dert hat, sobald sich das Leben in Europa wieder normalisiert.“22)
Es gehört keine Phantasie dazu, um diese Formulierung Klinge-bergs auszudeuten. Würde Baillet-Latour etwas zustoßen, wäre Brundage ein ernsthafter Anwärter auf seine Nachfolge.
Knapp 17 Monate später, am 6. Januar 1942, starb Baillet-Latour. Er hatte den Schmerz über den Tod seines Sohnes, der sich belgi-schen Freiwilligen im Kampf gegen die Faschisten angeschlossen hatte, nicht verwunden. Die Nachricht von seinem Tod löste bei den deutschen Olympiastrategen hektische Betriebsamkeit aus. Ein Dietrich Bartens, Chefredakteur der deutschsprachigen Brüsse-ler Zeitung, schickte am späten Abend des 8. Januar 1942 dem aus Berlin in die belgische Hauptstadt geeilten Ritter von Halt einen Brief ins Hotel, in dem folgendes zu lesen war: „Gestern ... rief mich der Leiter des hiesigen Deutschen Nachrichtenbüros, Herr Körber, an, um mir mitzuteilen, er habe über DNB-Paris“ - man er-innert sich, wer der Leiter des Büros war: Klingeberg - „ein Fern-schreiben des Beauftragten des Reichssportführers für Frankreich, des Sonderführers Keser, für mich erhalten mit dem Auftrag, ich möchte mich um die Sicherstellung des Nachlasses des Grafen Bail-let-Latour bemühen.“23) Fünf Tage später schrieb Halt an den IOC-
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Vizepräsidenten - und de facto nach Baillet-Latours Tod amtieren-den Präsidenten - Sigfrid Edström in Schweden, „um Dich in Kennt-nis zu setzen, wie unser allverehrter und lieber Präsident Graf Bail-let-Latour beigesetzt worden ist.“24)
Größer als Halts Trauer war die Sorge, wie man nun endlich das Se-kretariat des IOC in die Hand bekommen könnte. „Ich habe mit Klin-geberg, der von Paris ebenfalls nach Brüssel gekommen ist, verein-bart, daß er mich anläßlich meines Vortrages, zu dem Du mich freundlicherweise nach Stockholm eingeladen hast, dorthin begleitet, um von Dir Weisungen hinsichtlich der Führung des Sekretariats des IOC entgegenzunehmen. Klingeberg war bis auf die letzten Monate mit dem Grafen Baillet-Latour in engster Fühlung und hat auch tat-sächlich die Sekretariatsgeschäfte geleitet, wenngleich er, wie es selbstverständlich ist, keinerlei finanzielle Entschädigung dafür er-hielt. So kann es auch ruhig weiter bleiben, und Klingeberg kann, so-lange der Krieg dauert, eben ehrenamtlich das Sekretariat weiterfüh-ren.“25)
Am gleichen Tag bat Halt beim Geschäftsführer des Nazi-Sportverbandes, Guido von Mengden, um die Genehmigung der Stockholmreise und schlug vor, auch Klingeberg mitreisen zu las-sen: „Im Interesse einer Einflußnahme in die Leitung des IOC wür-de ich Sie bitten, dem Herrn Reichssportführer gelegentlich Vortrag zu halten.“26)
Klingeberg wandte sich am 27. Januar an Halt und gab seiner Hoff-nung Ausdruck, „daß die Gräfin Baillet-Latour das olympische Ma-terial aus dem Nachlaß des Präsidenten direkt an Herrn Dr. Diem zur Absendung gebracht hat, wie es besprochen war... Da für mich die Korrespondenzmöglichkeiten von hier mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden sind, habe ich auch mit dem Sekretariat in Lausanne zur Zeit keine Verbindung und muß annehmen, daß Edström direkt nach dort Anweisungen gegeben hat.“27)
Doch die Hoffnungen der Deutschen, die den Tod des IOC-Präsi-denten für die Machtübernahme hatten nutzen wollen, zerschlugen sich. Halt mußte Klingeberg am 2. Februar mitteilen: „Wie bei Ed-ström nicht anders zu erwarten ist, teilte er mir mit, daß Ihre Reise nach Stockholm nicht nötig sei. Er hätte die Leitung des Sekretari-ats des IOC schon persönlich seit einiger Zeit übernommen... Sie sehen also, lieber Klingeberg, dieser schlaue alte Fuchs versucht, auch die Geschäftsstelle des IOC in die Hand zu bekommen... Hier
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heißt es nun scharf aufpassen und zugreifen, wenn Gefahr im Ver-zug ist. Wir können natürlich Edström nicht zwingen, Sie zu emp-fangen. Aus diesem Grunde glaubte Tschammer auch, Ihnen den Rat zu geben, nicht nach Stockholm zu fahren; ich werde Edström aber um so deutlicher Bescheid sagen.“28)
Unterlagen darüber, ob und in welcher Form das geschah, existie-ren nicht. Denkbar aber ist, daß Edström wenig Neigung ver-spürte, Klingeberg eine Funktion des IOC zu überlassen, wohl auch nachdem der im Januar 1941 in der Olympischen Rundschau seine Gedanken zum „Olympia der Zukunft“ dargelegt hatte: „In Europa und im Fernen Osten steht die beste Jugend der Völker im Krieg, in anderen Kontinenten im nicht weniger heftigen Kampf der Meinungen, im Kampf neuer politischer und wirtschaftlicher Ideen gegen alte... Coubertin selbst gab dem Olympismus unserer Zeit die Aufgabe, daß der Wettkämpfer im Olympischen Stadion und im Zeichen der die Erdteile vereinenden fünf Ringe sein Vaterland, seine Flagge und seine Rasse erhöhe... Sie haben gelernt, sich als Menschen zu achten, und nur der Schwache verliert in diesen Wo-chen und Monaten der Prüfung diese Achtung, die der Jugend aller Völker die Kraft zur neuen Zukunftsgestaltung geben wird... Nur der Schwächling läßt sich von der Zeit tragen. Der Kräftigere wird seine Stärke einsetzen, sie mitgestalten zu helfen.“ 29)
Deutlicher ließen sich faschistische Ziele im Sport kaum formulie-ren. Und dieser Mann wollte Sekretär des IOC werden! In einem Brief an von Halt - zum erstenmal gab er übrigens einen konkreten Absender an: „Auswertestelle West“ - hatte er Ende 1943 ge-schrieben: „Nachdem ich bei Kriegsbeginn im Einverständnis mit dem Grafen Baillet-Latour das mir auf der Sitzung in London über-tragene Amt als Nachfolger des verschiedenen Col. Berdez in Lausanne noch nicht übernommen habe, plane ich nunmehr, nach Möglichkeit im Juni folgenden Jahres nach Lausanne zu fahren.“30) Aber die Reise im Juni 1944 nach Lausanne war vergeblich. Otto Mayer vermerkte in seinem Report nur: „Im Jahre 1944 feierte die Stadt Lausanne verhältnismäßig umfangreich das Olympische Ju-biläum. Aber es konnten nur sehr wenig IOC-Mitglieder diesen Feierlichkeiten beiwohnen, da die Schweiz von den Armeen der Achse umzingelt war.“31)
Damit endet die IOC-Laufbahn des Werner Klingeberg, die als Masseur oder Sekretär der Olympiamannschaft 1932 in Los Ange-
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les begonnen hatte und nach seinen Absichten - vor allem aber die der Nazi-Sportführung - auf Rang zwei der Hierarchie des Interna-tionalen Olympischen Komitees enden sollte. Lange Jahre hörte man kaum etwas von dem vielseitigen Klingeberg, bis man sich in Bonn seiner erinnerte und ihn in den diplomatischen Dienst berief. Dort setzte er seine Karriere fort, unauffälliger als zuvor, aber zwei-fellos seine enormen Erfahrungen einbringend. Niemand vermag zu sagen, was zum plötzlichen Ende dieser zweiten Karriere führte und damit zur dritten in verschiedenen bundesdeutschen Botschaf-ten. Die Andeutungen der italienischen Zeitschrift aus dem Jahr 1960 waren ziemlich konkret aber natürlich nicht belegbar. Lag dort der Schlüssel?
Zu wiederholen wäre die Feststellung vom Beginn: Wie kam es, daß Klingeberg nie erwähnt wurde, wenn von den verdienten Män-nern des deutschen Sports die Rede war? An seiner politischen Haltung kann es nicht gelegen haben, denn sein Chef während der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, Carl Diem, gilt noch heute als zwar in einigen Phasen umstrittene aber ansonsten rühmenswerte Persönlichkeit. Der Deutsche Leichtathletikverband verleiht bis auf den heutigen Tag alljährlich einen nach ihm benannten Preis. Wer stieß Klingeberg mit welchen Gründen ins Reich des Verschwei-gens? Wird man es je erfahren?
ANMERKUNGEN
1) Brief des Auswärtigen Amtes (GZ 117-251.07/h) vom 11.3.1999
2) Neues Deutschland, Berlin, 20. August 1960
3) Ebenda
4) Ebenda
5) Carl Diem; Ausgewählte Schriften. 3. Reiseberichte. St. Augustin, o.J.
S.72
6) Official Report, The Games of the Xth Olympiad, Los Angeles 1933, S. 803
7) Carl Diem; Ausgewählte Schriften. 3. Reiseberichte. St. Augustin, o.J. S.78
8) Bulletin du Comité International Olympique; Lausanne; Nr. 56, S. 46f
9) Carl Diem; Ausgewählte Schriften. 3. Reiseberichte. St. Augustin, o.J. S. 99
10) The XIth Olympic Games Berlin 1936, Official Report, S. 100
11) Ebenda, S. 65
12) Neue Freie Presse, Wien, 30. Juli 1936
13) Ebenda
14) Zitiert in: Neue Freie Presse, Wien, 31. Juli 1936
15) Ebenda
16) Wiener Zeitung, Wien, 7. August 1936
17) A. Brundage, Die Herausforderung, München 1972 S. 129
18) C. Diem, Reiseberichte, S. 156
19) Ebenda S. 156
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20) Brundage, Archiv, Staatsuniversität Illinois Bos. 31
21) Ebenda
22) Ebenda
23) ZPA R. v. H. I. Bl. 231
24) Ebenda Bl. 233/35
25) Ebenda
26) Ebenda Bl. 236
27) Ebenda Bl. 243
28) Ebenda Bl. 258
29) Olympische Rundschau, Berlin, 1941, Heft 12, S. 1
30) ZPA, R. v. H., II, Bl. 65
31) O. Mayer: A travers le anneux... S. 39
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REZENSIONEN
Doping nur im Osten?
Von JOACHIM FIEBELKORN
Das Thema Doping ist unerschöpflich. Man ist es leid, immer wie-der darüber zu reden und muß es doch; denn trotz aller aufklären-den, warnenden Worte wird weiterhin geschluckt und gespritzt.
Baron de Coubertin stellte schon 1925 mit bemerkenswerter Weit-sicht fest: „Markt oder Tempel, die Sportler haben die Wahl.“1) Die Wahl ist längst getroffen, die meisten der Tempel sind verbrannt. Eine unübersehbare Schar Leistungssportler, gestützt auf Talent, getrieben von Ehrgeiz, gelockt von Geld und Ruhm, setzt vor die Jagd auf Siege und Rekorde die Jagd nach Pillen und Ampullen.
Im Jahr 1998 gab es in Berlin und Umgebung unter anderen drei bemerkenswerte, mit Sport und Doping befaßte Ereignisse. Zwei erregten über Monate hinweg erhebliches Aufsehen, eines be-schränkte sich auf einen Abend, alle drei zeitigten nicht gerade be-friedigende Ergebnisse.
In Berlin liefen zwei Gerichtsverfahren gegen Sportärzte und Trai-ner der DDR.
Es führte hier zu weit, die juristische Seite der Verfahren zu be-trachten. Beispielsweise über die Akten nachzudenken, die Gaucks emsige Helfer der Staatsanwaltschaft übergaben, oder, wichtiger noch, über die Legalität der Unternehmen, über die Person des Richters auch, und alles in Zusammenhang mit den entsprechen-den Festlegungen des Einigungsvertrages, die nicht nur in den Au-gen des Verfassers - in beiden Prozessen verletzt wurden.
In Potsdam hielten zum Thema „Doping nur im Osten?“ zwei Hei-delberger Wissenschaftler Vortrag. Neues wußten sie kaum zu be-richten. Daß auch in den alten Bundesländern auf Teufel komm raus gedopt wurde (wie wohl in allen Ländern, in denen ernsthaft Leistungssport betrieben wird), ist ein alter Hut. Doch wie wird das belegt? Die Heidelberger Wissenschaftler begründeten den herben Mangel an Beweisen unter anderem mit der Schweigsamkeit fast aller Betroffenen, die Akten und Aufzeichnungen eisern unter Ver-schluß halten (dürfen), und mit dem Mangel an Unterstützung für ihr Vorhaben - keine Sponsoren, kein Forschungsauftrag zuständi-ger Stellen der Bundesregierung. Wie denn auch?
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Stutzig macht, daß zwei nach 1990 in Potsdam angesiedelte Wis-senschaftler, zugewandert aus den alten Bundesländern vor allem wohl, um die Schrecknisse des DDR-Sports zu enthüllen, zu den Vorträgen ihrer Heidelberger Kollegen eingeladen hatten. Unwahr-scheinlich, daß sie von deren mageren Erkenntnissen zuvor nichts wußten. Da fragt man sich schon, ob die Potsdamer Soiree nicht nur als Alibi gedacht war: Schaut her! Wir sind in beiden Teilen un-seres Landes den Tätern auf der Spur! Es ist halt Pech, wenn im Westen keine zentrale Instanz so "preußisch-exakt" (Manfred von Richthofen) Akten anlegte, wie das im Osten geschah.
Nun saßen aber drei Wissenschaftler im Saal, die noch in der DDR ihr Handwerk gelernt hatten, womit gesagt sein soll - diese sehr persönliche Bemerkung sei hier gestattet - , sie beherrschen es. Professor Dr. Margot Budzisch, Dr. Heinz Wuschech und Dr. Klaus Huhn gingen jetzt ihrerseits dem Thema nach.
Auch sie forschten ohne Sponsorengelder, vom amtlichen For-schungsauftrag gar nicht zu reden. Und doch: Schon ein Jahr spä-ter legen sie Erkenntnisse vor, deren Beweiskraft kaum zu bestrei-ten ist. Sport und Gesellschaft e.V. veröffentlichte in Kooperation mit dem Berliner SPOTLESS-Verlag ihre Dokumentation „Doping in der BRD - Ein historischer Überblick zu einer verschleierten Pra-xis". Gewidmet ist die Arbeit zwei Dopingtoten in der BRD, der Siebenkämpferin Birgit Dressel und dem Berufsboxer Jupp Elze.
Birgit Dressels Leben, Leiden und Sterben ist das erschütterndste der Dramen, deren Abläufe dargestellt werden. Sogenannte Sport-ärzte, namhaft in ihrem Land, stopften sie mit Tabletten voll, mixten fragwürdige Substanzen zusammen, die sie der leistungshungrigen jungen Frau injizierten und wuschen ihre Hände in Unschuld, als ihr gutgläubiges, vertrauensvolles Opfer einen qualvollen Tod erlitt. Mehr als zwanzig Mediziner mühten sich vergeblich, ihr Leben zu retten. Sie hatten, wie Birgit Dressel selbst, keine Chance.
Der Fall gelangte zur Staatsanwaltschaft. Sie legte ihn zu den Ak-ten.
Konnte die Staatsanwaltschaft nicht? Wollte sie nicht? Durfte sie nicht? Schwer zu glauben, daß es ihr an Können fehlte. Die Ener-gie jedenfalls, die Herr Schaefgen und dessen Gefolgschaft an den Tag legt, tatsächlichen und - mehr noch - angeblichen Vergehen2) in dem nicht mehr existierenden Land auf die Spur zu kommen, brachte sie wohl nicht auf.
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Auch nicht, als minderjährige Sportler betroffen waren, wie bei-spielsweise die Schwimmerinnen Jutta Kalweit (14) aus Bonn und Nicole Hasse (15) aus Essen. Beiden wurde die Einnahme verbo-tener Substanzen nachgewiesen, beide mit Startsperren bestraft. Nach den Hintermännern fragte niemand, kein Sportfunktionär, kein Staatsanwalt. In Bonn gibt es keine ZERV.
Abgabe von Pharmaka an Minderjährige, daran sei erinnert, war der wohl gewichtigste Anklagepunkt in den Berliner Prozessen.
Der leider etwas vergessene englische Schriftsteller Samuel Butler wußte um ähnliche Praktiken von Behörden schon vor rund hun-dert Jahren: „Wenn sie im Bereich einer ihnen lieb gewordenen Einrichtung Unrat wittern, werden sie ihn zu vermeiden suchen, in dem sie sich die Nase zuhalten."3)
Um welche „lieb gewordenen Einrichtungen" handelt es sich heu-te? Die drei Autoren bleiben die Antwort nicht schuldig. Die Inte-ressen finanzkräftiger Betriebe werden durchgesetzt; die Ambitio-nen profilsüchtiger Politiker und ihrer Parteien, Geldgier und Machtgelüste ehrgeiziger Funktionäre aller Ebenen spielen eine entscheidende Rolle, und schließlich auch falsch verstandene Inte-ressen von Sportlern selbst.
Aufschlußreich, nicht ohne Heiterkeit zu lesen, die Auszüge aus Reden der Kohl, Kanther, Schäuble und anderer. Die Erfolge der Sportler sollen nach ihrem bekundeten Willen dem Staate Glanz verleihen. Seit rund neun Jahren tun das bei den großen inter-nationalen Wettkämpfen vornehmlich Sportler, deren Laufbahn in den Sportschulen und Clubs der DDR begann. Mißbrauch des Sports durch und für den Staat DDR tönte es und tönt es noch im-mer durch westdeutsche Landschaften. Bei allen Schwächen, Mängeln, Fehlern und Vergehen, man tat in der DDR etwas für den Sport, schuf die Grundlagen und half tatkräftig mit, eine Sportorga-nisation zu schaffen, die ihresgleichen in der Welt suchte. Heute überläßt der Staat die „Geldspritzen" (welch vielsagende Vokabel in diesem Zusammenhang) vornehmlich der finanzkräftigen Indust-rie, nicht zuletzt jenen Fabriken, die aus der Produktion von Pillen und Ampullen erhebliche Gewinne schöpfen.
Dabei vermeiden die drei Autoren jede Pauschalisierung. Längst nicht jeder Arzt verschreibt und verabreicht das Zeug. Längst nicht jeder Sportfunktionär dealt und kassiert. Längst nicht jeder Sportler schluckt.
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Das Thema Doping, sagten wir eingangs, ist unerschöpflich. Viele reden darüber, wenige wissen, wovon sie reden. Die Verfasser schreiben auch dazu klare Texte. Man weiß am Ende der Lektüre was Doping ist, warum es ist und wie es praktiziert wird.
Übrig bleibt die Frage, ob die erwähnten Potsdamer Wissen-schaftler nun unsere drei Autoren einladen werden, über das The-ma zu referieren: „Doping nur im Osten?". Es würde die Potsdamer ehren. Aber legen sie Wert darauf?
ANMERKUNGEN
1) Zitiert nach Huhn, Beiträge zur Sportgeschichte, Heft 5
2) Nach Buchholz, Weißenseer Blätter, Berlin 4/1998: 22.000 Verfahren wurden eingeleitet, davon bisher 20.500 eingestellt, 471 Anklagen erhoben.
3) Samuel Butler „Merkwürdige Reisen ins Land Erewhon", Rütten&Löning, Berlin 1981.
Gaby Seyfert: Da muss noch was sein
Gabriele Seyfert hat ihre Memoiren geschrieben. Ihre zweiten, wohlgemerkt. Die ersten erschienen in der DDR nicht und derlei ist heute bekanntlich ein hinlänglicher Grund, Zensur zu beklagen und Unterdrückung. (So gehandhabt von V.K. in „Neues Deutschland mit dem Hinweis darauf, daß die „Obrigkeit“ damals „unwillig“ ge-wesen sei.) Heute wird derlei anders gehandhabt. Kaum stellte sich heraus, daß das bewundernswert ehrliche Buch des Eislaufstars - sachlich, besonnen in den Urteilen, ehrlich gegenüber sich selbst, aller Umwelt und auch der DDR - zum Erfolg mutierte, ihr nicht nur Lesungen eintrug und so manche Talkshow-Einladung, erschien eines der seriös geschminkten Skandalmagazine in der Arena und bezichtigte die Kufenkünstlerin, für das MfS gearbeitet zu haben. Wie ein Partyservice hatte die Gauck-Keller-Behörde urplötzlich ei-ne Akte gefunden. Wiewohl wir nur das Buch zu bewerten haben - und mit der 6,0 nicht zaudern - fügen wir dem hinzu, daß sie die böse Nachrede dementierte. Wir glauben ihr und hätten auch kei-nen Abstrich gemacht, wenn es anders gewesen wäre!
(Gaby Seyfert: Da muß noch was sein. Mein Leben - mehr als Pflicht und Kür, Berlin 1998)
Klaus Huhn
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Geschichte des DDR-Sports –
50. Jahrestag des DS
Die beachtliche Stellung des DDR-Sports auf unserem Kontinent und weit darüber hinaus rechtfertigte vollauf das ehrende Geden-ken des 50. Jahrestages der Gründung des Deutschen Sportaus-schusses (DS) am 1. Oktober 1949 in Berlin durch eine vom neu gegründeten Verein „Sport und Gesellschaft e.V.“ organisierte Ver-anstaltung.
Immer öfter spricht man nun schon davon und es ist inzwischen auch da und dort nachzulesen, was die DDR doch so alles Aner-kennens- und Übernehmenswertes in den Sport und die Sportwis-senschaft der BRD eingebracht hat. Davon legte auch diese Ver-anstaltung Zeugnis ab. Und so sind vor allem jene nahezu einhun-dert einstigen Mitgestalter des DDR-Sports aber auch ihre Gäste mit Hochachtung den Ausführungen der Pioniere des DDR-Sports, von Wissenschaftlern und Praktikern gefolgt, die das Wort nahmen. Sicher schwang mancherlei Nostalgisches mit, was vor allem Kriti-ker aus den alten Bundesländern auf den Plan rief, wenn bei-spielsweise der einstige Spanienkämpfer und spätere Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, Dr. phil. habil., Dr. rer. oec. Fred Müller, als damaliger Vorsitzender des DS über seine Erfah-rungen in der Sowjetunion - fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg - berichtete. Es waren sowohl Verantwortung als auch Staatsdis-ziplin zu erkennen, als der ehemalige Staatssekretär für Körperkul-tur und Sport, Prof. Dr. Günter Erbach, zu den Beziehungen von Gesellschaft, Staat und Sport in der DDR sprach, und die Hellhö-rigkeit nicht weniger Beobachter zu spüren, als der einstige For-schungsstudent an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK), Dr. Karsten Schumann, - basierend auf seiner in den 90er Jahren verteidigten Dissertation - zur Entwicklung des Leistungs-sports in der DDR referierte. Beiträge von Günther und Ingeburg Wonneberger, Helmut Horatschke, Margot Budzisch, Hans Simon, Manfred Schneider und Kurt Franke rundeten das Bemühen ab, an diesem Tag all jenen zu danken, die zumeist selbstlos und ohne großes Aufsehen „daran gearbeitet haben, einen Sport aufzubau-en, der an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger und ihrer Persönlichkeitsbildung sowie an der Erhaltung des Friedens, nicht
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aber an Markt- und Großmachtinteressen oder an der Ablenkung von sozialer Perspektivlosigkeit orientiert gewesen ist“, wie der Vereinspräsident, Prof. Dr. Helmuth Westphal, betonte. Gäste mo-nierten, daß es an kritischen Sentenzen mangelte, was niemand leugnen wird. Vierzig Jahre auf sechs Stunden reduziert, ergeben allerdings ein Übergewicht des Positiven. Fakt bleibt, daß alle, die die Geschichte des DDR-Sports interessiert, ein aufschlußreicher Band voller Fakten in die Hand gegeben wurde.
(Geschichte des DDR-Sports - 50. Jahrestag des DS, Protokollband 1; ISBN - 3 - 9333544 - 10 - 6, Schutzgebühr 10 DM, SPOTLESS-Verlag, PF 830, 10131 Berlin)
Heinz Schwidtmann
Der Absturz des IOC
Es ist schon erstaunlich mit welch umfassenden Kenntnissen Klaus Ullrich immer wieder - ebenso schnell wie unerbittlich - sportpoliti-schen Sachverhalten auf den Grund geht. Kaum ist der moralische und bis heute nicht trocken gelegte Sumpf im IOC in seinen vielfäl-tigen Verästelungen bekannt geworden, ist K. U. zur Stelle mit sei-ner beachtenswerten Schrift „Der Absturz des IOC“. Weit in die Geschichte des IOC zurückgehend stellt er kenntnisreich, originell und treffend Tatsachen und Zusammenhänge vor, die insofern be-sondere Aufmerksamkeit verdienen, da viele Aussagen den Herren Samaranch, Pound, Prince de Merode aber auch Tröger und Bach ins Stammbuch geschrieben scheinen, insbesondere zu den un-abwendbaren Folgen, wenn die Olympischen Spiele aus dem Tempel auf den „profanen Markt“ geschleppt werden. Die aufge-deckten Hintergründe der Entwicklung des IOC seit man Sama-ranch 1980 zum Herrn der fünf olympischen Ringe machte, sind so überzeugend dargestellt, daß man Klaus Ullrichs Schrift zumindest den Sportstudenten und den im internationalen Sport Tätigen zur Lektüre empfehlen sollte.
„Der Absturz des IOC“ ist nunmehr bereits der zweite Titel zu die-ser Thematik im SPOTLESS-Verlag. Der erste, „Olympia am Ab-grund?“ von Kent Pritchard, erschien 1992 und belegt einmal mehr die Aktualität und Weitsicht der Editionen dieses Verlages.
(Klaus Ullrich: Der Absturz des IOC, SPOTLESS, Berlin 1999)
Heinz Schwidtmann
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Geschichten vom Sport in Dresden
Der Titel „Geschichten vom Sport in Dresden" in der Schriftenreihe „Dresdner Hefte - Beiträge zur Kulturgeschichte“ Iäßt viel erhoffen. Zumal der Anlaß, diese Publikation herauszugeben, war, daß trotz der enormen Popularität des Sports ein gewisser Mangel hinsicht-lich seiner geschichtlichen Aufarbeitung besteht. Entsprechend dem Ziel der Herausgeber (S.3) wird in vierzehn Beiträgen auf nur 92 Seiten versucht, die Entwicklung jeweils über einen Zeitraum von 150 Jahren darzustellen.
Die Beiträge würdigen sowohl die Leistungen der mutigen Ballon-fahrerin W. Reichard, die vor mehr als 180 Jahren die Dresdener begeisterte, als auch die der Sparkasse Dresden von heute im Rahmen einer Stiftung Jugend und Sport. Es wird über die Traditi-onen des Wanderns, Kletterns und Singens in der Sächsischen Schweiz, über Elbeschwimmen und Elberudern, über das Vl. Deutsche Turnfest 1885 und den Galopprennsport seit 1851, über die Entwicklung ausgewählter Sportstätten und des Fußballs im Dresdener Sportclub (DSC) berichtet, der Sport nach 1945 be-trachtet und Kreischa als das angebliche Zentrum der Dopingfor-schung in der DDR vorgestellt.
Diese Vielfalt zwingt die Autoren, das jeweilige Anliegen sehr knapp zu skizzieren und vielfach auf notwendige Belege zu ver-zichten. Für den Leser ergibt sich dadurch immer wieder die Fra-ge, welche Tatsachen und Ereignisse die vom Autor dargelegten Auffassungen oder Andeutungen stützen. So stellt P. Salzmann in seinem Beitrag über den DSC nach dem Sieg von Horch Zwickau gegen Friedrichstadt fest, daß es nicht mit rechten Dingen zuge-gangen sei - „politische Machenschaften gegen die Dresdner war-fen dunkle Schatten auf den Fußball." (S. 42) Der Leser wird aber im unklaren darüber gelassen, warum es nicht mit rechten Dingen zugegangen ist und worin denn nun eigentlich die dunklen Ma-chenschaften bestanden. Die geplante Namensänderung allein kann es sicher nicht gewesen sein. Denn bereits vor dem Spiel hatten doch I. Bubis gemeinsam mit H. Schön (später Bundestrai-ner der Nationalmannschaft) mitgeholfen, die Übersiedlung fast der kompletten Mannschaft nach Westberlin vorzubereiten. (S. 42)
Ein Problem berühren fast alle Autoren: Damals wie heute haben die Sorgen um die finanziellen Möglichkeiten und Grenzen die
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Entwicklung des Sports begleitet. Ohne Gönner und Sponsoren hätte sich weder der Ballon von Madame Reichard in die Lüfte er-hoben (S. 9) noch der Galopprennsport nennenswerte Bedeutung erlangt. (S. 46) Das gilt für den Bau von Sport- und Schwimmstadi-on ebenso wie für die Entwicklung des Fußballs im DSC oder aber für den Sport im Dresden von heute. Der Dezernent für Jugend und Kultur, J. Stüdemann, macht deutlich, daß für eine bedarfsge-rechte Versorgung der Sporttreibenden in Dresden 780 Millionen DM benötigt werden. Tatsächlich sind nach der Neufassung der Sportförderrichtlinie jährlich nur 1,2 Millionen DM aus kommunalen Fördermitteln vorgesehen. Symptomatisch ist auch der Beitrag von R. K. Müller und J. Grosse über Kreischa als Zentrum der Doping-forschung in der DDR. Allein schon der Titel macht neugierig und läßt neue Enthüllungen erwarten. Wie sich aber vieles in dieser Diskussion weiter zu versachlichen scheint, relativiert sich beim Lesen die eigentlich reißerische Ankündigung im Titel. Denn die Autoren verweisen darauf, daß die Struktur der personellen Beset-zung und die Ausrüstung gar keine aktive Dopingforschung im Sin-ne der Erarbeitung von Dopingmethoden zur Steigerung der Leis-tungsfähigkeit ermöglichten. Zur Untersuchung gelangten - wie in allen akkreditierten Labors - anonyme, codierte Proben, auf deren Abnahme das Labor selbst keinen Einfluß hatte. (S. 80) Erst nach der Neuakkreditierung im Jahr 1992 wurden zur „Verbesserung des Nachweises von Problemsubstanzen" in Kreischa auch For-schungsarbeiten durchgeführt. (S. 82)
Ziel der Herausgeber war es, Wurzeln, Wandlungen und Erfolge des Dresdner Sports an ausgewählten Beispielen darzustellen. Das ist den Autoren in mancher Hinsicht gelungen. Insgesamt wurde aber erst damit angefangen, die Geschichte des Sports in Dresden - eingeordnet in die Kulturgeschichte - darzustellen, wenn auch die vorgelegte Publikation auf weitere anspruchsvolle Arbei-ten zum Thema Sport hoffen läßt.
(Geschichten vom Sport in Dresden. Schriftenreihe „Dresdner Hefte - Bei-träge zur Kulturgeschichte“, 1998, Heft 55.)
Horst Forchel
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JAHRESTAGE
Zum 100. Geburtstag von
Ernest Hemingway
Von GÜNTER WITT
Als Ernest Hemingway 1954 den Nobelpreis für Literatur erhielt, zählte er zu den auserwählten der Weltliteratur unseres Jahrhun-derts, deren Ehrung Millionen von Lesern auf allen Kontinenten begeistert zustimmten. Es ist die Faszination seiner Geschichten und die Art und Weise, wie er sie erzählt, die seine Popularität bis heute ausmachen. Ernest Hemingway ist eine wesentliche künstle-risch-ästhetische Bereicherung der in den USA entstandenen lite-rarischen Form der Short Stories zu verdanken.
Am 21. Juli 1899 in Oak Park (Illinois/USA) als Sohn eines Arztes und einer Sängerin geboren, wurde er schon als Siebzehnjähriger Redakteur beim „Cansas City Star“. Als Journalist bereiste er viele Länder der Erde, das Geschehen genau beobachtend und darüber spannend berichtend. 1924 begann er seine ersten Kurzgeschich-ten zu veröffentlichen, so den Band „In Our Time“ (deutscher Titel: „In unserer Zeit“). Den Durchbruch zum Erfolg als Schriftsteller er-reichte er 1926 mit „The Sun Also Rises“ (dt. „Fiesta“). Zu Welter-folgen wurden dann 1929 sein antimilitaristischer Roman „A Fare-well to Arms“ (dt. „In einem anderen Land“), 1937 sein sozialkriti-scher Roman „To Have and to Have Not“ (dt. „Haben und Nichtha-ben“) sowie 1940 sein Roman über den spanischen Bürgerkrieg „For Whom the Bell Tolls“ (dt. „Wem die Stunde schlägt“). Und in diese Reihe seiner bedeutendsten literarischen Leistungen gehört nicht zuletzt jene meisterhafte Erzählung, mit der Hemingway 1952 sein Lebenswerk krönte, „The Old Man and the Sea“ (dt. „Der alte Mann und das Meer“).
Ernest Hemingway zählt zu jenen Schriftstellern, die Marcel Reich-Ranicki Lügen strafen, wenn er behauptet, Sport und Literatur sei-en feindliche Brüder. Von seiner frühen Jugend an erwies sich Hemingway schon als leidenschaftlicher Sportler, als er seinen Platz im Football-Team durch hartes Training erkämpfte. Später suchte er die Herausforderung des Abenteuers als passionierter Jäger in der Wildnis und als Angler auf hoher See. Begeistert ver-folgte er die Pferderennen in Paris, ließ er sich von der Stimmung
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bei den Sechstage-Rennen der Radsportler in Berlin hinreißen, wurde er zum Sportflieger. Seine ganz große Liebe galt allerdings dem Boxsport. Er verbrachte nicht nur viele Tage als faszinierter Zuschauer in den Boxsälen Chicagos, sondern lernte selbst das Boxen und stellte sich häufig als Sparringspartner von Profiboxern zur Verfügung. Schon 1916 finden seine Erlebnisse und Erfahrun-gen dieser Zeit in der Kurzgeschichte „Eine Frage der Farbe“ ihre literarische Gestaltung. Überall auf den verschiedensten Stationen seiner Reisen suchte er die Gelegenheit zum Boxkampf, so auch während seines Aufenthalts in Paris, wie der englische Schriftstel-ler Anthony Burgess berichtet: „Jeder in Paris scheint früher oder später von Hemingway zu einer Runde mit den Handschuhen ein-geladen worden zu sein - ausgenommen die beinahe Blinden wie James Joyce, (...)“ oder Frauen. „Er boxte, solange er sich in Paris aufhielt. Das Boxen war der äußere Ausdruck des heftigen inneren Kampfes, der in ihm vorging. Es war ein Kampf darum, einen wah-ren, einfachen Aussagesatz zu schreiben. Hemingway wollte schreiben ohne Rüschen und Schnörkel, (...) durch Worte und Satzbau Gedanken und Empfindungen ebenso mitteilen wie Kör-perlichkeit.“ Boxen war für Hemingway ein Weg zur Selbstfindung und zur Ausprägung seines unverwechselbaren literarischen Stils. Was er erzählt, überzeugt durch Authentizität seiner hautnah erleb-ten und beobachteten Geschichten und durch deren präzise sprachliche Schilderung. Nach einer seiner Short Stories wurde 1947 einer der besten und erfolgreichsten Boxerfilme, „The Killer“, gedreht, für den Hauptdarsteller Burt Lancaster wurde er zum Start seiner steilen Karriere in Hollywood. Und zu den wohl bekanntes-ten Kurzgeschichten über das Boxen zählt „Um eine Viertelmillion“, eine der vierzehn Short Stories aus dem 1958 erschienen Band „Männer ohne Frauen“. (Der nachstehende Auszug beschreibt die entscheidende Szene, den unmittelbaren Kampf im Ring.)
Ernest Hemingway, der seine letzten Lebensjahre auf Kuba ver-bracht hatte, kehrte kurz vor seinem Tod in die USA zurück. Am 2. Juli 1961 starb er in Ketchum (Idaho) durch einen Schuß aus sei-ner eigenen Jagdwaffe, ob durch Selbstmord oder durch Unfall wurde nie restlos geklärt.
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UM EINE VIERTELMILLION1)
(Auszug)
Von ERNEST HEMINGWAY
Der Ringrichter rief sie in die Mitte des Ringes, und Jack geht raus. Walcott kommt lächelnd raus. Sie begegnen einander, und der Ringrichter legt jedem von ihnen einen Arm um die Schultern.
„Hallo, Liebling des Volkes“, sagt Jack zu Walcott.
„Zeig, wer du bist.“
„Warum nennst du dich eigentlich Walcott?“ sagt Jack. „Hast du denn nicht gewußt, daß das ein Nigger war?“
„Aufgepaßt“, sagt der Ringrichter und betet seinen alten Spruch herunter. Einmal unterbricht ihn Walcott. Er packt Jacks Arm und fragt: „Kann ich zuschlagen, wenn er mich so hat?“
„Hände weg“, sagt Jack. „Hiervon gibt's keine Filmaufnahmen.“ Sie gingen beide in ihre Ecken zurück. Ich nahm Jack den Bademantel ab, und er hielt sich an den Seilen und machte ein paar Kniebeu-gen und schlurfte mit den Schuhen im Kolophonium. Der Gong er-tönte, und Jack wandte sich schnell um und ging los. Walcott kam ihm entgegen und sie tauschten einen leichten Handschlag, und sobald Walcott die Hände gesenkt hatte, schwang Jack ihm seine Linke zweimal ins Gesicht. Besser als Jack kann nie jemand ge-boxt haben! Walcott griff die ganze Zeit an; das Kinn hielt er tief auf die Brust gesenkt. Er ist ein Schläger und hält die Hände ziem-lich tief. Alles, was er kann, ist, in Nahkampf gehen und durch-schlagen...
Nach ungefähr vier Runden blutet Walcott heftig, und sein Gesicht ist arg zugerichtet, aber jedesmal, wenn Walcott nah kommt, trifft er Jack so hart, daß er gerade unter den Rippen rechts und links zwei runde Flecken kriegt. Jedesmal, wenn er nah kommt, fängt ihn Jack ab, bekommt eine Hand frei und versetzt ihm einen Up-percut, aber wenn Walcott die Hände frei kriegt, schlägt er Jack ei-ne in die Rippen, daß man es draußen auf der Straße hören kann. Der ist ein Schläger.
So geht es noch drei Runden weiter. Gesprochen wird nichts. Sie arbeiten die ganze Zeit über... Walcott blutet wüst und lehnt seine Nase auf Jacks Schulter, so, als ob er Jack auch was davon abge-ben wolle, und Jack hob seine Schultern irgendwie ganz scharf
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hoch und stieß sie ihm gegen die Nase und landete dann einen Rechten und wiederholte die ganze Sache noch einmal.
Walcott hatte eine Stinkwut. Als sie fünf Runden hinter sich haben, kann er Jack nicht mehr riechen. Jack war nicht wütend, das heißt, er war nicht wütender als sonst. Mein Gott, verekelte der den Ker-len, gegen die er kämpfte, das Boxen! Aus dem Grund haßte er Richie Lewis so. Den Jungen hatte er mit nichts so weit bekom-men...
Nach der siebenten Runde sagt Jack: „Meine Linke wird schwer.“ Von da an kriegte er die Schläge. Man merkte es zuerst nicht. Aber er führte nicht wie bisher den Kampf, sondern jetzt führte Walcott. Jack, der die ganze Zeit überlegen geboxt hatte, war jetzt ständig im Druck. Er konnte Walcott mit der Linken nicht mehr abhalten. Es sah genau so aus wie vorher, nur daß Walcotts Schläge jetzt nicht mehr gerade vorbeigingen, sondern ihn gerade noch trafen. Jack mußte furchtbare Körperschläge einstecken.
„Welche Runde ist dies?“ fragte Jack.
„Die elfte."
„Ich kann's nicht durchstehen“, sagte Jack. „Meine Beine machen nicht mit.“
Walcott hatte ihn gerade eine längere Zeit bearbeitet. Es war wie die Hand eines Baseballfängers, die mit dem Flug des Balles zu-rückgeht und damit die Wucht des Anpralls abschwächt. Von da an begann Walcott schwer zu treffen. Er war wirklich eine Dreschma-schine. Jack versuchte jetzt nur noch alles abzuwehren. Man sah nicht, was für entsetzliche Schläge er einsteckte. Zwischen den Runden bearbeitete ich seine Beine. Die Muskeln zitterten unter meinen Händen die ganze Zeit über, während ich sie rieb. Es ging ihm verflucht dreckig.
„Wie steht es?“ fragte er John und drehte ihm sein ganz ver-schwollenes Gesicht zu.
„Er macht's.“
„Ich glaube, ich kann's durchhalten“, sagte Jack. „Dieser Tsche-chenlümmel soll mich nicht stoppen.“
Es ging gerade so, wie er sich's gedacht hatte. Er wußte, das er Walcott nicht schlagen konnte. Er war nicht mehr stark. Es war trotzdem alles in Ordnung. Sein Geld hatte er in Sicherheit; jetzt wollte er nur noch um seiner selbst willen bis zum Schluß durchhal-ten. Er wollte nicht k.o. geschlagen werden.
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Der Gong ertönte, und wir schoben ihn vorwärts. Er ging langsam vorwärts. Walcott kam direkt hinter ihm raus. Jack landete einen Linken in seinem Gesicht, den Walcott einsteckte; er duckte sich und begann, Jacks Körper zu bearbeiten. Jack versuchte, zu klammern, aber es war genau so, als ob man sich an einer Kreis-säge festhält. Jack machte sich von ihm frei und schlug rechts vor-bei. Walcott erwischte ihn mit einem Linken, und Jack ging zu Bo-den. Er lag auf Händen und Knien und blickte uns an. Der Ringrich-ter begann zu zählen. Jack sah zu uns hin und schüttelte den Kopf. Bei acht gab ihm John ein Zeichen. Man konnte we-gen der toben-den Menge nichts hören. Jack stand auf. Der Ringrichter hatte, während er zählte, Walcott mit einem Arm zurückgehalten.
Als Jack wieder auf den Beinen stand, ging Walcott auf ihn los.
„Paß auf, Jimmy!“ hörte ich Solly Freedman ihm zuschreien.
Walcott kam auf Jack zu, der ihn ansah. Jack stieß ihm die Linke entgegen. Walcott schüttelte nur den Kopf. Er drängte Jack gegen die Seile, maß die Distanz und schlug einen leichten Linkshaken gegen Jacks Schläfe, dann landete er einen Rechten gegen seinen Körper, so stark und so tief er nur konnte. Er muß ihn fünf Zoll un-term Gürtel getroffen haben. Ich glaubte, die Augen würden Jack aus dem Kopf springen. Sie standen weit heraus. Sein Mund öffne-te sich.
Der Ringrichter packte Walcott. Jack stolperte vorwärts. Wenn er zu Boden ging, verlor er 'ne Viertelmillion. Er ging so, als ob alle seine Eingeweide herausfallen würden.
„Es war kein Tiefschlag“, sagte er. „Es war ein Zufall.“ Die Menge tobte, so daß man kein Wort verstehen konnte. „Mir ist nichts“, sag-te Jack. Sie standen direkt vor uns.
Der Ringrichter sieht John an und schüttelt dann den Kopf. „Komm nur, du Polacke, du Scheißkerl“, sagt Jack zu Walcott.
John hielt sich an den Seilen fest. Er hatte ein Handtuch bereit, um es in den Ring zu werfen. Jack stand ein kleines Stück von den Seilen entfernt. Er ging einen Schritt vorwärts. Ich sah, wie der Schweiß auf seinem Gesicht ausbrach, so als ob es jemand ausge-preßt hätte, und ein großer Tropfen rann seine Nase entlang.
„Komm, los, kämpfen“, sagte Jack zu Walcott.
Der Ringrichter sieht John an und winkt Walcott zu.
„Geh los, du feiger Hund!“ sagt er.
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Walcott geht los. Er wußte nicht recht, was er eigentlich machen sollte. Er hatte nie geglaubt, daß Jack das aushalten würde. Jack setzte ihm die Linke ins Gesicht. Es war ein wüstes Geschrei um sie herum. Sie waren direkt vor uns. Walcott traf ihn zweimal. Jacks Gesicht war das Entsetzlichste, was ich je gesehen habe - der Ausdruck drauf! Er hielt sich und seinen ganzen Körper zu-sammen, und man sah das alles auf seinem Gesicht. Die ganze Zeit über dachte er und hielt seinen Körper da zusammen, wo er zermalmt war.
Dann begann er loszuschlagen. Sein Gesicht sah die ganze Zeit über grauenhaft aus. Er ließ die Hände tief herabhängen und schlug wild auf Walcott ein. Walcott ging in Deckung, und Jack schlug wie wild nach Walcotts Kopf. Dann traf ein linker Schwinger Walcott in die Lende, und ein Rechter landete genau dort, wo Wal-cott Jack vorher getroffen hatte. Ganz tief unterm Gürtel. Walcott ging zu Boden, preßte die Hände dagegen und wälzte und wand sich auf der Erde.
Der Ringrichter packte Jack und schubste ihn in seine Ecke. John springt in den Ring. Das Getobe dauert an. Der Ringrichter sprach mit den Punktrichtern, und dann stieg der Sprecher mit dem Mega-phon in den Ring und sagte: „Walcott Sieger durch Disqualifika-tion!“
Der Ringrichter spricht mit John, und er sagt: „Was sollte ich ma-chen? Jack wollte vorher den Tiefschlag nicht wahrhaben. Nach-her, wenn er groggy wird, schlägt er selbst so.“
„Verloren hatte er sowieso“, sagt John.
Jack sitzt auf seinem Stuhl. Ich habe ihm seine Handschuhe aus-gezogen, und er hält sich mit beiden Händen dort unten zusam-men. Wenn er es so stützt, sieht sein Gesicht nicht so entsetzlich aus.
„Geh rüber und sag, daß es dir leid tut“, sagt ihm John ins Ohr.
„Das macht einen guten Eindruck.“
Jack steht auf, und der Schweiß läuft ihm übers Gesicht. Ich lege ihm den Bademantel um, und er preßt die eine Hand unter dem Bademantel gegen seinen Körper und geht durch den Ring. Sie haben Walcott aufgehoben, und sie bearbeiten ihn. Es sind eine Menge Leute in Walcotts Ecke. Niemand spricht mit Jack. Er beugt sich über Walcott.
„Tut mir leid“, sagt Jack. „Wollte gar nicht foul machen.“
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Walcott antwortet nichts. Er sieht jammervoll aus.
„Na, du hast jetzt den Titel“, sagt Jack zu ihm. "Ich hoffe, daß du mächtig viel Spaß davon hast.“
„Laß den Jungen zufrieden“, sagt Solly Freedman.
„Hallo, Solly“, sagt Jack. „Tut mir leid, daß ich gegen deinen Jun-
gen foul gemacht habe.“
Freedman sieht ihn nur so an.
Jack ging mit komisch sprunghaften Schritten in seine Ecke zurück, und wir brachten ihn durch die Seile, durch die Tische der Be-richterstatter durch und über den Gang hinaus. Eine Menge Leute wollten Jack auf die Schulter klopfen. Er geht durch den ganzen Mob hindurch in seinem Bademantel in die Garderobe. Es ist ein volkstümlicher Sieg für Walcott. So war das Geld im Sportpalast gewettet worden.
Als wir erst einmal unten in der Garderobe sind, legt sich Jack hin und schließt die Augen.
„Wir wollen ins Hotel und einen Arzt holen“, sagt John.
„Ich bin innen ganz kaputt“, sagt Jack.
„Tut mir verdammt leid, Jack“, sagt John.
„Ist schon gut“, sagt Jack.
Er liegt da mit geschlossenen Augen.
„Die wollten einen schön reinlegen", sagte John.
„Deine Freunde Steinfelt und Morgan“, sagte Jack. „Schöne
Freunde hast du.“
Er liegt da und hat die Augen jetzt offen. Sein Gesicht hat immer noch den schrecklich entstellten Ausdruck.
„Komisch, wie schnell man plötzlich denken kann, wenn es sich um soviel Geld dreht“, sagt Jack.
„Du bist schon ein Kerl, Jack“, sagt John.
„Nein“, sagt Jack, „war nicht der Rede wert.“
(Übersetzung Annemarie Horschitz-Horst)
1) Die Erzählung erschien 1938 unter dem Titel „Fifty Grand".
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Friedrich Ludwig Jahn und
das Turnen in Mecklenburg-Strelitz
Von GERHARD GRASMANN
Die Verdienste Friedrich Ludwig Jahns um die Entwicklung des Turnwesens in Mecklenburg-Strelitz standen im Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Konferenz, die am 26. September 1998 Sport-historiker und Hobbyforscher nach Neubrandenburg führte. Den Anlaß bildete die 750-Jahrfeier der Stadt am Tollense-See. Als Veranstalter traten der Landesheimatverband Mecklenburg--Vorpommern, das Institut für Sportwissenschaft der Emst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald sowie die Arbeitsgruppe „Turn- und Sportgeschichte" beim Landessportbund Mecklenburg-Vor-pommern gemeinsam auf. Rund 30 Teilnehmer erlebten interes-sante Referate und Diskussionen.
In einem ersten Beitrag gab Dr. VOß (Neubrandenburg) einen Überblick über die Geschichte Neubrandenburgs um 1800. In den Jahren 1802/03 bis 1804 war Jahn in dieser Stadt nach Studien an den Universitäten Halle/Saale, Frankfurt/Oder und Greifswald als Hauslehrer beim Baron Le Fort tätig. Mit den ihm anvertrauten Zög-lingen und weiteren Kindern und Jugendlichen betrieb er Körper-übungen am Tollense-See und in den Brodaer Bergen. Dr. GRASMAN und Prof. Dr. HINSCHING (beide Greifswald) befaßten sich mit einer wissenschaftstheoretischen Interpretation des Le-bens und Wirkens Jahns. Dr. GRÜNWALD (Neubrandenburg) be-handelte in seinem Hauptreferat die Einflußnahme des „Turnva-ters" auf die Entwicklung des Turnwesens in Mecklenburg-Strelitz. Die Turnplatzgründungen in Friedland, Neustrelitz und Neubran-denburg in den Jahren 1814/15 und deren aktiver Betrieb wurden durch Jahn und seine Mitstreiter in der Berliner Hasenheide inten-siv unterstützt. Mit dem „Friedländer Turnalbum", das von 1814 bis 1879 geführt wurde, stellten Dr. JERAN (Greifswald) und W. BARMEL (Friedland) ein einzigartiges Dokument deutscher Turngeschichte vor. Das Album wird gegenwärtig transkribiert und soll kommentiert verlegt und somit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. E. KUNZE (Bielefeld) berichtete über die sogenannten „Stammbucheintragungen" bei Jahn, die auf die „Vernetzung" viel-fältiger Bekanntschaften hinweisen und einen interessanten For-
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schungsansatz bilden. In die gleiche Richtung deutete der Beitrag von Prof. Dr. MELCHERT (Potsdam), der über die Burschenschafter aus Mecklenburg-Strelitz im persönlichen Umfeld von Jahn referier-te. Prof. Dr. FROST (Halle) informierte im Zusammenhang mit der inhaltlichen Umgestaltung des Jahn-Museums in Freyburg a.d. Un-strut über die stärkere Berücksichtigung des Wirkens von Friedrich Ludwig Jahn im mecklenburgischen Raum. Schließlich brachte Prof. Dr. MELCHERT (Potsdam) den Anwesenden in einem Video das Dorf Lanz in der Prignitz, den Geburtsort Jahns, näher.
Den Abschluß der Konferenz bildete ein gemeinsamer Spazier-gang auf den Krähenberg über dem Ufer des Tollense-Sees, dem Ort, wo Jahn erste Körperübungen praktiziert hatte. Es war gewis-sermaßen ein Gang an die „Wiege des Turnens" in Deutschland. Ein Stein auf dem Krähenberg, den der Neubrandenburger Turn-verein 1928 anläßlich des 150. Geburtstages von Jahn aufstellen ließ, trägt die Inschrift: „Hier schuf Jahn das deutsche Turnen. An dieser Stätte bildete er zuerst deutsche Jugend. 1802 - 1804." Fachleute mögen über die Tragfähigkeit dieses Anspruchs befin-den.
Die Veranstalter der Konferenz beabsichtigen, die Referate in ei-nem Berichtsband zu veröffentlichen. 1999 soll in Greifswald eine weitere Konferenz stattfinden. Sie wird den Ergebnissen Jahnschen Wirkens in Vorpommern gewidmet sein.
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GEDENKEN
RUDI GLÖCKNER
Fußball war sein Leben. Er war ein begeisterter Fußballer, spielte aktiv bei der ZSG „Glück Auf“ Markranstädt und später bei der BSG „Rotation 1950“ Leipzig. Eine Verletzung beendete 1953 - 24jährig - seine Zeit als Spieler. Dem Fußball aber blieb er eng verbunden. Noch im gleichen Jahr legte er seine Schiedsrichterprüfung ab und widmete sich voll und ganz dieser neuen Aufgabe. Sein Grundsatz war: Schiedsrichter sein ist kein „Hobby“; Schiedsrichter sein, heißt, Liebe zu dieser Aufgabe mitbringen, klare Vorstellungen ha-ben, zielbewußt an sich selbst arbeiten, vor allem aber jederzeit gerecht urteilen und Konsequenz gegenüber jedermann zeigen. Auf diesem oftmals nicht einfachen Weg wurde er stets verständ-nisvoll von seiner Familie, vor allem von seiner Frau Suse, beglei-tet. Die Familie war sein Ruhepol.
Sein Bestreben, stets den Spielgedanken zu fördern, den „spielen-den“ Aktiven zu schützen und den nur den Gegner bekämpfenden „Zerstörer“ in die Schranken zu weisen, trug ihm national und inter-national hohes Ansehen ein. Er war keiner, der ein Spiel „pfiff“, er verstand sich stets auch als „Erzieher“ im Sinne des Fair play und er war vor allem Partner. Diese hohen Forderungen an sich selbst machten seine Persönlichkeit aus.
1959 leitete er als 30jähriger sein erstes Spiel in der DDR-Oberliga. Die BSG Chemie Zeitz traf auf die BSG Motor Zwickau. Es war auch unsere erste Begegnung; ich war damals Mannschaftsleiter der Zwickauer. Wir verloren dieses Spiel glatt mit 3:0, aber ich er-innere mich noch gut an den jungen konsequenten aber nie über-heblichen Schiedsrichter. Damals ahnten wir beide nicht, wie eng und freundschaftlich sich unser Verhältnis entwickeln sollte und welchen langen Weg wir gemeinsam gehen würden.
Beim Spiel Vojvodina Novi Sad gegen Herakles Saloniki im Jahr 1961 konnte er seine moderne Spielauffassung erstmals internati-onal unter Beweis stellen. 1964 wurde er in die Schiedsrichter-kommission unseres Verbandes berufen und im gleichen Jahr von der FIFA als Schiedsrichter beim Olympischen Fußballturnier in Tokio eingesetzt. Am 15. Dezember 1964 erhielt er das FIFA-Abzeichen für internationale Schiedsrichter.
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Kein Geringerer als einer der besten Fußballer Europas, der Hol-länder Johan Cruijff sagte einmal: „Meine erste Begegnung mit Ru-di Glöckner war eine Lehre für mich.“ Am 6. November 1966 leitete Rudi Glöckner das Länderspiel Niederlande gegen CSSR im Olympiastadion von Amsterdam. Wenige Minuten nach dem Anpfiff stellte er den „Star“ der Niederländer und vergötterten Liebling des Publikums Johan Cruijff wegen einer Tätlichkeit vom Platz. Die Zu-schauer gebärdeten sich wie wild, doch Glöckners Leistung und seine konsequente Entscheidung fand nicht nur in Fachkreisen ho-he Anerkennung. Wenige Tage nach diesem Spiel erhielt er einen Brief von Herrn Reinders aus Amsterdam, einem holländischen Zuschauer: „Sehr geehrter Herr Glöckner, es ist mir ein Bedürfnis Ihnen zu schreiben, weil ich mich für das abscheuliche Benehmen meiner Landsleute schäme. Viele meiner Kollegen und Schüler - ich bin Deutschlehrer an einer Amsterdamer Realschule - hatten nichts als Lob für Ihre ausgezeichnete Leistung. Ich möchte, daß Sie wissen, daß die wahren Fußballfreunde in Holland fest hinter Ihnen stehen.“
Als erster Schiedsrichter aus den Reihen des DFV der DDR wurde er durch die FIFA für die Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko no-miniert. Der damalige FIFA-Präsident Sir Stanley Rous bekannte: „Ich habe Herrn Glöckner als Schiedsrichter für das Finale vorge-schlagen, weil ich auch in der Nacht vor diesem entscheidenden Spiel gut und ruhig schlafen wollte.“
Dieses Vertrauen wurde von Rudi Glöckner nicht enttäuscht. Er lei-tete das Finale zwischen Brasilien und Italien vor über 100.000 Zu-schauern im Azteken-Stadion von Mexico-City in seiner sachlichen und konsequenten Art. Die logische Folge war, daß er von der FIFA für das Olympische Fußballturnier 1972 und die Fuß-ball-Weltmeisterschaft 1974 und von der UEFA für die Endrunde der Fußball-Europameisterschaft 1972 eingesetzt wurde.
Ungeachtet dieser hohen Aufgaben blieb er der Jugend und dem Nachwuchs eng verbunden. Es war für ihn „Ehrensache“ unmittel-bar nach seiner Rückkehr aus Mexiko 1970 das Endspiel der Schü-lermannschaften bei der Kinder- und Jugendspartakiade in Berlin zu leiten.
Zielstrebigkeit und Besonnenheit zeichneten ihn auch als Ge-schäftsführer des Bezirksfachausschusses Fußball in Leipzig und als Organisator großer Fußballereignisse aus. Bei den
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UEFA-Juniorenturnieren 1969 und 1980 sorgte er für einen rei-bungslosen Verlauf und für manch schönes Erlebnis für die jungen Fußballer außerhalb des Spielfeldes. Bei zahlreichen Länderspie-len im Zentralstadion von Leipzig war er der ruhende Pol und im-mer der Mann des Vertrauens.
Seine Erfahrungen und sein Engagement wurden hoch geschätzt, sowohl als Vorsitzender der Internationalen Kommission und spä-ter der Schiedsrichter-Kommission des DFV der DDR und dann auch als Mitglied der Schiedsrichter-Kommission der UEFA, in die er 1978 berufen worden war. Das brachte UEFA-Präsident Dr. Ar-temio Franchi beim UEFA- Kongreß l982 in Dresden zum Aus-druck: „Rudi Glöckners Meinung wird in der UEFA-Schiedsrichter-Kommission hoch geschätzt, weil jeder weiß, daß er ein großartiger Schiedsrichter war.“
Insgesamt leitete Rudi Glöckner 1165 Spiele, davon 108 internati-onale. Das waren 24 A-Länderspiele, 42 Europapokalspiele - da-runter 5 Endspiele in den Europapokal-Wettbewerben, 1 Weltpo-kal-Endspiel, 1 Supercup-Finale und jenes schon erwähnte Welt-meisterschafts-Endspiel. Seine Verdienste wurden mit Auszeich-nungen, wie „Verdienter Meister des Sports“ oder der „Verdienst-medaille der DDR“, anerkannt.
Wir haben ihm für vieles zu danken!
Günter Schneider
Dieter Kabisch
(19.1.1931 - 20.2.1999)
Auf dem Waldfriedhof in Kleinmachnow trafen sich am 5. März vie-le Freunde des Verstorbenen aus Sportmedizin und Sportwissen-schaft, um Dieter Kabisch die letzte Ehre zu erweisen. Sie betrau-erten einen Arzt, der seit dem 1. September 1963, als der Sport-medizinische Dienst der DDR gegründet wurde, dessen Bereich Volkssport verantwortlich leitete. Seine fachliche Kompetenz war Anlaß, ihm auch nach dem Anschluß der DDR eine entsprechende Position im Landesinstitut für Sportmedizin Berlin-Ost zu übertra-gen.
Dieter Kabisch kam aus Leipzig nach Berlin, weil er aus gesund-heitlichen Gründen nicht mehr als Facharzt für Frauenheilkunde tä-
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tig sein konnte. Für die mit der Gründung des SMD sich fachlich profilierende Sportmedizin der DDR war dieser Wechsel ein großer Gewinn. Auch der von Dieter Kabisch übernommene Leitungsbe-reich Volkssport bedurfte der sachkundigen ärztlichen Einflußnah-me, um den vielfältigen Aufgaben und Anliegen gerecht zu werden: Schulsport, Sport in Betrieben und Wohngebieten sowie Versehr-tensport umreißen das weite Feld, auf dem sportmedizinische Kompetenz zum Tragen kam.
Das Buch „Schulsportbefreiung“, von Dieter Kabisch gemeinsam mit Arno Arnold geschrieben, trug dazu bei, in Kooperation mit der Volksbildung ein Problem zu lösen, das Iange Zeit einer universa-len geistigen und körperlichen Ausbildung aller Schüler entgegen-stand. Es gelang Dieter Kabisch und seinen Mitarbeitern, die ärzt-liche Betreuung der Kinder- und Jugendspartakiaden sowie der Turn- und Sportfeste des DTSB so optimal zu organisieren, daß keine schwerwiegenden gesundheitlichen Komplikationen zu ver-zeichnen waren. Die bei derartigen sportlichen Massenveranstal-tungen gesammelten ärztlichen Erfahrungen wurden allgemeingül-tig publiziert und dokumentieren somit das Anliegen der DDR-Sportmedizin in einem wichtigen Teilbereich und die internationale Ausstrahlung. 214 Kreissportärzte wurden von Dieter Kabisch an-geleitet und setzten das um, was durch fachliche Analyse als opti-maler Standard anzusehen war.
Jeder, der mit Dieter Kabisch Kontakt bekam, lernte bald seine fachliche Kompetenz und die klare Formulierung von Anliegen und Auftrag ohne irrelevante Phrasen schätzen. Die von ihm ausge-hende Ausstrahlung, die jeden Mitarbeiter motivieren konnte, hatte ihre Basis in freundlicher Verbindlichkeit, charakterlicher Lauterkeit und großem fachlichen Können.
In den Redaktionskollegien von drei wissenschaftlichen Zeitschrif-ten, nämlich „Medizin und Sport“, „Theorie und Praxis der Körper-kultur“ sowie „Körpererziehung“, bereicherte sein Fachwissen die inhaltliche Gestaltung bezüglich sportmedizinisch-praktischer Rele-vanz und wissenschaftlicher Aussage. Ratschläge von Dieter Kabisch waren stets uneigennützig, immer ehrlich gemeint und meistens richtig.
Die Tragik, wichtige Bestandteile seines Lebenswerkes nicht wei-tergeführt zu sehen, blieb nach Eingliederung der DDR in die Bun-desrepublik Deutschland auch Dieter Kabisch nicht erspart. Wohl
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übernahm man ihn bis zum Erreichen des Rentenalters in die Lei-tung des Landesinstituts für Sportmedizin Berlin-Ost. Die Vorzüge des DDR-Systems der sportmedizinischen Betreuung waren aber in das als einig Vaterland deklarierte Gesamtgebilde nicht integ-rierbar, obwohl sie von kompetenten Sportmedizinern der originä-ren BRD als wertvolle Substanz anerkannt wurden. Hierzu äußerte der Verstorbene mit Bitternis: „Wir sind, was die Sportmedizin an-belangt aus der Zukunft in die Vergangenheit zurückkatapultiert worden. Und keiner interessiert sich dafür, was in der Zukunft ge-wesen ist.“
In einer inhaltlich und rhetorisch bewegenden Grabrede gedachte Prof. Dr. Siegfried Israel unseres Weggefährten Dieter Kabisch, dessen Lebensleistung es verdiente, auch für die Zukunft erhalten und in der sportmedizinischen Praxis wirksam zu bleiben.
Andrzej Wohl
Der in der internationalen Sportwissenschaft und Sportsoziologie der letzten fünf Jahrzehnte bekannte und bedeutende polnische Wissenschaftler Prof. Dr. habil. Andrzej Wohl ist am 1. September 1998 nach einer schweren Erkrankung im Alter von 87 Jahren in Warszawa verstorben.
Mit ihm hat vor allem die Sportsoziologie einen hervorragenden Theoretiker und Hochschullehrer verloren, der sich durch sein jahr-zehntelanges Wirken an der Polnischen Akademie für Körpererzie-hung und auf dem Feld der internationalen Zusammenarbeit große Verdienste erworben hat.
A. Wohl gehörte zu den polnischen Akademikern, die geprägt durch Wissen, Geschichte und politische Erfahrungen sowohl eine enge Bindung zum eigenen Volk als auch eine bewußte Haltung als Internationalist mit sozialistisch-humanistischer Gesinnung ver-körpern. Sein wissenschaftliches Credo sah er stets in der Verbin-dung von Theorie und Empirie, und er verstand die Soziologie des Sports als Soziallehre in ihrer breiten Anwendung auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport als gesellschaftliche Erscheinung im kulturtheoretischen Sinne.
Andrzej Wohl hinterläßt in diesem sozialwissenschaftlichen Bereich vor allem deshalb eine Lücke, weil er in sehr konstruktiver Weise
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den philosophischen Paradigmenansatz von logischem und dialek-tischem Zusammenhang zwischen der Mikro- und Makrosphäre sozialer Erscheinungen auf die Sportwissenschaft zu übertragen verstand und damit neue Zusammenhänge und Verflechtungen der Körperkultur und des Sports deutlich machen konnte.
Er trug dazu bei, den platten Empirismus auch in der Sportsoziolo-gie in Frage zu stellen und ad absurdum zu führen, wie auch Theo-riegebilde für die Klein- und Kleinstgruppenforschung, da sie zu-meist den Bezug zu sozialen Zusammenhängen mißachteten. Sein wissenschaftliches Gesamtwerk war durchgängig geprägt vom Leitgedanken des großen französischen Philosophen Rene Descartes „de omnibus dubitandum“ als „an allem ist zu zweifeln“, aber genauso auch von den Ideen und wissenschaftlichen Über-zeugungen von Karl Marx, wonach die Welt und ihre Erscheinun-gen erkennbar und veränderbar sind und der Mensch Subjekt sei-ner selbst ist.
Andrzej Wohl hat als Mitbegründer des „Internationalen Komitees für Sportsoziologie“ 1964 und als deren erster Präsident sein Wis-sen und Können, die Kraft seiner ganzen Persönlichkeit eingesetzt und unermüdlich dafür gewirkt, damit die Sportsoziologie internati-onal als eine theoretisch fundierte und praktisch aussagekräftige Wissenschaftsdisziplin anerkannt wird.
Aus der Vielzahl seiner Publikationen soll hier die in deutscher Sprache erschienene „Soziologie des Sports“ (1981) hervorgeho-ben werden, die von F. Gras (Leipzig) redigiert und von Sven Gül-denpfennig, (damals Berlin-West) fachwissenschaftlich bearbeitet wurde. Dieses bedeutende Buch war für die Sportsoziologie als junge Wissenschaftsdisziplin wie ein Standardwerk, es drückte an Breite aus, was Sportsoziologie sein kann und muß, wie die Bezie-hungsvielfalt zwischen den individualen und sozialen Erscheinun-gen gesehen werden kann und welche Weite des Spektrums mög-lich erscheint. In seinem Betrachtungskontext bezieht er neben sport-und kulturtheoretischen Aspekten anthropologische und his-torische Wurzeln mit ein.
Eine wesentliche Seite seines publizistischen Schaffens war die Verantwortung als Chefredakteur der Fachzeitschrift „International Review of Sport Sociology“. Die Vierteljahreszeitschrift entwickelte er mit einem hohen Anspruchsniveau. Sie erwarb sich weltweit ei-nen guten Ruf und wurde zu einem unverzichtbaren Begleiter von
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Lernenden und Lehrenden in der Sportsoziologie. Insofern hat die „Review“ die internationale Anerkennung der Sportsoziologie als Disziplin der Sportwissenschaft und der Soziologie wesentlich be-fördert.
A. Wohl hat als Hochschullehrer der Polnischen Akademie für Kör-pererziehung AWF in Warszawa dem Ruf dieser hohen Schule der Sportwissenschaft durch Veranstaltung wissenschaftlicher Semina-re, internationaler Konferenzen und Beratungen des Internationa-len Komitees viel Gutes hinzugefügt. Mehr als vier Jahrzehnte zählte sein Wirken als Hochschullehrer. An der DHfK in Leipzig, an der Kölner Sporthochschule und an vielen Unversitätsinstituten in der DDR und in der BRD hielt er Gastvorlesungen und stellte sich der wissenschaftlichen Diskussion.
Wir als deutsche Sportwissenschaftler erinnern uns gern an viele Gemeinsamkeiten in der Arbeit, an Begegnungen in Seminaren und Kolloquien, an Streitgespräche über neue Ideen und Wege sportsoziologischer Lehre und Forschung und über sportpolitische Problemstellungen. Wir hatten ihn schon seit den fünfziger Jahren als einen aufrichtigen Freund und Mitstreiter kennen- und achten gelernt. An der DHfK konnte er sich wie „zu Hause“ fühlen und er dankte es durch aufgeschlossene Mitwirkung und verständnisvolle Kritik
Aber noch eine Seite seiner Persönlichkeit sei hier genannt, viel-leicht die wichtigste in seinem Leben. Im Kampf um den gesell-schaftlichen Fortschritt hat er sich nie geschont und hat viel Schwe-res erlebt.
Er hat die wechselvolle polnische Geschichte mit ihren leidvollen Erfahrungen als Jude und polnischer Patriot in den Jahren der fa-schistischen Besetzung, des Krieges und schließlich auch in Work-uta selbst bestehen müssen. Als charakterstarker Mensch blieb er ein überzeugter Marxist und Anhänger Lenins, das war seine eige-ne Maxime. Nur unter guten Freunden sprach er über diese Zeiten, diese „Schule der Not und des Charakters“, wie er es einmal in ei-nem Gespräch über diese Jahre ausdrückte.
Aber mehr sprach er über seine Visionen, eine Welt sozialer Ge-rechtigkeit für alle Menschen. Seinen Glauben daran hat er niemals aufgegeben, obwohl die sozialen Einbrüche der letzten Jahre ihn tief berührt haben. Dennoch blieb er Realist, und er verstand es, die
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komplizierten sozialen und politischen Verhältnisse und Kräftegrup-pierungen scharf zu analysieren.
Indem er in der Arbeit und im Kampf für sozialistische Ideale hohe Anforderungen an sich selbst stellte, war er auch unter vielen Freunden und im Kollegenkreis geachtet, wie auch gefürchtet bei Karrieristen und Kleingeistern.
Andrzej Wohl hat als aufrichtiger Mensch und Wissenschaftler und als politisch in den Kämpfen dieses Jahrhunderts geprägte Persön-lichkeit immer das Beste für sein Land gewollt und mit seinen Mög-lichkeiten Großes getan. Internationalistische Haltung war ihm Her-zenssache und seine Überzeugung brachte er im Sinne von Rosa Luxemburg ein, respektvoll, nie opportunistisch.
Wir deutschen Sportwissenschaftler haben Andrzej Wohl viel zu danken. Er war ein guter Mittler zwischen Polen und dem fort-schrittlichen Deutschland. Indem wir seinen Gedankenreichtum nutzen und kritisch verarbeiten, wie er es wollte, werden wir ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.
Günter Erbach und Fred Gras

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 9/ 1999
INHALT:
DISKUSSION/DOKUMENTATION
Individualisierung und Sport. Oder: Die privatisierten In-dividuen im Sport?
KlausRohrberg 4
Zur Entwicklung des Leistungssports in der DDR – An-merkungen zur Abhandlung von RITTER
Karsten Schumann und Heinz Schwidtmann 31
Die Butterpakete vom Landrat in Stadtroda
Klaus Huhn 46
ZITATE
Doping - Ich würde es jederzeit wieder tun 52
Das Thema Spartakiade war nicht gefragt 55
Staatsmetall 56
System gesprengt 58
„...ideologische Tünche“ 59
JAHRESTAGE
Vor 55 Jahren - Werner Seelenbinder hingerichtet
Der Blick über die Welt hin...
Stephan Hermlin 60
Zum 250. Geburtstag Johann Wolfgang Goethes
Gespräch mit Günter Witt 61
REPORTAGE
Wismarer Empfehlung: An die Jugend denken!
Otto Jahnke 65
REZENSIONEN
Alltagssport in der DDR
Fred Gras 69
Willibald Gebhardt - Pionier der Olympischen Bewegung
Joachim Fiebelkorn 75
Vor 50 Jahren. Ein Verband - zwei Geschichten
Margot Budzisch 76
2
...zur Geschichte von Wandern und Bergsteigen in der Säch-sischen Schweiz Teil 1 und Teil 2
Edelfrid Buggel 77
Aus dem Verein: „Aufarbeitung“ München 1972 82
LESERBRIEF
„...mit vollen Hosen ist gut stinken“ 92
GEDENKEN
Rudi Reichert
Klaus Eichler 96
Werner Schiffner
Gustav-Adolf Schur 98
3
DIE AUTOREN
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theo-rie der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994.
EDELFRID BUGGEL, Dr. paed. habil., geboren 1928, Honorarprof. für Freizeit- und Erholungssport an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1967 bis 1990,
KLAUS EICHLER, geboren 1939, Chemie-Ingenieur, Vizepräsident des DTSB 1984 bis 1988, Präsident des DTSB 1988 bis 1990.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
FRED GRAS, Dr. paed. habil., geboren 1927, Prof. für Sportsozio-logie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) 1979 bis 1990.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der DVS.
OTTO JAHNKE, geboren 1924, Pressereferent im Landessport-ausschuß Mecklenburg von 1950 bis 1952, Redakteur „Deutsches Sportecho“ von 1952 bis 1986.
KLAUS ROHRBERG, Dr. sc. paed., geboren 1932, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der Pädagogischen Hochschule Zwickau und der Universität Chemnitz/Zwickau von 1985 bis 1994.
KARSTEN SCHUMANN, Dr. paed., geboren 1963, Absolvent der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig.
GUSTAV-ADOLF SCHUR, geboren 1931, Weltmeister im Radsport - Straßeneinzelrennen 1958 und 1959.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) und am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) 1970 bis 1990, Rektor der DHfK 1963 bis 1965.
GÜNTER WITT, Dr. phil. habil., geboren 1925, Prof. für Kulturtheo-rie und Ästhetik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) 1982 bis 1990.
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972.
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DISKUSSION/DOKUMENTATION
Individualisierung und Sport. Oder: Die
privatisierten Individuen im Sport?
Von KLAUS ROHRBERG
Das Individualisierungstheorem, wie es am nachdrücklichsten von U. BECK1) vertreten wird, stellt einen heute in der Soziologie weit verbreiteten und akzeptierten Erklärungsansatz für Prozesse des gesellschaftlichen Wandels dar. „Individualisierung“ wird nach dem Verständnis der Modernisierungstheorie als ein zentraler Trend in modernen Gesellschaften bezeichnet.2) Auch von einigen Sportso-ziologen wurde die Individualisierungsthese aufgegriffen, der Be-schreibung und Erklärung beobachtbarer Veränderungen im Sport zugrundegelegt und Konsequenzen von Individualisierungspro-zessen für die Sportentwicklung diskutiert.3)
In diesem Beitrag möchte ich vor allem die Überlegungen von BETTE4) zum Zusammenhang von Individualisierung und Sport aufgreifen und kritisch hinterfragen und die Tragfähigkeit des Indi-vidualisierungstheorems für die Erklärung des Wandels im Brei-tensport kritisch hinterfragen. Dazu erscheint es mir zuvor als not-wendig, auf die Individualisierungsthese von BECK, vor allem auf seine Auffassung zum Wesen, zu den Ursachen und zu den Fol-gen von Individualisierungsprozessen für die Individuen einzuge-hen und diese unter Einbeziehung der Auffassungen von MARX zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu diskutieren.
1. Das Individualisierungstheorem bei BECK. Begriff, Ursa-chen und Folgen der Individualisierung
„Individualisierung“ wird von BECK als ein historisch widerspruchs-voller Prozeß der Vergesellschaftung6) innerhalb moderner Gesell-schaften charakterisiert und bedeutet einerseits die Freisetzung der Individuen aus traditionalen sozialen Bindungen und Herr-schaftsformen und damit verbunden die Eröffnung neuer Ent-scheidungs- und Handlungsspielräume für die Individuen bei ande-rerseits zugleich gegebenen gesellschaftlichen Zwängen zu selb-ständigen Entscheidungen und neuen institutionalen Einbindun-gen.7) BECK/BECK-GERNSHEIM betonen dabei, daß der Begriff „In-dividualisierung“ nicht einen Vorgang kennzeichnet, der bereits die
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gesamte Bevölkerung erfaßt habe, sondern vielmehr als eine Trendaussage verstanden werden müsse.8)
Sie räumen zunächst auch richtigerweise ein, daß Individualisie-rung historisch gesehen keine völlig neue Erscheinung darstellt. Gerade im Zusammenhang mit der Frage nach den Ursachen für Individualisierungsprozesse sei hier darauf verwiesen, daß sich auch im Historischen Materialismus wiederholt Hinweise darauf finden, daß seit dem Ende der Sklavenhaltergesellschaft jede hö-her entwickelte Produktionsweise und Gesellschaftsform mit einer relativen Freisetzung der Individuen aus traditionalen Bindungen einherging, was allerdings insbesondere für den Übergang zur ka-pitalistischen Produktionsweise und die damit verbundene „Schaf-fung des freien Lohnarbeiters“9) zutrifft. BECK/BECK-GERNSHEIM sehen das Neue in der „Individualisierung“ innerhalb moderner Gesellschaften erstens darin, daß alle Bevölkerungsgruppen von diesem Vorgang erfaßt werden und, zweitens, daß moderne Ge-sellschaften Individualisierung nicht nur ermöglichen und fördern, sondern den Individuen auch abfordern. „Das historisch Neue be-steht darin, daß das, was früher wenigen zugemutet wurde - ein eigenes Leben zu führen -, nun mehr und mehr Menschen, im Grenzfall allen, abverlangt wird. Das Neue ist erstens die Demo-kratisierung von Individualisierungsprozessen und zweitens (eng damit zusammenhängend) die Tatsache, daß Grundbedingungen der Gesellschaft Individualisierung begünstigen bzw. erzwingen (Arbeitsmarkt, Mobilitäts- und Ausbildungsanforderungen, Arbeits- und Sozialrecht, Rentenvorsorge etc.): die institutionalisierte Indi-vidualisierung.“10) Diese Aussage enthält einen Hinweis darauf, worin BECK/BECK-GERNSHEIM die Ursachen für die Individualisie-rung sehen, und zwar - mit anderen Worten gesagt - in den histo-risch gegebenen ökonomischen und sozialen Verhältnissen, den damit verbundenen Problemen und den auf diese Probleme hin er-folgenden politischen Reflexionen und Lösungsversuchen, wie sie sich gegenwärtig in Deutschland am Beispiel der als Reformen deklarierten Entscheidungen bzw. Bestrebungen zu Veränderun-gen in den Bereichen Steuern, Renten und Gesundheit exempla-risch zeigen und die letztendlich auf eine Zurücknahme gesell-schaftlicher Vorsorge sowie eine Erhöhung der individuellen Selbstverantwortlichkeit und -vorsorge bei gleichzeitiger Verstär-kung von sozialen Ungleichheitsrelationen hinauslaufen, also „In-
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dividualisierung“ zwangsläufig befördern. An anderer Stelle nennt BECK den „Arbeitsmarkt“ einen Motor der Individualisierung. „Die bürgerliche Individualisierung beruhte im wesentlichen auf Kapital-besitz und entwickelte ihre soziale und politische Identität im Kampf gegen die feudale Herrschafts- und Rechtsordnung. In der Bundesrepublik bricht demgegenüber eine Arbeitsmarkt-Individualisierung hervor, die sich in Ausbildung, Anbietung und Anwendung von Arbeitskompetenzen entfaltet.“11) Diesen Gedan-ken entwickelt BECK anhand der arbeitsmarktbezogenen Teilkom-ponenten Bildung (als Zugangs- und Aufstiegsvoraussetzung), Mobilität (als vom Arbeitsmarkt erzwungene Herauslösung der Le-bensläufe aus traditionalen Bahnen) und Konkurrenz (als Zwang, „die Besonderheit und Einmaligkeit der eigenen Leistung und Per-son zu inszenieren“12)) weiter. Damit begibt sich BECK durchaus in die Nähe der Kritik von MARX an der kapitalistischen Gesellschaft, ohne an dieser Stelle darauf Bezug zu nehmen. Denn MARX und ENGELS stellten fest: „Die Konkurrenz isoliert die Individuen, nicht nur die Bourgeois, sondern noch mehr die Proletarier gegeneinan-der, trotzdem daß sie sie zusammenbringt.“ Und sie verwiesen da-rauf, daß die „isolierten Individuen“ in Verhältnissen leben, „die die Isolierung täglich reproduzieren“.13)
Nach BECK hat der Prozeß der Individualisierung verschiedene Folgen. Als Freisetzung aus traditionalen Bindungen und Auflö-sung traditionaler Lebensverläufe eröffnet Individualisierung im Zusammenhang mit der Wohlstandsanhebung in modernen Ge-sellschaften erstens erweiterte Möglichkeiten für die Selbstverwirk-lichung und Selbstbestimmung der Individuen. Diese Möglichkeits-spielräume, die die moderne Gesellschaft bietet, decken sich nach BECK mit den Bedürfnissen und Wünschen der Individuen. „Empi-risch findet die Rede von Individualisierung ihre Rechtfertigung in vielen (quantitativen) Interviews und Untersuchungen. Diese ver-weisen auf ein zentrales Anliegen, nämlich den Anspruch auf ein eigenes Leben, die Verfügung über eigenes Geld, eigene Zeit, ei-genen Wohnraum, den eigenen Körper usw., kurz: Perspektiven einer persönlich-biographischen Lebensführung zu entwickeln und umzusetzen.“14) Zweitens hat die Eröffnung neuer Entscheidungs- und Handlungsspielräume nach BECK eine Kehrseite: Die Lebens-bedingungen in modernen Gesellschaften erzwingen auch Indivi-dualisierung, sie fordern das Individuum geradezu auf, sich als In-
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dividuum zu konstituieren.15) „Die Antwort, auf die zweite Seite von Individualisierung verweisend, heißt schlicht: In der modernen Ge-sellschaft kommen auf den einzelnen neue institutionelle Anforde-rungen, Kontrollen und Zwänge zu. Über Arbeitsmarkt, Wohl-fahrtsstaat und Bürokratie wird er in ein Netz von Regelungen, Maßgaben, Anspruchsvoraussetzungen eingebunden. Vom Ren-tenrecht bis zum Versicherungsschutz, vom Erziehungsgeld bis zu den Steuertarifen: all das sind institutionelle Vorgaben mit dem be-sonderen Aufforderungscharakter, ein eignes Leben zu führen.“16) Dieses Angewiesensein auf sich selbst in der modernen Gesell-schaft bringen BECK/BECK-GERNSHEIM noch deutlicher zum Aus-druck, indem sie feststellen: „Die meisten Rechte, Anspruchsvo-raussetzungen für Unterstützungsleistungen des Wohlfahrtsstaats sind, wie gesagt, auf Individuen zugeschnitten, nicht auf Familien. Sie setzen in vielen Fällen Erwerbsbeteiligung (oder im Falle der Arbeitslosigkeit, Erwerbsbereitschaft) voraus, alles Anforderungen, die nichts befehlen, aber das Individuum dazu auffordern, sich ge-fälligst als Individuum zu konstituieren: zu planen, zu verstehen, zu entwerfen, zu handeln - oder die Suppe auszulöffeln, die es sich im Falle seines ‘Versagens’ dann selbst eingebrockt hat. Der Sozial-staat ist derart eine Versuchsanordnung zur Konditionierung ich-bezogener Lebensweisen.“17) Und drittens bedeutet Individualisie-rung für den Einzelnen zugleich, erhöhte Lebensrisiken eingehen zu müssen. Aus vorgegebenen Normalbiographien werden nach BECK so zunehmend „Bastelbiographien“ oder auch „Risikobiogra-phien“, „Drahtseilbiographien“ und gegebenenfalls „Bruchbiogra-phien“. „Die Fassaden von Wohlstand, Konsum, Glimmer täuschen oft darüber hinweg, wie nah der Absturz schon ist. Der falsche Beruf oder die falsche Branche, dazu die privaten Unglücksspiralen von Scheidung, Krankheit, Wohnungsverlust - Pech gehabt! heißt es dann. Im Falle des Falles wird offen erkennbar, was untergründig immer schon angelegt ist: Die Bastelbiographie kann schnell zur Bruchbiographie werden.“18)
Im Sinne einer für das Thema notwendigen Positionierung, und keinesfalls als eine generelle Wertung der Individualisierungsthe-se, die nicht Anliegen einer sportwissenschaftlichen Abhandlung sein kann, sind m.E. hier zumindest folgende Einwände und Vor-behalte zu nennen: Individualisierung mit ihren Chancen und Risi-ken erscheint erstens in der Darstellung von BECK/BECK-
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GERNSHEIM als eine quasi naturhaft gegebene Konsequenz der Entwicklung moderner Gesellschaften, zu der es prinzipiell keine Alternative zu geben scheint. Kritische Feststellungen zu den Fol-gen der marktwirtschaftlichen Existenzbedingungen für die Indivi-duen wirken eher moderat, obwohl BECK/BECK-GERNSHEIM die in-dividualtheoretische Soziologie als gesellschaftskritisch verste-hen.19) Was bei diesen Autoren als Individualisierung mit ihren Folgen beschrieben wird, erscheint zweitens aus der Sicht marxis-tischer Gesellschaftsbetrachtung eher als strukturell erzwungene Vereinzelung und Privatisierung der Individuen als Konsequenz der Entwicklungslogik „moderner Gesellschaften“ oder einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Konkurrenzgesellschaft. Zu die-ser Entwicklung „moderner Gesellschaften“, also der kapitalisti-schen Gesellschaften, sieht drittens die individualtheoretische So-ziologie trotz ihrer Kritik an existenzbedrohenden Modernisierungs-folgen offensichtlich keinerlei Alternative, erst recht nicht nach dem ebenso selbst- wie fremdverursachten Scheitern des „realen Sozi-alismus“ in Europa. Dabei weisen andere Autoren durchaus auf die sozial und ökologisch begründete Notwendigkeit von Alternati-ven zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung hin.20) Viertens be-schreibt BECK die Freisetzung der Individuen aus traditionalen Bindungen im wesentlichen als eine in ihrer umfassenden Dimen-sion neue historische Erscheinung, als einen an die Wohlstands-entwicklung der modernen Gesellschaften in der Phase des wirt-schaftlichen Aufschwungs und der Wohlstandsanhebung in den 60er und 70er Jahren gebundenen Vorgang. MARX und ENGELS dagegen beschrieben schon 150 Jahre zuvor die unaufhörliche Auflösung alles bisher Bestehenden als einen immanenten We-senszug des Kapitalismus. „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaft-lichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingeros-teten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstel-lungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Ste-hende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu sehen.“21) Ein letzter aber nicht unwesentlicher fünfter Vorbehalt gegenüber der Individuali-
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sierungsthese und den mit ihr postulierten Optionen und Zwängen für eigene Entscheidungen und eigene Lebensentwürfe resultiert aus der auffallenden Parallelität zur aktuellen Diskussion in Deutschland um die Zurücknahme gesellschaftlicher Fürsorge und um die Erhöhung der Eigenverantwortung der Individuen für ihre Ausbildung und ihren Arbeitsplatz, für ihre Gesundheits- und Al-tersvorsorge und der Möglichkeiten und gegebenenfalls der Not-wendigkeit des ideologischen Mißbrauchs dieser Theorie in solch einer Situation.
Auch innerhalb der Soziologie stößt die Individualisierungsthese bekanntlich auf Vorbehalte und kritische Einwände22), worauf hier allerdings nur verwiesen werden soll.
2. Sport und Individualisierung bei BETTE
BETTE hat sich 1993 exklusiv mit dem Thema „Individualisierung und Sport“23) befaßt und seitdem hat es, soweit mir bekannt ist, von seiten der Sportsoziologie in Deutschland keinen expliziten Diskussionsbeitrag dazu gegeben, obwohl dieser durchaus zur Diskussion herausfordert. Kritische Auffassungen zur Individuali-sierungsthese wurden inzwischen aus sportsoziologischer Sicht von ALKEMEYER, allerdings in einem anderen Zusammenhang, vorgetragen.24) BETTE verweist eingangs seines Aufsatzes auf ge-genwärtig erkennbare Veränderungen des Sports als einen Sozi-albereich, der durch ein hohes Maß an Differenzierung und Plura-lisierung gekennzeichnet sei. Er schreibt: „Die qualitative und quantitative Veränderung der Sportlandschaft..., ist das Resultat einer zeitlichen, sachlichen, sozialen und räumlichen Komplexi-tätssteigerung. Die Einbeziehung von Sportarten wie Jogging, Sur-fen, Aerobic, Triathlon, Bodybuilding, Fitneß-Training, Free-Climbing, Drachenfliegen und Mountainbiking ergänzte das Sach- bzw. Themenrepertoire des traditionellen Sports. Die Integration bislang sportabstinenter Gruppen und Populationen steigerte seine soziale Komplexität. Die Entdeckung von Stadt und unverbrauch-ter Landschaft brachte den Sport in Räume hinein, in denen Trai-ning und Wettkampf bisher verpönt waren. Die Rekrutierung neuer Alterskohorten für spielerische und sportliche Betätigungen, wie es im Babyschwimmen oder im Seniorensport der Fall ist, sorgte für eine Ausdehnung des Sports auf den gesamten Lebenszyklus. Durch die Eroberung bisher sportunspezifischer Zeiten zur Durch-führung individueller Trainingsmaßnahmen und die Verschränkung
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von Beschleunigungs- und Verlangsamungsprozessen kam es zu einer Komplexitätssteigerung auf der Zeitdimension.“25) Diese Ver-änderungen im Sport führt BETTE, und darin besteht seine Haupt-these, auf Individualisierungsprozesse innerhalb der Gesellschaft zurück. „Im folgenden soll deutlich werden, daß der im Sport ab-laufende und die Sportwissenschaft faszinierende, aber auch unter Erklärungsdruck setzende Wandel in erster Linie eine Konsequenz fortschreitender Individualisierung ist.“26) Auf der Basis dieser The-se diskutiert er anschließend folgende Probleme des Wandels im Sport: Die verstärkte Orientierung auf Körperlichkeit und Fitneß, die beobachtbare Lockerung der Bindungen an den Sportverein bezie-hungsweise an eine Sportart („flottierende Bindungen“) und das Streben nach Einzigartigkeit im Sport („Paradoxie der Individualität“ und „Einzigartigkeit als positionales Gut“).
BETTE konstatiert im Kontext mit Individualisierungsprozessen in den westlichen Industriegesellschaften wie auch andere Sportwis-senschaftler, u.a. BRINKHOFF 27), eine verstärkte Hinwendung der Individuen zum eigenen Körper und erklärt diese mittels der von BECK und ZAPF28) benannten Bedingungen der Individualisierung in modernen Gesellschaften (Wohlstandsanhebung, Wohlfahrts-staatlichkeit, Bildungsexpansion, soziale Sicherheiten). Die These von der Freisetzung der Individuen aus traditionalen Bindungen (BECK) nutzt BETTE, um die Zuwendung zum Körper als Ausdruck der Suche nach Ersatz für verloren gegangene Bindungen und Orientierungen zu interpretieren: „Wenn Gewißheiten schwinden und Mentalitäten sich verändern, die institutionellen Außenstützen der Identität mit Legitimationsproblemen konfrontiert werden, erfahren Sozialsysteme einen Bedeutungszuwachs, die das Errei-chen von Unmittelbarkeit, Authentizität und Natürlichkeit noch machbar erscheinen lassen. Mit dem Blick auf die eigene Befind-lichkeit tritt an die Stelle der traditionellen Sinngebungsinstanzen eine neue Bezugsgröße, der immer mehr Menschen Sinnge-bungskraft zuschreiben: der eigene Körper.“29) Dem Körper kommt nach BETTE neben dieser mehr ichbezogenen Rolle als „Sicher-heits- und Erlebnisgrundlage“30) eine weitere, mehr sozial orientier-te Funktion als Mittel der Selbstdarstellung und Statussymbol zu31), ein Aspekt, den er im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zu „Einzigartigkeit als positionales Gut“ weiterführt. Er verweist, zwar im Zusammenhang mit der erhöhten Aufmerksamkeit für Körper-
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lichkeit und Fitneß, durchaus auf „soziale Erwartungsimperative“ und „Selbstdarstellungsnotwendigkeiten“, „die differenzierte Ge-sellschaften durch Individualisierungsschübe strukturell freiset-zen“.32) Dennoch sieht BETTE den „Körperboom“ prinzipiell als eine Folge von Individualisierungsprozessen, eine Argumentation, die zunächst als einleuchtend erscheint, wie auch ALKEMEYER fest-stellt33), jedoch auf halbem Wege stehen bleibt, wenn nicht auf die hinter den „Individualisierungsprozessen“ liegenden gesellschaftli-chen Bedingungen zurückgegangen wird, letztlich auf Bedingun-gen, unter denen „alle Verhältnisse unter das Eine abstrakte Geld- und Schacherverhältnis praktisch subsumiert sind“34) und nicht auf den strukturellen Zwang zur Fitneß und Ästhetik des Körpers unter marktwirtschaftlichen Bedingungen35) verwiesen wird. Hierin könn-te übrigens auch ein Grund dafür zu sehen sein, daß die Teilnah-me am Breitensport im Westen Deutschlands durchschnittlich hö-her lag als im Osten.36) ALKEMEYER weist in diesem Zusammen-hang auch berechtigt auf die Gefahr der Diffamierung und Aus-grenzung der normabweichenden Körper sowie auf den Umstand hin, daß soziale Ungleichheiten über den Körper manifestiert und zur Schau gestellt werden.37) BETTE führt dann weiter aus: „Ge-sundheit, Wohlbefinden, Spaß, Schönheit, Schlankheit und Ju-gendlichkeit erleben als körperorientierte Begriffe und Wertsyn-drome eine Nachfrage sondergleichen. Sie sickern in Motivstruktu-ren ein und bestimmen die Lifestyle-Gestaltung breiter Massen. Der funktionsfähige, fit getrimmte, jugendlich gestylte und sportive Körper wird zu einem Statussymbol, zu einer Projektionswand für die Darstellung von Unvergleichlichkeit und Individualität.“38) Die-ses „Einsickern“ der genannten Werte in die individuellen Motiv-strukturen und ihr Einfluß auf die „Lifestyle-Gestaltung“ entspricht sicherlich durchaus realen Bedürfnislagen der Individuen als Folge ihrer veränderten Lebenslagen im Gefolge von Modernisierungs-prozessen. Wurden aber diese Bedürfnisse erst einmal durch das feine Gespür der Sport- und Freizeitindustrie für neue Märkte ent-deckt, wird die Nachfrage, wie BETTE selbst treffend schildert, durch die Reklame in den Medien künstlich hochgejagt. Schönheit, Schlankheit, Jugendlichkeit, Dynamik und Sportlichkeit - man schaue in die Kataloge - wurden zu erfolgbringenden Werbesym-bolen. Daß mit dieser Symbolik eigentlich nur ein Teil der Sport-treibenden und Sportinteressierten angesprochen wird, vor allem
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jüngere leistungsfähige und gutaussehende, aber nicht wenige auch von dieser „Sportauffassung“ abgestoßen oder ausgeschlos-sen werden39), mindert den Erfolg der Aktion kaum, wie auch die Ausstrahlung dieser vorgegebenen Sinnmuster auf die Älteren beweist. Das Verhältnis von Bedürfnissen und Produktion hat sich umgekehrt. Nicht die Bedürfnisse sind Ausgangspunkt für die Pro-duktion, sondern die Produktion schafft sich ihre Bedürfnisse, ein Vorgang, den MARX in seiner Analyse der kapitalistischen Waren-produktion bereits beschrieben hat. Was BETTE als Beleg für die In-dividualisierung im Sport benennt, die infolge von Individualisie-rungsprozessen veränderten Bedürfnisse der Individuen, erweist sich also als sekundär (ohne etwa zu verschwinden!), während die kommerziellen Interessen sich ihnen gegenüber verselbständigen und primäre Bedeutung erlangen, folglich aus einer ursprünglichen Verstärkerrolle (BETTE) nunmehr in eine Verursacherrolle wechseln. Auch ALKEMEYER verweist auf gesellschaftliche Hintergründe jen-seits von Individualisierungsvorgängen, auf den strukturellen Zwang zur Fitneß und zu gutem Aussehen, der allerdings infolge medialer Manipulation sowie realer positiver Erfahrungen nicht als Zwang empfunden wird.40)
BETTE liefert in seinem Text eine differenzierte Begründung für die verstärkte Hinwendung zum Körper, die hier nur verkürzt wieder-gegeben werden konnte. Zurückgeführt wird diese Aufwertung von Körperlichkeit und Fitneß prinzipiell auf Individualisierungsvorgän-ge und ihre in den westlichen Industrieländern gegebenen Voraus-setzungen.41) Damit wird zwar durchaus auf gesellschaftliche Be-dingungen hingewiesen, die sich übrigens heute teilweise in Re-gression befinden, dennoch bewegt sich die Argumentation vor-wiegend im Rahmen psychologischer Erklärungsmuster: Bin-dungsverluste, Haltsuche, Sinnkrisen, Abenteuerlosigkeit usw. füh-ren zu körper- und fitneßorientierten Ersatzmotivationen und -hand-lungen. Die in der Marktwirtschaft sozialisierten und von der Werbung manipulierten Individuen sind es jedoch, so meine Auf-fassung, die angeblich oder tatsächlich einen anderen Sport wol-len und uns, wie BETTE sie bezeichnet, auch als „Sportnomaden“42) im Zusammenhang mit jener Erscheinung im Sport wiederbegeg-nen, die er als eine weitere Folge von Individualisierungsprozes-sen schildert und diskutiert. „Typisch für den Sport der 80er und 90er Jahre ist der Umstand, daß die Zahl derjenigen gewachsen
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ist, die ganz im Sinne einer frei flottierenden Bindungsfähigkeit zwischen verschiedenen Körperbetätigungen hin und her wech-seln, ohne jene Identifikation mit einer Disziplin zu erreichen, wie sie im überlieferten Sport noch anzutreffen ist. Immer mehr Sport-ler lassen sich immer weniger durch die Vorgaben der traditionel-len Sportarten fesseln. Das Programmatische scheint gegenwärtig darin zu bestehen, kapriziös und unprogrammatisch zu entschei-den. Zweifellos folgt die Majorität der Sporttreibenden nach wie vor den überlieferten Kernangeboten, aber diese Fixierung auf Über-liefertes ist deutlich im Umbruch begriffen.“43) Diese Unstetigkeit in den Beziehungen zu den Sportvereinen und den Sportarten als ei-ne Tendenz, die vor allem für die jüngere Generation typisch ist, wurde bereits von anderen Autoren als „Distanz zu gesellschaftli-chen Bindungen“, zum Beispiel von BRETTSCHNEIDER/BAUR/BRÄUTIGAM oder von BRINKHOFF44), be-nannt und stellt ein ernstes Problem für die Vereine dar. Entspre-chend seiner individualisierungstheoretischen Perspektive kenn-zeichnet BETTE die Ursachen dieser Erscheinung folgendermaßen: „Wo massive gesellschaftliche Wandlungsprozesse das Individu-um auf sich selbst verweisen und die einzelne Person Sicherheit durch einen riskanten Dezisionismus zu produzieren hat, ist die bewußte Offenheit des Lebensstils für Vielfalt allerdings eine nicht zu unterschätzende Überlebensstrategie. Sie reflektiert den Ver-such, die Intensität des Daseins zu steigern und die Routinisierung des Alltags mit Hilfe gezielter Interpunktionen zu durchbrechen. Der Bezugsrahmen wird bewußt flexibel gehalten, um einer Viel-zahl von Sinnofferten gleichzeitig Genüge leisten zu können. Wer sich festlegt, sieht sich - so offensichtlich die Pointe dieser indivi-duellen Sinngebungs- und Selbstverwirklichungsmaßnahmen - an-sonsten in der Gefahr stehen, Wichtiges und Unwiederbringliches zu verpassen. Spaß im Hier-und-Jetzt wird zum modernen Apriori in angstbesetzten und zukunftsoffenen Zeiten.“45) Kann man die-ses Pendeln zwischen den bunten Sportangeboten und den Drang, nichts verpassen zu wollen, berechtigt als Beleg für das Greifen von Individualisierungsprozessen im Sport werten? Inso-fern als BETTE bei seiner Interpretation an die Postulate der Indivi-dualisierungstheorie anknüpft (Freisetzung aus traditionalen Bin-dungen, Verlust einstiger Sicherheiten, erhöhte Wahl- und Ent-scheidungsmöglichkeiten, erhöhte Chancen und Risiken), verkör-
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pern die beschriebenen Orientierungen und Verhaltensweisen im Sport tatsächlich Individualisierungsfolgen. Aber was verbirgt sich hinter den Wandlungen, die mit dem schillernden Begriff „Individu-alisierung“ beschrieben werden? Hinter den vielfältigen und zum „Nomadisieren“ verführenden Sportangeboten stehen handfeste kommerzielle Ursachen. Um Kunden anzulocken und die Konkur-renz zu verdrängen, muß immer wieder Neues und immer Ausge-falleneres erfunden und offeriert werden. So sehen MEIER/WINKLER als Folge steigender Kommerzialisierung des Sports, daß „im Sport ein Wandel vom Verkäufermarkt, der durch die Verkäuferseite dominiert wurde, hin zum Käufermarkt stattge-funden (hat), der durch die Käuferseite dominiert wird.“46) Zweifel-los stellt ein vielfältiges Sportangebot eine begünstigende Bedin-gung für die Breitensportentwicklung dar, aber die Wahlmöglich-keiten werden durch sozialstrukturelle Ungleichheiten begrenzt.47) SCHWARK konnte empirisch belegen, daß neben der räumlichen Erreichbarkeit von Sportangeboten auch die finanziellen Zugäng-lichkeiten in Abhängigkeit von der ökonomischen Situation eine nicht zu ignorierende Rolle spielt.48) Auch ALKEMEYER fragt mit Be-zug auf die von BETTE verwendeten Stichworte „flottierende Bin-dungen“ und „Sportnomaden“, ob die Wahl eines bestimmten Le-bensstils und bestimmter Sportarten mit individuellen Interessen und Vorlieben erklärt werden könne, wie dies durch die Individuali-sierungstheorie geschieht, und ob nicht eher soziale Einflußgrößen bestimmend seien.49) Schließlich sind „flottierende Bindungen“ und „Spaß im Hier-und-Jetzt“ auch Ausdruck für einen verbreiteten In-dividualismus, Egoismus und Hedonismus als Resultate einer So-zialisation unter den Bedingungen einer Markt- und Konkurrenzge-sellschaft. Diese gedankliche Logik fortsetzend wäre auch eine Er-klärung der beschriebenen Phänomene ohne den Umweg über den Individualisierungsbegriff denkbar. Nicht Individualisierungs-prozesse wären als Ursache für das Pendeln zwischen den Ange-boten anzusehen, sondern die aus marktwirtschaftlichen Konkur-renzbedingungen resultierenden verführerischen Angebote, eine sehr differenzierte Wohlstandsentwicklung, die gegebenenfalls Op-tionen bietet, sowie ein ansozialisiertes „Käuferverhalten“. Nicht „Individualisierung“, sondern die marktwirtschaftliche Entwick-lungslogik und die ihr immanenten kulturellen Einflüsse wären
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dann als „in letzter Instanz“50) bestimmende Ursachen der von BETTE beschriebenen Verhaltensweisen anzusehen.
In einem dritten Punkt kommt BETTE unter dem Stichwort „Parado-xie der Individualität“ auf eine Beobachtung zurück, die er im Zu-sammenhang mit dem „Körperboom“ bereits angesprochen hat: das Streben nach Einzigartigkeit und Distinktion im Sport durch betonte Stilisierung des Körpers mittels extravaganter Sportarten oder exklusiven Sportgeräts und dessen unweigerliche Einmün-dung in eine „Paradoxie der Individualität“. „Angesichts vehemen-ter Individualisierungsschübe, die Menschen durchmischen und immer mehr voneinander absetzen, ermöglicht eine Homogenisie-rung auf dieser Ebene (der sportiven Körper - K.R.) zwar ein Mini-mum an sozialer Anschlußfähigkeit. Nichtsdestotrotz entsteht auch im Sport unweigerlich eine Paradoxie der Individualität, nämlich Unvergleichlichkeit ausdrücken zu wollen, aber vor dem Hinter-grund kollektiv wirkender Kulturprogramme nicht ausdrücken zu können. Der individuelle Akteur findet sich in seinem Begehren, Einzigartigkeit darzustellen und Mittelmäßigkeit zu entbanalisieren, schnell in der Gemeinschaft gleichgesinnter Personen wieder.“51) Die dem nachfolgenden Zeilen lassen den Eindruck entstehen, daß BETTE nicht ausreichend zwischen Individualität und Indivi-dualismus unterscheidet, indem er feststellt: „Individualität ist ein Gut, das gerade dadurch in Gefahr steht, je weiter es verbreitet und angestrebt wird. Die bewußte Abgrenzung von anderen, bei-spielsweise über die Ausübung einer exotischen Sportart oder durch die Erbringung einer spezifischen Körperleistung bringt nur dann eine Befriedigung, wenn nicht allzuviele Menschen mit dem gleichen Anliegen antreten. Genuß entsteht nur dann, wenn er knapp ist und wenn keine Überfüllungssymptome auftauchen.“52) Hier liegt offensichtlich ein in den Grenzen einer Konkurrenzgesell-schaft verbleibender Denkansatz zugrunde, ein anderer als der von MARX und ENGELS in Bezug auf die Vision der Aufhebung der Klas-sengesellschaft und die Möglichkeiten des Individuums in diesem Prozeß. „Erst in der Gemeinschaft existieren für jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich.“53) Wenn BETTE dann weiter ausführt: „Bewußte Individualisierungsbe-strebungen verhindern damit das, was der Einzelne herzustellen versucht: Einzigartigkeit pur. Sie führen, wenn sie komparativ ange-
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legt sind, unfreiwilligerweise zu spezifischen Formen der kollektiven Annektierung“54), so scheint mir Individualisierung, verstanden als gesellschaftlich ausgelöster und bedingter Vorgang, bei BETTE zu wenig von dem individuellen Streben nach Distinktion abgesetzt zu werden, womit der Individualisierungsbegriff, wie er nach BECK ver-standen wird, als unzulässig ausgedehnt erscheint. Dieser meint doch vor allem verstärkte Freisetzung des Individuums, verbunden mit erweiterten Chancen, aber auch Aufforderungen und Zwängen zu selbstbestimmten Handeln. Das ist etwas anderes als nur die Herstellung von Einzigartigkeit.
BETTE beschreibt treffend, wie das Streben nach Einzigartigkeit im Sport, indem es regelmäßig seine Nachahmer findet, folgerichtig in eine Abweichungsspirale führt. Um sich noch abzuheben, muß man immer verrücktere Sachen anstellen, wie man im sogenann-ten Abenteuersport beobachten kann, der nicht zuletzt durch wirt-schaftliche Interessen zu extremen Formen ausgeartet ist, mit den ursprünglichen Zielen des Breitensports (Gesundheit, Fitneß, Wohlbefinden, Erholung) in Widerspruch gerät und nicht selten zu gesundheitsschädigenden und lebensgefährdenden Aktivitäten auswuchert und dadurch den Sport in Mißkredit bringt. Berichte über tödliche Unfälle bei riskanten Mountainbike-Touren in den Al-pen, bei Skitouren abseits der Pisten oder bei abenteuerlichen Bergtouren zum Beispiel, finden sich immer häufiger in den Medi-en. Bette spricht in diesem Zusammenhang von einer Verstärker-rolle der Industrie und der Werbung, die allerdings aus meiner Sicht, wie bereits beschrieben, längst auch eine Verursacherrolle eingenommen hat, was BETTE zumindest andeutet: „Um den Sport ist inzwischen eine eigenständige Industrie entstanden, die sich durch Abweichung nicht schrecken läßt. Sie spekuliert und setzt vielmehr auf die Schubkraft der Überraschung und Nicht-Imitation, die sie anschließend durch Kopieren wieder zu annektieren trach-tet. Sie beobachtet die Avantgarde sportiver Devianz und überprüft sie daraufhin, ob eine Überführung in die Sprache der Preise lohnt. Innovationen im sachlichen Inventar des Sports ergeben sich, wie es scheint, immer weniger urwüchsig. Sie sind vielmehr das Resul-tat gezielter Überlegungen, was in die Sportlandschaft profitabel hineinpassen könnte.“55) Gerade im letzten Satz des Zitats scheint mir des Pudels Kern zu stecken. BETTE jedoch sieht dennoch die Ursachen für den Trend zum Abenteuersport in Modernisierungs-
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und Individualisierungsprozessen. „Abenteuersport ist ein zivilisier-ter Aufstand des Subjekts gegen die Kalkulierbarkeit des ‘norma-len’ Sports. Als Hintergrundfolie für das Erleben und Handeln dient diesem komponierten Außenseitertum allerdings nicht nur die Kal-kulierbarkeit des etablierten Sports, sondern auch die Abenteuer-losigkeit des Alltags in den entwickelten Industriegesellschaften des Westens. Die Spannungsarmut und Routine in wohlfahrts-staatlich abgesicherten Sozialformationen werden gleichsam durch das Aufsuchen gefährlicher, aber dennoch kalkulierbarer Situatio-nen gekontert.“56) Hier begegnet uns erneut das psychologische Erklärungsmuster. Das Streben nach Distinktion kann man im Sport auf verschiedene Art und Weise zu befriedigen suchen, wie BETTE schreibt, durch herausragende Leistungen, durch Stilisie-rung des Körpers, durch ausgeflippte Sportarten und nicht zuletzt auch durch nicht für jedermann erschwingliche Sportausrüstungen oder Bekleidungsgegenstände. Der Preis für ein extravagantes Bi-ke zum Beispiel kann heute inklusive dazugehöriger Bekleidung mit Leichtigkeit eine fünfstellige Summe erfordern. Damit erreicht das Streben nach Distinktion eine sozialstrukturelle Dimension und es spricht vieles dafür, daß der Sport keineswegs dazu beiträgt, soziale Unterschiede auszugleichen, wie mit dem Slogan; „Wo spielt die Herkunft keine Rolle?“, propagiert wird, sondern eher da-zu, sie zu unterstreichen. „Nicht wenige versuchen ihre Einzigar-tigkeit dadurch zu beweisen, daß sie sich in das Luxuriöse und dadurch Knappe hineinflüchten. Dieser Trend hat den Sport vor al-lem in seiner Objekt- und Artefaktkultur erreicht. Teure Rennräder, Mountainbikes, Sportschuhe und Trainingsanzüge zeugen von dem Anliegen, sich dem Uniformen und Mittelmäßigen im Geld-medium durch eine demonstrative Redundanz zu entziehen. Ne-ben dem Gebrauchs- und Tauschwert kommt dem jeweiligen Pro-dukt offensichtlich auch ein hoher Individualisierungs- und Distink-tionswert zu.“57) Auch diese Erscheinung im Sport wird als Indivi-dualisierungsfolge gedeutet. „Der demonstrative Konsumstil im Sport deutet nicht nur auf pekuniäre Verfügbarkeit hin, sondern auch auf eine freigesetzte Individualisierung, die über Geld ihre Entparadoxierung vorzunehmen trachtet. Die Teilhabe am symbo-lisch generalisierten Geldmedium ist in differenzierten Gesellschaf-ten eine wichtige Bedingung der Möglichkeit, Individualität zu ent-wickeln und gesellschaftlich auszudehnen.“58) Diesen letzten Satz
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halte ich für bedenklich. Solange individuelle Potentiale, wie Leis-tungsfähigkeit, Können und Talent noch eine Rolle spielen, ist das Streben nach Distinktion noch einigermaßen „demokratisch“, so-bald aber materielle Reserven ins Spiel kommen, werden sozial-strukturell bedingte Ungleichheiten und Benachteiligungen beson-ders deutlich. Individualität mittels des „Geldmediums“ zu de-monstrieren, ist tatsächlich eine Gegebenheit in einer vom Geld beherrschten Gesellschaft, wie MARX bereits in „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ (1844) beschreibt und die mir nicht ohne aktuellen Bezug zum heutigen Sport zu sein scheint: „Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, d.h., was das Geld kau-fen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine - seines Besitzers - Eigenschaften und Wesens-kräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das Geld ver-nichtet. Ich - meiner Individualität nach - bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße; ich bin also nicht lahm, ich bin ein schlech-ter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer. Das Geld ist das höchste Gut, also ist sein Besitzer gut, das Geld überhebt mich außerdem der Mühe, unehrlich zu sein, ich werde also als ehrlich präsumiert; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Zudem kann er sich die geistrei-chen Leute kaufen, und wer die Macht über die Geistreichen hat, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche? Ich, der durch das Geld alles, wonach ein menschliches Herz sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil?“59) BETTE deutet das Streben nach Einzigartigkeit prinzipiell als eine Individualisierungs-folge. Er verweist allerdings außerdem auf Defizite der Gesellschaft (Spannungslosigkeit) sowie die Verstärkerrolle der Industrie („Über-setzung in die Sprache der Preise“). Aus der Sicht marxistischer Gesellschaftsanalyse gehören die beschriebenen Erscheinungen im Breitensport primär (das heißt nicht ausschließlich) zu den durchaus ambivalenten Konsequenzen marktwirtschaftlicher Verhältnisse und entsprechender Ideologien.
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3. Wandel des Sports - eine Konsequenz fortschreitender In-dividualisierung (BETTE)?
Der von BETTE beschriebene Wandel des Sports kann durchaus als im Zusammenhang stehend mit den veränderten sozialen La-gen und subjektiven Befindlichkeiten der Individuen in den moder-nen kapitalistischen Gesellschaften gesehen werden, die BECK im Rahmen des Individualisierungstheorems u.a. beschrieb (Freiset-zung aus traditionalen Bindungen, erweiterte Möglichkeiten für selbstbestimmte Entscheidungen, Handlungen und Lebensstile, verbunden mit neuen sozialen Einbindungen und strukturellen Auf-forderungen zur Selbstverantwortlichkeit). Jedoch stellen die mit dem Individualisierungsbegriff bezeichneten Entwicklungen eigent-lich nur die Folgen von tieferliegenden gesellschaftlichen Bedin-gungen und Veränderungen dar: Es sind primär Folgen der fort-schreitenden Unterwerfung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unter die Verwertungsbedingungen des Kapitals und die aus dem Wesen marktwirtschaftlich ausgerichteter Gesellschaften resultierenden Konkurrenzbeziehungen zwischen den Individuen. ALKEMEYER sieht das offensichtlich ähnlich, wenn er feststellt, daß das Zurückführen der Veränderungen im Sport auf Individualisie-rungsprozesse zwar zunächst plausibel wirke und daß die heutige Sportlandschaft die Individualisierungsthese zu bestätigen schei-ne, aber dann bezweifelt, ob diese als alleinige Erklärung ausrei-chend sei und auf die zugrundeliegenden Gesetze der „individua-listischen Marktwirtschaft“ hinweist.60) Mittels des Rückgriffs auf die Individualisierungsthese kann - aus meiner Sicht - der beschriebe-ne Wandel des Sports nur partiell, jedoch nicht hinreichend erklärt werden. Der Umweg über den Individualisierungsbegriff kann den Blick auf die eigentlichen Bedingungen und Ursachen der gegen-wärtigen Veränderungen verstellen. Indem die Erklärungsweise von BETTE auf die „immer stärker individualisierten Individuen“ hinweist und deren Reaktionen auf die veränderten Lebensbedin-gungen analysiert, neigt sie zur Psychologisierung des Problems. Primär dürfte der beobachtete Wandel im Sport auf gravierende Veränderungen innerhalb der Gesellschaft und somit auf sportex-terne Triebkräfte zurückzuführen sein. Nun ist allerdings die Auf-fassung, derzufolge der Sport eine von der Gesellschaft abhängige und die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegelnde Erschei-nung darstellt, keineswegs origineller Art.61) Ihre Hervorhebung er-
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scheint dennoch angesichts der immer wieder wahrnehmbaren Versuche geboten, Veränderungen im modernen Sport mittels der Pluralisierung der Lebensstile und mit den Veränderungen von Werthaltungen zu erklären, also handlungs-theoretisch bezie-hungsweise psychologisch zu interpretieren. Aus der Sicht der Gesellschaftsanalyse von MARX wären die von BETTE als Individu-alisierungsfolgen beschriebenen Veränderungen im Sport (sachli-che und räumliche Ausdifferenzierung, „flottierende Bindungen“, Streben nach Selbstdarstellung und Distinktion, Rückzug auf den Körper und Drang nach Erlebnis und Abenteuer) auf hinter der „In-dividualisierung“ liegende gesellschaftliche Basisprozesse und „in letzter Instanz ökonomische Ursachen“62) zurückzuführen. Mit ei-ner solchen Prämisse setzt man sich heute unweigerlich dem Vorwurf des „ökonomischen Determinismus“ aus. Mit diesem Vor-wurf und Vorurteil hat sich der Marxismus allerdings schon immer auseinandersetzen müssen, wie die folgende Richtigstellung in ei-nem Brief von ENGELS an BORGIUS aus dem Jahre 1894 zeigt: „Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künst-lerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomische Lage Ursache, allein aktiv ist, und alles andere nur passive Wirkung. Sondern es ist Wechselwir-kung auf der Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchset-zenden ökonomischen Notwendigkeit.“63) Man muß sich schon wundern, wenn angesichts der gerade gegenwärtig allerseits so deutlich hervortretenden grundlegenden Rolle der ökonomischen Verhältnisse eine gewisse Scheu festgestellt werden kann, auf die kausale Rolle der kapitalistischen Besitz-, Austausch- und Vertei-lungsverhältnisse hinzuweisen, möglicherweise eben aus Furcht, sich dem Vorwurf des „Ökonomismus“ auszusetzen oder gegen-wärtig unpopuläre und mit Vorurteilen behaftete marxistischer Auf-fassungen zu gebrauchen. Allerdings wäre es ebenso einseitig, die Veränderungen im Sport allein aus den gesellschaftlichen Bedin-gungen zu erklären. Das wäre ebenso einseitig wie die kritisierten individualisierenden oder psychologisierenden Erklärungsversu-che. Ohne Zweifel folgt die Entwicklung des Sports, wie die jedes anderen gesellschaftlichen Teilsystems auch ihrer internen Ent-wicklungslogik, die nach LUHMANN als „Selbstbewegung“ oder „Au-topoiesis“ aufzufassen ist64), wie von mir bereits im Zusammen-
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hang mit dem Versuch der Erklärung ähnlicher Entwicklungsten-denzen im Breitensport in beiden Teilen Deutschlands - trotz der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme - hervorgehoben wurde.65)
Aus marxistischer Sicht bleiben auch keinesfalls die handelnden Subjekte mit ihren Bedürfnissen und Werthaltungen bei der Verän-derung des Sports unbeachtet.66) Zweifellos realisieren die durch gesellschaftliche Bedingungen „individualisierten Individuen“ im sich verändernden Sport auch ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und Wertvorstellungen und verändern damit den Sport. Aber erstens darf nicht übersehen werden, daß die Realisierung dieser Bedürf-nisse und Wertvorstellungen im Sport und durch Sport stets durch die jeweiligen Lebensbedingungen der Individuen ermöglicht und begrenzt wird beziehungsweise von ihrem „ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital“ abhängt. Zweitens sind die individuellen Be-dürfnisse und Wertvorstellungen keine autonome Erscheinung. Sie sind hinsichtlich ihrer Entäußerung und Befriedigung stets gesell-schaftlich bedingt und können durch externe Interessen manipuliert werden. Die Bedürfnisse der Individuen interessieren in der Markt-wirtschaft die Industrie primär hinsichtlich ihrer ökonomischen Ver-wertbarkeit, ihrer Umwandlungsmöglichkeit in Kaufkraft und Ge-winn. Das heißt, die Individuen, die uns in der Beschreibung von BETTE im modernen Sport begegnen, „die immer stärker individuali-sierten Individuen“, sind eigentlich die immer stärker auf sich selbst verwiesenen, existentiell verunsicherten und medial manipulierten Individuen: die „privatisierten Individuen“.
4. Profitiert der Sport tatsächlich von der „Individualisie-rung“?
BETTE behauptet: „Der Sport profitiert ... auf vielerlei Weise von der Paradoxie der Einzigartigkeit und dem positionalen Charakter der Individualität. Sie sind gleichsam die Motoren, mit deren Hilfe er einen Großteil seiner sachlichen, sozialen und zeitlichen Varia-tionen produziert.“73) BETTE gelangt also trotz erkennbarer Distanz zu Übertreibungen und Entartungen im heutigen Breitensport zu einem insgesamt positiven Urteil über die Auswirkungen von Indi-vidualisierungsprozessen auf den Sport.74) Dieses Urteil über die Antriebswirkung von Individualisierungsfolgen für den Breitensport kann jedoch so allgemein nicht akzeptiert werden, da es eine Rei-he von Fragen aufwirft:
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Zunächst wäre die Frage nach dem Kriterium der Sportentwicklung zu stellen, welches BETTE zugrundelegt. Offensichtlich legt er sei-ner Aussage als Kriterium die Ausdifferenzierung und Pluralisie-rung des Sportsystems, der Sportangebote und der Sportaus-übung zugrunde. Zweifellos stellt ein buntes Sportangebot eine begünstigende Bedingung für die Breitensportentwicklung dar. Würde man aber ein anderes Kriterium wählen und die Frage stel-len, inwiefern die größere Vielfalt das regelmäßige Sporttreiben der Bevölkerung beeinflußt hat, dann wäre die positive Aussage kaum aufrechtzuerhalten. Die Ergebnisse der empirischen Lang-zeitstudien von WINKLER lassen eine Stagnation des Sporttreibens im Zeitraum von 1984 bis 1991 erkennen.75) Ein weiteres alternati-ves Kriterium wäre die Wirkung des Sporttreibens auf die Gesund-heit und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung.76) Auch diesbezüglich liegen eher gegenteilige Befunde vor. Die vordergründige Orientie-rung auf Spaß, Erlebnis und Abenteuer im Breitensport dürfte der gesundheitlichen Wirkung des Sporttreibens eher abträglich denn förderlich sein, ohne dabei die psychische Erholungswirkung zu unterschätzen. Wenn man Breitensportentwicklung mehr funktio-nal und weniger strukturell betrachtet, müßte das ausschließlich positive Urteil über die Folgen der Individualisierungsprozesse für die Sportentwicklung offensichtlich revidiert werden.
Des weiteren wäre zu fragen, welcher Sport - wenn überhaupt - profitiert, der kommerziell angebotene Sport, der individuell oder gemeinschaftlich informell betriebene Sport oder der gemeinnüt-zige Vereinssport? Schon diese differenzierende Fragestellung läßt deutlich werden, daß auch diesbezüglich die Aussage, „der Sport profitiert“, so allgemein nicht aufrechtzuerhalten ist. BETTE kann sich bei dieser Aussage auch nur auf seine theoretischen Annahmen und seine Beobachtung der Sportentwicklung berufen, jedoch nicht auf detaillierte empirische Befunde. Der Vereinssport - noch immer der hauptsächliche Träger des Breitensports - gerät durch die geschilderten Pluralisierungs- und Individualisierungs-tendenzen zunehmend unter Anpassungsdruck, der ihn permanent materiell, finanziell und personell zu überfordern droht. Es besteht die Gefahr, daß er hier und da den Wettlauf mit den kommerziellen Anbietern verliert, zumal der gegenwärtige neoliberale Trend zur Privatisierung bislang öffentlicher Bereiche der Gesellschaft solch eine Entwicklung noch begünstigt. Insbesondere GRUPE und DIGEL
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haben die soziale Bedeutung der Sportvereine als gemeinnützige Einrichtungen und als notwendige soziale Netzwerke hervorgeho-ben und vor überzogenen, letzten Endes selbstzerstörerischen Anpassungsbestrebungen gewarnt. Sie scheuen sich auch nicht, darauf bezogene normative Aussagen zu formulieren. In diesem Zusammenhang verweise ich auf die von GRUPE formulierten Grundsätze bzw. Verträglichkeitskriterien für die Vereinsentwick-lung: Das Sozial- und Gemeinnützigkeitskriterium, das pädagogi-sche und das Fairneßkriterium, das Gesundheits- und das Sport-kriterium.77) DIGEL hält eine „Regression auf der Modernitätsskala des Sportsystems“ für möglich und plädiert für ein Begreifen von „Modernisierung als Gestaltung des Gewollten“.78)
Und drittens wäre schließlich zu fragen, wessen Sport tatsächlich von der „Individualisierungsspirale“79) und der „Paradoxie der Ein-zigartigkeit“80) profitiert: Der Sport der erfolgreich „individualisierten Individuen“, die sich der medial gesteuerten Abenteuer-, Konsum- und Spaßmentalität bereits am besten angepaßt haben, der unge-hemmten Hedonisten, der jugendlichen Trendsetter (und ihrer ältli-chen Nachahmer) und der besser gestellten Abenteuersuchenden, die sich alle auf keinen Fall in die verbindende und verbindliche Gemeinschaft eines Sportvereins begeben wollen? Dieser Typ des Freizeitsportlers mag im Outdoor-Sport und in den Trend-sportarten das Bild vom Sport bestimmen, weil auffallend und so-mit medial interessant und wirtschaftlich verwertbar. Aber die ge-schilderte Art von „Modernität“ und „Individualität“ ist wohl kaum typisch für den Breitensport insgesamt, und ich halte deren Aus-breitung auch nicht für funktional für den Breitensport. SCHWARK zum Beispiel konnte mittels seiner Interviews feststellen, daß sich manche Menschen, die eine durchaus positive Einstellung zum Sporttreiben haben, durch die sowohl in Studios wie auch in Ver-einen wahrgenommene Sucht zur Selbstdarstellung mittels des Körpers, der Kleidung und der Ausrüstung eher abgestoßen fühlen und deshalb dem Sportbetrieb lieber fernbleiben.81)
Die Frage „wessen Sport?“ betrifft auch die sozialstrukturelle Di-mension. Eine Differenzierung (und Ausgrenzung) vollzieht sich im Breitensport nicht nur auf der „Modernitätsskala der Sportstile“, sondern auch hinsichtlich sozialstruktureller Ungleichheiten.82) Auch DIGEL konstatiert eine sich verschärfende soziale Ungleich-heit im Sport und verweist darauf, daß dieser vorrangig auf die
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Bedürfnisse der dominanten Ober- und Mittelschichten ausgerich-tet sei und bestimmte Gruppen benachteilige.83)
5. Abschließende Gedanken zur Sportsoziologie
Die Sportsoziologie kann mit Blick auf den thematisierten Wandel im Breitensport vorrangig die Rolle des kühlen und distanzierten Beobachters einnehmen und mit weitgehend wertfreier Beschrei-bung die Auswirkungen der von ihr als unausweichlich betrachte-ten Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse auf den Sport reagieren wie BETTE. Das ist zweifellos ein notwendiger Schritt im Prozeß der wissenschaftlichen Analyse. Die Sportsozio-logie kann, ebenfalls wie BETTE von der Unausweichlichkeit ge-sellschaftlicher Modernisierungs- und Individualisierungszwänge ausgehend, aber auch noch weitergehen und zumindest auf die damit verbundenen Risiken für den Sport und auf die mit einer zu-nehmenden Anpassung der Sportvereine an Modernisierungs-, Professionalisierungs- und Individualisierungstendenzen verbun-denen Gefahren hinweisen, wie unter anderem HEINEMANN/SCHUBERT84) oder DIGEL.85) Schließlich kann die Sportsoziologie versuchen, sich auf der Grundlage ihrer Analysen und Einsichten mit Wertungen, Prognosen und Empfehlungen ein-zumischen. Denn, so KÄSLER, die „Fragen nach gesellschaftlich vermittelten Standards für Wahrheit, Moral und Perspektiven einer humanen Gesellschaft werden sich nicht ersetzen lassen durch die bloße analytische Widerspiegelung des Wirrwarrs. ...Nur wenn wir Soziologen uns wieder einmischen, werden wir nicht ans Katheder verbannt oder auf die Talkmeister-Rolle in der Reha-Klinik be-schränkt sein.“86) Auf die mit den Schlüsselbegriffen „Modernisie-rung“ und „Individualisierung“ beschriebenen Tendenzen in der Breitensportszene hat die Sportsoziologie bislang mit unterschied-lichen Ansätzen zur „Einmischung“ und kontroversen Empfehlun-gen an den organisierten Sport reagiert: Einerseits forderte sie zur „konsequenten Modernisierung der Sportvereine“ auf, zur Anpas-sung an marktwirtschaftliche Entwicklungsbedingungen, zum not-wendigen „Übergang vom traditionalen zum modernitätsorientier-ten Sportverein“, zum Wandel von „der Solidargemeinschaft zur Dienstleistungseinrichtung“, wie beispielsweise BAUR/KOCH/TELSCHOW.87) Gerade diese Empfehlungen sind Aus-druck für die dominierenden Auffassungen in der Sportsoziologie, welche die Ökonomisierung und Professionalisierung auch des
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Vereinssports als eine unausweichliche Konsequenz von Moderni-sierungs- und Individualisierungsprozessen in der marktwirtschaft-lich strukturierten Gesellschaft betrachtet. Im Gegensatz dazu kann die Sportsoziologie auch eine prinzipiell kritische Haltung zu den als Individualisierungsfolgen verschlüsselten Veränderungen im Breitensport einnehmen und den verheißenden Begriff „Indivi-dualisierung“ zu entzaubern suchen, welches das Anliegen dieses Beitrages war. Ähnlich wie ALKEMEYER, der es als Aufgabe einer erneuerten, zeitgemäßen „Kritischen Theorie des Sports“ betrach-tet, „die potentiell widerspenstigen Momente“ des Sports heraus-zuarbeiten und deren „mögliche emanzipatorische Verwendungs-weisen zu erforschen.“88) Im Sinne einer Auffassung von Soziolo-gie, die sich nicht mit bloßen Feststellungen begnügt und die „rea-listische Mittel anbieten (kann), um den der Gesellschaftsordnung immanenten Tendenzen entgegenzuwirken“89), plädiere ich für ein Festhalten an den traditionell tragenden Momenten des Vereinsle-bens (Ehrenamtlichkeit, Öffnung für jedermann, Solidarität und Gemeinschaft) und für deren Bewahrung gegenüber existenzge-fährdenden „Modernisierungszwängen“. Die Vereine sollten sich anstatt auf oftmals überdrehte, medial suggerierte und kurzlebige Wünsche, die uns ungeprüft als „veränderte Bedürfnislagen“ prä-sentiert werden, aber wohl kaum für die Masse der Breitensportler repräsentativ sein dürften90), im Interesse der Wahrung ihres Pro-fils als gemeinnützige Vereinigungen weiterhin auf die tatsächli-chen Bedürfnisse der Individuen orientieren, wie Gesund-erhaltung, Leistungsfähigkeit, Selbstbestätigung, Gemeinschaft, Naturverbundenheit und auch Leistung. Die von GRUPE aus sport-pädagogischer Sicht genannten „Verträglichkeitskriterien“ für die Sportvereine91) sehe ich als eine Aufforderung zur Besinnung auf die traditionell tragenden Prinzipien des organisierten Sports und als eine Absage an den auch in der Soziologie in der letzten Zeit verbreiteten Verzicht auf normative Orientierungen.92) Es ist ja durchaus möglich, daß gerade „die fortschreitende Freisetzung der Individuen aus traditionalen Bindungen“, das heißt der mehrheitli-che Verlust an bisherigen Sicherheiten und Gewißheiten und das zunehmende Angewiesensein der Individuen auf sich selbst zu ei-ner verstärkten Suche nach sozialem Halt und nach kollektiven Orientierungen führt, für die die Sportvereine ein Angebot bereit-
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stellen, und somit die beschworene oder tatsächliche Existenzkrise der Sportvereine nicht eintritt beziehungsweise überwunden wird.
Das Versprechen der Individualisierungstheorie von einem allge-meinen Zugewinn an Optionen für die Individuen kann als empi-risch nicht belegt und belegbar in Frage gestellt werden. Vielmehr wird durch die empirische Sozialforschung bestätigt, „daß die ver-meintliche schrankenlose ‘Individualisierung’ viel eher ein bil-dungsbürgerlicher Traum und Selbsttäuschung ist.“93) Auch die Annahme einer „fortschreitenden Individualisierung“ im Sport könnte sich als eine Prognose und Verheißung erweisen, deren unkritische Propagierung durch die Sportsoziologie die Sportverei-ne zusätzlich verunsichern dürfte.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. BECK, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986; BECK, U.: Bindungsverlust und Zukunftsangst. Leben in der Risi-kogesellschaft. In: HARTWICH, H.-H.: Bindungsverlust und Zukunftsangst, Opladen 1994, S. 25-38
2) Vgl. ZAPF, W.: Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesellschaften. In: KORTE, H./SCHÄFERS, B.: Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 1992, S. 190
3) Vgl. BRINKHOFF, K.-P.: Zwischen Verein und Vereinzelung. Jugend und Sport im Individualisierungsprozeß. Schorndorf 1992; BETTE, K.-H.: Sport und Individua-lisierung. Spektrum der Sportwissenschaften 1 (1993) 5, S. 34-55; ALKEMEYER, T.: Sport, die Sorge um den Körper und die Suche nach Erlebnissen im Kontext ge-sellschaftlicher Modernisierung. In: HINSCHING, J./BORKENHAGEN, F. (Hrsg.): Mo-dernisierung und Sport, St. Augustin 1995, S. 29-64; BAUR, J./KOCH, U./TELSCHOW, S.: Sportvereine im Übergang: Die Vereinslandschaft in Ost-deutschland. Aachen 1995; DIGEL, H.: Sportentwicklung in Deutschland - Chan-cen und Risiken gesellschaftlicher Modernisierung. In: RODE, J./PHILIPP, H. (Hrsg.): Sport in Schule, Verein und Betrieb, St. Augustin 1995, S. 13-42; MEIER, R./WINKLER, J.: Wozu noch Sportverbände? Der Sport zwischen Staat und Markt. In: HINSCHING, J./BORKENHAGEN, F. (Hrsg.): Modernisierung und Sport, St. Augus-tin 1995, S. 225-235
4) Vgl. BETTE, K.-H.: A.a.O.
5) Obwohl die Rolle des Menschen in der Gesellschaft und die Forderung nach einer Gesellschaft für den Menschen in der marxistischen Theorie einen zentra-len Platz einnehmen, wird dem Marxismus bis heute immer wieder unterstellt, daß in dieser Theorie das konkrete Individuum in der Gesellschaft aufgelöst wer-de und für den Marxismus sozusagen eine antihumanistische Perspektive cha-rakteristisch sei. Insbesondere L. SÉVE hat sich mit diesem Vorurteil, das durch-aus auch ideologischen Motiven entspringen kann, ausführlich auseinanderge-setzt. Er legt im betreffenden Kapitel seines Buches akribisch dar, wie sich im Werk von MARX, von den „Ökonomisch-philosophischen Schriften aus dem Jahre 1844“ bis hin zum „Kapital“ ein folgerichtiger Übergang von einer spekulativen zu
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einer wissenschaftlichen Auffassung vom Menschen vollzogen hat und die Über-einstimmung der Wissenschaft von den gesellschaftlichen Verhältnissen mit der Wissenschaft vom Menschen hergestellt wurde. SÉVE wendet sich überzeugend gegen die Gegenüberstellung der Frühschriften von MARX zum „Kapital“ und ge-gen eine „antihumanistische Deutung des Kapitals“. Vgl. SÉVE, L.: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Berlin 1972, S. 61-166
6) Vgl. BECK, U.: Jenseits von Stand und Klasse? In: BECK, U./BECK-GERNSHEIM, E. (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt 1994, S. 45
7) Vgl. BECK, U.: Risikogesellschaft. A.a.O., S. 205-207; BECK, U.: Jenseits von Stand und Klasse? A.a.O., S. 43; BECK, U./BECK-GERNSHEIM, E.: Individualisie-rung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjekt-orientierten Soziologie. In: BECK, U./BECK-GERNSHEIM, E. (Hrsg.): A.a.O., S. 11-12
8) Vgl. BECK, U./BECK-GERNSHEIM, E.: A.a.O, S. 16
9) ENGELS, F.: Grundsätze des Kommunismus. In: MARX, K./ENGELS, F.: Ausge-wählte Werke, Band I, Berlin 1981, S. 338-339
10) BECK, U./BECK-GERNSHEIM, E.: A.a.O., S. 21
11) BECK, U.: Jenseits von Stand und Klasse? A.a.O., S.47
12) Ebenda, S. 47 f
13) MARX, K./ENGELS, F.: Die deutsche Ideologie. In: Marx, K./Engels, F.: Ausge-wählte Werke, Band I. A.a.O., S. 257
14) BECK, U.: Jenseits von Stand und Klasse? A.a.O., S. 46
15) Vgl. BECK, U./BECK-GERNSHEIM, E.: A.a.O., S.14
16) Ebenda, S. 12
17) Ebenda, S. 14
18) Ebenda, S. 13
19) Vgl. ebenda, S. 26
20) Vgl. DUCHROW, U.: Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Gütersloh 1994; KURZ, R.: Der Kollaps der Moderne. Vom Zusammenbruch des Kaser-nensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Leipzig 1994
21) MARX, K./ENGELS, F.: Manifest der kommunistischen Partei. In: MARX K./ENGELS, F.: Ausgewählte Werke, Band I. A.a.O., S. 419 f
22) Kritikansätze und Einwände tragen unter anderem vor: VESTER, M. u.a.: Sozi-ale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Köln 1993; MEIER, U.: „Alte“ und „Neue“ Ungleichheiten. Erziehung und Wissenschaft (1994) 7-8, S. 18-20; KÄSLER, J.: Suche nach der guten Gesellschaft. In: FRITZ-VANNAHME, J. (Hrsg.): Wozu heute noch Soziologie? Opladen 1996, 21-30; ALLHEIT, P.: „Individuelle Modernisierung“ - Zur Logik biographischer Konstruktion in modernisierten mo-dernen Gesellschaften. In: HRADIL, S. (Hrsg.): Differenz und Integration. Die Zu-kunft moderner Gesellschaften, Frankfurt/ New York 1997, S. 941-951; BERTRAM, H.: Die drei Revolutionen. Zum Wandel der privaten Lebensführung im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft. In: HRADIL, S. (Hrsg.), A.a.O., S. 309-323; GERHARDS, J./HACKENBROCH, R.: Individualisierungsprozesse zwischen 1894 und 1994 am Beispiel der Entwicklung von Vornamen. In: HRADIL, S. (Hrsg.), A.a.O., S. 358-371; HONDRICH, K.O.: Die Dialektik von Kollektivierung und Individualisie-rung - am Beispiel der Paarbeziehung. In: HRADIL, S. (Hrsg.), A.a.O., S. 298-308; MIEGEL, M.: Der wuchernde Staat als Folge eines falschen Individualismus. Neue Zürcher Zeitung vom 29./30. März 1997; NOLL, H.H./SCHNEIDER, N.F.: Individuali-
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sierung und Pluralisierung der Lebensführung? Einführung. In: HRADIL, S. (Hrsg.), A.a.O., S. 295-297
23) Vgl. BETTE, K.-H.: A.a.O.
24) Vgl. ALKEMEYER, T.: A.a.O.
25) BETTE, K.-H.: A.a.O., S.35
26) Ebenda
27) Vgl. BRINKHOFF, K.-P.: A.a.O.
28) Vgl. ZAPF, W.: Modernisierung und Modernisierungstheorie. Berlin 1992; ZAPF, W.: Entwicklung und Sozialstruktur moderner Gesellschaften. A.a.O.
29) BETTE, K.-H.: A.a.O., S. 39
30) Ebenda, S. 42
31) Vgl. ebenda, S. 41
32) Ebenda, S.42
33) Vgl. ALKEMEYER, T.: A.a.O.
34) MARX, K./ENGELS, F.: Die deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3. Berlin 1969, S.394
35) Vgl. ALKEMEYER, T.: A.a.O., S. 46
36) Vgl. ROHRBERG, K.: Zur Transformation des Sportsystems im Osten und zu Handlungsbedingungen für die Sportpolitik im Freizeitsport. In: LÜSCHEN, G./RÜTTEN, A.: Sportpolitik. Sozialwissenschaftliche Analysen, Stuttgart 1996, S. 239 f
37) ALKEMEYER, T.: A.a.O., S. 52 ff
38) BETTE, K.-H.: A.a.O., S. 39
39) Vgl. SCHWARK, J.: Die unerfüllten Sportwünsche. Zur Diskrepanz von Sport-wunsch und Sportrealität Erwachsener. Münster 1995
40) Vgl. ALKEMEYER, T.: A.a.O., S. 50
41) Vgl. ebenda, S. 39
42) BETTE, K.-H.: A.a.O., S. 44
43) Ebenda
44) BRETTSCHNEIDER, W.-D./BAUR, J./BRÄUTIGAM, M.: Als Einleitung: Zum Verhält-nis von Jugend und Sport. In: BRETTSCHNEIDER, W.-D./BAUR, J./BRÄUTIGAM, M. (Hrsg.): Sport im Alltag von Jugendlichen, Schorndorf 1989, S. 8; BRINKHOFF, K.-P.: A.a.O., S. 229 ff
45) BETTE, K.-H.: A.a.O., S. 45
46) MEIER, R./WINKLER, J.: A.a.O., S. 233 f
47) Vgl. ROHRBERG, K.: Breitensport im Osten - jenseits von Stand und Klasse? In: CACHAY, K./HARTMANN-TEWS, I. (Hrsg.): Sport und soziale Ungleichheit. Stutt-gart 1998
48) Vgl. SCHWARK, J.: A.a.O.
49) Vgl. ALKEMEYER, T.: A.a.O., S. 54 f
50) ENGELS, F.: Brief an J. Bloch in Königsberg. In: MARX, K./ENGELS, F.: Ausge-wählte Werke, Band VI, Berlin 1981, S. 555
51) BETTE, K.-H.: A.a.O., S. 46
52) Ebenda, S. 49
53) MARX, K./ENGELS, F.: Die deutsche Ideologie. In: MARX, K./ENGELS, F.: Aus-gewählte Werke, Band I. A.a.O., S. 260
54) BETTE, K.-H.: A.a.O.
55) Ebenda, S. 47
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56) Ebenda
57) Ebenda, S. 48
58) Ebenda
59) MARX, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: MARX, K./ENGELS, F.: Ausgewählte Werke, Band I. A.a.O., S.99
60) ALKEMEYER, T.: A.a.O., S. 44 ff
61) Vgl. u.a. BÖHME, J.-O. u.a.: Sport im Spätkapitalismus. Zur Kritik der gesell-schaftlichen Funktionen des Sports in der BRD. Frankfurt a.M. 1971
62) ENGELS, F.: Brief an W. Borgius in Breslau. In: Marx, K./Engels, F.: Ausge-wählte Werke, Band I. A.a.O., S. 606
63) Ebenda
64) LUHMANN, N.: Soziale Systeme. Grundriß... Frankfurt 1994, S. 25
65) Vgl. ROHRBERG, K.: „Nachholende Modernisierung“ und Breitensportentwick-lung im Osten. Eine kritische Betrachtung der gesellschaftlichen Veränderungen und ihrer Reflexion im Breitensport anhand der „Universalien“ der Modernisie-rungstheorie. Sportwissenschaft 29 (1999) 1, S. 62-79
66) Mitunter wird dem Marxismus unterstellt, er vertrete in bezug auf die Bezie-hung zwischen Gesellschaft und Individuum eine deterministische Auffassung. Statt dessen konstatiert der Historische Materialismus aber eine Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum und zwischen Verhältnissen und Verhal-ten. Auf diese dialektische Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum wird im Werk von MARX in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder hingewie-sen, keineswegs nur in den bekannten „Thesen über Feuerbach“67), sondern un-ter anderem in „Die Deutsche Ideologie“68) und in MARX’ Brief an Annenkow.69) Gesellschaftliche Verhältnisse werden hier als das Produkt des wechselseitigen Verhaltens der Individuen, als vom Menschen gemachte und von Menschen ver-änderbare und zu verändernde Verhältnisse aufgefaßt. Das schließt den Gedan-ken ein, daß sich die Verhältnisse gegenüber den Individuen verselbständigen und zwanghaften Charakter annehmen können und annehmen. Die Feststellung in „Die Deutsche Ideologie“, daß „also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“ oder die „Menschen machen ihre Ge-schichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken“70), drücken dieses wechselseitige Verhältnis anschaulich aus. Weiter ausgearbeitet findet sich die Auffassung von der Wechselwirkung von Verhältnissen und Verhalten heute in der Theorie der Strukturierung von GIDDENS, die den Dualismus von Individuum und Gesellschaft durch „die Dualität von Handlung und Struktur“71) ersetzt. Im üb-rigen kann ebenfalls bei SÉVE nachgelesen werden, daß bei MARX keineswegs das Individuum auf die gesellschaftlichen Verhältnisse reduziert wird.72)
67) Vgl. MARX, K.: Thesen über Feuerbach. In: MARX, K./ENGELS, F.: Ausgewählte Werke, Band I. A.a.O., S. 199
68) Vgl. MARX, K./ENGELS, F.: Die deutsche Ideologie. A.a.O., S. 232
69) MARX, K.: Marx an P.W. Annenkow in Paris. In: MARX, K./ENGELS, F.: Ausge-wählte Werke, Band I. A.a.O., S. 608-609
70) MARX, K./ENGELS, F.: Die deutsche Ideologie. A.a.O.
71) GIDDENS, A.: Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/New York 1992, S. 215
72) Vgl. SÉVE, L.: A.a.O., S. 119-126
73) BETTE, K.-H.: A.a.O., S. 49
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74) Auch DIGEL nimmt an, daß die weitere „Durchökonomisierung des Sports“ und die damit einhergehende „Individualisierungsspirale“ vor allem den Freizeitsport begünstigen werde. A.a.O., S. 29 f
75) Vgl. WINKLER, J.: Muster sportlichen Handelns in der Bundesrepublik Deutschland (West) zwischen 1984 - 1991. In: HOLZAPFEL, G. u.a. (Hrsg.): Wei-terbildung, Sport, Gesundheit, Neuwied 1995
76) Vgl. GRUPE, O.: Die neue Sportlichkeit und die Folgen für die Vereinskultur. In: Kirche und Sport. Sportwirklichkeit und Sportzukunft. Hannover 1993, S. 21
77) Vgl. ebenda, S. 19-23
78) DIGEL, H.: A.a.O., S. 36 f
79) Ebenda, S. 30
80) BETTE, K.-H.: A.a.O., S. 49
81) Vgl. SCHWARK, J.: A.a.O., S. 271-313
82) Vgl. ROHRBERG, K.: Breitensport im Osten... A.a.O.
83) Vgl. DIGEL, H.: A.a.O., S. 32
84) Vgl. HEINEMANN, K./SCHUBERT, M: Der Sportverein. Ergebnisse einer reprä-sentativen Untersuchung. Schorndorf 1994
85) Vgl. DIGEL, H.: A.a.O.
86) KÄSLER, J.: A.a.O., S. 29
87) Vgl. BAUR, J./KOCH, U./TELSCHOW, S.: A.a.O., S. 25-27
88) ALKEMEYER, T.: A.a.O., S. 60
89) BOURDIEU, P.: Störenfried Soziologie. In: FRITZ-VANNAHME, J. (Hrsg.): A.a.O., S. 70
90) Vgl. SCHWARK, J.: A.a.O., S. 271-313
91) Vgl. GRUPE, O.: A.a.O., S. 19-23
92) Vgl. KÄSLER, J.: A.a.O., S. 26-27
93) Ebenda, S. 24
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Zur Entwicklung des Leistungssports in der DDR –
Anmerkungen zur Abhandlung von RITTER
Von KARSTEN SCHUMANN und HEINZ SCHWIDTMANN
Der nachfolgende Beitrag bezieht sich auf einen Artikel von RITTER in der Zeitschrift „Sozial- und Zeitgeschichte des Sports“ Heft 2/1998. Zu einer Stellungnahme fühlten wir uns durch BUSS/GÜLDENPFENNIG/KRÜGER herausgefordert, die „gehaltvolle Aufschlüsse“ zur DDR-Sportgeschichte nur von einem Ansatz erwarten, den man „integrierte deutsch-deutsche (oder gesamtdeutsche) Sportgeschichtsschreibung“ nennen könnte. (Heft 1/1999) Unser Beitrag lag den Heraus-gebern der Zeitschrift „Sozial- und Zeitgeschichte des Sports“ und damit auch SPITZER vor, wurde aber nicht zur Diskussion gestellt. Die Gründe dafür erhellt - ungewollt - die ungewöhn-lich scharfe und zum Teil mit in der Wissenschaft unüblichen Mitteln vorgetragene Attacke von SPITZER und RITTER im Heft 2/1999 gegen den Artikel von BUSS/GÜLDENPFENNIG/KRÜGER.
Wer in der Abhandlung von RITTER über „Die Rolle der den ‘Leis-tungssport’ betreffenden Politbürobeschlüsse von 1967 bis 1970 für das ‘Leistungssportsystem’ der DDR“1) korrekte zeitgeschichtli-che Aussagen erwartet, wird enttäuscht, weil relevante wissen-schaftliche Arbeiten, Aussagen und Meinungen zu dem gewählten Untersuchungsgegenstand weder geprüft noch hinreichend einbe-zogen wurden. RITTER nimmt zwar erkennbar Bezug auf solche Befunde zeitgeschichtlicher Untersuchungen - auch aus der ost-deutschen Sportwissenschaft. Er nutzt sie aber nicht, um durch ei-ne vorurteilsfreie Debatte - auch von kontroversen Ansichten - den historischen Vorgängen angemessene Erkenntnisse zu gewinnen. Daran ändert weder die nun erfolgte Rechtfertigung eigener Auf-fassungen noch die Herabwürdigung von Zeitzeugen oder der Er-gebnisse anderer wissenschaftlicher Untersuchungen etwas.2) In Anlehnung an SPITZER schätzt RITTER beispielsweise ein, daß in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1972 „die bis dahin un-einheitliche und nur mäßig erfolgreiche Organisationsstruktur des in der DDR sogenannten ‘Leistungssport’ systematisiert“ wurde
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und diese „Entwicklung zum ‘Leistungssportsystem’ ... sich in ih-rem Kern über den Zeitraum von knapp fünf Jahren“3) vollzog. Na-türlich können solche Behauptungen nicht hinreichend belegt wer-den. Denn bereits in der Zeit bis 1964 wurden entscheidende Grundlagen für eine dynamische Entwicklung im Leistungssport geschaffen. Schon am Beginn der 50er Jahre wurde zielgerichteter über eine systematische Förderung des Sports, einschließlich des Leistungssports, nachgedacht. Ausdruck dafür war nicht nur die Gründung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig im Oktober 1950, sondern auch die Einführung von Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) ab dem Schuljahr 1952/53, die Bil-dung der Sportclubs ab 1954, die Gründung des Sportmedizini-schen Dienstes 1963 oder die Durchführung der Kinder- und Ju-gendspartakiaden, die 1965 mit den Kreisspartakiaden begannen, ihre Vorläufer aber z.B. auch in den zentralen Wettkämpfen der KJS seit 1958 hatten. Die Zeit von 1949 bis 1964 war zudem vor allem durch die Auseinandersetzungen um die selbständige Teil-nahme am internationalen Sport, insbesondere an den Olympi-schen Spielen, und die damit verbundene bilaterale Auseinander-setzung mit der BRD geprägt. Allein die Notwendigkeit, besser als die Sportler aus der BRD zu sein und damit oft besser als die Weltbesten, um überhaupt für die gemeinsamen deutschen Olym-piamannschaften 1956, 1960 oder 1964 nominiert zu werden, hat-te nicht nur maßstabsetzende Funktion, sondern war auch ent-scheidend für das äußerst kritische Verhältnis zur vollzogenen Leistungsentwicklung und zur Dynamik im Leistungssport generell. Zweifellos ist KNECHT zuzustimmen, der feststellte, daß für die „Entwicklung des Leistungssports die gesamtdeutsche Mannschaft eine wichtige Rolle gespielt hat“.4) Hinzu kam, daß die Ausschei-dungs- und Qualifikationswettkämpfe - so WINKLER - mit „gnaden-loser Härte“5) geführt worden sind. Nicht weniger gnadenlos waren bekanntlich all jene Verhandlungen, in denen Schritt für Schritt gleichberechtigte Teilnahmebedingungen am internationalen Sport für die DDR-Sportler erstritten werden mußten. Das hatte zur Fol-ge, daß in dieser Zeit der notwendige Wissensvorlauf und ent-scheidende materielle, institutionelle und personelle Vorausset-zungen entstanden. Das belegen u.a. die Beschlüsse des Politbü-ros des ZK der SED vom 18.11.1958 und 20.1.1959, die auch hal-fen, Grundlagen für eine straffe und dem komplexen Gegenstand
Kommentar [S1]:
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gerecht werdende Führung des Leistungssports zu schaffen.6) Es sind also weit mehr als vier Jahre vor den Olympischen Spielen 1972 jene Bedingungen und Strukturen entstanden, welche die 1972 nachgewiesene Leistungsentwicklung ermöglichten.
Wir wollen uns allerdings nicht umfassend mit den von RITTER aufgeworfenen Fragen auseinandersetzen. Deshalb konzentrieren wir uns auf generelle Überlegungen zur historischen Analyse der komplexen Vorgänge im Leistungssport der DDR und auf die Leis-tungssportkommission (LSK). Dabei gehen wir davon aus, wie das o.g. Beispiel verdeutlicht, daß historische Analysen stets die Vor-geschichte des zu untersuchenden Phänomens wie auch die kon-krete historische Situation beachten müssen. Da die von uns erar-beiteten Erkenntnisse7) sich eindeutig von denen RITTERs unter-scheiden, erachten wir die nachfolgende Erörterung für ange-bracht.
Zum gesellschaftlichen Stellenwert des Leistungssports in der DDR8)
Entsprechend dem Politikverständnis in der DDR wurden Körper-kultur und Sport, insbesondere der Leistungssport, ebenso wie die Kultur in ihrer Gesamtheit, als Feld der Klassenauseinanderset-zung begriffen. Folglich wurde die Sportpolitik als Teil der Innen- und Außenpolitik verstanden und auch definiert. Aus diesem Ver-ständnis, den Wirkungsmöglichkeiten sportlicher Leistungen sowie den gegebenen historischen Bedingungen resultierten nicht nur der Stellenwert des Leistungssports für die politische Führung sondern auch eine spezielle Institutionalisierung.
Zu den gegeben historischen Bedingungen gehören vor allem, daß nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sich in Deutschland zwei hinsichtlich der materiellen, ideologischen und politischen Verhält-nisse völlig verschiedene, teilweise bewußt als Gegensätze ange-legte Staaten entwickelten. Die Zeit der Entstehung und Konsoli-dierung dieser Staaten wurde durch die Ost-West-Konfrontation und den „kalten Krieg“ als Form der Systemauseinandersetzung zwischen den Großmächten USA und UdSSR sowie zwischen den mit ihnen verbündeten Staaten entscheidend geprägt. Aufgrund der historischen Situation und der daraus resultierenden Frage nach der Rechtmäßigkeit der staatlichen Existenz der DDR stan-den die beiden deutschen Staaten unter einem unausweichlichen Konkurrenz- und Vergleichszwang. Die DDR - zeitlich später als
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die BRD gegründet - mußte außerdem ihre Legitimation unter den Bedingungen der nahezu völligen Ausgrenzung aus den internati-onalen Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten nachwei-sen. Die BRD wurde früher und weit mehr von der Weltöffentlich-keit akzeptiert, durch internationale Organisationen und Institutio-nen auf den verschiedensten Gebieten anerkannt. Sie erhob dar-über hinaus anfänglich für das gesamte Gebiet der BRD, Westber-lins und der DDR einen Alleinvertretungsanspruch, dessen Durch-setzung auch von den politischen Verbündeten der BRD zumeist konsequent unterstützt wurde. Die Grenze zwischen der BRD und der DDR war überdies zugleich Staats- und Systemgrenze zwi-schen den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Koalitionen, zwischen erster und zweiter Welt. Durch die Ost-West-Konfrontation in Form des „kalten Krieges“ und den Alleinvertre-tungsanspruch der BRD war die DDR und damit ihr politisches System in den 50er und 60er Jahren außenpolitisch isoliert und unterlag den Restriktionen einer Nichtanerkennungspolitik sowohl durch die westlichen Staaten als auch durch eine Mehrheit der Staaten aus der dritten Welt, und zwar auf allen Gebieten auch im Sport.9) Für historische Betrachtungen zur Entwicklung des Leis-tungssports der DDR ist es deshalb unverzichtbar, sich diese Konstellationen zu vergegenwärtigen und bei der Bewertung zu berücksichtigen.
Entwicklungsetappen des Leistungssportsystems der DDR10)
Der Leistungssport war nicht von Anfang an Schwerpunkt im Pro-zeß des Aufbaus der Sportbewegung in der DDR. In den ersten Nachkriegsjahren hatten zunächst andere Aufgaben den Vorrang, so daß dem Leistungssport in den Anfangsjahren keine besondere Bedeutung zukam.11) Anfang der 50er Jahre wurden - wie bereits erwähnt - auch Voraussetzungen und Möglichkeiten für eine dy-namische Leistungsentwicklung geschaffen. Damit wurde die erste Etappe der Entwicklung des Leistungssports der DDR eingeleitet. Die Zeit bis 1964 prägte vor allem die bilaterale Auseinanderset-zung mit der BRD um die selbständige Teilnahme am internationa-len Sport - insbesondere an den Olympischen Spielen. Die frühzei-tige Aufnahme der BRD in den internationalen Sport lieferte - so KNECHT - das „vielleicht entscheidende Argument“ für die Förderung des Leistungssports in der DDR.12) Mit den Olympischen Spielen 1964, an denen letztmalig eine gemeinsame deutsche Mannschaft
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teilnahm, und dem Anschluß an die führenden Sportnationen der Welt ist u.E. die Vorgeschichte der Entwicklung des Leistungssports der DDR abgeschlossen. In diesem Zeitraum wurden - und das war das entscheidende Ergebnis - die wesentlichen materiellen, institu-tionellen und personellen Voraussetzungen geschaffen, die dem Leistungssport der DDR später zur Weltgeltung verhalfen.
Die zweite Etappe umfaßt den Zeitraum der Zuerkennung aller Rechte für die Olympiamannschaft der DDR als Vertretung eines souveränen Staates durch das IOC und endet eigentlich mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Für diese Etap-pe der Entwicklung des Leistungssports war die Orientierung an der absoluten Weltspitze charakteristisch. Die DDR wurde, ge-messen an den Erfolgen zu den internationalen Wettkampfhöhe-punkten, insbesondere den Olympischen Spielen, zu einer der füh-renden Leistungssportnationen der Welt. Die noch in der ersten Etappe vorherrschende und durch die Nichtanerkennung erzwun-gene bilaterale Auseinandersetzung mit der BRD wurde mit der selbständigen Teilnahme zweier deutscher Mannschaften sukzes-sive auf die multilaterale Ebene des Weltsports verlagert. Auch wenn 1972 in München die bilaterale Auseinandersetzung offenbar nochmals vorherrschte, war das - in Anbetracht der Vorgeschichte - eigentlich mehr den spezifischen Umständen geschuldet. Aber die besondere Stellung des Leistungssports in der Sportbewegung der DDR wurde nun deutlich sichtbar. Die „Vorrangigkeit in seiner Ent-wicklung gegenüber allen anderen Bereichen der sozialistischen Körperkultur“13) war gesellschaftliche Realität geworden.
Bereits am Ende der ersten Etappe zeichnete sich ab, daß mit der weiter anhaltenden Leistungsdynamik im internationalen Leis-tungssport neue Überlegungen erforderlich waren. Das bestätigte sich im Olympiazyklus 1964 bis 1968 und vor allem während der Olympischen Spiele 1968 nachdrücklich. Um zu den führenden Leistungssportnationen der Welt zu gehören, wurde eine Konzent-ration der Mittel und Ressourcen unumgänglich, weil das unter den konkreten Bedingungen der DDR für den Leistungssport zur Ver-fügung stehende Gesamtpotential begrenzt war. Das betraf sowohl die Grundfonds und die finanziellen Fonds als auch die für manche Sportarten keineswegs hinreichenden natürlichen Bedingungen. Auch die personellen Möglichkeiten waren - gemessen an der Einwohnerzahl der DDR und im Vergleich mit anderen Ländern -
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eher spärlich. Es wurden also die materiellen wie auch die institu-tionellen und personellen Möglichkeiten gebündelt und auf Schwerpunkte konzentriert.14) Wie bereits erwähnt, behauptet RITTER in Anlehnung an SPITZER, daß sich die Entwicklung des Leistungssportsystems der DDR maßgeblich im Prozeß der Vorbe-reitung auf die Olympischen Spiele 1972 vollzog.15) Er begründet das z.B. mit der „Machtfülle“ der LSK der DDR oder mit dem Um-stand, daß sich der Spitzensport der DDR angeblich nun „seine Gesetze selbst schrieb“ oder gar mit der „leistungsabhängigen Trainerentlohnung“, durch die - nach RITTER - „nicht nur sozialisti-sche Prinzipien der Gleichverteilung mißachtet“16) wurden. Ganz abgesehen davon, welch fatale Unkenntnis solche und andere Be-hauptungen offenbaren, wird geflissentlich oder bewußt überse-hen, daß die entscheidenden Grundlagen für das Leistungssport-system bereits im Zeitraum bis 1964 geschaffen worden waren. Das gilt auch für die Bedingungen zur Führung des Leistungs-sports17), die insgesamt, wie RITTER mit dem Beschluß des Politbü-ros des ZK der SED vom 8.4.1969 eigentlich auch selbst belegt18), dann vor allem weiterzuentwickeln waren. RITTER wäre also in die-sem Zusammenhang zu fragen, wie die Leistungen der DDR-Olympiamannschaft 1972 zu erklären sind, wenn nicht schon meh-rere Jahre zuvor jene Strukturen des Leistungssportsystems ge-schaffen worden wären, die das ermöglichten. So kurzfristige Lö-sungen, wie er sich das vorstellt, sind generell - das ist übrigens inzwischen eine Binsenweisheit - undenkbar.
Zur Führung des Leistungssports der DDR
Eine wesentliche Bedingung der dynamischen Entwicklung des Leistungssport in der DDR bestand zweifellos darin, daß „zentral, straff und professionell geleitet wurde“.19) Die Führung des Sports, einschließlich der des Leistungssports, vollzog sich als arbeitsteili-ger Prozeß zwischen dem Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) und dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport. Die Abteilung Sport des ZK der SED war in beiden Institutionen perso-nell ständig vertreten.20)
Das Sekretariat des Bundesvorstandes des DTSB war für die in-haltliche und organisatorische Führung des Leistungssports ver-antwortlich. Das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport war ein Organ des Ministerrates der DDR und trug in bezug auf den Leistungssport Verantwortung für die Anleitung und Kontrolle der
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Leistungssportforschung und die Entwicklung der Sportwissen-schaft, die Aus- und Weiterbildung der im Leistungssport tätigen Personen, die Gewährleistung der sportmedizinischen Betreuung und die Sicherung der materiell-technischen Voraussetzungen.21) Die Abteilung Sport des ZK der SED war - entsprechend ihrer Funktion - in keiner Weise unmittelbar für den Leistungssport ver-antwortlich.22) Die Spezifik der Führung des DDR-Sports bestand darin, daß die Verantwortungsträger aus diesen Institutionen die sogenannte „Sportleitung der DDR“23) bildeten. Die höchste und unmittelbare Verantwortung für den Leistungssport hatten aus dem DTSB der Präsident beziehungsweise der/die zuständige(n) Vize-präsident(en) für Leistungssport24) sowie der Vizepräsident für in-ternationale Arbeit; aus dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport der Staatssekretär und seine Stellvertreter; aus der Abtei-lung Sport des ZK der SED der Abteilungsleiter. Unter „Sportlei-tung der DDR“, bezogen auf den Leistungssport, ist also eine be-stimmte Gruppe von Personen zu verstehen, die infolge ihrer ob-jektiven Verantwortung und durch ihr enges Zusammenwirken ei-nen effizienten Führungsprozeß im Leistungssport ermöglichten. Der langjährige Präsident des DTSB, Manfred EWALD, der zuvor auch der erste Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Körper-kultur und Sport war, ist ab Anfang der 50er Jahre bis zur Mitte der 80er Jahre derjenige gewesen, der den Leistungssport und seine Entwicklung im erheblichen Maße bestimmte.25) In seiner biogra-phischen Schrift offenbart EWALD - allerdings in anmaßender Wei-se - auch ein solches Selbstverständnis.26)
In der aktuellen - von Wissenschaftlern aus den alten Bundeslän-dern geleisteten - Forschung zur Geschichte des DDR-Sports wird nun aber die Leistungssportkommission (LSK) zum wesentlichen Führungsorgan des Leistungssports der DDR erklärt und „als in Spitzensportfragen selbständig entscheidende Parteikommissi-on“27) angesehen. Die Bildung dieser Kommission wurde im Be-schluß des Politbüros des ZK der SED über weitere Maßnahmen zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1964 vom 17.01.1962 festgelegt.28) Sie war zunächst als ein gemeinsames Organ des Präsidiums des DTSB und des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport gegründet worden, und es gehörten ihr neben den Verantwortlichen für den Bereich Leistungssport aus dem DTSB und dem Staatlichen Komitee für Körperkultur und
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Sport auch Vertreter aus dem Ministerium für Gesundheitswesen und der DHfK an.29) Die Kommission wurde mit dem Leistungs-sportbeschluß des Politbüros des ZK der SED vom 11.09.1965 dem Präsidium des DTSB unterstellt und 1967 als „Zentrale Leis-tungssportkommission der DDR“ neu gebildet.30) Zu den Aufgaben dieser Kommission führt der Leiter der Abteilung Sport des ZK der SED HELLMANN in einer Hausmitteilung an HONECKER von 1967 aus: „Um die straffe und komplexe Leitung des Leistungssports in der DDR in den Fragen der Prognostik, der Perspektivplanung, der wissenschaftlichen Forschung und Anwendung der wissenschaftli-chen Erkenntnisse in der Praxis, der Ausbildung der Leistungs-sportler und des Nachwuchses im Hinblick auf die Olympischen Spiele, Welt- und Europameisterschaften sowie auf andere, be-deutende internationale Wettkämpfe zu gewährleisten, besteht die ‘Leistungssportkommission der DDR’. ...Grundlage der Arbeit der Leistungssportkommission der DDR bilden die Beschlüsse des Po-litbüros und des Sekretariats des ZK der SED auf dem Gebiet des Leistungssports sowie die auf diesen Beschlüssen beruhenden Festlegungen des Bundesvorstandes des DTSB, des Staatssekre-tariats für Körperkultur und Sport sowie der Minister für Volksbil-dung und für das Hoch- und Fachschulwesen.“31) Allein die Unter-stellung der Kommission unter die verschiedenen Verantwortungs- und Beschlußebenen, die in dieser Mitteilung deutlich wird, ließ ei-ne übergeordnete leitende Verantwortung für den Leistungssport gar nicht zu. Es bildeten sich vielmehr andere Formen der Leitung heraus, die eine hohe Effizienz gewährleisteten.32) Indem SPITZER u.a. sich immer wieder fast ausnahmslos an Akten orientieren und diese offenbar im Bestreben nach Bestätigung der oft bereits vor Jahrzehnten in den alten Bundesländern entstandenen Erklä-rungsmuster und Klischees abtasten, Tatsachen ebenso ignorieren wie Zeitzeugen, werden die tatsächlichen Ereignisse und Vorgänge, hier z.B. die Aufgaben und Funktion der Leistungssportkommission, verkannt und völlig falsch interpretiert und damit veraltete Erklä-rungsmuster und Klischees unentwegt bedient, fortgeschrieben o-der zugespitzt.33) Da RITTER einfordert, daß sich die mittels „Oral history“ gewonnenen Ergebnisse „eher an juristischen Standards messen lassen müssen“ und „Zeugenaussagen immer die schlech-testen der vorgesehenen Beweismittel darstellen“34), darf nicht ver-gessen werden, „Papier alleine aber führt keinen Beweis.“35)
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Die Ergebnisse unserer Untersuchungen und der Befragungen von führenden Persönlichkeiten des DDR-Sports zur Funktion und zu den Aufgaben der neu gebildeten Leistungssportkommission in den 70er und 80er Jahren lassen sich folgendermaßen zusam-menfassen36):
- Die Leistungssportkommission kann als eine Parteikommission bezeichnet werden, die vom Präsidenten des DTSB, der zugleich Mitglied des ZK der SED war, geleitet wurde.
- Ihr gehörten als Mitglieder an: Der Präsident des DTSB und die zuständigen Vizepräsidenten für Leistungssport, für Kultur und Bil-dung, für Internationale Fragen; der Staatssekretär für Körperkultur und Sport und seine Stellvertreter; der Leiter bzw. der Stellvertreter der Abteilung Sport beim ZK der SED; die Vorsitzenden der SV Dy-namo und der ASV Vorwärts37); der Direktor des Forschungsinstitu-tes für Körperkultur und Sport (FKS), der Rektor der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK); der Leiter des Sportmedizini-schen Dienstes; Stellvertreter aus den Ministerien für Volksbildung, Finanzen, Bauwesen und der Staatlichen Plankommission; Vertre-ter aus gesellschaftlichen Organisationen, z.B. des FDGB und der FDJ.
- Zwei Arbeitsgruppen (AG), eine für Wissenschaft und eine für Technik, unterstützten die Arbeit der Leistungssportkommission. Die Arbeitsgruppen wurden von stellvertretenden Staatssekretären geleitet.
- Die Leistungssportkommission war in erster Linie ein Koordinie-rungsorgan zur Realisierung der Leistungssportbeschlüsse des Politbüros des ZK der SED. Sie war „weniger ein Entscheidungs-gremium“, sondern diente „mehr der Koordinierung der Aufgaben mit vielen Bereichen, die für den Leistungssport wichtige Zuleis-tungen bringen mußten“38), und hat sich insbesondere als Koordi-nierungsorgan über viele Jahre bewährt.
- Die keineswegs herausragende Stellung als Führungsorgan im Leistungssport resultiert vor allem aus der Tatsache, daß die un-mittelbar Verantwortlichen für den Leistungssport dem Sekretariat des Bundesvorstandes des DTSB angehörten und keine der we-sentlichen schöpferischen Impulse von der Leistungssportkommis-sion ausgehen konnten.39) Diese Aussagen - bestätigt durch zahl-reiche Gespräche mit Zeitzeugen - und die Ergebnisse der Doku-mentenanalyse über den gesamten Zeitraum der Existenz der
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DDR40) belegen: Das Sekretariat des Bundesvorstandes des DTSB war das entscheidende und zentrale Führungsorgan des Leistungssports der DDR. Es entschied letztlich - auch infolge sei-ner außerordentlichen Fachkompetenz für die Komplexität leis-tungssportlicher Entwicklungen - über alle grundsätzlichen Fragen und erforderlichen Maßnahmen, und zwar auf der Grundlage der Leistungssportbeschlüsse des Politbüros des ZK der SED, für de-ren Erarbeitung es selbst verantwortlich war.41) Es gewährleistete zudem maßgeblich die Durchsetzung und Kontrolle dieser Be-schlüsse. Da dem Sekretariat des DTSB neben dem Präsidenten und den Vizepräsidenten des DTSB auch der Staatssekretär für Körperkultur und Sport und der Leiter der Abteilung Sport des ZK der SED angehörten, ist von einer kollektiven Verantwortung bei der Entwicklung des Leistungssports auf der Grundlage der Leis-tungssportbeschlüsse des ZK der SED auszugehen. Die Leis-tungssportkommission bereitete die Lösung von Aufgaben vor, die vom Leistungssport und speziell vom Sekretariat des DTSB nicht allein realisiert werden konnten. Sie konzentrierte sich u.a. auf grundsätzliche und übergreifende Aufgaben der Wissenschaft und Forschung, der Medizin und Sportmedizin, der Technik und vor al-lem auf besondere Investitionen, die Herstellung und Beschaffung von Sportmaterialien und -ausrüstungen. Die Kommission emp-fahl, z.B. den Ministerien, Aufgaben oder Maßnahmen und sicher-te über ihre Mitglieder in den an der Entwicklung des Leistungs-sports beteiligten gesellschaftlichen und staatlichen Bereichen de-ren Prüfung und, wenn möglich, Durchsetzung im Interesse der Ziele des Leistungssports.
Die von RITTER vertretene These der „Gültigkeit der direkten Wei-sungsberechtigung der LSK der DDR gegenüber dem Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB), dem Staatlichen Komitee für Körper-kultur und Sport (Stako) und deren untergeordneten Institutionen sowie die indirekte Weisungsberechtigung gegenüber Ministerien anderer Bereiche (jedenfalls in Sportfragen) über den Umweg der Sanktionierung der Weisungen durch das Politbüro“42) muß in Anbe-tracht der nachgewiesenen Tatbestände und der Beschlußlage zu-rückgewiesen werden. Sie läßt nicht nur die generellen Arbeitswei-sen bei einem abgestimmten gemeinsamen Vorgehen aller Beteilig-ten außer acht. Sie berücksichtigt auch in keiner Weise die Unter-schiede und das Gefälle hinsichtlich der für leistungssportliche Ent-
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wicklungen notwendigen Fachkompetenz zwischen dem Sekretariat des Bundesvorstandes DTSB und der Leistungssportkommission.
Zum wissenschaftlichen Vorgehen von RITTER
- In seiner Darstellung - das merken wir abschließend an - zieht RITTER Folgerungen zu Erscheinungen und Entwicklungstatsachen im Leistungssport der DDR, z.B. zur Funktion der Leistungssport-kommission, zur Nachwuchsarbeit oder zur Sportwissenschaft43), die den Gegebenheiten aufgrund seiner einseitigen Orientierung und der vorgenommen Einschränkungen seiner Untersuchungen nicht entsprechen. Den wissenschaftlichen Ansprüchen würde eine breitere Quellenlage zweifellos eher gerecht. Das schließt auch ein, die vorliegenden Aussagen und Arbeiten zur Thematik, insbesonde-re von DDR- und ostdeutschen Autoren, neu zu sichten und die je-weiligen Untersuchungsgegenstände mit den gängigen historischen Untersuchungsmethoden noch tiefgründiger zu erfassen. Allerdings erfordert das Respekt vor der wissenschaftlichen Leistung der „an-deren Seite“ und die Akzeptanz unterschiedlicher weltanschaulicher Grundlagen für die Forschung generell, die letztlich zu allen Zeiten der Schlüssel für eine - wenn tatsächlich gewollte - wahrhaftige Ge-schichtsschreibung waren.
- Die von RITTER erwähnten größeren Möglichkeiten der nun zur Verfügung stehenden Archivzugänge44) bleiben weitgehend unge-nutzt, und zwar für die Quellenlage seiner eigenen Untersuchung. Er beschränkt sich lediglich auf drei Beschlüsse des Politbüros des ZK der SED zum Leistungssport und auf ein autorisiertes Interview mit einem Experten des Sports der DDR. Er unterliegt außerdem einer nicht zu übersehenden unkritischen Orientierung an den Un-tersuchungsergebnissen und Auffassungen von SPITZER. Zur Be-antwortung der aufgeworfenen Fragen wird zudem auf die not-wendigen flankierenden Untersuchungen verzichtet und z.B. we-der die Nachfolgebeschlüsse oder -materialien des DTSB, des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport, der GST bezie-hungsweise der verschiedenen Sportverbände noch und schon gar nicht die Umsetzung dieser Beschlüsse und die erreichten Er-gebnisse - was eigentlich selbstverständlich wäre - analysiert.
- Für ein gesichertes historisches Bild des Leistungssports der DDR und seiner Entwicklung genügt nicht allein die Sichtung von Akten. Vielmehr ist ausdrücklich AUSTERMÜHLE zuzustimmen, der die Einbeziehung von Insidern, soweit dies noch möglich ist, als
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„eine unerläßliche Voraussetzung“ zur Feststellung historischer Gegebenheiten des DDR-Sports ansieht.45) RITTER kann sich aller-dings längst vorgefertigten Auffassungen nicht entziehen und zweifelt - trotz eindeutiger Beschlußlage - nicht nur bestimmte Be-schlußinhalte sondern auch die Glaubwürdigkeit von Zeitzeugen des DDR-Sports, die aus eigenem Erleben urteilen, an - so deren Aussagen zur Funktion der LSK.46) Er gesteht zugleich den Vertre-tern des Sports der alten Bundesländer, die zum Untersuchungs-gegenstand LSK stets nur auf die Mitteilungen von Dritten ange-wiesen waren und nicht aufgrund von eigenen Erfahrungen urtei-len können, offensichtlich uneingeschränkte Glaubwürdigkeit zu. Natürlich sind - ob der Subjektivität jedes Zeitzeugen - Zweifel notwendig. Aber es sind unterschiedslos alle Aussagen von Zeit-zeugen mit weiteren Quellen zu konfrontieren und nicht - wie durch RITTER - die der tatsächlichen Insider einem Verdikt zu unterstellen und gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen und die von nachweis-bar Außenstehenden, die ausschließlich auf Mitteilungen von an-deren angewiesen waren und sind, uneingeschränkt zu akzeptie-ren.
Wer an einer sachkompetenten Aufarbeitung der Geschichte des DDR-Sports interessiert ist, wird mit dem gesamten zur Verfügung stehenden Instrumentarium und eingedenk der Rationalitätskrite-rien wissenschaftlicher Arbeit vorgehen, um willkürliche Interpreta-tionen und scheinobjektive Deutungen zu vermeiden, so man das denn auch tatsächlich will.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. RITTER, A.: Die Rolle der den ‘Leistungssport’ betreffenden Politbürobe-schlüsse von 1967 bis 1970 für das ‘Leistungssportsystem’ der DDR. Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 12 (1998) 1, S. 37-56
2) Vgl. RITTER, A.: „Leistungssport“ und Geheimstruktur der Steuerung des DDR-Sports. Sozial- und Zeitgeschichte des Sports 13 (1999) 2, S. 76-81
3) Vgl. Ritter, A.: Die Rolle... A.a.O., S. 37; SPITZER, G.: Der innerste Zirkel: Von der Leistungssportkommission des Deutschen Turn- und Sportbundes zur LSK der DDR. Sportwissenschaft 25 (1995) 4, S. 360 ff
4) KNECHT, W.: Das Medaillenkollektiv. Berlin 1978, S. 35
5) WINKLER, H.-J.: Sport und politische Bildung. Modellfall Olympia. Opladen 1973, S. 54
6) Vgl. Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 18.11.1958. IfGA, ZPA, J IV 2/2/618; Beschluß des Politbüros... vom 20.1.1959. IfGA, ZPA, J IV 2/2/628
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7) Vgl. SCHUMANN, K.: Empirisch-theoretische Studie zu entwicklungsbestimm-nenden Bedingungen des Leistungssports der DDR - Versuch einer zeitge-schichtlichen Bilanz und kritischen Wertung... Diss. Leipzig 1992
8) Vgl. ebenda S. 26-46
9) Vgl. u.a. OEHMIGEN, G.: Olympia 1956 und die Deutschen. Beiträge zur Sport-geschichte 5/1997; OEHMIGEN, G.: Die 63. IOC-Tagung und Daumes Ärger mit der Bundesregierung. Beiträge zur Sportgeschichte 6/1998; OEHMIGEN, G.: Ein Be-schluß der IAAF von 1966 und die Reaktion der Bundesregierung. Beiträge zur Sportgeschichte 7/1998; OEHMIGEN, G.: Schwierigkeiten der Bundesregierung mit dem internationalen Sport. Beiträge zur Sportgeschichte 8/1999
10) Vgl. SCHUMANN, K.: A.a.O., S. 76-98
11) Das belegen die Interviews mit Zeitzeugen eindeutig. Vgl. ebenda, S. A 116 - A 119
12) KNECHT, W.: Amateur ‘72. Mainz 1971, S. 35; Vgl. auch MESSING, M./VOIGT, D.: Das gesellschaftliche System der DDR als Grundlage sportlicher Leistungs-förderung. In: UEBERHORST, H. (Hrsg.): Leibesübungen und Sport in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Berlin, München, Frankfurt a.M. 1982, S. 895-916; MECK, M./PFISTER, G.: Sportpolitik. In: ZIEMER, K. (Hrsg.): Sozialisti-sche Systeme. München 1989, S. 464-469
13) Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 10.8.1965. IfGA, ZPA, J IV 2/2/1997
14) RITTER konstruiert einen Zusammenhang zwischen der „vorrangige(n) Förde-rung noch unbestimmter Sportarten“ und „der Installation der LSK der DDR“ (1998, S. 38) und läßt völlig die Unumgänglichkeit der Konzentration materieller, finanzieller, institutioneller und personeller Möglichkeiten bei begrenzten Res-sourcen außer acht, wie u.E. auch das gegenwärtige Neue Förderkonzept des LSB Thüringen belegt. Danach werden im Leistungssport in Thüringen künftig nur jene Sportarten gefördert, die internationale Konkurrenzfähigkeit versprechen, wie Eisschnellaufen, Biathlon oder Radsport. (Vgl. TLZ v. 14.11.1998)
15) Vgl. RITTER, A.: Die Rolle..., A.a.O., S. 37; SPITZER, G.: A.a.O.
16) RITTER, A.: „Leistungssport“ und Geheimstruktur..., A.a.O., S. 76 ff
17) Vgl. Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 18.11.1958. A.a.O.; Be-schluß des Politbüros... vom 20.1.1959. A.a.O.
18) Vgl. RITTER, A.: Die Rolle..., A.a.O., S. 42
19) RÖDER, H.: Interview 15.8.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O., S. A 74 ff
20) Das NOK wird nicht genannt, weil die führenden Positionen durch die Ver-antwortungsträger, z.B. des DTSB, wahrgenommen wurden. Vgl. dazu SCHUMANN, K.: A.a.O., S. 114 f
21) Vgl. Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 27.3.1973. IfGA, ZPA, J IV 2/2/1440; Beschluß des Politbüros... vom 14.12.1976. IfGA, ZPA, J IV 2/2/1648; Beschluß des Politbüros... vom 2.12.1980. IfGA, ZPA, J IV 2/2/1869
22) Vgl. EWALD, M.: Interview 17.6.1991 u. 19.6.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O. S. A 39 ff; ERBACH, G.: Interview 7.6.1991 u. 19.6.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O., S. A 22 ff; HEINZE, G.: Interview 6.7.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O., S. A 55 ff
23) Diese Bezeichnung war ein Arbeitsbegriff. Vgl. EICHLER, K.: Interview 11.4.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O., S. A 16 ff; HEINZE, G.: Interview
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6.7.1991. A.a.O.; HELLMANN, R.: Interview 10.7.1991 u. 21.8.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O., S. A 65 ff
24) Anfang der 70er Jahre war im DTSB ein Vizepräsident für den Leistungssport zuständig. In den nachfolgenden Jahren wurde dieser Bereich aufgeteilt. Ende der 80er Jahre gab es drei Vizepräsidenten, für Winter- und für Sommersportar-ten und für Fußball.
25) RITTER resümiert: „Die auf Ewald zentrierte Macht - insbesondere die Einlei-tung des Umsteuerungsprozesses durch ihn (gemeint sind die Maßnahmen auf-grund des Leistungssportbeschlußes vom April 1969 - K.S./H.S.) - machte ihn zum für den Leistungssport Hauptverantwortlichen der zweiten Dekaden der Exis-tenz der DDR... Erst durch diesen Prozeß wurde aber das Teilsystem ‘Leistungs-sport’ zentral und ‘straff’ geleitet - von Ewald...ermöglichte ihm die formal stärkere Anbindung der LSK der DDR an die Partei in Wirklichkeit, alle anderen Verant-wortlichen des ‘Leistungssportsystems’ persönlich dominieren zu können. Ewalds Hauptinstrument, die LSK der DDR, hat die Strukturen des Sports in der DDR ra-dikal verändert - mit ihr konnte er in diesem diktatorischen System dauerhafte Eingriffe in die überkommene Struktur des Spitzensports durchsetzen - deutlicher Ausdruck dessen sind die Genese und die Gestalt der den Leistungssport betref-fenden Politbürobeschlüsse.“ (1998, S. 55) Auch wenn Manfred Ewald die Ent-wicklung des Leistungssports in erheblichen Maße bestimmte, könnte so, wie RITTER sich das in offensichtlich völliger Unkenntnis vorstellt, Effizienz eines aus-differenzierten Teilsystems über längere Zeiträume nicht erreicht werden, schon gar nicht im Leistungssport.
26) Vgl. EWALD, M.: Ich war der Sport. Berlin 1994
27) RITTER, A.: Die Rolle..., A.a.O., S. 38; Vgl. auch GIESELER, K.: Sportpläne des DTSB der DDR. In: Führungs- und Verwaltungsakademie Berlin des DSB: Sport im geteilten Deutschland. II. Akademiegespräch 16./17.6.1982, S. 57 ff; SPITZER, G.: A.a.O., S. 360 ff; SPITZER, G.: Die DDR-Leistungssportforschung der achtziger Jahre - Überlegungen zu einem historischen Phänomen in differenzierungstheo-retischer Perspektive. In: GISSEL, N./RÜHL, J.K./ TEICHLER, H.J.: Sport als Wissen-schaft. Hamburg 1997, S. 151 ff
28) Vgl. STEGER, P.: Grundlagen, Herausbildung und Prinzipien der Wissen-schaftspolitik auf dem Gebiet der Forschung im Leistungssport der DDR. Diss. Leipzig 1975, S. 103
29) Vgl. EWALD, M.: Interview 17.6.1991 u. 19.6.1991. A.a.O.
30) Vgl. STEGER, P.: A.a.O., S. 117
31) Vgl. HELLMANN, R.: Hausmitteilung an Honecker v. 8.11.1967. In: SPITZER, G./TEICHLER, H.J./REINARTZ , K. (Hrsg.): Schlüsseldokumente zum DDR-Sport. Aachen 1998, S. 140
32) Vgl. SCHUMANN, K.: A.a.O., S. 110-121 u. S. A 16 ff
33) Vgl. SPITZER, G.: Der innerste Zirkel... A.a.O.
34) Ritter, A.: „Leistungssport“ und... A.a.O., S. 79
35) Strate, G.: Wenn Opfer über Täter richten. Der Spiegel 46 (1991) 1, S. 27
36) RITTER untersucht lediglich den Zeitraum von 1967 bis 1970 und die Quellen aus dieser Zeit. Trotzdem stellt er fest: „...können die von ehemaligen Verantwor-tungsträgern im Leistungssportsystem ausgestreuten Zweifel an der Position der LSK der DDR in eben diesem System der folgenden zwanzig Jahre nicht über-zeugen.“ (Die Rolle..., A.a.O., S. 49)
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37) Vgl. RÖDER, H.: Interview 15.8.1991. A.a.O.
38) SCHRÖTER, G.: Interview 25.3.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O., S. A 93 ff
39) Vgl. BUGGEL, E.: Interview 19.6.1991. Protokoll in SCHUMANN, K.: A.a.O., S. A 46 ff
40) Vgl. Beschluß des Politbüros des ZK der SED vom 8.4.1969. IfGA, ZPA, J IV 2/2/1223; Beschluß des Politbüros... vom 27.3.1973. A.a.O.; Beschluß des Polit-büros... vom 14.12.1976. A.a.O.; Beschluß des Politbüros... vom 2.12.1980. A.a.O.; Beschluß des Politbüros... vom 11.12.1984. IfGA, ZPA, J IV 2/2/2090
41) Vgl. SCHUMANN, K.: A.a.O., S. 63 ff
42) RITTER, A.: Die Rolle..., A.a.O., S. 38
43) Vgl. ebenda, S. 47 f u. 55
44) Vgl. ebenda, S. 54
45) AUSTERMÜHLE, T.: Der DDR-Sport im Lichte der Totalitarismus-Theorien. So-zial- und Zeitgeschichte des Sports 11 (1997) 1, S. 30
46) Vgl. RITTER, A.: Die Rolle..., A.a.O., S. 49
Die Butterpakete vom Landrat in Stadtroda
Von KLAUS HUHN
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Diese Rundfahrt wäre mit einiger Sicherheit zu einem Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde gelangt - wenn 1948 schon jemand da-rauf Wert gelegt und mit der gebotenen Gewissenhaftigkeit notiert hätte, was sich eigentlich alles zugetragen hatte. Die Rede ist von der 1. Ostzonenrundfahrt und damit von der ersten deutschen Amateuretappenfahrt, die ohne Unterbrechung ausgetragen wur-de. Der Hinweis auf die „Unterbrechung“ ist von solchem Belang, weil bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ein Etappenrennen stattge-funden hatte, bei dem man die Amateure jeweils Sonntagmorgens am Start einer Etappe zusammengetrommelt hatte und sie am Abend wieder nach Hause schickte. Sie gingen eine Woche lang ihrer Arbeit nach und nahmen am nächsten Sonntag die nächste Etappe in Angriff. Die aber, die am 9. September 1948 in Berlin gestartet worden war und am 16. September nach der Absolvie-rung von 1186 km wieder in Berlin eintrafen, erlebten außer dem Ruhetag nach der vierten Etappe in Erfurt keine Unterbrechung.
Zu der ungewöhnlichen Geschichte des Rennens gehört auch, daß sie ursprünglich ein Likörfabrikant organisieren wollte - ein durchaus ehrenwerter und vor allem radsportbegeisterter Mann -, die Chefs der noch jungen - von FDJ und FDGB 1948 gegründeten - Sport-bewegung in der sowjetisch besetzten Zone aber der Meinung wa-ren, daß Schnaps und Radsport kaum als ideale Partner betrachtet werden könnten und deshalb entschieden, das Rennen in eigene Regie zu nehmen. Man holte die beiden erfahrensten Radrennfunk-tionäre aus Leipzig und weil beide Heinz Richter hießen - und beide von ihren Freunden „Heiri“ gerufen wurden -, besetzte man das Or-ganisationsbüro offiziell mit Heinz Richter I und Heinz Richter II. (Wieder ein Eintrag fürs Guiness-Buch...) Die beiden waren sehr gewissenhaft und zählten sogar die Briefe, die sie schrieben, um die Organisation auf die Beine zu bringen. Es waren 347. Das war da-mals mit ziemlicher Sicherheit ein Rekord.
Als 60 Rennfahrer am 9. September 1949 am Brandenburger Tor in Berlin nach Rostock losrollten, und zwar mitten durch die West-sektoren, startete die dortige Polizei eine Guiness-Buch-reife-Operation. An dem Wagen, in dem die ND-Berichterstatter saßen, hatte man ein Werbeplakat der Zeitung geklebt. Es war ein in der Werbung durchaus üblicher Text, mit dem weder zur Wahl der SED aufgerufen, noch der Tod des Imperialismus gefordert wurde. Die Westberliner Polizei hielt das jedoch für eine „politische Provo-
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kation“, ließ zwar die Rennfahrer weiterrollen, zwang aber die Be-satzung des Fahrzeugs das mit solidem Tapetenkleister befestigte Plakat augenblicklich abzukratzen. Der Kraftfahrer geriet in die Nähe eines Herzinfarkts, aber die ND-Berichterstatter zerrten und schabten das Plakat ab und sahen noch genug von der Etappe dieses Tages, die mit dem Sieg des Westberliner Zeitungsfahrers - damals wurden alle Zeitungen noch am frühen Morgen von Rad-fahrern an die Kioske transportiert - Max Bartoskiewicz endete. Der bekam ein Gelbes Trikot, das aber für seine stämmige Gestalt zu eng war. Er löste das Problem mit einigen Scherenschnitten. Am zweiten Tag trafen Richter I und Richter II in Rostock am Mor-gen einen Schornsteinfeger und überredeten ihn, die zweite Etap-pe zu starten. Man kam am Abend nach Wittenberge und die Rennfahrer waren von der Stadt begeistert. Vor allem wegen des Abendessens. Es gab Buletten und jeder konnte sich nachholen, soviel er verdrücken konnte. Es ist allerdings nie offiziell mitgeteilt worden, daß es sich um Pferdebuletten handelte.
An den Straßenrändern standen Zehntausende und feierten die Rennfahrer. Unterwegs gab es bei den Spurts zeitgemäße Prämien zu gewinnen und auch die hätten ins Guiness-Buch gelangen kön-nen: in Magdeburg war ein Koffer zu gewinnen und die Volkspolizei hatte 20 DM gestiftet, in Stadtroda wurde an die ersten vier ein hal-bes Pfund Butter vergeben, die der Landrat gestiftet hatte, ohne daß man erfuhr, woher der die Butter ohne Lebensmittelkarten bezogen hatte. (Ein halbes Pfund gewann übrigens Rudi Kirchhoff, der heute als Rentner in Berlin lebt und vielleicht noch nähere Auskunft über die Butter geben könnte.) In Leipzig hatte Bartoskiewicz drei Bände Goethe gewonnen, Kirchhoff mußte sich mit einer Goethe-Mappe begnügen.
Der Untergang der DDR ließ auch die DDR-Rundfahrt aus den Terminkalendern verschwinden, doch wird sie in Rekord- und Ge-schichtsbüchern ihren Platz als eine der attraktivsten Etappenfahr-ten behaupten und vielleicht eben auch einen Platz im Guiness-Buch der Rekorde.
1. Ostzonen-Rundfahrt 1949 (7 Etappen 1186 km)
Einzel: 1. Max Bartoskiewicz (Berlin I), 2. Lothar Hey (Erfurt),
3. Horst Gaede (Magdeburg)
Mannschaft: 1. Berlin, 2. Erfurt, 3. Magdeburg
2. DDR-Rundfahrt 1950 (10 Etappen 1825 km)
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1. Bernhard Trefflich (Thüringen), 2. Lothar Meister I (Sachsen I),
3. Erich Schulz (Berlin II)
M.: 1. Sachsen I, 2. Berlin II, 3. Thüringen
3. DDR Rundfahrt 1951 (10 Etappen 1747 km)
1. Bernhard Wille (Eisleben), 2. Pal Kucera (Ungarn),
3. Lujos Szabo (Ungarn)
M.: 1. Ungarn, 2. DDR, 3. CSR
4. DDR-Rundfahrt 1952 (8 Etappen 1539 km)
1. Erich Schulz (SV Post), 2. Walter Nickel (SV Einheit II),
3. Bruno Zieger (SV Post)
M.: 1. SV Einheit I, 2. SV Rotation I, 3. SV Post
5. DDR-Rundfahrt 1953 (9 Etappen 1672 km)
1. G. A. Schur (DDR I), 2. Georg Stoltze (DDR I),
3. Werner Gallinge (SV Einheit)
M.: 1. DDR I, 2. SV Einheit, 3. BRD
6. DDR-Rundfahrt 1954 (8 Etappen 1503 km)
1. G. A. Schur (SV Wissenschaft), 2. Erwin Wittig (SV Einheit II),
3. Rudi KirchhofF (SC Einheit I)
M.: 1. SV Einheit I, 2. SV Wismut, 3. Nordrhein-W. (BRD)
7. DDR-Rundfahrt 1955 (7 Etappen 1244 km)
1. Dieter Lüder (SV Empor), 2. Erich Schulz (SV Post),
3. Günter Grünwald (SC Wissenschaft)
M.: 1. SC Einheit Berlin, 2. SC Wissensch., 3. Wismut Karl-Marx-Stadt
8. DDR-Rundfahrt 1956 (10 Etappen 1566 km)
1. Alphonse Herrnans (Belgien), 2. Siegfried Wustrow (SC Wis-senschaft), 3. Heinz Zimmermann (SC Wissenschaft)
M.: 1. SC Wissensch., 2. Belgien (WAC Hoboken), 3. SC Einheit Berlin
9. DDR-Rundfahrt 1957 (9 Etappen 1576 km)
1. Eddy Pauwels (Belgien), 2. Gerhard Löffler (SC Dynamo),
3. Günter 0ldenburg (SC Einheit)
M.: 1. SC Wissenschaft Leipzig, 2. SC Einheit Berlin, 3. Belgien
10. DDR-Rundfahrt 1958 (8 Etappen 1476 km)
1. Erich Hagen (DDR 1), 2. G. A. Schur (DDR 1),
3. Egon Adler (DDR 1)
M.: 1. DDR 1, 2. Belgien, 3. DDR II
11. DDR-Rundfahrt 1959 (9 Etappen 1432 km)
1. G. A. Schur (DDR), 2. Marinus Zilverberg (Niederlande),
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3. Günter Lörke (DDR)
M.: 1. DDR, 2. Belgien, 3. SC Dynamo Berlin
12. DDR-Rundfahrt 1961 (8 Etappen 1379 km)
1. G. A. Schur (SC DHfK I), 2. Klaus Ampler (SC DHfK I),
3. Dieter Wiedemann (SC Wismut I)
M.: 1. SC DHfK Leipzig I, 2. SC Dynamo Berlin,
3. SC Wismut Karl-Marx-Stadt
13. DDR-Rundfahrt 1962 (9 Etappen 1280 km)
1. Klaus Ampler (SC DHfK I), 2. Dieter Wiedemann (SC Wismut I),
3. Günter Hoffmann (ASK Leipzig I)
ohne Mannschaftswertung
14. DDR-Rundfahrt 1963 (8 Etappen 1271 km)
1. Klaus Ampler (SC DHfK I), 2. Bernhard Eckstein (SC DHfK I),
3. Reiner Marks (SC DHfK II)
M.: 1. SC DHfK Leipzig II, 2. ASK Leipzig I, 3. SC Dynamo Berlin I
15. DDR Rundfahrt 1965 (8 Etappen 1000 km)
1. Axel Peschel (SC Dynamo I), 2. Bernhard Eckstein (SC DHW I),
3. Günter Hoffmann (ASK Leipzig I)
M.: 1. SC DHfK Leipzig I, 2. SC Dynamo Berlin I, 3. ASK Leipzig I
16. DDR-Rundfahrt 1966 (6 Etappen 954 km)
1. Dieter Grabe (SC DHfK II), 2. Dieter Voigtländer (SCK II),
3. Lothar Lingner (ASK Leipzig I)
M.: 1. SC DHfK Leipzig II, 2. ASK Leipzig I, 3. SC Karl-Marx-Stadt
17. DDR-Rundfahrt 1967 (8 Etappen 1131 km)
1. Axel Peschel (DDR-Vierer), 2. Siegfried Huster (DDR),
3. Dieter Grabe (DDR-Vierer)
M.: 1. DDR-Viererkader, 2. DDR-Auswahl, 3. SV Lokomotive
18. DDR-Rundfahrt 1968 (7 Etappen 985 km)
1. Dieter Grabe (SC DHfK), 2. Gerd Steiner (SCK),
3. Wolfgang Wesemann (ASK Leipzig)
M.: 1. SC Karl-Marx-Stadt, 2. DDR, 3. DRSV-Nachwuchs
19. DDR-Rundfahrt 1971 (6 Etappen 762km)
1. Wolfgang Wesemann (DDR II), 2. Dieter Gonschorek (DDR II),
3. Michel Pollentier (Belgien)
M.: 1. DDR II, 2. Belgien, 3. DDR I
20. DDR-Rundfahrt 1972 (6 Etappen 772 km)
1. Fedor den Hertog (Niederlande), 2. Hennie Kuiper (Niederlan-de),
3. Dieter Gonschorek (DDR I)
50
M.: 1. Niederlande, 2. DDR I, 3. CSSR
21. DDR-Rundfahrt 1973 (7 Etappen 948 km)
1. Dieter Gonschorek (DDR), 2. Gottfried Kramer (DDR),
3. Hynek Kubicek (CSSR)
M.: 1. DDR, 2. CSSR, 3. SC Dynamo Berlin I
22. DDR-Rundfahrt 1974 (7 Etappen 873 km)
1. Hans-Joachirn Hartnick (DDR), 2. Sven-Ake Nilsson (Schwe-den),
3. Gerhard Lauke (SC Dynamo I)
M.: 1. DDR, 2. Schweden, 3. SC Dynamo Berlin I
23. DDR-Rundfahrt 1975 (7 Etappen 899 km)
1. Hans-Joachim Hartnick (DDR I), 2. Michael Schiffner (DDR I)
3. Dietmar Käbisch (SC DHfK)
M.: 1. DDR I, 2. DDR-Bahnkader, 3. DDR II
24. DDR-Rundfahrt 1976 (8 Etappen 1162 km)
1. Siegbert Schmeißer (DDR I), 2. Uwe Freese (SC Dynamo II),
3. Bernard Krzeczynski (Polen)
M.: 1. DDR II, 2. SC Turbine Erfurt, 3. SC Dynamo Berlin II
25. DDR-Rundfahrt 1977 (9 Etappen 1071 km)
1. Bernd Drogan (DDR), 2. Joachim Vogel (SCK),
3. Wolfgang Schröder (SC Dynamo II)
M.: 1. DDR, 2. SC Dynamo Berlin I, 3. ASK Frankfurt/Oder I
26. DDR-Rundfahrt 1978 (7 Etappen 1035 km)
1. Bernd Drogan (DDR I), 2. Peter Richter (ASK Frankfurt/Oder I),
3. Thilo Fuhrmann (DDR II)
M.: 1. DDR I, 2. SC Dynamo Berlin I, 3. DDR II
27. DDR Rundfahrt 1979 (7 Etappen 938 km)
1. Bernd Drogan (DDR I), 2. Hans-Joachim Hartnick (DDR I),
3. Martin Goetze (DDR I)
M.: 1. DDR I, 2. DDR II, 3. SC Karl-Marx-Stadt
28. DDR-Rundfahrt 1980 (7 Etappen 986 km)
1. Falk Boden (DDR I), 2. Olaf Ludwig (DDR I),
3. Andreas Petermann (DDR I)
M.: 1. DDR I, 2. DDR II, 3. CSSR
29. DDR-Rundfahrt 1981 (7 Etappen 914 km)
1. Lutz Lötzsch, 2. Thomas Barth, 3. Hans-Joachim Hartnick
(alle DDR)
M.: 1. DDR, 2. CSSR, 3. SC Cottbus I
30. DDR-Rundfahrt 1982 (7 Etappen 830 km)
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1. Bernd Drogan (DDR II), 2. Thomas Barth (DDR I),
3. Jiri Skoda (CSSR)
M.: 1. DDR I, 2. DDR II, 3. SC Cottbus I
31. DDR-Rundfahrt 1983 (7 Etappen 939 km)
1. Olaf Ludwig (DDR I), 2. Uwe Ampler (DDR I), 3. Jiri Skoda (CSSR)
M.: 1. DDR I, 2. CSSR, 3. DDR II
32. DDR-Rundfahrt 1984 (7 Etappen 907 km)
1. Falk Boden (DDR I), 2. Bernd Drogan (DDR I),
3. Lutz Lötzsch (DDR II)
M.: . DDR I, 2. DDR II, 3. SC Turbine Erfurt
33. DDR-Rundfahrt 1985 (6 Etappen 1008 km)
1. Olaf Ludwig (DDR I), 2. Dan Radtke (DDR I),
3. Jens Heppner (Gera)
M.: 1. DDR I, 2. Karl-Marx-Stadt, 3. Cottbus
34. DDR-Rundfahrt 1986 (7 Etappen 844 km)
1. Uwe Ampler (DDR I), 2. Hardy Gröger (Frankfurt/Oder),
3. Lutz Lötzsch (Karl-Marx-Stadt)
M.: 1. DDR II, 2. DDR I, 3. Karl-Marx-Stadt
35. DDR-Rundfahrt 1987 (7 Etappen 1451 km)
1. Uwe Ampler (DDR I), 2. Jens Heppner (DDR I),
3. Olaf Ludwig (DDR I)
M.: 1. DDR I, 2. DDR II, 3. Leipzig I
36. DDR-Rundfahrt 1988 (7 Etappen 975 km)
1. Uwe Raab (DDR), 2. Dan Radtke (Frankfurt/Oder),
3. Martin Goetze (Dresden)
M.: 1. DDR, 2. Dresden, 3. Cottbus
37. DDR-Rundfahrt 1989 (9 Etappen 1015 km)
1. Uwe Ampler (DDRI) , 2. Eddy Bouwmans (Niederlande),
3. Dirk Schiffner (SC Karl-Marx-Stadt)
M.: 1. DDR I, 2. DDR II, 3. Erfurt
Doping - Ich würde es jederzeit wieder tun
Die Zeitschrift „Tour“ veröffentlichte das folgende Interview mit dem französischen Rennfahrer Erwann Menthéour.
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TOUR: In welchem Alter haben Sie Ihre ersten Rennen bestritten?
Erwan Menthéour: Das war 1988, ich war sechzehn und fuhr in der Kategorie Cadets.
Wußten Sie damals auch schon, daß es in diesem Sport verbotene Substanzen gibt, die man zu sich nimmt, um schneller zu werden?
Das war kein Geheimnis. Es gehörte zum Radrennsport dazu. Ich stellte mir gar nicht die Frage, ob man die nehmen mußte oder nicht. Es war Teil des Selbstverständnisses dieses Berufs. Dopen hat nichts Geheimnisvolles, es ist profan in diesem Milieu.
Haben Sie im Jugendalter auch schon gedopt?
Ich persönlich habe als Cadet und Junior nichts genommen. Bei mir stellte sich das Problem nicht, weil ich meine Rennen von An-fang an gewann. Das eigentliche Doping habe ich 1995 in Belgien entdeckt. Dort fuhren die Gegner wie Menschen von einem ande-ren Stern. Ich kam von den Amateuren, war dort sehr erfolgreich gewesen - und stellte bei den Profis fest, daß die Typen neben mir fuhren, als hätten sie einen Hilfsmotor am Rad. Und ich? Ich fühlte mich, als würde ich durch einen Strohhalm atmen. Wir betrieben nicht denselben Sport. Da begriff ich, daß die anderen irgendwie besser durchlüftet waren als ich. Die hatten einen Turbo...
Wie war das während Ihrer Zeit bei den verschiedenen Profiteams: Wurde im Rahmen des Teams offen über Doping geredet?
Immer.
Wie verhielten sich die Sportlichen Leiter in diesem Zusammen-hang?
Ich wurde niemals zum Doping gezwungen. Aber als Fahrer ist man eben verpflichtet, gute Ergebnisse zu fahren. Egal wie. Nicht immer reichen dafür die körperlichen Möglichkeiten aus. Und des-wegen gibt es eben viele Mittel, die die Leistungsfähigkeit verbes-sern. Der Sportliche Leiter ermöglicht dann den Fahrern den Zu-gang zu diesen Mitteln. Er sorgt für den Rahmen der Therapie, für die Gebrauchsanweisung, die die wirksamste Verabreichung ge-währleistet, für den besten Arzt.
Wie haben Sie sich ihre ersten EPO-Rationen beschafft?
Ich bin in Italien gewesen und habe dort eine Apotheke aufgesucht, die man mir empfohlen hatte. Man konnte dort EPO einfach so kaufen. Mittlerweile ist das schwieriger geworden. Aber nun hat man ja Helfer, die sich darum kümmern.
Werden dieTrainingspläneauf die jeweiligen Mittel abgestimmt?
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Das ist wissenschaftlich ausgetüftelt. Nichts wird dem Zufall über-lassen. Alles wird quantifiziert, gemessen, analysiert.
Wie fühlt man sich, wenn man regelmäßig dopt?
Wer einmal mit EPO gefahren ist, hat es wahnsinnig schwer, sich wieder an ein Leben ohne zu gewöhnen. Wer 230 Kilometer hinter sich gebracht hat, ist fix und fertig. Mit EPO wird alles anders. Nach dem Rennen erholt man sich viel schneller. Am nächsten Morgen spürt man die Anstrengung vom Vortag nicht mehr. Außerdem hat man das Gefühl, wie auf einem Velosolex (Anm.: In Frankreich weit verbreitetes Fahrrad mit Hilfsmotor) zu rollen. Man hat quasi einen Turbolader im Hintern. Es gibt aber auch unangenehme Nebenwir-kungen: Anfangs hat man das Gefühl, anstatt der Nieren prall mit Wasser gefüllte Präservative im Körper zu haben. Die Wirbelsäule schmerzt, die Gelenke tun weh. Ein zu hoher Hämatokritwert kann zu Sehschwierigkeiten führen. Außerdem muß man mit Übelkeit, Nasenbluten und schlimmen Migräneanfällen rechnen. Ich habe das alles selbst erlebt.
Die UCI hat für den Hämatokritwert, also den Anteil roter Blutkör-perchen, einen Grenzwert von 50 festgelegt. Es soll Fahrer geben, deren Hämatokritwert schon bei 60 lag...
...bei mir, zum Beispiel
... und mußten Sie deshalb auch nachts aufstehen und auf der Rol-le fahren, um den Blutkreislauf in Bewegungzu hatten?
Nein. Ich habe gefäßerweiternde Mittel und Aspirin genommen. Ein Gramm Aspirin wirkt für 36 Stunden... Wir haben mit Herzfre-quenzmesser geschlafen und den so eingestellt, daß er piepste, wenn der Grenzwert unterschritten wurde. Dann sind wir aufge-standen, sogleich schlug das Herz schneller und wir waren außer Gefahr.
Sie haben eine gewisse Berühmtheit erlangt, weit Sie der erste wa-ren, der aufgrund der neuen UCI-Bestimmungen infolge eines überhöhten Hämatokritwerts vierzehn Tage Zwangspause machen mußte. Das war bei Paris-Nizza 1997. Wie haben Sie damals rea-giert?
Ich war überrascht. Wenn ich gewußt hätte, daß ich so hoch lag - mein gemessener Wert betrug 56 - hätte ich mich den Kontrolleu-ren nicht gestellt. Ich wäre aus dem Rennen ausgestiegen und nach Hause gefahren. Außerdem war ich erstaunt, denn die ganze Woche über hatte ich um die 49 gelegen. Zwei Tage vor dem Ren-
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nen hatte ich ein natürliches Diuretikum genommen (Anm.: harn-treibendes Medikament, das beispielsweise bei Bluthochdruck ver-schrieben wird. Dient auch dazu, den Urin zu verdünnen, um die Einnahme anderer Dopingsubstanzen wie Anabolika zu verschlei-ern.)...
Was machen die Fahrer denn im Normalfall, wenn sie mit einer Kontrolle rechnen müssen?
Wenn man am Abend vorher das Medikament Synacthéne Retard nimmt, hält man damit Wasser im Körper zurück. Dazu etwas Salz und einen Liter Wasser, und man muß nicht mal mehr an den Tropf. Normalerweise reichen diese Vorkehrungen...
Wie lange haben Sie denn systematisch gedopt?
Zwei Jahre lang nahm ich EPO, Wachstumshormone, Kortisonprä-parate, Amphetamine, Testosteron.
Wie häufig sind Sie denn kontrolliert worden?
Etwa siebzigmal.
Und Sie waren nie positiv?
Nie!
Hatten Sie denn keine Angst, daß die Medikamente in diesen Mengen bleibende Schäden hinterlassen?
Doch, aber ich stehe zu dem, was ich gemacht habe. Ich habe es aus eigenem Antrieb gemacht... Und wenn ich noch einmal die Wahl hätte, würde ich es wieder tun. ich habe außergewöhnliche Momente erlebt. Menschlich und geistig bin ich gewachsen in die-sen Jahren, denn es war eine einzigartige Erfahrung. Das Glücks-gefühl, das man auf dem Höhepunkt der Anstrengung spürt, das ist etwas Einzigartiges...
Leiden Sie unter Folgeschäden Ihres Dopings?
Ich hatte eine leichte Störung meiner Testosteronausschüttung (Anm.: Testosteron ist ein Hormon der männlichen Sexualprä-gung).
Sie erwähnten das Wachstumshormon GHRF (Anm.: growth hor-mon retease factor). Haben Sie das auch genommen?
Ja, einmal.
Wie war die Wirkung?
Ich hatte plötzlich 100 PS mehr.
...Wie sind Sie an das Mittel gekommen?
Das hat mir ein Kollege aus Mexiko mitgebracht, der dort im Winter trainierte. Der dealte damit. Mein italienischer Arzt hat mir erklärt,
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wie man es nehmen muß und wie es wirkt. Das Mittel ist sehr teuer - wie Doping überhaupt. Wer als Fahrer wenig verdient, kann sich vielleicht eine kleine EPO-Kur pro Saison leisten. Die EPO-Behandlung für eine komplette Saison kostet zwischen 60.000 und 80.000 Francs (Anm.: 18.000 bis 24.000 Mark). Und schließlich muß man auch noch den Arzt bezahlen, der einem er-klärt, wie und wann man EPO richtig einnimmt...
Es gibt jetzt viele Personen, die die Erstaunten spielen. Ich denke an Daniel Baal (Anm.: Präsident des Französischen Verbandes FFC und Vizepräsident des Weltverbandes UCI). Der wird mir nicht erzählen wollen, daß er von nichts wußte...
Denken Sie, daß auch die Sponsoren Bescheid wissen?
Ja, aber nicht über die Details...
(Klaus Tödt-Rübel in „Tour 3/99)
Thema Spartakiade war nicht gefragt
Hut ab vor den Männern der Kirche, speziell in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Sie arrangierten in 50 Jahren über 250 Dis-kussionsrunden zum Thema Kirche und Sport, luden fast immer kompetente Redner und gebildete Zuhörer ein und konzentrierten sich in der Regel auf aktuelle Themen. Daß die Sicht des Theolo-gen dabei nicht in den Hintergrund geriet, liegt auf der Hand, doch bestach sie meist durch sachliche Toleranz.
Jetzt beging man zünftig das Jubiläum, erinnerte an das - inzwi-schen antiquierte - Thema von 1949 „Wird Sport zum Geschäft?“ und präsentierte nach einigen Fast-Sonntagsreden der deutschen Sportobrigkeit auch eine Podiumsdiskussion zum Thema „10 Jahre nach der Wiedervereinigung - sind wir im Sport zusammenge-wachsen“, die vielleicht ein wenig darunter litt, das sie von einem Politnik des Deutschlandfunks moderiert wurde. Im übrigen - Wie-derspiegelung der Realität - pendelte das Gespräch zwischen ver-heißungsloser Realität und tapferen Muntermacher-Reden. Dr. Moldenhauer, der einst das Fußballtor des FC Magdeburg hütete und inzwischen bei DFB und DSB zum Vizepräsidenten avanciert und damit im Sport als „Vorzeige-Ossi“ mit der Rückennummer 1 startet, überraschte das Plenum mit vielen seiner Feststellungen. So deklarierte er den „Goldenen Plan Ost“ zur „Bestandsaufnah-me“ anstelle der weit verbreiteten Vermutung, es handele sich um
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ein „Bauprogramm“. Der zweite Schritt dieses Programms verlaufe schleppend, es sei genügend Geld vorhanden, aber es werde schlecht verteilt. Und dann wagte er sich sogar an die Frage nach dem Hintergrund der Wahlergebnisse in den neuen Bundeslän-dern... Da war DSB-Generalsekretär Wulf Preising behutsamer, als er zu bedenken gab, daß die neuen gemeinsamen Strukturen im deutschen Sport „keine Antwort darauf geben, ob wir uns verste-hen.“ Er rühmte die „Stärken des DDR-Sports“ und hielt es für er-wähnenswert, daß es gegen die „Kinder- und Jugendsportschulen 1999 keine Bedenken mehr gebe.“ Welch Fortschritt! Als der Akti-ven-Sprecher der Behindertensportler, Detlef Eckert - PDS-Landtagsabgeordneter in Magdeburg - dann allerdings in fünf The-sen Ungleichheiten auflistete und dabei auch zum Thema Doping gelangte, erboste das Preising, entlockte ihm ein paar unüberlegte Äußerungen und endete mit dem berühmten Schulterklopfen, das man aus vielen Situationen kennt, in denen ein Wessi einem Ossi tröstend versichert, er werde schon noch lernen, wie man korrekt mit Messer und Gabel ißt. Als sich unerwartet ein sächsischer Sportlehrer zu Wort meldete und entgegnete, daß DDR-Sportler nicht nur Klassenkampf trainierten, sondern auch unvergeßliche Spartakiaden feierten, wurde er vom Moderator belehrt, daß er Fragen zu stellen und keine „Statements“ abzugeben habe. Als man auseinanderging, hatte niemand gewonnen, niemand verlo-ren, aber keiner konnte den Eindruck mit nach Hause nehmen, daß man sich in zehn Jahren sehr viel näher gekommen wäre. Was blieb war ein Dank an die Männer der Kirche, deren Toleranz dafür sorgte, daß das Urteil nicht noch negativer ausfiel.
(Ulf Ulfsen in UZ, Essen, 29.10.1999)
Staatsmetall
„Wir sind sehr zufrieden, wirklich sehr zufrieden: vier Gold-, vier Silber-, vier Bronzemedaillen“, versicherte Bundesinnenminister Schily vor der Fernsehkamera in Sevilla und ließ damit auch wis-sen, daß er die Medaillen der Deutschen gewissenhaft gezählt hatte. Man fragt sich: Wer ist in diesem Fall „wir“? Die Anwalts-kanzlei Schily kommt kaum infrage, denn unter den deutschen Ath-leten waren vermutlich keine Klienten. Also blieb nur das Gremium, in dem Schily jetzt tätig ist - die Runde der Minister der Bundesre-
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publik Deutschland. Die waren zwar auch nicht durch Aktive in der Arena vertreten, betrachten aber - anders läßt sich die Schily-Erklärung nicht deuten - die Medaillen als Erfolge der auf anderen Gebieten derzeit nicht sonderlich erfolgreichen Regierung. Das wä-re die einzige Erklärung für „wir“. Es war denn auch im nächsten Atemzug die Rede davon, daß „wir“ beim Sport nur geringfügig sparen werden, woraus wiederum zu schließen ist, daß Medaillen wichtiger sind, als vieles andere, das im Budget des Innenmi-nisteriums radikal gekürzt wurde. Das aber fordert die Frage her-aus, wurde nicht seit ewig und drei Tagen behauptet, die DDR ha-be nur nach Medaillen gestrebt, um internationale Anerkennung zu erringen? Aber wozu braucht sie nun die weltweit anerkannte Bun-desregierung? Wurde nicht auch geschrieben, dieses Ziel habe die DDR mit allen Mitteln verfolgt? Zum Beispiel, in dem die NVA aus ihren Budget Medaillenkandidaten förderte. Für die dritte Läuferin in der in Sevilla Bronze erkämpfenden 4-mal-400-m-Staffel, Ute Rohländer, wurde als Beruf „Obergefreiter“ angegeben. Verteidi-gungsminister Scharping wird garantiert auch noch hören lassen: „Wir sind zufrieden!“ Unterschiede sind natürlich nicht zu überse-hen. 1987, als die DDR das letzte Mal in Rom bei einer Weltmeis-terschaft startete, holte sie zehn Gold-, elf Silber- und zehn Bron-zemedaillen und rangierte damit vor den USA (9/5/5)... (Die BRD war damals 18. mit einer Silber- und zwei Bronzemedaillen. Und um auch das noch zu erwähnen: Die Obergefreite Rohländer kommt übrigens aus Halle.) Kein Zweifel, daß man in der DDR damals mehr als zufrieden war, aber der DDR-Innenminister war deshalb nicht nach Rom geflogen. Wie soll man sich das erklären?
(Klaus Huhn in „junge Welt“ vom 31.8.1999)
System gesprengt
Überraschende Redseligkeit erleichtert die Aufarbeitung des DDR-Dopings... Die Delinquenten wissen., Wer redet, hat gute Chancen, verhältnismäßig billig davonzukommen - von Richtern
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festgesetzte Strafbefehle oder Einstellungen der Verfahren gegen Geldbuße sind die Regel... Die Kooperationsbereitschaft der Staatsanwaltschaft ist verständlich: Sie ermöglicht, dass die Akten des letzten Großverfahrens der Zentralen Ermittlungsstelle für Re-gierungs- und Vereinigungskriminalität abgearbeitet ins Archilv wandern können. Die Behörde schließt Ende September... „Als wir erst einmal in die Phalanx eingebrochen waren“, sagt Oberstaats-anwalt Rüdiger Hillebrand „konnten wir das gesamte System sprengen“. Selbst die obersten Chargen sprachen in Hillebrands Amtsstube vor und plauderten jahrelang streng gehütete Geheim-nisse aus. Horst Röder, der für alle Sommersportarten zuständige Vizepräsident des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR (DTSB), und sein Kollege Thomas Köhler vom Wintersport. Beide sollen mit Strafbefehlen, die Freiheitsstrafen zur Bewährung zwi-schen zehn und zwölf Monaten vorsehen, davonkommen. Das sprach sich unter den insgesamt mehr als 1300 Beschuldigten her-um... Dietrich Hannemann, der Leiter des Sportmedizinischen Dienstes, akzeptierte nach der Beichte einen Strafbefehl über 45 000 Mark, der Verbandsarzt der Gewichtheber, Hans-Henning Lathan, zahlte 20 000 Mark Geldbuße, um die Einstellung seines Verfahrens zu erreichen... Sogar die obersten Verantwortlichen holt die Vergangenheit ein. DTSB-Präsident Manfred Ewald und den zuständigen Leiter des Sportmedizinischen Dienstes, Manfred Höppner. Beide sind jetzt angeklagt... Nach dem Berliner Muster erledigen Staatsanwaltschaften in allen neuen Länderin derzeit im Eiltempo den Doping-Komplex. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin, zuständig für die Doping-Fälle in Brandenburg, hat über die Hälfte der einst 116 Beschuldigten zu Zahlungen von Geldbußen aufge-fordert. Sieben Haupttäter sollen Strafbefehle bekommen...
(Udo Ludwig, Georg Mascolo in „Der Spiegel“ 37/1999)
„...ideologische Tünche“
„Kein Wunder, daß die Erfolge des DDR-Sports in westlichen Län-dern nicht nur mit den geschilderten Systemvorteilen in Verbindung gebracht wurden, sondern daß in einigen Sportarten - gestützt auf Vermutungen, aber auch auf Aussagen von Betroffenen - schon
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früh der Verdacht auf ‘von oben’ verordnetes Doping laut wurde. Rudern kann (soviel wir heute wissen) davon weitgehend ausge-nommen werden. Für diese Annahme sprechen mehrere Gründe: Als Kraftausdauersportart mit relativ hoher Belastungszeit (vor al-lem seit Einführung der 2000-m-Distanz für alle internationalen Ka-tegorien) eignet sich Rudern nicht für die anderswo so beliebten Muskelaufbaupräparate. Als Sportart mit relativ hohem optimalen Leistungsalter wäre eine Verordnung an Jugendliche (Hauptstreit-punkt der aktuellen Dopingdiskussion) geradezu widersinnig. Drit-tens und viel wichtiger: Es gibt keine Sportart, in der DDR-Funktionäre und -Ärzte so intensiv und so früh an der Gestaltung eines umfassenden internationalen Kontrollprogramms auf der Ba-sis allgemein anerkannter ethischer Prinzipien mitgewirkt haben wie im Rudern. Das war für die Beteiligten nicht einfach und ver-langte viel Mut.
Bei den öffentlichen Beschuldigungen sollte im übrigen nicht über-sehen werden (und das liegt dem Autor dieses Beitrages am Her-zen), wie pharisäerhaft sich nachträgliche Bewertungen ausneh-men, die offenbar nichts mehr wissen wollen von der grenzüber-schreitenden Mentalität mancher Sportärzte und Politiker der sech-ziger und siebziger Jahre, solche ‘leistungsfördernden Maßnah-men’ auch für den Westen als durchaus akzeptabel hinzunehmen.
Die allzu einfachen, aber gerade deshalb so repetierten Bilder vom kommunistisch-indoktrinierten, staatlich diktierten Sport in der Deutschen Demokratischen Republik und vom bürgerlich-kapitalistischen, kommerziell unterwanderten Sport in der Bundes-republik Deutschland verkleistern (im Rudern ohnehin) den wahren Kern allen Wiederaufbaus nach dem Krieg, beiderseits der Grenze: Das Bemühen um eine gesunde Jugend, die Ideale der Fairneß, der Solidarität und der Völkerverständigung, die Suche nach kör-perlich anstrengender Bewegung und Bewährung. Alles andere ist ideologische Tünche und überdeckt das tatsächlich, über 50 Jahre lang Trennende ebenso wie das gemeinsam Geleistete.“
(Clauß Heß, Rudersport 20/1999)
JAHRESTAGE
Der Blick über die Welt hin...
Am 24. Oktober 1999 jährte sich der Tag der Hinrichtung Werner Seelenbinders zum 55. Mal. Außer der PDS Neu-
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kölln, wo man seine Urne 1945 beigesetzt hatte, erinnerte sich niemand dieses Tages. Wir gedenken Seelenbinders mit einem Auszug aus einer Skizze aus der Feder Stephan Her-mlins in dem Buch „Die erste Reihe“.
„Werner Seelenbinder war kein Visionär, aber er sah ganze Ar-meen von Sportlern ins Massengrab ziehen. Die Kulisse der Berli-ner Olympiade wurde vor dem täglichen Mord in den Konzentrati-onslagern, der Rassenhetze und einer Armada von Panzern und Bombern aufgerichtet. Als Werner Seelenbinder in die deutsche Olympiamannschaft eingereiht wurde, erklärte er seinen besten Freunden seinen Plan: Er müsse unter allen Umständen siegen: dann, bei der Siegerehrung, vor dem Mikrophon stehend, würde er der ganzen Welt die Wahrheit über das Hitlerregime ins Gesicht schreien. Er war nicht unter den Siegern. Er konnte in seiner Klas-se nur den vierten Platz besetzen. Man sagt, daß Werner Seelen-binder, der, gerade weil er ein guter Sportsmann war, auch lä-chelnd verlieren konnte, später geweint und von seiner schwersten Niederlage gesprochen habe.
Aber seine Laufbahn war weiter erfolgreich, und er verdoppelte seine politische Tätigkeit. Er verbreitete Flugblätter, nahm Verfolgte bei sich auf und brachte sie weiter in Sicherheit, benutzte vor allem seine Auslandsreisen, die er auch nach Beginn des Krieges fort-setzen konnte, dazu, um Informationen zu sammeln und weiterzu-geben und um die Verbindung zwischen der Widerstandsbewe-gung in Deutschland und den Emigrationsgruppen zu festigen.
Man war auf ihn aufmerksam geworden. In Paris, wo er auf dem Turnier während der Weltausstellung 1937 einen großen Erfolg er-rang, durchwühlten Naziagenten sein Gepäck im Hotel. Er war als Sportler und politischer Kämpfer in Italien, in Dänemark, Schweden und Finnland tätig. Auf ganz selbstverständliche Weise hatte Wer-ner Seelenbinder sein Leben lang seine Liebe zu den Menschen und ihrer Zukunft mit der Liebe zu seinem Sport verbunden, bis er im Februar 1942 verhaftet wurde...
Er verkörpert den Athleten der Zukunft, der manches vom Athleten der klassischen Vergangenheit besitzt, aber viel vor ihm voraus hat: den Blick, über die Welt hin, in eine Welt hinein, in der die Menschheit Geist und Körper übt, um die Natur immer machtvoller zu meistern. Seiner darf gedacht werden mit den Worten des Pin-dar für den Ringkämpfer Epharmostos:
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‘Welcher Schrei erbrauste laut, als aus dem Ring er schritt! In reifer Blüte stand er da und schön, das Schönste aber war die Tat’“.
Zum 250. Geburtstag Johann Wolfgang Goethes
Gespräch mit GÜNTER WITT
BEITRÄGE: Die Goethe-Ehrungen 1999 haben ihren „Höhepunkt“ überschritten, der Geburtstag ist vorüber. Viele Goethe-Freunde waren schockiert vom kommerziellen Stil mancher „Ehrungen“, die sich an Geschmacklosigkeit übertrafen. Dessenungeachtet schien es angeraten, Goethes Beziehungen zur Körperkultur zu beleuch-ten.
WITT: Es heißt ja: „Jeder der sucht, findet seinen Goethe“. Tat-sächlich gelangen Annäherungen an Goethe zu den verschiedens-ten Goethe-Bildern oder zu Mosaiksteinen solcher Bilder, ob über den Weg wissenschaftlich hochkarätiger Analysen seiner Poesie, Prosa oder Dramatik, ob durch Untersuchungen seiner philosophi-schen, ästhetischen oder naturwissenschaftlichen Ansichten oder auch durch Filterung des Aktenbestandes von Geheimarchiven, je nach dem vorhandenen Interesse. Und das gilt auch für die Sport-geschichte und -ästhetik, allerdings ohne den leisesten Anspruch, etwa ein neues Goethe-Bild zu versuchen, sondern eher mit der Absicht, einige Facetten seines Lebens und Werks transparent zu machen. Denn nachweislich gehörten zu Goethes Leben über vie-le Jahre hinweg auch eine erstaunliche Fülle und Vielfalt sportli-cher Aktivitäten, die in seiner Dichtung künstlerisch-ästhetisch ein-drucksvoll reflektiert werden. Diese Komponente seines Lebens und Werkes wird allerdings nicht erst heute in der Literatur über Goethe vernachlässigt, obwohl authentische Quellen reichliche Nachweise bereithalten, von den bis ins Detail beschriebenen Fak-ten in den lebensgeschichtlichen Schriften, Tagebüchern und Brie-fen Goethes bis zu den Zeugnissen von Zeitgenossen. Dem nach-zugehen hat den Reiz, einen Zugang zu Goethe als zu einem le-bendigen Menschen aus Fleisch und Blut zu finden, also nicht ausschließlich zu seinem literarischen Werk und schon gar nicht zu Goethe als Denkmal auf hohem Podest, weit entfernt und un-nahbar. Auslöser für diesen Versuch waren nicht zuletzt Schlag-zeilen in einigen Zeitungen, so unter anderen die Überschrift „Goe-
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the, der Ausnahme-Athlet“. Da solche journalistisch wirksamen Übertreibungen unversehens den gleichen Effekt erzielen können wie die literaturwissenschaftlichen Apostrophierungen Goethes als „Dichterfürst“ oder als „Olympier der deutschen Dichtkunst bzw. der Weltliteratur“, das heißt, Distanz statt Annäherung. Ich bin um „Gegendarstellungen“ bemüht.
BEITRÄGE: Und zu welchen gelangten Sie?
WITT: Zunächst ist es der Weg, ist es die Art und Weise, wie sich das Verhältnis Goethes zur Körpererziehung herausbildete. Als Kind in Frankfurt war er ein ausgesprochener Stubenhocker. Er galt als geistig hochbegabt und -gebildet, aber auch als körperlich schwächlich und ständig für Erkrankungen anfällig. Späte Einsich-ten seines ehrgeizigen Vaters, dem Knaben Wanderungen zu er-lauben und ihn im Reiten und Fechten ausbilden zu lassen, brach-ten geringe Besserungen seiner körperlichen Befindlichkeit. Als Student in Leipzig ab 1765 wanderte Goethe dann erstaunlich lange Strecken in alle Himmelsrichtungen, spürte er körperliches Wohlbe-finden und genoß zugleich die Schönheiten der Natur. Wandern er-lebte er als „Bilderjagd“ auf „poetisches Wildbret“, visuelle Eindrücke wandelten sich in poetische Bilder. Dann war es der Professor für Poesie, Beredtsamkeit und Moral Christian Fürchtegott Gellert, dessen Vorlesungen dem Jurastudenten Wolfgang Goethe er-staunliche und überzeugende Vorstellungen von gesunder Le-bensweise vermittelten, von der Übung und Kräftigung des Kör-pers durch Bewegung in der freien Natur über Baden im kalten Wasser bis zur maßvollen Ernährung. Goethes Bemühungen ge-gen das „sitzende und schleichende Leben“ wurden aber jäh un-terbrochen, als er 1768 einen Blutsturz erlitt. Und erst ab 1770 konnte er in Straßburg intensiv den Weg zur Selbsterziehung sei-nes Körpers fortsetzen, und zwar mit sichtlichem Erfolg.
BEITRÄGE: Sie erwähnten die Behauptungen vom „Ausnah-m-Athleten“...
WITT: Hüten wir uns vor den Übertreibungen vieler Goethe-Ehrungen, bleiben wir sachlich. Neben dem Wandern, das ihm zeit seines Lebens ein Bedürfnis war, und dem Bergsteigen, das ihn durch nahezu alle deutschen Mittelgebirge führte und das durch das Besteigen des Brocken im winterlichen Harz, einiger Dreiein-halbtausender in der Schweiz und des Vesuvs in Italien gekrönt wurde, muß das Baden und Schwimmen genannt werden sowie
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das Fechten und das Schießen - mit der Büchse als Jäger und mit dem Bogen -, dann vor allem das geradezu meisterlich beherrsch-te Schlittschuhlaufen und nicht zuletzt nahezu lebensbegleitend das Reiten. Insofern könnte man ihn schon als eine Ausnahme zu seiner Zeit bezeichnen. Allerdings würde ich ihn nicht einen Athle-ten nennen, weder im Sinne der Antike noch in einer Gleichset-zung mit Hochleistungssportlern von heute. Die genannten Aktivi-täten Goethes waren für ihn ein Vergnügen, eine Lust, seine kör-perlichen Kräfte und Fertigkeiten zu spüren, waren für ihn eine Quelle seines Wohlbefindens und seiner geistigen Produktivität. Wenn es üblich ist, den Wettkampf miteinander und gegeneinan-der als die „Seele das Sports“ zu bezeichnen, wenn für den Sport das Ringen um Bestleistungen oder Rekorde charakteristisch ist, dann ist davon bei den Aktivitäten Goethes kaum etwas zu entde-cken. Die Schützenfeste in Weimar wie auch die Eislaufveranstal-tungen, an denen Goethe sich leidenschaftlich beteiligte, waren eine sehr beliebte Unterhaltung, dienten der Geselligkeit. Goethe mit den Namen sportlich und finanziell erfolgreicher Profis der Ge-genwart in Verbindung zu setzen, halte ich für kaum amüsant son-dern für eher geschmacklos und zugleich töricht, nicht nur weil die-se saloppe Art wiederum den Effekt von Distanzierung erzeugen kann. Man biedert sich einem Trend in der deutschen Medienland-schaft an, den Top-Jubilar des Jahres zum Mega-Star der alles do-minierenden Spaß- und Unterhaltungskultur zu stilisieren, aber da-für ist Goethes Leben und Werk kaum geeignet. Auf die Macher in den Medien, die es trotzdem nicht unversucht ließen, trifft ein Ge-danke Goethes aus dem Nachlaß seiner „Maximen und Reflexio-nen“ zu: „Die Technik im Bündnis mit dem Abgeschmackten ist die fürchterlichste Feindin der Kunst“.
Festzuhalten bleibt, daß Goethe als junger Mann erstaunliche Leistungen vollbrachte, vor allem beim Wandern, Bergsteigen und Reiten. Ein Beispiel zur Illustration: Nach tagelangen Ritten auf der Jagd in den Revieren um Dessau und Wörlitz im Dezember 1776 sattelten Goethe und der junge Herzog Carl August von Sach-sen-Weimar-Eisenach die Pferde, um nach Leipzig zu reiten. Nach zweitägigem Aufenthalt unternahmen sie dann am 21. Dezember den legendären Dauerritt von Leipzig nach Weimar. Für die 115 km brauchten sie nur achteinhalb Stunden.
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BEITRÄGE: Könnten Erfahrungen Goethes auch heute noch von Bedeutung sein ?
WITT: Ich denke, daß dies sowohl im negativen wie im positiven Sinne der Fall ist. Goethe machte jene negative Erfahrung, die heute zu den gesicherten Erkenntnissen der Sportmedizin und der Gerontologie zählt: Sportliche Aktivitäten auch über längere Zeit-räume hinweg haben keine Depotwirkung im Alter. Sie bedürfen der altersgerechten Weiterführung. Und da Goethe bekanntlich kein Heiliger war, der in zurückgezogener Klausur wie ein Asket lebte, sondern eben auch nur ein Mensch, blieb seine Lust am Genuß von guten Speisen und Getränken nicht verborgen oder versteckt. Die unangenehmen Folgen seiner veränderten Lebens-führung im fortschreitenden Alter spürte Goethe sehr bald: Nach-lassen des Wohlbefindens, zunehmende Korpulenz und häufige Erkrankungen signalisierten seine Versäumnisse an körperlicher Aktivität.Zu seinen positiven Erfahrungen, wonach sich körperliche Aktivität als Quelle geistiger Produktivität erweist, hat sich Goethe mehrfach geäußert. Er berührte damit ein auch heute hochaktuel-les Thema. Bei Goethe fand ich die Bezeichnung „pathologische Stellen“, die er in seinen Werken und in denen anderer Dichter feststellte und von denen er wußte, daß sie an Tagen geschrieben worden waren, an denen er sich körperlich nicht wohl fühlte. Es entspricht seiner Grundhaltung, daraus niemals unabdingbare Forderungen für andere oder gar für alle abzuleiten, sich körperlich aktiv zu betätigen. Mit einer Ausnahme: Aus wohl begründeter Sorge um die damalige völlig unterentwickelte körperliche Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen forderte er allerdings kategorisch die Veränderung dieses allgemeinen Zustandes, ver-folgte er aufmerksam und mit hoher Wertschätzung die Bemühun-gen von Reformpädagogen wie GutsMuths in Schnepfenthal, Base-dow in Dessau, Jahn in Jena und Eisenach.
REPORTAGE
Wismarer Empfehlung:
An die Jugend denken!
Von OTTO JAHNKE
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Wieder war die Hansestadt Wismar Gastgeber für gestandene Boxsportler, Trainer und Kampfrichter, die in den schweren Jahren des Beginns den anerkannt guten Ruf des Boxsports in Mecklen-burg-Vorpommern begründeten. Siebzehn Teilnehmer, begleitet von ihren Ehepartnern, erlebten drei Tage, die gewiß in der Erin-nerung bleiben. Das Haar der einst wackeren Kämpfer ist zwar grau geworden, doch ihr Interesse war hellwach, besonders wenn es in der Diskussion um ihre Sportart ging, um die großen Gefech-te, die sie einst in den Boxringen lieferten, aber auch und vor allem um die Entwicklung des Boxsports heute, um den Sport der Kinder und Jugendlichen.
Einer von ihnen ist Wismars engagierter Organisator Fiete von Thien, der im Kreis der Traditionsmannschaft wieder Boxer mit klangvollen Namen begrüßen konnte: Herbert Brien, Wolfgang Malchow, Hans Hagen, Gerhard Spiegel, Werner Lorenz, Rudolf Donner, Karl Bullerjahn, Ortlef Kleemann, Werner Räsch, Willi Steinberg und Heinz Alms. Zu diesem erlesenen Kreis gehören Ostzonenmeister, DDR-Meister, Deutsche Meister, Landesmeister und ehemalige Angehörige der Nationalmannschaft Boxen. Dazu gehören auch die Trainer und internationalen Kampfrichter Johan-nes Gelinski, Rudi Radtke und der 79jährige Helmut Wolter. In den zurückliegenden Jahren hat er immer wieder mit neuen Ideen für den Boxsport geworben. Obwohl einarmig ging er selber an den Sandsack oder in den Ring, um zu zeigen, wie eine Gerade ge-schlagen wird, wie ein Sidestep zu erfolgen hat. Helmut Wolter hatte einst das Box-ABC in Danzig erlernt und mit Erfolg betrieben. 1938 wurde er Deutscher Jugendmeister. Ein Jahr später begann der zweite Weltkrieg, der auch seine sportliche Laufbahn beende-te. Doch seine Bereitschaft zum sportlichen Engagement konnte man ihm nicht nehmen. So war er in Grabow, das ihm nach dem Ende des Weltkrieges Heimat wurde, oft von Kindern und Jugend-lichen umgeben. Als 1947/48 die Absicht bestand, eine Sparte Bo-xen aufzubauen, war Helmut zur Stelle. Er war es, der die ersten Box-Utensilien (Handschuhe, Bandagen, Sandsack, Sprungseile) beschaffte. Arno Kölblin, einst Profi im Schwergewicht, der einige Zeit Auswahltrainer war, hatte für solche Wünsche ein offenes Ohr. Unter Helmuts Leitung entwickelte sich bald eine kampfstarke Sektion, deren Vergleichskämpfe oft für Schlagzeilen sorgten. Bei dem Treffen in Wismar erinnerte er in einem leidenschaftlichen
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Appell die Box-Veteranen an den schweren Anfang: Wir hatten Ideale! Sie spornten an, sie wurden zur Triebkraft. Davon sollten wir uns leiten lassen und sie an die Jugend vermitteln. Was Hel-mut für den Boxsport geleistet hat, kann man in Worte kaum fas-sen, meinte Herbert Brien (68), einer der erfolgreichsten Schweri-ner Boxer (zweifacher Vize- und dreifacher DDR-Meister im Flie-gengewicht). In Schulen und Betrieben war der Boxer gern gese-hener Gast. Schüler und Lehrlinge hörten ihm gern zu, wenn er in seiner lockeren Art zu ihnen sprach und sich für ihre schulische und berufliche Ausbildung interessierte. Er selbst nutzte die Bil-dungsmöglichkeiten jener Zeit, studierte und erwarb das Diplom als Sportlehrer, wirkte als Cheftrainer beim SC Dynamo Berlin. „Heute hat es die Jugend schwerer“, weiß er und nennt als Bei-spiel seinen Enkel, der gern dem Opa nacheifern möchte. Aber ein Lehrgang an der Sportschule Kienbaum kostet von Montagvormit-tag bis Freitagmittag „350 DM, der Beitrag im Sportverein für ein halbes Jahr 60 DM. Eine derartige Belastung ist für manche Fami-lien einfach zu groß...“, berichtet Herbert aus eigener Erfahrung.
Teilnehmer am Traditionstreffen war auch der einstige Grabower Boxliebling Wolfgang Malchow (63). Er hatte die 640 km weite Reise von Weinheim (Rhein-Neckar-Bezirk) nicht gescheut. „Die Atmosphäre im Kreise alter Bekannter möchte ich einfach nicht missen.“ Deshalb war er beim achten Treffen wieder dabei. Aus seiner Erfolgsbilanz: Landesmeister Mecklenburg-Vorpommerns, 1952 errang er den DDR-Titel bei den Junioren. In der gleichen Al-tersklasse stand er 1953 im Aufgebot des Rhein-Neckar-Gebiets und wurde deutscher Meister im Fliegengewicht.
Mit Hochachtung spricht man noch heute in Kreisen des Boxsports den Namen des in 170 Kämpfen erprobten Rudolf Donner (67) aus. Seine Kampfkraft, sein Kampfgeist und sein technisches Vermögen werden noch immer gerühmt. 1949 wurde er Landes-meister bei den Junioren, ein Jahr danach erkämpfte er den Titel bei den Senioren im Weltergewicht. Er habe Freude an der Atmo-sphäre des Traditionstreffens, finde Gefallen an den Gesprächen mit den alten Hasen des Sports. Er habe seinen Sport mit großer Leidenschaft betrieben und viel Freude daran gehabt. Die Werftlei-tung des damals volkseigenen Betriebes förderte den Sport. Sie war stets ein guter Sponsor, wie man heute sagen würde. Das Haus des Sports stand - ebenso wie den Basketballern, den Judo-
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kas oder den Ringern - immer kostenlos zur Verfügung. Unsere Fahrten zu den Wettkämpfen, absolvierten wir mit einem Bus der Werft. Wir hatten einfach keine finanziellen Sorgen.
Das betonen auch Heinz Alms aus Trinwillershagen und Willi Steinberg aus Neustrelitz. Sie gehörten zu den Finalisten bei den Landesmeisterschaften von Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt haben sie über 200 Kämpfe bestritten. Die unzertrennlichen Freunde von heute waren in ihrer aktiven Zeit Erzrivalen, die sich nichts schenkten. Von der ersten Runde bis zum Schlußgong war-fen beide Halbschwergewichtler das ganze Repertoire ihres boxe-rischen Könnens in die Waagschale - solide Technik, hervorra-gende Kondition, enorme Schlagkraft und unbeugsamen Sieges-willen. Wenn beide den Ring betraten, „brannte“ gewissermaßen die Luft. Beide boxten erfolgreich, Heinz Alms gehörte zum Kern der DDR-Auswahl. Beide sind noch heute topfit. Nach ihrem letz-ten Kampf gegeneinander vergingen 40 Jahre, ehe sie sich beim ersten Traditionstreffen in Wismar wiedersahen. Seit dem sind sie jedes Jahr mit ihren Frauen beim „Familienfest der Boxveteranen“ in der Hansestadt dabei.
Eingeladen zum diesjährigen Treffen hatte wieder der umsichtige Pressewart des Amateur-Box-Verbandes (ABV) des Landes, der Sportlehrer und Trainer des Polizeisportvereins in Wismar Fiete von Thien. Er konnte sich auch bei diesem Treffen der Unterstüt-zung von Förderern und Sponsoren des Boxsports in der Stadt Wismar und ihrer Umgebung erfreuen. Für uns, die Gäste des Traditionstreffens, waren diese drei Tage ein großartiges Erlebnis. So die Wanderung durch die prächtige Innenstadt mit ihren impo-nierenden historischen Bauten oder über den Fischmarkt im Ha-fengelände, dessen lebhaftes Treiben wir beobachten konnten. Mit Respekt standen wir vor dem anno 1088 erbauten Rathaus, be-sichtigten den imposanten Rathaussaal, in dem im November 1998 die Auslosung für die internationalen deutschen Junioren-meisterschaften stattfand. Frau Dr. Rosemarie Wilken, die Bür-germeisterin von Wismar, war Schirmherrin dieser Titelkämpfe.
Wenige Schritte vom Rathaus entfernt befindet sich das histori-sche Restaurant „Zum Weinberg“, im Herzen der Wismarer Alt-stadt. Dort war für uns ein festliches Mittagessen vorbereitet wor-den und die Chefin des Hauses, Frau Mixdorf, begrüßte uns mit den Worten: „Die Arbeit, die Sie für den Sport und damit für unsere
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Stadt geleistet haben, verdient unsere Anerkennung. Wir freuen uns, Sie erneut in der Hansestadt zu begrüßen.“ Sie hatte das Es-sen gesponsert.
Aufschlußreich für uns waren auch die Begegnungen mit dem Bus-unternehmer, Peter Schmidt, der nicht nur durch seine schlanke, sportliche Figur beeindruckte. Er fuhr uns mit einem seiner Busse durch Mecklenburger Städte und Dörfer, vorbei an bestellten Fel-dern, saftigen Wiesen mit Viehherden, meilenweiten gelb blühenden Rapsfeldern. Er „freue sich über die Veränderungen, die sich überall vollzogen haben“ in den letzten Jahrzehnten. Er gestand: „Ich liebe mein Land“ und er sei „in der Lage, etwas abzugeben für die Ju-gend“. Sie dürfe sich nicht selbst überlassen bleiben. Auch deshalb begrüße und fördere er das Wismarer Traditionstreffen, das in der Öffentlichkeit wieder nachhaltige Beachtung gefunden hat.
Vier Wochen nach diesem Treffen liegt die Einladung für das nächste, das erste „im neuen Jahrtausend“, bereits vor, und zwar für den 26. bis 28. Mai 2000 selbstverständlich wieder in der Han-sestadt Wismar.
REZENSIONEN
„Alltagssport in der DDR“
Der vielversprechende Titel „Alltagssport in der DDR“ und sein Herausgeber, Jochen HINSCHING, suggerieren, daß sowohl „sys-temtheoretische als auch akteurstheoretische Sichtweisen und In-
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terpretationen... realitätsnahe Bilder“ zeichnen. (S. 9) Tatsächlich wird aber z.T. versucht, die Akteurinteressen losgelöst und völlig unabhängig von der Inklusionspolitik und -option, deren Möglich-keiten und Ergebnissen zu analysieren, indem völlig willkürlich ei-ne strukturelle Neuorientierung (1967/1968) und die damit verbun-denen Definitionsprobleme und -aufgaben zum Ausgangspunkt der Entwicklung des Alltagssports in der DDR erklärt und die vo-rangegangenen Entwicklungen und Voraussetzungen für eine ak-tive Beteiligung vieler Menschen am Sport außer acht gelassen werden. Damit werden aber zugleich jene Bedingungen ausge-spart, die eine Neuorientierung erst ermöglichten und von denen es z.B. in einer juristischen Dissertation heißt, daß im „Gegensatz zum Grundgesetz (und erstmals für eine deutsche Verfassung) die DDR-Verfassung verschiedene ‘Sportartikel’ enthielt“ (NIESE, 1997, S.127 f) und die „besondere Bedeutung, die der Staat dem Sport (in vielerlei Hinsicht) beimaß, auch darin zum Ausdruck kam, daß er ihm in seiner Ausprägung als Schul- und Volkssport eine Förderzusage gegeben hat“ und damit „zum Teil ausdrückliche Förderansprüche“ (139 ff) verbunden waren. Mit einem für wissen-schaftliche Untersuchungen generell unvertretbaren und aus struk-tur-funktionalistischer und systemtheoretischer Sicht völlig unübli-chen Kunstkniff werden aber die Entwicklungen von 44 Jahren Volks- und Alltagssport mehr vom Endstadium der DDR her be-trachtet, und es wird ermöglicht, diese auf die gängigen Schre-ckensbegriffe und -klischees über die SBZ/DDR einzuebnen. Selbst unabweisbare Tatsachen werden dazu passfähig gemacht. Aus strukturfunktionalistischer und systemtheoretischer Sicht wird z.B. von HARTMANN-TEWS festgestellt, „...doch wird jede sich sozi-al-strukturell niederschlagende Strukturveränderung von der Durchsetzung neuer Definitionen begleitet, unterstützen sich sym-bolisch-kognitive Prozesse der Definition und sozialstrukturelle Dif-ferenzierungsprozesse gegenseitig.“ (1996, S. 23) HINSCHING aber interpretiert einen adäquaten Prozeß als „herrschaftssichernden Entwicklungsauftrag“ (S. 20) und folgert, die „diktatorische Verfü-gung über die Bedürfnisse der Menschen war die Folge ihrer poli-tischen Instrumentalisierung“. (S. 25) Der Freizeit- und Erholungs-sport (FES) in der DDR wird vor allem delegitimierend gesehen und die wissenschaftsfunktionalen Anleihen für Ent- und Ausdiffe-renzierung (S. 24 ff) als „vormodernes System oder moderne Dik-
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tatur“ dienen eigentlich dazu, ein Szenarium zu begründen, das jede wissenschaftlich seriöse Betrachtung des DDR-Sports ver-hindert. So wird denn auch die Entwicklung des Sports in der DDR „als eine Diktatur über die Bedürfnisse der Menschen wie über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung“ (S. 25) verstanden. Da HINSCHING nicht nur in der DDR gelebt hat, sondern auch studier-te, promovierte, habilitierte und als Hochschullehrer an den reprä-sentativen - vor allem anonymen - Motivations- und Bedürfnisana-lysen beteiligt war, die u.a. mit einem gemeinsam mit dem Zentra-linstitut für Jugendforschung entwickelten Wertorientierungsverfah-ren durchgeführt wurden, muß das schon verwundern. Und er muß sich fragen lassen, warum diese Ergebnisse, die mit einem inter-national anerkannten Verfahren gewonnen worden sind, ausge-spart werden und den Freizeitsportlern in der DDR unterstellt wird, sie wären hinsichtlich ihrer Bedürfnisse, die sie mittels Sport be-friedigten, manipuliert worden oder sie hätten sich manipulieren lassen. Solche Unterstellungen sind - setzt man das derzeitige Er-kenntnisniveau zu diesen Fragen voraus - nicht nur absurd, son-dern sie offenbaren auch den wissenschaftlichen Anspruch des Autors. Das gilt ebenso für das Postulat einer „Sportkultur des Un-tergrundes“. (S. 29) Immerhin billigt HINSCHING dem DDR-Sport „einen souveränen Umgang mit Planung und Leitung als Ma-nagement“ (S. 27) zu.
Die Mitautoren sind allerdings nicht alle den vorgegebenen Deu-tungsmustern gefolgt, z.B. Klaus HENNIG, der „Massensport - FES: Entwicklungsabschnitte und Entwicklungslinien im Rückblick“ und „breitensportliche Kampagnen und Konstrukte“ darstellt. Wenn-gleich sich trotz aller notwendigen Bezüge auf die Zeit vor 1967/1968 eben nicht erhellt, daß die etwa 400.000 ehrenamtli-chen Funktionäre des DTSB, die in dominierender Weise, die ca. 200.000 gewerkschaftlichen Sportorganisatoren, die ausschließlich (S. 54), und die insgesamt hohe Dominanz der ehrenamtlichen Kräfte unter den Übungsleitern und Kampf- und Schiedsrichtern, die für diesen Bereich zuständig waren, auch durch die Einhaltung der Förderzusage des Staates möglich war, ob durch Arbeitsfrei-stellungen, die versicherungsrechtliche Absicherung oder die kos-tenlose sportmedizinische Betreuung für alle u.v.a.m., deren Kos-ten von keinem Autor weder thematisiert noch berücksichtigt wer-den. HENNIG charakterisiert - die notwendigen Quellen und vorlie-
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genden Daten nutzend - das Anliegen und die Möglichkeiten des Freizeit- und Erholungsports (FES), z.B. den Sport der Werktäti-gen (S. 40), den Sport in der Familie (S. 41), den Sport der älteren Bürger (S. 42), den Sport am Arbeitsplatz und in den Betrieben (S. 43), den Sport in den Wohngebieten (S.45), den Sport in den Er-holungsgebieten und im Urlaub (S. 47) sowie den Gesund-heitssport und den Sport als Heilmittel während einer Kur (S. 49). Außerdem werden der strukturelle Handlungsrahmen für den FES im Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) vorgestellt (S. 53 ff) sowie die Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung im Zusam-menwirken mit anderen gesellschaftlichen Kräften (S. 57) reflek-tiert. Es wurde deutlich: Der DTSB organisierte den Freizeit- und Erholungssport auf allen Ebenen, ob in den Städten oder in den Gemeinden auf dem Land, und zwar ohne regulierende Weisun-gen. Die territorialen Sportzentren waren die Sportgemeinschaften, insbesondere die Betriebssportgemeinschaften, die in der Regel eng mit den Schulen und den Territorialorganen zusammenwirk-ten.
Theo AUSTERMÜHLE behandelt in seinem Kapitel Konflikte und Kon-fliktlösungen im Sport (S. 135 - 159) und damit ein anspruchsvolles soziologisches Anliegen, das strengen wissenschaftlichen Maßstä-ben aber nur ansatzweise gerecht wird. Denn den Soziologen ist bekannt, daß soziale Konflikte stets im Kontext von Pro und Kontra entstehen. Sie haben letztlich die Funktion im Prozeß ihrer Lösung ein qualitativ neues Niveau zu erreichen. AUSTERMÜHLE stellt zwar Konflikte als Triebkraft im Breitensport dar, ihre Wirksamkeit hin zur qualitativen Verbesserung des Vorhandenen bleibt jedoch undeut-lich (S. 140-141). Einige Folgerungen und Postulate zum Alltags-sport sind unvertretbar allgemein. So bedauerlich die Negierung solcher Sportarten wie Budo, Karate oder Yoga auch gewesen sein mag, gemessen am Anspruch des Sammelbandes als Fachbuch dürfen Aussagen zum Freizeit- und Erholungssport in der DDR nicht auf diese Einzelbeispiele reduziert werden. Insgesamt spiegelt auch dieses Kapitel das tatsächliche Geschehen sehr subjektiv wider und es wird wenig über den tatsächlichen Sportkonsum breiter Bevölke-rungskreise ausgesagt.
Gemeinsam mit Frigga DICKWACH stellt Theo AUSTERMÜHLE schließlich die Forschungsarbeiten an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) zum Breitensport vor. (S. 160-183) Den
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Autoren gelingt es, einen Überblick über die an der DHfK entstan-denen wissenschaftlichen Arbeiten zu geben. Allerdings bleiben die Leistungen der Institute für Körpererziehung und späteren Sek-tionen Sportwissenschaft an den Universitäten und Pädagogi-schen Hochschulen zumeist unerwähnt und der Überblick über das tatsächlich Vorgelegte letztlich unvollständig. Da der Rezen-sent die Breitensportentwicklung in der DDR durch wissenschaftli-che Arbeiten an der DHfK seit 1961 begleitet, seit 1965 an Projek-ten leitend mitgewirkt und ab 1968-1970 repräsentative For-schungsvorhaben mit soziologischem Zuschnitt verantwortet hat, muß einschätzend festgestellt werden, daß noch zu vieles offen bleibt und nicht vertretbare Prioritäten hinsichtlich der wissen-schaftlichen Bedeutsamkeit gesetzt werden. Zum Beispiel war das für die DDR repräsentative Forschungsvorhaben 1965 national wie international das bedeutendste Projekt im Bereich von Körperkul-tur und Sport und der Gesamtbericht dieses Vorhabens keines-wegs bloße Rechtfertigungsideologie wie heute glaubhaft gemacht werden soll. Oder das für den Bezirk Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) repräsentative Forschungsprojekt - ein mit soziologischen Unter-suchungen begleitetes Leitungs- und Planungsexperiment - wird gar nicht genannt, obwohl zwei komplexe Forschungsberichte und sechs Dissertationen die Ergebnisse detailliert darstellen. Das „Massencharakterprojekt“ Wurzen wird schließlich nur aus der Sicht des Forschungsberichts von BAUER (S. 178) reflektiert. Es wird also nur ein kleiner Ausschnitt dieses interdisziplinären Vor-habens betrachtet, das nicht nur eine repräsentative Analyse mit paraklinischen Teiluntersuchungen zum Gesundheitszustand und zum Freizeitverhalten der Bürger umfaßte, sondern auch adäquate Fragestellungen zum Schulsport, Berufsschulsport, Studenten-sport und zum Sport junger Facharbeiter mit quantifizierbaren Ein-zelfallstudien beantworten half.
Die Autoren haben im Teil I zwar versucht, die Möglichkeiten und Grenzen der breitensportlichen Entwicklung in der DDR an ausge-wählten inhaltlichen Schwerpunkten darzustellen, bedauerlicher-weise aber eher die Grenzen thematisiert, ausgelotet und politisch ganz im Sinne der Delegitimierung der DDR bewertet. Die Möglich-keiten und die tatsächliche Zuwendung der Bürger zum Sport blieb so im Gestrüpp einer hochstilisierten Mängeldiskussion hängen. Die für wissenschaftliche Untersuchungen notwendige Objektivität und
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Exaktheit fehlte zu oft. Wohltuend und fast als Ausnahme wird die-sen Ansprüchen lediglich der Beitrag von HENNIG gerecht.
Im Teil II und III werden von den Autoren sowohl Einblicke und Eindrücke zum sportlichen Alltag als auch sogenannte „Außen-sichten“ vorgestellt. Auch hier dominieren die gängigen Klischees und kaum Sachlichkeit oder sachbezogene Wertungen (S. 200-208) und die für wissenschaftliche Abhandlungen stets gebotene Objektivität, wie fast durchgängig in dem Beitrag von Hans-Georg KREMER zum GutsMuths-Rennsteiglauf. Im Gegensatz dazu be-dient zum Beispiel EHRLER das Klischee von der Unerwünschtheit der Sportart Triathlon als Freizeitbeschäftigung. Statt die tatsächli-che Entwicklung dieser neuen Sportart in der DDR in den Mittel-punkt der Betrachtungen zu stellen, verliert er sich in der Darle-gung von politischen und ideologischen Repressionen seitens der Sportführung. Allerdings muß EHRLER sich fragen lassen, warum Triathlon nach dem Beitritt zur BRD sich nicht zu einer Sportart entwickelte, die von breiten Kreisen der Bevölkerung betrieben wird, z.B. in Leipzig, wo heute ca. 150 Mitglieder gezählt werden, nachdem es die vermeintlichen Repressionen der damaligen Sportführung nun schon seit Jahren nicht mehr gibt.
Dichtung statt Wahrheit erwartet den Leser auch, wenn PRILLER behauptet, daß „wichtige Analysen durch fehlenden Datenzugang und andere Restriktionen vor 1990 nicht möglich waren“, obwohl ein „umfangreicher Datenfonds“ festgestellt worden ist, der aber - so wird behauptet - in „geringem Umfang der Wissenschaft und der Öffentlichkeit zugänglich war“. (S. 298) Das ist ebenso an-fechtbar wie die Tatsache, daß die sozialökonomischen Verwer-fungen der Wendezeit in keiner Weise berücksichtigt werden. Das betrifft insbesondere jene Altersgruppen, die zu den ersten Wen-deopfern in der Arbeitswelt gehörten. Die rückläufige Beteiligung am Sport und Sporttreiben im Altersbereich von 35 - 60 Jahren (S. 306) von 1974 - 1990 untermauern diese Feststellung. Es ist wis-senschaftlich mehr als fahrlässig, wenn Daten interpretiert werden (S. 308 f), ohne die sich dramatisch zuspitzende Arbeitslosigkeit durch das Verschwinden ganzer Industriezweige und von landwirt-schaftlichen Strukturen seit 1990 und die damit verbundenen sozi-alen Einschnitte und Deformationsprozesse auch nur zu erwäh-nen. Obwohl das in der Regel für die Interpretation von Datensät-
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zen aus den alten Bundesländern nicht nur selbstverständlich ist, sondern auch sehr differenziert geschieht.
Insgesamt kann den Autoren bestätigt werden, daß sie zu dem je-weils gewählten Thema umfangreiches Datenmaterial zusammen-getragen und verarbeitet haben. Der empirische Fundus ist zum Teil sehr beachtlich. Leider wurde aber die Entwicklung des Frei-zeit- und Erholungssports nicht in ihrer Gesamtheit und Komplexi-tät betrachtet. Die Prioritäten hätten infolgedessen anders gesetzt werden müssen, um ein annähernd objektives Bild nachzeichnen zu können. Der politische und ideologische Zuschnitt bei der Kennzeichnung historischer Verläufe und Einordnungen führt eini-ge der Autoren zu einseitigen Betrachtungen und Wertungen von Zäsuren, Entwicklungsproblemen und Ergebnissen. Die Folge sind verzerrte Sichtweisen, die den tatsächlichen Stand des Sporttrei-bens in der DDR nicht widerspiegeln können und - vermutlich - auch nicht unbedingt sollen. So ist dieses Buch vor allem ein Bei-spiel dafür, wie man DDR-Sportgeschichte offenbar nicht aufarbei-ten kann, wenn die Bürger dieses Landes, und zwar aus allen so-zialen Gruppen und Schichten, ihre Lebensgestaltung und ihre Zuwendung zum Sport in den 40 Jahren der Existenz der DDR nicht diffamiert werden sollen. Allerdings schrecken manche Auto-ren - wider besseren Wissens - auch davor nicht zurück. Der Sammelband ist trotz der Anerkennung aller Bemühungen ein Tor-so, der die notwendige Objektivität, durchgängige wissenschaftli-che Exaktheit und Wahrhaftigkeit vielfach vermissen läßt.
(Jochen Hinsching Hrsg.: Alltagssport in der DDR, Aachen 1998)
Fred Gras
Willibald Gebhardt –
Pionier der Olympischen Bewegung
Mit einiger Spannung sah man dem Erscheinen dieses Titels ent-gegen. Endlich, also fast ein halbes Jahrzehnt nach einem in Berlin stattgefundenen Gebhardt-Symposium, sollte es deren Resultate
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präsentieren. Da sich obendrein gebundene Publikationen über den Pionier der deutschen olympischen Bewegung, Willibald Geb-hardt, bislang faktisch auf Eerke Hamers (1971) und Klaus Huhns (1992) Biographien beschränkten, erhoffte man sich nun eine Schrift, die die Resultate der Forschungen in beiden deutschen Staaten sachlich zusammenfaßt. Die Enttäuschung ist beträchtlich. Roland Naul wiederholt längst Bekanntes, Volker Kluge liefert ad-reßbuchartig Gebhardts Berliner Anschriften und Andreas Höfer quält sich mit dem mißlungenen Versuch, nachzuweisen, daß die DDR-Sportwissenschaft Gebhardt politisch mißbrauchte. Formulie-rungen wie Gebhardt sei „als Vorbild und Orientierungspunkt für den Kampf der DDR für die Verteidigung des Olympismus gegen alle imperialistisch motivierten Zugriffe des westdeutschen Mono-polkapitalismus“ (S. 73) strapaziert worden, offenbaren wenig wis-senschaftliches Bemühen. Ziel dieser Attacken sind vor allem Hel-mut Westphal, Wolfgang Eichel und Klaus Huhn, deren Gebhardt-Forschungen allerdings wohl solide genug sind, als daß der platte Höfer sie erschüttern könnte. Der Schlußsatz der Naulschen Ein-führung sei gern zitiert: „Ich denke, es ist an der Zeit, daß der deut-sche Sport und insbesondere seine olympischen Vertreter sich die-ser Leistungen ihres Vordenkers Willibald Gebhardt erinnern und diesen ‘unterschlagenen’ und ‘vergessenen’ Olympier, wie ihn Journalisten bezeichnet haben, heute die Ehre und Achtung zuteil werden lassen, die seinem Wirken als Begründer der Olympischen Bewegung in Deutschland und ihm als erstem Europäer im deut-schen Sport gebühren.“ (S. 27) Der Mann hat Recht, leider aber eine selten günstige Gelegenheit vergeben, seiner eigenen Forde-rung Rechnung zu tragen. Sein Buch bekräftigt höchstens: Der Streit um Gebhardt geht weiter.
(Roland Naul/Manfred Lämmer: Willibald Gebhardt - Pionier der Olym-pischen Bewegung, Aachen 1999)
Joachim Fiebelkorn
Vor 50 Jahren. Ein Verband –
zwei Geschichten
Ein Sonderjournal anläßlich des 50. Jahrestages des Deutschen Ruderverbandes (DRV) schert aus dem von manchen Historikern gerade wieder mit Nachdruck geforderten Mainstream aus. Prof.
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Dr. Wolfgang Maennig, Vorsitzender des DRV, verspricht sich für die Zukunft von einem „Sowohl-Als-auch mehr als von dem einen-gend modischen Entweder-Oder“. (S. 689) So berichtet denn der Ehrenvorsitzende des DRV, Dr. Claus Heß, über die ersten Jahre in den alten wie in den neuen Bundesländern, von der Wiederzu-lassung der Vereine im Westen und der Gründung von Sportge-meinschaften und von den späteren Betriebssportgemeinschaften im Osten, von jenen Akteuren im Westen und Osten, die sich der Mühe des Neuaufbaus unterzogen. Viele berichten selbst, z.B. Gerhart Beyer, einer der verdienstvollsten Funktionäre des einsti-gen DRSV. Er erinnert an den Aufbau in Sachsen und in der dama-ligen Ostzone, an den Neuanfang beim Bootsbau im Osten oder das Wirken von Werner Gast, der nahezu ein Vierteljahrhundert ehrenamtlich die Verbandszeitschrift des DRSV leitete. Männer der ersten Stunde werden vorgestellt, Dr. Robert A. Lingnau, Dr. Wal-ter Wülfing, der erste Vorsitzende des DRV, und selbstverständlich der einstige Arbeitersportler, Heinz Dose, der 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit, Mitbegründer des Deutschen Sportausschuß (DS) und der erste Präsident der Sektion Rudern und des DRSV wurde. Prof. Dr. Dr. hc. mult. Hans Lenk würdigt die Leistungen von Dr. h.c. Karl Adam, Wilfried Hofmann die von Prof. Dr. Theo Körner, der dann selbst die Schwerpunkte des maßgeblich von ihm entwickelten Trainingskonzeptes vorstellt, das den Ruderern aus der DDR 25 Jahre die Weltspitze sicherte. Klaus Filter verfolgt die Entwicklungen im Bootsbau für den DRSV in Berlin und Rainer Empacher die der renommierten Bootswerft seiner Familie in den alten Bundesländern. Es fehlt ebensowenig der lange Weg des Os-tens in die internationale Föderation, FISA, wie das Wanderrudern in West und Ost. Walter Schröder, die Nr. 7 des Goldachters von Rom für den DRV und später Professor an der Universität Ham-burg, kommt ebenso zu Wort wie Achim Hill, der Silbermedaillen-gewinner im Einer von Rom für den DRSV, der mit seinem Bericht einen der Glanzpunkte des Sonderjournals setzt. Wolfgang Maen-nig hat zwar eigens betont, daß der DRV als Herausgeber und die Redaktion „Rudersport“ mit „dem Sonderjournal keine Dokumenta-tion vorlegen, die den Kriterien professioneller Historiker gerecht wird“. Trotzdem ist das „für den deutschen Sport bisher einmalig“ (S. 689) und es nehmen sich, angesichts der Tatsachen wie des achtungsvollen Umgangs mit der Geschichte des jeweils anderen,
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die doch mitunter abstrusen Forderungen so mancher professionel-ler Historiker in der Sportwissenschaft äußerst wirklichkeitsfremd aus.
(Vor 50 Jahren. Ein Verband - zwei Geschichten. Erlebnisse und Zeit-zeugnisse. Rudersport 20/1999)
Margot Budzisch
…zur Geschichte von Wandern und Berg-steigen in der Sächsischen Schweiz
Die ersten beiden Teile der Veröffentlichung „Zur Entwicklung von Wandern und Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz...“ von Joachim Schindler heben sich wohltuend ab von so manchen an-deren Publikationen über das - mitunter als „Phänomen“ bezeich-nete - Bergsteigen, weil er nicht in der detaillierten Beschreibung von Gipfelbesteigungen befangen bleibt. Er ordnet die bergsteige-rische Erschließung der Sächsischen Schweiz in die Erschließung der Region um Dresden und - soweit es eine historisch verständ-niserforderliche Bewertung notwendig macht - in das Geschehen im Bergsteigen und Wandern in Deutschland und insbesondere in den Alpen ein. Bemerkenswert ist, daß dabei neben der Flora und Fauna auch der Entwicklung der Sächsischen Schweiz mit vielen Belegen (Gemälden, Grafiken, Filmen, literarischen und journalis-tischen Aussagen) gebührender Platz eingeräumt wird.
Sehr aufschlußreich sind die Angaben über die Lebensdaten der Personen, die Geschichte in der Sächsischen Schweiz geschrie-ben haben. Dabei hebt sich die Publikation insofern von gleicharti-gen ab, da nicht nur den großen Pionieren des Bergsports der Sächsischen Schweiz, sondern auch den Funktionären und uner-müdlichen Akteuren an der Basis ein berechtigtes Denkmal ge-setzt wird, ohne die - ganz gleich auf welchem Gebiet - Spitzen-leistungen undenkbar sind. Bei Kurt Schlosser (Teil 1, S. 65) hätte man sich nicht nur die lakonische Aussage „hingerichtet“ ge-wünscht, sondern auch daß er als antifaschistischer Widerstands-
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kämpfer von den Nazis ermordet wurde. Das gilt gleichermaßen für Wilhelm Dieckmann (Teil 1, S. 71). „In der Haft verstorben“ läßt auch den Schluß zu, er könnte ein Krimineller gewesen sein. Er war aber wie Kurt Schlosser ein antifaschistischer Widerstands-kämpfer, der durch die Drangsalierungen der Nazis in deren Ge-fängnissen verstarb.
Mit Interesse liest man die Auseinandersetzungen der Bergsteiger im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts mit den sächsischen Be-hörden, die das Bergsteigen/Bergwandern verhindern oder stark einschränken wollten. Das um so mehr, als die organisierten Berg-steiger und Wanderer schon damals - und das ist ein bemerkens-werter Beleg für die naturaktive Rolle der Bergsteiger von Anbe-ginn - mit hohem Engagement tätig waren, um die faszinierende Bergwelt der Sächsischen Schweiz zu erhalten und zu pflegen. Al-lerdings hätte das Zitat im Vorwort zum „Zupfgeigenhansel“ (Teil 1, S. 139), das den Krieg und das Wandern mit dem „deutschen Na-tionalcharakter“ in Verbindung bringt, einen kritischen Vermerk verdient, um den Leser zu historisch angemessenem Nachdenken anzuregen.
Die bisher vorliegenden zwei Teile der Geschichte des Bergstei-gens in der Sächsischen Schweiz sind vor allem für die bergsport-lich interessierten Leser und Forscher eine Fundgrube. Sie geben durch die ausgewählten Auszüge aus Publikationen und Original-dokumenten (mit vielen Abbildungen, Titelkopien, Faksimiles) so-wie vielen bisher nicht bekannten Hintergrundinformationen an-hand umfangreicher mündlicher und schriftlicher Aussagen oder von Schriftstücken der damaligen Funktionäre und Akteure der sächsischen Bergsteigerbewegung einen gelungenen und soliden Einblick in das lebendige Geschehen im Wandern und Bergsteigen dieser Jahre sowohl an der Basis als auch in den touristi-schen/politischen Organisationen und Leitungen.
Der Teil 1945-1953 ist nicht nur eine Chronologie der außeror-dentlich komplizierten Situation in diesen Jahren, sondern auch der durchaus gelungene Versuch einer historisch verantwortungs-vollen Bewertung und Einordnung in die nationalen und internatio-nalen Zusammenhänge. (Teil 2, S. 38) Es wird gut herausgearbei-tet, daß sich Wandern und Bergsteigen nicht wie die anderen Sportarten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) entwickel-ten. Das hing mit dem spezifischen Charakter des Bergsteigens
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und Wanderns zusammen. Sie wurden und werden stark geprägt von der Naturschutz-, der Touristik- und Kulturbewegung. Hinzu kam, daß die Faschisten den Alpenverein - wie nachgewiesen wird - in ihre Ideologie und Politik eingebunden hatten. Dieses nazis-tisch stark verhaftete Gedankengut zu tilgen und durch neues hu-manistisches zu ersetzen, war verständlicherweise ein Hauptan-liegen der antifaschistischen Bergsteiger und Wanderer nach 1945. „Es ist“, so Schindler, „heute nicht einfach zu bestimmen, ob die Entscheidung von Fritz Petzold, Hans Frank, Walter Kohl, Hans Donath und anderer für eine touristische Einheitsorganisati-on mehr aus Überzeugung oder mehr unter dem Druck der Ver-hältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone getroffen wurden. Einig waren sie sich zweifellos darin, daß das Weiterbestehen von - nach ihrem Verständnis - nazistischen Organisationen verhindert werden mußte, daß große Teile des deutschen Volkes, die den Nazis gefolgt waren, lernen sollten, demokratisch, antifaschistisch und humanistisch zu denken und zu handeln. Sie sollten lernen, danach zu fragen, wie es zum Hitlerfaschismus, einschließlich des Krieges kommen konnte, und was man tun müsse, damit sich das nicht wiederholen kann.“ (Teil 2, S. 32) Daß es dabei auch zu Überspitzungen aus bergsportlicher Sicht kommen konnte, war nicht auszuschließen, so zum Hissen von Fahnen auf den Gipfeln der Sächsischen Schweiz. Diese „politischen Auswüchse“ (Teil 2, S. 56) waren der damaligen Zeit geschuldet. Sicher wohl auch dem Terror bis hin zur physischen Vernichtung, dem die Antifaschisten ausgesetzt waren. Diese jahrelang gepeinigten Menschen wollten mit solchen Aktionen einfach politische Zeichen setzen für eine bes-sere Welt. Daß diese z.T. untauglichen Maßnahmen von ihnen selbst wieder aufgehoben wurden, spricht für ihre Lernbereitschaft und den Willen, den neuen, ungewohnten Bedingungen gerecht zu werden. Der Autor beschreibt auch sehr einfühlsam die besondere Mentalität der der Natur besonders eng verbundenen Bergsteiger und Wanderer, die damals zunächst von nicht wenigen der von der Nazidiktatur gezeichneten Antifaschisten eher als „sentimentales Gehabe“ angesehen wurde, weil es vom Entscheidenden, vom „Klassenkampf ablenkt“. Auch hinsichtlich dieser und anderer Ein-stellungen vollzog sich bis Mitte der 50er Jahre ein Prozeß des Um-denkens.
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Einerseits waren die Wanderer und Bergsteiger ein Stiefkind der Sportorganisation - was ich als Zeitzeuge bestätigen kann. Das äußerte sich unter anderem im häufigen Umbau der touristischen Organisationsstrukturen mit „widersprüchlichen Experimenten“ (Teil 2, S. 77) oder in ungenügend durchdachten Entscheidungen im Umgang mit Bergsteigertraditionen sowie bei innerdeutschen oder internationalen Kontakten und Aktivitäten. Andererseits konn-te mit der historischen Studie von Schindler „ein interessanter Be-leg für den Aufbau- und Lebenswillen der Touristen, für einen ge-waltigen sportlichen Aufschwung zu ungeahnten Kletterleistungen“ (S. 77) vorgelegt werden. Der Autor war bemüht, die getroffenen Entscheidungen der damals Verantwortlichen in den zentralen und örtlichen Gremien der SBZ/DDR - die zum erheblichen Teil als an-tifaschistische Widerstandskämpfer über keinerlei Erfahrungen bei der Gestaltung des Lebens unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen und unter der sowjetischen Besatzungsmacht besa-ßen - eingeordnet in die damals gegebenen Verhältnisse zu ver-stehen und verstehen zu helfen. Nur so kann es gelingen, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt der damals Handelnden hineinzu-versetzen. Nur so entgeht man der Gefahr, aus heutiger Sicht da-malige Geschehensabläufe beckmesserisch zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Und es ist sehr wohltuend, daß der Autor dort, wo er zu einem widersprüchlichen Ereignis keine eindeutigen Doku-mente beibringen konnte, auf eigene Wertungen verzichtet und es dem Leser überläßt, „sich ein eigenes kritisches Urteil zu bilden“. (Teil 2, S. 3)
Die beiden Veröffentlichungen von Joachim Schindler können als Beispiel für historisches Aufarbeiten gelten. Denn nur durch eine ausgewogene Analyse umfangreichen Quellenmaterials, kann es gelingen, dem tatsächlichen, sehr widerspruchsvollen Geschehen der damaligen Zeit immer näher zu kommen, Ereignisse territoria-ler und funktionaler Bereiche in ihren historischen Zusammenhän-gen aufzuhellen.
Es ist zu hoffen und zu wünschen, daß den vorliegenden zwei Tei-len die noch geplanten folgen, damit die angestrebte vollständige Monografie des Wanderns und Bergsteigens der Sächsischen Schweiz sowie zur Arbeit der touristischen Organisationen Dres-dens von seinen Anfängen 1864 bis in die Gegenwart möglichst bald vorliegt und genutzt werden kann.
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(Joachim Schindler: Chronik und Dokumentation zur Geschichte von Wandern und Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz sowie zur Ent-wicklung touristischer Organisationen in Sachsen. Teil 1: Von der Be-steigung des Falkensteins 1864 bis zum Ende des 1. Weltkrieges 1918, Dresden 1996; Teil 2/Vorabdruck als Studie: Zur Entwicklung von Wan-dern und Bergsteigen in der Sächsischen Schweiz... 1945 bis 1953, Dres-den 1999)
Edelfrid Buggel
Aus dem Verein: „Aufarbeitung“
München 1972
Der Verein „Sport und Gesellschaft“ hatte für den 22. Oktober zu seiner Jahreshauptversammlung nach Berlin eingeladen und das in der Titelzeile genannte Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Der Vorsitzende Prof. Dr. Helmuth Westphal nannte triftige Gründe für diese Problemwahl, die der das Eingangsreferat haltende Dr. Klaus Huhn (Berlin) dann präzisierte: „Die Idee, uns heute in sachlicher
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Debatte und kompetenter Runde damit zu befassen, kam auf, als Wissenschaftler in den alten Bundesländern dieses Thema in An-griff nahmen. Und zwar im Rahmen eines von der Bundesregie-rung großzügig geförderten Projekts. Unsere Tagung soll nicht als Alternativ- oder gar Gegenveranstaltung verstanden werden, son-dern unsere Erfahrungen ein wenig zusammentragen.
Zu beginnen wäre mit Binsenwahrheiten: In Deutschland existier-ten zwei deutsche Staaten, deren Fundamente schon betoniert worden waren, als die westlichen Besatzungsmächte 1948 für ihre Zonen und dann sogar gegen die Weisung der Außenminister in den Westberliner Sektoren neue Zahlungsmittel ausgaben. Es ent-stand eine Währungsmauer, das Land war gespalten. Niemand wird behaupten wollen, daß die in der Folge daraus gewachsenen beiden deutschen Staaten konstruktive Beziehungen zueinander pflegten. Im Gegenteil: Der Antikommunismus erwies sich als noch weit geschichtsprägender als die getrennte Währung. Der Staat BRD konzipierte auf der Basis dieses Antikommunismus die Politik der Alleinvertretung, die allen Staaten, die in Verdacht gerieten, der DDR wohlwollend gegenüberzustehen, mit harten Sanktionen bis hin zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte. Diese politischen Leitlinien wurden in der BRD auf dem Gebiet des Sports konsequent verfolgt. Ein Schlüsselereignis im Vorfeld der Münch-ner Spiele war die Tagung des IOC im Oktober 1965 in Madrid. Ak-ten des Bonner Außenministeriums - auszugsweise übrigens von Gerhard Oehmigen in den ‘Beiträgen zur Sportgeschichte’ kom-mentiert - weisen aus, daß die Bonner Regierung weltweit ihren diplomatischen Dienst mobilisiert hatte, um die Mitglieder des IOC auf die Ablehnung des Antrags des NOK der DDR auf uneinge-schränkte Anerkennung einzuschwören.1) Wie man weiß, scheiter-te diese Operation, das IOC entschloß sich, dem NOK der DDR Rechte der Selbständigkeit einzuräumen. In einem in der FAZ er-schienenen Beitrag behauptet Steffen Haffner: ‘Noch aus Madrid telefonierte Daume mit Bundeskanzler Brandt, dem er schmackhaft machte, der Welt das Bild vom neuen, demokratischen Deutsch-land vor Augen zu führen.’2) Das war die Geburt der Idee, die Olympischen Spiele 1972 in München auszutragen. Das Vorhaben wurde mit ungewöhnlichen Eifer durch alle bürokratischen Instan-zen getrieben und bereits am 25. April 1966 - also nur 199 Tage nach Madrid - stellte Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen
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Vogel in Rom den Antrag, die Spiele des Jahres 1972 in München auszutragen. In seiner Rede garantierte er namens der Bundesre-gierung den freien Zugang aller nach München und schloß diese Passage mit den orakelhaften Worten: ‘In der anderen Frage wird nach den vom IOC gebilligten Regeln verfahren werden.’3) Die ‘an-dere Frage’ war die Erscheinungsform der DDR. Man schrieb das Jahr 1966, Fahne und Hymne der DDR waren in der BRD gesetz-lich verboten. Die ‘vom IOC gebilligten Regeln’ lauteten am Tag, da Vogel den Antrag stellte: BRD und DDR starten 1968 in Mexiko-Stadt mit eigenen Mannschaften aber ohne eigene Symbole. Man darf vermuten, daß die Vogel-Formulierung die Hoffnung auf eine Verlängerung dieser Regelung bis München nicht ausschloß.
Damit wäre das olympische und politische Vorfeld der Spiele von München skizziert: zwei deutsche Staaten in zwei sich unversöhn-lich gegenüberliegenden Machtblöcken; eine politische Entschei-dung des IOC, entstanden durch die Abwehr enormen politischen Drucks Bonns auf das Komitee, die die sportpolitische Position des NOK der DDR stärkte. Diese Konstellation muß im weltweiten poli-tischen Umfeld eingeordnet werden.
Kollege Lemper von der Uni Hannover hat in seinem Vortrag in der Berliner Humboldt-Universität, den wir in Verfolg unserer Absicht sachlicher Kooperation allen Interessierten kopiert zustellen wür-den, als entscheidenden Beleg für die Haltung der DDR gegenüber den Münchner Spielen ein Dokument präsentiert, das ich hier im Wortlaut zitieren möchte.
‘Information der Westabteilung: Die mit der ‘politisch-ideologischen Vorbereitung’ der DDR-Olympiakader befaßten SED-Funktionäre schrieben im September 1971: ‘Die Klassenauseinandersetzung auf sportlichem Gebiet hat ein solches Ausmaß erreicht, daß prin-zipiell kein Unterschied zur militärischen Ebene besteht. So wie der Soldat der DDR, der an der Staatsgrenze seinem imperialistischen Feind in der NATO Bundeswehr gegenübersteht, so muß der DDR-Sportler in dem Sportler der BRD seinen politischen Gegner sehen. Unser Kampf ist so hart, daß er mit voller Konsequenz in der Abgrenzung, mit Haß gegen den Imperialismus und seine Ab-gesandten, auch gegen die Sportler der BRD, geführt werden muß. Für uns bedeutet das: es kann keine Verbindungen, keine Kontakte mehr zu Personen der BRD und anderer kapitalistischer Länder geben. Jeder Briefverkehr, jedes auch noch so freundschaftlich
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scheinende und teilweise vielleicht auch ehrlich gemeinte Ge-spräch muß von unseren Sportlern abgelehnt und verhindert wer-den, denn wir können dabei nicht mehr differenzieren, wer es von den BRD-Sportlern möglicherweise ehrlich meint. Jede Lücke in unserer Mannschaft muß geschlossen werden.’’ Als Quelle wurde angegeben: ‘Westkommission beim Politbüro des ZK der SED, Westabteilung des ZK, AG 72’
Es sei erwähnt, daß Hans-Jochen Vogel bei der Debatte in Berlin mit Nachdruck versicherte, keine Symptome einer solchen Haltung in München wahrgenommen zu haben. Die Suche nach den Ur-sprüngen dieses Dokuments, die Befragung der damals im ZK der SED Kompetenten ergab keinen schlüssigen Beweis dafür, daß es tatsächlich von den mit der ‘politisch-ideologischen Vorbereitung’ der DDR-Olympiakader befaßten SED-Funktionären verwendet wurde.
Der Kollege Lemper hatte noch ein zweites Dokument präsentiert. Es handelt sich um die vom ZK der SED herausgegebenen ‘Infor-mationen 1971/10 Nr. 63’, Argumentationsanweisungen zu den Olympischen Sommerspielen 1972 in München. Darin heißt es un-ter anderem: ’Durch die Anerkennung und die Anwendung der offi-ziellen Staatsbezeichnung, der Staatsflagge und der Staatshymne werden die Sportler der DDR ebenso wie die aller anderen teil-nehmenden Mannschaften ausdrücklich als die Repräsentanten ei-nes souveränen Staates respektiert. Olympische Spiele sind ein herausragendes internationales sportliches Ereignis, das die Auf-merksamkeit der Menschen in aller Welt auf sich lenkt. Sie waren und sind aber zugleich ein politisches Ereignis von hohem Rang. Das ergibt sich ... daraus, daß die Leistungen der teilnehmenden Sportler von nicht geringem Einfluß auf die internationale Ausstrah-lung und das Ansehen des Staates sind, die sie vertreten. In der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus ist die Rolle solch bedeutender internationaler Sportwettkämpfe objektiv gewachsen.’
Kollege Lemper war so fair, dieses Zitat mit einer Aussage des CDU-Politikers Wörner aus dem Jahr 1969 zu konfrontieren: ‘Aber wir alle sind uns darüber im klaren, daß in der heutigen Gesell-schaft, in der heutigen Zeit die Leistungsfähigkeit eines Volkes, nicht nur die sportliche Leistungsfähigkeit, auch an der Zahl der Medaillen gemessen wird, die ein Volk, ein Staat bei Olympischen
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Spielen erringt. Am Hochleistungssport und an seinen Ergebnissen mißt man den Stand der Leistungsfähigkeit. Von den errungenen Medaillen hängt das Ansehen, das ein Volk genießt, mit ab. Darum sollten wir alle Vorbehalte aufgeben. Wir sollten uns zu einer ver-nünftigen, auch nationalen Repräsentanz bekennen. Wir sollten sehen, ohne, wie gesagt, in Überschwang zu verfallen, daß es un-bedingt erforderlich ist, bei den Olympischen Spielen in München die entsprechenden Erfolge zu erzielen. ( ... ) Nach Auffassung meiner Fraktion ist es unbedingt erforderlich, ein Olympisches Vier-jahresprogramm zur Förderung des Leistungssports aufzustellen, d.h. ein Programm, das die intensive Vorbereitung unserer Sportler auf die Olympischen Spiele ermöglicht. ( ... ) Ich finde, wir müssen uns von dem anachronistisch gewordenen Bild des klassischen Amateurs etwas lösen. Für einen modernen Hochleistungssport muß erhebliche Zeit, erhebliche Kraft und auch sehr viel Geld auf-gebracht werden.’7)
Ex-Oberbürgermeister Vogel hat in seiner improvisierten Berliner Rede auch darauf verwiesen, daß ihm kein Fall bekanntgeworden sei, in dem die DDR gegen die Veranstalter intrigiert oder obstruiert hätte. Der einzige offizielle Protest galt der Gedenkmünze. Deren Inschrift lautete, statt wie vom IOC vorgegeben, nicht ‘Olympische Spiele München’, sondern ‘Olympische Spiele Deutschland’. Vogel betonte, daß der Protest vollauf berechtigt war und vom Organisa-tionskomitee augenblicklich berücksichtigt wurde. Vogel fügte au-genzwinkernd hinzu, daß man der DDR dieses Protestes wegen heute noch dankbar sein sollte. Die Fehlprägungen erzielten bei den Numismatikern Rekordpreise.
Niemand behauptet, daß die DDR-Medien München und seine Vorbereitungen rund um die Uhr lobten und priesen. Daß man an der Autobahnabfahrt München eine aufwendige Ausstellung instal-lierte, die berühmte Bauwerke des ‘deutschen Ostens’ - gemeint waren die inzwischen seit Jahrzehnten zu Polen gehörenden ehe-maligen deutschen Gebiete - zeigten, wurde allerdings kritisiert. Der Katalog dieser Ausstellung war nicht gerade olympisch zu nennen, denn hier wurde Politik praktiziert, die nur unter dem Stichwort ‘Revanchismus’ einzuordnen war. Bekannt ist, daß sich die DDR gegen jede Form von Revanchismus wandte.
Noch eine Bemerkung zur Vokabel ‘Haß’. Ich zitiere den Schwim-mer Hans Faßnacht, der in München in der 4-mal-200-m-
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Kraulstaffel Silber für die BRD gewann. Im März 1972 war in der ‘Sport-Illustrierten’ ein Interview mit ihm erschienen. Überschrift: ‘Um eine Goldmedaille zu gewinnen, muß ich meine Gegner has-sen.’ Zitat aus dem Text: ‘Der junge Mann in der grünen Jacke reckt den Kopf hoch, seine Augen schauen stur geradeaus: ‘Ich würde lieber sterben, als in München bei den Olympischen Spielen zu verlieren... Ich kann nicht wirklich mit einem Jungen befreundet sein, den ich besiegen will. Ich kann nicht zu ihm hingehen, lächeln und nett mit ihm reden. Ich bin nicht so. Ich muß ihn besiegen, sonst besiegt er mich. Und um ihn zu besiegen, muß ich ihn has-sen.’’8)
Ziel solcher Feststellungen ist nur der Nachweis, daß beide deut-sche Staaten die Spiele nutzten, um ihre politischen Ziele zu ver-folgen.
Die DDR verteilte in München keine Flugblätter über die Rolle des Klassenkampfs und die Vorzüge des Sozialismus. Sie warb, salopp formuliert, nach dem Wörner-Prinzip für ihr System musikalisch mit der inzwischen legalisierten Hymne und optisch mit ihrer Flagge. Ihre Position in der Medaillenrangliste war eine überzeugende Werbung. Gegen harten Widerstand errungen. Denn - und nun zi-tiere ich mit Dr. Claus Heß ein Präsidiumsmitglied des Deutschen Sportbundes, den Präsidenten des Ruderverbandes der BRD und damaligen Vorsitzenden des Bundesausschusses zur Förderung des Leistungssports aus dem Vorfeld der Spiele -: ‘Der sportliche Kampf gegen die DDR ist Realität und ein wesentlicher Teil unse-rer Motivation. Wir haben diesen Kampf aufgenommen.’9)
Das Flagschiff der Springer-Medienflotte ‘Die Welt’ artikulierte noch deutlicher: ‘Bronze statt Gold heißt immer auch: Niederlage statt Sieg. Die Phrase von der Jugend der Welt, die zum friedlichen Wettstreit antritt, hat längst verspielt. Das grimmige ‘beat the Rus-sians’, das der US-Boy angesichts der Ost-West-Rivalität durch die Zähne knirscht, ist ehrlicher. Die These von der völkerverbinden-den Kraft des Sports ist nicht mehr als Ideologie’ 7)
Das kennzeichnet die Atmosphäre um und in München hinrei-chend. Und was uns angeht, war der von dem berühmten Doku-mentarfilmer Andrew Thorndike geschaffene Film für das Olympi-sche Dorf das einzige ‘Propaganda-Material.’ Er trug den Titel ‘Start’ und hatte die Kreisspartakiade in Wernigerode zum Thema.
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Die BRD hatte die Losung von den ‘heiteren Spielen’ in den Mittel-punkt ihrer politischen Werbung gerückt, eine durchaus positive Idee, weil man damit weltweit Distanz zu den Spielen 1936 in Ber-lin demonstrieren wollte. Allerdings wurde diese Distanz keines-wegs konsequent verfolgt. Dafür zeugt vor allem das ‘Olympische Lesebuch’. Es entstand auf Initiative Daumes. Einige Kostproben daraus.
Der Zweite Weltkrieg wurde mit folgenden Worten skizziert: ‘1940 besetzten deutsche Truppen Dänemark und Norwegen. Auch Lu-xemburg, Belgien und Holland schützte die Neutralität nicht vor dem deutschen Zugriff. Nach dem ‘Blitzfeldzug’ gegen Frankreich zogen deutsche Truppen in Paris ein. Durch diese Erfolge schien der Friede in greifbare Nähe gerückt.’8)
Die Haltung der DDR zum Sport wurde unter der Schlagzeile: ‘So begann es in der Sowjetzone’ mit der ‘Enteignung’ des Dresdner Sportclubs charakterisiert. Diese Beispiele reichen aus, um das Ausmaß an Geschichtsverfälschung zu belegen. Die Olympiateil-nehmer durch ein aufwendiges Buch Glauben machen zu wollen, daß nach dem Überfall Hitlers auf Europa Frieden näher gerückt war wohl der Gipfel. Daß sich der Kreis der Buchleser in Grenzen hielt, war der DDR zuzuschreiben, deren Sportorgane und Medien protestierten, intervenierten und schließlich erreichten, daß das Buch offiziell zurückgezogen, tatsächlich aber dennoch im Olympi-schen Dorf verstohlen verteilt wurde.
Zu den Vorwürfen, die gegen die DDR erhoben wurden und wer-den, gehörte auch der, die Teilnehmer an den Zuschauerdelegati-onen ausgesucht zu haben. Dem ist nicht zu widersprechen. Ja, das geschah. Auch, weil das Interesse groß war, die Zahl der Inte-ressierten dementsprechend hoch. Die Devisen waren knapp. In der Marktwirtschaft kennt man in solchen Fällen ein probates Sys-tem: Man erhöht die Preise bis in Dimensionen, die eine Begren-zung der Zahlen von selbst bewirkt. Das kam für die DDR nicht in Frage. Also traf man eine Auswahl unter den Bewerbern. Das erste Kriterium waren Verdienste des Bewerbers um die Sportbewegung, das zweite - warum sollte man das leugnen? - seine Haltung ge-genüber der DDR. Gestatten Sie mir die simple Frage, ob Bayern München schon einmal zu seinen Champions-League-Auswärtsspielen Anhänger von Borussia Dortmund mitnahm? Das
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klingt demagogisch, ist es auch, aber so abwegig nun auch wieder nicht.
Noch eine Bemerkung zum heute nie beiseitegelassenen Thema Ministerium für Staatssicherheit. Der Kölner Stadtanzeiger über-raschte seine Leser im Oktober 1997 mit der Mitteilung: ‘Stasi beo-bachtete auch das Münchner Olympia-Massaker’ und schrieb: ‘Die Spione von Stasi-Minister Erich Mielke saßen sogar beim Olympia-Massaker von München 1972 in der ersten Reihe. Dies sind die neuesten Erkenntnisse aus den Stasi-Unterlagen.’9) Wahr ist: Ein Oberst des MfS flog am Tage des Mordanschlags auf die israeli-sche Mannschaft begleitet von einem Offizier von Berlin nach Mün-chen, um dort die persönliche Sicherheit der DDR-Mannschaft zu garantieren. Es liegt auf der Hand, daß dieser Oberst nicht illegal oder mit gefälschtem Paß einreiste und es steht fest, daß er einem zuständigen BRD-Geheimdienst-Offizier seine Vorstellungen der nötigen Sicherheitsvorkehrungen mitteilte, die dann auch minutiös durchgeführt wurden. Bernhard Orzechowski, der es sehr bedau-ert, daß er aus familiären Gründen heute nicht unter uns weilen kann, hat mir vor wenigen Tagen noch einmal bestätigt, daß er mit beiden MfS-Offizieren das Quartier der DDR-Mannschaft beging und daß ein Geheimdienstmann der BRD dabei war. Fest steht al-so, daß Herr Gauck sich die Mühe hätte sparen können, aus den in 15250 Säcken verpackten Schnipseln die Erkenntnisse von 1972 rekonstruieren zu lassen. In München hat der zuständige Geheim-dienst der BRD die Weisungen eines MfS-Obristen durchgeführt. Ich hoffe nur, daß diese Mitteilung dem Mann nicht eine nachträgli-che Rentenkürzung beschert. Und um nicht mißverstanden zu werden: Diese Zusammenarbeit war damals für keine Seite sensa-tionell, nur - und damit wäre ich wieder beim Beginn - seit 1990 ist da ein völlig neues Bild gemalt worden. Oft wider besseren Wis-sens. Ein Bild, das in den Rahmen der Delegitimierung der DDR passen mußte. Das mag für Sonntagsredner nützlich sein, dem Historiker nützt es nichts.“
Die von Sachlichkeit geprägte Diskussion zählte 15 Wortmeldungen, Prof. Dr. Peiffer (Universität Hannover) und Dr. Buss (Universität Göt-tingen) ergriffen mehrmals das Wort. Prof. Peiffer würdigte die sachli-che Wiedergabe des Verlaufs der Tagung in der Humboldt-Universität und sah die Motive für die IOC-Entscheidung von Madrid 1965 ein wenig anders gelagert als der Referent. Eine Entscheidung der IAAF
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„vorher“ habe das IOC wohl mehr bewogen, als die Bonner Interven-tionen. Prof. Dr. Georg Wieczisk (Berlin), langjähriges Mitglied des IAAF-Councils und Ehrenpräsident des DLV, konnte da sogleich kon-kretere Auskunft geben: Die IAAF hatte ihre Anerkennungsentschei-dung für den DDR-Verband erst 1968 in Mexiko-Stadt getroffen und ausdrücklich eine Klausel formuliert, die die IOC-Entscheidung als Maßstab verlangte.
Prof. Dr. Werner Riebel (Jena) befaßte sich mit heutiger Geschichts-schreibung und rief die fünf 1981 formulierten Thesen des Soziologen und Philosophen Popper in Erinnerung, die auch gefordert hatten: „Wir müssen unsere Einstellung zu unseren Fehlern ändern... Die alte Einstellung führt dazu, unsere Fehler zu vertuschen, zu verheimlichen und so schnell wie möglich zu vergessen... Fehler vertuschen - das ist die größte intellektuelle Sünde... Wir müssen uns klar werden, daß wir andere Menschen brauchen und insbesondere Menschen, die mit an-deren Ideen in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen sind. Auch das führt zur Toleranz.“
Klaus Eichler (Berlin) war von dem erkrankten Rudi Hellmann gebeten worden, Auskünfte zur Position der SED gegenüber den Spielen 1972 in München zu geben. Er zitierte aus einem Referat Hellmanns, das der im Dezember 1970 vor den Vertretern aller sozialistischen Bru-derparteien gehalten hatte und das jedem Historiker als Quellenmate-rial zur Verfügung steht.
Prof. Dr. Günter Erbach (Berlin) setzte sich mit aktuellen Theorien der Geschichtsschreibung auseinander und erinnerte daran, daß der erst viel später als offizielle Bonner Regierungspolitik formulierte Alleinver-tretungsanspruch im Sport bereits 1952 bei den Olympischen Spielen in Helsinki gegenüber der DDR praktiziert worden war.
Dr. Buss (Göttingen) skizzierte an Beispielen die Problematik der Re-levanz der Aussagen in Dokumenten und von Zeitzeugen, wobei er konkret eine Aussage Willi Daumes erwähnte, die durch einen von ihm früher geschriebenen Brief in Frage gestellt wurde.
Günter Schneider (Berlin) stellte den Vorrang des Dokuments vor der Zeitzeugen-Aussage in Zweifel und erhärtete diese Zweifel durch ein exzellentes Beispiel. Er selbst hatte 1950 in der Mannschaft der ZSG Horch Zwickau gestanden, die in Dresden durch einen 5:1-Sieg über die SG Friedrichstadt zum ersten DDR-Meistertitel gelangt war. In un-zähligen „Dokumenten“ (siehe auch „Beiträge“ Nr. 3/ S. 110) wird kon-tinuierlich behauptet, der Sieg der Zwickauer sei einer Weisung der
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SED an den Schiedsrichter zuzuschreiben, dafür Sorge zu tragen, daß die erste Betriebssportgemeinschaft der DDR auch Meister wird. Seit fast fünfzig Jahren wird diese Behauptung ständig wiederholt und seine Aussagen als Zeitzeuge ignoriert.
Prof. Dr. Paul Kunath (Tann/Rhön) würdigte die Bedeutung der Me-thodologie der Sportgeschichte.
Prof. Dr. Helmuth Westphal (Potsdam) warnte vor der in Mode ge-kommenen Gewohnheit, die Bewertung des DDR-Sports vom Sys-tem-Standpunkt abzuleiten und plädierte für die Beachtung der Reali-tät, was Prof. Dr. Peiffer (Hannover) zu der Zwischenfrage veranlaßte, wie man zur „Realität“ gelangt.
Prof. Dr. Günther Wonneberger (Borthen) sprach über seine langjäh-rigen Erfahrungen als Historiker und die Notwendigkeit, sich bei der Forschung um eine Annäherung an die Wirklichkeit zu bemühen und sich vor Schemata zu hüten.
Prof. Dr. Wolfhard Frost (Halle) plädierte nachdrücklich für eine neu zu schreibende Geschichte des DDR-Sports, die von möglichst vielen Fachleuten in Angriff genommen werden sollte. Zudem riet er allen Mitgliedern des Vereins, sich intensiv an lokaler Geschichtsschrei-bung zu beteiligen, weil die wiederum wertvolle Hinweise für die Histo-rie des DDR-Sports liefern könnte. Er überreichte jedem Teilnehmer eine soeben erschienene Geschichte des Sports in Halle.
In seinem kurzen Schlußwort nannte Dr. Klaus Huhn (Berlin) das Tref-fen einen Erfolg. „Keiner hat gewonnen, keiner hat verloren, niemand geht mit dem Gefühl nach Hause, ‘Ich habe recht und die anderen stehen im Unrecht’, aber alle könnten nützliche Schlüsse aus der Dis-kussion und den unterschiedlichen Standpunkten ziehen, woraus ab-zuleiten wäre, daß letztlich also alle gewonnen haben.“ Das „State-ment“ von Dr. Buss, er sei glücklich in der Gesellschaftsordnung der alten BRD aufgewachsen zu sein, konfrontierte er mit der Vermutung, daß Bürger der alten DDR ähnliches von sich sagen würden, und eine aufkommende Debatte über die Mauer beendete er mit der Überrei-chung eines Taschenbuchs über die Entstehung der Mauer aus un-terschiedlicher Sicht. Eine Geste, die niemand verübelte, die aber in die von Toleranz und Sachlichkeit geprägte Atmosphäre dieses Tages paßte.
Unter der Leitung des Vorsitzenden Prof. Dr. Westphal fand dann die ordentliche Hauptversammlung des Vereins statt, in der Statutenän-derungen erörtert wurden, die sich aus dem Vorschlag ergaben, terri-
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toriale Gruppen oder spezifische Arbeitsgruppen im Verein zu bilden. Im kommenden Jahr will man in Leipzig den 50. Jahrestag der Grün-dung der bis zu ihrem Untergang weltweites Ansehen genießenden Deutschen Hochschule für Körperkultur mit einer Tagung würdigen.
Einmütigen Dank erntete der rührige Gastgeber Hasso Hettrich. Das Klubhaus neben dem gepflegten „Stadion 1. Mai“ in Berlin-Lichtenberg erwies sich als idealer Tagungsort und erinnerte zudem an die dort einst beheimatete BSG Wohnungsbaukombinat, die zu den rührigsten Förderern des Breitensports in Berlin gehörte. (Siehe auch „Beiträge zur Sportgeschichte“, Nr. 3/ S. 105)
ANMERKUNGEN:
1) Beiträge zur Sportgeschichte, Berlin 1999, Heft 6
2) Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. 9. 1999
3) Olympisches Lesebuch, Dortmund 1971, S. 178
4) Dr. Manfred Wörner, Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode - 212. Sitzung. Bonn. Mittwoch, den 5. Februar 1969 betr. Olympisches Vierjahresprogramm zur Förderung des Leistungssports.
5) Sport-Illustrierte, München Nr. 5, 2.3.1972, S. 33 ff
6) Süddeutsche Zeitung, München, 15.11.1970
7) Süddeutsche Zeitung, München, 15.11.1970
8) Olympisches Lesebuch, Dortmund 1971, S. 142
9) Kölner Stadt-Anzeiger 30.10.1997
LESERBRIEF
Jede Redaktion erhält Zuschriften. In der Regel werden sie durch Briefe beantwortet. Als uns ein Brief von Herr Ingo Störmer erreichte, standen wir vor der Frage, ob in diesem Fall von der Gewohnheit ab-zuweichen sei. Ton und Stil brachen mit Üblichkeiten, wie sie sich in den zehn Jahren seit der Vereinigung auch zwischen Sportwissen-schaftlern eingebürgert haben. Den Ausschlag für unsere Entschei-dung ihn wenigstens auszugsweise wiederzugeben, gab die Tatsa-che, daß der Brief zahllose massive Beleidigungen enthält, von denen
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die Prof. Wonneberger betreffenden zudem als Lügen eines Wissen-schaftlers deklariert wurden. Wir baten Prof. Wonneberger um eine Stellungnahme, die wir ebenfalls im Auszug publizieren. Herr Störmer benutzte den Kopfbogen des „Landestrainers im Niedersächischen Leichtathletikverband“. Ob das zufällig geschah oder andeuten soll, daß er im Auftrag des Verbandes agierte, entzieht sich unserer Kenntnis.
Die Redaktion
Mit vollen Hosen ist gut stinken
24. 6 1999
Sehr geehrte Damen und Herren !
...Da Sie z. T. Mitherausgeber sind, schreibe ich an Sie. Die Privat-adressen der Autoren sind mir auch weitgehend unbekannt - und ich habe auch nicht den geringsten Bedarf, sie je zu erfahren. Zum einen geht es um den Artikel „Wurzeln des DDR-Sports“ von Gün-ther Wonneberger in „Geschichte des DDR-Sports - Protokollband l“... viele... Dinge stimmen nicht so, wie er sie auf- und anführt. Leichtathletikmeisterschaften fanden 1948 in Dresden keine statt (vielleicht Vereinsmeisterschaften, aber die sind wohl nicht ge-meint). Also konnten auch keine Staffeln der Sportgemeinschaft Dresden-Friedrichstadt starten - erst recht nicht mit Läufern aus Westberlin... Die sog. Ostzonen-Meisterschaften fanden 1948 in Chemnitz (18./19.09.) statt. Die Landesmeisterschaften (17./18.07.) ebenfalls in Chemnitz, die Mehrkampf- und Staffelmeisterschaften (21./22.08.) in Pima, wobei allerdings weder über 4x400 m, noch über 3x1000 m Landesmeister ermittelt wurden. Und daß im West-berliner Poststadion die z.T. mäßigen Leistungen als Maßstab für den Lebensstandard der „Ostzone“ gewertet wurden, erscheint in der Ausdrucksweise (und darauf kommt es Wonneberger ja an) nur logisch, nannte man selbst die 1. Meisterschaft im gleichen Jahr (1948) schließlich „Ostzonen-Meisterschaft“... Ein Heinz Wuschech sollte es doch wohl besser peinlichst vermeiden, sich wieder zu Wort zu melden - allerdings hat er ja seit der „Rückwende“ (wie es in dem genannten Buch heißt) die Möglichkeit, dies ungestraft zu tun... Vielleicht ist es ja menschlich verständlich, daß er (wie auch andere) das nun ausnutzt... Ja, mit vollen Hosen ist gut stinken.
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Wenn's auch schwerfällt:
freundliche Grüße Ingo Störmer
Notizen zum Brief von Ingo Störmer
Herr Störmer bezieht sich auf zwei Passagen meines Vortrags vom 1.10. 1998. Die erste betrifft Ausagen C. Diems über die vom Ar-beitersport und besonders von „den Kommunisten“ betriebene „Po-litisierung“ des eigentlich unpolitischen Sports. Genau das wird auf der angegebenen Seite des angegebenen Buches von Diem ge-sagt und darauf ist das einzige von mir als Hinweis auf ein Direktzi-tat in Anführungszeichen gesetzte Wort „politisieren“ bezogen. Da-bei ist die dort enthaltene Behauptung Diems, die Eingriffe des NS-Regimes nach 1933 seien weniger schlimm gewesen als die der Kommunisten in Ostdeutschland nach 1945, von mir noch gar nicht aufgegriffen worden, weil dazu längere Erläuterungen zu Di-ems Rolle als zentraler Funktionär des NS-Sports sowie zu den im Osten nach der Zerschlagung des mörderischen III. Deutschen Reiches realisierten Alliierten Beschlüssen notwendige gewesen wären. Was den in meinem Vortrag enthaltenen Hinweis auf Diems Charakterisierung der von ihm geprägten bürgerlichen Sportbewe-gung angeht, die unpolitisch gewesen sei, so sind diese Aussagen „so“ wirklich nicht auf der für den Politisierungsbegriff angegebenen Seite zu finden, sondern ergeben sich aus den Einschätzungen, die Diem über die Weimarer Zeit und über die westzonale Entwick-lung nach 1945 in eben diesen Buch an anderen Stellen reichlich verbreitet. Im Vorspann der kurz gehaltenen Literaturangaben zu meinem Vortrag habe ich allen Interessenten auf Anfrage weitere Quellenangaben angeboten. Wenn Herr Störmer in Diems Buch diese Aussagen wirklich nicht findet, so bin ich gern bereit, sie ihm kopiert zu übermitteln; und wenn er wirklich nicht den „geringsten Bedarf“ hat, „Privatadressen der Autoren... je zu erfahren“ so könn-te der Schriftverkehr sicher über den Verlag abgewickelt werden. Die zweite angezweifelte Aussage meines Vortrages betrifft Details der Leichtathletik nach 1945 in Dresden. Es handelt sich um die Dresdener Kreismeisterschaften der Leichtathletik von 1948 und auch von 1949, an denen ich persönlich als junger Aktiver teil-nahm. Die Meisterschaft von 1948 fand übrigens im Ostragehege, dem Stammplatz des 1945 aufgelösten DSC statt, als dessen Nachfolger sich die SG Dresden-Friedrichstadt fühlte und es in be-
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zug auf die Mitglieder der Leichtathletik auch war. Die Sächsischen Leichtathletik-Bestenlisten für 1948 und 1949 verzeichnen in den Einzel-Laufdisziplinen folgende Läufer der SG Dres-den-Friedrichstadt: Hans Beger, Hans Bergmann und Gottfried Phi-lipp. Letzterer lief in der 3 mal 1000-m-Staffel mit Heinz Lorenz und Dr. Tarnokrocki, einem Olympiateilnehmer von 1928. Diese drei gingen als Favoriten an den Start und zurecht, wie die Ergebnislis-te ausweist, die für Friedrichstadt 1949 die sächsische Bestzeit von 8:04,4 registriert. Auch die Schwedenstaffel (400-300-200-100 m) wurde in Dresden seit 1947 gelaufen und sah Friedrichstadt mit Staffel I und Staffel II auf dem 3. und 4. Platz der Landesbestenlis-te. Beim Einlaufen, das alle Läufer im Innenraum des Stadions ab-solvierten, kam man ungezwungen ins Gespräch und es ergab sich, daß Wonneberger aus Leipzig, wo er studierte, Lorenz aus Berlin und ein anderer (Philipp oder Tarnokrocki?) aus Heidelberg angereist war, an deren Gründe für den Aufenthalt außerhalb Dresdens kann ich mich allerdings nicht erinnern, glaube aber, daß Lorenz und Philipp von ihrem Studium gesprochen haben. Solche Sachverhalte waren damals nicht anomal; in meinem Vortrag sol-len sie gerade diese Normalität illustrieren sowie auf etwas hinwei-sen, was uns Nachwuchssportlern zu dieser Zeit noch gar nicht bewußt geworden war, daß nämlich sportliche Leistungen nicht nur eine persönliche oder vereinsbezogene Bedeutung hatten, sondern ins politische hineinreichten. Die kleine selbsterlebte Affäre im Um-kleideraum des Berliner Poststadions, hat sich auch gar nicht ein-geprägt, weil von Ostzone gesprochen wurde, wie Herr St. anzu-nehmen glaubt, sondern weil sie uns schon zu dieser Zeit vor Au-gen führte, daß im „Westen“ sportliche Leistung als Ausdruck des Zustandes eines gesellschaftlichen Systems angesehen wurde. Auf die interessanten Wandlungen und Nuancen, die dann später ins Spiel kamen, und auf die Fragwürdigkeit einer schematischen oder gar automatischen Verbindung von Gesellschaftszustand und sportlicher Leistung kann hier nur verwiesen werden. Sie trifft näm-lich nur im Prinzip, bezogen auf längere Zeiträume und unter Be-achtung sehr vieler Faktoren zu. In der Sportwissenschaft der DDR ist gerade auf die Relativität dieser Beziehung hingewiesen wor-den, und zwar angeregt von interessanten Untersuchungen, die Ernst Jokl veröffentlicht hatte. Meinen im Vortrag enthaltenen kriti-schen Hinweis auf einen Gedanken aus der Ansprache Erich Ho-
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neckers (Sport ist nicht Selbstzweck ... ), der in der Literatur der BRD seit Jahren als „Beweis" für politischen Mißbrauch des Sports angezogen, aber nie in den 1948 gemeinten Zusammenhang ge-stellt wird, habe ich nichts Neues anzufügen und behaupte noch-mals, daß einige der betreffenden Autoren die damals mehrfach im Druck erschienene Originalansprache nicht kennen, sondern seit Jahren den einen Stummelsatz mit der gleichen Ausdeutung von-einander abschreiben. Meine Behauptung stützt sich nicht nur auf neuere Gespräche, sondern auf die Annahme, daß bei Kenntnis des Originals von einem oder anderen Autor zumindest eine relati-vierte oder erweiterte Aussage getroffen worden wäre, um der his-torischen Wahrheit und der wissenschaftlichen Lauterkeit gerecht zu werden. Es sei noch angefügt, daß andere Formulierungen mit politischer Aussage zum Sport, die in dieser Zeit in der Ostzone verbreitet waren, damals in allen Zonen Deutschlands gebraucht wurden. Das betrifft z. B. die Forderung, der Sport solle „eine Kampfgemeinschaft gegen Faschismus und Militarismus“ sein. Daß die Antifaschisten, die diese Formulierung in den Westzonen benutzten, bald wegen einer „Politisierung“ des Sports angegriffen und mit Hilfe der Besatzungs- oder anderer Mächte kaltgestellt wurden, steht auf einem anderen Blatt.
Günther Wonneberger
GEDENKEN
Rudi Reichert
76 Jahre alt war er geworden und die Schar derjenigen, die ihn auf seinem letzten Weg begleiteten, war groß. Rudi Reichert gehörte zum „Urgestein“ des DDR-Sports, war zwar lange Jahre Präsident des Deutschen Sportausschusses und Gründungspräsident des Deutschen Turn- und Sportbundes, aber er war optisch kein Mann
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für die erste Reihe, weil er sich nie dort hindrängelte, wie so man-cher im DDR-Sport. Rudi war unter denen, die mit die Drecksarbeit der ersten schweren Jahre leisteten. Der Mecklenburger zog die Bergschuhe an, als die junge Sportbewegung die ersten Meister-schaften im einst feudalen Oberhof riskierte. Er war von Haus aus begeisterter Turner und fast fanatischer Segler, aber man fand ihn überall, wo Initiative und Engagement gefragt waren. 1948 gehörte er in Berlin zu den Gründungsmitgliedern des von FDJ und FDGB aus der Taufe gehobenen Deutschen Sportausschusses. 1957 wurde er auf dem Gründungskongreß des DTSB zu dessen ers-tem Präsidenten gewählt. Wenn heute von manchen so eifrig die „Politisierung“ des DDR-Sports „aufgearbeitet“ wird, wundert es niemanden, daß man Rudi Reichert nicht noch als Zeitzeugen be-fragte. Er hätte Auskunft darüber geben können, mit welch knall-harten politischen Bandagen die Funktionäre aus dem Westen ihre Verhandlungen führten. In Rudi Reichert hatten sie allerdings ein Gegenüber, der auch auf Floskeln verzichten konnte und schnell zur Sache kam. Als die BRD-Sportführung 1952 unter Berufung auf eine billige Lüge über Nacht den Sportverkehr mit der DDR abbrach, mußten die DSB-Oberen mit Rudi Reichert am Tisch ihre „Kapitulation“ unterschreiben. Das alles kenne ich vom Hörensa-gen, ich selbst habe ihn erst später kennengelernt, aber ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, welch ehrliche Haut er war. Sein Weg war nicht immer schnurgerade, aber das Vertrauen, das er genoß, groß. Dafür zeugte, daß man den früheren DTSB-Präsidenten nach der Rückwende spontan zum Präsidenten des Turnverbandes Mecklenburg-Vorpommern wählte. Bei einer unse-rer letzten Begegnungen sagte er über sich: „Einmal rot, immer rot!“ Mit Rudi Reichert starb einer der verdienstvollsten Männer des DDR-Sports. Er hat so manches Kapitel der Geschichte dieser Sportbewegung mitgeschrieben, die zwar unterging, aber nicht in Vergessenheit geraten wird. Nicht nur wegen der Athleten, die sie hervorbrachte, sondern - um nur ein Beispiel zu erwähnen - auch wegen der Tausende Sportfunktionäre aus den Ländern der Drit-ten Welt, die sie kostenlos ausbildete und damit mehr für den Sport weltweit tat, als man es in Medaillen ausdrücken könnte.
Klaus Eichler
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Werner Schiffner
Wir alle waren betroffen, als uns die Nachricht von seinem Tode er-reichte. Mindestens einmal im Jahr waren wir uns begegnet, auch noch, als er schon Probleme mit seiner Gesundheit hatte: Zu mei-nem Geburtstag kam er immer und erinnerte mich auch Jahr für Jahr daran, daß ich ihn viel zu selten besuchte. Kennengerlernt hatte ich Werner, der im Arbeitersport groß geworden war und zu den ersten gehörte, die sich nach Gründung der demokratischen
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Sportbewegung zur Verfügung gestellt hatten, in „Bollmannsruh“, einem ND-Ferienheim unweit Brandenburg. Das hatte er 1952 vor der Friedensfahrt in ein Trainingslager verwandelt. Zum ersten Mal traf ich dort mit den Routiniers des DDR-Radsports zusammen: Paul Dinter, Bernhard Trefflich, Werner Kirchhoff, Dieter Köhler. Werner Schiffner ließ vom ersten Augenblick an keine Zweifel da-ran aufkommen, daß nur die Härtesten eine Chance haben wür-den, in die Friedensfahrtmannschaft zu kommen. Für mich war das alles neu und als er schon nach wenigen Tagen mitteilte, daß er eine 56-km-Strecke nach Friesack ausgesucht hatte, auf der ein Rennen gegen die Uhr ausgetragen werden sollte, wußte ich, was er von uns verlangte. Man darf nicht übersehen: Wir schrieben das Jahr 1952 und da waren 56 km ein unglaublicher Härtetest. Ich wußte, daß ich nur eine Chance hätte, wenn ich ihm bei dieser Prü-fung meine Energie demonstrieren könnte. Ich biß die Zähne zu-sammen, holte das Letzte aus mir heraus und fuhr Bestzeit. Wer-ner verlor kein Wort, aber er blinkerte mir anerkennend zu. Das war der Augenblick, in eine unvergleichliche Freundschaft begann. Ob Trainer oder Mannschaftsleiter, Werner war nie ein Freund langer Appelle. Er sagte knapp, worum es ging und jeder wußte Bescheid. Dabei fand er immer Zeit, sich auch die Probleme der Aktiven an-zuhören und oft ein passendes, aufmunterndes Wort. An seiner Urne sagte ich: „Für ihn galten die Worte des großen Pablo Neruda ‘Die Kommunisten sind eine gute Familie. Sie haben ein dickes Fell und ein gestähltes Herz’ ebenso wie die Bertolt Brechts: ‘Wenn ihr gefragt werdet, ob ihr Kommunisten seid, so ist es besser, wenn ihr zum Beweis eure Bilder als eure Parteibücher vorweisen könnt.’ Werner hatte - wenn es nottat - ein dickes Fell und ein gestähltes Herz. Wir alle haben viel von Werner Schiffner gelernt, nicht nur, wie man beim Radrennen die Kurven nimmt, den Windschatten sucht und möglichst als erster ins Ziel kommt, sondern vor allem das Leben haben wir von ihm gelernt. Das ehrliche, aufrechte Le-ben. Und das ist viel mehr wert, als Titel, Medaillen und Diplome!“
Gustav Adolf Schur
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 11 / 2000
INHALT:
OLYMPISCHE BILANZ SYDNEY 2000
NOTATE 4
ZITATE 12
RESULTATE 34
DISKUSSION/DOKUMENTATION
Der Sport in der DDR (Teil I)
Ulrich Wille 57
Spurensicherung: KJS in der DDR
Wolfgang Ahrens 95
CHRONIQUE SCANDALEUSE - Über merkwürdige Sichten dreier Historiker
Joachim Fiebelkorn 104
REPORTAGE
Oder-Neiße-Radtour der guten Nachbarschaft
WernerStenzel 110
ZITAT
Gerügter Amtsmißbrauch 112
REZENSIONEN
Chronik des DDR-Sports
Horst Forchel/ Ulli Pfeiffer 114
Teichler, H./Reinartz, K.: Das Leistungssportsystem der DDR in den 80er Jahren
Joachim Fiebelkorn 118
Huhn, K.: Der Baumann-BLUFF
Heinz Schwidtmann 123
Stiller, E.: Willi Langenberg, Arbeitersportler im Widerstand
Hans Simon 124
Zwei aufschlußreiche Bergsteigerbücher
Günther Wonneberger 127
2
GEDENKEN
Roland Weißig
Alfred Heil 129
Edelfrid Buggel
Heinz Schwidtmann 132
Günther Stiehler
Hans-Georg Herrmann 135
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DIE AUTOREN
WOLFGANG AHRENS, geboren 1923, Oberstufenlehrer Geschichte/ Sport, Direktor der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) Leipzig 1967 bis 1974.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
HORST FORCHEL, Dr. paed., geboren 1931, Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1978 bis 1990.
ALFRED HEIL, geboren 1921, Vizepräsident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) 1966 bis 1973, Vizepräsident der Ge-sellschaft zur Förderung des olympischen Gedankens 1969 bis 1990.
HANS-GEORG HERRMANN, Dr. paed., geboren 1935, Prof. an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig bis 1990, Rektor der DHfK 1978 bis 1987.
ULRICH PFEIFFER, Dr. paed., geboren 1935, Diplomjournalist, Chefredakteur der Zeitschrift „Theorie und Praxis des Leistungs-sports“ (ab 1990 „Training und Wettkampf“) im Sportverlag Berlin 1977 bis 1991.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig und am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) 1970 bis 1990.
HANS SIMON, Dr. sc. paed., geboren 1928, Hochschullehrer für Sportgeschichte an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1951 bis 1990, Mitglied der dvs.
WERNER STENZEL, geboren 1937, Diplom-Historiker.
ULRICH WILLE, Dr. phil., geboren 1937, Sektorenleiter Allgemei-ner Kinder- und Jugendsport im Bundesvorstand des DTSB bis 1990, Referent in der Deutschen Sportjugend des DSB bis 1997.
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972, Präsident des International Committee for History of Sport and Physical Education (ICOSH) 1971 bis 1983, Mitglied der dvs.
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OLYMPISCHE BILANZ SYDNEY 2000
NOTATE
Historiker beteiligen sich in der Regel nicht daran, sportliche Tri-umphe oder Enttäuschungen zu analysieren und der Wortbegriff „nota bene“ wird bekanntlich aus dem Lateinischen mit „merke wohl“ übersetzt. und mehr sollte man von diesen Zeilen auch nicht erwarten.
Karl KRAUS hat einmal behauptet: „Was ist ein Historiker? Einer, der zu schlecht schreibt, um an einem Tageblatt mitarbeiten zu können.“1) Stellen wir diesen Aphorismus in Frage und versuchen uns daran, die Spiele von Sydney ohne jegliche Assistenz der Tagblattkommentare zu „besichtigen“. Samaranch, der an jedem Finaltag der Welt versichert, die „größten Spiele“ gingen nun zu Ende, kommt als Quelle für den Historiker kaum in Frage. Daß der australische Ministerpräsident, John HOWARD, die Sydneytage „das größte Sportereignis aller Zeiten“ nannte, muß man wohl auch mit der Distanz bewerten, die Nationalstolz aufkommen läßt. Auch da also Zurückhaltung.
Das wirft die Frage auf, was überhaupt als Richtmaß für Olympi-sche Spiele gelten kann? Daß das Fest des Jahres 2000 das des Jahres 1900 übertraf, verdient nicht hervorgehoben zu werden. Damals Dependance einer Weltausstellung, auf der die Athleten Passanten befragten, ob sie wüßten, wo der Sportplatz sei, auf dem Medaillen vergeben werden sollen, wuchs 2000 für Olympia ein neuer Stadtteil in eine Millionenstadt. Die Bauten seien umwelt-freundlich projektiert worden, heißt es, Solarenergie wurde ver-wendet. Umweltschützer also auf der Seite der Olympiaplaner. Ei-ne Seltenheit.
Vier Jahre nach Paris 1900 waren Anthropologen in St. Louis noch auf die Idee gekommen, die in den Pavillons der Weltausstellung als lebende Ausstellungsstücke auftretenden Eingeborenen um die
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Wette rennen zu lassen: „Es ging darum, die athletischen Fähigkei-ten der verschiedenen wilden Stämme daraufhin zu prüfen, was an den oft alarmierenden Gerüchten über ihre Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft Wahres war. Es wurde entschieden, zwei Leichtathletik-tage für sie anzusetzen, bekannt geworden als die ‘Anthropologi-schenTage’. Am ersten Tag starteten die verschiedenen Stämme untereinander in den verschiedensten Disziplinen, und am zweiten Tag wurden die Endkämpfe bestritten, zwischen denen, die in den einzelnen Stammeswettkämpfen am ersten Tag die ersten und zweiten Plätze belegt hatten. Klugerweise organisierte die Abtei-lung diesen Wettkampf im August, so das viele Sportdirektoren und wissenschaftlich interessierte Herren anwesend sein und ihren Nutzen aus den Vorführungen ziehen konnten... Wir haben von den Wunderqualitäten der Indianer als Läufer gehört, von der Aus-dauer der Kaffern und anderen Heldentaten vieler Stämme, aber die Wettbewerbe in St. Louis widerlegen all diese Berichte.“2)
Würdigungen der Leistungen der „Kaffern“-Urenkel in Sydney erüb-rigen sich. Es wäre auch absurd, etwa triumphierend Vergleiche zu ziehen. 96 Jahre sind vergangen und die Welt hat sich verändert. Was die Entkolonisierung betrifft, so hat der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers keine Rückwende ausgelöst. Diese Feststel-lung reduziert die ökonomische Malaise der Länder der Dritten Welt und ihre Abhängigkeit von den ehemaligen Kolonialherren in keiner Weise.
Daß die australischen Ureinwohner die olympischen Tage nutzten, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen, erinnerte daran, daß die sozialen Probleme der Urbewohner auf dem fünften Konti-nent auch nach hundert Jahren Olympia keineswegs gelöst sind. Die Beifallswoge um Cathy Freeman war wohl nur der spontane Jubel für eine, die sich aus dem Kreis der so lange Unterdrückten nach ganz oben gekämpft hatte. Daß sie die schwarzrote Flagge mit dem goldenen Sonnenball in der Mitte mit auf die Siegerrunde nahm, machte deutlich, sie war sich dessen auch bewußt.
Es ist heute nicht mehr „in“, COUBERTIN zu zitieren, wenn man über Olympische Spiele schreibt. Man muß sich jedoch damit abfinden, daß diese Spiele seine Idee waren, von ihm über die Hürden schwierigster Zeiten - es genügt den Ersten Weltkrieg zu erwähnen - hinweggerettet wurden und er aus triftigen Gründen denen miß-
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fällt, die die Spiele in ein einträgliches Spektakel verwandelt haben und auch diesmal kräftig daran verdienten.
Als COUBERTIN 1925 in Prag seinen Rücktritt von der Funktion des Präsidenten des IOC erklärte, formulierte er noch einmal, was ihm vor allem am Herzen lag: Bezahlbarer Sport für alle war eine seiner maßgeblichen Forderungen. Er resümierte in Prag: „Weniger Rummel, weniger Reklame, weniger einengende Organisationen, weniger intolerante Verbandsgruppierungen, weniger schwerfällige hierarchische Strukturen. Aber die einzelnen Formen des Sports... im höchstmöglichen Maße kostenlos zur Verfügung aller Bürger, das ist eine der Aufgaben moderner Kommunalpolitik. Aus diesem Grunde fordere ich die Wiedereinführung des städtischen Gymna-siums der Antike, zu dem alle ohne Unterschied von Anschauung, Glauben oder gesellschaftlicher Stellung Zutritt haben und das der unmittelbaren, alleinigen Aufsicht der kommunalen Gesellschaft unterstellt ist. In dieser Form, und nur in dieser, wird man eine ge-sunde und umfassend sportliche Generation heranbilden können.“3)
Muß man darauf verweisen, daß dieses Thema niemanden in Syd-ney bewegte? Vor unserer Haustür spielt es täglich eine Rolle. Sportschulstunden werden reduziert, Sportlehrer weltweit „einge-spart“. Der Deutsche Bundestag hatte vier Mitglieder seines Sport-ausschusses nach Sydney entsandt. Sie gaben hinterher zwei Be-richtsprotokolle ab, die der Autor lesen konnte. Das eine bezog sich auf den belanglosen Besuch in einem Anti-Doping-Labor und das andere - kaum zu glauben - resümierte den Inhalt einer Unter-haltung mit Dieter Baumann. Das Fazit der Begegnung des gedop-ten Starläufers mit den Politikern, denen der Steuerzahler noch die Flugkarten bezahlt hatte, lautete, daß der Fall Baumann „dringend von unabhängigen Sachverständigen exemplarisch aufgearbeitet werden muß.“4)
Man kann darauf verzichten, daran zu erinnern, wie viel unabhän-gige Sachverständige sich mit diesem Fall befaßt hatten, ehe Ab-geordnete des deutschen Parlaments dieses Verlangen zu Papier brachten, aber man kann nicht darauf verzichten, die tiefe Kluft zwischen der Forderung COUBERTINs an die Politik, die Spiele als Mittel für die allgemeine Förderung des Sports zu nutzen und den Sorgen der Politiker unserer Tage an diesem Beispiel deutlich zu machen.
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Aber wo diese Spiele einordnen? Die Premiere 1896 in Athen ver-diente fünf Sterne, weil antikes olympische Erbe demonstriert wur-de. Ein hoch verschuldetes Land wandte sich einem humanisti-schen Anliegen zu. 1900 und 1904 wurden schon erwähnt. Ihnen blieben höchstens zwei Sterne fürs „Überleben“. Als die Briten sich 1908 der Spiele annahmen, kam als erstes Ordnung in die Regeln. Jeder Marathonläufer bekam ein Blatt mit elf Vorschriften in die Hand gedrückt. Regel 4: „Kein Teilnehmer darf vor dem Start oder während des Wettbewerbs Drogen zu sich nehmen oder entge-gennehmen. Die Verletzung dieser Regel führt zu seiner sofortigen Disqualifikation“5)
1912 setzten die Schweden diese Tradition fort, die Spiele beka-men ihr Gesicht als höchst seriöses Sportfest, das sich von den Rummelplätzen der Profis abhob. 1920 mühte sich Antwerpen, maßgeblich sekundiert von COUBERTIN, nachzuweisen, daß die Spiele den Weltkrieg überstanden hatten. 1924 gab es in Paris das erste Olympische Dorf, 1928 in Amsterdam durften die ersten Frauen in der Leichtathletik starten. Die besondere Leistung der Veranstalter von 1932 in Los Angeles bestand darin, das olympi-sche Fest mitten in der Weltwirtschaftskrise zu feiern. Über 1936 muß man nicht viel Worte verlieren. Die heute noch gerühmte Or-ganisation hatte ihren „Hintergrund“: Die angebliche Sympathie Hit-ler-Deutschlands für den Frieden sollte perfekt vorgeführt werden, die Angriffspläne waren längst fertig. 1948 übernahm London die Rolle, die Antwerpen 1920 übernommen hatte: Es galt der Welt zu beweisen, daß die Olympischen Spiele zu den Überlebenden des Zweiten Weltkriegs gehörten. Nie zuvor hatte ein so kleines Land die Spiele arrangiert, wie Finnland 1952. Exzellente Gastfreund-schaft und das Debüt der Sowjetunion prägten das Fest, das von nun an allerdings auch zum Vergleich der Systeme wurde. Das wurde 1956 in Melbourne deutlich, als Ungarnkrise und Suezüber-fall zu der Forderung führten, Länder von den Spielen auszuschlie-ßen. 1960 sorgte der lange Schatten des antiken Rom dafür, daß man sich wieder auf die olympische Vergangenheit besann. 1964 wurden die Spiele zum ersten Mal in Asien gefeiert und Tokio er-wies sich als brillanter Gastgeber. 1968 war Mexiko-Stadt Schau-platz und auch dort mühte man sich um den olympischen Geist. 1972 wollten Deutsche vielleicht mit „heiteren Spielen“ Berlin ver-gessen lassen. Der furchtbare Anschlag, dem tragisch oberfläch-
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lich begegnet wurde, machte die Absicht zunichte. 1976 verschul-dete sich Montreal durch die Eitelkeit der städtischen Verwaltung auf Generationen. Dennoch: Die Kanadier taten viel, um als olym-pische Gastgeber ihr Bestes zu tun. 1980 scheiterte nicht an poli-tisch-militärischen Operationen des Kreml in Afghanistan, sondern am schon erwähnten Duell der Systeme. Unvergessen, daß schon bei der Wahl Moskaus das Stimmenverhältnis nie publik wurde. Der clevere irische IOC-Präsident Lord KILLANIN behauptete, die Stimmzettel zerrissen und in die Donau gestreut zu haben. Er war klug genug, zu ahnen, was auf ihn und das IOC zukam, aber er war der letzte eiserne Olympier an der Spitze des IOC. Als ihn Washington während der Winterspiele 1980 in Lake Placid unter Druck setzen wollte, kündigte er an: „Und wenn ich der einzige sein sollte, ich bin da, wenn in Moskau die Spiele eröffnet werden.“6) 1984 wurden die Olympischen Spiele in Los Angeles zum ersten Mal privat organisiert. Daß ein Werbe-Zeppelin über dem Stadion kreiste und jeder Fackelläufer des olympischen Feuers zur Kasse gebeten wurde, waren nur äußerliche Zeichen der hemmungslosen Kommerzialisierung. 1988 nutzte die damals boomende Wirt-schaftsmacht Südkorea die Spiele, um Investoren zu interessieren, 1992 nutzten die Katalanen die Funktion ihres Landsmanns SAMARANCH, um Barcelona ins rechte Licht zu rücken, 1996 de-monstrierte Coca Cola wie man das IOC mit dem nötigen „Hand-geld“ bewegen kann, wirtschaftlich vorteilhafte Entscheidungen zu treffen.
Und die Australier in Sydney? Unterschiedliche Interessen bündel-ten sich in dem olympischen Vorhaben. Die wirtschaftlichen Vo-raussetzungen waren gegeben, um das Projekt großzügig in An-griff zu nehmen. Natürlich wollte man auch sportlich der Welt be-weisen, daß das Land zu den Besten zu zählen ist. Am Ende sollte man die Spiele weit oben einordnen. Sie wurden nirgendwo miß-braucht, die überall in der Welt dominierende Werbung blieb hinter Zäunen, was dem fast schon antiken olympischen Anliegen diente. COUBERTIN hätte entsetzt den Kopf geschüttelt, aber in Atlanta 1996 hätte ihn der Schlag getroffen. Der Autor weiß sehr wohl, daß dies keine Historiker-Urteile sind, verwendet sie aber dennoch, weil er sich an Karl KRAUS erinnert...
Das olympische Feld ist zum Tummelplatz der Medien geworden, die ihn zuweilen gar in einen Rummelplatz verwandeln. Noch 1960
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hatte eine angesehene deutsche Wochenzeitung den Literaten Rudolf HAGELSTANGE gebeten, über die römischen Spiele zu schreiben. Er zitierte in seinem bemerkenswerten Beitrag als ers-tes einen damals namhaften Journalisten: „‘Der Sport in dem opti-mistisch-bürgerlichen Sinn, in dem er den Beginn des 20. Jahrhun-derts belebt hat, ist tot... An seine Stelle ist die Vergötzung einer endlos zu steigernden Höchstleistung getreten, die nur mit den Mit-teln der Organisation, des Drills, ja des Zwangs erreicht werden kann.’ Dies schrieb Friedrich SIEBURG in der Frankfurter Allgemei-nen Zeitung. Wiederum - und ich frage mich verzweifelt nach Moti-ven und Hintergründen dieser Leistungsfeindlichkeit - die Verdam-mung der Leistung, der höchsten Leistung, der Höchstleistung. Alle - die Künstler, die Artisten, die Wirtschaftler, Techniker, Verleger, Missionare - streben die beste Leistung an... Ein weltweites Spek-takel von Ehrgeiz, Dummheit und Verfolgungswahn versalzt unsere Suppen. Denkschriften würzen die Mahlzeit. Dementis und Be-schwichtigungen bilden den Nachtisch. Das einzig Beunruhigende jedoch, die große Bedrohung unserer Epoche, unseres Lebens geht offenbar von der Vergötzung der sportlichen Leistung, von der ‘Macht des Sports’ aus. Denn: ‘Es ist eine Irreführung, immer wie-der zu behaupten, daß der Sport, wie er heute betrieben wird, die Völker verbinde. Er trennt sie . . .’ (So SIEBURG).
Derartige Feststellungen - ob leichtfertig oder mit gezielter Absicht getroffen - gehören zu den ärgsten Verleumdungen, die den Sport... je getroffen haben... Wenn in den Arenen der Olympischen Spiele auch der Sache des Friedens nicht in einem Grade und mit dem Erfolg gedient werden kann, den man sich vergebens von Staatsbesuchen und Gipfelkonferenzen erhofft, so liegt das ebenso wenig an dem verderblichen und friedengefährdenden Charakter des Sports, wie es der Ohnmacht der Kunst anzukreiden ist, daß die spät geborenen Landsleute Beethovens und Tschaikowskijs, soweit sie heute tonangebend sind, sich nicht auf eine politische Harmonik einigen können... Die Veranstalter, Mentoren und Funk-tionäre der XVII. Olympischen Spiele haben Anlaß genug, sich über Ausmaße und Modalitäten ihres nächsten Weltfestes den Kopf zu zerbrechen. Sie wären schlecht beraten und unzureichen-de Sachwalter einer guten Sache, wenn sie sich berechtigter Kritik verschlössen. Es wird nicht zuletzt von ihnen abhängen, ob diese Olympischen Spiele Routine-Veranstaltungen ‘globalen’ Ausmaßes
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werden oder ob es gelingt, die Idee, die sie ins Leben rief, auf zeit-gemäße Art zu erfüllen. Daß aber diese Idee der Olympischen Spiele ihre Anziehungskraft auf die Jugend der Weit ausübt und weiter ausüben wird, daran hege ich nicht den geringsten Zweifel.
Nur Kriege haben bisher vermocht, den Rhythmus der Spiele zu unterbrechen. Wäre die Welt nicht glücklich zu preisen, wenn sie in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten keine ernsteren Sorgen hätte als die, die ihr aus der Durchführung der olympischen Wett-kämpfe erwüchsen?“7)
Diese Worte können heute ziemlich bedenkenlos wiederholt werden, auch wenn sich inzwischen einiges an Olympia verändert hat. Ob in Richtung zur „Routine-Veranstaltung ‘globalen Ausmaßes’“ darf in Frage gestellt werden. Viel hängt davon ab, wo Spiele stattfinden. Die Australier haben sie - das ward schon erwähnt - aus der miefi-gen Coca-Cola-Werbebrühe Atlantas wieder ein wenig in die Nähe Olympias gehievt. Sie waren gute Gastgeber des Festes, auch weil es nicht mit Dollarscheinen tapeziert war.
Bliebe noch das Medien-Lieblingsthema IOC. Als der unbestreitbar seriöse Coubertin es gründete, griff er zu einem Trick und bekann-te hinterher: „Man bemerkte es nicht, daß ich fast nur Abwesende ausgesucht hatte.“8)
Später machte er kein Hehl daraus, Figuren nur für die Fassade gesucht zu haben. In dieser Hinsicht blieb man ihm treu. Als die Spiele zum erfolgreichen Kommerzspektakel aufstiegen, kam im-mer mehr Geld ins Spiel, die logische Folge war Korruption. Aber auch hier müßte man HAGELSTANGE folgen: Sollte sich das IOC als Oase behaupten? Wir leben in einer Zeit skrupellosen Umgangs mit Geld - Spendenskandale, Steuerbetrügereien, Unterschla-gungen werden überhaupt nur mehr zur Kenntnis genommen, wenn sie die zweistellige Millionengrenze überschreiten - und sollten uns deshalb hüten, die Moral eines unbestechlichen Steuerbeamten ein-zufordern. Obendrein ist in Kürze ein Wechsel an der Spitze des IOC zu erwarten.
Hoffnung ist also gefragt, wenn es um die Zukunft der Olympischen Spiele geht. Olympische Spiele sind nicht im Stande, gegen Krieg oder Elend mit Erfolg anzugehen. Im Gegenteil: Die freundlichen Spenden, die selbst ärmsten Ländern erlauben, sich in der Gala der Zeremonien zu präsentieren - die Sportartikelindustrie erwirt-schaftet genug Gewinn, um nach dem letzten Schrei geschneider-
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te, farbenfrohe Kostüme kostenlos liefern zu können - lassen im olympischen Trubel nichts von der Not ahnen, in der so viele Län-der dahinvegetieren. Insofern malen die Olympischen Spiele auch Trugbilder, aber in einer Welt voller Trugbilder sollte man es ihnen nicht anlasten.
(Unser Analyse-Spezialist Helmut Horatschke wird seine leistungs-sportliche Analyse der Spiele in Sydney vermutlich beim Jahres-treffen des Vereins „Sport und Gesellschaft“ in Berlin vorstellen. Im nächsten Heft wird man sie lesen können.)
ANMERKUNGEN
1) Anderthalb Wahrheiten, Aphorismen. Berlin 1974
2) Ullrich, Klaus: Olympische Spiele. Berlin 1974, S. 41
3) de Coubertin, Pierre: Rede zur Eröffnung der Olympischen Kongresse im Rat-haus zu Prag am 29. Mai 1925. Sonderdruck: Impr. d’Etat à Prague 1925.
4) Erklärung des Sportausschusses „Antidopingkampf konsequent und mit rechts-staatlichen Mitteln unter Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit führen.“ Berlin 2000
5) The Fourth Olympiad, Official Report. London o.J., S. 72
6) Niederschrift eines Gesprächs zwischen Killanin und dem Journalisten Klaus Huhn.
7) Die Zeit, Hamburg. Sonderdruck, 7.10.1960, 14.101960
8) de Coubertin, Pierre: Mémoires olympiques. Lausanne 1931
ZITATE
„Kopf oder Wappen“ vergessen
Es fiel auf: Ob arm oder reich, beim Einmarsch trugen alle Gala. So sahen die Yankees nicht besser aus als die Jungens aus dem Hi-malaya-Maharadschaland Bhutan, dessen größter olympischer Tri-umph bisher der zwölfte Rang des Bogenschützen Jubzang Jubzang in Barcelona 1992 war... Seit langem nutzen Veranstalter-länder die olympische Eröffnung um der Welt mit Pauken und Trompeten, Scheinwerferspielen und buntem Tuch die eigene Ge-schichte aus ihrer Sicht zu erzählen. Also durften in Sidney auch die Urenkel jener Ureinwohner in die Arena, die die aus England exmittierten Sträflinge einst in die Wüste gejagt hatten, was einige aber überlebten. Mit der Erinnerung an Raubmörder Kelly wurde an die Knastologenvergangenheit des Landes erinnert. Der Gangster hatte seine Beute zuweilen unter Armen verteilt, wurde aber den-noch hingerichtet. Kurzum: Viel Kurzweil beim olympischen Auftakt, wenn auch die australische Nationalsportart „Kopf oder Wappen“
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unerwähnt blieb. Für die Buchmacher sind die olympischen Tage nämlich ein Geschenk des Himmels.
(junge Welt, 16.9.2000)
Eliteförderung
Wolfgang Schäuble, ehemaliger CDU-Bundesinnenminister, hat bei einem Besuch in Sydney gefordert, dass es „nach Sydney eine breite Debatte darüber geben muss, wie viel Leistung wir in Deutschland eigentlich noch wollen“. Die Frage der Eliteförderung müsse nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Sport ge-stellt werden und beginne in der Schule. „Es ist nicht nur eine Fra-ge des Geldes. Kaum ein anderes Land hat so gute Sportstätten und Bedingungen“, sagte er. „Vielmehr liegt es am Willen zur Leis-tung und zur Konzentration der Kräfte.“
(Süddeutsche Zeitung, 22.9.2000)
Der Schwung ist drin
„Gut, dann ziehe ich eben eine Viertelbilanz.“ Armin Baumert, seit fünf Jahren der oberste Leistungsplaner im Deutschen Sportbund (DSB), hat sich knapp eine Woche nach Eröffnung der Spiele, da-rauf eingelassen, zu werten und vorauszuschauen... Für Misserfol-ge oder Enttäuschungen hat er... Gründe erkannt. Erstens: Das vielfältige Wettkampfsystern mit zahlreichen lukrativen Startmög-lichkeiten lenke vom Hauptziel Olympia ab. Zweitens: Einige könn-ten schon mit durchschnittlichen Leistungen in Bundesligen oder bei Turnieren so gut verdienen, dass eine olympische Medaille an Stellenwert verloren habe. Drittens: Durch die „fast perfekten“ Ser-viceleistungen des deutschen Sports ließe sich mancher Athlet zu der bequemen Haltung verleiten, er müsste selbst kaum mehr et-was tun. Die kritische, täglich notwendige Selbstüberprüfung fehle. Viertens: Durch Manager oder Vereinstrainer, die kurzfristige Ziele verfolgten, ließen sich Aktive oft vom geraden Weg abbringen. Fünftens: Spitzensportler seien eine hochgeförderte Elite, sollten sich aber auch so verhalten. „Für den Leistungssport leben“, nennt Baumert das. „Die Reihenfolge muss stimmen. Wenn ich Leistung gebracht habe, darf ich auch an Party, Party, Party denken. Die Lebensführung muss so sein, dass alle, die den Sportler unterstüt-zen, von der Familie bis zum Staat, die Leistungsbereitschaft er-kennen. Leistung en passant, das kann nicht klappen, so viel Ta-
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lent, solche Gene gibt es nicht.“... Strukturen und Rahmenbedin-gungen im deutschen Sport verteidigt Baumert vehement. Und er glaubt, dass die deutsche Politik, mit einer Bundestagsdelegation schon zu Gast im Olympischen Dorf, den Status quo weiter finan-zieren wird... In einem wichtigen Punkt widerspricht Baumert dem Leichtathletik-Präsidenten Helmut Digel, der als Vizepräsident des Nationalen Olympischen Komitees auch zur Delegationsführung der deutschen Mannschaft gehört. Digel hatte behauptet, der Schub durch die Wiedervereinigung sei beendet: „Wir haben lange von den Trainingsbedingungen in der ehemaligen DDR profitiert. Viele dieser Athleten haben große Erfolge gefeiert, nähern sich jetzt aber dem Ende ihrer Karriere“, so Digel. Für Baumert steht zwar, vor allem in der Leichtathletik, eine personelle Zäsur bevor. „Aber der Schwung ist in den Vereinen und Verbänden drin, er ver-schwindet mit dem Abschied der älteren Sportler nicht einfach.“
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.9.2000)
„Bild“ hilft
Schlagzeilen in der „Bild“-Zeitung... In der Dienstag-Ausgabe wird das Erfolgsmodell des Rodlers Georg Hackl beschworen: Schlitten auspacken, Gold holen, Weißbier trinken. Drei Mal hat er es so ge-macht. Doch in Sydney fahren die anderen mit uns Schlitten... Da können wir nur hoffen, dass es bald Sommer-Rodeln gibt und der Hackl-Schorsch doch noch kommt...“
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.9.2000)
Weiter Schlagzeilen machen
An keinem Sportlerschicksal nimmt... die Nation solchen Anteil wie an dem von Franziska van Almsick. Seit die Berliner Göre aus dem Ostteil der Stadt 1992 in Barcelona, den ersten Spielen nach der Wende mit einer gesamtdeutschen Mannschaft, zum Maskottchen der Wiedervereinigung wurde, liegt sie den Deutschen am Herzen. Sie sprengte als einer der ganz wenigen Athleten die Grenzen des Sports und rührt alle Gesellschaftsschichten. Das wird sich nicht ändern, auch wenn die heute 22 Jahre alte Schwimmerin am Samstag - wie fast alle erwarten - ihr letztes Rennen bestritten ha-ben sollte. Franziska van Almsick hat die Starqualitäten, die die
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moderne Freizeitgesellschaft verlangt: ein gutes Aussehen und ein egozentrisches Auftreten. Sie wird weiter Schlagzeilen machen: als Modeschöpferin, Kunstdesignerin oder nur als Interviewpartnerin. Bei den Schwimmern ist Franziska van Almsick schon lange nicht mehr so gut angekommen...
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.9.2000)
Zehn Jahre verloren
Die Deutsche Schützenzeitung warb bereits seit Monaten mit einer Sonderausgabe „Olympia 2000“; auf dem Titelbild: Ralf Schumann. Das Motiv war unglücklich gewählt: In Sydney schaffte Schumann mit seiner Schnellfeuerpistole lediglich den fünften Platz... 38 Jahre ist Schumann mittlerweile alt, und so schlechte deutsche Schützen wie in Sydney hat er noch nie erlebt... Die Niederlagen sind für Schumann keine Überraschung. Nach seiner Pleite polterte er los: Im Deutschen Schützenbund gebe es nicht mal Geld, um Turn-schuhe für die Kinder zu kaufen. Sponsoren seien ebenfalls keine da, die Medien seien nur alle vier Jahre am Schießen interessiert, und „wenn keine Erfolge kommen, werden wir gleich zerfleischt“, sagte Schumann, der außerdem meinte: „Der deutsche Sport hat zehn Jahre verloren, weil das DDR-System ja so böse war. Jetzt bauen sie es im Nachwuchsbereich mit Kinder- und Jugendsport-schulen langsam wieder auf. Doch wenn das nicht schnell passiert, ist tatsächlich zehn Jahre Ruhe mit Erfolgen.“ (Süd-deutsche Zeitung, 22.9.2000)
Schluss mit Trübsal
Die Leichtigkeit des Siegens fällt den drögen Deutschen naturgemäß schwer. Pannen, Pech und Randsportarten, Zicken, Trottel und Ver-sager zeichnen ihre Bilanz nach einer Woche Olympia aus. Und selbst auf dem Treppchen fiel unseren Staffel-Schwimmerinnen kein Lachen ein. Es wiederum entspricht unserer nachgesagten Gründ-lichkeit, dass wir auch diesem Phänomen fast täglich auf die Spur gehen. Fürchten wir etwa, das sportliche Erscheinungsbild könnte ein Spiegel unserer nationalen Gemütslage und Geistesverfassung sein? Müssen wir unser Frühwarnsystem wieder einschalten, ganz nach dem Motto: Völker, hört die Signale?... Doch gemach! Olympia hat viele Gesichter - und 427 deutsche Sportler auch. Sehen wir die selbstbewussten und die fröhlichen denn nicht... Handballer oder
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Beachvolleyballer etwa? Sehen wir nicht, was die anderen alles (Verbotenes) tun, um uns den Spaß am Sport zu vermiesen?
Schluss mit der Verdrießlichkeit! Lasst uns Olympia von seiner Sonnenseite sehen. Sydney und die Australier bieten uns dafür schließlich Anlass genug.
(Hamburger Abendblatt, 23.9.2000)
Zu schlaff, zu wehleidig
Das deutsche Olympia-Desaster: Wir nennen alle Gründe und alle, Schuldigen!
Warum schneiden die Deutschen bei den Olympischen Spielen bisher so schlecht ab? Der erste, besonders augenfällige Grund: Weil die DDR abgeschafft wurde. Solange es auf deutschem Bo-den einen sozialistischen Staat gab, herrschte an Goldmedaillen niemals Mangel. Goldmedaillen gehörten zum Sozialismus wie die 1. Mai-Demonstration oder das Gefühl der sozialen Geborgenheit. Weil aber die DDR im Sport gut war, musste auch die BRD viel für den Sport tun, aus Konkurrenzgründen. Falls man es - der olympi-schen Tradition folgend - in Zahlen ausdrücken möchte: 25 Prozent Schuld an dem deutschen Olympia-Desaster trägt Michail Gor-batschow. 5 Prozent Schuld hat Helmut Kohl, je ein Prozent Schuld müssen wohl oder übel Günther Schabowski und Lothar de Mazie-re zugewiesen werden.
Zweiter Grund: Die Deutschen sind schlaff und saturiert. Auffällig gut sind sie in den Fun-Sportarten, Beach-Volleyball, Mountainbike, Wildwasserkanu. Sie wollen eben Fun, Fun, Fun. So predigt es auch das Fernsehen. Stefan Raab: drei Prozent Schuld.
Niemand möchte sich schinden. Das hängt auch mit dem Wohl-stand und dem sozialen Wohlfahrtsstaat zusammen. Fünf Prozent Schuld am Desaster trägt demnach Ludwig Erhard, Erfinder der sozialen Marktwirtschaft. Allerdings predigte Erhard auch Leistung. Eine leistungsfähige Volkswirtschaft: die wollte er schon haben, bei aller sozialen Gesinnung. Aber der Leistungsgedanke ist irgendwie weg. An den deutschen Schulen diskutieren Eltern jahrelang dar-über, ob ihre Kinder Noten bekommen sollen, oder ob Leistungs-druck nicht unmenschlich ist. Ohne Leistungsgedanken kein Leis-tungssport: 20 Prozent des Olympiadesasters gehen auf das Konto der 68er, am ehesten zu personifizieren in Rainer Langhans. Auch Langhans ist schuld.
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Dritter Grund: Die Deutschen haben ein Doping-Problem. Wenn es stimmt, was fast alle Sportexperten sagen - dass nämlich trotz aller Kontrollen noch immer in vielen Sportarten gedopt wird, nur eben auf raffinierte Weise - , dann gibt es zwei mögliche Ursachen der deutschen MisserfoIge. Entweder die Deutschen dopen nicht, ob-wohl, alle anderen es tun. Oder aber sie dopen falsch beziehungs-weise die deutsche Dopingindustrie hat den Anschluss an die Weltspitze verloren. Die deutsche Doping-Misere ist mit 30 Prozent Schuld am Olympia-Desaster beteiligt. Green Cards für bulgarische Dopingexperten könnten eine Lösung sein.
Den Deutschen fehlt Schlaf. Diese Theorie hat der Regensburger Schlafforscher Dr. Josef Zulley in Umlauf gebracht. Er verweist da-rauf, dass Australien von Deutschland auffällig weit weg ist und dass der Biorythmus der Deutschen deswegen völlig durcheinan-der ist. Warum aber funktioniert dann der Biorythmus der Italiener, der Holländer oder der Franzosen tadellos? Vierter Grund für das Olympiadesaster: Die Deutschen sind anfälliger für Schlafstörun-gen als andere Völker. Acht Prozent.
Auffällig: die vielen vierten Plätze, die deutsche Athleten diesmal belegten. Das ist eindeutig Pech. Für Pech ist der Zufall zuständig, oder Gott. Ein Prozent Schuld trägt Gott. Womöglich ist er kein Deutscher. Vermutet haben wir das ja schon seit längerem. Zwei der vier bisherigen deutschen Goldmedaillen gingen an Rad-Verfolgungsfahrer (Einer-Verfolgung und Vierer-Verfolgung). Die einzige Sportart, in der die Deutschen offenbar immer noch unangefochten Weltspitze sind, heißt Verfolgen. Da wirkt etwas nach. Adolf Hitler: zwei Prozent.
Berti Vogts, der frühere Bundestrainer im Fußball, hat die deut-schen Niederlagen immer damit erklärt, dass die anderen Mann-schaften gemein und unfair sind. Deswegen neigen deutsche Sportler zur Wehleidigkeit... Berti Vogts, ein Prozent.
Alles könnte so schön sein. Wenn Berlin die Olympischen Spiele bekommen hätte, würden Zehntausende von deutschen Fans die Sportler anfeuern, und ein warmer Medaillenregen ginge nieder auf eine zufriedene Nation. Warum hat Berlin die Spiele nicht bekom-men? Zwei Prozent Schuld am Desaster trägt zweifellos der Berli-ner Olympia-Bewerbungs-Manager Axel Nawrocki.
(Der Tagesspiegel, 24. 9. 2000)
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Geld gleich Gold?
Alles Amateure! Jedenfalls wenn sie aus dem Wasser steigen, vom Schießstand kommen, aus dem Ring gehen, das Spielfeld verlas-sen - und verloren haben. Weil sie verloren haben? Nicht dass die ohnehin schon genug Geschlagenen sich obendrein auch noch vom enttäuschten Publikum beschimpfen lassen müssten. Nach Niederlagen, die sie sich selbst nicht erklären können oder anderen nicht näher erläutern wollen, reklamieren die Gescheiterten gerne den Amateurstatus. Das Gescheiteste ist es allerdings nicht, sich nach dem Motto herauszureden: „Also, gegen diese Profis...“ Fort-setzung überflüssig, aber Fortsetzung folgt. Immer wieder gehen Sportler als Profis in den Wettkampf und kommen als Amateure heraus. Oder umgekehrt. Denn eine gewisse Neigung, die eigene Niederlage zur großen Systemschwäche zu erklären, ist unter Ver-lierern verbreitet. Persönliches Versagen lässt sich leichter ertra-gen, wenn man es sozialisieren kann: Der sparende Staat, der sportfeindliche Steuerzahler, die lassen uns allmählich am langen Arm verhungern.
Weniger Geld, weniger Gold? Beschneidet die Kürzung der Bun-desmittel die Erfolgschancen der deutschen Olympiaathleten? Oh-ne die gesammelten Ergebnisse der Spiele und eine gründliche Untersuchung der Resultate sollte man sich eine vorschnelle Ana-lyse verbieten. Erlaubt ist es dagegen schon jetzt, Augen und Oh-ren offen zu halten. Da sieht und hört man von wahren Amateuren, die anerkannt professionell arbeiten, und von so genannten Voll-profis, denen „amateurhaftes“ Verhalten vorgeworfen wird. Teilzeit-profis und Berufsamateure sind Mischformen zwischen den Extre-men. Jede Schwarzweißmalerei gibt ein unwirkliches Bild von der olympischen Realität. Grautöne herrschen vor, die Übergänge sind fließend. Nicht nur im Wasser, auch zu Lande.
Da marschieren die Staatsamateure aus China ein aber in der deutschen Mannschaft sind Bundeswehr und Bundesgrenzschutz immerhin auch zu 30 Prozent vertreten. Und kommen die Universi-tätssportler aus den Vereinigten Staaten, die gerne schwimmen, laufen und springen, denn tatsächlich aus einer völlig anderen Welt als deutsche Studenten, die zwar keine Reichtümer von der Sport-hilfe kassieren, aber beileibe nicht am Hungertuch nagen? Oder, um mal persönlich zu werden: Ist der Schütze Ralf Schumann, der in einem Sägewerk die Blätter schärft, aber vor den Spielen von
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seinem Chef ein halbes Jahr lang freigestellt wird, ein olympischer Vollamateur oder ein vorolympischer Halbprofi?...
Die Berufung auf den Amateurstatus klingt in den meisten Fällen wie larmoyante Glaubenssätze von der Güte: Wer schöner ist als ich, der ist nur geschminkt. Oder: Wer besser ist als ich, der muss gedopt sein.
Da mag in einigen Fällen was dran sein. Aber bei aller angebrach-ten Skepsis gegenüber dem internationalen Fortschritt in der Do-pingbekämpfung - die Zeiten des systematischen staatlichen Sie-gens sind spätestens seit dem politischen Finale der DDR auch sportlich am Ende. Natürlich sind und bleiben Olympische Spiele ein Wettkampf der Sportsysteme, in dem die Ausrichter besondere Anstrengungen unternehmen. Auch Australien hat seine politischen Kräfte und finanziellen Mittel für die Heimspiele erheblich gesteigert - sogar in Sportarten, die im Nationalstolz nicht an allererster Stelle stehen. Doch die Kehrseite der Medaillen, die zum Beispiel die australischen Schützen sammeln, ist jetzt schon schwarz auf weiß zu sehen: Aus dem Ausland angeheuerte Trainer haben schon vor der Schlussfeier ihre Kündigungen auf dem Tisch. Das hat System - aber auf Dauer sicher keinen Erfolg. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. 9. 2000)
Olympia-Tourist?
Könnte aber auch sein, dass manchen Olympiateilnehmer das schlechte Abschneiden nicht sonderlich bekümmert und er sich lie-ber am Abenteuer Australien erfreut. Marc Blume, der, nun ja, Sprinter, hat solcherart olympischen Wahrscheinlich-Tourismus schon verinnerlicht. 10,42 Sekunden lief er über 100 Meter, schied damit im Vorlauf aus. Nicht absichtlich, sicher nicht. Dass er Lust gehabt hätte, wenigstens ins Halbfinale vorzustoßen, war ihm al-lerdings auch nicht anzumerken. Er hat seinen Job gemacht, er hat ihn erledigt, jetzt hat er frei. Job, das wäre auch eine mögliche Antwort. Die Sportler haben einen Job, aber sie machen ihn, als müssten sie zur Schicht. Viel Spaß an der Arbeit scheinen sie der-zeit nicht zu haben.
(Tagesspiegel, 24.9.2000)
Des Präsidenten Weisheit
In der „Süddeutschen Zeitung“ hatte Ralf Schumann kritisiert, dass man die Erfahrungen der DDR negiert hatte. Das muss auch der
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Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der BRD, Walther Tröger, gelesen haben. Der in Potsdam zum Professor Avancierte liess solche Kritik nicht durchgehen. In der „Berliner Zeitung“ las man seine Antwort: „Damit hätte er früher kommen müssen, zum Beispiel vor vier Jahren.“ Und dann behauptete er ohne rot zu wer-den in einer Fernsehsendung, dass die Jugendlichen in der DDR „kaserniert“ worden waren, ohne dass man die Eltern um das Ein-verständnis gebeten hatte.
Aber, aber Herr Professor, muss man dem entgegenhalten, derlei, erzählen in der Regel nur Frau Lengsfeld oder Herr Gauck. Fühlen Sie sich in dieser Gesellschaft wirklich wohl?
Kristin Otto sollte nicht als TV-Reporterin nach Sydney fahren, weil jemand behauptete, in einem Gerichtsverfahren sei eine Akte auf-getaucht, in der die Rede davon war, dass Kristin Otto zu DDR-Zeiten Dopingpillen geschluckt haben soll. Das bewegt die Gemü-ter der Obrigkeiten? Armes Deutschland! Und armer Fernsehzu-schauer, der durch einen hirnlosen Denunzianten beinahe um ei-nen der wenigen fachkundigen Fernsehreporter gebracht wurde. (Die männliche Form soll in diesem Fall deutlich machen, dass sie manchen männlichen Schwadroneur vor dem Mikrofon um Bahnen zurückließ.)
Aber ein Schütze, der seine erste olympische Medaille noch für die DDR holte, wird vom BRD-NOK-Präsidenten gerügt, nicht schon früher darauf hingewiesen zu haben, dass die Nachwuchsarbeit in der Neu-BRD im Vergleich zur Alt-DDR schlecht und vor allem oft nicht bezahlbar ist. Das ist alles, was dem NOK-Präsidenten da einfällt? Vielleicht sollte man ihm mal eine Statistik schicken, wie viel der Sydney-Medaillengewinner durch das Nachwuchssystem der DDR entdeckt worden waren? Der Behauptung, die DDR hätte das alles nur getan, um zu Medaillen und internationalem Ansehen zu gelangen, ist mit der simplen Frage zu begegnen, was denn derzeit das Motiv der BRD ist, die Minderzahl von Medaillen zu beklagen?
(Unsere Zeit, 29.9.2000)
„Doping spaltet“
Weit stärker als bisher bekannt, belastet das Thema Doping die deutsche Olympia-Mannschaft in Sydney. Mehr als ein Drittel der 26 Trainer im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) sind Be-
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schuldigte in Doping-Verfahren gewesen. Dazu zählen der Hür-den-Coach..., der Speerwurf-Fachmann... und Mehr-kampf-Trainer... Die Vorwürfe spalten die Mannschaft in Ost und West - alle Betroffenen stammen aus der Ex-DDR.
In dem ausgerechnet am Eröffnungstag veröffentlichten, noch nicht rechtskräftigen Urteil der Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin gegen die ehemaligen DDR-Sportführer Manfred Ewald und Manfred Höppner, die wegen Beihilfe zur Körperverletzung... verur-teilt worden waren, werden einige der Trainer als Beispiele für Do-ping-Sünder genannt. Der DLV hatte den Einsatz der Belasteten als Olympia-Trainer für unbedenklich erklärt...
(Der Spiegel 25.9.2000)
Vierte Welt
Man kann nicht behaupten, dass der Victoria Park zentral liegt. Die schmucke, grüne Oase mit einem kleinen Schwimmbad in der Mitte befindet sich ein ganzes Stück südlich der Innenstadt von Sydney, dort, wohin sich selten ein Besucher der Stadt verirrt. Dennoch, sagt Canie Isaacs, ist die „Aboriginal Tent Embassy“, ein buntes Zeltlager, das im hinteren Winkel des Parks liegt, „hundertprozen-tig“ ein Erfolg. Während Isabelle Coe, die Organisatorin der Abori-gines-Botschaft, lautstark dafür sorgt, dass alles seinen Gang nimmt, widmet sich Isaacs, ein altgedienter Veteran im Kampf für die Rechte der Ureinwohner, den Medienvertretern, die sich im Park eingefunden haben. So geht das, seit die Botschaft vor zehn Tagen eröffnet wurde, berichtet er stolz.
Etwa 200 Leute bewohnen die Zeltstadt, rund 70 Prozent davon sind Aborigines. Es gibt eine Aboriginal Art „Gallory“ mit nicht ganz billigen Gemälden... und riesigen Fotos einiger Teilnehmer der Ak-tion, die auf darunter befestigten Zetteln von sich und ihrer Unter-drückung als Aborigines erzählen. „Ich habe als Viehtreiber, Schaf-scherer und Eisenbahner gearbeitet“, schreibt der 88-Jährige Uncle Laurie Stewart, „jetzt kämpfe ich, um mein Land zurückzubekom-men.“ Jüngste Untersuchungen haben ergeben, dass Lebenser-wartung und Bildungsniveau der australischen Ureinwohner weit unter dem der nordamerikanischer Indianer liegt „Wir sind nicht dritte, sondern vierte Welt“, schreibt Douglas Dixon. (taz 26.9.2000)
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23 Nationen vertreten
...Heute verrät nur noch Wiradech Kothnys Äußere die thailändi-sche Herkunft. Seine deutsche Großmutter väterlicherseits hat ihn „Willy“ getauft. Im deutschen Olympiateam gibt es viele Willys. 32 von den 428 Mitgliedern sind nicht in dem Land geboren für das sie starten. Ihre Herkunft verteilt sich auf 23 Nationen... Auf der Jagd nach sportlichem Lorbeer für Germany mahlen die Amtsmühlen manchmal eben etwas schneller. Das Innenministerium erlaubt „im Interesse der Bundesrepublik Deutschland“ pro Jahr die Einbürge-rung von zehn Spitzensportlern. Die Fachverbände reichen ent-sprechende Anträge ein, die geprüft und nach Priorität geordnet werden. Auf diese Weise erhielt der seit sechs Jahren in Zweibrü-cken trainierende Weißrusse Andrej Tiwontschik einen deutschen Pass. Schon eine Woche später stellte er einen neuen deutschen Rekord im Stabhochsprung auf... Nichts scheint unmöglich, wie die Geschichte des Fliegengewicht-Ringers Alfred Ter-Mkrtchyan lehrt: Der Weltenbummler wurde in Teheran geboren, 1992, als Russe Europameister für die GUS und ist heute als Zeitsoldat der deut-schen Bundeswehr tätig. Jetzt startet er für Deutschland in Sydney. (Die Welt, 25. 9.2000)
Soldaten im Olympia-Dienst
Gold, Silber oder Bronze auf Tagesbefehl - das wünschen sich wohl die Führungskräfte der deutschen Olympiamannschaft von ih-ren Athleten in Uniform. Doch die düstere Zwischenbilanz in Schwarz-Rot-Gold kann Generalmajor Winfried Dunkel nicht noch mehr aufhellen, als es die Bundeswehr im Dienste des Hochleis-tungssports bei den Jahrtausendspielen ohnehin schon getan hat. „Ich bin schließlich nicht für die Medaillen verantwortlich“, versi-cherte der Chef des Streitkräfteamtes im Bundesverteidigungsmi-nisterium, ehe er mit einigem Soldatenstolz doch auf, eine Menge Volltreffer verwies: „Immerhin sind in Sydney schon zehn Medaillen an Sportler gegangen, die durch die Bundeswehr finanziert wer-den.“ Der Dienstherr von insgesamt 740 Spitzensportlern, von de-nen 430 in den Sommersportarten aktiv sind, hat den aktuellen Er-folgsanteil rasch ausrechnen lassen: „110 Bundeswehrangehörige sind hier im Einsatz, sie stellen 25 Prozent der Mannschaft - und haben bisher 37 Prozent der Medaillen gewonnen.“
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Überproportional erfolgreich tritt also das kleine Heer der Unifor-mierten auf, die während der Olympischen Spiele den deutschen Adler nicht auf einer so schnittigen Kluft wie der Herr Generalmajor tragen, sondern auf ihrem legeren sportlichen Dress. Mit ähnlichem Selbstbewusstsein und vergleichbarer Zufriedenheit, wie die Ober-gefreite Amelie Lux und der Stabsunteroffizier Marc Huster bestäti-gen. Die Surferin und der Gewichtheber haben jeweils Silber geholt und dienen der Bundeswehr wie dem Sport mit Gewinn... Der Bun-desverteidigungsminister lässt sich nicht lumpen und listet aus sei-nem Etat rund 45 Millionen Mark für die jährlichen Gehälter der Sportler auf. „Das soll, zunächst einmal bis 2001, auch beibehalten werden“, verspricht Winfried Dunkel im Namen von Rudolf Schar-ping, der sich allerdings, gemeinsam mit Manfred von Richthofen, dem Präsidenten des Deutschen Sportbundes (DSB), auch Ge-danken machen müsse, „wo man denn etwas einsparen kann“... Bei Beförderungen sollen sportliche Erfolge nicht die militärische Qualifikation ersetzen. „Es kann nicht angehen, dass einer nach zehn Jahren immer noch Obergefreiter ist.“ Haupt- oder Oberfeld-webel, das sei schon wünschenswert, und dieser Aufstieg lasse sich immer noch gut mit den sportlichen Ambitionen vereinbaren... Darauf, dass der militärische Dienst nicht als Alibi-Beschäftigung ganz ins Wasser fällt, achten die Leiter der 25 Sportfördergruppen. „Die Bundeswehr ist keine Hängematte“, sagt Dunkel und kontert damit den versteckten Vorwurf, dass sich schon so manches sport-liche Talent in den Kasernen verloren habe, weil zwischen Dienst und Training verführerisch viel Freizeit untergebracht werden kann - für Zweitjobs und Drittbeschäftigungen... einen Extra-Medail-lenspiegel, wie ihn die größte Tageszeitung im Wintersportland Thüringen etwa druckt, lehnt Dunkel generell ab... Ein bisschen ist der Herr Generalmajor auch stolz, dass sich seine Leute mit dem Bund nun ähnlich identifizieren, „wie das jeder bei IBM, Daim-ler-Chrysler oder Bayer tut“. Und so hat er kurz vor der Abreise noch Weisung erlassen, tausend Sticker zu drucken. Es sind einfa-che, billige Sticker, auf denen Bundeswehr draufsteht und das symbolisierte eiserne Kreuz. Jede(r) hat fünf davon bekommen, weil die selbsthaftenden Aufkleber leicht abfallen und verloren ge-hen. Die plastifizierte Version mit den Sicherheitsnadeln erinnert dafür mehr an Vertreter-Schulungen. Doch sie tragen sie tapfer.
(Der Tagesspiegel, 27.9.2000)
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Teamgefühl vermisst
Bahnrad-Doppelolympiasieger Robert Bartko und Schwimmerin Franziska van Almsick haben die Zerschlagung des DDR-Sportsystems mit für die Misserfolge in Sydney verantwortlich gemacht. Es seien „zehn Jahre verschenkt worden“, beklagten die beiden aus Ostdeutschland stammenden Athleten in einem ge-meinsamen Interview mit der Hamburger Zeitung „Die Woche“.
Bartko: „Wenn man den Leistungssport abschaffen will, dann ist man auf dem richtigen Weg. Der Staat tut ja was für den Sport, aber nicht für den Leistungssport.“
Jetzt merke man plötzlich, „unsere Kinder- und Jugendsportschu-len waren gar nicht so schlecht“, sagte Franziska van Almsick. Die Berlinerin, die in Sydney auf den Einzelstrecken scheiterte und mit Bronze in der Staffel zufrieden sein musste, vermisst das Teamge-fühl. „Man war zum Zusammenhalt erzogen worden, musste als Mannschaft essen gehen, als Mannschaft die Schwimmhalle ver-lassen.“ Heute mache „jeder sein Ding“. „Ich hätte vielleicht längst meinen ersehnten Olympiasieg gefeiert, weil ich in der DDR nicht mit dem Druck des öffentlichen Lebens hätte klarkommen müssen, den ich nicht ignorieren kann“, sagte die 22-Jährige weiter.
Harte Kritik übte Bartko an dem wegen Dopings von den Spielen in Sydney ausgeschlossenen Langstreckenläufer Dieter Baumann. „Er hat jahrelang gegen den Ostsport gekämpft, jetzt ist er selbst erwischt worden. Ich gebe ihm die Schuld an vielen Sport-ler-Schicksalen, er hat viele kaputt gemacht. Die hatten wegen ihm nicht mal die Chance, sich zu verteidigen“, sagte Bartko, „jetzt nimmt er Dinge für sich in Anspruch, die er anderen nicht gewährt hat.“ Baumann solle sich „bei all diesen Sportlern entschuldigen und endlich mit seiner Leidensgeschichte aufhören“.
(dpa, 27.9.2000)
Auch noch dies
Es gibt - besonders während der Olympischen Spiele Meldungen, die gibt es gar nicht. Kurios, irgendwie anders - fast am Papierkorb der Redaktionsstube gelandet. Aber eben nicht ganz. Zum Beispiel diese hier: Verärgert war IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch über den Liegeplatz des Kreuzfahrtschiffs „Crystal Harmony“ im Hafen von Sydney. Der Luxusliner versperrte ihm die freie Sicht
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aus seiner Suite im Regent Hotel auf das Opernhaus. Die feudale Yacht, die IBM-Chef Louis Gerstner gehört, wurde daraufhin an ei-nem anderen Platz vertäut.
(Berliner Morgenpost, 28.9.2000)
Pleite der Boxer
Europameister Adnan Catic versteckte sich in der Kapuze seines Box- Mantels und verschwand wortlos aus der Halle. Das bittere Viertelfinal-Aus des hoch gehandelten Leverkuseners im Halbmit-telgewicht, der mit dem Hamburger Universum-Boxstall in Verbin-dung gebracht wird, machte die olympische Pleite der deutschen Boxer perfekt. Mit nur einer Medaille, vielen Enttäuschungen und der schlechtesten Bilanz seit 1984 fliegt die achtköpfige Staffel nach Hause. „Zaubern können wir auch nicht“, bilanzierte der sicht-lich frustrierte Bundestrainer Helmut Ranze nach der 14:19-Punktniederlage seines Medaillenkandidaten Catic gegen den US-Amerikaner Jermain Taylor: „Wir haben eben nicht die Mannschaft von 1992 oder 1996.“ in Barcelona und Atlanta hatten die Deutschen je vier Medaillen gewonnen, davon in der katalani-schen Metropole durch Andreas Tews (Feder) und Torsten May (Halbschwer) sogar zweimal Gold.
In Sydney reicht es nur zu einmal Bronze... Nur 1984 in Los Ange-les und 1960 in Rom gab es die gleiche magere Ausbeute.
„Wir haben seit 1996 16 Weltklasseleute an die Profis verloren. Ei-nen solchen Verlust kann man nicht ausgleichen“, erklärte Ranze. Ein ähnlicher Aderlass ist in den kommenden Jahren wohl nicht zu befürchten. Helmut Ranze: „Bei kleinerem Erfolg wird der Abgang zu den Profis wohl geringer.“
(sid/Hamburger Abendblatt, 28.9.2000)
Acht Millionen für Gold?
Als lan Thorpe nach seinem ersten olympischen Goldstück zur Siegerehrung schritt, ließ er sich schnell noch die australische Flagge reichen. Auf den ersten Blick sah das über die Schulter ge-worfene Banner wie eine Huldigung an die Heimat aus. In Wirklich-keit war die Verhüllung ein cleverer Werbeschachzug. Weil das australische Team vom US-Hersteller Nike ausgerüstet wird, ver-deckte der „Thorpedo“ mit der Landesflagge auch ein für ihn wenig
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lukratives Logo auf seinem Trainingsanzug. Schließlich ist Adidas sein persönlicher Sponsor - und in deren Schwimmanzug durfte-Thorpe nun mal nicht aufs Podest.
Die Sportartikel-Giganten liefern sich auf der Bühne Olympia längst mehr als einen „Krieg der Schuhe“ (‘Atlanta Journal’). Beim Kampf um Marktanteile und Absatzmärkte ist jedes Mittel recht. In Afrika und Asien, so munkeln Insider, sollen Funktionäre bestochen wor-den sein, um einen Ausrüstervertrag mit ihrem Olympia-Team auf den Weg zu bringen. „Es ist ein brutaler Kampf“, gab Nike-Boss Phil Knight schon vor Jahren zu. „Jeder will die Nummer eins wer-den. Gold ist für die Firma eine Menge Dollar wert.“
Trotz des schwächelnden US-Markts investieren die beiden Riesen für den Spitzenplatz im Powerplay mehr als 70 Millionen Mark al-lein für ihre Werbekampagnen. Mit Forschungskosten für die futu-ristischen Rennanzüge und Schuhverbesserungen, Sponsoring-ausgaben und Athletenprämien steigt diese Summe pro Firma auf mehr als 100 Millionen Mark. „Olympia ist ein Riesenschaufenster, neben der Fußball-WM das größte. Es ist ein Zweikampf zwischen Nike und uns, aber wir sind nicht austauschbar. Zwischen uns be-stehen große Unterschiede“, erklärt Adidas- Sprecher Jan Runau.
Das deutsche Unternehmen richtete sich in der 110 Jahre alten Sydney Church of England Grammar School ein, einem feudalen Gelände mit Swimmingpool, Tennisplatz und Postkartenblick auf Harbour-Bridge und Opernhaus. Nike setzt auf Funktionalität. Das Olympia-Hauptquartier ist ein schlichtes Bürogebäude in der Holker Street, fünf Gehminuten vom Athletendorf entfernt. Ein Barhocker auf einer kleinen Bühne mit schwarzem Vorhang - fertig ist die Ku-lisse für die Präsentation der Stars. Die Athletenshows werden mit einer Webcam aufgezeichnet und sind nur kurze Zeit später via In-ternet zu sehen. „Nike macht Hollywood, und wir kümmern uns um den Sport“, stichelt Runau und verkündet stolz, dass sein Arbeitge-ber mit Ausnahme von Segeln und Reiten in 26 der 28 olympi-schen Sportarten vertreten sei.
Die Erzrivalen statten 6000 Olympia-Teilnehmer aus, und beide brüsten sich damit, die besseren Athleten unter Vertrag zu haben. Das Teuerste ist dafür gerade gut genug. Die goldenen Spikes von Johnson haben eine Legierung aus 24-karätigem Gold, Thorpes künstliche Zweithaut besteht aus einem speziell entwickelten Ly-cra-Power-Material. Aufsehen erregen um jeden Preis, denn
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schließlich geht es für alle Beteiligten um viel Geld - auch dank leistungsbezogener Verträge. Die Athleten kassieren bei Gold in der Regel einen Bonus von etwa 120 000 Mark. Bei Weltrekorden winken Sonderprämien bis zu einer halben Million Mark. Dass Ni-kes Umsatz vergangenes Jahr erstmals seit 1994 rückläufig war und auch die Adidas-Aktie eine Talfahrt erlebte, heizt den Wett-kampf an. „Wir kommen wieder. Ein langsames Comeback ist bes-ser als gar keins“, prophezeit Konzernchef Knight... 17,5 Milliarden Mark setzte seine Firma im Vorjahr um, knapp sieben Milliar-den mehr als Adidas. „Unser Auftritt ist deutlich spritziger und ju-gendlicher geworden. Das wird sich auszahlen“, prophezeit Runau. Nutznießer des Kräftemessens sind die Top-Athleten.
Thorpes Manager David Flaskas schätzt das Potenzial eines Olympia- Siegs auf bis zu acht Millionen Mark. (Focus, 22.9.2000)
Fernseh-Erwägungen
Auf der Mailbox der Pressestelle von NK Sports behauptet die nette Frauenstimme schon seit Tagen „wegen dringender Ge-schäftstermine“ partout keine Zeit zu haben: „Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. Wir melden uns sofort zurück.“ Von wegen: Die Öf-fentlichkeitsarbeiter des amerikanischen Fernseh-Giganten haben in diesen traurig-tristen Olympia-Tagen keinen nachhaltigen Ge-sprächsbedarf. „Nach einem Hagel von beißender Kritik über seich-te Seifenopern statt wirklichem Sport“ („Los Angeles Times“), ver-zögerter Berichterstattung und abstürzenden Einschaltquoten wie nie zuvor, haben die NBC-Leute vor Ort die Schotten dicht ge-macht. Der sonst selbstherrlich und arrogant auftretende Fernseh-trupp schleicht, kein Wunder nach den Prügeln daheim, kleinlaut durch Stadien und Hallen... Die schon vor den Spielen hart kritisier-te Strategie, die live-Ereignisse mit bis zu zehnstündiger Zeitverzö-gerung auf den Bildschirm zu bringen, endete mit einer der größten Bauchlandungen in der Sendergeschichte. „Es ist Olympia - aber niemand schaut hin bei NBC: An manchen Tagen fielen Marktan-teile und Einschaltquoten um über 50 Prozent gegenüber den Heim-Spielen von Atlanta. Amerikanische Journalisten berichten, dass eine Krisensitzung die andere bei NBC jagt... Nur die „To-day“-Show des Senders, die live aus Sydney ausgestrahlt wird,
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verzeichnet annehmbares Besucherinteresse. Dort werden nämlich, „unglaublich, aber wahr“, wie die „New York Times“ lästerte, tat-sächlich einzelne olympische Entscheidungen direkt ausgestrahlt. Allerdings nicht ohne den dezenten Hinweis an das Publikum, den Ton abzuschalten, falls man geschlagene zehn Stunden später noch einmal den vollen Wettkampfablauf, etwa in der Leichtathletik, sehen wolle... Schon melden sich Werbekunden, die millionen-schwere Rabatte einklagen, weil NBC, einer der drei TV-Riesen, sein... Versprechen nicht eingehalten hat... Die niedrigsten Markt-anteile seit den Olympischen Spielen in Mexiko 1968 haben bereits zu Spekulationen geführt, dass das größte Sportspektakel der Welt künftig so schnell nicht mehr in eine Stadt der südlichen Hemisphä-re vergeben werde. In eine Stadt die dem amerikanischen Markt mit einer ungünstigen Zeitverschiebung schaden könnte. „Wer be-zahlt, bestimmt“, sagt ein deutscher Fernsehmann... Der australi-sche IOC-Vize Kevan Gosper verwies Gerüchte, NBC werde allen erdenklichen Druck auf die obersten Olympier ausüben, auch wei-tere Standorte in eine US-genehme Zeitzone zu legen, zwar „ins Reich der Fabel“. Doch selbst ein Topmann von Sydneys Organi-sationskomitees sagt: „Wenn NBC gewusst hätte, welchen Reinfall es hier erleben würde, wäre Sydney nie Olympiastadt geworden.“
(Der Tagesspiegel, 29.9.2000)
Dorf-Idylle
Zuletzt wurde Grahain Richardson immer häufiger mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Dann steht irgendeiner von den 16780 Bewohnern des olympischen Dorfes, meist in beschwingtem Zustand, vor seiner Tür und erzählt ihm von der jüngsten Tour durch die Gastronomie der Olympiastadt. Von seinen männlichen Gästen bekommt der Bürgermeister dabei erstaunlich oft die Ge-schichte vom verlorenen Ausweis zu hören. „Die kommen an und sagen, sie hätten einer Dame ihre Akkreditierung um den Hals ge-hängt und nachher vergessen, sie wieder einzusammeln.“ Sicher-lich eine nette Story. Die Identität des Berichterstatters muss der 51-Jährige dennoch prüfen.
Mehr Probleme bereitet dem Radiomoderator die Entsorgung von Spritzen. Haufenweise liegen die Dinger in den Zimmern der Athle-ten herum. Überall finden die Reinigungskräfte morgens benutzte Nadeln. „Auf Tischen, auf dem Boden oder in normalen Müllei-
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mern“, zählt Richardson auf... „Meistens sprechen die Arzte von Vi-tamininjektionen, und ich habe keinen Grund, das anzuzweifeln.“... Vier Nationen erwiesen sich im Umgang mit dreckigen Nadeln als besonders nachlässig. Auf Druck des Dorfvorstehers hin haben sie ihre sündigen Sportler vorzeitig nach Hause geschickt. Die Namen dieser Länder will der Dorfvorsteher allerdings nicht verraten.
Mit einer Ausnahme. „Was herumliegende Nadeln angeht, hält Bulgarien den Rekord“, stellt Richardson die Osteuropäer an den Pranger. „Da liegen sie weit in Führung.“ Alle anderen Teams „spielen nicht in einer Klasse mit den Bulgaren. Deswegen halte ich es nicht für fair, sie zu nennen.“ Und bei Sicherheit und Sauberkeit verstehen die Australier keinen Spaß: Das bulgarische Quartier wird seit ein paar Tagen nicht mehr geputzt, wobei Hand- und Bett-tücher immer noch gewaschen werden können. „Nur nicht von uns, das müssen sie schon selbst machen.“
Genau umgekehrt wie mit den Spritzen läuft es mit den Verhü-tungsmitteln: Sie liegen nicht herum, sondern verschwinden. Trotz enormer Vorräte herrscht angeblich seit einigen Tagen schon Kon-dom-Notstand im olympischen Dorf. Graham Richardson freilich mag das nicht recht glauben. „Soweit ich das verfolgen kann, gibt es nicht allzu viele Nachweise von offenem Geschlechtsverkehr“, berichtet er offenherzig aus seinem Reich. „Wenn sie es machen, dann tun sie es mit großer Diskretion.“
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.9.2000)
In der „Breite die Spitze“
Am Samstag abend kommt Otto Schily, als Bundesinnenminister auch „Sportminister“, doch noch zu einem Kurzbesuch bei der deutschen Olympiamannschaft nach Sydney. Weil dadurch und durch die Vorbereitungen für Schlußfeier und Auszug aus dem Olympischen Dorf die Zeit knapp wird, hat das Nationale Olympi-sche Komitee (NOK) schon am Freitag Bilanz gezogen - wissend oder zumindest hoffend, daß am Wochenende die Zahl der Medail-len noch wachsen wird. „Es sind nicht alle Erwartungen in Erfüllung gegangen“, sagte NOK-Präsident Walther Tröger, und er mahnte dann die „gemeinsame Verantwortung für die Fehler und die positi-ven Dinge an“. Tröger will verhindern, daß aus den nach Olympia notwendigen tiefgreifenden Analysen bloß gegenseitige Schuldzu-
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weisungen werden, die verletzen, aber nichts und niemanden vo-ranbringen. „Wir haben in der Breite der Spitze eine Fülle“, formu-lierte er in unnachahmlicher Weise...
Nach den ersten Tagen, so sah es das Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), sei „die Heimat aufgehetzt worden, auch durch Äußerungen aus den eigenen Reihen“. Tröger machte jedoch zugleich die Medien („Manches war unter der Gürtellinie“) mitverantwortlich für die schlechte Stimmung in der Öffentlichkeit. Man dürfe einer Mannschaft „erst am Ende das Vertrauen entzie-hen“, wenn die Schlußbilanz nicht zufriedenstellend sei... Insge-samt sah Tröger aber, von den gescheiterten Schützen und Schwimmern abgesehen, „guten Durchschnitt“.
Klaus Steinbach, erstmals Chef de Mission bei Olympischen Spie-len, lobte die Mannschaft. Es gebe wohl auf der Welt kein Land, meinte der Orthopäde, in dem so auf die Athleten “eingeprügelt“ werde, wenn Medaillen ausblieben. Steinbach konnte sich aller-dings den Hinweis nicht verkneifen, daß manche Sportler ihre Chancen dadurch aufs Spiel setzten, weil sie zu viel ans Geldver-dienen denken würden. „Nicht die Athleten mit den besten Mana-gern zeigen die besten Leistungen. Athleten, die hungrig sind, ich meine nicht nach Geld, haben für mich die besten Erfolgsaussich-ten.“
Tröger machte für deutsche Einbrüche „personelle Probleme in ei-nigen Verbänden“ aus, ging aber wie gewohnt nicht ins Detail. Die ehrenamtliche Verbandsführung „mit hauptamtlichen Achsen“ ar-beite nicht überall konzentriert genug, sei oft von Zufällen geprägt. Diese Rüge brachte Tröger ausdrücklich „pauschal“ an. Der NOK-Präsident wünscht sich, daß in Zukunft die „Betreuungsfunktion“ der Verbände wieder gestärkt und ihnen so neben der Wirtschaft und den allgegenwärtigen Athletenmanagern mehr Profil verschafft wird. „85 Prozent unserer Sportler sind auf das angewiesen, was die Verbände an Förderung zu bieten haben.“ Tröger ist zuversicht-lich, daß die nach der IOC-Krise spürbar zurückhaltende Wirtschaft bald wieder verstärkt den Spitzensport unterstützen wird.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.9.2000)
Professoren-Auskünfte
Interview mit Helmut Digel (56), Kritiker der Leistungs-Fetischisten, Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes.
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SZ: Herr Digel, ist Medaillenzählen spießig - oder gar nationalis-tisch?
Digel: Leute, die das behaupten, kann ich teilweise verstehen. Aber in einer Welt, die sich immer mehr globalisiert, wird diese Gegen-bewegung, die sich im Medaillenzählen äußert, immer stärker. Es wurde noch nie so stark die Region und die Nation beachtet wie jetzt. Problematisch wird es erst, wenn nur noch die Goldmedaille zählt...
SZ: Aber sind denn nicht auch deutsche Sportfunktionäre in dieser Haltung - es zählt nur Gold - gefangen?
Digel: Ich denke schon...
SZ: Selbst NOK-Präsident Tröger sagt, es müsse einen Grund ge-ben, warum so viele Athleten zwar Medaillen, aber keine goldenen gewinnen.
Digel: Solche pauschalen Bewertungen machen wenig Sinn. Ich will nur über die Leichtathletik sprechen. Wenn Lars Riedel Gold gewonnen hätte, dann wäre man zufrieden gewesen. Weil er Silber gewonnen hat, zählt diese Leistung nichts mehr? ... Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Entwicklung des deutschen Sports absehbar war. Die Bundesrepublik war vor 1990 nicht die bedeu-tende Sportnation. Nach der Vereinigung konnten wir Athleten und Trainer übernehmen und auch Strukturen, die noch eine gewisse Fernwirkung hatten. Aber wir haben es nicht geschafft, ein eigenes System aufzubauen. Das DDR-System konnte man auf eine freie Gesellschaft nicht übertragen. Aber das Know-how hätte man er-halten müssen...
(Süddeutsche Zeitung, 30.9./1.10.2000)
Fazit?
C. J. Hunter, amerikanischer Kugelstoßer, Nandrolon,... Adrian Ma-teas, rumänischer Gewichtheber, Nandrolon; und so weiter und so weiter. Bis zum Ende dieser Seite ließen sich die Zeilen füllen mit Sportlern, die während oder im Laufe der Olympischen Spiele er-tappt wurden. Man hat dann allerdings lediglich die Dümmsten auf-gezählt, die sich haben erwischen lassen beim Pfuschen.
Die australischen Sportler zum Beispiel - keiner von ihnen findet sich auf den Sünderlisten - dopen am geschicktesten, hat der aust-ralische Leichtathlet Werner Reiterer in einem Buch behauptet. Man kann das als verkaufsfördernde Effekthascherei abtun. Man
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kann sich aber auch die Zeiten anschauen, die lan Thorpe, der dreimalige Goldmedaillengewinner schwimmt, man kann auch nachschlagen, wo der australische Sport historisch im weltweiten Vergleich stand und wo er heute steht. Dann kann man zu dem Schluss kommen, dass Werner Reiterer vermutlich Recht hat. Man kann ähnliche Überlegungen mit dem holländischen Sport anstel-len oder mit dem italienischen. Man kann auch Franziska van Almsicks 1994 in Rom - in einer Phase chinesischen Hochdopings - aufgestellten Schwimm-Weltrekord hernehmen und dann verdutzt sein, dass er immer noch Bestand hat. Man kann dann auch zu dem Schluss kommen, dass Doping offensichtlich weltweit zum Sport gehört wie Sieger und Verlierer.
Und? Hat es irgendjemand gestört in den vergangenen 16 olympi-schen Tagen? Tagtäglich haben Australiens Zeitungen und Fern-sehstationen Namen von weiteren erwischten Tätern veröffentlicht. Doch an der guten Laune haben all die Meldungen aus dem schmutzigen Sport nicht kratzen können. Die Spiele der XXVII. Olympiade waren ein grandioses Fest, ein heiteres, fröhliches Spektakel... unter all den Abermillionen Zuschauern auf den Tribü-nen und vor den Fernsehern, werden nur die allergrößten Ignoran-ten glauben, etwa Cathy Freeman, Australiens Goldmedaillenge-winnerin und Symbolfigur für die Aussöhnung mit den Aborigines, sei drogenfrei...
(Der Tagesspiegel, 1.10.2000)
Medaillenrechnerei
Ideen haben die Leute! Es sind aber unsere Leser und der Chefre-dakteur meinte, der Leser sei König. Ich bin zwar gegen jegliche Monarchie, aber in diesem Fall nahm ich Haltung an, schnappte mir Tabellen, einen Schreibblock, meinen Taschenrechner und fuhr an den Strand, den man natürlich hier Beach nennt. Die Vorge-schichte: Drei Leser aus Göttingen hatten angerufen und gefragt, wann sich denn die „junge Welt“ endlich aufrafft, eine Tabelle zu bringen, der man entnehmen kann, wie viel Medaillen eigentlich die Athleten aus den alten Bundesländern bisher in den Topf der deut-schen Einheit einbrachten und wie viel die in der DDR Geborenen und Aufgewachsenen. Sie hatten kein sonderlich überzeugendes Argument für diese Frage an die Redaktion, aber es war auch nicht ganz von der Hand zu weisen: Harald Schmidt, dieser Vorstadtpos-
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senreißer soll - so teilte man mir mit - in seiner Sendung, die er gern Comedy-Show nennt, eine Tabelle vorgezeigt haben, die die DDR zwar nicht auf einem Spitzenplatz führte, aber immerhin weit vor der BRD. Also hockte ich mich in den Sand und hantierte mit meinem Rechner, obwohl rundum weit attraktiveres zu sehen war, als die flimmernden Zahlen auf meinem Mini-Schirm. Eine kam vo-rüber, die mich grübeln liess, ob die Zeitung mich arbeitsrechtlich belangen könnte, wenn ich aufstehen und ihr hinterherschlendern würde. Wie das so ist: Man übt Disziplin, weil man es aus der lau-sigen DDR gewohnt ist.
Als ich meine mathematischen Operationen begann, rangierte Deutschland mit neun Goldmedaillen zwischen Rumänien und den Niederlanden. Dafür lagen wir aber bei den Bronzemedaillen mit 20 an dritter Stelle hinter den USA (26) und Russland (21) und daran kann man erkennen, wie wichtig es ist, die richtigen Statistiken auch richtig unter die Leute zu bringen. Wir wollten in Sydney Dritter wer-den - bei Bronze haben wir es schon geschafft!
Meine Untersuchungen ergaben, dass wir für die Operation „Bron-ze“ allerdings auch 51 Athleten einsetzen mussten. Allein 18 Fuß-ballspielerinnen wurden für eine Bronzemedaille benötigt und da beginnen die Probleme: Von den 18 jungen Frauen kommt nur eine aus den neuen Bundesländern, nämlich von Turbine Potsdam. Da taucht natürlich als erstes die Frage auf, wann man sich in Pots-dam endlich von dem Namen trennt, dem auf den ersten Blick die DDR-Vergangenheit anzusehen ist. Aber ich hatte mich schließlich nicht mit politischen Aufräumarbeiten im Vorfeld des Tages der Einheit zu befassen, sondern mit mathematischen Überlegungen. Olympia ist nicht nur reines Vergnügen.
Zurück zur Sache: An dieser Bronzemedaille war der Sport mit der DDR-Vergangenheit also nur mit 5,5 Prozent beteiligt und das woll-ten die Göttinger sicher gar nicht von mir erfahren. Denen hoffe ich mit den Goldmedaillen eine kleine Freude bereiten zu können: Von den neun holten sich drei DDR-Athleten je eine, dann kommen noch drei weitere hinzu, die ein Zweier-Ruderboot, ein Vierer und die Vie-rermannschaft auf der Radrennbahn eroberten. Das sind immerhin zwei Drittel und für die drei restlichen mussten die alten Bundeslän-der vier Dressurreiterinnen, vier Jagdreiter und einen Kanuten auf-bieten. Ziemlich personalaufwändig. Bei den Silbermedaillen lautet das Verhältnis 6,5:5,5 aber ich fand keine Lösung, wie ich den Tri-
33
athleten Vuckovicz einordnen sollte. Der Mann hat zwei DDR-Trainer und zwar den Mann, der Kathrin Krabbe zu seinen Trium-phen führte und Lutz Wanja, der nicht nur ein guter Schwimmer, sondern auch ein erfolgreicher Trainer war. Wohin gehört diese Me-daille nun?
Als die Dame das dritte Mal vorbeikam und mich fragte, ob ich den ganzen Tag zu tun hätte, warf ich meine Zettel und den Rechner in die Badetasche und versicherte, ich sei eben fertig geworden. Die Göttinger werden zufrieden sein, die unverbesserlichen DDR-Sportanhänger können es sein und ich war es am Ende auch. (Junge Welt, 30.9.2000)
34
RESULTATE
Vergleichstabellen in allen Sportarten
2000 - 1996
LAND
G
S
B
Total
LAND
G
S
B
Total
2000
1996
BADMINTON (5 Entscheidungen)
China
4
1
3
8
Südkorea
2
2
1
5
Indonesien
1
2
0
3
Indonesien
1
1
2
4
Südkorea
0
1
1
2
China
1
1
1
3
Dänemark
0
1
0
1
Dänemark
1
0
0
1
Großbritan.
0
0
1
1
Malaysia
0
1
1
2
BASEBALL (1 Entscheidung)
USA
1
0
0
1
Kuba
1
0
0
1
Kuba
0
1
0
1
Japan
0
1
0
1
Südkorea
0
0
1
1
USA
0
0
1
1
BASKETBALL (2 Entscheidungen)
USA
2
0
0
2
USA
2
0
0
2
Australien
0
1
0
1
Brasilien
0
1
0
1
Frankreich
0
1
0
1
Jugoslawien
0
1
0
1
Brasilien
0
0
1
1
Australien
0
0
1
1
Litauen
0
0
1
1
Litauen
0
0
1
1
BEACH-VOLLEYBALL (2 Entscheidungen)
Australien
1
0
0
1
Brasilien
1
1
0
2
USA
1
0
0
1
USA
1
1
0
2
Brasilien
0
2
1
3
Australien
0
0
1
1
Deutschland
0
0
1
1
Kanada
0
0
1
1
BOGENSCHIESSEN (4 Entscheidungen)
Südkorea
3
1
1
5
Südkorea
2
1
1
4
Australien
1
0
0
1
USA
2
0
0
2
35
USA
0
1
1
2
China
0
1
0
1
Italien
0
1
0
1
Deutschland
0
1
0
1
Ukraine
0
1
0
1
Schweden
0
1
0
1
Deutschland
0
0
1
1
Italien
0
0
1
1
Niederlande
0
0
1
1
Polen
0
0
1
1
Ukraine
0
0
1
1
BOXEN (12 Entscheidungen, je 2 Bronzemedaillen)
Kuba
4
0
2
6
Kuba
4
3
0
7
Rußland
2
3
2
7
Bulgarien
1
2
0
3
Kasachstan
2
2
0
4
Kasachstan
1
1
2
4
Usbekistan
1
0
2
3
USA
1
0
5
6
Frankreich
1
0
1
2
Rußland
1
0
3
4
Thailand
1
0
1
2
Algerien
1
0
1
2
Großbritan.
1
0
0
1
Thailand
1
0
1
2
Ukraine
0
2
3
5
Ukraine
1
0
1
2
USA
0
2
2
4
Ungarn
1
0
0
1
Rumänien
0
1
1
2
Deutschland
0
1
3
4
Spanien
0
1
0
1
Kanada
0
1
0
1
Tschechien
0
1
0
1
Philippinen
0
1
0
1
Aserbaid.
0
0
1
1
Tonga
0
1
0
1
Deutschland
0
0
1
1
Türkei
0
1
0
1
Georgien
0
0
1
1
Südkorea
0
1
0
1
Italien
0
0
1
1
Rumänien
0
0
1
1
Marokko
0
0
1
1
Argentinien
0
0
1
1
Mexiko
0
0
1
1
Spanien
0
0
1
1
Moldawien
0
0
1
1
Nikaragua
0
0
1
1
Ungarn
0
0
1
1
Puerto Rico
0
0
1
1
VR Korea
0
0
1
1
Tunesien
0
0
1
1
Usbekistan
0
0
1
1
FECHTEN (10 Entscheidungen)
Italien
3
0
2
5
Rußland
4
2
1
7
Rußland
3
0
1
4
Italien
3
2
2
7
Frankreich
1
4
1
6
Frankreich
2
2
3
7
Südkorea
1
0
1
2
Rumänien
1
1
0
2
Ungarn
1
0
0
1
Ungarn
0
1
2
3
Rumänien
1
0
0
1
Kuba
0
1
1
2
Deutschland
0
2
3
5
Polen
0
1
0
1
36
Schweiz
0
2
0
2
Deutschland
0
0
1
1
China
0
1
1
2
Polen
0
1
0
1
Kuba
0
0
1
1
FUSSBALL (2 Entscheidungen)
Kamerun
1
0
0
1
Nigeria
1
0
0
1
Norwegen
1
0
0
1
USA
1
0
0
1
Spanien
0
1
1
1
Argentinien
0
1
0
1
USA
0
1
0
1
China
0
1
0
1
China
0
0
1
1
Brasilien
0
0
1
1
Deutschland
0
0
1
1
Norwegen
0
0
1
1
GEWICHTHEBEN (2000:15 Entscheidungen 1996: 10 Ent-scheidungen)
China
5
1
1
7
Griechenland
2
4
0
6
Griechenland
2
2
1
5
China
2
1
0
3
Iran
2
0
0
2
Rußland
2
0
1
3
Bulgarien
1
2
0
3
Türkei
2
0
0
2
USA
1
0
1
2
Ukraine
1
0
0
1
Kolumbien
1
0
0
1
Kuba
1
0
0
1
Kroatien
1
0
0
1
Bulgarien
0
1
2
3
Mexiko
1
0
0
1
Deutschland
0
1
1
2
Türkei
1
0
0
1
Kasachstan
0
1
0
1
Deutschland
0
2
0
2
VR Korea
0
1
0
1
Polen
0
2
0
2
Australien
0
1
0
1
Indonesien
0
1
2
3
Polen
0
0
1
1
Rußland
0
1
1
2
Rumänien
0
0
1
1
Taipeh
0
1
1
2
Südkorea
0
0
1
1
Nigeria
0
1
0
1
Ungarn
0
0
1
1
VR Korea
0
1
0
1
Ungarn
0
1
0
1
Armenien
0
0
2
2
Weißrußland
0
0
2
2
Georgien
0
0
1
1
Indien
0
0
1
1
Katar
0
0
1
1
Thailand
0
0
1
1
HANDBALL (2 Entscheidungen)
37
Dänemark
1
0
0
1
Dänemark
1
0
0
1
Rußland
1
0
0
1
Kroatien
1
0
0
1
Schweden
0
1
0
1
Schweden
0
1
0
1
Ungarn
0
1
0
1
Südkorea
0
1
0
1
Norwegen
0
0
1
1
Spanien
0
0
1
1
Spanien
0
0
1
1
Ungarn
0
0
1
1
HOCKEY (2 Entscheidungen)
Australien
1
0
1
2
Niederlande
1
0
1
2
Niederlande
1
0
1
2
Australien
1
0
0
1
Argentinien
0
1
0
1
Spanien
0
1
0
1
Südkorea
0
0
1
1
Südkorea
0
1
0
1
Australien
0
0
1
1
JUDO (14 Entscheidungen,je 2 Bronzemedaillen)
Japan
4
2
2
8
Japan
3
4
1
8
Frankreich
2
2
2
6
Frankreich
3
0
3
6
Kuba
2
2
1
5
Südkorea
2
4
2
8
China
2
1
1
4
Kuba
1
1
4
6
Italien
1
0
3
4
Belgien
1
1
1
3
Niederlande
1
0
0
1
Polen
1
1
0
2
Türkei
1
0
0
1
Deutschland
1
0
4
5
Südkorea
0
2
3
5
China
1
0
1
2
Brasilien
0
2
0
2
VR Korea
1
0
0
1
Rußland
0
1
2
3
Spanien
0
1
2
3
Großbritan.
0
1
0
1
Italien
0
1
1
2
Kanada
0
1
0
1
Usbekistan
0
1
0
1
Belgien
0
0
2
2
Niederlande
0
0
4
4
Estland
0
0
2
2
Brasilien
0
0
2
2
Australien
0
0
1
1
Georgien
0
0
1
1
Deutschland
0
0
1
1
Mongolei
0
0
1
1
Georgien
0
0
1
1
USA
0
0
1
1
Kirgisien
0
0
1
1
Lettland
0
0
1
1
Portugal
0
0
1
1
Rumänien
0
0
1
1
Südkorea
0
0
1
1
Ukraine
0
0
1
1
Weißrußland
0
0
1
1
38
KANU (12 Entscheidungen Kanu-Rennsport, 4 Kanu-Slalom)
Ungarn
4
2
1
7
Deutschland
5
2
2
9
Deutschland
4
1
3
8
Tschechien
3
2
0
5
Italien
2
0
1
3
Italien
2
2
1
5
Norwegen
2
0
0
2
Ungarn
2
1
3
6
Frankreich
1
1
1
3
Norwegen
1
1
0
2
Slowakei
1
1
1
3
Slowakei
1
1
0
2
Rumänien
1
0
2
3
Frankreich
1
0
2
3
Tschechien
1
0
1
2
Schweden
1
0
1
2
Polen
0
2
1
3
Rumänien
0
1
1
2
Bulgarien
0
2
0
2
Kanada
0
1
0
1
Kuba
0
2
0
2
Lettland
0
1
0
1
Australien
0
1
1
2
Moldawien
0
1
0
1
Kanada
0
1
1
2
Schweiz
0
1
0
1
Großbritan.
0
1
1
2
Slowenien
0
1
0
1
Rußland
0
1
0
1
USA
0
1
0
1
Schweden
0
1
0
1
Bulgarien
0
0
1
1
Israel
0
0
1
1
Polen
0
0
1
1
Rußland
0
0
1
1
LEICHTATHLETIK (1996 - 44 Entscheidungen,
2000 - 46 Entscheidungen)
USA
10
4
6
20
USA
13
5
5
23
Äthiopien
4
1
3
8
Rußland
3
6
1
10
Polen
4
0
0
4
Deutschland
3
1
3
7
Rußland
3
4
5
12
Frankreich
3
0
1
4
Kenia
2
3
2
7
Äthiopien
2
0
1
3
Großbritan-nien
2
2
2
6
Kanada
2
0
0
2
Kuba
2
2
2
6
Kenia
1
4
3
8
Deutschland
2
1
2
5
Jamaika
1
3
2
6
Weißrußland
2
0
3
5
China
1
2
1
4
Griechenland
1
3
0
4
Nigeria
1
1
2
4
Rumänien
1
2
2
5
Polen
1
1
0
2
Australien
1
2
0
3
Südafrika
1
1
0
2
Algerien
1
1
2
4
Tschechien
1
0
2
3
39
Bahamas
1
1
0
2
Finnland
1
0
1
2
Norwegen
1
1
0
2
Norwegen
1
0
1
2
Tschechien
1
1
0
2
Ukraine
1
0
3
4
Bulgarien
1
0
0
1
Algerien
1
0
0
1
China
1
0
0
1
Burundi
1
0
0
1
Estland
1
0
0
1
Ecuador
1
0
0
1
Finnland
1
0
0
1
Norwegen
1
0
0
1
Japan
1
0
0
1
Portugal
1
0
0
1
Kasachstan
1
0
0
1
Schweden
1
0
0
1
Litauen
1
0
0
1
Syrien
1
0
0
1
Mosambique
1
0
0
1
Ungarn
1
0
0
1
Jamaika
0
4
3
7
Großbritannien
0
4
2
6
Italien
0
2
0
2
Weißrußland
0
2
2
4
Nigeria
0
2
0
2
Italien
0
2
2
4
Marokko
0
1
3
4
Namibia
0
2
0
2
Südafrika
0
1
2
3
Australien
0
2
0
2
Mexiko
0
1
1
2
Kuba
0
1
1
2
Trinidad
0
1
1
2
Bahamas
0
1
0
1
Brasilien
0
1
0
1
Griechenland
0
1
0
1
Dänemark
0
1
0
1
Rumänien
0
1
0
1
Irland
0
1
0
1
Sambia
0
1
0
1
Lettland
0
1
0
1
Slowenien
0
1
0
1
Österreich
0
1
0
1
Spanien
0
1
1
2
Saudi-Ar.
0
1
0
1
Südkorea
0
1
0
1
Ukraine
0
0
2
2
Marokko
0
0
2
2
Barbados
0
0
1
1
Trinidad
0
0
2
2
Island
0
0
1
1
Brasilien
0
0
1
1
Portugal
0
0
1
1
Mexiko
0
0
1
1
Schweden
0
0
1
1
Mosambique
0
0
1
1
Spanien
0
0
1
1
Österreich
0
0
1
1
Sri Lanka
0
0
1
1
Japan
0
0
1
1
Uganda
0
0
1
1
MODERNER FÜNFKAMPF (2 Entscheidungen)
Großbritan.
1
0
1
1
Kasachstan
1
0
0
1
Rußland
1
0
0
1
Rußland
0
1
0
1
Ungarn
0
1
0
1
Ungarn
0
0
1
1
USA
0
1
0
1
40
Weißrußland
0
0
1
1
RADSPORT (1996-14 Entscheidungen,
2000-18 Entscheidungen)
Frankreich
5
2
1
8
Frankreich
5
3
0
8
Deutschland
3
4
3
10
Italien
4
1
0
5
Niederlande
3
1
0
4
Spanien
1
1
1
3
Australien
1
2
3
6
Niederlande
1
1
1
3
Großbritan.
1
1
2
4
Rußland
1
1
0
2
Rußland
1
1
2
4
Schweiz
1
1
0
2
USA
1
1
1
3
Deutschland
1
0
1
2
Italien
1
0
1
2
Kanada
0
2
3
5
Spanien
1
0
1
2
USA
0
2
3
5
Belgien
0
2
0
2
Australien
0
1
4
5
Schweiz
0
1
1
2
Dänemark
0
1
0
1
Ukraine
0
1
1
2
Großbritannien
0
0
2
2
Uruguay
0
1
0
1
Japan
0
0
1
1
Kasachstan
0
1
0
1
China
0
0
1
1
Litauen
0
0
1
1
REITEN (6 Entscheidungen)
Niederlande
2
2
0
4
Deutschland
4
0
0
4
Deutschland
2
1
1
4
Neuseeland
1
1
1
3
Australien
1
1
0
2
Australien
1
0
0
1
USA
1
0
2
3
USA
0
2
2
4
Großbritan.
0
1
0
1
Niederlande
0
2
1
3
Schweiz
0
1
0
1
Schweiz
0
1
0
1
Brasilien
0
0
1
1
Brasilien
0
0
1
1
Saudi-Ar.
0
0
1
1
Frankreich
0
0
1
1
Neuseeland
0
0
1
1
RINGEN (1996-20 Entscheidungen, 2000-16 Entscheidungen)
Rußland
6
2
1
9
Rußland
4
1
2
7
USA
1
3
3
7
USA
3
4
1
8
Kuba
1
3
1
5
Polen
3
1
1
5
Südkorea
1
1
2
4
Türkei
2
0
1
3
Bulgarien
1
1
0
2
Südkorea
1
3
0
4
Aserbaid.
1
0
0
1
Kuba
1
1
1
3
Deutschland
1
0
0
1
Iran
1
1
1
3
41
Iran
1
0
0
1
Armenien
1
1
0
2
Kanada
1
0
0
1
Ukraine
1
0
3
4
Schweden
1
0
0
1
Bulgarien
1
0
1
2
Türkei
1
0
0
1
Kasachstan
1
0
1
2
Ukraine
0
2
0
2
VR Korea
1
0
1
2
Japan
0
1
0
1
Weißrußland
0
3
1
4
Kasachstan
0
1
0
1
Deutschland
0
1
2
3
Ungarn
0
1
0
1
Aserbaidshan
0
1
0
1
Usbekistan
0
1
0
1
Finnland
0
1
0
1
Georgien
0
0
3
3
Frankreich
0
1
0
1
China
0
0
1
1
Kanada
0
1
0
1
Finnland
0
0
1
1
China
0
0
1
1
Griechenland
0
0
1
1
Georgien
0
0
1
1
Mazedonien
0
0
1
1
Japan
0
0
1
1
VR Korea
0
0
1
1
Schweden
0
0
1
1
Weißrußland
0
0
1
1
RUDERN (14 Entscheidungen)
Rumänien
3
0
0
3
Australien
2
1
3
6
Deutschland
2
1
3
6
Deutschland
2
1
1
4
Großbritan-nien
2
1
0
3
Rumänien
2
0
0
2
Frankreich
2
0
1
3
Schweiz
2
0
0
2
Italien
1
2
1
4
Kanada
1
4
1
6
Neuseeland
1
0
0
1
Niederlande
1
1
1
3
Polen
1
0
0
1
Dänemark
1
0
1
2
Slowenien
1
0
0
1
Großbritannien
1
0
1
2
Weißrußland
1
0
0
1
Weißrußland
1
0
1
2
Australien
0
3
2
5
Italien
1
0
0
1
Niederlande
0
3
0
3
USA
0
3
1
4
USA
0
1
2
3
Frankreich
0
1
3
4
Bulgarien
0
1
0
1
China
0
1
0
1
Norwegen
0
1
0
1
Norwegen
0
1
0
1
Schweiz
0
1
0
1
Ukraine
0
1
0
1
Dänemark
0
0
1
1
Rußland
0
0
1
1
Kanada
0
0
1
1
Kroatien
0
0
1
1
Litauen
0
0
1
1
42
Rußland
0
0
1
1
SCHIESSEN (1996-15 Entscheidungen,
2000-17 Entscheidungen)
China
3
2
3
8
Rußland
3
2
1
6
Bulgarien
2
0
0
2
China
2
2
1
5
Schweden
2
0
0
2
Deutschland
2
2
0
4
Rußland
1
3
2
6
Australien
2
1
2
5
Australien
1
1
1
3
Italien
2
1
2
5
Frankreich
1
1
0
2
Polen
1
1
1
3
Großbritan.
1
1
0
2
USA
1
1
1
3
USA
1
0
2
3
Frankreich
1
0
1
2
Aserbaid.
1
0
0
1
Jugoslawien
1
0
1
2
Litauen
1
0
0
1
Bulgarien
0
2
2
4
Polen
1
0
0
1
Kasachstan
0
2
1
2
Slowenien
1
0
0
1
Österreich
0
1
1
2
Ukraine
1
0
0
1
Weißrußland
0
1
0
1
Weißrußland
0
1
3
4
Slowakei
0
0
1
1
Italien
0
1
1
2
Tschechien
0
0
1
1
Tschechien
0
1
1
2
Dänemark
0
1
0
1
Finnland
0
1
0
1
Madagaskar
0
1
0
1
Jugoslawien
0
1
0
1
Schweiz
0
1
0
1
Südkorea
0
1
0
1
Kuweit
0
0
1
1
Norwegen
0
0
1
1
Rumänien
0
0
1
1
Ungarn
0
0
1
1
SCHWIMMEN (1996-33 Entscheidungen,
2000-35 Entscheidungen)
USA
14
8
11
33
USA
14
11
2
27
Australien
5
9
4
18
Rußland
4
2
2
8
Niederlande
5
1
2
8
Ungarn
3
1
2
6
Italien
3
1
2
6
Irland
3
0
1
4
Ukraine
2
2
0
4
Australien
2
4
6
1
43
2
Rumänien
2
1
1
4
Neuseeland
2
0
0
2
Rußland
2
1
1
4
Südafrika
2
0
0
2
Schweden
1
2
1
4
China
1
3
2
6
Ungarn
1
0
0
1
Belgien
1
0
0
1
Japan
0
4
2
6
Kostarika
1
0
0
1
Slowakei
0
2
0
2
Deutschland
0
5
7
12
Südafrika
0
2
0
2
Kanada
0
2
2
4
Frankreich
0
1
1
2
Brasilien
0
1
2
3
Deutschland
0
0
3
3
Kuba
0
1
1
2
Kanada
0
0
2
2
Großbritannien
0
1
1
2
Kostarika
0
0
2
2
Finnland
0
1
0
1
Spanien
0
0
1
1
Schweden
0
1
0
1
Niederlande
0
0
2
2
Italien
0
0
1
1
Japan
0
0
1
1
Südafrika
0
0
1
1
WASSERSPRINGEN (1996-4 Entscheidungen,
2000-7 Entscheidungen
China
4
4
0
8
China
3
1
1
5
Rußland
2
1
1
4
Rußland
1
1
0
2
USA
1
0
0
1
Deutschland
0
2
0
2
Kanada
0
1
1
2
USA
0
0
2
2
Mexiko
0
1
1
2
Kanada
0
0
1
1
Australien
0
0
2
2
Deutschland
0
0
2
2
Ukraine
0
0
1
1
WASSERBALL (1996-1 Entscheidung,
2000-2 Entscheidungen)
Australien
1
0
0
1
Spanien
1
0
0
1
Ungarn
1
0
0
1
Kroatien
0
1
0
1
Rußland
0
1
1
2
Italien
0
0
1
1
USA
0
1
0
1
Jugoslawien
0
0
1
1
SEGELN (1996-10 Entscheidungen, 2000-11 Entscheidungen)
44
Großbritan-nien
3
2
0
5
Brasilien
2
0
1
3
Australien
2
1
1
4
Spanien
2
0
0
2
Österreich
2
0
0
2
Ukraine
1
0
1
2
USA
1
2
1
4
Dänemark
1
0
0
1
Italien
1
1
0
2
Deutschland
1
0
0
1
Dänemark
1
0
0
1
Griechenland
1
0
0
1
Finnland
1
0
0
1
Hongkong
1
0
0
1
Deutschland
0
2
1
3
Polen
1
0
0
1
Argentinien
0
1
2
3
Großbritannien
0
2
0
2
Brasilien
0
1
1
2
Niederlande
0
1
1
2
Niederlande
0
1
0
1
Australien
0
1
1
2
Neuseeland
0
0
2
2
Argentinien
0
1
0
1
Norwegen
0
0
1
1
Belgien
0
1
0
1
Schweden
0
0
1
1
Japan
0
1
0
1
Ukraine
0
0
1
1
Neuseeland
0
1
0
1
Rußland
0
1
0
1
Schweden
0
1
0
1
USA
0
0
2
2
Israel
0
0
1
1
Italien
0
0
1
1
Norwegen
0
0
1
1
Portugal
0
0
1
1
SOFTBALL
USA
1
0
0
1
USA
1
0
0
1
Japan
0
1
0
1
China
0
1
0
1
Australien
0
0
1
1
Australien
0
0
1
1
TAEKWONNDO (1996-nicht im Programm,
2000-6 Entscheidungen)
Südkorea
2
1
0
3
Kuba
1
1
0
2
Australien
1
0
0
1
Griechenland
1
0
0
1
USA
1
0
0
1
Deutschland
0
1
0
1
45
Norwegen
0
1
0
1
Spanien
0
1
0
1
Vietnam
0
1
0
1
Taipeh
0
0
2
2
Iran
0
0
1
1
Japan
0
0
1
1
Mexiko
0
0
1
1
Türkei
0
0
1
1
TENNIS (4 Entscheidungen)
USA
2
0
1
3
USA
3
0
1
4
Rußland
1
1
0
2
Australien
1
0
0
1
Kanada
1
0
0
1
Spanien
0
2
1
3
Australien
0
1
0
1
Großbritannien
0
1
0
1
Deutschland
0
1
0
1
Tschechien
0
1
0
1
Deutschland
0
0
1
1
Indien
0
0
1
1
TISCHTENNIS (4 Entscheidungen)
China
4
3
1
8
China
4
3
1
8
Schweden
0
1
0
1
Taipeh
0
1
0
1
Frankreich
0
0
1
1
Südkorea
0
0
2
2
Südkorea
0
0
1
1
Deutschland
0
0
1
1
Taipeh
0
0
1
1
TURNEN (14 Entscheidungen)
Rußland
5
5
5
15
Rußland
3
2
2
7
China
3
2
3
8
Ukraine
3
1
1
5
Rumänien
3
2
1
6
USA
2
2
1
5
Spanien
1
0
0
1
Rumänien
1
4
4
9
Ungarn
1
0
0
1
China
1
4
0
5
Lettland
1
0
0
1
Deutschland
1
0
0
1
Frankreich
0
2
0
2
Griechenland
1
0
0
1
Südkorea
0
1
1
2
Italien
1
0
0
1
Ukraine
0
1
1
2
Schweiz
1
0
0
1
Griechenland
0
1
0
1
Bulgarien
0
1
0
1
Bulgarien
0
0
2
2
Südkorea
0
1
0
1
Polen
0
0
1
1
Weißrußland
0
0
4
4
Ungarn
0
0
1
1
TURNEN (Rythmische Sportgymnastik)
46
Rußland
2
0
1
3
Ukraine
1
0
1
2
Weißrußland
0
2
0
2
Spanien
1
0
0
1
Griechenland
0
0
1
1
Rußland
0
1
1
2
Bulgarien
0
1
0
1
TURNEN (Trampolinspringen,1996- 0,
2000-2 Entscheidungen)
Rußland
2
0
0
2
Australien
0
1
0
1
Ukraine
0
1
0
1
Kanada
0
0
2
2
VOLLEYBALL (2 Entscheidungen)
Kuba
1
0
0
1
Kuba
1
0
0
1
Jugoslawien
1
0
0
1
Niederlande
1
0
0
1
Rußland
0
2
0
2
China
0
1
0
1
Brasilien
0
0
1
1
Italien
0
1
0
1
Italien
0
0
1
1
Brasilien
0
0
1
1
47
Deutsche
Medaillengewinner
GOLD
Robert Bartko SC Berlin
23.12.1975 in Potsdam
Radsport - Bahn
Einzelverfolgung
Mannschaftsverfolgung
Heimtrainer: Uwe Freese
Daniel Becke TSV Erfurt
12.3.1978 in Erfurt
Radsport - Bahn
Mannschaftsverfolgung
Heimtrainer: Jens Lang
Otto Becker
RV Oldenburger-M.
3.12.1958 in Aschaffenburg
Reiten
Springreiten - Mannschaft
Heimtrai-ner:Merkel/Schockemöhle
Ludger Beerbaum Riesen-beck
26.8.1963 in Detmold
Reiten
Springreiten - Mannschaft
Heimtrainer: Schockemöh-le/Schridde
Katrin Boron Potsdamer RG
4.11. 1969 in Eisenhütten-stadt
Rudern
Doppelzweier
Heimtrainer: Jutta Lau
Nadine Capellmann Würse-len
9.7.1965 in Aachen
Reiten
Dressur-Mannschaft
Heimtrainer: Klaus Balkenhol
Andreas Dittmer Neubranden-burg
16.4.1972 in Neustrelitz
Kanu
Canadier-Einer 1000 m
BRONZE Canadier-Zweier
Heimtrainer: Jürgen Lickfett
Heike Drechsler Ludwigsha-fen
16.12.1964 in Gera
Leichtathletik
Weitsprung
Heimtrainer: Alain Blondel
Marcus Ehning RV Borken
19.4.1974 in Südlohn
Reiten
Springreiten - Mannschaft
Heimtrainer: Ehning/Ligges
Meike Evers Ratzeburger RC
6.6. 1977 in Berlin
Rudern
Doppelvierer
48
Heimtrainer: Hans-Peter Schmidt
Birgit Fischer
WSV Mannheim-Sandhofen
25.2.1962 in Brandenburg
Kanu
Rennsport Zweierkajak
Rennsport Viererkajak
Heimtrainer: Josef Capousek
Guido Fulst SC Berlin
7.7. 1970 in Wernigero-de/Harz
Radsport - Bahn
Mannschaftsverfolgung
Heimtrainer: Uwe Freese
Jens Lehmann SSV Gera
19.12.1967 in Stolberg/Harz
Radsport - Bahn
Mannschaftsverfolgung
SILBER Einzelverfolgung
Heimtrainer: Andreas Peter-mann
Kerstin KowalskiPotsdamer RG
25.1.1976 in Potsdam
Rudern
Doppelvierer
Heimtrainer: Jutta Lau
Manja Kowalski Potsdamer RG
25.1.1976 in Potsdam
Rudern
Doppelvierer
Heimtrainer: Jutta Lau
Alexander Leipold Schifferstadt
2.6.1970 in Alzenau
Ringen
Freistil 76 kg
Heimtrainer: Gerhard Weisen-berger
Manuela Lutze RC Magde-burg
20.3.1974 in Blankenburg
Rudern
Doppelvierer
Heimtrainer: Roland Oese-mann
Manuela Mucke KC Potsdam
30.1.1975 in Wittenberg
Kanu
Rennsport Viererkajak
Heimtrainer: Rolf-Dieter Amendt
Lars Nieberg Wäldershau-sen
24.7.1963 in Wittingen
Reiten
Springreiten - Mannschaft
Heimtrainer: Mey-er/Buchwaldt
Ulla Salzgeber Bad Wörishofen
5.8.1958 in Oberhausen
Reiten
Dressur - Mannschaft
BRONZE - Dressur Einzel
Heimtrainer: Fritz Tempelmann
Thomas Schmidt Bad Kreuz-nach
18.2.1976 in Bad Kreuznach
Kanu
Slalom Einerkajak
49
Heimtrainer: Senft/Brümmer
Annett Schuck DHfK Leipzig
4.11.1970 in Leipzig
Kanu
Rennsport Viererkajak
Heimtrainer: Ingolf Beutel
Nils Schumann Großengot-tern
20.5.1978 in Bad Franken-hausen
Leichtathletik
800-m-Lauf
Heimtrainer: Dieter Herrmann
Alexandra Simons-de Ridder
RFV Hof Rossheide
29.10.1963 in Köln
Reiten
Dressur-Mannschaft
Heimtrainer: Ton de Ridder
Jana Thieme Hallesche RvG
6.7.1970 in Beeskow
Rudern
Doppelzweier
Heimtrainer: Bernd Lindner
Jan Ullrich Profi
2.12.1973 in Rostock
Radsport - Straße
Einzelrennen
SILBER - Zeitfahren
Heimtrainer: Peter Becker
Katrin Wagner KC Potsdam
13.10.1977 in Brandenburg
Kanu
Rennsport Zweierkajak
Rennsport Viererkajak
Isabell Werth Groß-Schmettow
21.7.1969 in Sevelen
Reiten
Dressur - Mannschaft
SILBER Dressur Einzel
Heimtrainer: Schulten-Baumer sen.
SILBER
Björn Bach SC Magdeburg
21.6.1976 in Magdeburg
Kanu
Viererkajak 1000 m
Heimtrainer: Guido Behling
Gunnar Bahr YC Berlin-Grünau
21.10.1974 in Berlin
Segeln
Soling
Trainer: Bernd Dehmel
Ralf Bißdorf Heidenheim SB
15.3.1971 in Heidenheim
Fechten
Florett - Einzel
Heimtrainer: Thomas Zim-mermann
Claudia Blasberg Dresdner RV
14.2.1975 in Dresden
Rudern
Leichtgewichts-Doppelzweier
Heimtrainer: Brigitte Bielig
Faissal Ebnoutalib
SSV Dachau-Ost
50
20.11.1970 in Nador (Marok-ko)
Taekwondo
80 kg
Heimtrainer: Reinhard Langer
Tommy Haas Profi
3.4.1978 in Hamburg
Tennis
Einzel
Heimtrainer: David Ayme
Marc Huster AC Riesa
1.7. 1970 in Alt-Döbern
Gewichtheben
Klasse bis 85 kg
Heimtrainer: Bernd Grabsch
Rita König Tauberbischofs-heim
12.3.1977 in Sathmar (Rumä-nien)
Fechten
Florett Einzel
BRONZE - Florett Mannschaft
Heimtrainer: Lajos Somodi
Hanka Kupfernagel Radteam
19.3.1974 in Riesa
Radsport - Straße
Heimtrainer: T. Wittig-Kupfernagel
Amelie Lux Zwischenahner SK
5.4.1977 in Oldenburg
Segeln
Mistral
Stefan Nimke PSV Schwerin
1.3.1978 in Hagenow
Radsport - Bahn
1000-m-Zeitfahren
Heimtrainer: Ronald Grimm
Lars Riedel Erdgas Chemnitz
28.6.1967 in Zwickau
Leichtathletik
Diskuswerfen
Heimtrainer: Karlheinz Stein-metz
Jan Schäfer KG Essen
18.10.1974 in Dresden
Kanu
Viererkajak 1000 m
Heimtrainer: Robert Berger
Jochen Schümann
YC Berlin-Grünau
8.6.1954 in Berlin
Segeln
Soling
Trainer: Bernd Dehmel
Stefan Ulm RKV Berlin
21.12.1975 in Berlin
Kanu
Viererkajak 1000 m
Heimtrainer: Joachim Wenz-ke
Valerie Viehoff Siegburger RV
16.2.1976 in Bonn
Rudern
Leichtgewichts-Doppelzweier
Heimtrainer: Dietmar Langu-sch
51
Stephan Vuckovic Tri Witten
22.6.1972 in Reutlingen
Triathlon
Heimtrainer: Spring-stein/Wanja
Ronny Weller AC Mutter-stadt
22.7.1969 in Ölsnitz
Gewichtheben
über 105 kg
Heimtrainer: Günther Weller
Mark Zabel SC Magdeburg
12.8.1973 in Calbe/Saale
Kanu
Viererkajak 1000 m
Heimtrainer: Guido Behling
BRONZE
Jörg Ahmann Eimsbütteler TV
12.2.1966 in Grevenbroich
Beachvolleyball
Heimtrainer: Hansen/Sude
Nadine Angerer Bayern-München
10.11.1978 in Lohr/Main
Fußball
Heimtrainer: Peter König
Sabine Bau Tauberbischofs-heim
19.7.1969 in Würzburg
Fechten
Mannschaft - Florett
Heimtrainer: Lajos Somodi
Dennis Bauer CGT Koblenz
18.12.1980 in Koblenz
Fechten
Mannschaft - Säbel
Heimtrainer: Eberhard Mehl
Nicole Brandebusemeyer
FFC Brauweiler
9.10.1974 in Georgsmarien-hütte
Fußball
Heimtrainer: Jürgen Tritschoks
Antje Buschschulte
SC Magdeburg
27.12.1978 in Berlin
Schwimmen
4 x 200-m-Freistil
Heimtrainer: Bernd Henne-berg
Jens Fiedler XXL-Chemnitz
15. 2. 1970 in Dohna/Heidenau
Radsport-Bahn
Sprint
Keirin
Heimtrainer: Karsten Schmal-fuß
Doris Fitschen 1.FFC Frankfurt
25.10.1968 in Zeven
Fußball
Heimtrainer: Monika Staab
Roland Gäbler Nordeutscher RV
9.10.1964 in Bremen
Segeln
52
Tornado
Marco Geisler SC Ratzeburg
18.1.1974 in Cottbus
Rudern
Doppelvierer
Heimtrainer: Lothar Trawiel
Jeanette Götte Flaesheim
13.13.1979 in Hagen
Fußball
Heimtrainer: Silvia Risser
Stefanie Gottschlich WSV Wolfsburg-Wendschott
5.8.1978 in Wolfsburg
Fußball
Heimtrainer: Petra Damm
Anna-Maria Gradante Remscheid
26.12.1976 in Wermelskir-chen
Judo
Extraleichtgewicht
Heimtrainer: Klen-ner/Bazynski
Inka Grings FCR Duisburg
31. 10. 1978 in Düsseldorf
Fußball
Heimtrainer: Jürgen Krist
Marcel Hacker Cassler Frauen-RV
29.4.1977 in Magdeburg
Rudern
Einer
Heimtrainer: Andreas Maul
Axel Hager Eimsbütteler TV
14.3.1969 in Burg auf Fehmarn
Beachvolleyball
Heimtrainer: Hansen/Sude
Andreas Hajek Hallesche RvG
16.4.1968 in Weißenfels
Rudern
Doppelvierer
Heimtrainer: Bernd Lindner
Sara Harstick SG Hildesheim
8.9.1981 in Hildesheim
Schwimmen
4 x 200-m-Freistil
Heimtrainer: Rainer Tylinski
Jan Hempel Dresdner SC
21.8.1971 in Dresden
Wasserspringen
Synchron Turmspringen
Heimtrainer: Frank Taubert
Ariane Hingst Turbine Pots-dam
25.7.1979 in Berlin
Fußball
Heimtrainer: Bernd Schröder
Melanie Hoffmann Duisburg
29.11.1974 in Haan
Fußball
Heimtrainer: Jürgen Krist
Steffi Jones 1.FFC Frankfurt
22.12.1972 in Frankfurt/Main
Fußball
53
Heimtrainer: Monika Staab
Kerstin Kielgaß Spandau 04
6.12.1969 in Berlin
Schwimmen
4 x 200-m-Freistil
Heimtrainer: Volker Frischke
Andreas Klöden Profi
22.6.1975 in Mittweida
Radsport - Straße
Heimtrainer: Uwe Freese
Lars Kober SC Berlin-Grünau
19.10.1976 in Berlin
Kanu
Rennsport Zweier-Canadier 1000 m
Heimtrainer: André Heinrich
Sebastian Köber
BC Frankfurt
28.5.1979 in Frankfurt/Oder
Boxen
Schwergewicht
Heimtrainer: Karl-Heinz Krü-ger
Wiradech Kothny CGT Kob-lenz
10.5.1979 in Thailand
Fechten
Einzel - Säbel
Mannschaft - Säbel
Heimtrainer: Eberhard Mehl
Jens Kruppa SC Riesa
3.6.1976 in Freital
Schwimmen
4 x 100-m-Lagen
Heimtrainer: Uwe Neumann
Astrid Kumbernuss
SC Neubrandenburg
5.2.1970 in Grevesmühlen
Leichtathletik
Kugelstoßen
Heimtrainer:Dieter Kollark
Eero Lehmann Tauberbischofs-heim
17.5.1974 in Düsseldorf
Fechten
Mannschaft - Säbel
Heimtrainer: Efim Chvidko
Dörte Lindner WSC Rostock
22.3.1974 in Rostock
Wasserspringen
Dreimeterbrett
Heimtrainer: Monika Dietrich
Renate Lingor 1.FFC Frank-furt
11.10.1975 in Karslruhe
Fußball
Heimtrainer: Monika Staab
Maren Meinert FFC Brauwei-ler
5.8.1973 in Rheinhausen
Fußball
Heimtrainer: Jürgen Tritschoks
Barbara Mensing BC Gel-senk.
23.9.1960 in Herten
54
Bogenschießen
Mannschaft
Heimtrainer: Paul Kegelmann
Heiko Meyer Dresdner SC
2.12.1976 in Dresden
Heimtrainer: Franbk Taubert
Wasserspringen
Synchron-Turmspringen
Sandra Minnert 1.FFC Frank-furt
7.4.1973 in Gedern
Fußball
Heimtrainer: Monika Staab
Claudia Müller Wolfsburg
21.5.1974 in Bremen
Fußball
Heimtrainer: Petra Damm
Kirsten Münchow LG Frank-furt
21.1.1977 in Auetal-Rehren
Leichtathletik
Hammerwerfen
Heimtrainer: Michael Deyhle
Cornelia Pfohl Bergmann-Borsig Bln
23.2.1971 in Erlabrunn
Bogenschießen
Mannschaft
Heimtrainer: Martin Frederick
Birgit Prinz 1.FFC Frankfurt
25.10.1977 in Frankfurt/Main
Fußball
Heimtrainer: Monika Staab
Ronald Rauhe RKV Berlin
3.10.1981 in Berlin
Kanu Zweierkajak 500 m
Heimtrainer: Eckehart Sahr
Silke Rottenberg Brauweiler
25.1.1972 in Euskirchen
Fußball
Heimtrainer: Jürgen Tritschoks
Thomas Rupprath SG Neuss Ste-fan Uteß SC Neubrandenburg
31.10.1974 in Demmin
Kanu
Rennsport Zweier-Canadier 1000 m
Heimtrainer: Jürgen Lickfett
Stephan Volkert B. Leverkusen
7.8.1971 in Köln
Rudern
Doppelvierer
Heimtrainer: Lader-mann/Lindner
Monika Weber OFC Bonn
7.2.1966 in Sathmar (Rumänien)
Fechten
Mannschaft - Florett
Heimtrainer: Ulrich Schreck
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Alexander Weber Tauberbischofsheim
4.1.1978 in Bielefeld
Fechten
Mannschaft - Säbel
Bettina Wiegmann Brauweiler
7.10.1971 in Euskirchen
Fußball
Heimtrainer: Jürgen Tritschoks
Tim Wieskötter KC Potsdam
12.3.1979 in Emsdetten
Kanu
Zweierkajak 500 m
Heimtrainer: Rolf-Dieter Amend
André Willms RC Magdeburg
18.9.1972 in Burg
Rudern
Doppelvierer
Heimtrainer: Roland Oesemann
Tina Wunderlich 1.FFC Frankfurt
10.10.1977 in Bad Berleburg
Fußball
Heimtrainer: Monika Staab
16.3.1977 in Neuss
Schwimmen
4 x 100-m-Lagen
Heimtrainer: Henning Lambertz
Katrin Rutschow-Stomporowski
RK am Wansee
2.4.1975 in Waren/Müritz
Rudern
Einer
Heimtrainer: Dieter Öhm
56
Sandra Sachse Sgi Welzheim
9.9.1969 in Esloh
Bogenschießen
Mannschaft
Heimtrainer: Sachse/Lang
Rene Schwall Kieler YC
28.1.1971 in Kiel
Segeln
Tornado
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DISKUSSSION/DOKUMENTATION
Der Sport in der DDR
Von ULRICH WILLE
Der folgende Beitrag war von einem linken Berliner Verlag beim Autor für eine geplante Enzyklopädie über die DDR bestellt wor-den. Sie übertraf in der Länge den vertraglich vereinbarten Um-fang. Ungeachtet dessen gibt die Fülle der Fakten über den DDR-Sport einen imponierenden Einblick in die Realität. Der Verlag be-auftragte jedoch einen auf dem Gebiet der Geschichte des Sports unbewanderten Historiker, eine Neufassung zu schreiben, aus der man zum Beispiel erfuhr, daß einem führenden Sportfunktionär ein Darlehen gewährt worden war, das er 1989 zurückzahlen mußte. Die radikal veränderte Fassung wurde jedoch vom Autor nicht ak-zeptiert. Die Redaktion der „Beiträge zur Sportgeschichte“ ent-schloß sich, die von mehreren Gutachtern gewürdigte Arbeit mit geringfügigen Kürzungen in zwei Folgen zu publizieren.
1. Entwicklung von Körperkultur und Sport in der DDR - ein histori-scher Abriß
Entsprechend dem Kontrollratsgesetz Nr. 2 vom 10.10.1945 war der Nationalsozialistische Reichsbund für Leibesübungen aufzulö-sen. Von richtungsweisender Bedeutung für das weitere Gestalten des Sports in der Sowjetischen Besatzungszone war die Kontroll-ratsdirektive Nr. 23 vom 17.12.1945. Darin hieß es:
„1. Alle vor der Kapitulation in Deutschland bestehenden sportlichen, militärischen oder paramilitärischen athletischen Organisationen (Klubs, Vereinigungen, Anstalten und andere Organisationen)... sind bis zum 1. Januar 1946 spätestens aufzulösen...
4. a) Das Bestehen nichtmilitärischer Sportorganisationen örtli-chen Charakters auf deutschem Gebiet ist gestattet.
b) Diese Organisationen dürfen das Niveau eines Kreises nicht übersteigen...
c) Jede neugegründete sportliche Organisation örtlichen Cha-rakters bedarf der Genehmigung der örtlichen Alliierten Besat-
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zungsbehörde, und ihre Tätigkeit untersteht der Aufsicht die-ser Behörde...“
Dieser Realität war beim Neuaufbau des Sports Rechnung zu tra-gen. Am 11.6.1945 hatte das ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) Vorschläge unterbreitet. Vielerorts fanden sportliche Veranstaltungen statt, die von der Sowjetischen Militär-Administration in Deutschland (SMAD) unterstützt wurden. Zu-nächst konnte sich der kommunale Sport als bestimmende Form entwickeln, für dessen Leitung Sportämter entstanden. Nach Grün-dung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) am 7.3.1946 entstanden unter Verantwortung dieser Organisation eigene Sportgruppen, der FDJ-Sport. Die unterschiedlichen Bedingungen brachten es mit sich, daß die Leitung des Sports nicht in allen Teilen der Sowjeti-schen Besatzungszone einheitlich war. Während z.B. in Mecklen-burg der Sport weitgehend von der FDJ organisiert wurde, bestand in Sachsen eine enge Zusammenarbeit zwischen den kommunalen Sportleitungen und den Verantwortlichen des FDJ-Sports. Geprägt war die Zeit von materiellen Problemen auch im Sport. Im Bericht des kommunalen Hauptsportamtes Berlin heißt es u.a., daß von 416 Berliner Turnhallen 301 zerstört waren und von 12 Schwimm-hallen konnten nur 3 benutzt werden; es fehlte an Sportbekleidung und Sportgeräten. Um die Misere zu überwinden, sammelten Sportler und FDJ-Mitglieder Sportmaterial und setzten in freiwilli-gen Einsätzen Sporteinrichtungen instand. Ab Frühjahr 1948 über-nahm die FDJ in allen Teilen der Sowjetischen Besatzungszone - außer in Berlin - die Leitung des Sports. Dadurch wurde die Zwei-gleisigkeit in der Organisation und Leitung des Sports und das Feh-len einer zentralen Zuständigkeit beseitigt. Auf seiner Tagung vom 20./21.5.1948 beschloß der FDJ-Zentralrat Richtlinien für den Auf-bau des Sports. Gleichzeitig wurde die Sportabteilung beim Zentral-rat personell verstärkt. Es fanden landesoffene Wettkämpfe statt, 1948 erste Zonenmeisterschaften in den Sportarten Fußball, Hand-ball, Leichtathletik und Schwimmen. Zur praktischen Anleitung gab der Verlag „Neues Leben“ die „Kleine FDJ-Sportbuchreihe“ heraus.
Mit dem Aufruf der FDJ und des FDGB vom 1.8.1948 sollte eine neue Etappe eingeleitet werden. Darin hieß es:
„Die Zeit des Aufräumens und der Vorbereitung ist nun vorbei. Endlich können wir an den Aufbau einer einheitlichen demokrati-schen deutschen Sportbewegung herangehen...
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Wir rufen auf, in allen Dörfern, Städten und Großbetrieben Sport-gemeinschaften ins Leben zu rufen, an deren Spitze die besten und bewährtesten antifaschistischen Sportler treten sollen. Hierbei soll gerade die Jugend tatkräftig vorangehen, denn es gilt, eine den wahrhaften Interessen unseres Volkes dienende Sportbewegung aufzubauen.
Die Freie Deutsche Jugend und der Freie Deutsche Gewerk-schaftsbund sind gemeinsam Träger der neuen Sportbewegung. Sie werden in allen Kreisen und Ländern Sportausschüsse bilden. “
Nachdem sich in kurzer Zeit in vielen Kreisen und allen Ländern Sportausschüsse gebildet hatten, fand am 1.10.1948 durch die Freie Deutsche Jugend und den Freien Deutschen Gewerkschafts-bund die Konstituierung des Deutschen Sportausschusses (DS) statt, der von einem hauptamtlichen Sekretariat geleitet wurde. Obwohl selbständig, mußte der DS regelmäßig im FDJ-Sekretariat berichten und seine Beschlüsse dort vorlegen. Grundlage für die Sportarbeit war das Dokument „Aufbau und Grundsätze der demo-kratischen Sportbewegung“. Folgende Auszüge sollen die Linien-führung im Sport charakterisieren:
I. Grundsätze und Ziele
Die demokratische Sportbewegung will den körperlichen, geistigen und sittlichen Aufstieg des deutschen Volkes fördern und an der Schaffung einer neuen Kultur mitarbeiten... Die demokratische Sportbewegung ist nicht Selbstzweck. Sie soll zu ihrem Teil zur demokratischen Erneuerung unseres Volkes beitragen. Sie dient der Hebung der Volksgesundheit und damit der Erhöhung der Leis-tungsfähigkeit, besonders der jungen Generation. Die Tätigkeit der Sportgemeinschaften ist auf der Grundlage des Amateursports aufzubauen. Die Teilnahme breitester Schichten am Volkssport sowie der gesunde Leistungswettkampf finden durch die Sportge-meinschaften weitestgehende Förderung. Die demokratische Sportbewegung kämpft für die Einheit Deutschlands...
II. Organisatorischer Aufbau
Der organisatorische Aufbau vollzieht sich auf der Grundlage der Sportgemeinschaften. Die Sportgemeinschaften gliedern sich in ... Sparten.
III. Sportausschüsse
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Der Keissportausschuß leitet die Sportgemeinschaften... Die Ge-samtleitung liegt beim Deutschen Sportausschuß...
IV. Mitgliedschaft
1. Mitglieder der Sportgemeinschaften können alle Personen wer-den, welche die Grundsätze und Ziele der demokratischen Sport-bewegung anerkennen. Alle Sportler bis zum 25. Lebensjahr besit-zen die Kollektivmitgliedschaft der Freien Deutschen Jugend...
VII. Kultur und Erziehung
Die Sportgemeinschaften üben ihre Tätigkeit in folgender Weise aus:
a) Leibesübungen...
1. Durchführung eines geregelten Übungsbetriebs für alle Sportar-ten und Altersklassen beiderlei Geschlechts.
2. Wettkämpfe...
b) Bildungsarbeit
1. Erziehung im Geiste der Demokratie, des Kampfes für die Ein-heit Deutschlands und eines gerechten Friedens...
6. Kampf für Jugendschutz und Jugendrecht...
VIII. Sportgruß
Als Sportgruß gilt der Ruf „Sport frei“. Er ist verbindlich für alle Sportgemeinschaften und Sparten.
1949 wurden bereits in achtzehn Sportarten Meisterschaften aus-getragen, organisiert von den zentralen Spartenleitungen. Die Or-ganisation wuchs sehr rasch. Im Dezember 1948 gehörten 227.000 Mitglieder dem DS an, Ende 1949 waren es bereits 542.000, da-runter 110.000 Frauen und weibliche Jugendliche. Wenn die Zahl der organisierten Sportlerinnen und Sportler damit auch nur drei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte, so war es doch ein bemerkenswerter Erfolg. Die trotz der wirtschaftlichen Schwierig-keiten dieser Zeit erzielten Fortschritte wurden vor allem durch den Aufbau des Betriebssports erreicht. Im Gründungs-Aufruf und in den Referaten und Beschlüssen der Gründungskonferenz wurde ausdrücklich auf die Bildung von Betriebssportgemeinschaften (BSG) in den volkseigenen Betrieben orientiert.
Mit der Gründung der DDR am 7.10.1949 wurden weitere Voraus-setzungen für den Aufschwung geschaffen. Die Verfassung der DDR legte im Artikel 38 fest, daß alle jungen Menschen ihre „kör-perlichen, geistigen und sittlichen Kräfte“ allseitig entfalten können. Für die Belange des Sports wurde ein zentrales Amt für Jugend-
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fragen und Leibesübungen gebildet. Große Bedeutung hatte das von der provisorischen Volkskammer erlassene Jugendgesetz vom 8.2.1950 mit der Festlegung, daß alle Organe der staatlichen Ver-waltung verpflichtet sind, die Entwicklung der Sportbewegung zu fördern. Außerdem enthielt das Gesetz die Stiftung des Sportleis-tungsabzeichens „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung des Frie-dens“, eine erhebliche Erhöhung der Produktion von Sportmateria-lien und den Bau neuer Sportstätten sowie die Gründung der Deut-schen Hochschule für Körperkultur in Leipzig.
Um die Sportentwicklung weiter zu optimieren, faßte der DS am 3.4.1950 in Übereinstimmung mit der FDJ und dem FDGB den Beschluß „Über die Reorganisation des Sports in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben auf Produktionsbasis“. Dieser Beschluß veranlaßte den Aufbau von Sportvereinigungen (SV) entsprechend den Organisationsstrukturen der Gewerkschaft. So wurden alle BSG, abhängig von der Zugehörigkeit der Belegschaft ihrer Trägerbetriebe zu den einzelnen Gewerkschaften, in einer SV zusammengeschlossen. Die gewerkschaftlichen Sportvereinigungen arbeiteten auf der Grundlage ihrer Statuten als selbständige Organi-sationen mit gewählten Leitungen und Organen auf allen Ebenen. Insgesamt wurden folgende 18 Sportvereinigungen gebildet: SV Ak-tivist (Bergbau), SV Aufbau (Bauindustrie), SV Chemie (Chemie-betriebe), SV Dynamo (Volkspolizei), SV Einheit (staatliche und kommunale Verwaltungen), SV Empor (Handel sowie Nahrungs- und Genußmittelindustrie), SV Fortschritt (Textil- und Lederindust-rie), SV Lokomotive (Reichsbahn), SV Medizin (Gesundheitswe-sen), SV Motor (große Teile der metallverarbeitenden Industrie), SV Post (Postwesen), SV Rotation (graphische Betriebe; Bühne, Film und Funk), SV Stahl (Hüttenindustrie und Schwermaschinenbau), SV Traktor (Land- und Forstwirtschaft), SV Turbine (Energiebetrie-be), SV Vorwärts (Kasernierte Volkspolizei), SV Wismut (Wismut-Erzbergbau), SV Wissenschaft (Universitäten und Hochschulen).
Neben den Sektionen in den einzelnen Sportarten und ihren Fach-ausschüssen auf Kreis- und Landesebene - ab 1952 auf Bezirks-ebene -, existierten nunmehr gewerkschaftlich strukturierte Sport-vereinigungen mit ihren BSG mit Landes-, dann Bezirksleitungen. Daneben existierten unter Obhut der Kreissportausschüsse die Sportgemeinschaften (SG) des sogenannten territorialen Sektors. Übergreifend fungierten der Deutsche Sportausschuß sowie die fünf
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Landessportausschüsse und die 132 Kreissportausschüsse. Als sportliche Höhepunkte fanden die Meisterschaften der DDR - bis 1949 Zonenmeisterschaften - und die zentralen Spartakiaden und Landesspartakiaden (letztere bis 1952) der Sportvereinigungen statt. Darüber hinaus gab es eine Vielzahl von massensportlichen Aktio-nen, zum Beispiel zum Erwerb des Wintersportabzeichens oder Waldläufe im Frühjahr und Herbst, Tage der Leichtathletik, des Rad-sports, des Schwimmens oder des Volleyballs.
Am 24.7.1952 beschloß der Ministerrat, anstelle des DS ein Staat-liches Komitee für Körperkultur und Sport zu bilden, das mit seinen bezirklichen und kreislichen Organen die notwendige neue Basis war, um unter den gegebenen Bedingungen alle Kräfte beim Aufbau von Grundlagen der sozialistischen Körperkultur zusam-menfassen zu können. Deshalb gehörten dem berufenen Gremium neben den Vertretern des Sports auch führende Vertreter der Mas-senorganisationen, wie der FDJ, des FDGB und - nach ihrer Grün-dung - der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) sowie staatli-che Organe, wie das Ministerium für Volksbildung an. Das Komi-tee, geleitet von einem Vorsitzenden nebst Stellvertretern, wurde zur obersten staatlichen Instanz für alle Gebiete der Körperkultur und des Sports erklärt. Zur Vollzugsarbeit bestand ein hauptamtli-cher Apparat. Die Bezirks- und Kreiskomitees nahmen sinngemäß die gleiche Stellung in ihrem territorialen Zuständigkeitsbereich ein. Das Prinzip der Planmäßigkeit in allen Bereichen der Körperkultur durchzusetzen, stellte eines der Hauptanliegen des Komitees dar. Ein Mittel waren die Jahresperspektivpläne für Körperkultur und Sport, die ab 1953 ausgearbeitet und herausgegeben wurden. Das Komitee und dessen Wissenschaftlicher Rat veranstalteten mehre-re Konferenzen und Tagungen: Sport- und Funktionärkonferenzen (22.8. 1952, 19.3.1954 und 25.11.1954 in Berlin, 25.-27.11.1955 in Karl-Marx-Stadt), eine zentrale Trainerkonferenz (2./3.5. 1955 in Berlin-Grünau ).
Die Sportsektionen waren weiterhin für die Entwicklung ihrer Sportart verantwortlich und hatten folgende Aufgaben zu lösen: Er-ziehung der Sportler, Förderung des sportlichen Leistungsstrebens und des Nachwuchses, Organisierung des Wettkampf- und des Kampfrichterwesens, Erlaß von Rechts- und Strafordnungen, An-erkennung von Rekorden und Führung der Bestenlisten, Heraus-gabe von Fachzeitschriften, Mitarbeit in den internationalen Sport-
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föderationen und - in bezug auf die olympischen Sportarten - im NOK. Die Leitung einer Sportsektion oblag dem Präsidium, das auf einer Plenartagung gewählt wurde. In den Bezirken und Kreisen bestanden Fachausschüsse der zentralen Sportsektionen.
Der Deutsche Sportausschuß begrenzte seine Funktion in Zusam-menarbeit mit den Sportsektionen nunmehr auf innerdeutsche Sportaufgaben.
2. Funktion und Träger von Körperkultur und Sport in der DDR
2.1. Stellung von Körperkultur und Sport
Im „Kapital“ hob Karl Marx hervor, daß die Einheit von geistiger, körperlicher und polytechnischer Bildung und Erziehung die „einzi-ge Methode zur Produktion vollwertig entwickelter Menschen“ sei. Diese Forderung wurde zum theoretischen Fundament für den Sport in der DDR. Seinen gesetzlichen Stellenwert erfuhr diese Standortbestimmung in der Verfassung, in der es im Artikel 18 hieß: „Körperkultur, Sport und Touristik als Elemente der sozialisti-schen Kultur dienen der allseitigen körperlichen und geistigen Ent-wicklung der Bürger“. Daraus ergab sich auch für alle gesellschaft-lichen Kräfte in der DDR die rechtliche und moralische Pflicht, den Sport entsprechend den Möglichkeiten zu fördern. Insbesondere galt das Augenmerk dem Sporttreiben der jungen Generation.
2.2. Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte bei der Leitung und Gestaltung von Körperkultur und Sport
Das Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte bei der Leitung von Körperkultur und Sport wurde von der Sozialistischen Einheits-partei Deutschlands gesteuert. Für das Miteinander der Partner waren die Ziele im Programm und in den Beschlüssen der SED ausgewiesen. Der Deutsche Turn- und Sportbund als Hauptver-antwortlicher für den organisierten Sport nahm die zentrale Position ein. Im Gesamtprozeß der Entwicklung der Körperkultur und der Unterstützung des DTSB waren die Ministerien und ihre Organe und die gesellschaftlichen Organisationen, wie FDGB und die FDJ mit ihrer Pionierorganisation und die GST einbezogen. Vorrang hatte die Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Körperkul-tur und Sport, das als Organ des Ministerrats für die Vorbereitung, Koordinierung und Realisierung verantwortlich zeichnete. Zur För-derung des zielstrebigen Zusammenwirkens aller für die Entwick-
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lung von Körperkultur und Sport verantwortlichen Organe und Or-ganisationen wirkte das gesellschaftliche Komitee für Körperkultur und Sport als Koordinierungsgremium. Es beriet Grundprobleme der Entwicklung, wertete Erkenntnisse aus und traf Entscheidun-gen für die Planung. Im Ergebnis seiner Tätigkeit gab das Komitee Empfehlungen und Anregungen an die in ihm vertretenen Verant-wortungsträger. Wichtige gesetzliche Grundlagen für die Tätigkeit der Leitungen und Leiter auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport waren: die Verfassung, das Jugendgesetz, das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen und ihre Organe, das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, das Gesetz über den Volkswirtschaftsplan und das Arbeitsgesetzbuch.
Weiterhin besaßen spezifische Rechtsvorschriften Bedeutung, wie die
- Verordnung über die Erweiterung des Versicherungsschutzes bei Unfällen in Ausübung gesellschaftlicher, kultureller und sportlicher Tätigkeit,
- Verordnung über die Sicherung einer festen Ordnung an den all-gemeinbildenden polytechnischen Oberschulen - Schulordnung -,
- Anordnung über die Wahrnehmung der Verantwortung der Be-triebe und staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet von Körperkul-tur und Sport,
- Anordnung über die kostenlose Nutzung von Sportstätten,
- Verordnung über die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Volks-eigenen Betriebe, Kombinate und Vereinigungen Volkseigener Be-triebe.
- Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)
Die SED war in der DDR von Beginn an die Kraft, die alle grundsätz-lichen Entscheidungen fällte. Auch gegenüber Körperkultur und Sport nahm sie diese Position ein. So behandelte der anfangs dem Kulturausschuß beim SED-Parteivorstand zugeordnete Sportbereich schon 1946 aktuelle Fragen und gab Hinweise zum weiteren Aufbau des Sports. 1951 folgte eine Entschließung mit Orientierungen grundlegender Art. Parteitage, Parteikonferenzen, Tagungen des Zentralkomitees, Beratungen des Politbüros und des Sekretariats befaßten sich regelmäßig mit Fragen des Sports. Es wurden Vorla-gen behandelt und bestätigt, die als verbindliche Grundlage für das
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Handeln der für Körperkultur und Sport zuständigen gesellschaftli-chen Träger fungierten. Die praktischen Umsetzungen erfolgten über zwei Ebenen:
- durch Beschlüsse der Parteitage, durch Beschlüsse des ZK für bestimmte Perioden und durch Beschlüsse des Politbüros oder des Sekretariats besonders für die Vorbereitung bedeutsamer sportli-cher Höhepunkte;
- durch die Tätigkeit von Mitgliedern der SED in den verschiedenen zentralen und örtlichen Leitungsgremien, vor allem in den gewählten Vorständen und Leitungen des DTSB aller Strukturebenen sowie in den zentralen und örtlichen Staatsorganen und den wissenschaftli-chen Einrichtungen.
Insgesamt war seit 1949 auf Parteitagen und -Konferenzen vier-zehnmal zur Sportentwicklung Stellung genommen worden. Bis 1989 faßten das Politbüro und das Sekretariat insgesamt 95 Be-schlüsse zum Sport. Erörtert wurden Grundsatzdokumente, auch Entschließungen der Turn- und Sporttage des DTSB, Jahressport-pläne, Beschlüsse zum Leistungssport (darunter über Olympische Spiele) und zu den Deutschen Turn- und Sportfesten sowie zu den Kinder- und Jugendspartakiaden.
Das gegenüber der Sportbewegung agierende Organ der Partei war im Zentralkomitee die Abteilung Sport (bis 1961 Arbeitsgruppe Sport) mit 6 Fachkräften. In den Bezirksleitungen war für die Be-lange des Sports ein Mitarbeiter zuständig, während in den Kreis-leitungen ein Funktionär den Sport mit bearbeitete.
- Staatliche Organe
Sowohl die legislativen als auch die exekutiven Organe der Staats-macht in der DDR behandelten kontinuierlich Fragen von Körperkul-tur und Sport.
Die Volkskammer als oberstes staatliches Organ legte mit den Ju-gendgesetzen von 1950, 1964 und 1974 Grundlinien auch für die Sportentwicklung fest. Im Jugendausschuß der obersten Volksver-tretung, der auch Sportfragen behandelte, wurde das Zusammen-wirken mit allen Verantwortungsträgern bei der Durchführung und Kontrolle von Gesetzen und Beschlüssen zur Förderung des Sports praktiziert. In den Bezirkstagen, Kreistagen, Stadtverordnetenver-sammlungen und Gemeindevertretungen nahmen dies die ständigen Kommissionen für Jugendfragen, Körperkultur und Sport wahr.
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Der Staatsrat, der die DDR völkerrechtlich vertrat, hatte 1968 mit seinem Beschluß zu Körperkultur und Sport wichtige Akzente ge-setzt, der jedoch bald seine Wirksamkeit verlor. Erwähnenswert ist die 1961 gestiftete Urkunde des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR für Sportwettkämpfe in der Leichtathletik für Schüler und Lehrlinge.
Der Ministerrat, die Regierung der DDR, legte die staatlichen Auf-gaben von Körperkultur und Sport fest und sicherte entsprechend den Möglichkeiten die Aufnahme der zentralen Vorhaben zum Ausbau ihrer materiellen Bedingungen in die Volkswirtschaftspläne. Bei der Ausarbeitung der Fünfjahr- und Jahrespläne fand generell auch die Entwicklung von Körperkultur und Sport Berücksichtigung; die Pläne waren nach ihrem Beschluß für alle staatlichen Organe und Einrichtungen verbindlich. Zu den Aufgaben des Ministerrates gehörte es, das Zusammenwirken der Ministerien und anderer zentraler Staatsorgane untereinander sowie mit den örtlichen Rä-ten zu sichern, die Anleitung und Kontrolle über die Räte der Bezir-ke auszuüben und die einheitliche Tätigkeit aller örtlichen Räte zu gewährleisten. In Gesetzen und Rechtsvorschriften wurden spezi-elle Festlegungen zur Verantwortung und zu den Aufgaben der einzelnen zentralen Staatsorgane für die staatliche Förderung des Sports getroffen. Darüber hinaus gab es in den Statuten vieler Mi-nisterien und anderer zentraler Staatsorgane Festlegungen über konkrete Aufgaben auf diesem Gebiet. Dazu erließen Minister und Leiter anderer zentraler Organe Anordnungen und Weisungen, die den Sport betrafen. Einige Ministerien und zentrale Staatsorgane trugen spezielle Verantwortungen zur Lösung staatlicher Aufgaben auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport.
Staatssekretariat für Körperkultur und Sport
Das Staatssekretariat wurde am 17.6.1970 gebildet und löste das bis dahin existierende Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport ab. Als Organ des Ministerrates war das Staatssekretariat für die Leitung, Planung und Koordinierung der ihm auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport übertragenen staatlichen Aufgaben verantwortlich. Im Rahmen seiner Gesamtverantwortung sicherte das Staatssekretariat die konsequente Verwirklichung der in lang-fristigen Plänen festgelegten Ziele zur Verbesserung der Bedin-gungen für den Sport.
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Geleitet wurde Staatssekretariat von einem Staatssekretär, dem drei Stellvertreter mit anzuleitenden Fachabteilungen zugeordnet waren.
Die Hauptaufgaben waren:
- Entwicklung der Sportwissenschaft, einschließlich der Sportmedi-zin in Lehre und Forschung;
- Aus- und Weiterbildung von Sportkadern in seinem Verantwor-tungsbereich;
- Vervollkommnung der materiell-technischen Bedingungen;
- Gewährleistung der sportmedizinischen Betreuung der sporttrei-benden Bevölkerung;
- Vervollkommnung des Sportabzeichenprogramms „Bereit zur Ar-beit und zur Verteidigung der Heimat“;
- Sicherung von Maßnahmen internationaler staatlicher Zusam-menarbeit;
- Unterstützung und Anleitung der örtlichen Räte, insbesondere ih-rer Fachorgane Jugendfragen, Körperkultur und Sport bei der Um-setzung ihrer Aufgaben.
Zur Unterstützung der Entwicklung des Sports im jeweiligen Terri-torium. bestanden bei den örtlichen Volksvertretungen ständige Kommissionen Jugendfragen, Körperkultur und Sport. Sie setzten sich aus Abgeordneten und berufenen Mitgliedern zusam-men und bildeten Aktivs - allgemein für Jugendfragen und für Sport. In einem solchen Aktiv Sport wirkten auch viele Funktionä-re des DTSB mit. Als vollziehend-verfügende Organe der örtlichen Volksvertretungen fungierten die örtlichen Räte. Gemäß der Ver-fassung sicherten sie die Tätigkeit der Volksvertretungen und or-ganisierten die Leitung der gesellschaftlichen Entwicklung - dazu gehörte auch der Sport - im jeweiligen territorialen Verantwor-tungsbereich. Sie waren den Volksvertretungen rechenschafts-pflichtig. Bei den Räten der Bezirke, Kreise, Städte, Stadtbezirke und Gemeinden existierten Abteilungen bzw. Fachgebiete für Jugendfragen, Körperkultur und Sport, die ihre Tätigkeit gemäß den Festlegungen des Staatssekretariats und des Amtes für Ju-gendfragen vollzogen. Grundlage für die Tätigkeit der Volksvertre-tungen und ihrer Räte bildete das Gesetz über die örtlichen Volks-vertretungen und ihrer Organe, in dem die Aufgaben und die Ar-beitsweise der örtlichen Volksvertretungen, ihrer Räte, der Kom-
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missionen und der Abgeordneten ausgewiesen waren. Bezogen auf Körperkultur und Sport standen im Vordergrund die
- Förderung der sportlichen Betätigung der Bürger auf der Basis der staatlichen Sportmaßnahmen;
- Entfaltung des sportlichen Leistungsstrebens der Kinder und Ju-gendlichen und Unterstützung des Spartakiadebewegung;
- Nutzung der Sportstätten in Übereinstimmung mit dem DTSB;
- Kontrolle der materiellen und finanziellen Mittel der Betriebe, Kombinate, Genossenschaften und Einrichtungen für sportliche Zwecke.
In den jährlich beschlossenen und für die örtlichen Volksvertretun-gen, aber auch Betriebe und Einrichtungen als Arbeitsgrundlage geltenden Jugendförderungspläne wurden auch Festlegungen zum Sport getroffen.
Dem Staatssekretariat war eine Reihe von Institutionen unterstellt, die bei der Erfüllung von Gesamtaufgaben im Sport mitwirkten:
Wissenschaftlicher Rat (WR)
Er wurde am 28.4.1961 als zentrales Beratungs- und Koordinie-rungsorgan für alle staatlichen Organe und gesellschaftlichen Or-ganisationen, die mit dem Sport befaßt waren, gegründet und am 20.5.1971 neu konstituiert, nachdem seit 1952 ein Wissenschaftli-cher Rat beim Deutschen Sportausschuß bestanden hatte. Der WR, geleitet von einem Präsidium, bestand aus Kommissionen und Fachgruppen, die den Leistungssport, Kinder- und Jugendsport, Volkssport, Theorie, Geschichte und Organisation der Körperkultur, Kaderaus- und -weiterbildung, Sportmedizin und Forschung be-handelten. Grundlage für die Arbeit bildete ein Statut. Das Gene-ralsekretariat hatte seinen Sitz in Berlin.
Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK)
Die DHfK wurde am 22.10.1950 in Leipzig gegründet und war das Zentrum der Lehre und Forschung auf dem Gebiet von Körperkul-tur und Sport. Die Hochschule besaß Promotions- und Habilitati-onsrecht. Über 420 Hochschullehrer, Dozenten und wissenschaftli-che Mitarbeiter unterrichteten rund 2500 Studenten im Direktstudi-um (ab 1950) und Fernstudium (ab 1953), das mit einem Diplom abschloß, zeitweilig Sportlehrer für die Schule (ab 1955, ab 1957 in einem Zweifachstudium) und Trainer in einem Fachschul-
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Fernstudium (ab 1958 und erneut ab 1988). Darunter befanden sich auch viele spätere Mitarbeiter des DTSB in den verschiedens-ten Tätigkeitsbereichen. Seit 1966 gehörte die sportpädagogische Ausbildung der künftigen Fachärzte für Sportmedizin (im Rahmen der Facharztausbildung) und die systematische Weiterbildung der Trainer und Funktionäre des Sports zu den profilbestimmenden Aufgaben der Hochschule. Ausländische Bewerber (insgesamt aus mehr als 90 Ländern) absolvierten ein Direktstudium, ein Magister-studium (ab 1958), ein Hochschulzusatzstudium zur postgradualen Qualifizierung mit Fachschulabschluß (ab 1974), ein zweijähriges Hochschulzusatzstudium mit Studienabschluß Diplomsportlehrer (ab 1985) oder einen der Sonderlehrgänge (ab 1958) beziehungsweise der Internationalen Trainerkurse (ITK ab 1964), für nahezu alle kos-tenfrei. 1976 fand der erste Internationale Sommerkurs (ISK) im Rahmen des IOC-Programms „Olympische Solidarität“ statt.
Strukturell waren die Lehr- und Forschungsdisziplinen der Hoch-schule (seit 1969) in vier Sektionen entsprechend ihrer Spezifika zusammengefaßt worden, nachdem zunächst eine Strukturierung nach Fakultäten und nach Instituten bestand.
Sportmedizinischer Dienst der DDR (SMD)
Der SMD wurde am 1.9.1963 als Einrichtung des damaligen Staatli-chen Komitees für Körperkultur und Sport mit Sitz in Berlin gebildet. Der SMD hatte im Einvernehmen mit dem Ministerium für Gesund-heitswesen folgende Aufgaben wahrzunehmen: Organisation der sportmedizinischen Betreuung der Sportler des DTSB, sportmedizi-nische Betreuung und Kontrolle der Schüler, Lehrlinge und Studen-ten, Unterstützung des Feriendienstes des FDGB in sportmedizini-scher Hinsicht, Durchführung von Sporttauglichkeitsuntersuchungen, Schulsportbefreiungen, Gesundheitskontrollen, prophylaktische und therapeutische sowie sporthygienische Maßnahmen für die sport-treibende Bevölkerung, Organisation der medizinischen Betreuung bei Sportveranstaltungen in Verbindung mit dem DRK, Bearbeitung sportmedizinischer Themen im Rahmen der staatlichen For-schungspläne. Neben einer zentralen Einrichtung bestanden in allen Bezirken sportmedizinische Hauptberatungsstellen und in den Krei-sen Beratungsstellen, die unter der Leitung von einem Bezirks- bzw. Kreissportarzt standen.
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Weitere Einrichtungen des Staatlichen Komitees waren: For-schungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig, Technisches Zentrum für Geräte und Anlagen (TZGA) in Leipzig, Wissenschaftlich- technisches Zentrum für Sportbau-ten (WTZ) in Leipzig, Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte (FES) in Berlin, Zentrales Investitionsbüro für Sportbauten (ZIS) in Berlin.
Beim Staatssekretariat bestanden außerdem zentrale Kommissio-nen auf gesellschaftlicher Basis, wie die „Zentrale Kommission für Skilehrer“, der „Zentrale Ausschuß für Schwimmeisterfragen“ und die „Zentrale Kommission Sportabzeichenprogramm der DDR ‘Be-reit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat’.“
Ministerium für Volksbildung
Ausgehend vom einheitlichen Bildungssystem lag die Zuständigkeit für das Schulwesen beim Ministerium. Bei der Persönlichkeitsent-wicklung spielten körperliche Bildung und Erziehung eine wichtige Rolle. Der Schulsport vollzog sich im Sportunterricht - ein den an-deren Unterrichtsfächern gleichgestelltes Fach - und im außerun-terrichtlichen Sport. Alle gesunden Schüler nahmen am Sportunter-richt teil, der auf der Grundlage einheitlicher Lehrpläne durch Sportlehrer (Absolventen von Instituten für Lehrerbildung, Hoch-schulen und Universitäten) erteilt wurde. Für die Schüler der Unter-stufe (Klassen 1-3) waren zwei, der Mittelstufe (Klassen 4-6) drei und der Oberstufe (Klassen 7-10) sowie Abiturstufe (Klassen 11-12) zwei Wochenstunden im Fach Sport geplant.
Der außerunterrichtliche Sport der Schüler wurde in den Schul-sportgemeinschaften (SSG) realisiert, die im Verantwortungsbe-reich des Ministeriums lagen. Als Arbeitsgemeinschaftstätigkeit gewährleisteten sie die regelmäßige körperlich-sportliche Betäti-gung der Mehrzahl der Mädchen und Jungen außerhalb des Unter-richts, sofern sie nicht im DTSB erfaßt waren. Maßgeblichen Anteil daran hatten vor allem die Sportlehrer und die Turnräte in den Kreisen und Bezirken. Als „Fachleute“ des Sports spielten die Sportlehrer eine wichtige Rolle im außerunterrichtlichen und au-ßerschulischen Sport. Viele von ihnen fungierten als SSG-Leiter und wurden vom Schuldirektor und speziell von dem stellvertreten-den Direktor für außerunterrichtliche Tätigkeit angeleitet. Eine gro-ße Anzahl von Sportlehrern übte Funktionen im DTSB als Lei-
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tungskader in einer Sportgemeinschaft, als Übungsleiter in einer Sportgemeinschaft oder als Kampfrichter in einem Sportverband aus. Entsprechend ihren Aufgaben gliederten sich die Schulsport-gemeinschaften in
- allgemeine Sportgruppen mit vielseitigen Möglichkeiten der kör-perlich- sportlichen Betätigung für Schüler aller Altersstufen und
- Sektionen in bestimmten Sportarten für sportartspezifisch inte-ressierte Schüler.
Ein Sportrat unterstützte den Leiter der SSG bei der Lösung seiner Aufgaben, der als berufenes Gremium faktisch die Leitung der SSG ausübte.
Zusammensetzung des Sportrates: Leiter, Vertreter der Paten-SG, Vorsitzender der Sportkommission der FDJ und Pionierorganisati-on an der Schule, Vertreter des Elternbeirates, Sektionsleiter, Übungsleiter.
Für die Finanzierung des außerunterrichtlichen Sports standen ge-mäß einer Richtlinie jedem Schüler im Haushalt der Schule 2,00 M und im Haushalt der Abteilung Volksbildung des Rates des Kreises 1,40 M pro Schuljahr zur Verfügung. Eingesetzt werden konnten diese Mittel für Fahrkosten zu Wettkämpfen sowie für die Durchfüh-rung von Lehrgängen. Die Richtlinie über die Entschädigung von SSG-Übungsleitern sah je Stunde 7,00 M vor.
Der Kreisturnrat war als Mitarbeiter der Abt. Volksbildung im Rat des Kreises dem Kreisschulrat unterstellt. Zu seinen Aufgaben ge-hörten das
- Sichern des Niveaus im außerunterrichtlichen Sports durch die kontinuierliche Anleitung der SSG-Leiter;
- Koordinierung der Wettkämpfe im Kreis mit dem DTSB und den Kreisfachausschüssen sowie der Übungsleiterqualifizierung in den SSG;
- Wahrnehmung der Interessen in Leitungen des Sports (Sekretari-at des DTSB-Kreisvorstandes, Kommission Kinder- und Jugend-sport beim Kreisvorstand, Kreisspartakiadekomitee).
Der Bezirksturnrat - analog Mitarbeiter im Bezirk - nahm Einfluß auf die Tätigkeit der Kreisturnräte, besonders durch Erfahrungsaustausch. Seine enge Zusammenarbeit mit dem DTSB wurde durch die Mit-gliedschaft im Sekretariat des DTSB- Bezirksvorstandes, in der Kom-mission Kinder- und Jugendsport beim Bezirksvorstand sowie im Be-zirksspartakiadekomitee wirksam.
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Im Ministerium für Volksbildung war für den gesamten Schulsport eine Abteilung zuständig. Sie bearbeitete mit je einem Mitarbeiter unter Verantwortung eines Abteilungsleiters
- den Sportunterricht einschließlich des Sports in den Kindergärten,
- den außerschulischen Sport,
- die Kinder- und Jugendsportschulen.
In wissenschaftlicher Hinsicht kooperierte das Ministerium mit der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften (APW) ; die Ab-teilung Sport mit der dortigen Arbeitsstelle Körpererziehung. Die APW koordinierte die gesamte wissenschaftliche Arbeit mit den pädagogischen Hochschulen und Universitäten mit Lehrerausbil-dung.
Als Spezialschulen existierten gemäß dem Bildungsgesetz die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS), die im Verantwortungs-bereich des Ministeriums für Volksbildung lagen. Die ersten Sport-schulen nahmen ihren Betrieb im Jahre 1952 auf und waren zu-nächst nur für Kinder vorgesehen. Die KJS entwickelten sich wie folgt in den einzelnen Schuljahren:
1952/53 4 KJS
1953/54 9 „
1954/55 17 „
1961/62 22 „
1989/90 25 „
In den sechziger Jahren wandelte sich der Charakter der KJS, da sie Teil des Systems im Leistungssport wurden. Sie kooperierten mit den Sportclubs (SC). Vertreter der Schulleitung waren in den Club-leitungen vertreten und ebenso Clubfunktionäre in den Schulleitun-gen. Sehr bald vollzogen sich auch örtliche Zusammenlegungen von KJS und SC, meist in den Bezirksstädten. Für auswärtige Schüler standen Internate zur Verfügung. Der Allgemeinunterricht fand an den Schulen statt, während die sportliche Ausbildung und Erziehung in den SC erfolgte. Vorteilhaft war, daß die Stundenpläne nach den Trainingszeiten gestaltet werden konnten. Die talentiertesten Schüler hatten die Möglichkeit, bis zum Abitur an der KJS zu lernen, das durch eine Schulzeitstreckung in der 13. Klasse abgelegt werden konnte.
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Staatssekretariat für Berufsbildung
Gemäß dem einheitlichen Bildungssystem waren die Einrichtungen der Berufsbildung für die Qualifizierung der Lehrlinge zu Facharbei-tern zuständig. Die Berufsausbildung in den verschiedenen Einrich-tungen (betriebliche oder kommunale Berufsschulen) dauerte all-gemein zwei Jahre, während drei Jahre für die Berufsausbildung mit Abitur vorgeschrieben waren. Auch in der beruflichen Qualifizie-rung nahm der Sport einen wichtigen Platz ein. Für den Sportunter-richt standen zwei Wochenstunden zur Verfügung; sie lagen im Verantwortungsbereich des Ministeriums für Volksbildung. Grund-lage für den außerunterrichtlichen Sport der Lehrlinge bildete eine gemeinsame Richtlinie des DTSB und des Staatssekretariats. Danach lag die Zuständigkeit für den außerunterrichtlichen Sport der Lehrlinge beim DTSB, der dabei von Organen und Einrichtun-gen der Berufsbildung unterstützt wurde. Den Besonderheiten der Unterrichtsorganisation Rechnung tragend, bestanden Abteilungen Lehrlingssport als organisatorischer Teil der jeweiligen Betriebs-sportgemeinschaft, die sich in Sektionen und auch Allgemeine Sportgruppen gliederten. Vielerorts gab es sogar eigene Lehrlings-sportgemeinschaften als Grundorganisationen des DTSB. Zur Un-terstützung des außerunterrichtlichen Sports der Lehrlinge bestand an den Berufsschulen eine „Arbeitsgruppe Lehrlingssport“. Ihr oblag es, bei der Organisierung des Sports der Lehrlinge mitzuhel-fen. Der Leiter dieser Arbeitsgruppe - ein Sportlehrer - war gleich-zeitig Mitglied der Sportkommission bei der Betriebsleitung und ge-hörte oftmals dem BSG-Vorstand an. Für die gesamte außerunter-richtliche Tätigkeit der Lehrlinge und ihrer Organisation war in den berufsbildenden Schulen ein Instrukteur für Kultur und Sport zu-ständig. Er unterstützte den Direktor bei der Planung und Durch-führung der sportlichen Tätigkeit. Seine besondere Aufmerksamkeit galt der Ausrichtung von Sportfesten und der Teilnahme der Lehr-linge an den Spartakiadewettkämpfen. Bei den Abteilungen Be-rufsbildung und -beratung der Räte der Kreise und Bezirke fun-gierten als Fachberater für Körpererziehung berufene Sportleh-rer. Im Staatssekretariat war ein Referent für Sportfragen mit zu-ständig.
Von Mitte der 50er bis Mitte der 60er Jahre fanden zentrale Sport-feste der Lehrlinge, Berufsschüler und EOS-Schüler statt. Seit An-
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fang der 70er Jahre erfreute sich der Fernwettkampf „Stärkster Lehrling/Sportlichstes Mädchen gesucht“ großer Beliebtheit.
Ministerium für Hochschul- und Fachschulwesen (MfHF)
Das MfHF trug auch die Verantwortung für die sportliche Ausbil-dung der Studenten, die Bestandteil der Studienpläne war. In den Hochschul- und Fachschulsportgemeinschaften (HSG/FSG) wurde der außerunterrichtliche Sport - angeleitet vom Präsidium für Hoch- und Fachschulsport, einem Gremium im DTSB - realisiert. Fachkommissionen waren für die sportartbezogene Tätigkeit zu-ständig, insbesondere für das Wettkampfgeschehen. Hauptamtlich fungierte ein Generalsekretär.
Amt für Jugendfragen
Das Amt bereitete Entscheidungen des Ministerrates über staatli-che Aufgaben sozialistischer Jugendpolitik vor und sicherte die Kontrolle und Berichterstattung über das Verwirklichen des Ju-gendgesetzes. Ein Schwerpunkt war die Einflußnahme auf das planmäßige Erweitern der materiellen Basis verschiedenster Ju-gendeinrichtungen (Jugendherbergen, Ferienlager). Zur Koordinie-rung der Tätigkeit der verschiedenen Träger für die Feriengestal-tung existierten zentral, in den Bezirken, Kreisen, Städten und Ge-meinden sowie Betrieben/Einrichtungen Ausschüsse für Ferien-gestaltung, in denen auch Vertreter des DTSB auf der jeweiligen Leitungsebene mitarbeiteten.
- Gesellschaftliche Organisationen
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB)
Der FDGB hat seit seiner Gründung im Jahre 1945 den Sport ge-fördert und als Mitbegründer des Deutschen Sportausschusses zur Entwicklung der Sportbewegung entscheidend beigetragen. Grund-lagen wurden schon mit der Gründung der Betriebssportgemein-schaften und der Sportvereinigungen geschaffen. Seit Bestehen des DTSB unterstützte der FDGB ihn beim Werben von Werktäti-gen für regelmäßige sportliche Betätigung. Grundlage bildeten für alle Gewerkschaftsleitungen die Vereinbarungen der Bundesvor-stände des FDGB und des DTSB sowie die entsprechenden Be-schlüsse des Präsidiums und Sekretariats des FDGB-Bundesvor-standes. Besonders durch das Gemeinsame Sportprogramm von
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DTSB, FDGB und FDJ wurden in Betrieben und Kreisen viele sport-liche Aktivitäten initiiert. Großen Anteil daran hatten die gewerk-schaftlichen Sportorganisatoren in den Gewerkschaftsgruppen. Sie engagierten sich, daß der Sport Teil der gewerkschaftlichen Lei-tungstätigkeit im Betrieb wurde und organisierten zusammen mit Funktionären der Betriebssportgemeinschaften den Freizeit- und Er-holungssport. Dabei konnten sie sich ökonomisch auf die Betriebs-kollektivverträge stützen, die auch konkrete Fördermittel für den Sport enthielten. Jährlich nahmen Millionen an volkssportlichen Ver-anstaltungen im Rahmen der Urlauber-Olympiaden in den Betriebs-ferienheimen teil. Eine Bereicherung für die Wettkampfsysteme vie-ler Sportverbände waren die FDGB-Pokalwettkämpfe. Hauptamtlich fungierte im FDGB-Bundesvorstand eine Abteilung Sport, in den Bezirksvorständen nahm ein Mitarbeiter die Sportbelange wahr, und in den Kreisvorständen gehörte es zum Arbeitsbereich eines Mitar-beiters. Zur Koordinierung existierten bei den gewerkschaftlichen Leitungen und Vorständen aller Ebenen eine ehrenamtliche Sport-kommission. Finanziell unterstützte der FDGB die BSG durch Zu-schüsse, deren Höhe und Verwendung jährlich zwischen den Kreisvorständen des FDGB und des DTSB vereinbart wurden.
FDJ und ihre Pionierorganisation „Ernst Thälmann“
Die Kinder- und Jugendorganisation hatte seit ihrer Gründung aktiv den Sport mitgestaltet. Massensportliche Aktivitäten, wie der Er-werb des Massenwintersportabzeichens in den 50er Jahren für Junge Pioniere und FDJler, Goldener, Silberner oder Bronzener Schneemann für die Jung- oder Goldener Schneeschuh für die Thälmannpioniere sowie seit 1949 verschiedener Massen-Sommersportabzeichen regten zum Sporttreiben an. Dazu kam noch das Touristenabzeichen. FDJ- und Pionierpokale bereicher-ten das Wettkampfgeschehen in den Sportverbänden für die Kin-der- und Jugendaltersklassen. Sportliche Höhepunkte in den 50er und 60er Jahren waren Winter- und Sommersportmeisterschaften der Jungen Pioniere und Schüler sowie die Winterspiele und Pio-nierspartakiaden. Umfassende Unterstützung erfuhr der DTSB vor allem durch die Gewinnung junger Mitglieder für die Sportgemein-schaften. Eine Kommission Sport in den FDJ-Grundorganisationen und den Pionierfreundschaften der Schulen engagierte sich für die zahlreichen Aufgaben. In diese Kommissio-
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nen wurden bewährte Sportler, sportbegeisterte FDJ-Mitglieder und Pioniere berufen. Vorsitzender dieser Kommission Sport war in der Regel ein Mitglied der Leitung der FDJ-Grundorganisation, sein Stellvertreter ein Thälmannpionier und Mitglied des Freundschafts-rates, der gewählten Pionierleitung an der Schule. Ihr konnten 8 bis 10 FDJ-Mitglieder und Pioniere angehören. Die Kommission Sport plante ihre Tätigkeit auf der Grundlage des FDJ- und Pionierauftra-ges und des Jahressportprogramms der Schule und der daraus abgeleiteten sportlichen Vorhaben der FDJ-Grundorganisation und der Pionierfreundschaft. In den FDJ-Grundorganisationen lag die Förderung des Sporttreibens in den Händen eines Funktionärs für Kultur und Sport der gewählten Leitung. Die hauptamtlichen Sek-retäre für Kultur und Sport der Kreis- und Bezirksleitungen der FDJ leiteten innerhalb der Organisation die nachgeordneten Lei-tungen an und organisierten den Erfahrungsaustausch. Außerhalb der FDJ wurden sie durch ihre Mitgliedschaft in den Kreis- bzw. Bezirksvorständen des DTSB wirksam und arbeiteten in den Spar-takiadekomitees auf Kreis- und Bezirksebene mit. Eine wichtige Rolle hatten die berufenen Räte der Freunde der Pionierorganisati-on bei deren Freundschaftsräten, Kreis- bzw. Bezirksleitungen zu spielen. In ihnen arbeiteten auch Vertreter des DTSB mit und unter-stützten die Sportarbeit der Jung- und Thälmannpioniere. Ebenso wirkte im zentralen Rat der Freunde ein Vertreter des DTSB-Bundesvorstandes als berufenes Mitglied mit. Im Apparat des FDJ-Zentralrats war ein Sekretär für die Sportfragen zuständig, der auch die Abteilung Sport anleitete. Zeitweilig bestand eine berufene Sportkommission beim Zentralrat. In der Pionierorganisation unter-standen die zentralen Sportbelange hauptamtlich einem stellvertre-tenden Vorsitzenden der Kinderorganisation. Er leitete den Sektor Sport und Touristik an. Auch hier existierte zeitweilig eine Kommissi-on Sport.
Gesellschaft für Sport und Technik (GST)
Die GST, 1952 gegründet, war die Wehrsportorganisation in der DDR. In Vorbereitung auf den Wehrdienst wurden Jugendliche ab 14 Jahre in die vormilitärische Ausbildung und Laufbahnausbildung einbezogen. Außerdem konnten sie sich in verschiedenen Wehr-sportarten betätigen. Dazu bestanden in den Grundorganisationen spezifische Sektionen. Die Mitgliedschaft war beitragspflichtig. Im
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Rahmen ihrer wehrsportlichen Betätigung wurden von den Mitglie-dern Leistungsprüfungen - mit entsprechendem Abzeichenerwerb (allgemein in 3 Stufen) - abgelegt, wozu auch die allseits begehrte Fahrerlaubnis gehörte.
Das höchste Organ der GST war der Kongreß, in den nachgeordne-ten Strukturebenen die Delegiertenkonferenzen bzw. die Mitglieder-versammlungen. Als Leitungsgremien fungierten der Zentralvor-stand, die Bezirksvorstände, die Kreisvorstände, die Vorstände der Grundorganisationen und Sektionen. Auf allen Leitungsebenen be-standen Revisionskommissionen.
Folgende spezifische Dachorganisationen koordinierten die wehr-sportliche Betätigung:
Flug- und Fallschirmsportverband der DDR
Militärischer Mehrkampfverband der DDR
Modellsportverband der DDR
Motorsportverband der GST
Radiosportverband der DDR
Deutscher Schützenverband der DDR
Seesportverband der DDR
Tauchsportverband der DDR
Wehrkampfsportverband der DDR
Der Schützenverband wirkte eng mit dem DTSB zusammen, be-sonders mit der Armeesportvereinigung und der SV Dynamo. Die GST trug Meisterschaften und Wehrspartakiaden aus.
Deutsches Rotes Kreuz der DDR (DRK)
Das DRK vermittelte seinen Mitgliedern die für die Rotkreuzarbeit notwendigen Kenntnisse und entwickelte dabei eine breite gesund-heitspolitische Aufklärungs- und Ausbildungstätigkeit, um den Ge-sundheitsschutz zu verbessern. Spezifische Aufgaben ergaben sich bei der Betreuung der Bürger in der Freizeit, also auch beim Sport. Es bestand eine enge Verbindung zum DTSB, um möglichst vielen Sportlern Grundkenntnisse in der Selbsthilfe und in der gegenseiti-gen Hilfe zu vermitteln. Die Mitglieder des DRK und interessierte Bürger, die ausreichende Kenntnisse im Schwimmen, Skilaufen oder Felsklettern besaßen, konnten an einer Spezialausbildung teilneh-men und das Zeugnis als Rettungsschwimmer oder Bergunfallhelfer erwerben. Kinder zwischen 10 und 14 Jahren konnten an einer Aus-bildung teilnehmen, die mit einer Prüfung als Junger Bergunfallhel-
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fer, Junger Rettungsschwimmer oder Junger Sanitäter abschloß. Bei Großsportveranstaltungen unterstützte das DRK den Sportmedizini-schen Dienst.
Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD)
Es gehörte zu den besonderen Anliegen der Frauenorganisation, Einfluß auf eine allseitige Entwicklung der Frauen zu nehmen. Das bezog den Sport mit ein und führte zu einer engen Zusammenar-beit mit dem DTSB. Basis war eine 1985 abgeschlossene Verein-barung. In den auf Initiative des DFD gebildeten Sportgruppen trie-ben zahlreiche Frauen aller Altersstufen regelmäßig Sport. Aktiven Einfluß nahm der DFD auch auf die Entwicklung sportlichen Le-bens in den Wohn- und Naherholungsgebieten, auf die Gewinnung von Teilnehmern am Familienfernwettkampf der Zeitschrift „Für Dich“.
Nationale Front der DDR (NF)
Die Nationale Front vereinigte Parteien und Massenorganisationen, um aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Zu den Mitgliedern gehörte auch der DTSB. In den Ausschüssen der Nati-onalen Front arbeiteten Sportfunktionäre aktiv mit und trugen oft zur Entwicklung regen sportlichen Lebens in den Wohngebieten bei.
Komitee für Touristik und Wandern der DDR (KTW)
Das KTW wurde als gesellschaftliche Einrichtung 1956 gegründet; es koordinierte alle touristischen Belange. Zentral sowie in den nachgeordneten Bezirks- und Kreiskomitees wirkten auch Vertre-ter des DTSB mit. Das Komitee organisierte vielfältige Maßnah-men auf dem Gebiet der Touristik. Es vergab das Touristenabzei-chen. Mit Bildung von Jugendtourist, dem Jugendreisebüro, 1975 wurde das KTW in dieses Unternehmen integriert.
Nationales Olympisches Komitee der DDR (NOK)
Das NOK war Sachwalter und höchster Repräsentant der olympi-schen Bewegung in der DDR. Es wurde am 22.4.1951 in Berlin gemäß dem Statut des IOC gegründet. Die Anerkennung der völli-gen Souveränität des NOK der DDR durch das IOC erfolgte in drei Etappen: 1. 1955 provisorisch auf der 50. IOC-Tagung in Paris mit
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der Festlegung, ab den Olympischen Spielen 1956 mit dem NOK für Deutschland gemeinsame Mannschaften zu entsenden; 2. 1965 vollgültig auf der 63. IOC-Tagung in Madrid mit dem Recht, an künftigen Olympischen Spielen mit eigenen Mannschaften teilzu-nehmen, bei den Spielen 1968 jedoch mit den Symbolen der ge-meinsamen deutschen Mannschaft zu starten; 3. 1968 Zuerken-nung aller Rechte auf der 67. IOC-Tagung in Mexiko und damit Teilnahme an künftigen Spielen mit eigener Fahne und Hymne so-wie Emblem und unter der offiziellen Staatsbezeichnung. Vollzugs-organ des NOK war sein Präsidium. Es wurde für die Dauer von vier Jahren gewählt. Das Präsidium setzte sich aus dem Präsiden-ten, zwei Vizepräsidenten, dem Generalsekretär, dem Schatzmeis-ter, einem Kunstwart, einem Pressechef sowie aus 3 bis 5 Beisit-zern zusammen. Dem NOK gehörten Ordentliche Mitglieder, Per-sönliche Mitglieder und Ehrenmitglieder an. Grundlage für die NOK-Arbeit bildete das Statut. Ein Generalsekretariat, geleitet vom Generalsekretär, erledigte alle aktuellen Aufgaben.
Gesellschaft zur Förderung des Olympischen Gedankens in der DDR
Am 1.2.1960 gegründet, hatte die Gesellschaft die Aufgabe, den olympischen Gedanken zu pflegen. Es wurden Veranstaltungen organisiert, Vorträge gehalten und Publikationen herausgegeben. Vielfältige Aktivitäten trugen dazu bei, die Teilnahme an den Olym-pischen Spielen zu finanzieren. An der Spitze der Gesellschaft stand ein Präsidium; ihm gehörten der Präsident, die Vizepräsi-denten, der Schatzmeister, der Generalsekretär und weitere Präsi-diumsmitglieder an. Für die laufenden Geschäfte war ein General-sekretär zuständig. Interessierte Bevölkerungskreise konnten als Förderer (Einzelpersonen) oder als Korporative Mitglieder (Grup-pen oder Institutionen) die Tätigkeit der Gesellschaft unterstützen. Sie zahlten eine Jahresspende in selbstgewählter Höhe.
Komitee für Körperkultur und Sport der DDR
Um ein effektiveres Zusammenwirken aller Verantwortlichen auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport zu gewährleisten, wurde am 12.8.1970 das gesellschaftliche Komitee für Körperkultur und Sport der DDR gegründet. Es übernahm die Koordinierungsaufga-ben des bisherigen Staatlichen Komitees. Die koordinierende Tä-
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tigkeit des Komitees war für den DTSB und andere mit Sport be-faßten Institutionen von hohem Nutzen. Das Komitee beriet Grund-satzprobleme und leitete daraus Empfehlungen und Vorschläge ab. So verabschiedete das Komitee „Empfehlungen für die weitere Leistungssteigerung der jungen Generation“ (1971); „Empfehlun-gen für die weitere Entwicklung von Körperkultur und Sport und Touristik der Werktätigen“ (1972); „Empfehlungen zur Realisierung des Sportabzeichenprogramms“ (1976), „Empfehlungen zur effekti-ven Nutzung und planmäßigen Vervollkommnung der materiell-technischen Bedingungen von Körperkultur und Sport“ (1977). Dem Komitee gehörten Vertreter (Präsidenten und Vizepräsiden-ten, Vorsitzende und stellvertretende Vorsitzende, Sekretäre, stell-vertretende Minister, Staatssekretäre und stellvertretende Staats-sekretäre) gesellschaftlicher Organisationen bzw. staatlicher Orga-ne sowie Einzelpersönlichkeiten an.
Die Mitgliedsinstutionen im Komitee waren: Bundesvorstand des DTSB, Bundesvorstand des FDGB, Zentralrat der FDJ, Zentralvor-stand der GST, Bundesvorstand des DFD, Staatliche Plankom-mission, Ministerium für Bauwesen, Ministerium der Finanzen, Minis-terium für Gesundheitswesen, Ministerium für Hoch- und Fach-schulwesen, Ministerium des Innern, Ministerium für Kultur, Ministe-rium für Nationale Verteidigung, Ministerium für Staatssicherheit, Mi-nisterium für Volksbildung, Staatssekretariat für Berufsbildung, Staatssekretariat für Körperkultur und Sport, Amt für Jugendfragen .
Betriebe und Einrichtungen
Auf der Grundlage des Jugendgesetzes, des Gesetzbuches der Arbeit und weiterer gesetzlicher Regelungen und Rechtsvorschrif-ten hatten die Leiter von Betrieben und Einrichtungen immer um-fassender die komplexe Einbeziehung von Körperkultur und Sport in die staatliche Leitung und Planung (Volkswirtschafts-, Jugend-förderungspläne und andere betriebliche Plandokumente) zu si-chern, indem sie die Tätigkeit der Betriebssportgemeinschaften förderten und gewährleisteten, daß die betrieblichen Sport-einrichtungen und die finanziellen Fonds zur Entwicklung des sportlichen Lebens zweckentsprechend eingesetzt wurden. Die Leiter wirkten beim Lösen dieser Aufgaben eng mit der Betriebs-gewerkschaftsleitung, der FDJ-Leitung und dem BSG-Vorstand sowie mit den zuständigen territorialen Staatsorganen zusammen.
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Dabei wurden sie von der unter ihrer Leitung stehenden Sport-kommission, die eine beratende und koordinierende Funktion ausübte, unterstützt.
Weitere gesellschaftliche Institutionen
Die Entwicklung der Körperkultur in der DDR wurde zudem geför-dert durch folgende Parteien und Massenorganisationen: CDU, DBD, LDPD, NDPD; Verband der Journalisten mit der Sportjour-nalistenvereinigung - Initiator der Bewegung „Eile mit Meile“ -, Ge-sellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, URANIA, Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse, Nati-onales Komitee für Gesundheitserziehung, Kulturbund, Schriftstellerverband, Verband Bildender Künstler, Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler, Verband der Ar-chitekten, Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe, Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter.
3. Ziele, Aufgaben und Inhalte des Sportbetriebs im DTSB
Der Deutsche Turn- und Sportbund, am 27./28.4.1957 in Berlin ge-gründet, war die Sportorganisation der DDR. Historisch gesehen, ist er - wie schon erwähnt - hervorgegangen aus dem Deutschen Sportausschuß und dem Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport und aus den inzwischen aufgelösten gewerkschaftlichen Sportvereinigungen - außer Dynamo, Lokomotive, Vorwärts und Wismut - und natürlich vor allem den Sportverbänden. Seine Aufga-be bestand darin, die sportliche Betätigung der Mitglieder zu ermög-lichen und gesamtgesellschaftliche Erfordernisse zu berücksichti-gen. Verbindliche Arbeitsgrundlage bildete das Statut. Der DTSB sah sich als der Initiator, Mobilisator und Organisator des Sports. Jedes Mitglied besaß einen Ausweis. Die im Statut des DTSB fixier-ten Aufgaben lauteten:
- allen sportinteressierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die Möglichkeit zu geben, sich sportlich zu betätigen;
- die olympische Idee zu achten und zu fördern und freundschaftli-che Beziehungen zu Sportlern aller Staaten zu pflegen;
- an der Erziehung und Bildung von sozialistischen Persönlichkei-ten mitzuwirken;
- die sportlichen Fähigkeiten und Talente der Sportlerinnen und Sportler zu entfalten;
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- den Freizeit- und Erholungssport zu gestalten;
- mitzuhelfen, in Betrieben, Genossenschaften, Institutionen, Wohnbereichen, Naherholungs- und Urlaubsgebieten vielseitige Möglichkeiten zur Ausübung von Sport, Spiel und Touristik zu schaffen.
Um seine Aufgaben zu lösen, konnte sich der DTSB auf einen gro-ßen Kreis ehrenamtlicher Kräfte stützen und verfügte über qualifi-zierte - oft diplomierte oder promovierte DHfK-Absolventen - Funk-tionäre.
Die Mitgliederbewegung im Sport der DDR:
1950 691.180
1955 1.163.265
1960 1.439.097
1965 1.813.261
1970 2.155.812
1975 2.598.861
1980 3.139.333
1985 3.564.852
1990 2.454.605
Da ein Sportinteressierter sowohl im DTSB als auch im DAV oder ADMV Mitglied sein konnte, war eine Mehrmitgliedschaft gegeben.
3.1. Aufbau und Struktur der Sportorganisation
Der Organisationsaufbau und die Leitungsstruktur des DTSB sind historisch gewachsen. Sie sicherten die organisatorischen Bedin-gungen für die Verwirklichung der Ziele und Aufgaben sowie für die Tätigkeit der Vorstände, Leitungen und Vorsitzende bzw. Leiter. Die Sportorganisation war nach Grundsätzen aufgebaut, denen der demokratische Zentralismus zugrunde lag.
Der Organisationsaufbau des DTSB wurde sowohl von der poli-tisch-territorialen Struktur des Staates als auch vom arbeitsteiligen Vollzug der Aufgaben und deren Spezifika bestimmt. Der DTSB gliederte sich in
Grundorganisationen,
Kreis-, Stadt- und Stadtbezirksorganisationen,
Bezirksorganisationen,
Sportvereinigungen und
Sportverbände.
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Die Grundorganisationen des DTSB bildeten die über 10.600 Sportgemeinschaften (SG) bzw. Betriebssportgemeinschaften (BSG) der Betriebe, landwirtschaftlichen Produktionsgenossen-schaften, Verwaltungen, Hoch- und Fachschulen, in städtischen und ländlichen Wohngebieten, der Nationalen Volksarmee und der staatlichen Schutz- und Sicherheitsorgane. Zu den Grundorganisa-tionen gehörten auch die Sport- und Fußballclubs. Außerdem zähl-ten die 6.500 Orts- und Betriebsgruppen des Deutschen Angler-verbandes (DAV) und die 660 Motorsportclubs des Allgemeinen Deutschen Motorsportverbandes (ADMV) dazu. Die Sportgemein-schaften gliederten sich insgesamt in 45.000 Sektionen und 19.000 Allgemeine Sportgruppen.
Die 241 Kreis-, Stadt- und Stadtbezirksorganisationen des DTSB erfaßten die in ihrem Territorium bestehenden Grundorgani-sationen, die Kreisfachausschüsse (KFA) und die Trainingszentren (TZ).
Die 15 Bezirksorganisationen des DTSB umschlossen die im Be-zirk bestehenden Kreis-, Stadt- und Stadtbezirksorganisationen, die Bezirksfachausschüsse (BFA) sowie die Sport- bzw. Fußball-clubs (SC/FC).
Die beiden Sportvereinigungen „Dynamo“ und „Vorwärts“ waren organisatorische Bestandteile des DTSB und hatten den Status von Bezirksorganisationen. Für die Sportvereinigungen galten eigene Satzungen bzw. Instruktionen, die den Organisationsaufbau in An-lehnung an das Statut des DTSB und unter Beachtung ihrer spezifi-schen Bedingungen festlegten.
Dem DTSB gehörten 33 Sportverbände an, in deren Zuständigkeit die Entwicklung für ihre Sportart sowie ihre Vertretung in den in-ternationalen Sportföderationen fiel. Durch eigene Satzungen wur-den Organisationsaufbau und Leitungsstruktur der Sportverbände unter Zugrundelegung des Statutes des DTSB geregelt. Zwei wei-tere Sportverbände, der Allgemeine Deutsche Motorsportverband der DDR (ADMV) und der Deutsche Anglerverband der DDR (DAV), waren dem DTSB korporativ angeschlossen. Als nachge-ordnete Gliederungen der Verbände bestanden die Bezirksfach-ausschüsse sowie die Fachausschüsse der Kreise, Städte bzw. Stadtbezirke, die im jeweiligen Territorium die Sportbelange regel-ten. Die unterste Struktureinheit der Sportverbände stellten die Sektionen dar; diese hatten quasi eine doppelte Unterstellung.
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Entsprechend der Prinzipien des demokratischen Zentralismus bil-deten das DTSB-Präsidium, die Bezirks-, Kreis-, Stadt- und Stadt-bezirksvorstände, Vorstände der Sport- und Fußballclubs sowie Präsidien der Sportverbände und Fachausschüsse der Bezirke und Kreise ständige oder zeitweilige Kommissionen, die Beschlüsse vorbereiteten. Sie galten als Organe der jeweiligen Vorstände und Leitungen und hatten beratende Funktion. Ihre Mitglieder wurden durch die zuständigen Leitungsorgane berufen. In der Regel exis-tierten folgende Kommissionen: Leitung und Planung, Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb, Kinder- und Jugendsport, Frei-zeit-/Erholungssport, Ehrungen und Auszeichnungen, Propaganda /Kultur /Internationale Verbindungen, Finanzen.
Eine spezifische Stellung nahmen die Revisionskommissionen als Kontrollorgane im DTSB ein. Sie bestanden beim Bundesvor-stand, bei den Präsidien der Sportverbände, bei den Bezirks- sowie Kreis-, Stadt- und Stadtbezirksvorständen, den Vorständen der Sportgemeinschaften, Sport- und Fußballclubs sowie den Leitun-gen der Sportvereinigungen. Die Revisionskommissionen wurden von den jeweils höchsten Organen gewählt und waren ihnen re-chenschaftspflichtig. Sie arbeiteten auf der Grundlage des Statutes des DTSB und den für die Tätigkeit der Revisionskommissionen er-lassenen Richtlinien. Zu ihren Aufgaben gehörten die Kontrolle
- der Erfüllung der festgelegten Aufgaben durch die Vorstände und Leitungen,
- des schnellen und gründlichen Verwirklichen der Beschlüsse,
- das rechtzeitige und korrekte Bearbeiten der Vorschläge, Hinwei-se, Anfragen und Kritiken der Mitglieder und aus der Bevölkerung,
- der Finanz- und Wirtschaftstätigkeit.
In den Vorständen und Leitungen des DTSB waren hauptamtliche Mitarbeiter tätig. Dabei gab es bei den leitenden Führungskräften - im Bundesvorstand beim Präsidenten und den Vizepräsidenten, in den Bezirks- sowie Kreisvorständen, bei den jeweiligen Vorsitzen-den und stellvertretenden Vorsitzenden - keine Trennung zwischen Ehren- und Hauptamt. Die Arbeitskollektive, bestehend aus politi-schen Mitarbeitern, Spezialisten und technischen Kräften, arbeite-ten im Auftrag der gewählten Vorstände und Leitungen. Das Ar-beitsrechtsverhältnis hauptamtlicher Mitarbeiter begründete sich durch Wahl oder Berufung, für technische Mitarbeiter ausschließ-lich durch einen Arbeitsvertrag. Ihre wichtigsten Aufgaben waren:
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Vorbereitung von Beschlüssen der Leitungsorgane, die anschlie-ßende Durchsetzung und Kontrolle dieser Beschlüsse, die Erstel-lung von Analysen, Berichten und Einschätzungen sowie von Kon-zeptionen und Plänen; Tätigkeiten im Kader-, Wirtschafts- und Fi-nanzbereich; die Anleitung und aktive Unterstützung nachgeordne-ter Leitungen, insbesondere die Zusammenarbeit mit den ehren-amtlichen Funktionären und mit Vertretern der staatlichen Organe, Betriebe und gesellschaftlicher Organisationen.
3.2. Organe, Vorstände und Leitungen des DTSB und ihre Auf-gaben
Das höchste Organ war der Turn- und Sporttag des DTSB. Die Delegierten wurden alle sechs Jahre auf den Verbandstagen der Sportverbände, den Bezirksdelegiertenkonferenzen und den Dele-giertenkonferenzen der Sportvereinigungen gewählt. Der Turn- und Sporttag nahm den Rechenschaftsbericht des Bundesvorstandes sowie den Bericht der Zentralen Revisionskommission entgegen, beschloß über Anträge und Vorlagen, legte die grundsätzlichen Aufgaben fest und wählte den neuen Bundesvorstand sowie die Zentrale Revisionskommission.
Der Bundesvorstand des DTSB leitete zwischen den Turn- und Sporttagen die gesamte Tätigkeit in der Sportorganisation. Er wur-de vom Präsidium einberufen und tagte nach Bedarf, mindestens zweimal im Jahr. Auf seinen Tagungen nahm er den Bericht des Präsidiums entgegen und faßte grundsätzliche Beschlüsse, z.B. den Jahressportplan des DTSB. Im Bundesvorstand, dem 150 Mit-glieder angehörten, waren alle Sportverbände, die angeschlosse-nen Verbände und die Sportvereinigungen sowie alle Vorsitzenden der Bezirksvorstände des DTSB, Vorsitzende von Kreisvor-ständen, Sportgemeinschaften, Übungsleiter und aktive Sportler mit Sitz und Stimme vertreten. Auf seiner konstituierenden Bera-tung wählte der Bundesvorstand aus seinen Reihen das Präsidi-um, das Sekretariat mit dem Präsidenten und den zehn Vizeprä-sidenten. Das Präsidium, bestehend aus 28 Mitgliedern, leitete die Tätigkeit zwischen den Tagungen des Bundesvorstandes und wur-de aller 6-8 Wochen einberufen. Das Sekretariat des Bundesvor-standes war für die Erledigung der laufenden Organisations- und Vollzugsarbeit zuständig. Es tagte wöchentlich, nahm Berichte ent-gegen und faßte die notwendigen Beschlüsse. Dem Sekretariat
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gehörten der Präsident und die Vizepräsidenten sowie ständige Beisitzer an.
Als Kommissionen des Präsidiums, die von einem Vizepräsiden-ten geleitet wurden, arbeiteten die Kommissionen Propaganda/ Kultur, Kinder- und Jugendsport, Freizeit- und Erholungssport, Lei-tung und Planung, Ehrungen und Auszeichnungen, Rechtsfragen und Finanzen.
Die Aufgaben des DTSB- Bundesvorstandes, des Präsidiums und des Sekretariats sowie seines hauptamtlichen Apparates leiteten sich vom Statut, den Entschließungen und Jahresplänen sowie spezifischen Festlegungen zu den verschiedensten Teilgebieten der Sportarbeit ab. Schwerpunkt des Wirkens waren der Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb, Sport der jungen Generation, Freizeit- und Erholungssport, der Leistungssport.
Hinzu kamen: die Öffentlichkeitsarbeit, die internationalen Arbeit, die Leitung und Planung, die Finanzarbeit.
Der Apparat des Bundesvorstandes setzte sich aus mehreren Ab-teilungen zusammen, die unter der Gesamtleitung des Präsidenten jeweils einem Vizepräsidentenbereich zugeordnet waren. Entspre-chend den Erfordernissen im Arbeitsprozeß erfolgten strukturelle Veränderungen der Abteilungen. 1989 bestanden folgende Abtei-lungen: Büro des Präsidiums, Grundsatzfragen, Organisation, Ka-der, Sommersport, Wintersport, Nachwuchsentwicklung/ Koordinie-rung Sommersport, Koordinierung Wintersport, Massensport, Sport II, Kultur, Propaganda, Agitation, Großsportveranstaltungen, Infor-mationszentrum, Internationale Verbindungen, Internationale Or-ganisationen, Protokoll- und Reisestelle, Technischer Gerätedienst, Wirtschaft, Finanzen, Innere Verwaltung, Fahrdienst.
Das höchste Organ jeder Bezirksorganisation des DTSB war die Bezirksdelegiertenkonferenz, deren Delegierte aller 6 Jahre auf den Kreis-, Stadt- bzw. Stadtbezirkskonferenzen und auf den Be-zirksdelegiertenkonferenzen der Sportverbände zur Wahl standen. Auf ihrer Tagung wurden Rechenschaft über die erreichten Ergeb-nisse abgelegt, die Aufgaben für die weitere Sportentwicklung im Territorium beschlossen und der Bezirksvorstand sowie die Be-zirksrevisionskommission gewählt. Der Bezirksvorstand - je nach Größe des Territoriums 35 bis 70 Mitglieder umfassend - leitete die Bezirksorganisation zwischen den Bezirksdelegiertenkonferenzen und wählte aus seinen Reihen das Sekretariat, den Vorsitzenden
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und seine Stellvertreter. Zu seinen Tagungen trat der Bezirksvor-stand 3 bis 4mal im Jahr zusammen, nahm den Tätigkeitsbericht des Sekretariats über die geleistete Arbeit sowie Berichte von Kreisvor-ständen, Bezirksfachausschüssen (BFA) oder Kommissionen ent-gegen und entschied über Anträge und grundsätzliche Orientierun-gen für den nachfolgenden Zeitraum.
Die Zusammensetzung der Bezirksvorstände: die Mitglieder des Sekretariats, die Vorsitzenden von Kreis-, Stadt- und Stadtbezirks-vorständen, die Vorsitzenden der Bezirksfachausschüsse, die Ver-treter der SV Dynamo und der ASV Vorwärts, die Vorsitzenden des BFA des DAV und der Bezirksleitung des ADMV, Vorsitzende von Sportgemeinschaften des Bezirkes, Funktionäre und Mitarbeiter aus staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen.
Die Verantwortungsgebiete der Bezirksvorstände waren die Ent-wicklung und Festigung der Sportorganisation im Territorium; die planmäßige Förderung der Sportarten und die gezielte Entwicklung der olympisch geförderten Sportarten; die Einflußnahme auf die Qualität des Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetriebes sowie die Werbung weiterer Mitglieder; die Verwirklichung der Aufgaben in den Trainingszentren; die Entwicklung des Kinder- und Jugend-sports und der Spartakiadebewegung sowie des Lehrlings- und Studentensports; die Verbreiterung des Freizeit- und Erholungs-ports; die Vertiefung der Beziehungen mit den Partnerorganisatio-nen der sozialistischen Länder und die Mitwirkung bei der Vorberei-tung und Organisation internationaler Sportveranstaltungen; die Gestaltung des planmäßigen und koordinierten Zusammenwirkens mit der örtlichen Volksvertretung und ihren Organen sowie den Lei-tungen der gesellschaftlichen Organisationen im Territorium.
Das Sekretariat leitete zwischen den Tagungen des Bezirksvor-standes die Tätigkeit der Bezirksorganisation. Es plante, organi-sierte, koordinierte und kontrollierte die Erfüllung der Aufgaben und war dem Bezirksvorstand gegenüber rechenschaftspflichtig. In sei-ner Arbeit, vollzogen auf der Grundlage von Halbjahresplänen, konzentrierte sich das Sekretariat vor allem auf die Anleitung und Kontrolle der Kreisvorstände und Bezirksfachausschüsse. Um sei-nen Aufgaben und seiner Verantwortung gerecht zu werden, war das Sekretariat mit hohen Befugnissen ausgestattet und tagte im Rhythmus von 14 Tagen. Zusammensetzung des Sekretariats: der Vorsitzende, die stellvertretenden Vorsitzenden, der Stadtvorsit-
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zende der Bezirksstadt, ein bis zwei Vorsitzende von Bezirksfach-ausschüssen, der Leiter des Büros der Bezirksleitung der SV Dy-namo, der Leiter der Abteilung Jugendfragen, Körperkultur und Sport beim Rat des Bezirkes, der Bezirksturnrat, ein Vertreter der ASV Vorwärts.
Bei den Bezirksvorständen bestanden folgende ständige und zeit-weilige Kommissionen unter Leitung von Sekretariatsmitgliedern: Leitung und Planung, Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb, Freizeit- und Erholungssport, Kinder- und Jugendsport, Propagan-da/ Kultur/ Internationale Verbindungen, Ehrungen und Auszeich-nungen, Finanzen.
Sie setzten sich jeweils zusammen aus dem Vorsitzenden, dem Stellvertretenden Vorsitzenden für Leistungssport, dem Stellvertre-tenden Vorsitzenden für Organisation, Kader und Freizeit- und Erho-lungssport, dem Stellvertretenden Vorsitzenden für Propaganda, Kultur und internationale Arbeit.
Den jeweiligen Stellvertreterbereichen waren mehrere Mitarbeiter zugeordnet; außerdem im Leistungssportbereich die Bezirkstrainer.
Für eine Kreis-, Stadt- bzw. Stadtbezirksorganisation des DTSB war die jeweilige Kreis-, Stadt- bzw. Stadtbezirksdelegiertenkon-ferenz das höchste Organ, die aller drei Jahre zusammentrat und die entsprechenden Vorstände und Revisionskommissionen wähl-te. Die Kreis-, Stadt- und Stadtbezirksvorstände leiteten die Tä-tigkeiten zwischen den Delegiertenkonferenzen und waren ihnen rechenschaftspflichtig. Je nach Größe der Kreisorganisation wur-den 25 bis 50 Mitglieder in den Vorstand gewählt. Auf der konstitu-ierenden Sitzung wählte der Vorstand aus seiner Mitte das Sekre-tariat, den Vorsitzenden und seine Stellvertreter.
Die Vorstände setzten sich zusammen aus den Mitgliedern des Sekretariats, den Vorsitzenden der Kreisfachausschüsse der Sportverbände, dem Vorsitzenden des Kreisfachausschusses des DAV und dem Vertreter des ADMV, den Vorsitzenden von Sport-gemeinschaften einschließlich der SV Dynamo und ASV Vorwärts, Sektionsleitern, Funktionären und Mitarbeitern staatlicher Organe und gesellschaftlicher Organisationen.
Das Sekretariat eines Vorstandes plante, organisierte, koordinierte und kontrollierte die Leitungstätigkeit zwischen den Tagungen des Kreisvorstandes auf der Basis eines Halbjahresplanes und war
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diesem rechenschaftspflichtig. Sekretariatssitzungen fanden aller 14 Tage statt.
Seine Zusammensetzung: der Vorsitzende, die stellvertretenden Vorsitzenden, 1 bis 2 Vorsitzende von Sportgemeinschaften, 1 bis 2 Vorsitzende von Kreisfachausschüssen, der Vertreter der Abtei-lung Berufsbildung/ Berufsberatung beim Rat des Kreises, der Ver-treter der Abteilung Jugendfragen, Körperkultur und Sport beim Rat des Kreises, der Kreisturnrat.
Bei den Vorständen von Kreis, Stadt und Stadtbezirk bestanden Kommissionen analog denen der Bezirksvorstände.
In den Grundorganisationen des DTSB war die Mitgliederver-sammlung höchstes Organ bzw. bei mehr als 200 Mitgliedern die Delegiertenkonferenz. Sie beriet und beschloß über die Entwick-lung der Grundorganisationen und wählte aller drei Jahre den Vor-stand und die Revisionskommission. Der Vorstand, rechen-schaftspflichtig gegenüber der Mitgliederversammlung bzw. der Delegiertenkonferenz, leitete die Grundorganisationen zwischen deren Tagungen und trat aller 4 Wochen zusammen. Auf seiner konstituierenden Beratung wählte der Vorstand aus seiner Mitte den Vorsitzenden und seine Stellvertreter.
Zusammensetzung des Vorstandes: Vorsitzender, Stellvertretender Vorsitzender für Organisation und Planung, Stellvertretender Vor-sitzender für Freizeit- und Erholungssport, Funktionär für den Er-wachsenensport, Funktionär für Kinder- und Jugendsport, Funktio-när Planung/Statistik/ Wettbewerb, Funktionär Propaganda, Kultur und Bildung, Technischer Leiter, Finanzen. In großen Sportge-meinschaften konnte, wenn entsprechende Geldmittel vorhanden waren, ein hauptamtlicher Geschäftsführer eingesetzt werden.
Die Aufgabengebiete der Sportgemeinschaften lassen sich folgen-dermaßen auflisten: Die Betriebs-, Hoch- und Fachschulsportge-meinschaften und Sportgemeinschaften in den städtischen und ländlichen Wohngebieten hatten den Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb zu gestalten.
In den Sportgemeinschaften galt es neue Sektionen unter Berück-sichtigung der Traditionen und örtlichen Bedingungen insbesonde-re in den populären und massenwirksamen Sportarten und auch Allgemeine Sportgruppen, in denen sich Interessierte in verschie-denen Sportarten betätigen konnten, zu bilden.
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Gemeinsam mit den Leitungen des FDGB und der FDJ wurde in den Sportgemeinschaften darauf hingewirkt, daß das Gemeinsame Sportprogramm umgesetzt wurde.
Vorrangiges Anliegen war, möglichst viele Kinder und Jugendliche für den Sport zu begeistern und die regelmäßig sportliche Betäti-gung zu gewinnen.
Für Erwachsene im arbeitsfähigen und im höheren Lebensalter wurden angemessene konditions- und gesundheitsfördernde For-men des Sporttreibens und Wettkampfmöglichkeiten initiiert.
Das Sportabzeichenprogramm wurde als ein Normativ für die sportliche Betätigung genutzt.
Die Sportgemeinschaften erarbeiteten in Abstimmung mit örtlichen Staatsorganen Konzeptionen für die Entwicklung des sportlichen Lebens in ihren Wirkungsbereichen, auch im Rahmen der Pla-nungszeiträume. Sie bemühten sich um die politisch-ideologische Arbeit und das geistig-kulturelle Gemeinschaftsleben.
Die Sektionsversammlung war das höchste Organ einer Sektion, die in der Regel einmal im Quartal einberufen wurde, Fragen der Sportarbeit in der Sektion beriet und beschloß sowie alle drei Jahre die Sektionsleitung wählte. Die Sektionsleitung war gegenüber der Sektionsversammlung rechenschaftspflichtig, setzte sich ent-sprechend der Funktionsbereiche des Vorstandes der Sportge-meinschaft zusammen und leitete die Sektion zwischen den Bera-tungen des höchsten Organs. Die Sektion war sowohl dem Vor-stand der Sportgemeinschaft als auch dem jeweiligen Kreisfach-ausschuß untergeordnet.
Die Allgemeinen Sportgruppen entsprachen dem Charakter einer Sektion. Sie vereinten diejenigen Bürger, die im Kreis von Sportfreun-den, in Arbeitskollektiven, mit Bekannten oder Familienangehörigen abwechslungsreich und in verschiedenen Formen und sportlichen Disziplinen außerhalb der Wettkampfsysteme der Sportverbände or-ganisiert sportlich tätig sein wollten.
Besondere Bedeutung für die Gewinnung, Auswahl und Förderung sportlicher Talente besaßen die Sport- und Fußballclubs. Ein Sportclub oder Fußballclub (SC/FC) hatte als Zentrum des Leis-tungssports in einer Bezirksorganisation oder in einer Sportvereini-gung den Status einer Grundorganisation. Die Sport- und Fußball-clubs waren demzufolge ihrem Bezirksvorstand bzw. der jeweiligen
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zentralen Leitung der Sportvereinigung organisationspolitisch un-mittelbar unterstellt und vollzogen ihre Arbeit gemäß einer geson-derten Ordnung auf der Grundlage der Beschlüsse des Präsidiums und des Sekretariates des Bundesvorstandes sowie der Präsidien und Büros der Sportverbände. Wie in jeder anderen Grundorgani-sation des DTSB, wurden auch die Leitungsorgane im Sport- bzw. Fußballclub (Vorstand, Sekretariat, Sektionsleitungen) von den Mitgliedern gewählt. Der Vorstand des SC/FC, höchstes Leitungs-organ des Clubs, setzte sich aus 15 - 20 Mitgliedern zusammen und tagte zweimal jährlich. Er nahm Berichte des Sekretariates und der Sektionsleitungen entgegen und beriet und beschloß über die grundsätzliche Entwicklung des Clubs. Aus seiner Mitte wählte der Vorstand das Sekretariat, den Vorsitzenden sowie die stellver-tretenden Vorsitzenden. Im Auftrag des Vorstandes arbeitete zwischen seinen Tagungen das Sekretariat und trug eine hohe Verantwortung bei der Realisierung der Aufgaben entsprechend den Beschlüssen. Es stützte sich vor allem auf die Sektionslei-tungen und die hauptamtlichen Mitarbeiter. Für die zu lösenden Aufgaben bestanden in einem Sportclub folgende Arbeitsbereiche, für die unter Anleitung des Vorsitzenden des SC stellvertretende Vorsitzende zuständig waren: Allseitige Ausbildung, sportliche Ausbildung, Organisation, Ökonomie. Außerdem waren Trainer und technische Kräfte tätig.
Die Armeesportvereinigung „Vorwärts“ (ASV) wurde im Jahre 1956 gebildet. Vorher bestanden seit 1950 die SV Vorwärts der Hauptverwaltung für Ausbildung (HVA) bzw. SV Sturmvogel der Hauptverwaltung der Seepolizei (HVS) sowie ab 1953 die SV Vor-wärts der Kasernierten Volkspolizei (KVP). Die Gründung der Sportvereinigung „Dynamo“ erfolgte im Jahre 1953, vorher exis-tierte ab 1950 die SV der Deutschen Volkspolizei (SVDVP).
Träger der ASV war das Ministerium für Nationale Verteidigung, der SV Dynamo die Ministerien des Innern und für Staatssicherheit sowie die Zollverwaltung der DDR.
Höchste Organe waren bei der ASV die Sportkonferenz, bei der SV Dynamo die Zentrale Delegiertenkonferenz; als zentrales Haupt-amt fungierten das Sportkomitee bzw. die Zentrale Leitung. In den Regimentern und selbständigen Einheiten sowie Schulen der NVA gab es die Armeesportgemeinschaften; Sportgemeinschaften Dy-
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namo bestanden in den Territorien sowie an Institutionen. Beide SV verfügten über eigene Sportclubs.
Die Militärische Körperertüchtigung (MKE) galt als wichtiger Teil in der Ausbildung und Erziehung der Angehörigen der bewaffneten Kräfte. Formen der MKE waren der Dienstsport, das physische Training in der Gefechtsausbildung (spezifisch gemäß den Waffen-gattungen), militärsportliche Wettkämpfe, Leistungsüberprüfungen (Militärsportabzeichen - vorher Kampfsportnadel - sowie Kampf-sportabzeichen), Frühsport.
Das höchste Organ der Sportverbände war jeweils der Verbands-tag. Deren Delegierte wurden auf den Bezirksdelegiertenkonferen-zen der Sportverbände gewählt. Der Verbandstag nahm den Re-chenschaftsbericht des Präsidiums sowie den Bericht der Revisi-onskommission entgegen, beschloß die Aufgaben für die Gesamt-entwicklung der Sportart und wählte das Präsidium und die Revisi-onskommission.
Das Präsidium eines Sportverbandes leitete die Tätigkeit zwi-schen den Verbandstagen und war ihnen rechenschaftspflichtig. Es hatte als zentrales Leitungsorgan die Verantwortung für die Ent-wicklung des Sportverbandes und arbeitete auf der Grundlage der Beschlüsse des Turn- und Sporttages, des Bundesvorstandes und des Sekretariates des DTSB sowie der Beschlüsse des Verband-stages. Es tagte mindestens zweimal jährlich und beriet alle grund-sätzlichen Aufgaben des Verbandes.
Das Präsidium umfaßte in der Regel 25 - 30 Mitglieder. Ihm gehör-ten an:
der Präsident, drei Vizepräsidenten, der Generalsekretär, der Ver-bands-trainer, der Schatzmeister, die Vorsitzenden der Kommissio-nen des Präsidiums, der Verbandsarzt, weitere Mitglieder aus BFA, KFA und Sektionen.
Die Aufgabengebiete des Verbandes lassen sich so charakterisie-ren: Ausarbeiten von Maßnahmen zur Entwicklung des Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetriebes in der Sportart; Weiterentwick-lung der Programme für die Aus- und Weiterbildung von Übungslei-tern, Funktionären, Kampf- und Schiedsrichtern, für die Sportklassifi-zierung sowie von methodischen Materialien für das Gestalten des Übungs- und Trainingsbetriebes; Verbreitern des Wettkampfsystems im Verband, das Vervollkommnen der Wettkampf-ordnungen und -bestimmungen sowie die Terminplanung der Wettkämpfe; Durchfüh-
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rung zentraler Wettkämpfe, Länderkämpfe sowie die Teilnahme an internationalen Meisterschaften; Verbindung zu Sportverbänden an-derer Länder sowie zur internationalen Föderation.
Das Büro des Präsidiums leitete die Tätigkeit des Sportverbandes zwischen den Tagungen des Präsidiums und war diesem rechen-schaftspflichtig. Es tagte etwa alle zwei Wochen und wirkte auf der Grundlage eines vom Präsidium bestätigten Arbeitsplanes. Dem Bü-ro des Präsidiums gehörten an: der Generalsekretär (gleichzeitig Leiter des Büros), der Präsident, die drei Vizepräsidenten, der Ver-bandstrainer, der Schatzmeister. Seine Aufgabenverantwortung lei-tete sich ab von den Festlegungen der DTSB-Leitungsgremien und den Präsidiumsbeschlüssen des Verbandes.
Die Kommissionen des Präsidiums wurden von Präsidiumsmit-gliedern geleitet, arbeiteten auf der Grundlage der Beschlüsse des Präsidiums und bekamen von ihm bestimmte Aufgaben zur eigen-verantwortlichen Lösung übertragen. Im Rahmen ihres Aufgaben-gebietes arbeiteten die Kommissionen der Präsidien eng mit den Kommissionen gleicher Aufgabengebiete der BFA zusammen. Es existierten folgende Kommissionen: Wettkampfwesen, Freizeit- und Erholungssport, Kinder- und Jugendsport, Studentensport, Kampf-richter, Recht, Propaganda/Kultur und Wettbewerb, Öffentlichkeits-arbeit, Sportklassifizierung und Auszeichnungen, Material, Finan-zen sowie der Trainerrat.
Als Hauptamt in einem Sportverband fungierte das Generalsekreta-riat, das vom Generalsekretär geleitet wurde und dem der/die Ver-bandstrainer und technische Mitarbeiter angehörten. In den beson-ders geförderten Verbänden stand dem Generalsekretär ein Stell-vertreter zur Seite.
Die DDR-Sportverbände (ihr Gründungsdatum und -ort), die Ende 1989 existierten:
Deutscher Basketball-Verband (DBV) 20.5.1958 Leipzig
Deutscher Billard-Sport-Verband (DBSV) 13.4.1958 Leipzig
Deutscher Bogenschützen-Verband (DBSV) 23.10.1959 Zittau
Deutscher Box-Verband (DBV) 4.5.1958 Berlin
Deutscher Eislauf-Verband (DELV) 31.8.1958 Berlin
Deutscher Faustball-Verband (DFV) 27.4.1958 Leipzig
Deutscher Fecht-Verband (DFV) 20.7.1958 Leipzig
Deutscher Federball-Verband (DFV) 11.1.1958 Berlin
Deutscher Fußball-Verband (DFV) 17.5.1958 Berlin
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Deutscher Gewichtheber-Verband (DGV) 26.4.1958 Leipzig
Deutscher Handball-Verband (DHV) 21.6.1958 Halle
Deutscher Hockey-Sportverband (DHSV) 19.4.1958 Halle
Deutscher Judo-Verband (DJV) 19.4.1958 Leipzig
Deutscher Kanu-Sport-Verband (DKSV) 19.4.1958 Berlin
Deutscher Kegler-Verband (DKV) 30.3.1958 Leipzig
Deutscher Verband für Leichathletik (DVfL) 17.5.1958 Leipzig
Deutscher Sportverb. Moderner Fünfkampf (DSMF) 25.8.1958 Leipzig
Deutscher Pferdesport-Verband (DPV) 27.4.1961 Halle
Deutscher Radsport-Verband (DRSV) 18.5.1958 Leipzig
Deutscher Ringer-Verband (DRV) 26.4.1958 Leipzig
Deutscher Rollsport-Verband (DRV) 12.10.1958 Weißenfels
Deutscher Ruder-Sport-Verband (DRSV) 12.4.1958 Berlin
Deutscher Rugby-Sportverband (DRSV) 20.4.1958 Berlin
Deutscher Schach-Verband (DSV) 27.4.1958 Leipzig
Deutscher Schlitten- und Bobsportverband (DSBV) 28.9.1958 Ilsenburg
Deutscher Schwimmsport-Verband (DSSV) 4.5.1958 Zeitz
Bund Deutscher Segler (BDS) 20.4.1958 Berlin
Deutscher Skiläufer-Verband (DSLV) 12.10.1958 Leipzig
Deutscher Tennis-Verband (DTV) 26.4.1958 Halle
Deutscher Tischtennis-Verband (DTTV) 4.4.1958 Berlin
Deutscher Turn-Verband (DTV) 3.5.1958 Berlin
Deutscher Verband für Versehrtensport (DVfV) 4./5.7.1959 Halle
Deutscher Sportverband Volleyball (DSVB) 20.4.1958 Leipzig
Deutscher Wanderer- und Bergsteiger-Verband (DWBV) 15.6.1958 Dresden
Dem DTSB angeschlossene Verbände:
Deutscher Anglerverband (DAV) 23./24.10.1954 Berlin
Allgemeiner Deutscher Motorsport-Verband (ADMV) 2.6.1957 Berlin
Deutscher Schützenverband (DSV) 8.10.1958 Leipzig
Anm.: Der Deutsche Sportverband Moderner Fünfkampf wurde 1968 aufgelöst, Biathlon dem Ski-Verband zugeordnet und der DWBV 1970 durch die Sportart Orientierungslauf erweitert und in Deutscher Verband für Wandern, Bergsteigen und Orientierungs-lauf (DWBO) umbenannt.
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Spurensicherung: KJS in der DDR
Von WOLFGANG AHRENS
Ein Wunder war es eigentlich nicht, daß ich 1967 Direktor der Kin-der- und Jugendsportschule (KJS) Leipzig wurde. Nach einem Ge-schichts- und Sportstudium, nach fast zehnjähriger Arbeit als Direk-tor von Erweiterten und Polytechnischen Oberschulen, nach vierzig Jahren eigener aktiver Betätigung als Turner, Leichtathlet und Fußballer (zeitweise in der höchsten Spielklasse) schien mir meine Berufung nicht ganz abwegig. Auch Freunde meinten: „Diese Auf-gabe ist dir auf den Leib geschrieben.“
Vom Kollegium der KJS wurde ich dagegen anfangs recht kühl empfangen. Ein Unbekannter, noch dazu aus Halle, keiner der bis-herigen Stellvertreter... Aber allmählich begann sich die Skepsis zu legen. Und spätestens als wir nach einer gründlichen Analyse der noch nicht zufriedenstellenden „Leipziger“ Ergebnisse bei den Olympischen Spielen von 1968 einen „Zahn zulegten“, das heißt, unsere eigene Arbeit, aber auch die Zusammenarbeit mit den Sportclubs (SC) noch planmäßiger, differenzierter und effektiver gestalteten, zogen wir nach besten Kräften alle an einem Strang.
Insgesamt gesehen gehörten die sieben Jahre an der KJS Leipzig zu den anstrengendsten, interessantesten und - bei aller Beschei-denheit - auch zu den erfolgreichsten meiner beruflichen Laufbahn. Konnte ich doch unmittelbar erleben und gemeinsam mit allen an der KJS Tätigen dazu beitragen, daß die DDR (mit nur 17 Millionen Einwohnern!) auch durch die herausragenden Leistungen ihrer Sportler zunehmend an internationaler Aufmerksamkeit und Aner-kennung gewann. Spätestens während der Olympischen Sommer-spiele 1972 in München mußten selbst die ignorantesten BRD-Politiker und -Kommentatoren die Existenz der Deutschen Demo-kratischen Republik zur Kenntnis nehmen; denn ihre Athletinnen und Athleten errangen in der Nationenwertung nach der UdSSR und den USA den dritten Platz und verwiesen die BRD mit großem Abstand auf Platz vier. Sie brachten insgesamt 66 Medaillen (da-runter 20 Goldmedaillen) aus der bayerischen Metropole mit nach Hause - und mehr als ein Viertel davon gehörten Sportlern der KJS „Ernst Thälmann“ Leipzig. Internationale Fachleute sprachen aner-kennend vom „Sportwunder DDR“. Andere, die uns nicht wohl woll-
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ten, verleumdeten die KJS als reine „Medaillenschmieden“. Was hatte es damit auf sich?
Die KJS wurden Ende der fünfziger Jahre gegründet und entstan-den in der Regel dort, wo Sportclubs existierten. Beispielsweise ar-beitete unsere Schule mit folgenden Sportclubs zusammen: SC Wissenschaft DHfK (Deutsche Hochschule für Körperkultur), SC Leipzig, 1. FC Lokomotive Leipzig (Fußball), Armeesportclub „Vor-wärts“ und dem SC der Gesellschaft für Sport und Technik (GST).
Die KJS waren zweifellos ein „Ding für sich“, und die in Leipzig ein ganz besonderes, schon allein wegen ihrer einmaligen Dimension. Bei uns lernten und trainierten etwa 1300 junge Sportlerinnen und Sportler, die von 65 Pädagogen, 38 Internatserziehern und zwei Dutzend technischen Kräften betreut wurden. Auch unser Eltern-beirat war mit 30 bis 35 Mitgliedern ungewöhnlich stark besetzt.
Im Bildungssystem der DDR galten die KJS als 10-klassige poly-technische Oberschulen mit Abiturstufe. Sie waren weder Sonder- noch Spezialschulen. Sie durften ja nicht die Einheit des Bildungs-systems durchbrechen. An ihnen gab es aber keinen Unterrichtstag in der Produktion und das Prinzip der Koedukation konnte eigent-lich nicht oder kaum durchgesetzt werden. In den oberen Klassen waren die Klassenfrequenzen zudem häufig deutlich niedriger als an den anderen Schulen. Allerdings hat uns die Einordnung in das Bildungssystem wenig oder gar nicht interessiert. Wir waren da und waren erfolgreich - im weitesten Sinne. Wir waren eben besondere Schulen - jenes Ding an sich im einheitlichen sozialistischen Bil-dungssystem der DDR.
An der Leipziger KJS lernten Nachwuchstalente für Leichtathletik, Schwimmen, Wasserspringen, Turnen, Künstlerische Gymnastik bzw. Rhythmische Sportgymnastik, Rudern, Kanu, Boxen, Ringen, Judo, Sportschießen, Handball, Volleyball und Fußball. Vorausge-gangen war eine gründliche Sichtung dieser Talente in den allge-meinbildenden Schulen nach einem an der DHfK erdachten Sich-tungs- und Fördersystem. Wenn geeignete Schüler Interesse an einer sportlichen Weiterentwicklung hatten, kamen sie mit Zustim-mung der Eltern in allgemeine Übungsgruppen, aus denen die be-fähigsten dann in (bereits vorsichtig sportartspezifisch arbeitende) Trainingsgruppen übernommen wurden. Wer dort zu den Besten gehörte, wurde zum geeigneten Zeitpunkt für einen der Sportclubs und damit auch für uns vorgeschlagen. Beispielsweise nahm die
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Sektion Turnen Zehnjährige auf, Schwimmer und Leichtathleten waren ein bis zwei Jahre, Ruderer in der Regel vier Jahre älter. In der zuletzt genannten Sportart wurden allerdings „Nachsichtungen“ durchgeführt, denn die körperliche Eignung für Rudern war bei vie-len Jugendlichen erst später erkennbar. Sogar Heinz Quermann gewann in einer seiner Fernsehsendungen zwei sechzehnjährige „Recken“, die danach bei uns lernten, im Sportclub der DHfK trai-nierten und Olympiasieger im Rudern wurden.
Wichtige Kriterien für die Aufnahme waren außer der körperlichen Eignung die geistigen und vor allem die charakterlichen Vorausset-zungen des Bewerbers. Wenn das Persönlichkeitsbild stimmte, sa-hen wir auch schon einmal über eine schwächere Note in einem Fach hinweg. Eine Bedingung wurde strikt eingehalten: Bewerber mit nahen Verwandten in der BRD nahmen wir nicht auf. Die Erfah-rungen während des Kalten Krieges hatten letztlich solch eine Ent-scheidung erzwungen, die aber später unsinnig war und an der schließlich viel zu lange festgehalten wurde. Die soziale Herkunft und die Religionszugehörigkeit der Kinder waren ebenso Nebensa-che wie der Bildungsgrad, die politische Bindung oder die Einkom-mensverhältnisse der Eltern. Als sich bei den Olympischen Som-merspielen 1972 einer unserer Abiturienten einen 6. Platz sozusa-gen vom Himmel schoß, wußten wir, daß er nach dem Architektur-studium Kirchen bauen wollte. Aber wir haben ihn selbstverständlich trotzdem zum Studium delegiert. Wir wollten jedem Talent eine Chance geben, nahmen allerdings besonders gern Kinder auf, die noch einige Geschwister hatten. Es gab weder eine Schulgeldzah-lung, noch entstanden den Eltern Kosten für die Unterbringung im Internat. Schulbücher waren kostenlos für alle und - wie in den all-gemeinbildenden Schulen - stets für alle vorhanden - von Klasse 1-12. Auch die Verpflegung durch die Küche der KJS kostete die El-tern keinen Pfennig. Die Sportkleidung und die Sportgeräte - auch die individuell angepaßten, wie im Sportschießen - wurden von den Sportclubs zur Verfügung gestellt. Großen Wert legten wir darauf, daß sich unsere „Zukünftigen“ bereits vor ihrer Einschulung an der KJS darüber klar waren, was sie im Sport erreichen wollten, mit an-deren Worten: Wir setzten auf Zielstrebigkeit von Anfang an. Als ich einen der Steppkes bei seiner Aufnahme fragte, was er werden wol-le, kam die Anwort wie aus der Pistole geschossen: „Weltmeister!“ In der Tat, er wurde es: Weltbester im Pferdsprung. Allerdings war es
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ein weiter und harter Weg bis dahin. Zu Beginn bekam der Bube erst einmal Heimweh. Mit zehn Jahren weg von Mutti und Vati und vom kleinen Schwesterchen. Mit drei fremden Jungen in einem Zimmer. Schon schwer, denke ich. Um eine derartige Krise zu überwinden, war eine warmherzige, mütterliche Erzieherin vollauf gefordert, da wurde die elterliche Hilfe ebenso unentbehrlich wie die der Lehrer und Trainer. Aber alle zusammen schafften wir es auch in diesem Fall. (Übrigens wohnten in unserem Internat nur auswärtige Schüle-rinnen und Schüler. Ortsansässige Jungen und Mädchen lebten selbstverständlich bei ihren Familien.)
Allerdings erwarteten wir von den Jungen und Mädchen nicht nur eine klare Vorstellung von ihren sportlichen Zielen, sondern auch unbedingte Ehrlichkeit. Da gab es einmal eine böse Sache mit ei-ner hoch talentierten Schülerin. Sie war damals vierzehn Jahre alt und stahl einer Zimmergefährtin eine Strumpfhose. Der Tat über-führt, wurde sie für ein Jahr Bewährung aus Sportclub und Schule ausgeschlossen. Zu Hause besuchte sie die örtliche Polytechni-sche Oberschule, trainierte weiter und bewährte sich. Danach kam sie zu uns zurück und wurde einige Jahre später in ihrer sehr schweren Sportart europäische Vizemeisterin.
Natürlich verlangten wir von den Kindern und Jugendlichen auch eine Lebensweise, die streng ihrem sportlichem Ziel diente. Bei-spielsweise verzichteten unsere zierlichen Turnkinder schon freiwil-lig auf manches Eis und manches Stück Kuchen. Sie wußten, daß sich jede Gewichtszunahme nicht nur verheerend auf die Belast-barkeit, z.B. der Sehnen und Bänder, sondern auch auf ihre Leis-tungen auswirken konnte. Wir forderten also Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin - ja eiserne Disziplin -, aber trotzdem gab es an un-serer Schule weder Kadavergehorsam noch Drill. Denn mit solchen Methoden werden keine schöpferischen Kräfte für die Erreichung hoher Lebensziele freigesetzt. (Das wußte ich selbst nur zu gut - ich war als Kind und Jugendlicher im Nazistaat aufgewachsen und hatte meine wichtigsten Lebenserfahrungen an den Fronten des Zweiten Weltkrieges sammeln müssen.) Bei einigen Vertretern der Sportclubs und der Wissenschaft traf meine Auffassung vom offe-nen Umgang mit unseren Talenten nicht immer und in jedem Fall auf Verständnis. Das belastete aber nicht unser vertrauensvolles Zusammenwirken, so daß über Sorgen geredet, der Unterricht, wenn nötig - ohne Ansehen der Person - kritisiert oder barsche
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Umgangsformen zur Sprache gebracht wurden. Ehrlichkeit und ho-he Disziplin mußten natürlich ebenso von Lehrern und Ausbildern verlangt werden. Von ihrer Vorbildwirkung hing sehr viel ab. Des-halb trennten wir uns rigoros von einem der Lüge überführten Leh-rer. Normalerweise setzte ich zwar nicht auf einen „harten“ Füh-rungsstil und bemühte mich, zuzuhören und zu verstehen, die Kö-chin ebenso wie die Erzieherin.
Zu Beginn der siebziger Jahre wurde es für unsere Leitungskollek-tiv besonders spannend, als für unsere KJS ein Neubau in der Marschnerstraße errichtet wurde. Er wurde vom Anbeginn von uns Pädagogen, Sportfachleuten, Eltern und Schülern mitgestaltet. Denn woher sollte der Architekt wissen, welche Bedingungen für die Erziehung und Ausbildung von Weltklassesportlern notwendig waren? Internationale Erfahrungen lagen kaum vor. Die Vorfreude auf dieses perfekte Haus multiplizierte bei uns allen die Lust an der Arbeit. Nach allen mit dem Bau verbundenen gemeinsamen Aufre-gungen und Mühen konnten wir dann endlich eine hochmoderne, zweckmäßige und schöne Einrichtung übernehmen, in der die Ar-beit noch mehr Freude machte. Auch unser Internat mit einer Ka-pazität von reichlich 200 Plätzen befand sich nun unmittelbar ne-ben dem Schulhaus. Anderswo standen weitere 200 Betten zur Verfügung, und alle immer schön getrennt nach Mädchen und Jun-gen. (Ich bin mir allerdings nicht sicher, daß dies nächtlicherweise auch immer so blieb. Denn trotz der hohen physischen und psychi-schen Belastungen verloren unsere Mädchen und Jungen nie die Lust am Leben. Nach einer Abiturienten-Entlassungsfeier „beichte-te“ mir denn auch eine bildhübsche Schwimmerin, daß sie in den letzten Wochen schon immer „für zwei“ hätte schwimmen müssen.)
Die Klassenfrequenzen waren ganz unterschiedlich. In den 5. bis 8. Klassen überstiegen sie nie die Zahl 24. Danach wurde der eine oder andere Schüler - meist wegen fehlender sportlicher Perspekti-ve - vom Leistungssport entbunden. In diesem Zusammenhang gab es gelegentlich Auseinandersetzungen mit Trainern, weil deren Sorgfalt bei der Überwachung des sorgfältigen Abtrainierens nach-ließ. Denn nur so kann der durchtrainierte Organismus zu den früheren organischen Verhältnissen zurückfinden, ohne Schaden zu erleiden. Natürlich spürten wir nicht nur in dieser Frage, daß die Sportwissenschaft immer stärker auf die Entwicklung Einfluß nahm. Ihre interdisziplinäre Zusammenarbeit, ihre Einwirkung auf die Ge-
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staltung von Unterricht und Training, auf die Athleten (und gele-gentlich auch auf Eltern) wirkte sich unglaublich fruchtbringend aus.
Die Mädchen und Jungen der KJS Leipzig wurden in einer eigenen medizinischen Praxis regelmäßig vorbeugend untersucht. Alle not-wendigen Voraussetzungen dafür waren vorhanden. Von der zu meiner Zeit (1967 bis 1974) praktizierenden Ärztin wurden die er-forderlichen Überweisungen an Fachmediziner vorgenommen. Ich hatte mit ihr regelmäßig - einmal pro Woche - ein Informationsge-spräch; bei besonderen Vorkommnissen fanden die Konsultationen sofort statt.
Vom 9. Schuljahr an sanken die Frequenzen in den jeweiligen Klassen, das heißt Sportarten, unterschiedlich. In der Abiturstufe hatten wir dann oft nur noch zwei bis zehn Schüler. Es gab auch Unterricht für einzelne „hochkarätige“ Könnerinnen und Könner. Bootsbesatzungen beschulten wir gemeinsam, manchmal nach Sonder-Unterrichts-Programm, beispielsweise die „Quermann-Burschen“ und drei weitere. Solche Miniklassen verlangten vom Lehrer eine pedantische Vorbereitung des Unterrichts. Anschaulich und lebendig mußte er sein, individuell angelegt, durfte nicht ermü-den. Für Lernende und Lehrende war das sehr anstrengend. Es ist einleuchtend, daß es dafür keine DDR-gültige Direktive geben konnte.
Für den Fachunterricht existierten - wie überall - verbindliche Lehr-pläne. Wir betrachteten sie allerdings als „Leitlinie“, nicht als Dogma. Sie mußten insgesamt erfüllt werden, aber jeder Pädagoge konnte den Unterricht nach seinen eigenen Ideen gestalten. Damit wurden viele schöpferische Kräfte freigesetzt. Manchmal akzeptierten wir im Sinne der „Leitlinientheorie“ Kürzungen des Lehrplanes, der ohnehin vor Fülle überquoll. Das nannten wir augenzwinkernd „heroische Amputation“. Zu unserer eigenen „Gesetzgebung“ gehörte es auch, dem Schüler jede Zensur einleuchtend zu begründen und keine schriftliche Kontrolle ohne vorherige Ankündigung zu schreiben. Wissen wollten wir überprüfen und nicht Unwissen!
Mit Fahnenappellen gingen wir sparsam um. Drei waren obligato-risch: Zum Gründungstag der DDR, zum Tag der Nationalen Volksarmee und zum Gedenktag der Opfer des Faschismus. Sonst wurden unsere Fahnen nur nach den höchsten internationalen
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Sportwettkämpfen gehißt. Wir ehrten alle unsere Teilnehmer - nicht nur die Medaillengewinner.
Es mag Ausnahmen geben, aber bei den meisten der heutigen Weltklasseathleten ist eines der wichtigsten Motive für die Quälerei im Hochleistungssport der materielle, meist finanzielle Vorteil und Gewinn. Das war in der DDR anders. Unsere Spitzenathleten von damals bekamen gewiß schneller einen „Wartburg“ als der Nor-malbürger, vielleicht auch „ihre“ Mietwohnung oder den ersehnten Studienplatz. Anreiz bot natürlich auch die Aussicht auf Auslands-reisen. Unbestreitbar aber ist, daß unsere Besten stolz darauf wa-ren, ihren Sportclub und ihr Land zu repräsentieren. Es war ehren-voll in der Nationalmannschaft zu starten und schon ein großes Er-lebnis für jeden, als zum Beispiel die Olympiamannschaft zum ers-ten Mal hinter der Fahne unseres Landes ins Stadion einzog. Und daß die Nationalhymne der DDR bei der Siegerehrung manchem Sieger die Tränen in die Augen trieb, war nur zu verständlich.
Wir versuchten an unserer KJS, allseitig gebildete junge Persön-lichkeiten zu erziehen, die hohes Wissen besaßen, zum eigenstän-digen Erwerb von Wissen und Können befähigt waren und ausge-prägten Leistungswillen bewiesen. Sie lernten, die eigene Leistung in der Schule und in der Sportdisziplin zu beurteilen, Mängel zu er-kennen und möglichst selbst zu beheben. Im Kollektiv von gleich-gesinnten Lern- und Leistungswilligen entwickelte sich in besonde-rem Maße ihre Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik. Erwiesenerma-ßen hatten unsere Schüler in ihrer Persönlichkeitsreife gegenüber den Gleichaltrigen anderer allgemeinbildender Einrichtungen einen Vorsprung von etwa zwei Jahren.
Trotz der spürbaren Erfolge suchten wir ständig neue Wege. Im Mittelpunkt sämtlicher pädagogischen, unterrichtlichen und trai-ningsmethodischen Aktivitäten mußte immer der Auszubildende entsprechend seiner Reife und seines erreichten Ausbildungsni-veaus stehen. Mit diesem Ziel bauten wir ein Schüler-Trainer-Lehrer-Eltern-Verhältnis auf. Dazu gehörte auch, daß vor allem die Klassenleiter Sportwettkämpfe ihrer Schüler aufsuchten. Damit be-kundeten sie ihr Interesse, gewannen Einblick in die jeweilige Sportart und kamen den Schülern - sowie manchen der bei den Wettkämpfen anzutreffenden Eltern - menschlich näher.
Besondere Anstrengungen unternahmen wir, den Fachunterricht nicht abstrakt durchzuführen, sondern ihn möglichst eng mit den
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sportlichen Aufgaben zu verbinden. Bei einer Hospitation im Rus-sischunterricht hatte ich beispielsweise erlebt, daß den Jungen das russische Wort für „Rudern“ nicht bekannt war. Es saß aber eine 11. Klasse junger Rudersportler vor mir. Obwohl ich sozusagen „mit langer Leine“ leitete, mir geduldig vieles anhörte und auch an-nahm - diesmal erhielt der Lehrer nicht das erste Wort. Er leitete unseren Fachzirkel „Russisch“ und erhielt von mir den Auftrag, sei-nen Kollegen mitzuteilen, daß ab sofort auch das russische Sport-vokabular zu vermitteln sei. Gleiches veranlaßte ich für den Eng-lischunterricht. Nach einer nochmaligen Diskussion im Pädagogi-schen Rat wurde dann auch meine Anweisung akzeptiert, mög-lichst in allen Fächern sinnvolle, das heißt lebensnahe und aktuelle Beziehungen zu den Sportarten herzustellen, in denen die Schüler jeweils trainierten.
Die Kompliziertheit der Aufgaben verlangte von unserem Pädago-genkollektiv eine angestrengte, straffe Arbeit, in der für Intrigen und bösartiges Konkurrenzdenken kein Platz war. Unsere Anstrengun-gen waren auf eine optimale Entwicklung der jungen Athletinnen und Athleten gerichtet. Da es in unserer Arbeit niemals um Profit ging, Geld als Anerkennung eine untergeordnete Rolle spielte, wa-ren wir unbefangen, vorurteilslos - eben eine solide gefestigte Ge-meinschaft. Nur ein Drittel der Pädagogen (einschließlich der Inter-natserzieherinnen) gehörten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) an. Es gab auch Mitglieder anderer Blockpar-teien. Gewerkschaftlich waren wir alle organisiert, und mehr als die Hälfte war Mitglied der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freund-schaft (DSF). Das Durchschnittsalter lag bei dreiundvierzig Jahren. Aber auch unsere Damen und Herren über Sechzig wirkten inmitten dieser höchst lebendigen Schülerschaft sowie der jüngeren Kolle-ginnen und Kollegen noch recht jugendlich. Den Fachzirkel „Deut-sche Sprache und Literatur“ leitete ein ausgesprochener Fachmann.
Und natürlich waren wir, das Kollektiv der KJS „Ernst Thälmann“ Leipzig, stolz, als wir 1973 mit dem Verdienstorden in Bronze aus-gezeichnet wurden. Das Geleistete konnte sich sehen lassen. Im-mer deutlicher spürten wir die Wirkung unseres Sichtungs- und Förderungsverfahrens. Anzahl und Qualität des Nachwuchses stiegen in den Folgejahren kontinuierlich an. Und noch heute zehrt der Leistungssport dieser Republik von unserem System. Das ist nicht wegzudiskutieren. Deshalb wird auch - nachdem die KJS
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jahrzehntelang als „Medaillenschmieden“ verleumdet wurden - heu-te wieder nach dieser Art Schule gerufen.
Konnte und kann es sie in ähnlicher Form in der BRD geben? Ich behaupte: Nein! - Und gab es in der DDR wirklich ein „Sportwun-der?“ Abermals nein! Alle Träger der leistungssportlichen Entwick-lung waren ihrer Aufgabe entsprechend ausgebildet, arbeiteten hingebungsvoll und wissenschaftlich begründet. Unsere Arbeit war anerkannt, allgemein hoch geachtet und sie wurde von der Vision einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft getragen, die ein-schloß, jedem Kind „die Möglichkeit zur allseitigen Entfaltung sei-ner körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte“ zu geben. Ganz in diesem Sinne konnten wir uns frei entfalten und unterlagen zu kei-ner Zeit solch einem Druck wie er heute vom Kapital im weitesten Sinne (von kommerziellen Interessen, vom Geldgeber und seinen Bedingungen und dergleichen) ausgeht. Wir wissen, daß die ge-samtgesellschaftlichen Bedingungen und vor allem die sozialöko-nomischen Grundlagen unseres Landes vielen Athletinnen und Athleten es ermöglichten, sich langfristig und systematisch auf sportliche Höchstleistungen vorzubereiten, ohne die schulische und berufliche Ausbildung zu vernachlässigen. Und deshalb wird es in dieser Republik niemals Kinder- und Jugendsportschulen oder Eli-teschulen - wie sie heute auch heißen - geben, die sich mit denen der DDR jemals messen können, wage ich zu behaupten.
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CHRONIQUE SCANDALEUSE
oder die merkwürdigen Sichten
dreier Historiker
Von JOACHIM FIEBELKORN
Die Rezenzion einer Neuerscheinung in der Literatur würdigt den Wert des Werkes, beschäftigt sich mit seiner beabsichtigten Aus-sage, mit den benutzten Stilmitteln, mit der Form, in die es ge-bracht wurde. Die Rezension kann Lob bedeuten und auch Verriß. So gesehen sind die folgenden Zeilen keine Werkbesprechung. Sie beschäftigen sich allein mit Fehlern und Entstellungen, die so gra-vierend scheinen, daß sie ausführlich dargestellt sein wollen. Wer sie dennoch als Verriß ausdeutet, wird bei ihrem Autor nicht auf Widerspruch stoßen.
Anläßlich des fünfzigsten Jahrestages der Gründung des NOK der BRD am 24. September 1949 gab das Carl-und-Lieselott-Diem-Archiv im Auftrage des NOK für Deutchland eine Festschrift unter dem Titel "Olympischer Neubeginn“1) in Form einer mit kommentie-renden Texten versehenen Chronik heraus. Drei mit dem Di-em-Archiv verbundene Autoren selektierten, faßten zusammen und schrieben: Walter Borgers, Jürgen Buschmann und Karl Lennartz (Leitung).
Eine Chronik ist die Darstellung geschichtlichen Geschehens nach seinem zeitlichen Ablauf. Die Auswahl der aufzunehmenden Infor-mationen ist abhängig von den Intentionen der Verfasser. Um de-nen auf die Spur zu kommen, sollte man die Lektüre der seriös aufgemachten, 106 Seiten starken Broschüre mit dem Literaturver-zeichnis beginnen. Das ist höchst mager, beschränkt sich auf vier Druckerzeugnisse und die Bestände von sieben Archiven. Für die Chronik und die kommentierenden Texte wurden ausschließlich Quellen westlicher Provenienz benutzt. Der sich darin zeigende Hochmut hat fatale Folgen.
"Alle historischen Bücher, die keine Lügen enthalten, sind schreck-lich langweilig," spottete Anatole France. Das hier zu betrachtende Werk ist nicht langweilig.
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Damit kämen wir zu der wohl fettesten Ente in der Flut von Infor-mationen. Auf Seite 87 findet sich die nach dem gegenwärtigen Stand historischer Erkenntnisse geradezu sensationelle Entde-ckung: „07 OKT 1949 Die Sowjetunion verkündet die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik." Damit der Leser die Be-deutung dieser aufklärenden Zeilen auch richtig erfaßt, wird sie auf Seite 100 unverändert wiederholt.
Zu Zeiten der DDR zur Solidarität angehalten, sind wir bereit, Nachhilfe zu gewähren:
Am 3. August 1948 übergab der Deutsche Volksrat einen "Verfas-sungsentwurf für eine Deutsche Demokratische Republik" der Öf-fentlichkeit in West und Ost zur freien Diskussion. Am 15. und 16. Mai 1949 fanden in der sowjetischen Zone und im sowjetischen Sektor Berlins Wahlen zum III. Deutschen VoIkskongreß statt Die Wahlbeteiligung betrug 95,2 Prozent, die Kandidaten des Volks-kongresses wurden mit 66,1 Prozent der Stimmen gewählt.
Am 30. Mai 1949 bestätigte der Deutsche Volkskongreß die Ver-fassung für eine "Deutsche Demokratische Republik", die im Okto-ber 1949 von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik als verbindlich für das neu entstandene Staatsgebilde an-genommen wurde. All diese Fakten hätten die drei Herren mühelos in Erfahrung bringen können. Was hinderte sie? Arroganz? Der Ei-fer, eine Arbeit ganz im Sinne der Oberen abzuliefern, nach dem alles, was in der DDR entstand (abgesehen vom Sandmännchen, dem grünen Pfeil und neuerdings auch den Kinder- und Jugend-sportschulen) grundsätzlich zu verteufeln ist?
Der Teufel kam nun einmal aus Moskau und fraß die DDR mit Haut und Haaren. Damit sind wir auch schon bei der zweiten wohlge-nährten Ente, die sozusagen im Kielwasser ihrer soeben ge-schlachteten Schwester schwimmt. Auf Seite 23 wird zunächst un-ter dem Datum des 1. Mai 1945 erklärt, daß "sozialistische Sport-genossen“ in Moskau auf die Aufgabe vorbereitet wurden, den Sport in der sowjetisch besetzten Zone aufzubauen. Entsprechend wird der Leiter des am 7.Juni 1945 eingerichteten Sportamtes der Stadt Berlin, Franz Müller, als Mitglied der "Gruppe Ulbricht" identi-fiziert
Und tatsächlich, Franz Müller ist aus Moskau zurückgekommen, al-lerdings bereits im Jahre 1928 als Leiter der deutschen Mann-schaft, die dort an der Weltspartakiade teilgenommen hatte.
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Die drei Herren arbeiten mit bemerkenswertem Fleiß daran, ihren eigenen Ruf zu ruinieren.
Sie scheuen dabei vor Schlampereien nicht zurück. Lennartz und auch Buschmann machten sich u.a. durch Arbeiten über die olym-pische Bewegung und für das IOC einen Namen. Aber es macht ihnen nichts aus, auf Seite 27 den damaligen Kanzler des IOC, Ot-to Mayer, vom Amtssessel zu werfen, um dessen Bruder Albert, Mitglied des IOC für die Schweiz, zu inthronisieren. Man kann sich das Schmunzeln so manches ihrer Kollegen vorstellen, wenn ihm solch Fauxpas unter die Augen kommt.
Da wir nun gerade beim Nennen von Namen sind, nehmen wir uns auch dem des Werner Schnarch an. Der erscheint auf Seite 95 gleich doppelt, einmal im Text der Chronik, einmal in einer Bildun-terschrift.
Dieser Mann, in der DDR einst Präsident des Radsportverbandes, wurde dort seiner Funktionen enthoben, unter anderem weil er zu oft und zu tief in die Flasche schaute und sich dabei entsprechend schlecht benahm. Danach wurde er Freude trunken (im wahrsten Sinne des Wortes) in der BRD willkommen geheißen und politisch eifrig benutzt. Unsere drei Herren müssen von diesem Mann wis-sen, wurde "Schnarch" doch 1965 vom NOK der BRD unter Willi Daume als Demonstrationsobjekt und Argumentationsleuchte vor-geführt, als es in Madrid um die endgültige Anerkennung des NOK der DDR durch das IOC ging, was das NOK der BRD unter Ge-brauch nicht immer sauberer, den olympischen Gepflogenheiten entsprechender Mittel unbedingt zu verhindern hatte - aber nicht konnte.2)
Auch hier eine kleine Nachhilfe: Der Mann hieß SCHARCH. Das eingefügte „N“ könnte höchstens das Verhalten des Scharch nach seinen Trinkgelagen charakterisieren.
Bleiben wir bei jener IOC-Session in Madrid. Dazu schauen wir zu-nächst ins Vorwort der Broschüre, das von NOK-Präsident Walther Tröger unterschrieben wurde. Darin wird die Gründung des NOK der Bundesrepublik als "Beginn eines erfolgreichen Weges, die na-tionale Einheit des Sports zu sichern", beschrieben. Dem muß wi-dersprochen werden. Von Beginn seiner Tätigkeit an beugte sich das NOK der BRD dem Druck der Bundesregierung und vertrat ve-hement die These vom Alleinvertretungsanspruch3), die sich bösar-tig auch gegen die DDR-Sportler richtete, die doch weder auf die
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Spaltung Deutschlands noch auf die Entstehung zweier deutscher Staaten Einfluss nehmen konnten, gegen Unschuldige demnach, was auch immer hier unter dem Begriff Schuld zu verstehen sein mag.
Mit Hilfe einiger führender IOC-Mitglieder, alten Freunden des Rit-ter von Halt, gelang es jahrelang, zunächst die Anerkennung des NOK der DDR zu verhindern und dann - in selbstsicherer Über-schätzung der eigenen sportlichen Leistungsstärke - die Bildung einer gesamtdeutschen Mannschaft zu erzwingen.
Der Alt-Nazi und spätere Geschäftsführer des DSB der BRD, Guido von Mengden, dürfte in diesem Fall als Kronzeuge unum-stritten sein. Er schrieb im "Jahrbuch des Sports", 1959: "Eine spä-tere Geschichtsschreibung wird wohl zu dem Ergebnis kommen, daß eine Zusammenlegung der beiden NOK damals an der Hal-tung der Bundesrepublik gescheitert ist."4)
Hier nun ist es an der Zeit, auf das Literaturverzeichnis zurückzu-kommen. Nehmen wir als eines von diversen sich anbietenden Beispielen das Datum des 8.2.1952. An diesem Tag wollte eine Gruppe führender Mitglieder des IOC mit Vertretern der beiden deutschen Olympischen Komitees in Kopenhagen über die Bedin-gungen der Nominierung einer gesamtdeutschen Mannschaft bera-ten. Ausführlich schreiben die drei Autoren über das ausgefallene Gespräch und nutzen dabei allein "westliche" Quellen, aufge-schrieben von Menschen, denen kaum etwas am Gelingen der Konferenz gelegen sein konnte. Die Erklärungen der drei DDR-Vertreter Kurt Edel, Manfred Ewald und Roland Weißig lassen sie aus dem Spiel. Das läßt sich zur Not noch verstehen, so entspricht es ihrem Verständnis von Geschichtsbeschreibung. Aber sie igno-rieren auch absolut neutrale Stimmen, wie die der großen däni-schen, der DDR nicht gerade freundlich gegenüberstehenden Ta-geszeitung "Politiken", deren grundsätzliche Beiträge zum Sport-geschehen eigentlich in einem gut geführten Zeitungs- und Doku-mentenarchiv zu finden sein müßten. Das Kölner Archiv wird gern gut geführt genannt.
"Politiken" schrieb am 10.2.1952: "Wenn das IOC überhaupt ein In-teresse gehabt hätte, diese Sitzung zustandezubringen, hätte die Sitzung wohl durch ein Telefonat oder durch ein persönliches Ge-spräch auf den Abend oder auf den nächsten Tag verschoben werden können." Erklärend sei hier vermerkt, daß die
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DDR-Vertreter durch von ihnen nicht beeinflußbare Schwierigkeiten verspätet am Tagungsort erschienen.
„Politiken" weiter: Es ist die Aufgabe des IOC, internationale Ver-ständigung zu fördern, nicht aber eiserne Vorhänge innerhalb der Sportwelt zu schaffen."
In DDR-Editionen ist das Zitat zu finden. Unsere drei Herren aber halten es lieber mit Palmström, "da nicht sein kann, was nicht sein darf" und greifen zu einem üblen Trick, den man sonst nur von di-versen Politikern und den Journalisten der Skandalpresse gewöhnt ist. Sie selektieren die Fakten, lassen Wesentliches aus und schaf-fen sich so das gewünschte Geschichtsbild. Den Makel, an der ge-schichtlichen Wahrheit vorbeizuschreiben, nehmen sie in Kauf.
Auf Seite 7 formulieren sie: "Für eine Wahl im IOC brauchte DAUME aber eine Mehrheit, die nur mit den Stimmen der Vertreter des Ostblocks zu erreichen war. 1968, in Mexico City, nahmen zwei deutsche Mannschaften nur noch verbunden durch Flagge und Hymne an den Spielen teil, 1972 konnte die DDR selbständig starten... So wurde München in der Session 1965 in Madrid zum Austragungsort der Sommerspiele gewählt." Man mag uns für pin-gelig halten, aber bislang war immer die Rede davon, dass die Wahl Münchens 1966 in Rom erfolgte. Kümmern wir uns nicht um Kleinigkeiten! In der Broschüre jedenfalls wird Willi Daume als Olympier dargestellt, der sich im Interesse der Vergabe der Spiele an München für die Anerkennung des NOK der DDR einsetzte und daran ist schlicht nichts Wahres. Im Gegenteil: Er ließ zum Beispiel einen „Kronzeugen“ gegen die DDR nach Madrid einfliegen: Scharch alias Schnarch (siehe oben). Der konnte allerdings nicht „aussagen“, der zuweilen grantige Brundage beschied Daume da-mals deutlich: „Keine Achtgroschenjungs!“
Wir wollen auch die noch längst nicht beendete Diskussion um Di-em und von Halt hier nicht fortführen. Wenn von Halt aber in der Dokumentation als Opfer der Willkür sowjetischer Besatzungsbe-hörden und nicht als Opfer seiner eigenen Taten dargestellt wird, wenn man ihm ausgerechnet von Diem einen riesenweißen Persil-schein ausstellen läßt, dann sollte man wohl darauf hinweisen dür-fen, daß Diem und von Halt - bei allen ihren Verdiensten um Ent-wicklung und Organisation des Sports - im Nazireich in führenden Positionen mit großem Eifer bestrebt waren, die deutsche Sportju-gend psyschisch und physisch auf den Marsch ins Massengrab
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vorzubereiten, und das muß man ein Verbrechen nennen. Ange-sichts der jüngsten Erkenntnisse über Raub und Verbleib jüdischer Vermögenswerte rückt der ehemalige Direktor der Deutschen Bank, Halt, ohnehin erneut in trübes Licht.
Der Theologe und Kirchenhistoriker Peter de Rosa gibt uns einen gerade hier beachtenswerten Hinweis: :'Die Wahrheit hängt davon ab, wer man ist, wo man ist und wann man ist.“6)
Ausgehend von dieser kaum anfechtbaren These hätten wir abschlie-ßend zwei Fragen nicht nur an die Herren Borgers, Buschmann und Lennartz.
Erste Frage: Wie lange noch wollen einige Sporthistoriker im Sinne der Mächtigen dieses Landes und nur in deren Sinne über den deut-schen Sport berichten? Wann werden sie begreifen, daß sie der inne-ren Einheit des Landes und seines Volkes ebenso entgegenstehen wie einst die Mauer?
Zweite Frage: Wann werden sie sich der Aufgabe des Historikers verpflichtet fühlen, der Geschichte umfassend und im Rahmen ih-rer Möglichkeiten objektiv nachzuspüren, um den Nachwachsen-den die Chance zu geben, aus dem Geschehenen wirksame Leh-ren zu ziehen? Das aber kann nur im Zusammenwirken der Histo-riker beider Teile unseres Landes geschehen, also unter gleichbe-rechtigter Mitwirkung jener Wissenschaftler, die das Land DDR vierzig Jahre in Erfahrung brachten und Fragen zu beantworten wissen, die in den alten Bundesländern aufgewachsenen Histori-kern nicht lösbare Rätsel aufgeben.
Oder wird, um von Mengdens Worte zu benutzen,eine spätere Ge-schichtsschreibung zu dem Ergebnis kommen, daß die innere Ein-heit Deutschlands einst auch durch die Schriften diverser Historiker endlos verzögert wurde, die sich dem Zeitgeist und nicht der histo-rischen Wahrheit verpflichtet fühlten?
ANMERKUNGEN
1) Köln 1999
2)Vgl. Oehmigen, G.: die 63. IOC-Session und Willi Daumes Ärger mit der Bun-desregierung. Beiträge zur Sportgeschichte 6/98, S. 39 - 60
3) Vgl. Daume, W.: aide memoire (Auszüge). Beiträge zur Sportgeschichte 4/97 61 - 77; Oehmigen,G.: Schwierigkeiten der Bundesrepublik mit dem internationa-len Sport Mitte der sechziger Jahre. Beiträge zur Sportgeschichte 8/99, S. 34 ff
Mengden G. von: Jahrbuch des Sports 1959, Wilhelm Limpert-Verlag, Frankfurt am Main, S. 37
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5) Vgl. Ullrich, K.: Olympia und die Deutschen, Gesellschaft zur Förderung des Olympischen Gedankens in der DDR, Berlin 1968, S. 78/79.
6) Rosa, Peter de, „Der Jesus-Mythuos“, Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1991, S. 19.
Oder-Neiße-Radtour
der guten Nachbarschaft
Von WERNER STENZEL
Es war in diesem Jahr bereits die XVI. Radtour der guten Nachbar-schaft. Die erste Tour führte 1993 in die Wojewodschaften Gorzow und Szczecin. Mitbegründer waren solche renommierten Radsport-ler und Friedensfahrer der DDR wie Gustav-Adolf Schur, der die erste und die zweite Tour der guten Nachbarschaft mitfuhr, und Rolf Töpfer, der die meisten Touren - gemeinsam mit seiner Frau - absolviert hat. Teilnehmer waren und sind vor allem Radtouristen aus Polen und aus allen Bundesländern der BRD, aus den alten und den neuen. Inzwischen starteten aber auch Radsportler aus den USA, aus Großbritannien oder Frankreich. Nachdem in den vergangenen Jahren zum Beispiel Wroclaw, Torun oder Gdansk das Ziel waren, gingen am 24. Juni 2000 insgesamt 57 deutsche und polnische Teilnehmer in Szczecin an den Start, um in die Eu-ropastadt Zgorzelec/Görlitz zu radeln. Zwölfmal überquerten wir die Grenzflüsse Oder und Neiße, und überall war das wohlwollende Entgegenkommen der Grenz- und Zollorgane spürbar.
Es war eine große Entdeckungsreise durch das Grenzland, die man so nur auf dem Fahrrad oder auf Schusters Rappen erleben kann. Zu berichten wäre zum Beispiel vom deutsch-polnischen Na-tionalpark im unteren Odertal, durch den uns Naturschützer von Mescherin bis Schwedt begleiteten und uns über eine einmalige Flora und Fauna unterrichteten. Beeindruckend die Gastfreund-schaft in Hohenwutzen, wo wir in der Schule mit Kaffee und Ku-chen bewirtet wurden. Infolge des nun kühl gewordenen Wetters hat uns das besonders gut getan. In Slubice nahmen wir an einem deutsch-polnischen Seniorensportfest teil.
Vieles gäbe es noch zu erzählen, aber hervorheben möchte ich unseren Zwischenaufenthalt in Bad Muskau/Leknica. Er machte in nur reichlich drei Stunden das Charakteristische solch einer Rad-tour deutlich, für die die Gastfreundschaft in Städten und Gemein-den das A und O ist. Die Bürgermeisterin, Frau Heidemarie Knoop,
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und die Chefin der Stiftung Fürst Pückler Park, Frau Dr. Wenzel, gaben uns einen Einblick in die bis in das 13. Jahrhundert zurück-gehende Geschichte der Parkstadt und informierten uns über ge-genwärtige Probleme und die künftigen Aufgaben. Ein besonderes Erlebnis war die Parkführung durch Herrn Brugsch und seine polni-sche Partnerin. Ein erfreulicher Anblick das neue Schloß in der Re-konstruktion zu sehen. Im polnischen Teil des Parks, am Mausole-um, am Viadukt, an der Königsbrücke, erlebten wir am Beispiel der Sicherungs- und Wiederaufbauarbeiten die Sorge und Verantwor-tung von Deutschen und Polen für die gemeinsame Heimat.
Auch heute gibt es im Park noch zerstörte Brücken und unweit da-von die Grabsteine sowjetischer Soldaten aus dem Zweiten Welt-krieg. Sie verweisen auf schmerzhafte Wunden, die nicht vernar-ben. Nachdenklichkeit stellt sich ein und jeder von uns spürt, daß der Disput über Krieg und Frieden, über die Ursachen und Wirkun-gen von Kriegen als Mittel der Politik nicht abreißen darf, weil er grundlegende Fragen des Lebens berührt und sowohl solche nach dem Sinn des Lebens wie auch solche zum Wert der grenzüber-schreitenden Gemeinsamkeit aufwirft. Und weil er rückblickend auf mehr als 50 Jahre Gemeinsamkeit an dieser infolge des Zweiten Weltkrieges entstandenen Staatsgrenze begreifen hilft, daß sich die Grenze an Oder und Neiße als tragfähiges Fundament für den Frieden in Europa erwiesen hat.
Später stehen wir staunend vor den Baumriesen des Pückler-Parks und hätten schon Lust, vielleicht mit der 1000jährigen Hermannsei-che einen Dialog über Vergangenes zu beginnen. Was hat sie schon alles erlebt, bevor sie solch eine stattliche Baum-Ruine wur-de? Das Künftige verkörpert der junge kräftige Baum, der in ihre Wurzeln gepflanzt worden ist, ebenso wie die Sichtachsen im Fürst Pückler Park von Bad Muskau und Leknica, von Menschen erdacht und geschlagen, sind sie auch Sichtachsen in die Zukunft. Mögen sie Wegzeichen guter deutsch-polnischer Nachbarschaft sein und werden.
Die nächste Radtour der guten Nachbarschaft führen die Veran-stalter, der Landsportbund Gorzow (LZS) und die Gesellschaft für gute Nachbarschaft zu Polen, Regionalorganisation der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD e.V., im nächsten Jahr durch. 2001 wird es auch wieder ein „Camp für Radtouristen und Wande-
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rer“ geben. Am diesjährigen Camp in den Masuren beteiligten sich insgesamt 65 Radtouristen und Wanderer.
ZITAT
Gerügter Amtsmissbrauch
Nein, es geht nicht um in Sidney vergebene Medaillen oder dort er-zielte Rekorde, sondern um einen in den Sportspalten relativ selten erwähnten Regelverstoß, den man auch als Amtsmissbrauch be-zeichnen könnte. Nur um die Aktualität transparent zu machen, er-innere ich daran, dass Kristin Otto bekanntlich von der Liste der Sportjournalisten gestrichen werden sollte, die aus Sydney berich-ten. Jemand hatte angeblich eine Gerichtsakte gefunden, aus der angeblich hervorging, dass Kristin angeblich zu DDR-Zeiten gedopt hatte.
Wer sind die Typen, die immer mal wieder solche Akten ausgraben und sich als Denunzianten betätigen? Es ist eine relativ kleine Schar von Skandaljournalisten und mit denen kooperierende Sportwissenschaftler, die sich gern auf Order von ganz oben beru-fen. Einziges Ziel ist, den DDR-Sport in Misskredit zu bringen, was umso wichtiger ist, da selbst Sportlaien mühelos erkennen, dass die sportliche Stellung Deutschlands - auch bei Olympia - ohne die DDR-Erbschaft nicht zu sichern wäre. Allerdings sind die Methoden der Anti-DDR-Fronde nach zehn Jahren schon so abgeschlafft, dass sich ihre Wirkung minimierte. Auch um dem entgegen-zuwirken retten sie sich immer wieder in den Amtsmissbrauch und geben sich als „Beauftragte der Bundesregierung“ aus, um ihren „Enthüllungen“ mehr Nachdruck zu verleihen. Vor sechs Jahren hatte der Heidelberger Dopingpapst Prof. Dr. Franke diese Metho-de eingeführt und sie eines Tages auch in einem Beitrag, der sich zur angeblichen Dopingverstrickung der PDS-Bundestagsabgeord-neten Ruth Fuchs äußerte, strapaziert. Die fragte daraufhin bei der Bundestagspräsidentin Süssmuth nach, wer Prof. Franke mit wel-chem Auftrag eigentlich beschäftige.
Frau Süssmuth antwortete gewunden aber dennoch verständlich: „Auch sollte Prof. Dr. Franke gebeten werden, nicht den Eindruck zu vermitteln, er sei... im Auftrag des Deutschen Bundestages tä-
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tig.“ Das bewog denn auch den Heidelberger Krebsforscher auf diese Methode fortan zu verzichten.
Zudem hatte sich inzwischen ein gewisser Giselher Spitzer in der Umgebung Frankes darauf spezialisiert, diese Praxis zu strapa-zieren. Jüngste Beispiele lieferten die „Frankfurter Allgemeine Zei-tung“ und die „Welt“. Am 30. 6. war ein Artikel von Spitzer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit dem redaktionellen Hinweis versehen worden: „Der Autor ist Historiker und erforscht an der Universität Potsdam das DDR-Doping und die Stasi-Problematik im Auftrag des Deutschen Bundestages.“ Am 12. Juli folgte in der „Welt“ ein Artikel über den DDR-Sport, der mit dem redaktionellen Hinweis endete: „Spitzer erforscht an der Universität Potsdam für den Deutschen Bundestag DDR-Doping und Stasi-Problematik.“
Das bewog mich, den Bundestagsabgeordneten Gustav-Adolf Schur (PDS) zu bitten, herauszufinden, wer Spitzer welche Aufträ-ge gegeben haben könnte. Dieser Tage gab man mir Auskunft: „In Beantwortung Ihrer Anfrage an das Büro des MdB G.-A. Schur vom August 2000, ob Herr Dr. Spitzer (Universität Potsdam) im Auftrage des Deutschen Bundestages tätig, bzw. in dieser Form unter-schriffsberechtigt ist, kann ich Ihnen nachfolgende Auskunft ertei-len: Das Bundesinstitut für Sportwissenschaften (BISP) hat dem An-liegen des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, die Ge-schichte des DDR-Sports aufzuarbeiten entsprochen und dazu einen Forschungsauftrag zum Thema: ‘Kontrolle des MfS über Leistungs-sport und Sportwissenschaft in der DDR’ in Auftrag gegeben. Im Rahmen dieses Forschungsauftrages wurden. Dr. Spitzer von der Universität Potsdam nachfolgende Aufgaben übertragen:
1. Bericht über Doping in der DDR
2. Die Kontrolle des Leistungssports sowie der Sportwissenschaft durch, das Ministerium für Staatssicherheit
Nach Telefonat mit Herrn Dr. Büch, Direktor des BISP vom 15.9.00 erklärte Herr Dr. Büch, dass diese Leistungen durch Herrn Dr. Spitzer erbracht wurden. Entsprechende Veröffentlichungen liegen vor.
Jegliche Äußerungen des Herrn Dr. Spitzer darüber hinaus mit ‘im Auftrage des Deutschen Bundestages’ zu zeichnen, sind nicht statthaft. Diese Mitteilung erging in schriftlicher Form durch den Leitenden Wissenschaftlichen Direktor des BISP, Herrn Dr. Anders mit gleichem Daturn an Herrn Dr. Spitzer.
Mit freundlichen Grüßen,
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Klaus Köste, MA des MdB Schur.“
Der zuständige Paragraf im Strafgesetzbuch lautet übrigens: „Wer unbefugt... die Bezeichnung öffentlich bestellter Sachverständiger führt... wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstra-fe bestraft.“ (UZ, 29.9.2000)
REZENSIONEN
Chronik des DDR-Sports
Von MARGOT BUDZISCH, KLAUS HUHN, HANS SIMON, LOTHAR SKORNING und GÜNTHER WONNEBERGER
Es handelt sich bei diesem Buch - dies sei vorausgeschickt - in mehrfacher Hinsicht um eine Chronik der besonderen Art. Dieses Urteil zielt nicht so sehr auf die ungewöhnliche Entstehungsge-schichte dieser nach Jahren geordneten Faktenchronologien (1945 - 1949; 1949 - 1990 und Epilog 1990) ab, die aus dem Fundus von Einzelarbeiten zu bestimmten Zeitabschnitten, veröffentlicht in der Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“, durch Zusammenfüh-rung, Überarbeitung und Komprimierung entstanden sind, sondern vielmehr auf das zeitgeschichtliche Umfeld, auf die vielschichtige noch anhaltende Diskussion zum Thema DDR-Sport oder was man darunter zu verstehen glaubt. Dadurch erhalten viele der eher nüchternen Fakten ihre Brisanz.
Um nicht in den Verruf zu geraten, mutwillig Akzente in die Debatte zu bringen, die die Fakten gar nicht hergeben, muß zu den dubiosen Vorzeichen dieser Edition unweigerlich ein Wort mehr gesagt wer-den. Der Hauptstrategie einflußreicher Kreise der alten Bundesre-publik ab Herbst 1989 folgend, die DDR völlig zu delegitimieren, fan-den sich sofort Spezialisten West mit Unterstützung Ost, die mit Hilfe der Medien das Feuer auch auf den DDR-Sport richteten, zu aller-erst natürlich, wen wundert es, auf den Leistungssport. Schließlich mußte seine massenwirksame, identitätsstiftende Erfolgsbilanz ir-gendwie demontiert werden. Der gezielten Diffamierung von Sport-lern, Trainern, Ärzten, Funktionären, Wissenschaftlern folgten auf staatlicher Ebene juristisch-politische Konstrukte zur unendlichen Geschichte (weltweites Doping im Hochleistungssport), und schließ-lich ging man daran, die Geschichte des DDR-Sports von außen umzuschreiben.
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Nach den ersten Kostproben dieser Art Inventur wird man den Ver-dacht nicht los, daß die offizielle, d.h. die vom Zeitgeist positiv sank-tionierte deutsche Geschichtsschreibung auch weiterhin ein wesent-liches Element von Machtausübung bleibt. Und wer da ausscherte, hatte und hat es schwer. Das vorherrschende Element in der geisti-gen Auseinandersetzung West mit Ost der ersten zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung von 1990 war die Restauration, und das ist ein Synonym für rückwärts nicht für vorwärts.
Was dieser Exkurs mit dem zu besprechenden Buch zu tun hat? Die Autoren haben in Kenntnis dieser deutschen Problematik in mehre-ren Schritten mit den spezifischen Möglichkeiten einer Chronik hilf-reiche, d.h. der Wahrheitsfindung dienende Aufarbeitung von Ge-schichte und Zeitgeschichte betrieben. Sie enthalten sich bewußt je-der Kommentierung von Fakten; ihr Standpunkt lenkte allenfalls die Auswahl. Und sie legten die Auswahl so breit an, daß der Titel „Chronik des DDR-Sports“ eigentlich tiefgestapelt ist. Wesentliche Fakten aus der dynamischen Entwicklung von Körperkultur und Sport auf den unterschiedlichsten Ebenen der Gesellschaft DDR (Staat, Parteien, gesellschaftliche Organisationen inklusive DTSB, Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Literatur, Kommunalpolitik etc.), das heißt das gesamte gesellschaftliche Bedingungsgefüge, werden markiert. Die dominanten Fakten zu internationalen Erfolgen im Wettkampfsport rechtfertigen den Titel des Buches, das auch ein universelles Nachschlagwerk sein will.
Da sportpolitische Aspekte bei der Faktenauswahl eine große Rolle spielen mußten, schalten die Autoren dem eigentlichen Betrach-tungszeitraum (Oktober 1949 bis Oktober 1990) den Zeitabschnitt von der bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deut-schen Reiches im Mai 1945 bis zum Entstehen der beiden deut-schen Staaten als Resultat der ersten Phase der Nachkriegsent-wicklung vor, womit das Verständnis für die unterschiedlichen poli-tischen Ansätze in den 1949 entstandenen beiden deutschen Staa-ten ermöglicht und gefördert wird. Auch in diesem Zeitabschnitt wie in allen folgenden wird in bezug auf Körperkultur und Sport sowohl das Progressive als auch das Problematische der Nachkriegsent-wicklung im Bereich der sowjetischen Besatzungszone deutlich.
Das Buch listet von Anfang bis Ende auch Fakten auf, die in der offi-ziellen Geschichtsschreibung der DDR und des DTSB bis Herbst 1989 nicht zu finden waren, insofern bewegt sich diese Chronik fernab
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jeder Nostalgie. Sie gestattet den neuen Hofhistorikern allerdings kei-ne neuen Schwarz-Weiß-Bilder, weil sie an den jedermann zugängli-chen Fakten schwerlich vorbeikommen werden, sie allenfalls im Rahmen ihrer Denkstrukturen umdeuten können.
Eine jede Chronik entreißt selbst bei denjenigen, die diesen Zeitab-schnitt gelebt haben, bestimmte Fakten und Vorgänge, die länger zu-rückliegen, wieder der Vergeßlichkeit und zwingt damit zum retrospek-tiven Nachdenken. Abgesehen davon, daß Namen im Sport beson-ders schnell verblassen - heute noch schneller als gestern -, so sind es vor allem die Wurzeln bestimmter Entwicklungen, die die Autoren an Hand von Fakten offenlegen. Einige wenige dieser gedanklichen Linien, die es zu verfolgen lohnt, seien hier genannt.
Wie ein roter Faden zieht sich bis in die siebziger Jahre durch diese Chronik die ständige politische und sportpolitische Auseinanderset-zung des DDR-Sports, der neue Wege ging, mit dem völlig anders gearteten politischen System der BRD und seinen sportlichen Füh-rungsorganen (DSB und NOK). In den 1945 aufflammenden Kalten Krieg waren zunächst die Besatzungszonen der Großmächte und nach 1949 die beiden deutschen Staaten zwangsläufig verwickelt. Der Versuch, den DDR-Sport international auszugrenzen (Hallstein-Doktrin), zum bedingungslosen Anschluß an das West-NOK zu zwingen und den innerdeutschen Sportverkehr durch Diskriminie-rung des DS und später des DTSB zu unterbinden oder politisch zu kontrollieren, haben einerseits das Selbstbewußtsein des DDR-Sports in ganzer Breite, von den Urhebern unbeabsichtigt, mit ge-stärkt und andererseits seine Politisierung in ganz bestimmter Rich-tung potenziert.
Diese Richtung heißt Zentralismus und hatte primär andere Ursachen als die Auswirkungen des Kalten Krieges, aber sie vollzog sich in die-sem Koordinatensystem. Erst 1957 mit Gründung des DTSB fand der DDR-Sport, der nach dem Krieg zunächst sowjetische Muster nach-ahmte und dann mit dem DS zwischen Jugendorganisation (FDJ), Gewerkschaft (FDGB) und Staat hin- und hergerissen wurde, ein ei-genes Profil, das die dokumentierte Leistungs- und Breitenentwick-lung ermöglichte. Die Gene der FDJ, die dem DTSB kein anderer als Erich Honecker eingepflanzt hatte, wirkten bis zuletzt: Der DTSB war neben seinen besonderen Aufgaben letztlich als zentralistische politi-sche Organisation angelegt und „bezog“ in seinem Führungszirkel zu-
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nehmend sportfachlich mehr oder weniger inkompetente Kader aus der FDJ.
Nach 1989 ist immer wieder behauptet worden, der Staat DDR, die SED und der DTSB haben einseitig in ausgewählten Sportarten Leistungssport betrieben - diese undifferenzierte These, deren In-tension durchsichtig ist, wird an Hand der Fakten dieses Buches un-ausgesprochen widerlegt. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß der Leis-tungssport bei schwindenden materiellen und finanziellen Ressour-cen überproportional gefördert wurde, was auch immer wieder Kriti-ker aus den eigenen Reihen auf den Plan rief (nachzulesen bei Hans Modrow: Ich wollte ein neues Deutschland). Aber: Ein kleines Land, daß ein so breit entwickeltes System der Körperkultur und des Massensports aufgebaut und ausgebaut hat, kann nicht mit einer Handbewegung abgetan werden. Die DDR war schließlich kein Gol-femirat.
Allein das allmählich erarbeitete theoretische, pädagogisch-methodische und praktische Niveau des Schulsports und des Lehr-lingssports in der DDR erscheinen aus heutiger deutscher Sicht schon als eine Fata Morgana. Ohne eine wie auch immer geartete breite Basis wachsen im Sport auch in der Breite keine Spitzenleis-tungen.
Man merkt dem Buch neben seinem eklektischen Entstehungspro-zeß, was nicht vorwurfsvoll gemeint ist, auch an, daß es mit heißer Nadel gestrickt wurde. Dieses Urteil bezieht sich weniger auf Druckfehler, die nicht häufiger auftreten als bei allen anderen Ver-lagen, als vielmehr auf das Manko, daß ein einheitlicher Algorith-mus für die Erfassung und Darstellung analoger Fakten in unter-schiedlichen Zeitabschnitten (z.B. EM, WM, OS) gefehlt hat. Bei einer weiteren Auflage, die zu wünschen wäre, müßte auch an ein Begriffskompendium (Anhang) für jüngere Leser gedacht werden, da sonst das Verständnis bestimmter, weit zurückliegender Fakten und Leitungsstrukturen eingeschränkt bis unmöglich ist.
Diese Chronik ist ein Arbeitsbuch mit vielen Gesichtern, eine Fak-tensammlung, mit der engagierte Autoren Geschichtsverständnis befördern und mit der sie einem breiten sportinteressierten Publi-kum ein „Memory“ in die Hand geben.
(Spotless Verlag Berlin 2000, 320 S., 19,80 DM)
Horst Forchel / Ulrich Pfeiffer
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Leistungssport in der DDR
VORBEMERKUNGEN:
1. Die folgenden Zeilen sind nicht als Rezension gedacht. Ich be-schränke mich auf Anmerkungen zu Bemerkungen (im Sinne von Beobachtungen) des Professor Dr. TEICHLER, Verfasser von etwa der Hälfte der in der Schrift „Das Leistungssportsystem der DDR in den 80er Jahren und im Prozeß der Wende“ (Schorndorf 1999) enthaltenen Autorentexte.
2. Ich bin kein Historiker. Ich sehe mich auch noch Jahrzehnte nach meinem frühzeitigen Ausscheiden aus meinem Beruf als ei-nen Sportjournalisten, der sein ganzes Arbeitsleben in den Dienst der Sportbewegung der DDR stellte und keine Veranlassung findet, sich dafür zu entschuldigen.
3. Einem Ondit zufolge soll für Erarbeitung und Druck des Werkes eine sechsstellige Summe zur Verfügung gestanden haben, gespro-chen wird von 350.000 bis 450.000 DM. Das Gerücht ist glaubhaft, werden doch im Inhaltsverzeichnis neben TEICHLER und REINARTZ vier Co-Autoren genannt, im Vorwort zehn weitere Mitarbeiter, die unter anderem in den Archiven mehrerer Städte der neuen Länder unter hohem Zeitaufwand recherchierten.
4. Hans-Joachim TEICHLER, geboren 1946, kam im Jahr 1994 aus dem alten Bundesgebiet an das Institut für Sportwissenschaften der Universität Potsdam und ist dort als Professor für Zeitgeschich-te des Sports tätig. Er wurde in sein Amt berufen, als die Abwick-lung fast der gesamten DDR-Wissenschaft beendet war, ein Vor-gang, der etwa 90 Prozent des betroffenen Personenkreises um Beruf und Lebensinhalt brachte.
ANMERKUNGEN zum Thema:
„Wer eine Gesellschaft von Innen verstehen will, muß sich hüten, Maßstäbe und Urteile an sie heranzutragen, die von Außen ge-
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nommen sind“, schreibt Wolfgang ENGLER in „Die Ostdeutschen - Kunde von einem verlorenen Land“ (Berlin 1999). Jean-Jacques ROUSSEAU erteilte dem Fremden den Rat, in die „abgelegensten Provinzen“ zu gehen, „wo die Einwohner noch ihre natürlichen Nei-gungen besitzen“.
TEICHLER betrat 1994 eine terra incognita und da er anscheinend weder ENGLERs Einsicht besitzt noch ROUSSEAUs Ratschlag kennt, dafür aber KINKELs Order zur Delegitimierung der DDR, erkannte er sie als sub terra, als eine Unterwelt, die sich vor allem dadurch aus-zeichnete, daß sie fast menschenleer war. Wie anders soll man sich erklären, daß er auf rund 170 Druckseiten über den Leistungssport der DDR referiert, ohne den Leistenden selbst Aufmerksamkeit zu widmen. Und wenn doch einmal von ihnen die Rede ist, werden sie nicht als Menschen mit meist hoch entwickelten geistigen und kör-perlichen Fähigkeiten dargestellt, sondern als Mitglieder eines „weit-gehend systemkonformen Personenkreises“ (S. 411), dessen An-triebe zum sportlichen Üben noch erforscht werden müßten (S. 413). Auf jeden Fall aber seien sie „ zu offenkundig am Personenkult um den gestürzten Generalsekretär beteiligt gewesen“ (S. 428), was sich nun wieder vom „systemspezifischen Belohnungssystem“ ablei-ten läßt, „das erst vor dem Hintergrund der ebenfalls systemspezifi-schen Mangelsituationen (Auslandsreisen, materielle Gratifikationen, bevorzugte Zuteilung von Mangelgütern u.a.m.) seine Attraktivität entfalten konnte.“ (S. 598) Mit Respekt, der TEICHLER auch für Ar-beiten über den Mißbrauch des Sports im nazistischen Deutsch-land geschuldet ist, sei hier vermerkt, daß er einem ehemaligen lei-tenden Funktionär des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), jetzt Dozent in Potsdam, Raum gibt, eben diese Ausblendung der Sportler als Begründung „skeptischer Distanz“ zu TEICHLERs Aus-führungen zu benennen.
Nicht allein die Menschen werden von TEICHLER ausgeblendet. Man gewinnt den Eindruck, er betrachte die DDR als eine Art Ho-munkulus, künstlich gezeugt in einem politisch leeren Raum. So führt er einleitend zwar den Leser weit zurück in die Anfangsjahre der DDR, erspart sich aber die auch hier notwendig zu beantwor-tende Frage nach der Legitimität ihrer Gründung, die unbestreitbar (in dieser Zeit meist ignoriert) eine der Folgen des faschistischen Raubkrieges war.
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In den vierzig Jahren der DDR mußten deren Bürger immer wieder einmal erfahren, daß Geschichtsschreibung instrumentalisierbar ist (ich bekenne, da selbst nicht ohne Schuld zu sein). Seit nunmehr zehn Jahren wissen sie, daß solcher Mißbrauch einer gewissen Üb-lichkeit unterliegt und auch Wissenschaftler aus den alten Bundes-ländern die Vergangenheit entstellend der aktuellen Politik, folglich dem Willen der Mächtigen anpassen. So macht nun auch TEICHLER begreifbar, was GANDHI zu dem Ausspruch bewog: „Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“ Wie sollte sie denn auch, wenn die Kundigen mit der Vergangenheit umgehen, als sei sie ihr persönliches Eigentum. „Man hat einmal gesagt, daß zwar Gott nichts an der Vergangenheit ändern kann, wohl aber die Geschichtsschreiber“, folgerte der englische Schrift-steller Samuel BUTLER.
Vae victis!
TEICHLER geht listig um mit der Vergangenheit und harsch mit den Besiegten. Er löst die DDR aus ihrem internationalen Umfeld und er-spart sich das Nachdenken über die Folgerichtigkeit ihrer Gründung, der Schlüsselfrage ihres Werdens, ihres relativen Blühens und ihres in den achtziger Jahren kaum noch abwendbaren Niederganges. Das ermöglicht es ihm, die Gründe des Leistungsdranges ihrer Sportler allein und vorrangig auf die Wirkung von Zuckerbrot und Peitsche zu beschränken, individuelle politische, ideologische Moti-vationen aber vor der Tür zu lassen. Angesichts der einseitigen Ziel-stellung seiner Arbeit ist das durchaus verständlich. Jedoch: Die von eifrigen Funktionären und Journalisten unterstützte Sportpolitik der Bundesregierung, die zum Beispiel den Einzug der DDR-Sportler in die internationalen Arenen lange Zeit meist erfolgreich verhinderte oder diese in Ausscheidungskämpfe für gesamtdeutsche Mann-schaften zwang, die oft mehr körperliche und mentale Kräfte ver-schlissen als die internationalen Meisterschaften selbst, weckte hin-reichend Zorn, um jedes Wort vom internationalen Klassenkampf und Machenschaften imperialistischer (Sport)Politik plausibel und wirksam werden zu lassen. Es gibt der Beispiele genug - nicht nur aus den fünfziger und sechziger Jahren.
Wenn - nach TEICHLER - heute ehemalige DDR-Sportler solche Mo-tivationen abstreiten, dann könnte das unter anderem daran liegen, daß sie ihre neuerlichen Aussagen als mögliche Voraussetzung dafür betrachten, am systemspezifischen Überfluß teilhaben und
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der ebenfalls systemspezifischen Mangelsituation eines Arbeitslo-senhaushaltes entrinnen zu können.
Auch wenn das bei TEICHLER unbeachtet bleibt: der Leistungssport war wesentlicher Bestandteil der internationalen Systemauseinan-dersetzung. Beide Seiten sahen ihn so. REAGENs Ausführungen zu den von der USA-Regierung gesetzten politischen Zielen der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles sind Indiz genug. In der Bundesrepublik bestanden da ebenfalls keine Zweifel. „Dem Sport von heute wird zwangsläufig und parallel zur Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltanschauungen in Ost und West die Auf-gabe der nationalen Repräsentation übertragen“, sagte Josef NECKERMANN am 10.5.1970. Die Frage ist hier müßig, wer denn zuerst da war, die Henne oder das Ei, ob die Auseinandersetzung im Osten oder im Westen begonnen wurde, gewiß ist, daß sie nicht von der SED-Führung erfunden wurde und schon gar nicht vom DTSB-Sekretariat.
Wie auch die ebenso schädliche wie schändliche Praxis des Do-pings nicht. TEICHLER verschweigt die internationale Dimension des Problems, die es schon Jahrzehnte vor der Gründung der DDR hatte und die sich eben im Rahmen der Systemauseinanderset-zung gewaltig erweiterte. Und er verschweigt, daß aus diesem Las-ter zweifacher Nutzen gezogen wurde: durch die Abgabe „leis-tungsfördernder Mittel“ an die Sportler und durch die Art der Orga-nisation der Kontrolle.
Immer wieder bezieht sich TEICHLER auf die Bestände der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO). Es ist schwer vorstellbar, daß ihm solche DTSB-Sekretariatspro-tokolle entgingen oder vorenthalten wurden, in denen zum Thema politisch instrumentalisierter Dopingkontrolle ausgesagt wird. Unter der Signatur DY 12/663 findet sich im Protokoll der Sekretariatssit-zung vom 13.8.1983 eine Information zur Vorbereitung der DDR-Vertreter auf die 32. Jahreskonferenz der Leiter der sozialistischen Sportorganisationen (19.9. bis 27.9.1983 in Phjoenjang, KVDR). In dieser Akte findet sich auch der Bericht über die Konferenz selbst, über die Diskussionen der Delegierten zum Dopingthema, über Ge-spräche mit dem am Ort weilenden SAMARANCH. Recht überzeugend ist dargestellt, wie vornehmlich durch Vertreter der USA das Kon-trollsystem manipuliert wurde (am Beispiel der panamerikanischen Spiele in Panama) und wie sehr befürchtet werden mußte, daß an-
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gesichts der ideologischen Vorgaben der USA-Regierung ähnliche Praktiken auch für Los Angeles geplant waren. Zu diesem Thema und die Bemühungen der DDR-Seite, zu akzeptablen internationalen Kontrollsystemen zu kommen, kann in den SAPMO-Akten mehrfach nachgelesen werden, so unter den Signaturen 12/715 und 718. Die Logik der Bemühungen der DDR-Sportführung, zu geographisch und ideologisch neutralen Kontrollsystemen zu gelangen, ist zwin-gend. Diese Anmerkungen sind nicht als Entschuldigung für nicht Entschuldbares zu verstehen, sondern als strikte Ablehnung einsei-tiger Verurteilungen, ob nun durch tendenziös informierende Mas-senmedien, ob durch eine einäugige Justiz oder durch wissen-schaftliche Auftragsproduktionen. Vieles wäre noch zu TEICHLERs Texten zu sagen, zum Thema Machtstreben und Machterhaltung zum Beispiel oder zur Unfähigkeit der DDR-Funktionäre, im Späth-erbst 1989 die Zukunft des DDR-Sports aus dem Kaffeesatz zu le-sen. Oder auch zur Unterschiedlichkeit zweier Wirtschaftsordnun-gen, die notwendig über unterschiedliche Systeme der Verteilung der erwirtschafteten Finanzen und Güter verfügen. Ohne Beach-tung solcher Unterschiede läßt sich das Gesamtsystem des DDR-Sports weder begreifen noch beschreiben.
Ich will meinen Text nicht ausufern lassen. Verfaßt wurde er nicht, um schönzureden, was von TEICHLER schlechgeschrieben wurde. Verfaßt wurde er aus Sorge. Die nicht abebbende Flut von Schrif-ten, in denen die DDR mit allem was in ihr geschah und geschaffen wurde, als Hort böser Instinkte beschrieben wird, bringt statt not-wendiger, Erkenntnis vermittelnder Informationen nur neue Tiefen in den noch weit offenen Graben zwischen Menschen in Ost und West. Mich (ver)stört es, wenn ein Sportwissenschaftler und Päda-goge wie TEICHLER sich in eine Reihe mit dem dreisten Arnulf BARING („Aus den Menschen dort sind weithin deutschsprechende Polen geworden“), Christian PFEIFFER („Nachttopfpfeiffer“) und ande-ren stellt. Er sollte bedenken, daß er heute als Lehrender vor über-wiegend ostdeutschen jungen Menschen steht, den Kindern sozu-sagen der von ihm teils Geschmähten, teils Ignorierten.
Einen Vorteil freilich können aus seinem und REINARTZ Werk sol-che Historiker, Sportfunktionäre und andere Interessierte ziehen, die nach Informationen über die Geschichte des DDR-Sports su-chen, ohne über die finanziellen Mittel zu verfügen, den unerläßlich einzusehenden Akten und einzusammelnden Fakten nachzuspü-
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ren. Sie finden in dem Buch eine recht umfangreiche Dokumentati-on, die zwar auch im Sinne des Herausgebers gefiltert ist, aber doch eine Fülle wichtiger, bisher verborgener Tatsachen und Daten liefert.
Das Leistungssportsystem der DDR in den 80er Jahren und im Prozeß der Wende; Schorndorf 1999
Joachim Fiebelkorn
Der Baumann-BLUFF
Die Empörung über die Vorgänge und das vom DLV-Rechtsausschuß gefällte, beschämende Urteil ist noch nicht abge-klungen, legt der Spotless-Verlag bereits die Schrift „Der Baumann-Bluff“ von Lothar Michaelis vor. Dieser Autor hatte ganz offensicht-lich die tatsächliche Situation vom Anbeginn anders als so man-cher beurteilt, der nun enttäuscht ist, und - wie sich zeigt - adäquat erfaßt. Der Fall Baumann war offensichtlich jenen unterstellt, die diesen Athleten von vornherein freisprechen wollten.
Der „Saubermann“ der deutschen Leichtathletik durfte nach dem Willen von Führungskräften des deutschen Sports und von Sponsoren offensichtlich nicht beschädigt werden. Daß Baumann das alles „mitgeht“ und der - von ihm immer wieder beteuerten - Wahrhaftigkeit offenbar niemals wirklich verpflichtet war, belegt Mi-chaelis beeindruckend in dem Kapitel „Baumann über sich, Krabbe und andere“ (S. 23 ff). Michaelis vermerkt eingangs der entlarven-den Publikation, daß es zwingende Chronistenpflicht sei, diese Af-färe transparent zu machen (S. 5). Er ist dieser Pflicht kompetent, mit Sachkunde und eigentlich mit jeder Argumentation nachge-kommen. Ob Michaelis eine Vielzahl von Zeitungsmeldungen kurz interpretiert, Aussagen von Führungskräften des deutschen Sports wiedergibt oder die stolpernden Schritte der Ermittlungsbehörden nachzeichnet, immer ist man erstaunt über das profunde Wissen, die Fülle der Fakten, Tatsachen und Zusammenhänge. Immer vermittelt er dem Leser ein Kapitel Zeitgeschichte, aufschlußreich und spannend aufgeschrieben. Baumann, seine Gönner und die - anders ist das nicht zu charakterisieren - scheinheiligen Beurteiler im Rechtsausschuß versuchen, diese unumstrittene Weisheit zu an-nullieren und nach Gutdünken zu verfahren. Das legt Michaelis
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schonungslos offen - ohne die Urteilsbegründung abzuwarten. Das war ganz offensichtlich nicht nötig. Die unumstößlichen Sachverhalte sprechen ihre eigene, alles offenbarende Sprache.
Also, Lothar Michaelis, nach dem Tatsachen-Report „Der Fall Krabbe“ (Spotless-Verlag) war das wieder einmal aufschlußreich, überzeugend und mit Spannung zu lesen!
Lothar Michaelis; Der Baumann-Bluff; Spotless-Verlag Berlin 2000, 95
Heinz Schwidtmann
Arbeitersportler Langenberg
im Widerstand
Von EIKE STILLER
Im Jahr 2000 ist es in Deutschland gewiß eine Seltenheit, daß sich Regionalforscher mit der Biographie eines Arbeitersportlers, noch dazu eines kommunistischen, sehr detailliert, quellenkritisch und gründlich auseinandersetzen und in dieser Weise dem Erinnern an die Zeit des Faschismus ein beachtenswertes Buch hinzufügen. Das ist um so bemerkenswerter als Eric HOBSBAWM darauf hin-weist, daß „die Zerstörung der Vergangenheit... jenes sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen frühe-rer Generationen verknüpft... eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomene des späten 20. Jahrhunderts“ ist. (Das Zeitalter der Extreme, 1995, S. 17)
Eike STILLER hat zusammen mit vier ehrenamtlichen Mitarbeitern (Helmut Heinze, Lothar Skorning, Rolf Schwegmann, Andi Wolff) umfangreiche Literatur- und Archivstudien betrieben und reichhalti-ges Tatsachenmaterial zusammengetragen. Alle erreichbaren Zeit-zeugen sind befragt, zu bestimmten Vorgängen sind die verschie-denen Aussagen gegeneinander abgewogen worden, so daß so-wohl amtliche Konstrukte infrage gestellt und korrigiert als auch ungeklärte Vorgänge festgehalten werden konnten.
Den Hauptteil der Arbeit macht die Zeit von 1932 bis zu Langen-bergs Tod 1944 aus. Im Verhältnis dazu ist das Kapitel 1, die Kind-heits- und Jugendphase von Willi Langenberg, knapp gehalten. Den Schwerpunkt bilden die Kapitel 2 bis 6, Langenbergs Weg in die kommunistische Bewegung, der illegale Kampf der KPD in Lip-
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pe, Langenbergs Widerstand in Lippe, die dramatischen Ereignisse um die Gruppe Langenberg 1943/1944.
Langenberg wird 1953 als Verfolgter des NS-Regimes anerkannt, allerdings bleibt er mit seinem Kampf in den folgenden Jahrzehnten deshalb umstritten, weil er, wie Georg Elser mit seinem Attentat auf Hitler, in „militanter“ Weise, mit der Waffe in der Hand und mitunter in der Uniform eines Unteroffiziers der Wehrmacht handelt. Auf die politische Brisanz dieses Zusammenhanges in der deutschen Wi-derstandsgeschichte macht Arno KLÖNNE im Vorwort aufmerksam: „Bis heute dominiert im deutschen historischen Bewußtsein eine Deutung, derzufolge das Recht auf Widerstand gegen den natio-nalsozialistischen Staat nur Angehörigen der ‘Eliten’ zustand, ho-hen Offizieren etwa oder Kirchenfürsten.“ (S. 9)
Der im Jahre 1910 in Lemgo geborene Willi Langenberg hat zu Beginn der 30er Jahre engeren Kontakt zur kommunistischen Be-wegung bekommen. Vermutlich wird er auch von seinem jüngeren Bruder Karl angeregt, der ihm begeistert vom 5. Reichsjugendtag des KJVD Ostern 1930 in Leipzig berichtet. Als Turner und Hand-ballspieler im Arbeitersportverein Fichte Lemgo und Rotsport ist Willi im kommunistischen Milieu eingebunden, findet dort auch sei-ne spätere Verlobte und Mitkämpferin Anneliese Ilert.
Bereits 1932 wird er in eine Schießerei mit einer SS-Gruppe in Lemgo verwickelt, flieht aus der Haft und macht erste Erfahrungen mit der Illegalität, weil nach ihm wegen versuchten Mordes gefahn-det wird. Nach dem Amnestiegesetz vom 21. Dezember 1932 kann er wieder öffentlich am Wahlkampf des Jahres 1933 teilnehmen. Am 1. März 1933, zwei Tage vor der Wahl, wird er mit zahlreichen Lemgoer Kommunisten verhaftet. Nach der unterschriftlichen Erklä-rung, alle kommunistischen und sozialdemokratischen Kontakte aufzugeben, sich aller „hoch- und landesverräterischen Umtriebe zu enthalten“ usw. wird er am 6. Juni entlassen, muß aber am 18. Juli wegen illegalen Waffenmißbrauchs aus einem Prozeß im Feb-ruar 1933 eine Haftstrafe antreten, die bis Oktober 1933 dauert. Nur elf Monate nach seiner Entlassung wird er erneut wegen Vor-bereitung zum Hochverrat verhaftet und kommt erst im März 1939 frei, bleibt unter polizeilicher Aufsicht, muß sich regelmäßig bei der Polizei melden und findet Arbeit als Uniformschneider in einer Lemgoer Firma. Bis 1941 ist er an verschiedenen Aktionen betei-ligt, hört regelmäßig mit Freunden „Feindsender“. Als ihm wegen
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„zersetzender Äußerungen“ am 22. Juni 1941, am Tage des Über-falls auf die Sowjetunion, erneut die Verhaftung droht, taucht er endgültig unter, bleibt bis zu seinem Ende unter höchst komplizier-ten Bedingungen ein Illegaler im eigenen Land, denn er bleibt auf Verpflegung, Lebensmittelkarten, Unterkünfte bei Verwandten und Freunden und vieles andere, kurzum auf die Solidarität des Umfel-des angewiesen. Bei einigen Kommunisten findet er Unterstützung für seine Aktionen. Stiller bemerkt jedoch dazu: „Offensichtlich ließ sich Langenberg keineswegs von den auf politische Untätigkeit ab-zielenden Positionen der meisten alten Kommunisten in Lemgo und Umgebung beeindrucken.“ (S.117) Nachdem es Langenberg im Januar 1944 gemeinsam mit Christian Bausch und Anneliese Ilert gelingt, sich aus einem Waffenlager Pistolen, Maschinenpisto-len und Munition zu beschaffen, spitzt sich die Lage für die Gruppe rasch zu. Zwar kann Langenberg in der Nacht vom 17. zum 18. März mit einer raschen Aktion zusammen mit Christian Bausch seine Verlobte wieder aus dem Gestapo-Gefängnis befreien, nicht aber die neue Welle von Verhaftungen in Lemgo verhindern. Chris-tian Bausch erschießt sich am 22. März bei seiner Verhaftung. Sein Aufenthaltsort war der Polizei von einer Denunziantin gemeldet worden ebenso wie der von Langenberg und Ilert. Beide werden am 27. März in ihrem Quartier von 80 Polizisten, Gendarmen und Gestapobeamten umstellt. Es kommt zu einem Feuergefecht, Lan-genberg kann dennoch verwundet entkommen. Am 31. März wird er im Steinbruch von Sonneborn aufgespürt und erschießt sich mit seiner letzten Patrone. Ergänzend zur Biographie und sehr wichtig für das Verstehen heute sind besonders hervorzuheben: Der Umgang in der Öffentlichkeit mit Willi Langenberg nach seinem Tode, das Straf-register, diverse Kurzbiographien, mehr als 500 Quellenangaben und Anmerkungen, ein Literatur-, ein Quellenverzeichnis, eine Liste der befragten Zeitzeugen, ein Personen- und ein Ortsregister, eine Land-kartenbeilage mit Einzeichnungen, faksimilierte wichtige Zeitdokumen-te. Vermißt wird eigentlich nur eine Information über den Verfasser dieser Biographie und seine bisherige Tätigkeit.
Der Weg Willi Langenbergs, der aus eigener Überzeugung und oh-ne einen ausdrücklichen „Parteiauftrag“ und oft auch fast nur auf sich selbst gestellt den Kampf gegen die faschistische Staatsmacht und für die Freiheit führte, konnte nicht erfolgreich enden. Sein Le-ben bleibt aber dennoch ein konsequent antifaschistisches Bei-
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spiel. Auch die Hoffnung der Autoren bleibt, daß das Buch dazu beiträgt, in Lemgo zur Erinnerung und Würdigung doch noch eine Straße nach Willi Langenberg zu benennen.
(Forum Lemgo, Willi Langenberg, Arbeitersportler im Widerstand Schrif-ten zur Stadtgeschichte Heft 9. Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld 2000, 331 S.)
Hans Simon
Aufschlussreiche Bergsteigerbücher
Zwei in Dresden erschienene Druckschriften können helfen, sach-kundige Antworten auf die in der Überschrift aufgeworfene Frage zu finden.
Die erste: „1989 – 1990 / Die Wende und die Wander- und Bergstei-gerbewegung der DDR / Daten und Dokumente“ - zusammengestellt von Hans PANKOTSCH (Dresden 1999, Eigenverlag, 30 S.). Der Au-tor hat Daten und ihm zur Verfügung stehende Dokumente abge-druckt und, zum Teil erläutert, in folgender Gliederung geordnet: Der DWBO in den Jahren 1988 – 1989 / Das Ende des DWBO / Die Nachfolgeverbände des DWBO / Neue Vereine und Verbände. Im Vorwort betont Hans PANKOTSCH, daß er sich vor allem auf Doku-mente aus seinem Privatbesitz stützt und davon ausgeht, daß die „ausführliche Betrachtung und Wertung dieser Periode... Zukunfts-aufgabe“ ist. Deutlich wird, daß die in den 90er Jahren entstandenen Organisationsstrukturen zumindest im Dresdener Raum weitgehend denen der Zeit vor 1933 entsprechen. Ausgehend von speziellen In-teressen und Traditionen bestehen mehrere Organisationen mit je-weils ähnlicher Zielstellung. So gibt es Gebirgs- und Wandervereine, Wander- und Bergsteigervereine, Bergsteigervereine und Bergstei-gerbünde sowie Naturfreundegruppen - viele ohne Dachverband oder in regionalen Verbänden organisiert, andere dem Deutschen Alpenverein oder der Internationalen Touristenvereinigung „Die Na-turfreunde“ angeschlossen. Die im Deutschen Verband für Wandern, Bergsteigen und Orientierungslauf (DWBO) der DDR nicht problem-los integrierten Orientierungsläufer haben keine organisatorischen Bindungen mehr zu den Wander- und Bergsteigerorganisationen. So wird deutlich, daß der in der DDR bestehende Fachverband für
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Wandern, Bergsteigen und Orientierungslauf strukturell auch auf re-gionaler Ebene keine eigentliche Nachfolgeorganisation hat. In Sportarten, die ein Wettkampfsystem mit Meisterschaften haben, liegen die Dinge sicher etwas anders.
Die zweite Druckschrift wurde 1999 vom Polizeisportverein Elbe Dresden e.V., Abteilung Wandern und Bergsteigen, herausgegeben (Redaktion: Hans PANKOTSCH). Sie umfaßt 84 Seiten und trägt den Titel: „50 Jahre Wandern und Bergsteigen“. Sie enthält im Untertitel die übergeordnete Struktur, in der die aktive Gruppe von Wanderern, Bergsteigern und Orientierungsläufern „angesiedelt“ war: Volkspoli-zei-Sportgemeinschaft Dresden (1949 – 1953) / SG Dynamo Dres-den (1953 – 1966) / SG Dynamo Elbe Dresden (1966 – 1990) / Poli-zeisportverein Elbe Dresden e.V. (1990 – 1999), letzterer ohne die Orientierungsläufer.
Das Inhaltsverzeichnis verweist auf die Kontinuität der Entwicklung dieser Sektion beziehungsweise Abteilung: 50 Jahre - Ein Rückblick / Zum Gedenken unserer Bergtoten / Zeittafel zur Sektionsgeschichte / Sektionsleiter, Abteilungsleiter./ Funktionäre in übergeordneten Lei-tungen / Auszeichnungen / Mitgliederentwicklung / Zur Geschichte des Wilhelm-Dieckmann-Laufes / Unsere Hütte / Vom Anfang der Kinderklettergruppe / Die Entwicklung des Orientierungslaufes in der Sektion / Unser Talweg am Bergfreundeturm / Unser Ziel: Der Mont-blanc / Erster Bergsteiger-Skilanglauf / So wurde die Valbonewand bezwungen / Erinnerungen der Wanderer / Ein schwerer Weg / Pik Kommunismus bezwungen / Aus dem Tagebuch der 1. Dynamo-Winter-Tatra-Tour / Gipfelsieg und Absturz - Impressionen aus der Mongolei / Meine erste Alpenklettertour / Erstbegehungen unserer Mitglieder / Hochgebirgstouren unserer Mitglieder / Tatra-Winterfahrten / Erfolge unserer Orientierungsläufer.
Ein Teil der Beiträge besteht aus Erinnerungsberichten, die zu ihrer Zeit veröffentlicht worden waren. Sie spiegeln Zeitzeugenschaft wi-der.Die Broschüre läßt die sportartbezogene Kontinuität erkennen, die weit verbreitete Basiswirklichkeit im tiefsten Sinne des Wortes war und ist, auch wenn sie sich zum Teil in anderen Formen zeigte und zeigt, beispielsweise darin, daß sich „ehemalige“ Aktive an anderen Orten oder in neu entstandenen Vereinen wiedertreffen. Die Verbindung über die aktive Tätigkeit in den Sportarten gehört zu den Seiten des Sports, die selbst grobe Umbrüche in den zentralen Sportstrukturen
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überlebt. Sie beweist einen „Eigensinn“ des Sports, den man vielleicht sogar als wichtigen Teil einer „Eigengesetzlichkeit“ bezeichnen kann.
Günter Wonneberger
GEDENKEN
Roland Weißig
(1.7.1918 - 12.4.2000)
Auch im Sport politisch zu wirken, mit ihm dem Frieden und der Völkerfreundschaft zu dienen, das wurde ihm vom kommunisti-schen Elternhaus schon früh ans Herz gelegt. Und so wurde er An-fang der dreißiger Jahre - hervorgegangen aus einem Arbeiter-sportverein - Mitglied der „Kampfgemeinschaft für Rote Sportein-heit“. Von da an nahm er ein Leben lang am Kampf gegen den - von Krupp und Co. massiv geförderten und von nicht wenigen „demokratischen“ Parteien und „unpolitischen“ Organisationen wohlwollend geduldeten - Faschismus teil.
Am 12. April dieses Jahres ist Roland Weißig im 82. Lebensjahr nach schwerster Krankheit gestorben.
Ich lernte ihn in den ersten Jahren nach der Befreiung vom Fa-schismus bei einem Treffen in Leipzig kennen. Er war dort Leiter der soeben gegründeten Deutschen Sportschule, aus der später die Deutsche Hochschule für Körperkultur hervorging. Helmut Beh-rendt, der spätere Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, war mit in unserer Runde, auch Erich Riede-berger, später Vizepräsident des Deutschen Turn- und Sportbun-des. In unserem Gespräch ging es unter anderem auch darum, welchen politischen Weg der deutsche Sport nun gehen solle. Drei, vier Sätze, die Roland Weißig sagte, sind mir nahezu im Wortlaut in Erinnerung geblieben. „Die Zukunft des deutschen Sports darf nicht die des Ritter von Halt sein, jenes Reichssportführers der Na-zis, den man in diesen Tagen zum Präsidenten des westdeutschen Olympischen Komitees berufen hat. Und auch nicht die des Herrn
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Carl Diem - ebenfalls in die neue westdeutsche Sportführung beru-fen - der als Sprecher des Reichsbundes die deutsche Sportjugend mit den Worten ‘Der Krieg gehört zum Manne wie die Mutterschaft zur Frau’ ins Verderben wies.“
Wir bekannten uns zu einem bewußt politischen Programm der entstehenden Sportbewegung unseres Landes: gegen Faschismus und Krieg, für Frieden und Völkerverständigung. Wir waren, wenn man so will, für den „verordneten“ Antifaschismus auch im Sport.
Nach mehrjährigem Studium traf ich Roland 1953 in Berlin wieder. Diesmal zu einer langen gemeinsamen Tätigkeit in der Sportorga-nisation unserer Republik. Roland war, wie man heute zu sagen pflegt, zum „Personalchef“ des Sports berufen worden. Damit war er dafür verantwortlich, all diejenigen zu gewinnen und auszuwäh-len, um die Übungsleiter und Trainer, die Organisatoren und Tech-niker, auch die Sportjournalisten, Ärzte und Wissenschaftler aus-zubilden und zu fördern. Neben der Forderung an diese Kader des Sports nach hoher fachlicher Qualifikation auf dem jeweiligen Sachgebiet verlor Roland dabei nie das Thema von Leipzig aus den Augen: die Befähigung der Funktionäre des Sports zur politi-schen Bildung und Aufklärung in den Sportgemeinschaften, zur bewußten Einbeziehung der Sportlerinnen und Sportler in den Kampf für Frieden und Völkerverständigung. Dieser „verordnete“ Antifaschismus im Sport der DDR wurde sichtbar mit den alljährli-chen Bekenntnissen von Millionen Bürgern unseres Landes zur Friedensfahrt, mit den Vorbereitungen Zehntausender auf die be-wußt politisch orientierten Turn- und Sportfeste in Leipzig, mit den Kinder- und Jugendspartakiaden unter Schirmherrschaft politischer Persönlichkeiten, mit den Weltfestspielen der Jugend und Studen-ten in Berlin, mit politischen Bildungsstunden in Tausenden von Sportgemeinschaften, mit dem Bekenntnis zum Antifaschismus zum Beispiel anläßlich der alljährlichen Ehrungen des von den Na-zis ermordeten Werner Seelenbinder.
Nachdem wir uns, beruflich bedingt, seit Ende der siebziger Jahre aus den Augen verloren hatten, traf ich Roland Mitte der neunziger wieder. Unsere Sportorganisationen waren zerschlagen. Der Sport der DDR wurde mit Lügen überschüttet und bösartig verleumdet. Die Krupps und Co. und deren Treuhand hatten den Osten - wie sie selbst sagten - „abgewickelt“. Und in ihrem Gefolge waren akti-ve Neonazis aus München und Hamburg gekommen. Mit viel Geld
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hatten sie - wie jener Verleger Frey aus Bayern - neue faschisti-sche Parteien gegründet. Geduldet von den neuen „demokrati-schen“ Parteien und Organisationen. Und die Nazis aus dem Wes-ten fanden im - von antikommunistischer Hetze überfluteten und von korrupten Treuhändern geschröpften - Osten den gesuchten Nährboden. Vor allem - aber nicht nur, so nach und nach, unter perspektivlosen Jugendlichen.
Roland war erschüttert wie ich. Und er war wütend. Man müsse etwas tun, meinte er, bevor am Ende die neuen Nazis mit den Pa-rolen der alten wieder ganz offen marschieren dürfen.
Mit Gleichgesinnten aus Berlin und Dresden bildete er eine „An-tikapitalistische und antifaschistische Kampfgemeinschaft“. Bis ihn schwere Leiden daran hinderten, ging Roland mit der Gemein-schaft unermüdlich zu antifaschistischen Demonstrationen, warb für deren Ziele mit Informationsständen, sprach in Versammlungen und führte aufklärende Gespräche auch im kleinsten Kreis.
An seinem Grab nahmen wir Abschied mit den Worten: Roland war und ist uns Vorbild. Er hat nicht aufgegeben.
Alfred Heil
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Edelfrid Buggel
(22.5.1928 - 30.4.2000)
Denkt man trauernd über einen Menschen nach, dem man nahe stand und schätzte, der - wie man so sagt - einer von uns war und den der Tod viel zu früh aus unserer Mitte riß, drängen sich plötz-lich viele Fragen auf, die man sich kaum oder nie während des gemeinsamen Weges und der gemeinsamen Arbeit so stellt. Das sind Fragen nach der Lebensleistung aber auch nach den Ursa-chen für wortloses Verstehen, für gegenseitiges Verständnis und gemeinsames schöpferisches Wirken.
Professor Dr. paed. habil. Edelfrid Buggels Lebensleistung ist be-achtlich und hat zurecht eine große Wertschätzung erfahren, vor allem ob seines Beitrages zur Entwicklung der Sportwissenschaft, international wie national, also insgesamt wie auch in der DDR, und seines herausragenden Beitrages zur Entwicklung des Frei-zeit- und Erholungssports - nicht nur in der DDR. Sport für alle - ob
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Freizeit- und Erholungssport oder Leistungs- und Hochleistungs-sport, offen und möglich für jeden, ob sozial unterprivilegiert oder auf irgendeine Art privilegiert - und dessen wissenschaftlich be-gründete Entwicklung entsprechend den konkreten gesellschaftli-chen Rahmenbedingungen, das war sein Lebensmittelpunkt. Ge-meinsam mit Gleichgesinnten und Freunden galt sein Wirken und Streben, jedermann ein freies sportliches Tun im Frieden und in ei-ner sozial gerechten Gesellschaft zu ermöglichen. Diesem, seinem Lebensziel fühlte er sich zutiefst verpflichtet. Und er war überzeugt, daß der Sozialismus eine Gesellschaft sei, die das ermöglichen könnte und würde.
Viele von uns kannten ihn als einen profilierten Sportwissenschaft-ler, als Institutsleiter und als Prorektor für Forschung an der Deut-schen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, als Vizeprä-sident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) und als stell-vertretenden Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung im Staatssekretariat für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR. Es war ein erfolgreiches Wirken, wenngleich er - wie wir alle - sich nicht jedem Widerspruch stellen und nicht jede Lücke schlie-ßen konnte.
Im Prozeß des gemeinsamen Wirkens erlebte ich Edelfrid Buggel als einen Menschen, dessen Vielseitigkeit beeindruckte und der sich in den Kreis seiner Mitstreiter stellte. Es zeichnete ihn aus und war seine Lebensart, einer unter uns - ob Wissenschaftler, Trainer, Techniker oder ehrenamtlicher Helfer - zu sein. Er hatte wohl nichts von denen, die sich besonders ausdrücklich abhoben und die mit dem Amt gegebene objektive Autorität manchmal nicht nur sichtbar machten, sondern deutlich spüren ließen.
Als ich an die DHfK kam, hatte er bereits promoviert, und er mach-te mir und manch anderem Mut, ließ spüren, wenn Du mich brauchst, laß es wissen, mit mir kannst Du rechnen. Ich erlebte ihn als Vorgesetzten auf verschiedenen Ebenen, in einer Hinsicht aber immer gleich. Bei ihm hatte das Übergeordnetsein eine besonders menschliche Seite. Gerade das wird in guter Erinnerung bleiben und unvergeßlich sein. Er war den Menschen verständnisvoll zu-gewandt. An sich selbst hohe Forderungen stellend, hat er es ei-gentlich jedem leicht gemacht, sein Anliegen ins Gespräch zu brin-gen. Wenn wir ehrlich mit uns, unserer Zeit und der Sache, für die wir einstanden, umgehen, müssen wir uns wohl eingestehen, daß
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das nicht immer und bei allen so war. Es gab unberechtigte Un-nachgiebigkeit und Intoleranz. Nicht bei ihm. In einer für mich und meine Familie schweren Zeit hat er bei einem Treffen gesagt: „Ich kenne Dich gut, wenn Du mich brauchst, melde Dich sofort.“ Das war aber nicht nötig. Er half, ohne daß ich mich melden oder gar darum bitten mußte.
Ich erlebte Edelfrid Buggel als jemand, der Raum ließ und gab, er regte an, forderte die Leistung auf seine Art heraus und gewährte stets die nötige Anerkennung im Wissen darum, wie sehr Bestäti-gung die Eigendynamik befördert. Seine Kreativität bestand zu ei-nem guten Teil darin, die Kreativität derjenigen anzuregen, die mit ihm Aufgaben lösten, ohne sich selbst dabei besonders herauszu-stellen. Ganz in diesem Sinne leitete er zum Beispiel die Arbeits-gruppe Wissenschaft, bewältigte die Aufgaben - oft bedrängt von der Dynamik und Brisanz der Anforderungen - als Wissenschaftler unter und mit allen anderen Wissenschaftlern, alle gleichberechtigt und gleichgeschätzt, anerkannt ob ihrer spezifischen individuell oder gemeinsam mit anderen erbrachten Leistungen. Und immer mit beispielgebender moralischer Integrität.
Als die Zeiten sich änderten, stand er offen und ehrlich zu dem, was wir geleistet und zu verantworten hatten, vorbehaltlos mit der notwendigen, für uns schmerzhaften kritischen Sicht auf das Ver-gangene. Er zog sich nicht zurück, er verkroch sich nicht, etwa aus Angst, in den Blick der neuen „Rächer“ zu geraten. Er stand ganz offensichtlich und spürbar zu denen, denen er Aufgaben übertra-gen und mit denen zusammen er diese gelöst hatte.
Wir, die wir mit Edelfrid verbunden waren und ihn so kannten, wie ich hier kurz versucht habe, ihn zu charakterisieren, werden auch unter den veränderten Bedingungen in seinem Sinne wirken und sein Andenken dankbar bewahren, bewahren müssen. Wir werden immer wieder über seine Leistung, seine Art und Weise Leistungen zu befördern und seine moralische Integrität nachzudenken haben, vor allem aber darüber, was wir gemeinsam wollten, was wir ge-meinsam vertreten haben und - wie nun angesichts der globalen Lage und Probleme immer deutlicher offenbar wird - weiter vertre-ten werden müssen.
Heinz Schwidtmann
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Günther Stiehler
(22.7.1925 - 10.6.2000)
Kurz vor Vollendung seines 75. Lebensjahres verstarb in Leipzig nach schwerer Krankheit Prof. Dr. paed. Günther Stiehler. Zahlrei-che Freunde, ehemalige Kollegen und Sportfreunde begleiteten in auf seinem letzten Weg und ehrten einen verdienstvollen und en-gagierten Sportwissenschaftler, der sich seit dem Entstehen der demokratischen Sportbewegung im Osten Deutschlands als aktiver Sportler und Sportfunktionär für die Entwicklung und Leistungsfä-higkeit des Sports in der DDR einsetzte.
Mitglied der Handballmannschaft der SG Eutritzsch Leipzig, die den Ostzonenmeistertitel erringt, Spieler in der Sachsenauswahl, Neulehrer und Mitarbeiter im Deutschen Sportausschuß (DS) sind erste Stationen seiner über 50 Jahre währenden beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeit für den Sport und die Sportwissenschaft.
Zwei Jahre nach der Gründung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig wird Dozent Günther Stiehler zum Rektor berufen und wirkt in diesem Amt bis 1955 verantwortlich am Aufbau der Hochschule mit. Ihm wird 1954 als erstem Rektor die Amtskette mit den Bildnissen von GutsMuths, Jahn, Schärttner und Grube und das Statut der Hochschule überreicht.
Nach seiner wissenschaftlichen Qualifizierung und einer Tätigkeit an der Martin-Luther-Universität in Halle kehrt er 1962 an die DHfK zurück und widmet sich fortan in besonderem Maße der Entwick-lung des Schulsports und der Ausbildung zahlreicher Studentenge-nerationen.
Die Ausbildung von Schulsportlehrern und deren Gestaltung an der DHfK trägt deutlich seine Handschrift. Im 1963 gegründeten Institut für Schulsport entstehen unter seiner Leitung neue Ausbildungsdo-kumente und Lehrkonzeptionen. Die studentische Ausbildung wird intensiviert und eng mit der Schulpraxis verbunden. Das gelingt vor allem durch ein System der Praktika, die das gesamte Studium durchziehen und aufeinander aufbauen, sowie durch die Integrati-on erfahrener Schulsportlehrer in die Ausbildung. Einmalig und un-vergessen ist der von Günther Stiehler initiierte Arbeitskreis der Neuerer des Schulsports, in dem Sportlehrer und Sportwissen-schaftler wirkungsvoll zusammenarbeiteten und die Schulmethodik nachhaltig bereicherten, den er auch selbst viele Jahre leitete.
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Bedeutung über die Deutsche Hochschule für Körperkultur hinaus erlangte das 1966 herausgegebene Hochschullehrbuch und Stan-dardwerk „Methodik des Sportunterrichts“, an dem unter seiner Lei-tung nahezu alle führenden Methodiker des Schulsports der Uni-versitäten und Pädagogischen Hochschulen der DDR mitwirkten.
So wie in den frühen Lebensjahren als aktiver Sportler ist Günther Stiehler in den verschiedensten Funktionen zielstrebig, beharrlich und erfolgreich um die Erfüllung der Aufgaben in Lehre und For-schung bemüht. Als Wissenschaftsbereichsleiter, Sektionsdirektor, Prorektor für Erziehung und Ausbildung, 1. Prorektor und 1972 bis 1978 erneut als Rektor der DHfK widmet er sich besonders der weiteren Vervollkommnung der Studien- und Lehrprogramme so-wie der Ausgestaltung der verschiedenen Studienformen der Hochschule.
Bis zur Versetzung in den Ruhestand 1990 bleibt er seiner alten Liebe, dem Handball, beruflich als Wissenschaftsbereichsleiter Sportspiele an der DHfK und ehrenamtlich als Vizepräsident des Deutschen Handballverbandes der DDR, treu und wirkt in For-schung, Lehre und Praxis engagiert für die Ausarbeitung und Ver-vollkommnung der Theorie und Methodik der Sportspiele. Als Er-gebnis dessen legt er gemeinsam mit Prof. Dr. Irmgard Konzag und Prof. Dr. Hugo Döbler als Leiter eines Autorenkollektivs 1988 das Hochschullehrbuch „Sportspiele“ vor.
Auf das Wirken von Günther Stiehler und seine Leistungen sehe ich mit Respekt zurück. Sie werden ebenso in meiner Erinnerung bleiben und erinnert werden wie seine kulturvolle und heitere Art.
Hans Georg Herrmann
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 12 / 2001
INHALT
DISKUSSION/DOKUMENTATION
5 Der Weg nach Würzburg
Klaus Huhn
11 Sydney und die Deutschen
Helmut Horatschke
28 Der Sport in der DDR (Teil II)
Ulrich Wille
62 Tiefschläge ohne Handschuhe
Joachim Fiebelkorn
VERSUCHE EINER BILANZ
65 Probleme der Einheit im deutschen Sport
Gustav-Adolf Schur
68 Nach zehn Jahren neues Licht in einer alten Sportlandschaft
Volker Kluge
72 DAV - Den Anglerinteressen verpflichtet
Bernd Mikulin/Michael Winkel
80 Ein alarmierendes Kapitel Amateur-Boxsport
Otto Jahnke
83 Erinnerungen eines Skilangläufers
Jan Knapp
87 ZITATE
10 Jahre Wiederbeginn der olympischen Einheit
(Olaf Heukrodt)
„...eklatante Benachteiligung“
(Dietrich Kurz/Maike Tietjens)
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„...in ostdeutschen Sportvereinen“
Jürgen Baur/Sebastian Braun
Das DDR-Erbe als politischer Langzeitkonflikt
(Willi Ph. Knecht)
„Belehrende Hinweise... sind zwecklos“
(Helmut Digel)
REPORT
90 Zehn Jahre Gemeinsamkeit
Erhard Richter
REZENSIONEN
93 Gustav-Adolf Schur: Täve
Heinz Schwidtmann
94 Karsten Schumann: 50 Jahre DHfK
Günther Wonneberger
97 K. Schumann/R. Leubuscher (Hg.): Wortmeldungen
Ulli Pfeiffer
99 Volker Kluge: Das große Lexikon der DDR-Sportler
Margot Budzisch
102 JAHRESTAGE Zum 50. Todestag von G. B. Shaw.
Günther Witt
GEDENKEN
107 Günther Schneider
111 Fritz Marcuse
Kurt Franke
113 Alfred Neumann
Klaus Huhn
114 Heinz Gold
Gerhard Lerch
115 Günter Thieß
Paul Kunath
118 Ernst Schmidt
Klaus Huhn
119 Wolfhard Kupfer
Heinz Ortner
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DIE AUTOREN
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für The-orie der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994.
KLAUS EICHLER, geboren 1939, Chemie-Ingenieur, Vizepräsi-dent des DTSB 1984 bis 1988, Präsident des DTSB 1988 bis 1990.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
KURT FRANKE, Dr. sc. med., geboren 1926, Prof. für Chirur-gie/Traumato-logie an der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR 1977 bis 1990, Chefredakteur der Zeitschrift „Medizin und Sport“ 1961 bis 1980.
HELMUT HORATSCHKE, geboren 1928, Diplomsportlehrer, Vorsit-zender der Sportvereinigung „Motor“ 1954 bis 1957, Abteilungsleiter (Planung und Koordinierung des Leistungssports) im DTSB-Bundesvorstand 1957 bis 1987.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
OTTO JAHNKE, geboren 1924, Redakteur „Deutsches Sport-echo“, 1952 - 1986.
VOLKER KLUGE, geboren 1944, Diplomjournalist, Mitglied des NOK für Deutschland 1990 bis 1993
JAN KNAPP, geboren 1948, Schäfergehilfe, Fachlehrer für Staatsbürgerkunde und Geschichte, Leiter der Thüringer Winter-sportausstellung Oberhof.
PAUL KUNATH, Dr. paed., geboren 1926, Prof. für Sportpsycho-logie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) 1967 bis 1991, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Sportpsy-chologie (FEPSAC) 1983 bis 1991.
GERHARD LERCH, geboren 1930, Journalist, stellv. Chefredak-teur „Deutsches Sportecho“ bis 1969.
BERND MIKULIN, geboren 1942, Diplom-Jurist, Präsident des Deutschen Anglerverbandes e.V. (DAV) seit 1990.
HEINZ ORTNER, geboren 1928, Diplomjournalist, Regisseur beim Deutschen Fernseh-Funk (DFF) 1958 bis 1990.
ULRICH PFEIFFER, Dr. paed., geboren 1935, Diplomjournalist, Chefredakteur der Zeitschrift „Theorie und Praxis des Leistungs-
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sports“ (ab 1990 „Training und Wettkampf“) im Sportverlag Berlin 1977 bis 1991.
ERHARD RICHTER, geboren 1929, Generalsekretär des Deut-schen Ringer-Verbandes (DRV) 1980 bis 1986
GÜNTER SCHNEIDER, 3.7.1924 - 29.11.2000, Generalsekretär des Deutschen Fußballverbandes (DSV) 1968 bis 1976, Präsident des DFV 1976 bis 1982 und 1989 bis 1990, Mitglied des Executiv-komitees der Europäischen Union der Fußballverbände (UEFA) 1978 bis 1991.
HEINZ SCHWIDTMANN, Dr. paed. habil., geboren 1926, Prof. für Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig und am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) 1970 bis 1990.
GUSTAV-ADOLF SCHUR, geboren 1931, Diplomsportlehrer, MdB seit 1998.
ULRICH WILLE, Dr. phil., geboren 1937, Sektorenleiter Allgemei-ner Kinder- und Jugendsport im Bundesvorstand des DTSB bis 1990, Referent in der Deutschen Sportjugend des DSB bis 1997.
MICHAEL WINKEL, geboren 1950, Fischerei-Biologe, Geschäfts-führer des Deutschen Anglerverbandes e.V. (DAV) seit 1990.
GÜNTER WITT, Dr. phil. habil., geboren 1925, Prof. für Kulturtheo-rie und Ästhetik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) 1982 bis 1990.
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972, Präsident des International Committee for History of Sport and Physical Education (ICOSH) 1971 bis 1983, Mitglied der dvs.
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Der Weg nach Würzburg
Von KLAUS HUHN
Was lange nicht restlos belegt war, wurde jetzt publik: Beim Schwimm-Europapokal in Würzburg 1969 war erstmalig, und zwar mit versteckter Billigung der Bundesregierung, die Flagge der DDR offiziell gehißt und die Hymne in der BRD gespielt worden. In jetzt nach der in der BRD üblichen 30jährigen Sperrfrist freigegebenen Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes - umgezogen übrigens aus Bonn ins ehemalige SED-Zentralkomiteegebäude in Berlin - fanden sich interessante Details über die 3215 Tage andau-ernde Operation der Bundesregierung, mit der das Zeigen der DDR-Symbole in der BRD und in allen verbündeten und befreundeten Staaten verhindert werden sollte, was man weitgehend erreichte. Al-lerdings auf Kosten massiver Störungen des internationalen Sports zwischen 1959 und 1969. Deren Inkaufnahme hatte der Bundesmi-nister für innerdeutsche Fragen, Egon Franke, am 15. Oktober 1970 vor Sportjournalisten in Barsinghausen mit den Worten begründet: „Wir sind zwar daran gewöhnt zu hören, daß Sport und Politik un-vereinbar seien und daß der Sport auf jeden Fall von Politik freige-halten werden müsse. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die Wirklichkeit anders aussieht. Dies gilt nicht nur für die DDR... Dies gilt - wenngleich in völlig anderer Weise - auch für die Bundesrepublik. Denn mag hier die Sportorganisation auch unab-hängig und keiner staatlichen Reglementierung unterworfen sein - den Konsequenzen, die sich aus der staatlichen Teilung Deutsch-lands ergeben, kann gerade der Sport nicht ausweichen.“1) Was nichts anderes heißt, als daß sich der BRD-Sport nach den politi-schen Weisungen der Bundesregierung zu richten hatte.
Die erste offizielle DDR-Flaggenhissung in der BRD erhärtet diese These. Man hatte sogar versäumt, rechtzeitig die diplomatischen BRD-Vertretungen von dem Sinneswandel in Kenntnis zu setzen, so daß zur gleichen Stunde, da in Würzburg das DDR-Banner gehißt wurde, im italienischen Bozen der Europapokal der Wasserspringer auf Grund der gewohnten Weisungen, keine DDR-Flagge zu hissen, zum Debakel wurde.
Die durch die Akten offenbarten Fakten: In einem verschlüsselten „schriftbericht“ an das Auswärtige Amt vom 25. August 1969 heißt
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es: „der sieg der ddr-schwimmer in würzburg wurde im ostberliner fernsehen und der ostberliner presse politisch ausgeschlachtet. die erste offizielle hissung der flagge und das spielen der becher-hymne in der bundesrepublik deutschland, das durch den beschluss der bundesregierung vom 22. juli 1969 ermoeglicht wurde, wird heraus-gestellt.“2) Damit mußte dem Auswärtigen Amt klar sein, daß man in Rom über die Ereignisse in Würzburg informiert war. Als den Diplo-maten in Rom klar wurde, daß das zu Ärger führen könnte, war es zu spät. Ein verschlüsseltes Eiltelegramm an die deutsche Botschaft nach Rom erreichte offensichtlich nur noch den Bereitschaftsdienst: „in bestätigung der am 22. august nachmittags dortigem bereit-schaftsdienst - sachbearbeiter willecke - telefonisch durchgegebe-nen information: nach Eingang des bezugs-fs wurde bmi (Bundes-ministerium des Innern. A.d.A.) erneut befasst und gebeten, um gleiche handhabung des protokolls in würzburg und bozen bemüht zu sein. leiter der abteilung sport im bmi erklärte jedoch, die verhin-derung von flaggen und hymnen in würzburg nach dem kabinetts-beschluss vom 22.7.69... es wird anheimgestellt, italienische regie-rung über ungeschränktes zeremoniell in würzburg zu unterrichten.“3)
Wieso das sogar den Bundesminister beschäftigte, offenbart eine „Aufzeichnung“, die am 27.8.1969 zu Papier gebracht wurde: „Der Herr Minister wird am 1.9.1969 Gespräche mit der italienischen Re-gierung in Rom führen. Dabei ist nicht ganz auszuschließen, daß der Herr Minister von italienischer Seite auf die unterschiedliche Hand-habung des Flaggen- und Hymnenzeremoniells... in Bozen und Würzburg angesprochen wird.“ In der Angelegenheit ist folgendes zu bemerken:.. Für die Schwimmveranstaltung in Bozen hatte der zu-ständige italienische Schwimmverband das Zeigen der DDR-Flagge... abgelehnt. Daraufhin hatten die Schwimmverbände aus der DDR, Sowjetunion, Tschechoslowakei und Ungarn ihre vorgese-hene Teilnahme kurzfristig abgesagt.“4)
Handschriftlich war dem Dokument hinzugefügt worden: „Der Herr Minister ist in Rom auf diese Frage nicht angesprochen worden.“5)
Schon vorher wurde allerdings durch ein verschlüsseltes Fern-schreiben aus Rom auf die möglichen Folgen des Verzichts einer In-formation der italienischen Regierung hingewiesen: „es gibt jedoch bereits anzeichen in der sport- und tagespresse, dass sich die kritik kuenftig mehr und mehr gegen die italienische regierung und ihre haltung uns gegenueber richten wird.“6)
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Im Bonner AA sah man sich also mit der Forderung konfrontiert, den sportlichen Feldzug gegen die DDR-Hymne und die Flagge der „neuen“ Ostpolitik schleunigst anzupassen und vor allem die Ver-bündeten nicht länger im Unklaren zu lassen. Kernsatz einer im fol-genden ausführlich wiedergegebenen Mitteilung des Bonner Aus-wärtigen Amtes: „Die seit dem Jahr 1966 von der Bundesregierung eingenommene Haltung... hat zu einem immer weiteren Abbröckeln der Position der Bundesregierung geführt. Den damit verbundenen Nachteilen standen keine entsprechenden Vorteile gegenüber...“7) Diesen Satz kann man selbst bei den unterschiedlichsten Deutungs-versuchen nicht anders als das Eingeständnis einer fatalen politi-schen Niederlage verstehen. Die Mitteilung Genschers vom 4. De-zember ging an das Bundeskanzleramt, die Bundesminister des Auswärtigen, der Justiz, der Finanzen, für Wirtschaft, für Verkehr, für das Post- und Fernmeldewesen, für innerdeutsche Beziehungen und noch einige andere Instanzen. Mit einem Wort: Die politische Kehrt-wende wurde allen kundgetan:
„Betr.: Kabinettsausschuß für innerdeutsche Beziehungen - Sitzung am 9. Dezember 1969, TO-Punkt 2;
hier: Zeigen der Flagge und Verwendung sonstiger Staatssymbole der DDR
Bezug: Sitzung des Bundeskabinetts am 5. November 1969
Anlg.: - 5 -
Anliegend übersende ich meine Vorlage an den Kabinettsausschuß für innerdeutsche Beziehungen vom heutigen Tag nebst Anla-gen...“8)
In diesen Anlagen wird die historische Entwicklung aufgelistet: „Nach einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vom 4. November 1959 ist gegen das Zeigen der DDR-Fahne und des DDR-Emblems im Bundesgebiet als Störung der verfassungsmäßigen und damit der öffentlichen Ordnung mit polizeilichen Mitteln einzuschreiten.“ 9)
Die diesbezügliche Anlage läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß sich dieses Gesetz gegen den Sportverkehr richtete und ihn faktisch unterbrechen mußte.
Weiter in der Vorlage für den Kabinettsausschuß: „In den Jahren 1966 und 1967 wurde zwischen dem Auswärtigen Amt, dem damali-gen Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen und dem Bun-desministerium des Innern vereinbart, den Beschluß vom 4. Novem-ber 1959 dahingehend zu interpretieren, daß das Tragen der ‘übli-
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chem Embleme’ auf der Sportkleidung künftig geduldet werden sol-le. Diese Regelung fand ihren Niederschlag in den ‘Grundsätzen über den Sportverkehr’ (Anlg. 2) ... Das Zeigen der Fahne und das Abspielen der Hymne der DDR sollte jedoch weiterhin nicht zugelas-sen werden.“10)
Aufschlußreich in der erwähnten Anlage ist, daß auch in diesem Fall die Sportorgane der BRD vor gesetzliche Tatsachen gestellt wurden, die den Sport regulierten. An einer Stelle wird sogar versichert, die Bundesregierung „ist hierbei der Mitwirkung des deutschen Sports gewiß“.11) Da weder der Deutsche Sportbund noch das NOK seine Aktenbestände großzügig offenlegt, wird man wohl nicht erfahren, wie diese Gewißheit zustandekam.
Im zweiten Teil des Genscher-Dokuments (B.) folgt jenes bereits zi-tierte Eingeständnis: „Allgemeine Beurteilung: Die seit dem Jahr 1966 von der Bundesregierung eingenommene Haltung... hat zu ei-nem immer weiteren Abbröckeln der Position der Bundesregierung geführt. Den damit verbundenen Nachteilen standen keine entspre-chenden Vorteile gegenüber... Die Aufhebung der Vereinbarung vom 4. November 1959 würde nicht nur die Duldung der DDR-Flagge und der anderen Staatssymbole im Sportverkehr bedeuten. Vielmehr dürften dann die Staatssymbole der DDR auch auf Mes-sen... verwendet werden... Diese Konsequenzen dürften nur vermie-den werden, wenn die Vereinbarung vom 4. November 1959 nicht gänzlich aufgehoben, sondern nur eingeschränkt würde...
Eine generelle Aufhebung der Richtlinien gibt jedoch Anlaß zu einer umfassenden Prüfung der rechtlichen Folgen einer solchen Maß-nahme. Mit der Aufhebung wäre zunächst ausdrücklich ausgespro-chen und klargestellt, daß Bund und Länder in der Verwendung der Staatssymbole an sich übereinstimmend nicht mehr eine Störung der verfassungsmäßigen und damit der öffentlichen Ordnung (im Sinne des Polizeirechts) sehen. Es wäre also künftig davon auszu-gehen, daß für ein polizeiliches Einschreiten gegen das bloße Zeigen der Flagge... keine Rechtsgrundlage gegeben ist... Weiterhin ist aber auch zu prüfen, ob die Staatssymbole der DDR... sogar einen gewis-sen strafrechtlichen oder polizei- und staatsrechtlichen Schutz bean-spruchen dürfen... 3. Die Respektierung der Staatssymbole der DDR müßte folgerichtig auch dazu führen, daß unter bestimmten Umstän-den Polizeibeamte und Angehörige der Bundeswehr in Uniform die üblichen Ehrenbezeigungen erweisen, wie es in einem Einzelfalle,
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nämlich bei der Teilnahme einer Einheit der Bundeswehr bei der Eu-ropameisterschaft der Dressurreiter vom 28.-31.8.1969 in Wolfsburg bereits praktiziert wurde...
IV. Auswirkungen auf das westliche Ausland
Bei einer Aufhebung der Vereinbarung vom 4. November 1959 wä-ren auch die politischen und rechtlichen Auswirkungen auf das Aus-land zu berücksichtigen... Seit einem Beschluß des NATO-Rats vom 11. Juni 1969, gilt in den Mitgliedstaaten der NATO folgende Rege-lung...: ‘Sportveranstalter können sich gelegentlich durch die Regeln des bestimmten internationalen Sportverbandes genötigt sehen, das Zeigen der ostdeutschen Flagge und das Spielen der ostdeutschen Hymne zuzugestehen. In derartigen Fällen wird die betreffende NATO-Regierung sich nach besten Kräften bemühen, die Veranstal-ter davon abzuhalten, solche Regeln zu befolgen...
Unsere NATO-Partner... haben wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß ihre Haltung gegenüber der Präsentation von DDR-Symbolen sich vor allem auf die Bereitschaft zur Solidarität mit uns gründet, und daß sie deswegen über Änderungen in unserer eigenen Haltung rechtzeitig konsultiert werden möchten...“12)
Es wäre wirklich an der Zeit, eine Liste jener internationalen Veran-staltungen zu erstellen, die durch die „Solidarität“ der NATO-Länder zur Politik der BRD gestört wurden oder sogar annulliert werden mußten, weil internationale Sportverbände ihre Regeln dahingehend geändert hatten, daß internationale Meisterschaften nur an Ausrich-ter vergeben werden, die allen an der Teilnahme interessierten Län-dern die Einreise gestatten. In einigen Fällen wurden Weltmeister-schaften annulliert, weil diese Regel nicht eingehalten wurde. Ohne Frage hat diese zehnjährige grobe Einmischung in den internationa-len Sport auch nur realisiert werden können, weil die Sportführung der BRD die Haltung Bonns konsequent - auch international - unter-stützte. Die Frage, ob diese politische Gefolgschaft nicht die Konse-quenz einer Entschuldigung aufwirft, wie sie heutzutage auch für weitaus geringere Störungen der internationalen Ordnung gefordert wird, wird nur dadurch gegenstandslos, weil die betroffenen und ge-schädigten Athleten der DDR heute nicht mehr in einer Organisation vereint sind.
Aufschlußreich in den Konsequenzen der Genscher-Vorlage: „4. Gleichzeitig wird der Bundesminister des Innern mit dem Präsiden-ten des Deutschen Sportbundes Fühlung aufnehmen, um die Aus-
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wirkungen einer generellen Bereinigung der Flaggen- und Hymnen-frage im Bereich des Sports zu erörtern.“13)
Am 1. April 1970 wurden alle diplomatischen Vertretungen der BRD davon in Kenntnis gesetzt: „Das Bundeskabinett hat am 12. März 1970 beschlossen, eine Aufhebung der am 4. November 1959 er-gangenen Richtlinien des Bundes und der Länder für ein einheitli-ches polizeiliches Einschreiten der zuständigen Länderbehörden ge-gen die Präsentation von DDR-Symbolen im Bundesgebiet herbeizu-führen. Der Kabinettsbeschluß ist bisher nicht veröffentlicht worden und soll auch nicht veröffentlicht, sondern lediglich den Ländern und dem Deutschen Sportbund mitgeteilt werden. Wir erwarten nicht mehr, daß ausländische Regierungen der Präsentation der DDR-Symbole entgegentreten... Es wird daher gebeten, a) gegen die Präsentation der DDR-Symbole im Gastland künftig nicht mehr zu intervenieren, b) der Regierung des Gastlandes den Beschluß des Bundesregierung mit der Bitte um vertrauliche Behandlung zur Kenntnis zu bringen....“14) Auffällig: Nicht einmal die Öffentlichkeit sollte darüber informiert werden, daß man das Gesetz über das poli-zeiliche Vorgehen gegen DDR-Symbole außer Kraft gesetzt hatte. Und der DSB sollte auf dem üblichen „Dienstweg“ ins Bild gesetzt werden.
ANMERKUNGEN
1) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 92, Band 855, II a1 an IV 3, 84 - 10
2) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 92, Band 855, IV 5, 10/1 - 86
3) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 92, Band 855, IV 5, 86/10/1, Nr. 388
4) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 92, Band 855, IV, 86/10,1 Sbd 4
5) Ebenda
6) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 92, Band 855, IV 5, 86/10/1 - Sbd 4
7) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 92, Band 855, L 85 - 18750, IV 8 - 117
8) Ebenda
9) Ebenda
10) Ebenda
11) Ebenda
12) Ebenda
13) Ebenda
14) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 92, Band 855, II A 1-82.00/3
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Sydney und die Deutschen
Von HELMUT HORATSCHKE
Sydney und Australien waren perfekte und sympathische Gastgeber der Spiele der 27. Olympiade der Neuzeit. Besonders beeindruckend war - im Gegensatz zu den Kommerzspielen in Atlanta - die hohe sportfachliche Kompetenz der Organisatoren aller Wettkämpfe. Schließlich hatten sie ein auf 300 Disziplinen angewachsenes Pro-gramm (29 mehr als in Atlanta und 63 mehr als in Seoul) zu bewälti-gen und damit einen Umfang, der die Frage aufwirft, wer diese Spie-le in Zukunft noch übernehmen kann. Soll damit etwa auf Dauer ge-sichert werden, daß ohne die großen internationalen Vermarkter im Sportgeschäft nichts mehr geht? Offen bleiben auch die Fragen, wer welchen Profit eingefahren und wer eventuelle Verluste zu tragen hat oder wer Sieger im Untergrundwettkampf zwischen Nike und Adidas war.
Von diesen Olympischen Spielen ging aber auch eine wichtige Botschaft in die Welt: Die Absage an die bisher praktizierte rassis-tische Diskriminierung der australischen Ureinwohner, der Aborigi-nes. Von den Organisatoren der Spiele auf vielfache Weise in Szene gesetzt, vom Publikum mit stürmischen Beifall bedacht, war das ein Bekenntnis im Geiste der ursprünglichen olympischen Ideale, das hoffen läßt.
Trotz fortschreitender Kommerzialisierung werden die olympischen Wettkämpfe überwiegend von Amateuren bestritten, wenn man da-runter Sportler versteht, denen lediglich Verluste an ihrem normalen beruflichen Einkommen ersetzt werden. Das Profilager konzentriert sich auf vermarktungsträchtige Sportarten und dort wiederum auf eine bestimmte Leistungselite. Vom Turnen, Schwimmen, Rudern, Kanusport, Ringen, Fechten, Judo, Hockey oder sogar vom Bahn-radsport kann kein Sportler Reichtum erwarten. Aber auch mit ih-rem Start wird viel Geld verdient. Die Sportler sind daran nur nicht beteiligt. Von den 448 ursprünglich nominierten deutschen Sport-lern werden 36 als Vollprofi ausgewiesen. Bei einer ähnlich großen Gruppe ist der Status unklar. 76 werden als Soldaten geführt.
Das IOC war nach seinem peinlichen Korruptionsskandal gezwun-gen, in Sydney zumindest in Dopingfragen Konsequenz zu de-monstrieren. Allerdings zum Mißfallen von Herrn Prof. Dr. Digel,
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Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV), und wei-terer deutscher Repräsentanten, die in den Fällen Baumann und Leipold eine bittere Niederlage erlitten. In Dopingfragen ist Deutschland ohnehin gespalten, und zwar in üble Missetäter Ost und bedauernswerte Unschuldslämmer West. Auffallend ist nur, daß Personen, die zu den gnadenlosen Verfolgern in Richtung Ost gehören, zugleich auch zu den Reinwäschern in Richtung West zählen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Und auch nach Syd-ney bleibt die Frage, wer wohl im Wettlauf zwischen dem olympi-schen Antidoping-Hasen und den Igeln der Pharmakonzerne im-mer wieder früher am Ziel ist.
Von diesen Olympischen Spielen ging aber auch eine wichtige Botschaft in die Welt: Die Absage an die bisher praktizierte rassis-tische Diskriminierung der australischen Ureinwohner, der Aborigi-nes. Von den Organisatoren der Spiele auf vielfache Weise in Szene gesetzt, vom Publikum mit stürmischen Beifall bedacht, war das ein Bekenntnis im Geiste der ursprünglichen olympischen Ideale, das hoffen läßt.
Bilanz eines Jahrzehnts
Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat ausgereicht, die olympische Idee weitgehend zu Grabe zu tragen und Olympia an eine ungezügelte freie Marktwirtschaft als profitabler Teil des Show-Geschäftes auszuliefern. Maßgeblich von IOC-Präsident Samaranch inspiriert, hat sich das IOC als gewinnabschöpfende Vermarktungsgesellschaft mit Monopolanspruch etabliert. Da ihm keine eigenen Verdienste bei der Heranbildung sportlicher Nach-wuchskräfte und Eliten nachgesagt werden können, das IOC auch an der Organisation der Spiele weitgehend unbeteiligt ist und von allen Risiken, mit denen die Sportler oder die Veranstalter konfron-tiert werden können, nicht berührt wird, hat es eine geradezu idea-le Form kapitalistischer Aneignung und Verwertung fremder Arbeit und Leistung entwickelt. Daß in diesem Garten Eden auch Korrup-tion ihren Nährboden findet, kann nicht verwundern. Da sich das IOC auf das Abschöpfen von Gewinnen spezialisiert, war es nicht zu umgehen, das olympische Geschäft für kapitalstarke Unter-nehmen zu öffnen. Die interessante Frage bleibt, wann aus diesen Partnern Konkurrenten des IOC werden, die den ungeteilten Ge-
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winn für sich beanspruchen. Dann könnte das IOC zum Opfer der geschäftstüchtigen Geister werden, die es selbst gerufen hat.
Die Vermarktung des Sports hinterläßt - wie Sydney zeigte - deutli-che Spuren:
- Zwischen gewinnträchtigen und geschäftlich kaum oder völlig un-interessanten Sportarten tut sich, besonders in den reichen Län-dern, eine zunehmend größere Kluft auf. So ist zum Beispiel das Geräteturnen der USA, Japans und Deutschlands in die Bedeu-tungslosigkeit abgestürzt. Neuseeland, das 1996 noch zwei Gold-medaillen im Schwimmen erringen konnte, ist unter den ersten sechs der unterschiedlichen Schwimmdisziplinen nicht mehr zu finden. Großbritannien erreicht nur noch 5. und 6. Plätze im Schwimmen. Ähnlich sind die deutschen Ergebnisse im Sport-schießen und im Ringen. Sogar unter den verschiedenen leichtath-letischen Disziplinen ist eine weitere Differenzierung zu beobach-ten.
- Die kontinentale Verteilung der Medaillen in Sydney folgt nach wie vor der jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Sie zeigt folgende Entwicklung (Angaben in Prozent):
ERDTEIL
1988
1992
1996
2000
Europa
67,0
55,0
53,1
51,0
Asien
10,6
15,7
15,2
20,8
Nordamerika
14,5
15,6
14,6
11,5
Australien/Ozeanien
3,6
5,1
6,3
6,9
Lateinamerika
2,4
5,6
6,7
6,5
Afrika
1,9
3,0
4,1
3,3
Der prozentuale Anteil Europas und Nordamerikas ist deutlich rückläufig. Asien hat vor allem durch China seinen Anteil in zwölf Jahren nahezu verdoppelt und inzwischen Nordamerika weit über-flügelt. Die Kontinente der südlichen Halbkugel unserer Erde ver-harren mit insgesamt 16,7 Prozent auf dem niedrigen Niveau, wo-bei Positionsgewinnen Australiens, Kubas und Äthiopiens in der Länderwertung Verluste anderer Länder aus dieser Region gegen-überstehen.
- Deutsche Sportfunktionäre behaupten u.a., daß rückläufige Er-gebnisse in der Länderwertung normal sind, da immer mehr Län-der erfolgreich in den Kampf um die olympischen Medaillen ein-greifen. Solch eine Behauptung rechnet mit denen, die nicht rech-
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nen und die tatsächlichen Entwicklungen überprüfen. Abzüglich der Länder, die 1992 noch unter GUS, CSR und Jugoslawien starte-ten, können nach acht Jahren nur Sportler aus weiteren fünf Län-dern Medaillen gewinnen, obwohl in der gleichen Zeit insgesamt 43 Disziplinen in das Programm der Spiele aufgenommen wurden und infolgedessen weitere 129 Medaillen zu gewinnen waren. (Die Re-duzierung um vier Disziplinen beim Ringen ist dabei berücksich-tigt.)
- Auf der Gewinnerseite stehen im Vergleich zu 1996 Rußland, Australien, Großbritannien, China, Niederlande, Rumänien, Äthio-pien und Kuba. Auf der Verliererseite befinden sich Spanien, Deutschland, Kanada und die USA. Angesichts dessen ist zu fra-gen, ob es ein Zufall ist, daß auf der Verliererseite solche Länder stehen, die als Bahnbrecher der Auslieferung des Sports an die unberechenbaren Kräfte des freien Marktes gelten? Oder daß sich in diesen Ländern der Staat zunehmend aus der Verantwortung für eine Förderung sportlicher Talente zurückgezogen hat und das Feld mehr und mehr privaten Geldgebern und Spekulanten über-läßt?
Und man könnte fragen, ob es ein Zufall ist, daß sich auf der Ge-winnerseite solche Länder befinden, die offenbar nicht so dumm waren, effektive Sportstrukturen zu zerstören, und die sich zum Teil sogar am Modell des DDR-Sports und seiner staatlichen För-derung orientierten?
- Einen überraschenden Erfolg haben die Länder der einstigen UdSSR zu verzeichnen, die 1992 als GUS starteten. Trotz der ge-sellschaftlichen Umwälzungen, enormer wirtschaftlicher Probleme und einem hohen Verlust von Spitzenathleten an den Profisport der westlichen Länder haben sie ihr Medaillenkonto von 112 in Barcelona bereits in Atlanta auf 121 und nun in Sydney auf 152 erhöhen können. Das wäre - würde man sie gemeinsam in der Länderwertung führen - eine überlegene Spitzenposition vor den USA, deren Athleten insgesamt 97 Medaillen gewannen.
Auch Rumäniens Athleten konnten sich weiter steigern. Sie erran-gen insgesamt 26 Medaillen - acht mehr als in Atlanta - und davon 11 Goldmedaillen (in Atlanta lediglich vier).
Das läßt den Schluß zu, daß bewährte Strukturen sportlicher Ta-lenteförderung durchaus nicht zwangsläufig Opfer gesellschaftli-
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cher Umwälzungen werden müssen, wie man das zum Beispiel in prominenten deutschen Sportdilettantenkreisen behauptet.
- Die gnadenlose Gewinnstrategie der Vermarkter treibt Sportler in den Zwiespalt zwischen immer dichteren kräftezehrenden Wett-kampfserien und einer planvollen Vorbereitung auf einen Wett-kampfhöhepunkt, wie die Olympischen Spiele. Daß infolgedessen viele Rechnungen nicht aufgehen, zeigen die ärztlichen Bulletins, mit denen in schöner Regelmäßigkeit Sportreporter den Start deut-scher Athleten kommentieren. In hochprofessionalisierten Sportar-ten gelten Olympische Spiele ohnehin nur noch als Möglichkeit, um den „persönlichen Marktwert“ zu erhöhen.
Zusammenfassend kann man sagen, daß hier ein System auf den Prüfstand steht, das durch seine bedingungslose Privatisierungs-politik gesellschaftlicher Lebensbereiche, wie der Kultur, der Bil-dung und des Gesundheitswesens, verhängnisvolle Spuren hinter-läßt. Ein System, das Geldfixiertheit und Gewinnsucht zur allein herrschenden Ideologie und Praxis auch im Sport machen will. So-gar der heilige Vater in Rom hat warnend seine Stimme erhoben!
Zur deutschen Olympiabilanz
Sachlich ist festzustellen, daß die Gesamtleistung der deutschen Mannschaft eine anhaltende Talfahrt des deutschen Sports doku-mentiert, die ihre Ursachen nicht allein im Hochleistungsbereich hat. Gemessen an der Zahl und der Qualität der olympischen Me-daillen hat Deutschland in Sydney gegenüber Barcelona 36 Pro-zent seiner ehemaligen Leistungsstärke verloren. Im Vergleich zum DDR-Ergebnis von Seoul beträgt der Verlust sogar 49 Pro-zent. Zugleich ist eine Proportionsverschiebung in Richtung Bron-zemedaillen eingetreten. Und die Zahl der 4. bis 6. Plätze hat we-niger zugenommen als sich die Zahl der Medaillengewinne verrin-gerte. (Tab. 1) Das verweist nachdrücklich auf einen realen Verlust der bisherigen Leistungssubstanz, ohne zu berücksichtigen, daß seit 1992 insgesamt 43 neue Disziplinen in das Programm aufge-nommen wurden und damit 129 weitere Möglichkeiten bestehen, eine Medaille zu gewinnen. Der absolute Leistungsverlust wird folglich durch einen relativen noch vertieft.
In der Weltrangliste der verschiedenen Sportarten lag Deutschland 1988 noch in fünf Sportarten - im Kanu-Rennsport, Rudern und
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Schwimmen durch die DDR und im Reiten und Fechten durch die BRD - auf dem ersten Platz.
1992 belegte Deutschland Rang eins in den Sportarten Kanu-Rennsport, Rudern, Reiten, Radsport und Hockey, 1996 nur noch im Kanu-Rennsport und im Reiten und im Jahr 2000 in keiner Sportart mehr. (Tab. 2) In Sydney rangiert Deutschland lediglich im Kanu-Rennsport, im Rudern, Radsport und im Reiten noch auf Rang zwei. (Tab. 3)
Gravierend ist der Niedergang in traditionellen Sportarten im Welt-vergleich seit 1992:
Hockey
vom 1. auf den 7. Rang
Fechten
vom 2. auf den 7. Rang
Leichtathletik
vom 3. auf den 8. Rang
Gewichtheben
vom 3. auf den 11. Rang
Boxen
vom 2. auf den 14. Rang
Schwimmen
vom 5. auf den 14. Rang
Turnen
vom 7. auf den 18. Rang
Ringen
vom 8. auf den 23. Rang
Sportschießen
vom 3. auf den 27. Rang.
Eine leichte Verbesserung ist demgegenüber nur im Segeln, Vol-leyball, Frauen-Fußball und in der Sportgymnastik zu verzeichnen. (Tab. 3)
Kanu-Rennsport, Rudern und Radsport gewinnen ihr Leistungspo-tential fast vollständig aus einer Reihe lokaler Inseln, in denen die DDR-Leistungstradition weiter wirken konnte und vor allem erfolg-reiche Trainer aber auch Funktionäre dem Sport erhalten blieben. Allerdings hört man von dort, daß ihre frühere Nachwuchsbasis nicht mehr existiert und mit den letzten Talenten aus dem DDR-Förderprogramm ausgeschöpft ist. In den alten Bundesländern hat der Reitsport eine eigene Leistungstradition entwickelt und ist da-mit angesichts des Leistungsniederganges anderer Sportarten of-fensichtlich gut beraten.
Am Beispiel des DDR-Sports läßt sich nachweisen, daß ein effizi-entes System der Förderung sportlicher Talente über die daraus hervorgegangenen Sportlerinnen und Sportler noch 8 bis 10 Jahre
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nachwirken kann. Folgt man einigen prominenten Interpreten, wäre das Ende dieser Nachwirkung die Ursache für die enttäuschende Bilanz von Sydney. Tatsache ist aber, daß in Sydney 75 Prozent der Gold-, 54,4 Prozent der Silber- und 59 Prozent der Bronzeme-daillen auf das Konto einstiger DDR-Athletinnen und -athleten und meist ihrer DDR-Trainer gehen, insgesamt also 61 Prozent aller durch die deutsche Mannschaft errungenen Medaillen.
Deutsche Olympiamedaillen, die von Athleten gewonnen wurden, die aus der DDR-Talenteförderung hervorgegangen sind (in Pro-zent)
JAHR
GOLD
SILBER
BRONZE
GESAMT
1992
61
57
69
63
1996
65
55
35
50
2000
75
54,4
59
61,4
Mit diesem Ergebnis würden die Sportlerinnen und Sportler, die einst für die DDR starteten, noch Rang 11 in der Länderwertung einnehmen. Für die Sportler aus den alten Bundesländern bliebe Rang 21 hinter Äthiopien!
An dem Gewinn der Medaillen in Sydney waren 105 Sportlerinnen und Sportler beteiligt, 52 aus der einstigen DDR und 53 aus den al-ten Bundesländern. 31 dieser Medaillengewinner sind bereits 30 Jahre und älter, 28 weitere werden im Jahr 2004, zum Zeitpunkt der nächsten olympischen Sommerspiele, 30 bis 34 Jahre alt sein. Das sind mehr als 50 Prozent der Medaillengewinner von Sydney.
Unter den deutschen Medaillengewinnern von Sydney fällt zudem eine Gruppe von Athleten auf, die man „Wiederholungstäter“ nen-nen könnte, denen 34 Prozent der Erfolge zu verdanken sind. Von ihnen standen 28 auch in Atlanta, 16 in Barcelona, 6 in Seoul, Bir-git Fischer bereits in Moskau (1980) und Jochen Schümann schon in Montreal (1976) auf dem Siegerpodest. Insgesamt haben diese „Wiederholungstäter“ 50 Gold- und 52 weitere Medaillen für Deutschland gesammelt. Unter ihnen befinden sich 23 einstige DDR-Sportler, die mit 9 Gold- und 18 weiteren Medaillen aus Syd-ney zurückkehrten und bereits 28 Gold- und 20 weitere Medaillen vor Sydney in ihrem Besitz hatten, und 8 Athleten aus den alten
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Bundesländern, die in Sydney 3 Gold- und 6 weitere Medaillen ge-wannen und bei vorangegangenen olympischen Spielen bereits 10 Gold und 8 weitere Medaillen erringen konnten. Das Problem: Die-ser stabile Kern deutscher Olympiamannschaften seit 1992 hatte in Sydney ein Durchschnittsalter von 30,8 Jahren erreicht. (Tab. 4)
Zweckoptimisten in den Führungsetagen des deutschen Sports lenken die Aufmerksamkeit auf die große Zahl der vierten bis sechsten Plätze, die angeblich das Potential für zukünftige Medail-len darstellen und entsprechende Hoffnungen begründen. In der Tat liegt Deutschland mit 71 Plazierungen in diesem Bereich, an denen 128 Olympiastarter beteiligt sind, an der Spitze aller Län-der. Wie realistisch sind also diese Hoffnungen? Ein Blick auf die Statistik der vorangegangenen Spiele läßt erkennen: Von den Plätzen 4 bis 6 in Barcelona haben sich nur 6 Olympiateilnehmer so steigern können, daß sie in Atlanta einen 3. Rang oder - wie Jan Hempel im Wasserspringen - einen 2. Rang in Atlanta und zu-sätzlich einen 3. in Sydney belegen konnten. Von den viert- bis sechstplazierten Sportlern von Atlanta gelangten lediglich die bei-den Ruderinnen Manuela Lutze und Jana Thieme auf das Sieger-podest von Sydney und gewannen Goldmedaillen. Die Analyse zeigt also, daß diese Plazierungen in der Regel die Endstation deutscher Leistungsentwicklung sowohl für die Aufsteiger als auch für die Absteiger aus dem Medaillenbereich sind. Außerdem be-weisen viele der erfolgreichsten Athletinnen und Athleten der Welt, daß bei solidem Leistungsaufbau vom Grundlagentraining im Ju-gendalter bis zum Hochleistungstraining und der Befähigung zu Höchstleistungen ein direkter Weg zu olympischen Medaillen und zu mehrfacher Wiederholung solch einer Leistung durchaus nor-mal ist. Ein vierjähriges Zwischenparken auf den Plätzen 4 bis 6 hingegen ist seltener. Insofern gibt es auch wenig Anlaß für Hoff-nungen auf zukünftige Medaillengewinne.
Wenn in Deutschland der Hang zum Schönreden und -rechnen stärker ist als der zu kritischer Analyse, sollte doch zumindest die Tatsache aufschrecken, daß 19 Millionen Australier den 80 Millio-nen Deutschen zeigten, was sie im Sport - zumindest in den olym-pischen Sommersportarten - wert sind. Ulrich Feldhoff, vermutlich einer der nicht sehr zahlreichen Fachleute in der Führungsspitze des deutschen Sports, sieht die Sache kritisch, wenn er feststellt, daß Gesamtdeutschland wieder dort angekommen ist, wo die alte
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BRD 1988 in Seoul stand. Dem wäre allerdings hinzuzufügen, daß die alten Bundesländer jetzt - im Jahr 2000 - nur noch mit 39 Pro-zent beteiligt waren. Wie NOK-Chef Walter Tröger angesichts die-ses Bankrotts auf Raten zu der Auffassung kommt, „unser System ist weitgehend stimmig“, bleibt sein Geheimnis. Die Analytiker des DSB, Lothar Spitz und Rolf Ebeling (Leistungssport 1/2001), fühlen sich dieser Vorgabe offensichtlich verpflichtet, wenn sie eine Kritik am Gesamtsystem zurückweisen, Vergleiche mit der Talentförde-rung der DDR für unzulässig erklären und die Verantwortung für unbefriedigende Resultate den Sportverbänden zuweisen möch-ten. Diese haben ja dann durchaus die Möglichkeit, die Verantwor-tung an die Trainer und Sportler weiterzureichen. Trotz alle dem, das goldene Zeitalter des deutschen Sports ging bereits in Barcelona zu Ende. In Sydney herrschte sozusagen „Bronzezeit“. Droht jetzt - mangels Lernfähigkeit - der Rückfall in die „Steinzeit“? Wie meist in Krisensituationen muß man auch hier die Frage stel-len, ob man Leistungssport zur nationalen Repräsentation braucht. Aus rein repräsentativen Gründen sicher nicht unbedingt. Aber sportliche Leistungen werden auch in Zukunft gewissermaßen ein offenes Fenster für die Weltöffentlichkeit sein, das Einblick ge-währt, wie sich ein Land gegenüber den Talenten des Volkes ver-hält, und zwar aus allen sozialen Schichten auch aus der soge-nannten Unterschicht.
Ist das DDR-Erbe aufgebraucht?
So behaupten es jedenfalls Herr Thomas Bach und andere Promi-nente des deutschen Sports. Wurde dieses Erbe überhaupt als solches wahrgenommen, gewertet und angetreten? Prüfen wir das und den Umgang mit der Hinterlassenschaft des DDR-Sports:
- Die landesweite Talentsichtung an den Schulen wurde eingestellt, 1650 regionale Trainingszentren als erste Stufe der Förderung durch ein zum optimalen Zeitpunkt qualifiziertes Grundlagentrai-ning - das später durch nichts zu ersetzen ist - von wenigen Aus-nahmen abgesehen, aufgelöst, ihre 1960 vollbeschäftigten Trainer entlassen und ca. 9000 Übungsleiter ihrem Schicksal überlassen. 68000 junge Talente verloren ihre geregelte Förderung. Zugleich wurde das Grundlagentraining - vermutlich oft wider besseres Wis-sen - als Kinderleistungssport verteufelt.
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- Die Kinder- und Jugendspartakiaden, Ansporn und Bewährungs-probe für alle jungen Talente, sind - bis auf begrenzte regionale Ausnahmen - abgeschafft.
- Die Kinder- und Jugendsportschulen, von ihrer Talentebasis ab-geschnitten, haben ihr sportliches Niveau weitgehend eingebüßt. Die betreuenden Trainer in den Sportclubs wurden überwiegend nicht weiter beschäftigt. Die Sportclubs haben jetzt Vereinsstatus.
- Mindestens 3500 gut ausgebildete Trainer - ca. 60 Prozent waren Hochschulabsolventen - verloren ihre Arbeit. Das gleiche Schicksal erlitt der überwiegende Teil der Sportwissenschaftler, auch die jüngste Generation von promovierten und habilitierten Nach-wuchswissenschaftlern.
- Viele der erfolgreichen DDR-Sportler haben selbst ein Studium als Diplomsportlehrer absolviert. Sie sind vielfach heute - so wie ih-re einstigen Trainer - zum größten Teil weit unter ihrer wissen-schaftlichen Qualifikation in artfremden Berufen tätig. Das heißt, das Leistungspotential einer ganzen Generation erstklassiger Fachleute wurde regelrecht preisgegeben.
- Die international renommierte Deutsche Hochschule für Körper-kultur (DHfK) in Leipzig wurde abgewickelt und vor allem mit ihr das gesamte interdisziplinäre Forschungspotential.
- Der Sportmedizinische Dienst der DDR (SMD) wurde aufgelöst. Eine Facharztausbildung für Sportmedizin gibt es im größeren Deutschland - obwohl dringend nötig - nicht mehr.
Mithin, das DDR-Erbe eines leistungsfähigen Systems zur Förde-rung der sportlichen Talente des Volkes wurde nicht einmal hin-sichtlich seiner Möglichkeiten überprüft, geschweige denn in sei-nen leistungsbestimmenden Teilen übernommen, sondern ver-schleudert und seit zehn Jahren mit nahezu allen Mitteln diskredi-tiert. Dafür setzte man auf die althergebrachten Strukturen und Möglichkeiten, wie man nun sehen kann, auf das wenig effektive „Westniveau“ u.a. mit seiner althergebrachten Vereinsmeierei, die vielfach für eine regionale und überregionale Zusammenarbeit zur Förderung sportlicher Talente viel zu wenig Spielraum bietet.
Übernommen wurden lediglich die besten Sportler und ein kleiner Teil ihrer Trainer, Teile des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport in Leipzig, die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sport-geräte in Berlin, das vom IOC anerkannte Dopingkontroll-Labor in Kreischa sowie alle zugehörigen Immobilien. Das ganze gegenüber
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dem DDR-Sport praktizierte Verfahren würde man wohl in den Füh-rungsetagen von Finanz- und Industrieimperien eine „feindliche Übernahme“ nennen. Andere Länder, die sich mit Erfolg am DDR-Sportmodell orientieren, wie Australien, die vielen der in Deutschland verschmähten Trainer oder Sportwissenschaftler eine Tätigkeit er-möglichten, verfolgen das Geschehen zumindest mit staunendem Kopfschütteln.
Zu Ursachen des sportlichen Niederganges
Grundlegendes Problem ist offensichtlich eine in Deutschland be-sonders ausgeprägte Auffassung, Sport nicht als gesamtgesell-schaftliches Anliegen zu begreifen, sondern als persönliche und/oder Privatangelegenheit zu betrachten und demzufolge seine Förderung auch weitgehend in den Bereich des Privaten bis hin zum privaten Sponsorentum zu verweisen. Unter dem Vorwand der föderalen Struktur und Verantwortung ziehen sich der Staat aber auch die Länder - insgesamt gesehen - auf immer geringer wer-dende finanzielle Zuwendungen zurück. Ein gesellschaftliches An-liegen, wie eine landesweite Auswahl und Förderung sportlicher Talente, wäre unter solchen Bedingungen nur soweit realisierbar, wie sie den privaten Interessen und Möglichkeiten entsprechen, vor allem aber auch den geschäftlichen Sonderinteressen privater Geldgeber. Die Risiken einer - rechtzeitig beginnenden - acht- bis zehnjährigen Förderung vieler Talente, damit ein Teil von ihnen dort ankommt, wo sie der deutsche Sport gerne sehen möchte, werden damit privatisiert und den jungen Athleten mit ihren Fami-lien aufgebürdet bzw. die Förderung den Unwägbarkeiten des freien Marktes und seiner Orientierung auf profitable Sportarten und Leistungsträger ausgesetzt. Unter solchen Bedingungen muß sich niemand wundern, daß die Bereitschaft weiter abnimmt, ein Grundlagen- und Aufbautraining zu absolvieren und dafür alle Kos-ten und Risiken nahezu allein der eigenen Familie aufzubürden. Ganz davon abgesehen, daß es heute in den neuen Bundeslän-dern schon vielen schwer fällt oder unmöglich ist, die Kosten für eine Eliteschule zu bezahlen. Und damit allein ist es ja gemeinhin nicht getan. Wenn auch das Wohl des Profisports mir nicht am Herzen liegt, sei doch angemerkt, daß sich auch hier die Annahme als Fehlspekulation erwiesen hat, die Zugkraft des Geldes würde
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schließlich selbsttätig für ausreichenden Nachwuchs im hochbe-zahlten Profisport sorgen. Wie sollen dann aber die Sportarten ih-ren Nachwuchs heranbilden und letztlich überleben, die gewisser-maßen einen Bettlerstatus inne haben. Daraus folgt, daß der An-satz gegenwärtiger deutscher Sportpolitik hinsichtlich der Förde-rung junger Talente grundsätzlich in seiner Komplexität infrage zu stellen ist, einschließlich, um nur einige zu nennen,
- der Rolle und Verantwortung des Staates,
- der ganz generellen Unterschätzung der Bewegung und des mo-torischen Lernens im Elementarbereich und im Kindergarten,
- eines beklagenswerten Niveaus des deutschen Schulsports,
- des Fehlens einer landesweiten Sichtung und Auswahl sportlicher Talente auf sportwissenschaftlich gesicherten Grundlagen,
- der unzureichenden Vorbereitung erkannter Talente auf den Be-such einer sportorientierten Schule und des Mangels an solchen Schulen in den alten Bundesländern,
- eines vierstufigen finanziellen Fördersystems für die einzelnen Sportarten, das anstatt eines Vorschusses an Vertrauen und Geld auf rückwirkende Bestrafung wegen ausbleibender Erfolge setzt,
- einer unzureichenden Anzahl von Trainern, die zudem nicht im-mer ausreichend qualifiziert sind, und der Mängel einer verbindli-chen periodischen Weiterbildung auf dem erforderlichen wissen-schaftlichen Niveau,
- des Fehlens einer Ausbildung zum Facharzt für Sportmedizin und einer kostenlosen sportmedizinischen Begleitung aller Förderstu-fen beginnend mit dem regelmäßigen Grundlagentraining,
- einer ungenügenden Organisation und Verbindlichkeit der Vorbe-reitung von Auswahlmannschaften auf sportliche Höhepunkte oder
- der unzureichenden sportfachlichen, das heißt sportwissenschaft-lich fundierten, Kompetenz vieler Leitungsgremien und ihrer Mit-glieder.
Nach Sydney kann man die Frage stellen, wer die deutschen Olympiastarter in ihrer Vorbereitung und vor Ort maßgeblich führt? Ist es noch die Sportorganisation? Wenn NOK-Präsident Walter Tröger ernsthafte Konsequenzen unter Hinweis auf die „unteilbare Freiheit“ umgehen möchte, sollte er die Athleten fragen, ob sie bei den olympischen Spielen ihre „unteilbare Freiheit“ ausleben oder unter den besten der Welt sein wollen. Erforderlich ist aber auch,
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die Athleten stets über das tatsächlich erreichte Leistungsniveau zu informieren und keinerlei Illusionen zuzulassen.
Welche Konsequenzen sind anzuraten?
Unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ist ein Ver-such, das System der Förderung sportlicher Talente der DDR im Detail zu übernehmen oder nachzuvollziehen, nicht erfolgverspre-chend. Dabei ist noch in Rechnung zu stellen, daß die DDR ihr Fördersystem konsequent vervollkommnete und weiter perfektio-nierte. Der Stand von 1988 wäre also keineswegs der vom Jahr 2000 gewesen. Notwendig ist aber ein modernes, wissenschaftlich begründetes Konzept der Talentauswahl und -förderung, in dem durchaus Denkanstöße aus dem bewährten Fördersystem der DDR verarbeitet werden könnten, sofern man sich dazu durchringen kann, die Totalverteufelung des DDR-Sports endlich zu den Akten des Kal-ten Krieges von einst zu legen. Neben einem modernen Konzept bedarf dessen Durchsetzung der wissenschaftlichen - interdisziplinär angelegten - Begleitung, und natürlich auch mindestens zehn Jahre Geduld, bis es seine Wirkung im Nachwuchsleistungssport und im Spitzenbereich entfalten kann.
Spätestens in diesem Zusammenhang wird in Deutschland die Fi-nanzierungsfrage gestellt und - so unsere Erfahrungen - wenn man etwas politisch nicht will, das jeweilige Konzept für unbezahlbar er-klärt. Für den deutschen Leistungssport insgesamt (ohne neue Fußballstadien) 0,06 Prozent des Bundeshaushalts auszugeben, ist sicher keine Glanzleistung, wenngleich man das stets glauben machen will. Frau Breuel hat immerhin mehr als das Zehnfache dieser Summe - mehr oder weniger - in den niedersächsischen Sand gesetzt. Und für das politisch Gewollte war und ist immer ge-nug Geld da, auch für weniger friedliche Zwecke als für den Sport. In den deutschen Sport sollen nach Schätzungen trotz des be-scheidenen Bundesanteils jährlich ca. 11 Milliarden DM von Län-dern, Kreisen, Kommunen und anderen Geldgebern einfließen. Ei-ne bedeutende Summe, von der man zumindest einen Teil - deutschlandweit koordiniert - in die Förderung sportlicher Talente investieren könnte. Die föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland erfordern, ein hohes Niveau an regionaler und über-regionaler Koordination, wenn man auf ein gemeinsames Ziel hin-
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arbeiten will. Diese Koordination müßte auch die Sportverbände einbeziehen und darf sich nicht allein auf Finanzierungsfragen be-schränken. Hier wird ein grundlegendes Defizit des deutschen Nachwuchs- und Hochleistungssports sichtbar, das zwingend die Schlußfolgerung herausfordert, die Organisation der Förderung sportlicher Talente auf ein qualitativ neues, zeitgemäßes Niveau zu heben.
Wer allerdings meint, schlimmer als in Sydney könnte es für den deutschen Sport ohnehin nicht mehr kommen, könnte sich irren. Wer nicht nur vorgibt, einen grundlegenden Wandel in der Förde-rung der sportlichen Talente zu fordern, muß das System gründlich ändern.
Tabelle 1:
Die deutsche Olympiabilanz 1988 bis 2000. Position in der Welt-rangliste und Anzahl der Medaillen bzw. der Ränge 4 bis 6
JAHR
RANG
1
2
3
4
5
6
1988
DDR
2
37
35
30
15
14
10
1988
BRD
5
11
14
15
12
14
19
1992
Deutschl.
3
33
20
28
19
14
19
1996
Deutschl.
3
20
18
27
25
23
19
2000
Deutschl.
5
13
17
26
22
25
23
Tabelle 2 :
Die führenden Länder in den olympischen Sportarten (ohne Fußball)
USA
Leichtathletik, Schwimmen, Tennis, Basketball, Volleyball, Baseball, Softball
Rußland
Turnen, Sportgymnastik, Trampolin, Synchron-Schwimmen, Ringen, Handball
China
Wasserspringen, Schießen, Gewichtheben, Tisch-tennis, Badminton
Frankr.
Radsport, Kanu-Slalom
Großbr.
Segeln, Moderner Fünfkampf
Australien
Hockey, Wasserball
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25
Niederl.
Hockey, Reiten
Ungarn
Kanu-Rennsport, Wasserball
Kuba
Boxen
Japan
Judo
Italien
Fechten
Rumänien
Rudern
Schweiz
Triathlon
Slowakei
Kanu-Slalom
Dänem.
Handball
Tabelle 3:
Die deutsche Position in der Weltrangliste der Sportarten 1992, 1996, 2000) und die Plazierungen (Rang 1 bis 6) in Sydney
SPORTART
1992
1996
2000
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Leichtathletik
3.
3.
8.
2
1
2
3
5
5
Turnen
7.
6.
18.
0
0
0
0
0
1
Sportgymnastik
-
-
5.
0
0
0
1
0
0
Trampolin
-
0
0
0
0
0
0
Schwimmen
5.
11.
14.
0
0
3
4
2
4
Wasserspringen
4.
3.
7.
0
0
2
0
0
0
Synchron-Schw.
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Wasserball
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Radsport
1.
7.
2.
3
4
3
3
2
3
Rudern
1.
2.
2.
2
1
3
2
0
1
Kanu-Rennsport
1.
1.
2.
3
1
3
1
2
0
Kanu-Slalom
3.
3.
4.
1
0
0
0
1
2
Segeln
13.
5.
8.
0
2
1
0
2
0
Boxen
2.
10.
14.
0
0
1
0
0
Ringen
8.
14.
23.
0
0
0
1
1
0
Fechten
2.
8.
7.
0
2
3
0
1
2
Judo
15.
7.
15.
0
0
1
2
0
Taekwando
7.
0
1
0
0
0
1
Gewichtheben
3.
7.
11.
0
2
0
0
0
1
Schießen
3.
3.
27.
0
0
0
2
3
2
ZITATE
26
Bogenschießen
-
5.
6.
0
0
1
0
0
0
Tennis
2.
6.
5.
0
1
0
0
0
0
Tischtennis
3.
4.
8.
0
0
0
0
2 *
Badminton
-
-
-
0
0
0
0
0
0
Triathlon
4.
0
1
0
0
0
0
Reiten
1.
1.
2.
2
1
1
5
0
0
Mod. Fünfkampf
-
-
-
0
0
0
0
0
0
Basketball
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Fußball
-
8.
5.
0
0
1
0
0
0
Handball
6.
11.
9.
0
0
0
0
1
0
Hockey
1.
5.
7.
0
0
0
0
1
0
Volleyball
-
-
8.
0
0
1
0
0
1
Baseball
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Softball
-
-
-
-
-
-
-
-
* 5. - 8. Rang
Tabelle 4:
Athleten, die wiederholt Olympia-Medaillen errangen
Aus dem DDR-Sport:
2000
1996
1992
1988
Drechsler, Heike (35*)
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
0 - 1 - 1
Riedel, Lars (33)
0 - 1 - 0
1 - 0 - 0
Kumbernuß, Astrid (30)
0 - 0 - 1
1 - 0 - 0
v. Almsick, Franz. (22)
0 - 0 - 1
0 - 2 - 1
0 - 2 - 2
Kielgaß, Kerstin (30)
0 - 0 - 1
0 - 1 - 0
0 - 0 - 1
Hempel, Jan (29)
0 - 0 - 1
0 - 1 - 0
Lehmann, Jens (32)
1 - 1 - 0
1 - 1 - 0
Fulst, Guido (30)
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Fiedler, Jens (30)
0 - 0 - 2
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Boron, Kathrin (30)
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Rutschow, Karin (25)
0 - 0 - 1
1 - 0 - 0
Willms, Andre (28)
0 - 0 - 1
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Hajek, Andreas (32)
0 - 0 - 1
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Fischer, Birgit (38)
2 - 0 - 0
1 - 1 - 0
1 - 1 - 0
2 - 1 - 0
ZITATE
27
Schuck, Anett (30)
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Mucke, Manuela (25)
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Dittmer, Andreas (28)
1 - 0 - 1
1 - 0 - 0
Schäfer, Jan (26)
0 - 1 - 0
1 - 0 - 0
Zabel, Mark (27)
0 - 1 - 0
1 - 0 - 0
Huster, Marc (30)
0 - 1 - 0
0 - 1 - 0
Weller, Ronny (31)
0 - 1 - 0
0 - 1 - 0
1 - 0 - 0
0 - 0 - 1
Schümann, Jochen (46)
0 - 1 - 0
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Pfohl, Cornelia (29)
0 - 0 - 1
0 - 1 - 0
Aus dem BRD-Sport:
Werth, Isabell (31)
1 - 1 - 0
2 - 0 - 0
1 - 1 - 0
Beerbaum, Ludger (37)
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Nieberg, Lars (37)
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Bau, Sabine (31)
0 - 0 - 1
0 - 0 - 1
0 - 1 - 0
1 - 1 - 0
Weber, Monika (34)
0 - 0 - 1
0 - 0 - 1
0 - 1 - 0
Buschschulte, Antje (21)
0 - 0 - 1
0 - 0 - 1
Volkert, Stephan (29)
0 - 0 - 1
1 - 0 - 0
1 - 0 - 0
Mensing, Barbara (40)
0 - 0 - 1
0 - 1 - 0
* Lebensalter in Jahren
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Der Sport in der DDR (Teil II)
Von ULRICH WILLE
Der folgende Beitrag war von einem linken Berliner Verlag beim Autor für eine geplante Enzyklopädie über die DDR bestellt wor-den. Sie übertraf in der Länge den vertraglich vereinbarten Um-fang. Ungeachtet dessen gibt die Fülle der Fakten über den DDR-Sport einen imponierenden Einblick in die Realität. Der Verlag be-auftragte jedoch einen auf dem Gebiet der Geschichte des Sports unbewanderten Historiker, eine Neufassung zu schreiben, aus der man zum Beispiel erfuhr, daß einem führenden Sportfunktionär ein Darlehen gewährt worden war, das er 1989 zurückzahlen mußte. Die radikal veränderte Fassung wurde jedoch vom Autor nicht ak-zeptiert. Die Redaktion der „Beiträge zur Sportgeschichte“ ent-schloß sich, die von mehreren Gutachtern gewürdigte Arbeit mit geringfügigen Kürzungen in zwei Folgen zu publizieren.
Die Bezirks- und Kreisfachausschüsse hatten die Verantwortung für die allseitige und kontinuierliche Entwicklung der jeweiligen Sportart im Territorium. Entsprechend dem Territorial-Zweig-Prinzip ergab sich für beide Leitungsorgane eine doppelte Unter-stellung: Linear war ein BFA dem Bezirksvorstand und ein KFA dem Kreisvorstand unterstellt und funktionell ein BFA dem Präsidi-um des jeweiligen Sportverbandes und ein KFA dem zuständigen Bezirksfachausschuß.
Die höchsten Organe waren
 auf Bezirksebene die Bezirksdelegiertenkonferenz, die alle 6 Jahre einberufen wurde,
 auf Kreisebene die Kreisdelegiertenkonferenz, die alle 3 Jahre zusammentrat.
Sie berieten und beschlossen die Entwicklung ihrer Sportart im Territorium und wählten den Bezirks- bzw. Kreisfachausschuß. In Abhängigkeit von der Spezifik der Sportart und ihrer Verbreitung im Territorium wurden der BFA in einer Stärke von 15 bis 20 und der KFA von 10 - 15 Mitgliedern gewählt.
Allgemeine Zusammensetzung der BFA bzw. KFA:
 Vorsitzender,
 Stellvertretender Vorsitzender,
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 Funktionär für Wettkampforganisation,
 Funktionär für Kampfrichterwesen,
 Funktionär für Kinder- und Jugendsport,
 Funktionär für Freizeit- und Erholungssport,
 Funktionär für Kultur und Bildung,
 Funktionär für Aus- und Weiterbildung,
 Funktionär für Ehrungen und Auszeichnungen,
 Funktionär für Finanzen.
Als Aufgaben der BFA bzw. KFA galten:
- Systematische Verbreiterung der Sportart im Bezirk bzw. Kreis;
- breite Entwicklung des Kinder- und Jugendsports und der Sparta-kiadebewegung;
- Einflußnahme auf das Erfüllen der Bedingungen der Sportklassi-fizierung;
- Maßnahmen zur Verwirklichung des Sportabzeichenprogramms;
- Führung und Erweiterung der Wettkampfsysteme;
- Maßnahmen zur Nachwuchsförderung;
- Qualifizierung von Übungsleitern, Kampf- und Schiedsrichtern sowie Funktionären;
- Bestätigung bzw. Beantragung von Ehrungen und Auszeichnun-gen;
- Mitwirken bei der Bedarfsermittlung von Sportgeräten und -materialien;
- richtiger Einsatz und sparsames Verwenden der finanziellen Mit-tel sowie Steigerung der Eigeneinnahmen.
Die BFA und KFA bildeten zur Realisierung ihrer Aufgaben Kom-missionen, die sich analog den Präsidiumskommissionen des Sportverbandes zusammensetzten.
3.3. Die Hauptbereiche des Sporttreibens im DTSB
3.3.1. Der Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb (ÜTW)
Der Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb verkörperte als Be-reich die regelmäßige sportliche Bestätigung in den Sektionen der Sportgemeinschaften des DTSB, die auf die Bewährung bei Wett-kämpfen in den verschiedenen Sportarten gerichtet war und die ef-fektive Ausbildung der für individuelle und kollektive Wettkampf-leistungen in den Sportarten erforderlichen konditionellen und ko-ordinativ-motorischen Fähigkeiten, sportlichen Fertigkeiten, Kennt-nisse, Einstellungen und Verhaltensweisen zum Ziel hatte. Der
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ÜTW wurde als Einheit von sportlicher Ausbildung und Erziehung gestaltet. Als Bestandteil der Freizeitbetätigung und zugleich Aus-druck einer sinnvollen Freizeitnutzung förderte er eine gesunde Lebensweise, steigerte die Erholungsfunktion der Freizeit und schuf vielfältige persönliche und kollektive Erlebnisse. Da das Sporttreiben auch selbst eine gesellschaftliche Tätigkeit und ein-gebettet in die gesamtgesellschaftlichen Beziehungen war, ent-standen vielfältige Verknüpfungen des Sports zu anderen Formen des Lebensvollzuges, wie Arbeit, Lernen, gesellschaftlich-politische und geistig-kulturelle Betätigungen. Der Wert des Sporttreibens für die Persönlichkeitsentwicklung kam vor allem dadurch zur Geltung, daß der Sporttreibende Qualitäten und Eigenschaften im Sport und durch den Sport, über unmittelbare und direkt im produktiven Le-ben geforderte Eigenschaften und Funktionen hinaus, ausbilden, erproben, anwenden, erweitern und vervollkommnen konnte. Die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, Behinderte und Nichtbe-hinderte erwarben in der sportlichen Betätigung Einstellungen, Verhaltensweisen und Eigenschaften, die nicht nur das Leben rei-cher machten, sondern jeden auch allseitiger vorbereitete für das Lösen seiner Aufgaben und das Bewältigen der Anforderungen seines persönlichen Lebens. Der Übungs-, Trainings- und Wett-kampfbetrieb war insgesamt dazu geeignet, auf die verschiedenste Art und Weise zur körperlichen Vervollkommnung beizutragen.
Die Gestaltung des Übungs- und Trainingsbetriebes
Das sportliche Üben und Trainieren verstand sich als vom Übungs-leiter oder Trainer bewußt geführter, planmäßiger und organisierter Prozeß der Persönlichkeitsformung der Sportler und somit als eine Spezialform eines pädagogischen Prozesses. Im engeren Sinne beinhalteten Üben und Trainieren die physische und psychische Belastung des Sportlers mittels Körperübungen. Die sportliche Ausbildung bezweckte, Wissen und Können zu entwickeln und stellte in ihrer Gesamtheit das erzielte Leistungsvermögen dar. Sie war untrennbar mit der Anerziehung von Denken und Handeln ver-bunden. Diese Seite des pädagogischen Prozesses bezeichnete man im engeren Sinne als Erziehung, die ein Verbessern der Leis-tungsbereitschaft zum Ziel hatte. Beide, Leistungsvermögen und Leistungsbereitschaft, garantierten die Leistungsfähigkeit.
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Hauptaufgaben des sportlichen Übungs- und Trainingsbetriebes waren:
 Politisch-ideologische und moralische Vorbereitung
Es galt, für das Vollbringen der sportlichen Leistung notwendige Leistungsbereitschaft zu entwickeln, die charakterisiert wurde durch
 sozialistische Überzeugungen und Einstellungen (z.B. Liebe zur Heimat, Einstellung zur Körperkultur und Sport im Sozialismus);
 moralische Qualitäten (sie bestimmten die Arbeit und Weise des Verhaltens, z.B. Schöpfertum und Selbständigkeit bei der Erfüllung der Trainings- und Wettkampfanforderungen);
 psychische Trainings- und Wettkampfeigenschaften (notwendige Eigenschaften für das Erreichen der sportartspezifischen Leistun-gen unter Wettkampfbedingungen, z.B. Selbstvertrauen, Risikobe-reitschaft, Konzentrationsfähigkeit).
 Konditionelle Vorbereitung
Durch die hohen Anforderungen an den Organismus mußte ein konditionelles Vermögen herausgebildet werden, das sich auf die Schwerpunkte Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer konzentrierte.
 Koordinativ-sporttechnische Vorbereitung
Das sichere Beherrschen der sportlichen Technik war eine wesent-liche Voraussetzung für ein hohes Leistungsergebnis der Sportler. Erst durch die rationelle Technik sah sich der Sportler in der Lage, alle anderen Faktoren der Leistung, insbesondere aber die konditi-onellen Eigenschaften voll zur Wirkung zu bringen.
 Sporttaktische Vorbereitung
Die sportliche Taktik spielte innerhalb der Sportarten bei der Wett-kampfführung eine unterschiedliche Rolle. Eine besondere Bedeu-tung hatte sie z.B. in den Sportspielen, in den Kampfsportarten, in den Ausdauersportarten bzw. -disziplinen. Das taktische Verhalten sicherte den optimalen Einsatz der eigenen physischen und psy-chischen Leistungsvoraussetzungen unter Berücksichtigung der Leistungseigenarten der sportlichen Gegner und der Gesamtsitua-tion des Wettkampfes.
 Intellektuelle Vorbereitung
Es galt, die Aufmerksamkeit auf solche geistigen Fähigkeiten wie Wahrnehmungs- und Beobachtungsfähigkeit, Kombinationsfähig-keit, Schnelligkeit der Denkprozesse zu richten, die eine wesentli-che Grundlage für das Aufnehmen, Verarbeiten und Anwenden
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von Informationen darstellten. Das war unabdingbar, damit sich die Leistungen zunehmend erhöhen und zugleich auch die Anforde-rungen an die intellektuellen Fähigkeiten der Athleten steigen konnten. Wer mehr beobachtete, rascher kombinierte, Situationen besser überschaute, Informationen schneller verarbeitete und zweckmäßigere Entscheidungen traf als seine Gegner, hatte grö-ßere Aussicht auf den Sieg.
Trainingsplanung
Die Grundorientierung für die Leitung, Planung und Gestaltung des Übens und Trainierens bildete eine Trainingskonzeption. Darauf aufbauend wurden Rahmentrainingspläne (RTP) erstellt, die prin-zipielle Aufgaben enthielten und sich auf Höhepunkte des Jahres ausrichteten. Unterscheidbar waren:
 Gruppentrainingspläne (ein vom RTP abgeleiteter Plan für Sport-lergruppen);
 Individuelle Trainingspläne / ITP (ein Plan für einzelne Sportler).
Der Übungsleiter
Die 250.000 im DTSB tätigen Übungsleiter waren wichtige Organi-satoren und Propagandisten bei der Entwicklung der Körperkultur und des Sports. Als ehrenamtlich wirkende Sportpädagogen leite-ten sie das Üben und Trainieren in den Übungs- und Trainings-gruppen der Sektionen, in Allgemeinen Sportgruppen, in Schul-sportgemeinschaften sowie im Nachwuchsleistungssport und or-ganisierten die Teilnahme der Sportler an Wettkämpfen. Die Übungsleiter nahmen ebenso wie andere Erziehungsträger Einfluß auf die Erziehung der Sporttreibenden. Ihre Tätigkeit verlangte ho-he Einsatzbereitschaft und das Streben nach ständigem Vervoll-kommnen der für die Übungsleitertätigkeit erforderlichen Einstel-lungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie mußten in der Lage sein, ihrem Qualifikationsstand entsprechend, mit zunehmendem Niveau den Übungs-, Trainings- und Wettkampfprozeß im Rahmen ihres Wirkungsbereiches nach wissenschaftlichen Prinzipien und unter dem Aspekt der Einheit von Bildung und Erziehung zu gestalten. Grundlage ihres Wirkens bildete die Übungsleiterordnung.
Die beiden Formen der Übungsleiter-Qualifizierung waren:
- Die Ausbildung, die mittels Lehrstunden bzw. Lehrgängen (Stufe I - 25 Stunden) und (Stufen II und III jeweils 40 Stunden) erfolgte, wurde mit dem Erwerb der Stufe III abgeschlossen. Nach erfolgrei-
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cher Qualifikation zur Stufe I erhielt der Übungsleiter den Übungs-leiterausweis. Zur Stufe I erfolgte die Ausbildung in Zuständigkeit der Kreis-, Stadt- bzw. Stadtbezirksvorstände, zu den Stufen II und III lag sie bei den Bezirksvorständen; jeweils durchgeführt von ih-ren Lehrkollektiven und in Zusammenarbeit mit den Fachaus-schüssen. Die Ausbildung der Stufe IV oblag den Bezirksvorstän-den, wobei die Sportverbände einbezogen wurden. Auch hier be-trug der Stundenumfang 40 Stunden.
- Die Weiterbildung aller Übungsleiter war ständiges Prinzip und erfolgte möglichst jährlich. Dazu wurden die vielfältigsten Formen in Verbindung mit der praktischen Tätigkeit genutzt. Bewährte Me-thoden waren u.a. Anleitungen, Erfahrungsaustausche, Selbststu-dium und Hospitationen. Die Weiterbildung fand in verschiedenen Schulungsformen statt und betrug etwa 8 Stunden jährlich.
Die tätigen Übungsleiter konnten gemäß einer Finanzierungsricht-linie entschädigt werden und erhielten monatlich in Abhängigkeit ihrer Qualifikation folgende Beträge:
30,- M Übungsleiter ohne Ausbildung,
40,- M Übungsleiter Stufe I,
50,- M Übungsleiter Stufe II,
60,- M Übungsleiter Stufe III.
Übungsleiter der Stufe IV, die in Trainingszentren wirkten, erhielten 7,00 M pro Trainingseinheit.
Der Trainer
Trainer waren hauptamtlich tätige Lehrkader, die in der Regel ein Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK), ei-ner Pädagogischen Hochschule oder Universität mit Fachrichtung Körpererziehung absolviert hatten. Anerkannt wurden auch das Fernstudium an einer Hochschule, das Fachschulstudium oder an-dere gleichwertige Studienabschlüsse. Als Tätigkeitsbereiche für die Trainer kamen in Frage: Trainingszentren oder Sport- und Fußballclubs bzw. Sportgemeinschaften, als Bezirkstrainer oder Verbandstrainer. Ihre Entlohnung erfolgte gemäß dem Trainerre-gulativ.
Die Wettkampfgestaltung
Der Wettkampf ist ein sportlicher Leistungsvergleich zwischen Per-sonen oder Mannschaften, welcher sich bei psycho-physischer
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Anspannung auf der Grundlage von Regeln und Normen unter Lei-tung von Kampfrichtern vollzieht, und für den Elemente der Freude und des Eiferns nach Leistungen kennzeichnend sind. Sportliche, erzieherische, kulturelle und politische Funktionen charakterisierten ihn. Ein Wettkampfsystem ist die gesamte Zusammenstellung und die Koordinierung aller Wettkämpfe in einer Sportart unter Be-rücksichtigung notwendiger Regelungen zum Abwickeln der sport-lichen Vergleiche .
Zum Wettkampfsystem gehörten als wesentliche Bestandteile:
 Wettkampfarten
 Wettkampfweisen
 Wettkampfformen
 Wettkampfgattungen
 Wettkampfmodi
Wettkampfarten
Ausgehend von dem Charakter ihrer Zielstellung waren folgende Arten von Wettkämpfen zu unterscheiden:
 Meisterschaften (einschließlich Bestenermittlungen)
 Kinder- und Jugendspartakiaden
 Pokalwettkämpfe
 Verbandspokale
 Pokale von FDJ und Pionierorganisation sowie FDGB
 sonstige Pokalwettkämpfe
 Freundschaftswettkämpfe
 Volkssportliche Wettkämpfe
 weitere Wettkampfarten erfüllten spezifische Aufgaben beson-ders im Leistungssport
 Trainings-, Übungs- oder Ausbildungswettkämpfe,
 Aufbau-, Entwicklungs-, Vorbereitungs- oder Stabilisierungs-wettkämpfe,
 Vielseitigkeitswettkämpfe,
 Kontroll-, Prüfungs-, Test- oder Überprüfungswettkämpfe,
 Qualifizierungs- oder Ausscheidungswettkämpfe,
 Hauptwettkämpfe,
 Sichtungswettkämpfe,
 Traditionswettkämpfe,
 Fernwettkämpfe,
 Klassifizierungswettkämpfe.
Meisterschaften
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Sie dienten dem Ermitteln eines Meisters des jeweiligen Territori-ums und wurden in den einzelnen Sportarten bzw. Disziplinen so-wie in den entsprechenden Altersklassen verbandsspezifisch auf den Ebenen Sektion, Kreis, Bezirk und DDR durchgeführt. Bes-tenermittlungen dienten vor allem zur Ermittlung des (der) Besten bei Wettkämpfen im Rahmen einer Schule, eines Betriebes bzw. einer Einrichtung oder eines Ortes; für bestimmte Alters- und Leis-tungsklassen fanden sie auch in einigen Verbänden Anwendung.
Kinder- und Jugendspartakiaden
Die Spartakiaden, veranstaltet als Komplex von Spartakiadewett-kämpfen in den Sportarten, stellten eine Wettkampfart dar, die seit 1965 speziell für Kinder und Jugendliche veranstaltet wurde. Sie waren staatsrechtlich im Jugendgesetz verankert. An den Sparta-kiadewettkämpfen konnten sich alle Mädchen und Jungen, unab-hängig von einer Mitgliedschaft im DTSB oder einer SSG beteili-gen und gelangten als Vorwettkämpfe, Kreis-, Bezirks- und als Kinder- und Jugendspartakiade der DDR (auf Bezirks- und zentra-ler Ebene alle zwei Jahre im Wechsel) zur Austragung. Zu den Vorwettkämpfen zählten Wettkämpfe in den Sektionen der SG und SSG, in den Schulen (Schulspartakiaden) und in Bereichen. Bei den Bereichsspartakiaden erfolgte eine Aufteilung des Kreisterrito-riums, wobei mehrere Schulen einen Bereich bildeten. Dabei stell-ten die Kreisstädte - auch größere Städte mit mehreren Schulen - einen selbständigen Bereich (Ortsspartakiade) dar. Die Berufs-schulen, oftmals mit der Erweiterten Oberschule (EOS), wurden in einem eigenen Bereich (Kreissportfest der Lehrlinge) zusammen-gefaßt. In einigen Sportarten kamen zur Qualifikation auf die Be-zirks- sowie die DDR-Spartakiaden gesonderte Kreis- bzw. Be-zirksgruppenwettkämpfe zur Austragung.
Pokal-Wettkämpfe
Sie waren eine Wettkampfart, bei der Pokale als Siegerpreis ver-geben und im allgemeinen von führenden Persönlichkeiten des öf-fentlichen Lebens, staatlichen Organen und gesellschaftlichen Or-ganisationen gestiftet wurden. Entsprechend der Ausschreibung ging der Pokal nach ein- oder mehrmaligem Gewinn in den Besitz des Siegers über.
 Verbandspokal-Wettkämpfe
Das waren Wettkämpfe um die von Sportverbänden gestifteten Pokale für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
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 Pokal-Wettkämpfe der FDJ und der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“
Das waren Wettkämpfe für Kinder und Jugendliche, unterteilt nach massensportlichem Charakter (15 Sportarten) und mit Leistungs-sportcharakter (6 Sportarten).
 Pokal-Wettkämpfe des FDGB
Bei diesen Wettkämpfen erfolgte generell eine Mannschaftswer-tung. Sie gelangten einerseits mit massensportlichem Charakter und andererseits für DTSB-Mitglieder - hier von der Kreis-, über die Bezirks- bis zur zentralen Ebene - zur Austragung.
 Sonstige Pokalwettkämpfe
 Wettkampf um die Urkunde des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR
(für Schüler und Lehrlinge)
 Fernwettkampf „Stärkster Lehrling - sportlichstes Mädchen ge-sucht“
 Weiterhin existierte eine Vielzahl von örtlich zur Austragung ge-langenden Pokal-Wettkämpfen (in Betrieben, Einrichtungen, Ge-nossenschaften, Gemeinden, Städten und Kreisen).
Freundschaftswettkämpfe
Neben dem Leistungsvergleich standen soziale Kontakte, sportpo-litische Zielstellungen und geselliges Begegnungen im Vorder-grund. Unterscheidbar waren Einladungs- und offene Wettkämpfe.
Volkssportliche Wettkämpfe
Diese Wettkampfart gehört zum Bereich des Freizeit- und Erho-lungssports. Sie war in ihrer Durchführung sehr mannigfaltig und nicht unbedingt an eine Sportart gebunden, konnte individuell oder auch in Gruppen betrieben werden, unabhängig von Alter, Ge-schlecht und Leistung der selbsttätig oder organisiert Sporttreiben-den.
Wettkampfweisen
Ausgehend vom zeitlichen Aspekt wurden die Wettkampfarten all-gemein nach folgender Weise ausgetragen:
- Turnierwettkämpfe (Einmalige Sportveranstaltungen, die in sich eine abgeschlossene Einheit bildeten und zeitlich eng begrenzt wa-ren, z.B.: Pokalturnier im Volleyball einer BSG);
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- Saisonwettkämpfe (Mehrere zusammengehörende Sportveran-staltungen, die sich in der Regel über einen längeren Zeitabschnitt im Jahr erstreckten, z.B.: Kreismeisterschaften im Fußball ).
Wettkampfformen
Bei der Austragung von Saisonwettkämpfen wurden folgende For-men unterschieden:
- Stufenwettkämpfe (Verlauf durch alle Austragungsebenen - Von „unten“ nach „oben“, z.B. “Cross der Jugend“, von der Schul- über Kreis-, Bezirks- zur DDR-Ebene);
- Rundenwettkämpfe (Austragung auf einer Ebene, z.B.: Bezirksli-ga im Handball).
Wettkampfgattungen Die Unterscheidung erfolgte in zwei Gattungen:
- Einzelwettkämpfe (Bewertung der individuellen Leistung eines Sportlers)
- Mannschaftswettkämpfe (Bewertung der Leistung eines Sportkol-lektivs)
Wettkampfmodi
- Platzsystem (Je nach Festlegung in der Ausschreibung qualifi-zierten sich die Besten für den nächsten Vergleich, z.B. Vor-, Zwi-schen- und Endlauf in der Leichtathletik)
- KO-System (Auslosen der Partner und Ausscheiden der jeweili-gen Verlierer; Einfach- und Doppel-KO möglich, z.B. Tischtennis
- Punktsystem (Austragung nach dem Prinzip „Jeder gegen Je-den“)
- Rangsystem (Ermittlung der Plätze 1 bis n in einem Wettkampf, z.B. Ski-Langlauf)
Eine Kombination der verschiedenen Modi war möglich.
Organisatorische Grundlage für das Durchführen von Wettkämp-fen bildeten Wettkampfkalender. Sie gewährleisteten die Koordi-nierung, langfristige Planung und planmäßiges Gestalten des Ü-bens und Trainierens. Das zeitliche Einordnen der Wettkämpfe konnte sportübergreifend, spezifisch nach Sportarten oder nach Wettkampfarten erfolgen. Als verbindliches Orientierungsdokument
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wurde eine Ausschreibung mit den für die Teilnehmer wichtigen Aussagen herausgegeben. Seit 1977 hatte für die Kinder- und Ju-gendaltersklassen eine einheitliche Altersklassenbezeichnung Gül-tigkeit. Die generelle leitungsmäßige Verantwortung für die fachli-che Organisation der Wettkämpfe lag bei den Sportverbänden (Sektion, KFA, BFA und Präsidium) mit den Funktionären bzw. Kommissionen für das Wettkampfwesen. Die Kardinalstellung nahmen die 155.000 Kampfrichter (mit verschiedenen Kategorien) ein. Bei größeren Wettkampfveranstaltungen bestanden für ihr Vorbereiten und Durchführen Organisationsbüros. Im Zusam-menhang mit den Kinder- und Jugendspartakiaden spielten die ört-lichen, kreislichen, bezirklichen und zentralen Spartakiadekomi-tees als koordinierende Gremien eine wichtige Rolle, die auf Basis von Führungsplänen die Spartakiadebewegung förderten.
Die Bedingungen für den Übungs-, Trainings- und Wettkampfbe-trieb
Das Vorhandensein von entsprechenden Bedingungen ermöglichte erst die Durchführung des Sports. Dazu zählten die Sportstätten und Sportmaterialien. Die Gesetzgebung ermöglichte eine kosten-lose Nutzung aller Sportstätten durch die Aktiven der Sportorgani-sation. Ihre Vergabe erfolgte durch Vergabekommissionen, die den örtlichen Volksvertretungen nachgeordnet waren. Nutzungsverträ-ge dazu regelten die konkreten Einzelfragen. Obwohl im Laufe der Jahre viele Sportstätten - auch besonders Sporthallen - entstan-den, reichte die Kapazität nicht aus. Zudem bestand vielerorts noch eine äußerst alte Bausubstanz, die nicht saniert und dazu un-zureichend mit sanitären Erfordernissen (besonders Duschen) ausgestattet war. Untersuchungen haben aber auch ergeben, daß zum Teil die Hallenkapazitäten nicht ausgelastet wurden. Hervor-zuheben sind die unzähligen Eigenleistungen, die viele DTSB-Mitglieder bei Baumaßnahmen erbrachten und auf diesem Wege manchen Sportplatz oder andere Einrichtungen schufen.
Das Sportabzeichenprogramm
Das Sportabzeichenprogramm der DDR „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der Heimat“, 1956 geschaffen, war fester Bestandteil der Körperkultur. Schon ab 1951 existierte mit dem Sportleistungs-abzeichen ein Vorläufer unter dem Titel „Bereit zur Arbeit und zur
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Verteidigung des Friedens“. Das damalige Abzeichen umfaßte für Erwachsene die Stufen I, II und III - Stufe I auch für Jugendliche im Alter von 16 - 18 Jahre gültig - sowie für Versehrte. Des weiteren wurden Abzeichen herausgegeben für
 Jugendliche 14 - 16 Jahre („Sei bereit zur Arbeit und zur Verteidi-gung des Friedens“),
 Kinder 12 - 14 Jahre („Immer bereit für Frieden und Völker-freundschaft“),
 Kinder 10 - 12 Jahre („Sei bereit für Frieden und Völkerfreund-schaft“).
Das neue Sportabzeichenprogramm „Bereit zur Arbeit und zur Ver-teidigung der Heimat“ sollte dazu beitragen, allen Bürgern die Wer-te der Körperkultur zu erschließen, das heißt,
- die Lebensfreude und den Optimismus zu fördern,
- die Gesundheit zu festigen und die Leistungsfähigkeit zu erhö-hen,
- wertvolle Charaktereigenschaften auszuprägen,
- die Entwicklung und Festigung der Wehrfähigkeit und -bereitschaft zu unterstützen.
Es bestanden sechs Altersklassen, jeweils weiblich und männlich:
Altersklasse I —> 6 - 9 Jahre,
Altersklasse II —> 10 - 13 Jahre,
Altersklasse III —> 14 - 18 Jahre,
Altersklasse IV —> 19 - 34 Jahre,
Altersklasse V —> 35 - 44 Jahre,
Altersklasse VI —> 45 Jahre und älter.
Das Sportabzeichen kam in den Stufen „Bronze“, „Silber“ und „Gold“ zur Verleihung. Innerhalb eines Jahres war der Erwerb des Sportabzeichens in jeder Stufe nur einmal möglich. Bei zehnmali-ger Ablegung des Abzeichens ab Altersklasse III - unabhängig von der Stufe - wurde die Sportabzeichenmedaille verliehen, und nach 20-, 25- und 30maligem Nachweis erhielten die Abzeichenträger eine Ehrenurkunde des Staatssekretärs für Körperkultur und Sport. Bei den Leistungsanforderungen gab es fünf Grundbedingungen (Ausdauerlauf oder Wandern, Klimmziehen oder Liegestütz, Drei-erhop oder Schlußweitsprung, Schlängellauf, Sportschießen oder Ballzielwurf), die für das Bronze-Abzeichen und Zusatzbedingun-gen (Schwimmen, Kurzstreckenlauf, Weit- oder Hochsprung, Ku-gelstoßen oder Ballweitwurf, Wahlsportarten), die für die silberne
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oder goldene Stufe als Bedingung galten. Das Sportabzeichen für Behinderte stellte jeweils der Behinderung entsprechende beson-dere Anforderungen. Die Leistungsbewertung erfolgte mittels Punkten; eine Mindestpunktzahl war dabei für das Erreichen der einzelnen Stufen erforderlich. Außerdem wurde die Teilnahme an einem Gespräch über die Körperkultur gefordert.
Die Sportklassifizierung
Sie hatte zum Ziel, die Sportlerrinnen und Sportler - auch Kampf-richter - entsprechend einer erbrachten Wettkampfleistung in Klas-sifizierungsstufen einzuordnen. Die erste Klassifizierung hatte der Deutsche Sportausschuß 1952 geschaffen, die sich aber nicht be-währte. Ab dem Jahr 1953 galt die einheitliche Sportklassifizierung unter staatlicher Verantwortung, zunächst nur für Aktive. Mit dem Jahre 1956 wurde in neuer Abzeichengestaltung die Klassifizierung für Jugendliche, Erwachsene und Kampfrichter und 1960, wiede-rum in anderer Gestaltung, auch für Kinder eingeführt. Es gab die Stufen III, II und I sowie Meister des Sports, später zusätzlich die Meisterklasse. In der Regel veränderten sich die Normen gemäß den gestiegenen Leistungen alle zwei Jahre. 1980 entstand, auch mit neuer Gestaltungsform, die Sportklassifizierung des DTSB und seiner Sportverbände mit den Stufen Meisterklasse, Leistungs-klasse I, II und III für Aktive und für Kampfrichter. Als Bedingung zum Einstufen zählte nunmehr das Erfüllen einer Wettkampfnorm in der entsprechenden Sportart und der Vielseitigkeitsnorm (Sport-abzeichen). Kampfrichter mußten erfolgreiche Einsätze auf kreisli-cher, bezirklicher, zentraler oder internationaler Ebene nachwei-sen. Grundlage für die Klassifizierung bildete eine Ordnung.
3.3.2. Sport der jungen Generation
Der Sport für die heranwachsende Generation war ein besonderes Anliegen der gesamten Gesellschaft, vor allem im DTSB. Durch die Funktionen des Kinder- und Jugendsportes galt es,
 zur Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter Persönlich-keiten beizutragen und umfassend das Bedürfnis herauszubilden, aktiv und regelmäßig Sport zu treiben;
 die Entwicklung der körperlich-sportlichen Leistungsfähigkeit und die Stärkung der Gesundheit zu ermöglichen;
 einen Beitrag zur sinnvollen Freizeitgestaltung zu leisten.
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Ausgehend von seiner Stellung in der Sportorganisation kam dem Kinder- und Jugendsport eine Basisfunktion zu, die folgenderma-ßen zu charakterisieren ist:
- Ausprägen des Bedürfnisses, sich von der Kindheit bis ins hohe Alter organisiert bzw. selbständig sportlich zu betätigen;
- Herausbilden bedeutender und unverzichtbarer psycho-physischer Fähigkeiten und Fertigkeiten für Schule, Lehre, Studi-um und Beruf sowie für die Landesverteidigung;
- Unterstützen der Gesundheit;
- Anerziehen wertvoller Charakter- und Willenseigenschaften und Festigen politisch-ideologischer Grundüberzeugungen;
- Schaffen von Grundlagen für die Ausprägung des Massencharak-ters der Sportorganisation im Übungs-, Trainings- und Wettkampf-betrieb;
- Sichern der Auswahlbasis für den Leistungssport.
Davon ableitend bestimmten folgende Ziel- und Aufgabenstellun-gen das Wirken der Vorstände und Leitungen im DTSB:
 Erhöhung des Niveaus und der Wirksamkeit des Sporttreibens
Übung, Training und Wettkampf waren die Grundelemente des Sports und zugleich die wirkungsvollsten Formen regelmäßiger sportlicher Betätigung. Für die Sektionen und Allgemeinen Sport-gruppen und ihre Sporttreibenden galt es, durch eine höhere Kon-tinuität und qualitativ gut durchgeführte Übungsstunden - verwirk-licht durch die Übungsleiter - sowie durch eine ganzjährige Teil-nahme an Wettkämpfen - organisiert durch die Fachausschüsse- diesem Anspruch zunehmend besser gerecht zu werden.
Für die sportpraktische Tätigkeit waren folgende Prinzipien von Bedeutung:
 Bewußte Ausschöpfung aller erzieherischen Potenzen des Sports für das Entwickeln sozialistischer Persönlichkeiten;
 Vielseitige, interessante und emotional erlebnisreiche Durchfüh-rung des ÜTW;
 Solide sporttechnische Ausbildung und das Erlernen grundlegen-der sportlicher Bewegungsabläufe;
 Ganzjährige Teilnahme an Wettkämpfen und Herausbildung des Leistungsstrebens, verbunden mit dem Vermitteln sportlicher Er-folgserlebnisse;
 Ständige Arbeit mit dem Sportabzeichenprogramm sowie der Sportklassifizierung .
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 Erweiterung des Sportangebotes und der organisatorischen Ba-sis durch
 Aufbau von Sportgruppen für Kinder und Jugendliche in allen langjährig und stabil bestehenden Sektionen,
 Erweiterung der Allgemeinen Sportgruppen durch Aufnahme vie-ler Mädchen und Jungen,
 Sicherung eines nahtlosen Überleitens von Sporttreibenden der Schulsportgemeinschaften (SSG) in den DTSB auf der Grundlage konkreter Patenschaftsvereinbarungen,
 Vervollkommnung des außerunterrichtlichen Lehrlingssports ,
 Gewährleistung des Wiedereingliederns von ehemaligen TZ- Sportlern in den allgemeinen Sport, indem in den Sektionen Sport-treibende in den Altersklassen vor, neben und nach den TZ-Jahrgängen existierten.
In rund 70% der Sportgemeinschaften bestanden Kinder- und Ju-gendabteilungen, in denen im Kleinkinderbereich 5%, in den Kin-der- etwa 50% und Jugendaltersklassen etwa 70% sowie von den Lehrlingen ca. 60% aller Mädchen und Jungen organisiert waren.
 Effektive Führung des Kinder- und Jugendsports durch die Vor-stände und Leitungen des DTSB im engen Zusammenwirken mit den Organen der Volks- und Berufsbildung und der FDJ und ihrer Pionierorganisation „Ernst Thälmann“.
Vor allen Vorständen und Leitungen stand deshalb die Aufgabe, die Belange des Kinder- und Jugendsports regelmäßig zu behan-deln und Maßnahmen zu seiner Entwicklung einzuleiten und durchzusetzen. Zu sichern war, daß in allen Vorständen der SG und Sektionsleitungen Funktionäre - oder auch stellvertretende Vorsitzende - für Kinder- und Jugendsport bestanden. Eine große Rolle spielte das bewährte Zusammenwirken mit den Partnern. Dabei galt ein Augenmerk dem ständigen Aktualisieren der beste-henden Vereinbarungen.
Dominierend war die Spartakiadebewegung, die es stets zu ver-vollkommnen galt.
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Teilnehmer an Kinder- und Jugendspartakiaden:
 Kreisspartakiaden (Sommer)
JAHR
Gesamtzahl
Kinder
Jugendliche
1965
321.000
202.000
119.000
1970
544.000
353.000
191.000
1975
846.000
561.000
285.000
1980
940.000
622.000
318.000
1985
988.000
656.000
332.000
1989
920.000
640.000
280.000
 Kreisspartakiaden (Winter)
JAHR
Gesamtzahl
Kinder
Jugendliche
1966
12.000
9.000
3.000
1970
38.500
27.500
11.000
1975
14.800
12.200
2.600
1980
48.000
37.600
10.400
1985
64.400
49.700
14.700
1988
19.600
15.900
3.700
 Bezirksspartakiaden (Sommer)
JAHR
Gesamtzahl
Kinder
Jugendliche
1965
50.300
24.200
26.100
1971
73.900
42.700
31.200
1976
98.000
63.000
35.000
1980
96.500
60.500
36.000
1984
101.500
61.500
40.000
1988
97.000
57.000
40.000
 Bezirksspartakiaden (Winter)
JAHR
Gesamtzahl
Kinder
Jugendliche
1967
2.800
1.600
1.200
1971
4.100
3.200
900
1976
4.750
3.750
1000
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1980
5.000
3.750
1.250
1984
5.700
3.900
1.800
1988
5.350
3.500
1.850
Einen besonderen Stellenwert hatte der Feriensport. Vielgestalti-ge sportliche Maßnahmen für die Mädchen und Jungen ergänzten den Tagesablauf in den Ferienlagern, wie den zentralen Pionierla-gern, Betriebsferienlagern, örtlichen Ferienspielen und in den an-deren Ferienformen. Jährlich bestand die Möglichkeit, für ein ge-ringes Entgelt in geeigneten zentralen Pionierlagern durch Sport-verbände eigene Sportbelegungen durchzuführen.
Für besondere Leistungen in den Sportarten konnten u.a. erwor-ben werden :
- Schwimmurkunde in drei Stufen,
- Fußball-Technikerabzeichen,
- Abzeichen im Bogenschießen,
- Abzeichen „Goldener Rollschuh“.
3.3.3. Freizeit- und Erholungssport (FES)
Der Freizeit- und Erholungssport wollte durch vielseitige sportliche und touristische Betätigung der Bürger in der Freizeit und im Ur-laub zur Förderung von Gesundheit, Lebensfreude und Leistungs-fähigkeit beitragen. Mit seinen vielfältigen Inhalten und Formen in-dividueller wie kollektiver sportlicher Betätigung war er zugleich eng mit dem Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb verbunden und trug insgesamt als ein Element der Lebensweise zur körperli-chen Vervollkommnung vieler Bürger bei. Im Bemühen, für jeder-mann die Freizeit durch Spiel, Sport und Wandern mitzugestalten, sprach er einerseits die bisher nicht Sporttreibenden an und veran-laßte sie zu ersten Schritten im Sport. Eine wesentliche soziale Funktion des FES kam darin zum Ausdruck, daß er als gesellige Form Teil des Gemeinschaftslebens von Arbeitskollektiven, Haus-gemeinschaften, Freizeitgruppen und Familien war. Den Freizeit- und Erholungssport kennzeichneten folgende Merkmale :
- Er bot den Bürgern die Möglichkeit, entsprechend ihren Interes-sen und Bedürfnissen Sport zu treiben. Das bestimmende Moment des Verhältnisses des einzelnen zum FES war die persönlicher Motivation, die einen konkreten Bezug zu solchen Werten wie Leis-
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tungsfähigkeit, Gesundheit, Wohlbefinden, Geselligkeit und Kollek-tivität hatte. Insofern wirkte er in allen Lebensphasen mobilisierend und trug mit seinen spezifischen Inhalten und Formen, insbeson-dere der Leistungsdifferenzierung und dem mit sich fortschreiten-dem Alter vollziehenden Leistungswandel, Rechnung.
- Er umfaßte eine große Breite und Vielfalt des Inhalts und der Formen des Sporttreibens und der Touristik. Sein Spektrum reichte von sporadischen individuellen Bewegungstätigkeiten bis zum re-gelmäßigen organisierten Sporttreiben, von der Mitwirkung an Volkssportveranstaltungen bis zum regelmäßigen Trainieren (z.B. Lauftraining), von Leistungsvergleichen bis zur Teilnahme an re-gelmäßigen Wettkämpfen in verschiedenen Sportarten.
- Er konnte individuell oder in Freizeitgruppen und -mannschaften betrieben werden. Übungsgruppen im FES setzten sich aus Per-sonen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Leistungsvermö-gens zusammen, konnte zeitlich unterschiedliche Stabilität aufwei-sen und gemäß ihren Möglichkeiten und Absichten eine verschie-denartige Intensität der sportlichen Betätigung wählen. Im Rahmen des DTSB waren es vor allem Allgemeine Sportgruppen, aber auch Mannschaften in Spielturnieren, konditionsfördernde „Kurse für je-dermann“, Gruppen im Familienwettbewerben, Lauftreffs u.a.
- Er sollte schrittweise zum regelmäßigen und organisierten Sport-treiben im DTSB hinführen.
Insgesamt besaß das Sportabzeichenprogramm im FES zuneh-mende Bedeutung. Im Mittelpunkt der vielen Aktivitäten stand mit seiner mobilisierenden Wirkung das „Gemeinsame Sportprogramm des DTSB, des FDGB und der FDJ“, in dem gemeinsame und spezielle Aufgaben der Partner ausgewiesen waren.
3.3.4. Leistungssport
Als Bereich der Körperkultur bildete der Leistungssport mit hohem Stellenwert einen bedeutenden Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in der DDR. Die Grundlagen für eine erste systematische Leistungsförderung wurden schon in den 50er Jahren mit dem Schaffen zentraler BSG der Sportvereinigungen gelegt. Stabile Kontinuität wurde aber erst erreicht, als - beginnend 1954 - an ge-eigneten Orten die Sportclubs gegründet worden waren und die besten Aktiven in diesen SC konzentriert und von engagierten Trainern betreut wurden. So blieben erste sportliche Erfolge von in-
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ternationaler Bedeutung nicht aus. Mehr und mehr charakterisierte den Leistungssport ein planmäßiger und systematischer Prozeß, der durch konkrete Plandokumente und zielstrebiges Umsetzen gestützt wurde. Parallel dazu konnten die materiell-technische Ba-sis verbessert und der Einsatz qualifizierter Trainer erweitert wer-den. Ab 1961 bestimmten Beschlüsse die leistungssportliche Ent-wicklung, die dem Olympiazyklus angepaßt waren. Ihr Stellenwert erhöhte sich dadurch, daß die SED-Führung sie sanktionierte. Mit der Stabilisierung der Sportclubs entwickelte sich zugleich eine en-ge und abgestimmte Zusammenarbeit mit den Kinder- und Jugend-sportschulen. Damit entwickelten sich auch Voraussetzungen für ein noch systematischeres und zielgerichteteres Training des sportlichen Nachwuchses. Als Vorstufe zu den KJS/Sportclubs wurden die Trainingszentren (TZ) und Trainingsstützpunkte (TS) als Einrichtungen des DTSB geschaffen, die in der Regel einer Be-triebssportgemeinschaft angeschlossen waren. Ihre Aufgabe war es, sportlich geeignete Kinder durch ein vielseitiges, sportartgerich-tetes Grundlagentraining entsprechend den Erziehungs- und Aus-bildungsprogrammen der Sportverbände auf die Anforderungen und die Delegierung in die SC/FC vorzubereiten. Das Prinzip des systematischen Leistungsaufbaus wurde leider - wenn auch ver-einzelt - nicht immer eingehalten, indem Trainingsinhalte frühzeiti-ger erweitert und so Überforderungen auftraten, die einer kontinu-ierlichen Entwicklung schadeten. In den insgesamt 1.650 TZ waren 1.260 Trainer und 9.000 Übungsleiter tätig. Für ihre Arbeitsweise galten konkrete Ordnungen.
Um geeignete junge Sportler zu finden, wurde jährlich die „Einheit-liche Sichtung und Auswahl“ durchgeführt, in deren Ergebnis je-weils ca. 30.000 Mädchen und Jungen den TZ zugeführt werden konnten. In einem in der Regel über drei Jahre konzipierten Trai-ning, wo sich gemäß dem Leistungsprinzip die Gesamtanzahl der Trainierenden pro Jahr, beginnend von über 60.000 Mädchen und Jungen im 1. Trainingsjahr, pyramidal zum 3. Jahr auf etwa 10.000 verringerte, vollzog sich dann nach erfolgreich verlaufenem Auf-nahmeverfahren die Delegierung von rund 2.000 jungen Sportlern (Schüler, Lehrlinge) in die Clubs. Das Aufnahmealter war zunächst mehrfach verändert und schließlich wie folgt festgelegt worden:
Klasse 1 - Eiskunstlauf;
Klasse 3 - Turnen - weiblich und männlich;
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Klasse 4 - Rhythmische Sportgymnastik, Wasserspringen;
Klasse 5 - Schwimmen - weiblich;
Klasse 6 - Schwimmen - männlich;
Klasse 7 - Ski/ Biathlon, Leichtathletik, Fußball;
Klasse 8 - Boxen, Eishockey, Eisschnellauf, Fechten, Gewichtheben, Handball, Judo, Kanu, Rennschlitten, Ringen, Rudern, Segeln, Vol-leyball.
Auch die Kinder- und Jugendspartakiaden der DDR in den Winter- und Sommersportarten trugen das ihrige bei, als Leistungsschau den sportlichen Nachwuchs zu fördern. Eine beabsichtigte Ände-rung bei den Spartakiaden, indem die in den Kinderaltersklassen erprobten allgemeinathletischen und sportgerichteten Wettkamp-finhalte künftig ausgeschrieben werden sollten, kamen nicht mehr zum Tragen.
Training und Wettkampf im Leistungssport wurden unter der Ziel-stellung gestaltet, in den Sportarten einen dem internationalen Ni-veau entsprechenden Leistungsstand zu sichern und bei internati-onalen Wettkämpfen das Land würdig zu vertreten. In den ausge-wählten olympischen Sportarten ging es darum, das sportliche Weltniveau wesentlich mitzubestimmen und einen Platz unter den leistungsstarken Ländern zu behaupten. Das gründliche Vorberei-ten der Athleten und Nationalmannschaften auf internationale Wettkämpfe, Europa- und Weltmeisterschaften sowie besonders auf die Olympischen Spiele als Höhepunkte des internationalen Sports stand dabei im Vordergrund. Die sportliche Höchstleistung verlangte einen langfristigen Leistungsaufbau und vollzog sich in aufeinanderfolgenden Förderstufen, deren Ziel und Inhalte spezi-fisch und zugleich miteinander abgestimmt und in die Stufen 1 (Trainingszentren), 2 (SC/KJS) und 3 (Hochleistungssport) geglie-dert waren. Der - entsprechend den Besonderheiten der Sportarten sowie den dazu im Verhältnis stehenden Möglichkeiten der Aktiven gestaltete - mehrjährige Leistungsaufbau vom Beginn des syste-matischen Trainings bis hin zum Erreichen sportlicher Höchstleis-tungen in der gewählten Sportart setzte sich in der Regel aus den Etappen des Grundlagen-, Aufbau-, Anschluß- und Hochleistungs-trainings zusammen. Diese Etappen unterschieden sich insbeson-dere durch die spezifischen Trainingsstrukturen einschließlich der Trainingsmittel und -methoden, durch die anzustrebenden Leis-tungsziele sowie durch das Ausformen persönlichkeitsbedeutsa-
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mer Leistungsfaktoren. Den 12.500 Aktiven in den 27 SC und 11 FC wurden ziemlich optimale Bedingungen für ihre leistungssportli-che Entwicklung geboten. 1.985 Trainer sowie Wissenschaftler, Sportmediziner und Funktionäre und weitere Fachkräfte arbeiteten Hand in Hand und schufen ein für das Erreichen sportlicher Höchstleistungen geeignetes Bedingungsgefüge. Um in der sport-lichen Leistungsentwicklung im internationalem Maßstab mithalten zu können, übernahm man im Ausland praktizierte Gepflogenhei-ten und verabreichte mutmaßlich einer Anzahl von Leistungssport-lern unter ärztlicher Kontrolle bestimmte auf der Dopingliste ver-merkte Mittel. Eingeweiht war diesbezüglich ein kleiner Kreis von Funktionären, Trainern und Sportärzten. Allerdings nur das ziel-strebige, auf wissenschaftlichen Ergebnissen fundierte Training, das von akademisch ausgebildeten und systematisch weitergebil-deten Trainern geleitet und zielbewußt wollenden Aktiven absol-viert wurde, führte zu Welthöchstleistungen. Vielen gelang jedoch u.a. aufgrund von Verletzungen ein Sprung zu diesen Leistungen nicht.
Die Leistungssportkommission der DDR - ein offiziöses Gremium - beeinflußte wesentlich den Leistungssport, indem sie wichtige Vor-haben koordinierte und realisieren half. Ebenso erfolgte eine wirk-same Unterstützung durch die Bezirksleistungssportkommissionen und die Kreisnachwuchskommissionen.
Die zahlreichen Erfolge der Leistungssportler bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften sowie weiteren interna-tionalen Wettkämpfen haben wesentlich dazu beigetragen, das in-ternationale Ansehen der DDR zu steigern. Bei Olympischen Spie-len wurden in den Jahren von 1956 bis 1988 (ohne Sommerspiele 1984) insgesamt 572 Medaillen, 203 Gold-, 192 Silber- und 177 Bronzemedaillen, bei Weltmeisterschaften in den Jahren von 1953 bis 1990 insgesamt 708 Titel errungen sowie 616 zweite und 592 dritte Plätze belegt.
3.4. Sportliche Höhepunkte
Markante Höhepunkte des Sports in der DDR waren
Deutsche Turn- und Sportfeste (in Leipzig)
1.1954
2. 1956
3.1959
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4. 1963
5. 1969
6. 1977
7. 1983
8. 1987
Kinder- und Jugendspartakiaden der DDR (Winter/Sommer)
1. 1966 in Goldlauter/Oberhof/Berlin sowie Berlin
2. 1968 in Goldlauter/Oberhof/Berlin sowie Berlin
3. 1970 in Johanngeorgenstadt/Berlin sowie Berlin
4. 1972 in Oberhof/Berlin sowie Berlin
5. 1975 in Johanngeorgenstadt/Berlin sowie Berlin
6. 1977 in Oberhof/Berlin sowie Leipzig/Berlin
7. 1979 in Oberwiesenthal/Karl-Marx-Stadt sowie Berlin
8. 1981 in Oberhof/Berlin sowie Berlin
9. 1983 in Oberwiesenthal/Karl-Marx-Stadt sowie Leipzig/Berlin
10. 1985 in Oberhof/Berlin sowie Berlin
11. 1987 in Oberwiesenthal/Karl-Marx-Stadt sowie Leipzig/Berlin
12. 1988 in Oberhof/Berlin sowie Berlin
Pionierspartakiaden in den Sommersportarten
1. 1954 in Berlin
2. 1955 in Dresden
3. 1957 in Berlin
4. 1961 in Erfurt
5. 1963 in Leipzig
6. 1965 in Magdeburg
Zentrale Sportfeste der Kinder- und Zentrale Sportfeste der Lehrlinge,
Jugendsportschulen Berufsschüler und Schüler der EOS
1. 1957 in Güstrow 1. 1955 in Des-sau
2. 1958 in Karl-Marx-St. 2. 1956 in Dessau
3. 1959 in Dresden 3. 1958 in Dessau
4. 1960 in Erfurt 4. 1960 in Alten-burg
5. 1961 in Leipzig 5. 1962 in Dessau
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6. 1962 in Magdeburg 6. 1964 in Des-sau
7. 1963 in Halberstadt
3.5. Öffentlichkeitsarbeit
Die Information der Öffentlichkeit mittels Massenmedien (Fernse-hen, Rundfunk und verschiedenartiges Schrifttum) war im Sport ein wichtiges Anliegen. Seit Bestehen des Deutschen Fernsehfunks (später Fernsehen der DDR) und bei den verschiedenen Rund-funkanstalten besaßen die Sportereignisse - vorrangig im Leis-tungssport - einen angemessenen Stellenwert. Sehr vielgestaltig waren die Printmedien, die sich als Tagespresse, Fachpresse und vor allem Sportpresse den Sportbelangen widmeten. Ebenso the-matisierte die Belletristik den Sportbetrieb. Recht umfassend war die Herausgabe von Fachbüchern durch mehrere Verlage, beson-ders aber vom Sportverlag. Wesentliche Veröffentlichungen des DTSB (bzw. Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport) wa-ren: „Sportorganisator“, „Die sozialistische Sportbewegung“, „Deut-scher Sport“, „Sportinformation“, „Sportargument“ und „Start“ sowie eine Vielzahl von Arbeitsmaterialien. Außerdem erschienen in den 50er Jahren die illustrierten Zeitschriften „Sport im Bild“, „Der Sport“ und „Sport-Revue“. Speziell für die Auslandsinformation existierte der mehrsprachige „DDR-Sport“. Alle Sportverbände ver-fügten über eigene Fachorgane, die in unterschiedlichen Zeiträu-men erschienen. Als Tageszeitung stand das „Deutsches Sport-echo“ seit dem 5. Mai 1947 zur Verfügung. Vom Staatssekretariat für Körperkultur und Sport (vorher Komitee) wurde monatlich die „Theorie und Praxis der Körperkultur“ herausgegeben. Auch die DHfK gab eine Vielzahl von Veröffentlichungen, insbesondere Stu-dienmaterialien vor allem auch für das seit 1953 bestehende Fern-studium, sowie die „Wissenschaftliche Zeitschrift“ heraus. Der DTSB-Bundesvorstand veranstaltete regelmäßig Pressekonferen-zen; aus gegebenen Anlässen wurden Presseerklärungen sowie Kommuniqués veröffentlicht.
3.6. Sportauszeichnungen
Einen wesentlichen Hebel, um zu motivieren und zu stimulieren, stellten in der DDR die Auszeichnungen dar, so auch im Sport. Es
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gab staatliche und von den gesellschaftlichen Organisationen be-reitgestellte Sportauszeichnungen. Dazu gehörten:
- Die vom Ministerrat der DDR gestifteten Ehrenzeichen für Kör-perkultur und Sport, Ehrentitel Verdienter Meister des Sports und GutsMuths-Preis (für wissenschaftliche Leistungen, For-schungs- und Entwicklungsarbeiten);
- im Auftrage des Ministerrates verliehen durch den Staatssekretär für Körperkultur und Sport der Ehrentitel Meister des Sports;
- Ehrennadeln vom Deutschen Sportausschuß, von den Sportver-einigungen, vom DTSB, von den Sportverbänden u.a.m.;
- die Ernst-Grube-Medaille bzw. Friedrich-Ludwig-Jahn-Medaille vom DTSB;
- Ehrenplaketten des DTSB-Präsidiums und von den Sportverbän-den;
- Abzeichen für Meisterschaftserfolge;
- Leistungsabzeichen mit verschiedenen Anliegen
(Sportleistungs- und Sportabzeichen, Klassifizierungsabzeichen, Graduierungsabzeichen im Judo, Schwimmabzeichen, Techniker-Abzeichen im Fußball und Gewichtheben, Abzeichen für Befähi-gungsnachweise im Segeln, Touristenabzeichen, Wanderabzei-chen im Rudern und Segeln u.a.m.);
- Abzeichen als „Vorbildlicher Übungsleiter“ und „Vorbildlicher Kampf- und Schiedsrichter“ vom DTSB;
- Mannigfaltige Abzeichen für Erfolge bei massensportlichen Ver-anstaltungen;
- Funktionsabzeichen der Organisationsbüros für Veranstaltungen;
- Medaillen bei Meisterschaften, Spartakiaden, Pokalwettkämpfen u.a. Sportwettkämpfen.
3.7. Leitung und Planung
Als grundlegendes Leitungsprinzip galt auch im DTSB der demo-kratische Zentralismus. Sein Wesen kam in der festen Einheit von zentraler Leitung und möglichst schöpferischer Masseninitiative zum Tragen. Dadurch sollte ein einheitliches Handeln aller am Lei-tungsgeschehen Beteiligten erreicht werden. Die optimale Verbin-dung von Zentralismus und Demokratie war im praktischen Umset-zen diese Prinzips das wichtigste, aber auch schwierigste Problem, das Leitungen und Leiter zu bewältigen hatten. In jedem Fall ging
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es um die Einheitlichkeit des Willens, in gemeinsamer Arbeit das gesteckte Ziel zu erreichen. Die Aufgabe der Leitungen bzw. Leiter im Sport bestand darin, Beschlüsse unter breitem Mitwirken der Mitglieder vorzubereiten, entsprechende Entscheidungen zu tref-fen, sie umfassend zu erläutern und ihre schöpferische Verwirkli-chung zu sichern. Die gemeinsam diskutierten und beschlossenen Aufgaben galt es, mit hohem Verantwortungsbewußtsein und gro-ßer Diszipliniertheit zu realisieren. Dies kam in der Praxis nicht immer zum Tragen; zu oft wurde es vernachlässigt. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus fand im Sport und speziell für die Leitung des DTSB sinngemäß Anwendung. In der Leitungs-struktur der Sportorganisation zeigte sich dies in Gestalt der territo-rialen und der sportartgebundenen Leitungsgremien. Der Bundes-vorstand, die Bezirks- und Kreisvorstände sowie die Vorstände der Sportgemeinschaften stellten die territoriale Leitungsorgane sowie die Präsidien der Sportverbände, die Bezirks- und Kreisfachaus-schüsse und die Leitungen der Sektionen die sportartgerichteten Zweigleitungen dar. Die territorialen Vorstände trugen die Gesamt-verantwortung für die abgestimmte Entwicklung aller Sportarten auf ihrer Leitungsebene, während die jeweiligen Leitungen der Sportverbände die Entwicklung ihrer Sportart verantworteten. Für ein effektives Zusammenwirken zwischen den Vorständen des DTSB und den Leitungen seiner Sportverbände bedurfte es des-halb einer exakten Abgrenzung der Verantwortungsbereiche und Aufgaben.
Auch im DTSB bildeten Planungsdokumente eine wichtige und un-erläßliche Methode der Leitungstätigkeit, die sich von anfangs um-fassenden Textwerken zu Materialien mit mehr quantifiziert gestal-teten Inhalten wandelten. Verbindlich dafür war eine Planungsord-nung für die einzelnen Gliederungen der Sportorganisation :
 Leitungen der Sektionen und Allgemeinen Sportgruppen;
 Vorstände der Sportgemeinschaften;
 Kreis-, Stadt- und Stadtbezirks- sowie Bezirksvorstände;
 Kreis-, Bezirksfachausschüsse und Präsidien der Sportverbände;
 Leitungen der Orts- und Betriebsgruppen des DAV und Motor-sportclubs des ADMV, ihre Kreis- und Bezirksfachausschüsse bzw. Kreis- und Bezirksleitungen sowie Präsidien;
 Zentrale Leitung der SV Dynamo und Präsidium der ASV Vor-wärts sowie ihre nachgeordneten Leitungen;
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 Bundesvorstand des DTSB.
Kriterium war, daß die Einheit von sport- und finanzpolitischer Auf-gabenstellung gewährleistet war.
Der Jahressportplan bestand aus den Kennziffern und dem Textteil und wurde auf der Basis einer zentralen Rahmengliederung erar-beitet.
Diese Rahmengliederung hatte folgende Positionen:
0. Präambel (Grundsätzliche Aufgaben und Entwicklungsschwer-punkte, sportpolitische Höhepunkte)
1. Entwicklung des Massencharakters und des Niveaus von Kör-perkultur und Sport
 Organisationsentwicklung
 Sportabzeichenprogramm
 Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb
 Kinder- und Jugendsport
 Freizeit- und Erholungssport
2. Nachwuchsleistungssport
3. Leistungssport (galt nur für Bezirksvorstände, Zentrale Leitung der SV Dynamo, Präsidium der ASV Vorwärts und den Bundesvor-stand)
4. Politisch-ideologische Arbeit und geistig-kulturelles Leben
5. Internationale Sportbeziehungen
6. Kaderarbeit
7. Leitung und Planung
8. Materiell-technische Bedingungen und Finanzen
Für den Kennziffernteil gab es Vordrucke, die gemäß den Lei-tungsebenen konzipiert waren. Die Position Organisationsentwick-lung war wie folgt gesplittet:
 Anzahl der Grundorganisationen
 Anzahl der Sektionen
 Anzahl der Allgemeinen Sportgruppen
 Anzahl der Trainingsgruppen/Mannschaften
 Anzahl der Mitglieder im DTSB (unterteilt nach Altersgruppen und Geschlecht)
 Anzahl der Lehrlinge im DTSB
 Anzahl der Studenten im DTSB
 Anzahl der Mitglieder, die eine Zweitsportart betreiben
 Anzahl der Kreisfachausschüsse
 Anzahl der Bezirksfachausschüsse
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Als wichtige Methode der Führungstätigkeit nahm der Wettbewerb eine bedeutende Funktion wahr. Inhalte des Wettbewerbes waren vor allem die meßbaren Kategorien der Sportplanung. Nach erfolg-tem Auswerten der erzielten Ergebnisse wurden Auszeichnungen vorgenommen (zentral: Beste Bezirksorganisati-on/Sportvereinigung und beste Sportgemeinschaft - 50 mal; be-zirklich: die besten Kreise; kreislich: die besten BSG sowie SG: beste Sektion; Sportverbände: beste BFA; und BFA: beste KFA). Der Positionskampf in der Wettbewerbsführung wirkte sich jedoch oftmals dahingehend nachteilig aus, daß es in einigen Kreis- bzw. Bezirksorganisationen zu Manipulationen in der statistischen Mel-dung vor allem im Mitgliederstand kam, was teilweise sogar perso-nelle Konsequenzen im Hauptamt zur Folge hatte.
3.8. Internationale Arbeit
Die internationale Tätigkeit des DTSB war darauf gerichtet, einen Beitrag zum Erhalten des Friedens, zum Entwickeln freundschaftli-cher Beziehungen und zur Verständigung zwischen den Völkern zu leisten. Ausgehend von den Grundsätzen der gegenseitigen Ach-tung und Anerkennung, der Gleichberechtigung und des gegensei-tigen Vorteils förderte der DTSB ein konstruktives Zusammenwir-ken mit den Organisationen und Institutionen des Sportes. Die spezifischen außenpolitischen Zielstellungen der DDR in bezug auf die sozialistischen, nationalbefreiten und kapitalistischen Länder bedingten auch eine unterschiedliche Zielstellung der Beziehungen auf dem Gebiet von Körperkultur und Sport. Hier orientierte sich der DTSB - wie dies auch im Ausland praktiziert wurde - gemäß der staatlichen Grundlinie. Demzufolge vollzog sich die internatio-nale Arbeit in folgenden Interessenrichtungen,
- brüderliche Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern,
- freundschaftliche Zusammenarbeit mit den nationalbefreiten Län-dern,
- Beziehungen zu Körperkultur und Sport kapitalistischer Länder.
Das bedeutete, daß die Verbindungen sehr unterschiedlich ausge-prägt waren. Mit der sowjetischen Sportleitung kam es 1966 und mit dem Deutschen Sportbund 1974 zum Abschluß von Abkom-men. Ein weiteren Schwerpunkt der internationalen Arbeit des DTSB bildeten die internationalen Organisationen und Gremien,
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wobei die Europäische Sportkonferenz (ESK) eine große Rolle spielte. Unter Leitung des DTSB wirkte mehrere Jahre die Kom-mission Jugendsport der ESK. Dominierend war das Zusammen-wirken mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), das gemäß seiner Funktion durch das NOK wahrgenommen wurde. Einen hohen Stellenwert hatte auch die Mitarbeit der Sportverbän-de in den internationalen Verbänden.
Die folgende Übersicht dokumentiert die internationale Anerken-nung der DDR-Verbände:
Jahr
Sportverband
Jahr
Sportverband
1950
Schach
1955
Gewichtheben
1951
Tischtennis
1956
Fechten
1951
Volleyball
1956
Handball
1951
Ski
1956
Rugby
1952
Ringen
1956
Hockey
1952
Basketball
1956
Leichtathletik
1952
Fußball
1957
Schlitten/Bob
1952
Kanu
1957
Rollsport
1952
Turnen/Gymn.
1957
Angeln
1952
Schwimmen
1957
Motorsport
1952
Segeln
1958
Federball
1952
Boxen
1958
Billard
1953
Eislauf
1959
Schießen
1953
Kegeln
1960
Faustball
1954
Eishockey
1961
Wandern/Bergst.
1954
Judo
1961
Bogenschießen
1955
Radsport
1964
Tennis
1955
Rudern
1965
Pferdesport
3.9. Finanzen
Die Finanzarbeit diente der Verwirklichung der Grundsätze und Aufgaben des Deutschen Turn- und Sportbundes. Sie nahm eine aktive Rolle beim Realisieren der jeweiligen Hauptaufgaben ein und beschränkte sich nicht nur auf den exakten Nachweis aller ma-teriellen und finanziellen Mittel. Es galt, mit dem geringsten Auf-wand an Mitteln die effektivsten Ergebnisse zu erzielen und alle
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Einnahmequellen auszuschöpfen. Die Finanzwirtschaft stellte da-her einen wichtigen Bestandteil der Führungs- und Leitungstätig-keit aller Vorstände und Leitungen des DTSB dar. Jeder Funktio-när war im Rahmen seines Tätigkeitsbereiches für alle finanziellen und materiellen Mittel, die der Organisation zur Verfügung standen, verantwortlich. Das bedeutete:
- Aufstellung, Durchführung und Kontrolle der Finanzpläne sowie Durchsetzung des Prinzips der Sparsamkeit bei der Plandurchfüh-rung;
- Erarbeiten von Berichterstattungen und Finanzanalysen;
- Sofortiges Einleiten erforderlicher Maßnahmen bei einer Feststel-lung von Mängeln und Mißständen beim Umsetzen des Finanzpla-nes;
Für das Absichern seiner vielzähligen Vorhaben standen dem DTSB vielfältige Finanzierungsquellen zur Verfügung. Es waren dies:
- Aufnahmegebühren: 0,50 M für Kinder, 1,00 M für Erwachsene.
- Mitgliedsbeiträge 0,20 M für Kinder,
(monatlich) 0,80 M für Lehrlinge, Studenten, Hausfrauen, Rentner
1,30 M übrige Mitglieder.
- Spendenmarken mit verschiedenen Motiven und gestaffelten Werten
(0,20 bis 30,00 M)
- Einnahmen bei Sportveranstaltungen, wie Startgelder, Eintritts-gelder
oder Programmerlöse
- Zuwendungen aus Vereinbarungen mit Partnern, wie
 FDGB-Rücklaufmittel,
 anteilige Kostenübernahmen bei Veranstaltungen durch die FDJ- und
Pionierorganisation sowie das Ministerium für Volksbildung,
 Mittel von landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften,
- Sonstige Erlöse
 Mittel aus dem Verkauf von Losen und Souvenirs anläßlich von Groß-
veranstaltungen,
 Gewinne aus Spielautomaten (in früheren Jahren),
 Anteile aus dem Postverkauf von Briefmarken mit Zuschlägen.
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- Lotto/Toto-Mittel.
Darüber hinaus ergab sich eine indirekte Finanzierung, die wie folgt dem Sport zugute kam:
- kostenlose Nutzung der Sportstätten,
- Freistellung von der Arbeit für Sportmaßnahmen und Ausgleich-zahlungen bei Freistellungen,
- verbilligte Fahrpreise bei Reisen mit Bahn und Bus,
- kostenlose sportmedizinische Betreuung,
- Gleichstellung eines Sportunfalls mit einem Arbeitsunfall (keine zusätzliche Lohn-/ Gehaltsminderung),
- subventionierte Eintrittspreise bei allen Sportveranstaltungen u.v.m.
In den Haushaltsplänen der DDR waren in den letzten Jahren rund 1 Milliarde Mark eingeplant, die den Organen für Körperkultur und Sport von der Zentrale bis zur Kommune und anteilig dem DTSB zur Verfügung standen.
4. Die Auflösung des DTSB
Die sich abzeichnende gesellschaftlich-politische Veränderung in der DDR hatte auch ihre Auswirkungen auf den DTSB. Landesweit gab es kontroverse Diskussionen zur weiteren Entwicklung der Sportorganisation, die insbesondere an der Förderung des Mas-sensports einerseits und des Leistungssports andererseits kulmi-nierten. Nachdem Ende November 1989 personelle Veränderun-gen im Sekretariat des DTSB-Bundesvorstandes erfolgten, traten auf einer außerordentlichen Bundesvorstandstagung am 12. De-zember das Präsidium mit dem Sekretariat zurück. Dafür entstan-den mit provisorischem Status ein Arbeitsausschuß und ein Ar-beitssekretariat. Um neue Wege im Kinder- und Jugendsport ein-zuleiten, nahm Anfang 1990 eine „Initiativgruppe Jugendsport“ ihre Tätigkeit auf, deren Wirken am 31. März zur Bildung der Sportju-gend DDR führte. Grundlage ihrer Tätigkeit bildete eine Satzung. Eine am 16./17. Februar durchgeführte Informations- und Kontakt-veranstaltung der Deutschen Sportjugend (DSJ) in Berlin hatte da-zu die Möglichkeiten aufgezeigt. Am 3./4. März 1990 fand ein Au-ßerordentlicher Turn- und Sporttag des DTSB statt, der einen neu-en Bundesvorstand und ein neues Präsidium wählte und eine Ge-schäftsführung mit dem Generalsekretär an der Spitze berief. Be-raten wurden u.a. ein Statut und Leitlinien. Die Sportverbände hiel-
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ten Ende April Verbandstage ab, auf denen es auch zu personellen Veränderungen in den zentralen Leitungsgremien kam. Außerdem bildeten sich neue Sportverbände, wie Golf, Spielleute, Triathlon u.a. Staatlicherseits wurden das bisherige Staatssekretariat für Körperkultur und Sport und das Amt für Jugendfragen zum Minis-terium für Jugend und Sport zusammengefaßt; es bestand bis zum 2. Oktober. Mit den Ländern in Ostdeutschland entstanden auch Landessportbünde (LSB) mit Landessportjugenden (LSJ) sowie die Landesfachverbände (LFV). In Berlin kam es zu einer Fusion der Sportgremien. Die ostdeutschen Sportverbände verhandelten mit den westdeutschen Bünden über eine Vereinigung, die sich auch alsbald vollzog. Nur einzelne, wie der deutsche Anglerverband e.V. (DAV), bewahrten - infolge des Mehrheitsvotums der Delegierten - ihre Selbständigkeit. Am 5. Dezember tagte der DTSB-Bundesvorstand letztmalig und beschloß seine Auflösung zum Jah-resende. Ebenso beendete das zentrale Hauptamt seine Tätigkeit. Auf dem am 15. Dezember stattgefundenen Bundestag des DSB traten die LSB der nunmehr gesamtdeutschen Sportorganisation bei, die LFV den westdeutschen Sportbünden. Die LSJ erhielten automatisch ihre Mitgliedschaft in der DSJ. Die organisatorische Basis des ehemaligen DTSB, also die Sportgemeinschaften und damit die Mehrzahl der Mitglieder, gingen in den DSB über. Vieler-orts kam es jedoch zu strukturellen Veränderungen, indem Sektio-nen von SG eigenständige Vereine wurden. Auch eine Vielzahl von gewählten Funktionären und etliche Haupamtliche - logischer-weise, waren sie doch gestandene Fachleute - blieben auf Vereins-, Kreis und Bezirks- bzw. Landesebene im Amt. Ebenso wurden die Meisterschaften und andere Wettkämpfe fortgesetzt, außer den massenwirksamen Kinder- und Jugendspartakiaden. Mit den Kreis- und Landesjugendspielen gab es allerdings alsbald für die Mädchen und Jungen in den ostdeutschen Ländern eine gewisse Fortführung. Auch die bewährten Kinder- und Jugendsportschulen überstanden nach anfänglichen Unklarheiten als Sportgymnasien die Wende. Die bedeutsame Vorstufe dazu, die Trainingszentren, fanden keine Fortsetzung. Ebenso erging es den Sportclubs nach DTSB-Muster; aus ihnen entstanden gewöhnliche Vereine mit Leis-tungskadern. Olympiastützpunkte westdeutscher Prägung über-nahmen nunmehr eine spezifische Betreuung der Sporttalente. Ei-ne Anzahl ehemals im DTSB erfolgreicher Trainer ist jetzt im Aus-
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land tätig. Viele der Leistungssportler aus der DDR erbrachten und erbringen noch heute hervorragende Ergebnisse internationalen Werts für die neue Bundesrepublik Deutschland.
Über 33 Jahre hatte der Deutsche Turn- und Sportbund der DDR existiert. Er war die Massenorganisation für die sporttreibende Be-völkerung im Osten Deutschlands.
Im nachhinein kann eindeutig gesagt werden - und ehren- und hauptamtliche Mitwirkende würden das bestätigen können - der DTSB hat als Massenorganisation im Interesse seiner Sportlerin-nen und Sportler etwas bewegt. Hier konnten Kinder, Jugendliche und Erwachsene beiderlei Geschlechts für ein geringes Entgelt und bei vollem Versicherungsschutz einer sinnvollen Freizeitbetäti-gung nachgehen. Regelmäßiger Übungsbetrieb - meistens freud-betont und Erfolgserlebnisse verschaffend - sowie die rege Wett-kampftätigkeit belegen dies. Diese Kernaussage wird auch nicht durch die Tatsache geschmälert, daß der Leistungssport - wenn auch nicht in der gesamten Breite - auf spezifische Weise geför-dert wurde. Der Großteil der Bevölkerung anerkannte den beson-deren Stellenwert des Leistungssports in der DDR. Bei aller ideo-logischen Ausrichtung und Beeinflussung stand das Sporttreiben der Mitglieder jedoch absolut im Mittelpunkt und vermittelte Freude, Entspannung sowie persönlichkeitsformende Eigenschaften und Fähigkeiten. Auch die in zu großer Menge vorhandenen materiel-len Probleme sowie manche Fehler bei Leitungsentscheidungen trüben nicht das Gesamtbild.
Folgende These läßt sich heute schon vertreten: Das Positive im Sporttreiben - trotz der Mängel - überwog.
5. Kurzchronik
1.10.1948 Konstituierung des Deutschen Sportausschus-ses (DS)
8.2.1950 Volkskammer verabschiedet das Jugendgesetz (I.)
12.5.1950 Gründung der ersten Sportvereinigung („Motor“)
22.10.1950 Eröffnung der Deutschen Hochschule für Körperkul-tur in Leipzig
23.10.1950 Durchführung der ersten DDR-Meisterschaften (im Boxen)
18.1.1951 Verleihung der ersten Sportleistungsabzeichen
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22.4.1952 Gründung des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) der DDR
Mai 1952 Herausgabe der Zeitschrift „Theorie und Praxis der Körperkultur“
24.7.1952 Schaffung des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport
beim Ministerrat der DDR
01.09.1952 Bildung der ersten Kinder- und Jugendsportschulen (in Berlin,
Brandenburg und Leipzig)
01.01.1953 Einführung der einheitlichen Sportklassifizierung
18.-22.08.1954 I. Deutsches Turn- und Sportfest in Leipzig
16.09.1954 Bildung des ersten Sportclubs (SC „Motor“ Jena)
Jan./ Febr. 1956 Erstmaliger Start von DDR-Sportlern bei Olympischen Winter-
spielen (Cortina d' Ampezzo)
27.04.1956 Einführung des Sportabzeichens der DDR
Nov./ Dez. 1956 Erstmalige Teilnahme von DDR-Sportlern an Olympischen
Sommerspielen (Melbourne)
27./ 28.04.1957 Gründung des Deutschen Turn- und Sport-bundes (DTSB)
27./ 28.05.1961 II. Turn- und Sporttag des DTSB
04.05.1964 Volkskammer verabschiedet neues Jugendgesetz (II.)
Juni / Juli 1965 Erstmalige Veranstaltung der Kinder- und Jugendspartakiaden
in den Kreisen und Bezirken
22.-27.02.1966 I. Kinder- und Jugendspartakiade der DDR in den Wintersport
arten
03./ 04.06.1966 III. Turn- und Sporttag des DTSB
24.-31.07.1966 I. Kinder- und Jugendspartakiade der DDR in den Sommer-
sportarten
06.04.1968 Verankerung von Körperkultur und Sport in der neu-en Verfas-
sung der DDR
30./ 31.05.1970 IV. Turn- und Sporttag des DTSB
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17.07.1970 Schaffung des Staatssekretariates für Körperkultur und Sport
beim Ministerrat der DDR
12.08.1970 Bildung des Komitees für Körperkultur und Sport
28.01.1974 Volkskammer verabschiedet neues Jugendgesetz (III.)
24.-26.06.1974 V. Turn- und Sporttag des DTSB
26.-28.05.1978 VI. Turn- und Sporttag des DTSB
18.-20.05.1984 VII. Turn- und Sporttag des DTSB
Januar 1986 Herausgabe der Monatszeitschrift „Start“ als Organ des DTSB- Bundesvorstandes
03./ 04.03.1990 Außerordentlicher Turn- und Sporttag des DTSB
05.12.1990 Letzte Tagung des Bundesvorstandes des DTSB der DDR
Quellennachweis
Autorenkollektiv: Kleine Enzyklopädie Körperkultur und Sport, Leipzig 1979
Autorenkollektiv: Geschichte der Körperkultur in Deutschland, Bd. IV, Berlin 1967
Autorenkollektiv: Körperkultur und Sport in der DDR, Berlin 1982
Autorenkollektiv: Sportwissenschaftliche und trainingswissenschaftliche Grundla-gen für den Übungsleiter. In: Theorie und Praxis der Körperkultur, Beiheft 1, Ber-lin 1982 Autorenkollektiv: Lehrbuch der DHfK: Leitungstätigkeit im Bereich von Körperkul-tur und Sport in der DDR, Leipzig 1986
Autorenkollektiv: Bilder und Dokumente aus der deutschen Turn- und Sportge-schichte, Berlin 1956
Bundesvorstand des DTSB: Lehrprogramm zur Ausbildung von Übungsleitern, Berlin 1989
Bundesvorstand des DTSB: Statut des DTSB, Berlin 1974
Deutscher Sportausschuß: Aufbau und Grundsätze der Demokratischen Sport-bewegung, Berlin 1948
ERBACH, G.: Sportwunder DDR. In MODROW, H.: Das Große Haus, Berlin 1994
HELFRITSCH, W.: Dokumentationsstudie pädagogische KJS-Forschung, Köln 1993
Kinder- und Jugendsportkonferenz des DTSB der DDR am 1.11.85 in Leipzig. In: Theorie und Praxis der Körperkultur, Beiheft 2, Berlin 1985
TEICHLER, H:J:/REINARTZ, K.: Das Leistungssportsystem der DDR in den 80er Jah-ren und im Prozeß der Wende, Schorndorf 1999
Arbeitsmaterialien des Autors
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Tiefschläge ohne Handschuhe
Von JOACHIM FIEBELKORN
Die Angelegenheit könnte als Farce abgetan werden. Zur Zeit, da diese Zeilen aufgeschrieben werden, scheint sie im Sande zu ver-laufen. Aber da es sich um den (hoffentlich nicht nur) zunächst ab-gewehrten Versuch handelt, erneut ein Stück guter ostdeutscher Sporttradition auf den Müll zu tragen, sei ihr doch notwendige Aufmerksamkeit gewidmet.
Wenn in der Sportwelt über Korruption, Schiebungen, bestochene Kampfrichter und ähnliche Unerfreulichkeiten gesprochen wird, fällt mit Sicherheit der Name Anwar Chowdhry, seit 1986 Präsident des Internationalen Amateur-Boxverbandes (AIBA). „Seine Inthronisie-rung wurde unter skandalösen Umständen von Adidas-Chef Horst Dassler organisiert.“ (BERLINER ZEITUNG v. 26./27.8.2000) Den ersten großen Skandal organisierte Chowdhry bei den Olympi-schen Spielen in Seoul, wo „Nachforschungen ergaben, daß rang-hohe Funktionäre für die Manipulation der Medaillenvergabe be-zahlt worden waren.“ (DER SPIEGEL Nr. 22 v. 27.5.1996) Glei-chen Kalibers dürfte der Vizepräsident der AIBA und des Europäi-schen Boxverbandes (EABA), der Türke Doganeli, sein. Der sorgte zum Beispiel im Verein mit Chowdhry dafür, daß ehrliche, dem Boxsport ergebene Männer, wie unter anderen der ehemalige AIBA-Generalsekretär Karl-Heinz Wehr, „durch gefälschte Wahlen ins Abseits gestellt wurden“. (BERLINER ZEITUNG v. 26./27.8.2000)
Nun kommt ein weiterer Name ins Spiel, der des Manfred Jost, langjähriger Organisator eines der bekanntesten und beliebtesten Boxturniere der Welt, der seit 1970 durchgeführten Kämpfe um den Hallenser Chemie-Pokal. Jost, wie Wehr ein Ostdeutscher, und wie Wehr ein Vertreter des sauberen Sports, fand abfällige Worte für Chowdhry, Doganeli und Konsorten, er war auch so ver-wegen, eine ihm von Doganeli zugedachte Ehrung, die ihn wahr-scheinlich gefügiger machen sollte, abzulehnen. Anständige Leute bezeichnen das als moralische Haltung, bei deren Bewertung es Leuten wie Doganeli freilich an Kompetenz fehlt. Folglich schwor Doganeli Vergeltung und ließ per EABA-Vorstandsbeschluß Jost das Amt des Turnierorganisators entziehen und bei Weigerung des
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„Angeklagten“ das Turnier selbst aus dem internationalen Kalender streichen. Diesen Beschluß übrigens initiierte - gleiche Brüder, gleiche Kappen - ausgerechnet der Präsident des Deutschen Ama-teur-Box-Verbandes (DABV), ein Mann namens Graf, wie Doganeli Vizepräsident der EABA, ein Funktionär, „der im Juni 1997 nach einem Handstreich auf dem DABV-Kongreß in Bremerhaven an die Spitze des Verbandes rückte“ (NEUES DEUTSCHLAND v. 20./21.1.2001) und dem seine Kollegen im Präsidium Mitte Januar anläßlich einer Beratung in Frankfurt/Main dringlich wenn auch vergeblich zum Rücktritt aufforderten.
Die Angelegenheit ist inzwischen wahrscheinlich geklärt. Doganeli und sein deutscher Freund Graf scheiterten. „Manfred Jost genießt das Vertrauen des DABV, weil er ein fähiger Mann ist. Es wurde... beschlossen, daß das Turnier mit Jost an der Spitze stattfindet.“ (DABV-Vizepräsident Manfred Schmiler am 26.1.2001 in NEUES DEUTSCHLAND) Die Sache könnte zu den Akten gelegt werden, hätte sie nicht gar zu offensichtlich einen politischen Hintergrund. Herr Graf ist offenbar einer jener Kalten Krieger, denen es Her-zenssache ist, möglichst auch die noch erhaltenen Reste des DDR-Sports zu beseitigen. Diese etwas kühn erscheinende Be-hauptung ist in Taten und Worten des Herrn belegbar. Zunächst besorgte er im Verein mit den übel beleumdeten Chowdhry und Doganeli die „Abwahl“ des Karl-Heinz Wehr als Generalsekretär der AIBA, dann feuerte er ohne Rücksprache mit den Verantwortli-chen den fachlich und menschlich anerkannten ehemaligen DDR-Nachwuchstrainer Stefan Haubrich, der vom DABV als Trainer im Nachwuchsbereich übernommen worden war, um schließlich auch noch den Versuch zu unternehmen, Jost zu maßregeln und das Hallenser Turnier zu liquidieren, das letzte große internationale Amateur-Boxturnier auf deutschem Boden, wohlgemerkt. Der Er-folg seines Treibens im deutschen Boxsport konnte in Sydney be-sichtigt werden. So wie dort hat sich der deutsche Amateur-Boxsport seit Jahrzehnten nicht blamiert.
Jener Graf hatte dann auch noch die Stirn, sich in einer E-Mail am 11.1.2001, gerichtet an die Redaktion JUNGE WELT, als „ausge-sprochener ‘Ossi’-Fan“ zu bezeichnen, um im gleichen Atemzug einen Mitarbeiter der Zeitung, Klaus Huhn, der in einem Artikel Grafs Intrigen beim Namen genannt hatte, als Pfleger „alter Seil-schaften“ zu diffamieren. Diese Seilschaften bestehen offensicht-
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lich aus Wehr und Jost. Daß es Huhn in seinem Artikel weniger um Personen, sehr aber um den Bestand des Turniers ging, kann Graf nicht begreifen. Er will es wohl auch gar nicht.
Manfred Schmiler (Essen) sagt voraus, daß der Präsident des DABV auf dem Verbandskongreß im Mai in Landshut seinen Hut wird nehmen müssen. Dem deutschen Amateur-Boxsport könnte sich da eine Chance eröffnen. Vielleicht springt dann 2004 in Athen schon wieder mehr heraus, als die eine Bronzemedaille beim Debakel in Sydney. Die übrigens errang ein Boxer aus Frank-furt/Oder. Welch ein Zufall!
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Probleme der Einheit im deutschen Sport
Von GUSTAV-ADOLF SCHUR
Gustav-Adolf Schur, Mitglied des Deutschen Bundestages, sportpolitischer Sprecher der PDS-Fraktion, formulierte im Juni 2000 für seine Fraktion Standpunkte zur Einheit im deutschen Sport. Mit dem Abstand von vier Monaten und nach den Eindrücken bei den Olympischen Spielen und den Paralympics in Sydney zeigte sich, daß die Einschätzung noch an Aktualität gewonnen hatte. Er gab seine Einschät-zung dem Sportausschuß des Bundestages in einer Aus-schußdrucksache zur Kenntnis. Nachfolgend zitieren wir dar-aus. (Ausschussdrucksache Nr. 196 vert. am: 7.11.00).
Dem Sport wird attestiert auf dem Weg zur staatlichen Einheit 1990 eine Vorreiterrolle gespielt zu haben. Diese Feststellung hat auch nach 10-jähriger Tiefenprüfung Bestand... Sie stellt sich na-türlich sehr differenziert dar und sollte auch sehr differenziert be-trachtet werden.
...Dem Schulsport im Beitrittsgebiet wurde, wie auf allen Gebieten der Bildung das föderale System vorwarnungslos übergestülpt mit dem Resultat, daß es heute kaum noch Unterschiede in diesen Be-reichen gibt. Der Schulsport im gesamten Deutschland wird von nationalen und internationalen Koryphäen als katastrophal einge-schätzt. Akuter Bewegungsmangel der Kinder und Jugendlichen führt zu starken gesundheitlichen Defiziten. Es tickt eine gesell-schaftliche Zeitbombe... Die Kultusminister-Konferenz (KMK) war und ist nicht in der Lage, das Problem zu lösen. Es geht um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet. (GG; Art. 72 II) Durch konkurrierende Gesetzgebung sollten Rah-menbedingungen für alle Schulen festgeschrieben werden. Ziel-vorgabe ist die tägliche Sportstunde bzw. sind drei Doppelstunden pro Woche. (Mit dieser Regelung würde die noch schlechtere Situ-ation in den Berufsschulen, 70 Prozent aller Jugendlichen sind Auszubildende und derzeitig ohne jegliches Sportangebot, nicht tangiert werden.)
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... „Sport für alle“ ist kaum noch realisierbar, gestiegene Beitragss-ätze führen zu „Mittelstandsvereinen“, das Solidarprinzip wird ver-letzt, Kinder und Jugendliche im Verein werden zu kostenaufwen-digen Ballast. Immer weniger Menschen sind bereit, freiwillige Ar-beit für den Sport zu leisten. Ehrenamtliches Engagement geht kontinuierlich zurück. DSB-Präsident Manfred von Richthofen kon-statiert: „Der Staat zieht sich allem Anschein nach ohne sonderlich schlechtes Gewissen, aus früher als selbstverständlich angesehe-nen Aufgabenstellungen zurück. Das Preis-Leistungsverhältnis der öffentlichen Verwaltung scheint sich unaufhaltsam zu ungunsten der Steuerbürger zu verschieben.“ (April 2000)
Ein weltweit anerkanntes sportmedizinisches Betreuungs- und Versorgungssystem wurde rigoros zerschlagen. Die... Situation in der BRD stellt sich so dar, daß es heute immer noch kein Approba-tionsrecht für Sportärzte gibt. Die Zulassung einer Facharztausbil-dung Sportmedizin ist Kampfziel, sportärztliche Aufnahmetests zur Schuleignung fehlen ebenso wie sportärztliche Untersuchungen für wettkampfaktive Kinder und Jugendliche sowie Seniorensportler. Schon gut praktiziertes Zusammenspiel zwischen Sport und Kran-kenkassen fällt mehr und mehr einer kurzsichtigen Finanzierungs-politik zum Opfer. Berechtigte Forderungen nach Gesundheitslehre oder Prävention im Fächerkanon der Schulen werden immer wie-der vom Rotstift liquidiert.
...Zehn Jahre nach der deutschen Einheit wird offiziell erklärt, es gibt zu den entideologisierten Kinder- und Jugendsportschulen, heute „Eliteschulen des Sports“ keine Alternative. Wer internatio-nale Spitzenleistungen will, muß diesen Weg gehen. Ca. 70 Pro-zent der Olympiamannschaft von Sydney wurde in den 21 Elite-schulen des Ostens ausgebildet. Im alten Bundesgebiet sind bis-her 12 Partnerschulen des Sports entstanden, Tendenz steigend (ganz neu: München als reine Fußballschule der drei Erstbundes-ligavereine). Das „Wie“ an diesen Einrichtungen gehört zu den Schwachstellen, Internatskosten sind nicht erschwinglich, Schul-zeitstreckungen oder Spreizungen bleiben ungeklärt, Nachfolgere-gelungen für Ausbildungs- und Studienplätze sind nebulös. Der Wechsel in ein Leben nach dem Leistungssport wird nicht vorberei-tet. Zahlreiche, gut vorbereitete Talente springen ab. Selbst in die-sem Bereich erfolgt noch keine optimale, planmäßige medizinische Betreuung und Versorgung.
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...Mehr als zwei Drittel aller Medaillen bei Europa- und Weltmeis-terschaften sowie bei Olympischen Spielen wurden nach der Wen-de bis heute von Aktiven aus „Neufünfland“ errungen. Die Förde-rung des Hochleistungssports wird weitestgehend durch das BMI gewährleistet. Positiv, eine zunehmende Ausdehnung auf den Pa-ralympicsbereich. Bezuschussungen durch den Bund erfolgen fast ausschließlich leistungsbezogen, diese Tendenz wird für zahlrei-che traditionelle Sportarten, die wenig kommerziell und medial ab-schöpfbar sind, über kurz oder lang zur Bedeutungslosigkeit füh-ren. Der Hochleistungsbereich wird bedingungslos dem Profitstre-ben verfallen.
FAZIT: Zehn Jahre nach der Vereinigung hat sich die sportliche Si-tuation deutschlandweit angeglichen. (Ausnahme: Sportstätteninf-rastruktur, die auch nach 30 Jahren noch „westlastig“ begünstigt sein wird). Sie ist ungenügend in allen angeführten Teilbereichen. Perspektivisch positive Entwicklungsmöglichkeiten wären möglich: wenn über politische Regelungen wirtschaftliche Allmacht ge-bremst werden kann und gemeinsam mit dem DSB neue Struktu-ren entsprechend veränderter gesellschaftlicher Gegenheiten Rea-litäten werden (Aufgabe einer Deutschen Sportkonferenz).
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Nach zehn Jahren neues Licht in einer alten Sportlandschaft*)
Von VOLKER KLUGE
Unter den Erfolgen, die der Deutsche Sportbund aus Anlaß seines 50-jährigen Bestehens im Dezember 2000 für sich verbuchte, zähl-te auch der „Aufschwung Ost“. Und in der Tat: Die Anstrengungen der letzten Dekade haben sich ausgezahlt. Eine alte Sportland-schaft strahlt in neuem Licht, doch Blütenträume reiften nirgends.
Als die fünf neuen Landessportbünde am 14./15. Dezember 1990 in Hannover dem DSB beitraten, brachten sie als Mitgift lediglich 1,064 Millionen Mitglieder ein. Zehn Jahre später können sie auf ca. 1,745 Millionen verweisen, wozu noch etwa 132.000 Mitglieder aus den östlichen Stadtteilen Berlins zu rechnen sind, was einem Viertel des Berliner LSB entspricht. Die Zahlen im einzelnen:
Bundesland
1990
2000*
Organisati-onsgrad
Brandenburg
262.000
274.333
10,40 %
Mecklenburg-Vorpommern
121.788
195.073
10,87 %
Sachsen-Anhalt
200.000
400.000
14,00 %
Sachsen
290.000
520.000
11,10 %
Thüringen
190.000
356.000
15,00 %
* Sämtliche Angaben stammen von 1999
Eine solche Bilanz kann sich sehen lassen, doch sie wäre besser ausgefallen, wenn dem Osten inzwischen nicht seine Sportangler abhanden gekommen wären, die zwischen Werra und Oder mehr-heitlich im Deutschen Anglerverband e.V. (ehemals „der DDR“) or-ganisiert sind, der bekanntlich nicht dem DSB angehört. Dem LSB Brandenburg beispielsweise gingen so Mitte der 90er Jahre rund 90.000 Mitglieder verloren.
Doch eine allein quantitative Analyse der Entwicklung im Osten ist ohnehin wenig hilfreich. An den Zahlen, wie sie von den Potsdamer Sportsoziologen Jürgen BAUR und Sebastian BRAUN vorgelegt wurden (so im DSB-Jubiläumsbuch „Der Sport - ein Kulturgut un-
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serer Zeit“), kann man sich zwar berauschen, aber Steigerungsra-ten von 54 Prozent bei den Mitgliedern und 45 Prozent bei den Vereinen (im Vergleich: zwölf bzw. sieben Prozent für den Westen) sind kaum aussagekräftig, wenn der davor liegende Zeitraum un-berücksichtigt bleibt. Verschwiegen wurde nämlich die erdrutschar-tige Entwicklung des Jahres 1990, als dem Deutschen Turn- und Sportbund der DDR in seiner Endphase binnen weniger Monate die Sportlerinnen und Sportler in Scharen davonliefen. Allein in Thüringen mußten zwischen Frühjahr und Dezember 1990 150.000 Mitglieder gestrichen werden. Es hat zehn Jahre gedauert, bis das Ausgangsniveau wieder erreicht wurde und teilweise - wie in Thü-ringen - überboten werden konnte. Zur Erinnerung: In seinen bes-ten Zeiten hatte der DTSB immerhin einmal dreieinhalb Millionen Mitglieder.
Zwar hat der Osten seit 1991 einen beispiellosen Gründungsboom erlebt, aber es kann dabei nicht übersehen werden, daß diese „neu-en“ Vereine meist aus den alten Sportgemeinschaften hervorgegan-gen sind; denn diese waren schon bald nach der „Wende“ gezwun-gen, sich neu zu orientieren, da mit dem Ende der DDR fast immer auch deren Trägerorganisationen (Betriebe oder Produktionsgenos-senschaften, die die Rolle von Sponsoren einnahmen) verschwan-den. Hinzu kam in den letzten Jahren eine Aufsplitterung nach dem Prinzip der Zellteilung, was eine Vielzahl von Kleinst- und Kleinverei-nen hervorbrachte. BAUR/BRAUN rechnen 90 Prozent der Ost-Vereine dazu (im Westen 65 Prozent). Gerade diese Entwicklung ist eigentlich bedauerlich, da sich damit für viele Ost-Vereine aufgrund der geringen Einnahmen die Möglichkeiten noch weiter verschlech-tern, jemals Sportstätten als Eigentum zu erwerben, obwohl die Be-dingungen dafür doch häufig günstig sind. So hat der Berliner Senat ein Sonderprogramm ins Leben gerufen, das vor allem Wasser-sportvereinen die Chance bietet, Seegrundstücke zu einem Viertel des Bodenrichtwertes zu kaufen. Diese Eigentumsfrage könnte in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen, da immer mehr Kommunen wegen ihrer schlechten Haushaltslage dazu übergehen, für die Be-nutzung von Sportstätten Gebühren zu verlangen.
Zwar ist der Sport im Osten im Gegensatz zur Mehrzahl der alten Bundesländer in allen Landesverfassungen verankert, doch für diese Willensbekundungen allein konnte sich bisher noch kein Verein etwas kaufen...
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Das ein solches System freilich in dem Moment an seine Grenzen stößt, wenn große Summen auf dem Spiel stehen, hat schlaglicht-artig der Abgang von 800-m-Olympiasieger Nils SCHUMANN ge-zeigt, der auf dem Weg nach oben von der Baustoffirma Creaton Großengottern gesponsert worden war. Der „Sportler des Jahres“, der noch in Sydney seinen Marktwert auf eine Million taxierte, wird durch seine körperliche Anwesenheit zwar weiter die Vorzüge Thü-ringens genießen, seinen Namen aber einem eng mit einem ame-rikanischen Sportartikel-Riesen verbandelten Berliner Verein lei-hen. Sponsoring bleibt im Osten weiterhin ein Fremdwort, und da-ran wird sich solange nichts ändern, wie dort die Wirtschaft krän-kelt. Denn die Großbetriebe, die sich in der Sportförderung enga-gieren könnten, sind heutzutage beinahe nicht mehr vorhanden, und auch gut betuchte mittelständige Unternehmen bleiben vorerst Mangelware. Nachdrücklich spiegelt sich das bei der Zahl der Großvereine wider. Während das kleine Thüringen rund 25 Verei-ne mit über 1000 Mitgliedern besitzt, verfügt der gesamte Freistaat Sachsen lediglich über zwanzig. Den größten Verein mit 3700 Mit-gliedern leistet sich die Leipziger AOK. Wie die Verhältnisse zwi-schen Ost und West auseinanderdriften, läßt sich auch oder gera-de in Berlin nachvollziehen, wo von den 31 Großvereinen (über 2000 Mitglieder) ganze drei im Osten existieren. Während die alten Bundesländer auf einen Organisationsgrad von 28 Prozent verwei-sen können (das Saarland und Rheinland-Pfalz bilden mit 41 bzw. 37 Prozent die Spitze), kommt der Osten derzeit kaum über 12 Prozent hinaus. Diese Tendenz zeigt sich auch in Berlin, wo etwa 18 Prozent dem Westen und nur sieben Prozent dem Osten zuzu-ordnen sind. Freilich fällt eine exakte Einordnung in Berlin beson-ders schwer, da eine Integration und Vermischung der beiden früheren Stadthälften seit langem stattfindet.
Dennoch fällt auch hier auf, daß die Ost-Vereine anders zusammen-gesetzt sind als ihre westlichen Pendants. Während im Westen nur 60 Prozent der Vereinsmitglieder zu den Aktiven gerechnet werden (der Rest sind passive, also lediglich zahlende Mitglieder), sind das im Os-ten 80 Prozent, und davon die meisten noch Kinder und Jugendliche; eine Tatsache, die von BAUR/BRAUN negativ bewertet wird, da sich ih-rer Meinung nach darin „altes Denken“ widerspiegelt. Als Folge vermu-ten die Autoren, die glauben machen wollen, daß in der DDR selbst
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der Massensport nach dem Leistungsprinzip organisiert worden wäre, „eine Immunisierung gegen Neuerungen“.
Übersehen wird freilich dabei, daß der DTSB eine Sportorganisation war, der vor allem viele junge Leute angehörten, die kaum mit „Trimm-Aktionen“ westlichen Stils zu begeistern gewesen wären. Doch leider war es auch so, daß diese Kinder und Jugendlichen, die irgendwann dem Spartakiade-Alter“ entwachsen waren, dem DTSB in Massen den Rücken kehrten, meistens weil Schule und Lehre zu Ende waren, häufig aber auch, weil sie ihre aktuellen Interessen nicht mehr berücksichtigt sahen. Niemals erreichte deshalb der DTSB sein selbstgestecktes Ziel, größere Bevölkerungsgruppen der älteren Generation für eine Mitgliedschaft zu gewinnen.
Diese „Tradition“ ist inzwischen im Osten wohl sogar noch schärfer zu Tage getreten; denn nach der „Wende“ stand bei den meisten Menschen die Sorge um den Arbeitsplatz im Vordergrund. Wer heu-te noch einen solchen hat, ist oft gezwungen, lange Fahrtwege in Kauf zu nehmen, was sich für den Sport besonders auf dem „flachen Land“ nachteilig bemerkbar macht. Allerdings spielen auch Verwei-gerungshaltungen und Frust eine Rolle, was nicht selten die Folge überzogener westlicher Kritik am verblichenen DDR-Sport ist, die viele als Infragestellung der eigenen Biographie bewertet haben. Hinzu kommt, daß die ohnehin dünn besiedelten ländlichen Regio-nen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns im letzten Jahr-zehnt einen beispiellosen Aderlaß an jungen Leuten hinnehmen mußten, da diese dorthin gingen, wo es noch Arbeit gibt...
*) NOK-Report Nr. 1/2001, S.10-12
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DAV - Den Anglerinteressen verpflichtet
Von BERND MIKULIN und MICHAEL WINKEL
Der Deutsche Anglerverband e.V. (DAV) wurde am 23. und 24. Oktober 1954 von den sechs Landesanglerverbänden der DDR gegründet und gehörte schließlich zu den mitgliederstärksten Sportverbänden. Lediglich dem Fußballverband gehörten mehr Mitglieder an.
1990 formierte sich der DAV von unten nach oben auf demokrati-scher Grundlage neu - Vereine, Kreisverbände, Landesverbände und Spitzenverband. Damit ist er der einzige aus der DDR hervor-gegangene Sportverband dieser Größenordnung, der nach dem Beitritt der DDR zur BRD nicht automatisch mit dem Partnerver-band aus der einstigen Bundesrepublik Deutschland fusionierte. Das Bewußtsein eigener Stärke, die Arbeiterangler- und sonstigen guten Traditionen sowie das Erleben der ersten Auswirkungen der überhasteten Vereinigung anderer Verbände, gepaart mit einigen „Ungeschicklichkeiten“ der damaligen Vertreter des Verbandes Deutscher Sportfischer (VDSF) waren sicher die Gründe dafür, daß die Delegierten der Verbandstage 1991 und 1992 mehrheitlich für den eigenständigen Fortbestand ihres Verbandes, des DAV, votierten.
Wir sind fest davon überzeugt, daß sich unser Verband in der de-mokratischen Landschaft der neuen, größeren Bundesrepublik Deutschland bisher behaupten konnte, weil wir basisdemokratische Kultur nicht neu buchstabieren lernen mußten. Den unverfälschten Willen der Bevölkerung, insbesondere aber der Mitglieder des DAV Rechnung zu tragen, das ließen sich unsere Vereine vor Ort nicht nehmen. Deshalb konnten wir nach der Wende leichter demokrati-sche Strukturen vor allem auf Landes- und Bundesebene neu for-mieren. Trotzdem hat es eine Weile gedauert, bis wir den DAV auf einen neuen Kurs unter für uns neuen und sehr oft ungewohnten gesellschaftlichen Bedingungen gebracht hatten. Wir haben es gemeinsam geschafft, mußten aber seit 1990 viel dazulernen. Die speziellen Regelungen in der Fischerei wurden durch den Födera-lismus zum Teil komplizierter und unübersichtlicher. Dennoch ge-lang es, um nur ein Beispiel zu nennen, die Qualifikation unserer Mitglieder für das Raubfischangeln als Befähigungsnachweis aner-
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kennen zu lassen, so daß unsere Mitglieder den Fischereischein ohne zusätzliche Prüfung erhielten.
Heute ist der DAV ein für alle aus der gesamten Bundesrepublik offener, demokratischer und föderalistisch organisierter Spitzen-verband mit 240.000 Mitgliedern, der bundesweit vertreten und an-erkannt ist. Während sich ehemalige DAV-Organisationen in den neuen Bundesländern dem VDSF anschlossen, sind inzwischen etwa 50.000 Angler aus den alten Bundesländern dem DAV beige-treten. Der DAV wird - wie auch seine Landes- und Kreisverbände - durch einen Präsidenten ehrenamtlich geführt. Seit dem außeror-dentlichen DAV-Verbandstag am 21. April 1990 in Bad Schmiede-berg ist das Bernd MIKULIN, der am 20. Oktober 2000 von der DAV-Hauptversammlung für eine weitere Amtsperiode von fünf Jahren wiedergewählt wurde.
Der Deutsche Anglerverband bekennt sich zu den Traditionen der Arbeiter-Angler-Bewegung, versteht sich als eine starke Solidar-gemeinschaft und sorgt durch seine kompetente Zusammenarbeit mit dem Bund, den Fischerei- und Naturschutzverbänden, den Ländern und Kommunen, getreu seinem Grundsatz „Angeln ist mehr als nur Fische aus dem Wasser ziehen“ dafür, daß das An-geln als unverzichtbare Dienstleistung für Natur und Gesellschaft weiterhin sozial verträglich sowie zur Freude der Anglerinnen und Angler ausgeübt werden kann. Mit unserem Ehrenkodex, den Posi-tionspapieren zum Natur- und Gewässerschutz, zur Unterstützung speziell der arbeitslosen Anglerinnen und Angler und zum Kinder-angeln sowie mit unserer Kooperationsvereinbarung mit den Na-turFreunden - all diese Instrumente der Verbandsarbeit haben üb-rigens international große Beachtung gefunden - verfügt der DAV über eine moderne, wirksame und zugleich in unseren Wurzeln verankerte, den Interessen unserer Mitglieder dienende Philoso-phie, die sich auch in Zukunft bewähren wird.1
Im Ergebnis all unserer Bemühungen ist Angeln für unsere Mitglie-der ein bezahlbares Hobby geblieben, für das eine Vielfalt hervorra-gender Gewässer mit einem ebenso guten Fischbestand zur Verfü-gung steht. Und der Anglerverband versucht, jedem - ob arm oder reich - eine Freizeitbeschäftigung zu ermöglichen, die der Natur und der Gesellschaft nützt, großen Spaß macht und gesund erhält.2 Drei Beispiele sollen das belegen:
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- Unsere Überlegungen zur Lage und Interessenvertretung der ar-beitslosen Mitglieder des DAV gehen davon aus, daß 90 Prozent der Bevölkerung die Massenarbeitslosigkeit als größtes gesell-schaftliches Problem ansieht und demzufolge der DAV geradezu die Pflicht hat, seiner sozialen Verantwortung gegenüber seinen Mitgliedern gerecht zu werden und die Interessenvertretung der arbeitslosen DAV-Mitglieder mit gewährleisten zu helfen. Schwä-chung der Kraft des DAV durch Arbeitslosigkeit bedeutet Schwä-chung des Schutzes der Natur und damit letztlich Schwächung der Lebensqualität der Gesellschaft. Insofern muß der DAV die Zu-sammenarbeit mit allen „verwandten“ Verbänden suchen, insbe-sondere mit solchen, die sich ebenfalls dem Natur- und Umwelt-schutz verpflichtet fühlen. Wir hätten schon viel erreicht, wenn sich jeder Verein seinen arbeitslosen Mitgliedern zuwendet und mit nach Wegen sucht, wie geholfen werden kann. Hier brauchen wir den Ideenreichtum und das aktive Handeln all unserer Mitglieder, um gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen, den kommuna-len Behörden und den Arbeitsämtern zu überlegen, welche Mög-lichkeiten gesehen werden, Arbeitsplätze zu schaffen, besonders auch durch ABM-Projekte speziell für den Natur- und Gewässer-schutz sowie für die Fischaufzucht.3
- Der DAV versteht sich selbstverständlich auch als Interessenver-treter der Behinderten. Der Handicap Anglerverband (HAD) im DAV wurde 1997 gegründet. Er organisiert inzwischen Angler in elf Bundesländern und fühlt sich für die rund 30.000 Mitglieder mit verschiedenen Behinderungen verantwortlich. Präsident des HAD ist Roger BACH, der selbst auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Ziel des DAV ist es, mit Unterstützung des HAD und in enger Zusam-menarbeit mit den Ländern und Kommunen in jedem Landkreis Deutschlands einen behindertengerechten Angelplatz zu schaffen und dadurch die Barrierefreiheit für Behinderte in allen Bereichen des Lebens, also auch beim Angeln zu sichern. Die ersten Behin-derten-Angelplätze in Berlin wurden am 10. Mai vorigen Jahres am Weißensee feierlich eingeweiht. In partnerschaftlicher Zusammen-arbeit zwischen dem Grundstückspächter und dem Restaurantbe-treiber des „Milchhäuschens“, dem DAV-Landesverband Berlin als Fischereipächter und dem Naturschutz- und Grünflächenamt des Stadtbezirkes können behinderte Angler nun ihrem Hobby nach-
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gehen und vor allem Karpfen, aber auch Aal, Barsch und Hecht überlisten.4
- Unser Verband kümmert sich wie kaum ein anderer in Deutsch-land um Kinder und Jugendliche. Etwa 32.000 unserer Mitglieder haben das 16. Lebensjahr noch nicht erreicht. In Fortführung der Traditionen der Arbeiter-Anglerbewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland sowie der eigenen Erfahrungen unseres Verbandes nach dem Zweiten Weltkrieg engagiert sich der DAV seit seiner Gründung für eine interessante Kinder- und Jugendarbeit in seinen Vereinen. Für die Gründungsväter unseres Verbandes war es 1954 selbstver-ständlich, neben der Satzung auch eine „Richtlinie für die Jugend-arbeit“ zu beschließen. Ausgehend davon wurden dann unter an-derem die sogenannten „Kinder-Angelgewässer“ eingerichtet, an denen Mädchen und Jungen bis zum Alter von 14 Jahren ihrem Hobby nachgehen konnten, ohne eine Angelberechtigung zu benö-tigen.5 Die Einbeziehung und aktive Mitgestaltung von Kindern und Jugendlichen, vor allem bei der Hege und Pflege der Gewässer und ihrer Uferregionen mit der dort vorkommenden Tier- und Pflanzenwelt, ist deshalb seit jeher fester Bestandteil des Ver-bandslebens. Die nun schon über viele Jahrzehnte vorliegenden Erfahrungen belegen eindeutig, daß Kinder mit dem Erreichen der Schulreife auch fähig und in der Lage sind, sich für die Natur zu begeistern und zu lernen, diese zu schützen und zu pflegen. Kin-der sind fähig, nach einer fachkundigen Anleitung durch Erwach-sene mit allem notwendigen Angelgerät samt Zubehör sachgerecht umzugehen, Fische aus dem Wasser zu ziehen, sie tierschutzge-recht zu töten oder aber - entsprechend den Schutzbestimmungen - schonend ins Wasser zurückzusetzen. Die Gleichzeitigkeit von Schulreife und Naturreife ermöglicht es Kindern und Jugendlichen, die Natur in ihrer Komplexität zu erleben und zu begreifen. Schule und aktive Betätigung in der Natur ergänzen einander in idealer Weise. Angeln ist ein uraltes Gemeingut der Menschheit und eine in Jahrtausenden gewachsene kulturelle Tradition, die Kindern und Jugendlichen nicht vorenthalten werden darf. Vielmehr kommt es darauf an, so früh als möglich dauerhafte emotionale und rationale Bindungen an die Natur schaffen und ein tiefes Verständnis für die Natur ausbilden zu helfen. Angeln - sachgerecht ausgeübt - er-möglicht das.6
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Trotz unserer Bemühungen und der über Jahrzehnte bewährten Erfahrungen sah sich der DAV mit der Forderung konfrontiert, Kin-dern und Jugendlichen unter 16 Jahren das Angeln zu verbieten, weil sie angeblich nicht tierschutzgerecht mit Fischen umgehen können. Stellungnahmen aus allen Teilen Deutschlands und Euro-pas, von Politikern, Sportfunktionären, Künstlern und vor allem der Eltern wiesen dieses Ansinnen zurück.7 So schreibt zum Beispiel Espen FARSTAD, Vorstandsmitglied der European Anglers Alliance (EAA), Region Nord, aus Norwegen: „Wir haben nicht gewußt, daß es Menschen gibt, die darauf hinarbeiten, daß das Angeln für Kin-der unter 16 Jahren ... verboten wird. Ehrlich gesagt, wir sind ziem-lich sckockiert. In den nordischen Ländern (Dänemark, Schweden, Finnland und Norwegen) haben wir eine lange Tradition in der För-derung des Angelns für Kinder.“8 Und der Vizepräsident der EAA, Region Süd, Gilbert MARSOLLIER teilt in einem Brief aus Frankreich mit: „Ich bin wirklich sehr erstaunt, daß einige Leute darüber nach-denken, Angeln für Kinder unter 16 Jahren zu verbieten... Sie ha-ben unsere ungeteilte Unterstützung, daß Angeln für Kinder ein großartiges naturverbundenes Hobby ist.“9 Und eine Mutter läßt uns wissen: Ich „war zuerst skeptisch, als sich unser Sohn zusätz-lich für den Angelsport entschieden hat. Ich war der Meinung, ein Hobby reicht und Angeln - na ja - ...! Aber siehe da, unser Daniel lernte ‘freiwillig’ und sogar mit Freude... Tierschutz muß sein, aber man sollte die Probleme nicht am falschen Ende anfassen.“10 Der Präsident des Landesverbandes Brandenburg, Eberhard WEICHENHAN, rief die Mitglieder aller Verbände zu einer Unter-schriftensammlung auf, der DAV legte eine Positionspapier vor, dem sich die verschiedenen Landesanglerverbände anschlossen, Kinder und Jugendliche unseres Verbandes mobilisierten mit eige-nen Erklärungen die Öffentlichkeit, die Landesverbände reagierten mit unterschiedlichen Aktivitäten, beispielsweise der Landesver-band Brandenburg mit der Eröffnung einer Angelschule für Kinder und Jugendliche.11 Anläßlich einer Pressekonferenz des DAV am 20. Juli 2000 informierte Dr. Siegfried UHL über das von Professor Dr. Wilfried BOS und ihm verfaßte Gutachten über „Die erzieheri-sche Bedeutung des Angelns“.12 Und schließlich wurde der DAV infolge der Kampagne spontan in den „Royal Fishing Club“ aufge-nommen, der vor allem im Rahmen der „Royal Fishing Kinderhilfe“ sozial benachteiligten Kindern ermöglicht, an Fischereischeinlehr-
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gängen teilzunehmen, um dann die Freizeit sinnvoll gestalten zu können.
Bilanzieren wir vor allem das in den letzten zehn Jahren Geleistete, können wir sagen, es war nicht immer einfach, viel Kraft und Arbeit waren erforderlich, um den DAV zu dem zu machen, was er heute ist - ein anerkannter Anglerverband, der aus Deutschland nicht mehr wegzudenken ist. Vieles bleibt aber noch zu tun. Dazu gehö-ren vor allem:
- Das verläßliche Bündnis mit den Berufsfischern. Das Herz der Binnenfischerei schlägt im Osten Deutschlands, in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Wir im DAV sind dafür und stellen uns vor, daß die Fischereireferenten dieser Länder, wir Angler und selbstverständlich die Fischereiverbände ihre Kräfte bündeln und dazu auch regelmäßig zusammenkommen. Zugleich sollte die Zu-sammenarbeit mit unseren Bündnispartnern in Polen, Tschechien und der Slowakei intensiviert werden. Leider ist in Deutschland das Fischereirecht Landesrecht. Deshalb ist die Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage, die Binnenfischerei im Rahmen der Europäischen Union in Brüssel hinreichend zu vertreten. Insofern ist es zunächst notwendig, in einem ersten Schritt die Fischereige-setze in unserem Lande wenigstens einander anzugleichen, um dann im Rahmen der EU mit größerer Kraft und Fachkompetenz etwas für die Berufsfischer und für die Angler erreichen zu kön-nen.13
- Nach wie vor bekräftigen wir den seit zehn Jahren vertretenen Standpunkt, dem Verband Deutscher Sportfischer (VDSF) die Hand zu reichen um im Interesse der deutschen Anglerschaft bun-desweit eng zusammenzuarbeiten und künftig mit einer Stimme zu reden. Ganz in diesem Sinne hat der Präsident des DAV am 20. Oktober 2000 erstmals vor den Delegierten der Hauptversamm-lung des VDSF in Ulm unseren Standpunkt erläutert und Vorschlä-ge für die gemeinsamen Anstrengungen unterbreitet. Dazu gehö-ren die bundesweite Zulassung des Setzkeschers, die Unterstüt-zung für das Kinderangeln und gemeinsame Mannschaften der beiden Anglerverbände bei Welt- und Europameisterschaften.
Erstmals seit zehn Jahren sprach auch der Präsident des VDSF, Prof. Werner MEINEL, anläßlich der Jahreshauptversammlung des DAV am 21. Oktober vorigen Jahres vor den Delegierten unseres Verbandes. In der von allen mit Spannung erwarteten Rede revi-
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dierte er die bisherige Haltung seines Verbandes, den DAV auszu-grenzen, akzeptierte die Existenz zweier selbständiger Verbände und schlug vor, künftig im Gleichschritt zu marschieren und die Ziele der Angelfischerei gemeinsam durchzusetzen.14 Natürlich müssen nun diesen Worten auch Taten folgen. Unsere Hand bleibt ausgestreckt. Aber eine Vereinigung unter der Flagge des VDSF wird es nicht geben. Diesbezüglich gilt nach wie vor und uneinge-schränkt das demokratische Votum der Mitglieder unseres Ver-bandes.15
- Der DAV ist ein kompetenter Naturschutzverband, der gemein-sam mit vielen anderen für den Schutz der Natur und Umwelt wirkt und zum Beispiel seine Kräfte mit den NaturFreunden in Deutsch-land bündelt.16 Deshalb „unterstützt der Deutsche Anglerverband mit allem Nachdruck den ‘Verhaltenskodex für eine verantwortungsbe-wußte Fischerei’ der Welternährungsorganisation (FAO) der Verein-ten Nationen (Rom 1995). Berufsfischer und Angler müssen sich der Tatsache bewußt sein, daß eine nachhaltige fischereiliche Nutzung der Gewässer nur möglich ist, wenn der Charakter der aquatischen Ökosysteme erhalten bleibt und die Wasserpflanzen und -tiere durch die Befischung in ihrem Bestand nicht gefährdet werden... Gewäs-serschutz und Gewässerbewirtschaftung stellen keine Gegensätze dar und schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie sind vielmehr als Einheit zu betrachten, und alle menschlichen Aktivitäten und Maß-nahmen an den Gewässern müssen beiden Belangen Rechnung tragen.“17
Und - das abschließend - der DAV ist ein international geachteter Verband, der sich für die Verstärkung gemeinsamer internationaler Bemühungen zum Erhalt und zum Schutz der Gewässer einsetzt. Er ist seit 1957 Mitglied des Weltanglerverbandes, der Confédéra-tion Internationale de la Pêche Sportive (C.I.P.S.); arbeitet seit 1995 gemeinsam mit dem VDSF als Vertreter Deutschlands im eu-ropäischen Anglerverband, der European Anglers Alliance (EAA) und wirkt aktiv in der Zentraleuroparegion der EAA mit. Er leistet einen aktiven Beitrag im Prozeß der wissenschaftlichen Fundierung unseres Anliegens und der internationalen Kommunikation, stets dem Gemeinwohl und den Anglerinteressen verpflichtet.18
ANMERKUNGEN
1) Vgl. Zehn Jahre erneuerter DAV. Angeln und Fischen. Mitteilungen... 4/2000, S. 1
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2) Vgl. MIKULIN, B.: Der DAV ist aus Deutschland nicht mehr wegzudenken. Angeln und Fischen 6/2000, S. 2
3) Vgl. Überlegungen des DAV zur Lage und Interessenvertretung insbesondere seiner arbeitslosen Mitglieder. In: DAV (Hg.): Pro Natur. Berlin, Januar 2001, S. 36
4) Vgl. Barrierefreiheit für behinderte Angler. In: Pro Natur. A.a.O., S. 29 ff
5) MIKULIN, B.: Zum Geleit. In: DAV (Hg.), Angeln ist für Kinder Natur- und Heimat-kunde. Dokumentation. Berlin, Januar 2001, S. 5 f
6) Vgl. Positionspapier des Deutschen Anglerverbandes e.V. (DAV) zum frühzeitigen Heranführen der Kinder an die Natur und an das Angeln. In: Pro Natur. A.a.O., S.42 ff
7) Vgl. DAV (Hg.): Angeln ist für Kinder Natur- und Heimatkunde. A.a.O.
8) Ebenda, S. 29
9) Ebenda, S. 30 f
10) Ebenda, S. 31 f
11) Vgl. ebenda, S. 44 ff, S. 57
12) Vgl. BOS, W./UHL, S.: Die erzieherische Bedeutung des Angelns. Gutachten. In: An-geln ist für Kinder Natur- und Heimatkunde. A.a.O., S. 17 ff
13) Vgl. MIKULIN, B.: A.a.O.
14) Vgl. DAV-Hauptversammlung... In: Angeln und Fischen 12/2000, S. 1
15) Vgl. MIKULIN, B.: A.a.O.
16) Vgl. Positionspapier des DAV zum Schutz von Natur und Umwelt. In: Pro Natur. A.a.O., S. 46 f
17) DAV für die Verstärkung gemeinsamer internationaler Bemühungen... Ebenda, S. 76 f
18) Vgl. ebenda, S. 37
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Ein alarmierendes Kapitel Amateur-Boxsport
Von OTTO JAHNKE
Das achte Treffen der Box-Senioren vom 26. bis 28. Mai 2000 in Wismar war eben vorüber, da erreichte die Teilnehmer bereits die briefliche Einladung zum nächsten Treff vom 25. bis 27. Mai 2001, wieder in der Hansestadt Wismar. Unterschrift: Fiete VON THIEN.
Präzises Arbeiten und Planen zeichnen den engagierten Organisa-tor, Sportlehrer, Trainer und Pressewart des Amateur-Boxverban-des Mecklenburg-Vorpommerns von jeher aus. So kennt man ihn in Wismar, und das weiß man auch in anderen Gegenden zu schätzen. Die Traditionstreffen werden in der Öffentlichkeit beifällig aufgenommen und unterstützt. Denn, das wissen die Alten wie die Jungen: Der Boxsports war einst in Mecklenburg-Vorpommern au-ßerordentlich populär. „Traktor Schwerin“, betonte selbstbewußt Fiete VON THIEN, „war einst der kampfstärkste Boxclub der Welt.“ Daran erinnert man sich gern, und darum reisen aus dem gesam-ten Bundesgebiet mittlerweile ergraute Herren, die einst für Schlagzeilen sorgten, in Begleitung ihrer Gattinnen erwartungsfroh an.
Den weitesten Weg hatte beim letzten Treffen der populäre Wis-marer Schwergewichtler Herbert PETH aus Siegen. Werner RÄSCH kam aus Leipzig. Sein Landesfinalkampf von 1949, den er gegen den Ribnitzer Ko-Matador Ernst KAHRMANN gewann, war damals die Sensation der Schweriner Endkämpfe. Andere freuten sich, den mehrfachen DDR-Meister Herbert BRIEN begrüßen zu können. Rudi DONNER, ein Warnemünder Urgestein, in 160 Kämpfen er-probt, lud die vierzig Sportfreunde zu einem festlichen Essen ein. Interesse fand der Besuch im Pilsmuseum in Hinrichshagen. Voller Respekt betrachteten wir die große Trophäensammlung, ebenso interessant verlief die Tour nach Rostock und Warnemünde...
Im Kreis der Veteranen des Boxsports fällt Karl BULLERJAHN weni-ger auf. Er ist eher ein stiller doch aufmerksamer Betrachter, der seine Umgebung genau beobachtet und sich von der jährlichen Traditionsveranstaltung angesprochen fühlt. Für ihn zählen diese Treffen, wie er mir während eines Gesprächs in seiner uckermärki-schen Heimatstadt Templin sagte, mit zu den besten Ideen und Ini-tiativen des Amateur-Boxverbandes. Der inzwischen 73jährige war
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bei allen Treffen dabei. Dadurch werde aus seiner Sicht auch das „Miteinander in den Sektionen und Vereinen gefördert“. Ihn erinne-re das an Gedanken von August BEBEL, auch von Theodor FONTANE, die für die Bildung und Förderung von Vereinen plädier-ten. Die Literatur nennt dafür nicht wenig Beispiele. Theodor FONTANE: „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lie-ben, aber für das Neue sollen wir doch leben.“
Karl BULLERJAHN kann auf ein vielseitiges sportliches Leben zu-rückblicken. Vierzig Jahre diente er in den Reihen der Volkspolizei. 1948 begann er in Greifswald im Leichtgewicht mit dem Boxsport. Seine Schnelligkeit und Schlagkraft waren berühmt, seine Aktionen im Ring oft begleitet von dem Ruf: „Zeig Deine Rechte!“ Insgesamt bestritt er 60 Kämpfe, wurde 1949 Landesmeister der Volkspolizei, zwei Jahre darauf verteidigte er in Ludwigslust seinen Titel. Auch in anderen Sportarten errang er Siege und belegte vordere Plätze. So errang er den Titel als Landesmeister der Volkspolizei im 1500-m-Lauf in 4:45,4 min, wurde auch Vizemeister über 800 m. Wie zur Bestätigung wies er auf seine vielen Urkunden, die seine sportli-chen Leistungen belegen. Sporttreiben war für den Polizisten ein-fach lebensnotwendig. „Ich war mit Leib und Seele bei der Volks-polizei“, bekannte er. 1954 bestritt Karl BULLERJAHN seinen letzten Boxkampf im Weltergewicht. Auch im Rentenalter ist er sportlich aktiv, Vorrang habe aber nun das Wandern... Karl wuchs in einer Familie mit acht Kindern auf, er erblickte in Kolberg das Licht der Welt. Seine Eltern waren Melker, Bauern. Ihr Sohn lernte in einer Molkerei. In Franzburg absolvierte er seine Lehrjahre, in Grimmen bestand er die Gesellenprüfung und erhielt die Diplome „Käse-meister“ und „Buttermeister“. In seinem Arbeitsbereich hing immer ein Sandsack, so konnte er die Pausen für das Boxtraining nutzen.
Gern erinnert sich Karl BULLERJAHN an seine sportliche Vergan-genheit, an das gemeinsame Training, das vielseitige Geschehen in den Sektionen der Sportgemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern. Sie haben mein Leben in vielerlei Hinsicht berei-chert“, meint der 73jährige. darum freue er sich wieder auf das kommende Treffen in Wismar, den Gedankenaustausch mit den Sportfreunden...“
Sicher wird auch die heutige Situation im Amateur-Boxsport Meck-lenburg-Vorpommerns diskutiert werden. Denn einige Wochen nach dem letzten Treffen erhielt der Autor einen Brief. Inhalt: Eine
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Statistik, die einen Vergleich der einstigen Bezirksfachausschüsse Neubrandenburg, Rostock, Schwerin mit dem Stand vom 31.März 1989 und Mecklenburg-Vorpommerns offenbart - Stand vom 1. Ja-nuar 2000. Vorweg sei erinnert: Viele Jahre galt Mecklenburg-Vorpommern und ganz besonders Schwerin als Hochburg des Amateur-Boxsports. Die amtliche Statistik des Amateur-Boxverbandes aus dem Jahr 2000 signalisiert einen eklatanten Rückgang, und zwar in allen Positionen. Die Zahl der aktiven Ama-teurboxer ging von 2126 auf 621 zurück. Die Anzahl der Sektionen sank von 66 auf 28. Einst trainierten 348 Übungsleiter die Box-sportler, übrig geblieben sind 147. Die Zahl der tätigen Kampfrich-ter sank von 142 auf 53.
Herbert BRIEN, mehrfacher Landesmeister von Mecklenburg-Vorpommern, kommentierte: „Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich geändert. So schwer es ist, diesen Tatsachen müssen wir ins Auge sehen.“ Er gab zu erkennen, daß seine ganz persönli-chen Erfahrungen machen mußte. Denn: Herbert BRIEN ist Opa von drei Enkelkindern im Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren. Die beiden Jungen engagieren sich im Fußball und Schwimmen, die Enkeltochter im Eislaufen. Jeder benötigt seinen Trainingsan-zug, entsprechende Sportschuhe, jeder hat seinen Mitgliedsbeitrag im Verein zu entrichten (monatlich 15,00 DM). Zum langfristigen Trainingsprogramm gehören nun mal auch Trainingslager in einer Sportschule. Eine Woche Sportschule Kienbaum aber kostet pro Teilnehmer 365,00 DM. All das muß die Familie aufbringen. Das sind harte Brocken. Herbert hat in seiner aktiven Zeit als Boxsport-ler manches Trainingslager in einer Sportschule absolviert - aber kostenfrei. Nunmehr müssen die Sektionen sich selbst finanzieren. „Das ist eine Last, die heute ohne Sponsoren nicht lösbar ist. Aber man denke nur an den immer noch fehlenden wirtschaftlichen Auf-schwung im Osten und an die erdrückende Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern.“ Als Herbert BRIEN noch in Schwerin lebte, dort trainierte, erhielten die Sektionen finanzielle Zuschüsse. Denn da galt der Sport als ein wichtiger Faktor der Gesunderhaltung und Erziehung. Der Breiten- wie der Betriebssport durften der Förde-rung durch staatliche und betriebliche Instanzen sicher sein.
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Erinnerungen eines Skilangläufers
Der Diplomsportlehrer Rudolf Dannhauer wurde 1934 in Bran-denburg geboren und begann 1948 mit dem Skilaufen. Seine ers-ten Erfolge errang er bei Motor Wernigerode. Er trainierte dann beim Armeesportklub (ASK) Vorwärts Oberhof und war schließlich achtmal DDR-Meister im Skilanglauf und im Biathlon (Patrouille) mit der Mannschaft wie auch in den Einzeldisziplinen. 1958 und 1962 gehörte er der DDR-Mannschaft bei den Weltmeisterschaf-ten, 1960 und 1964 der gemeinsamen deutschen Mannschaft bei den Olympischen Winterspielen an. In der Zeit von 1963 bis 1968 studierte er an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig und erwarb im Fernstudium das Diplom, arbeitete von 1967 bis 1992 als Trainer für Skilanglauf und Sportlehrer beim SC Motor Zella-Mehlis/ASK Vorwärts Oberhof, an der Kinder- und Ju-gendsportschule (KJS) Oberhof, dem heutigen Sportgymnasium, und war Auswahltrainer des Deutschen Skiläufer-Verbandes (DSV) für die Jugendwettkämpfe der Freundschaft und für den Junioren-bereich. 1992 wurde er vorzeitig pensioniert. Gegenwärtig ist er als Übungsleiter beim SC Motor Zella-Mehlis tätig und trainiert Schü-ler. Seine Ehefrau, Renate Dannhauer (geb. Borges), gehörte ebenfalls zur gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft 1960 und 1964 und vertrat die DDR bei drei Weltmeisterschaften in den nordischen Skidisziplinen (1958, 1962, 1966). Das Gespräch mit ihm führte Jan Knapp.
Frage: Wie kamen Sie aus dem Harz nach Thüringen?
Rudolf Dannhauer: 1954 wurde - entsprechend der Beschlüsse zur Gründung von Leistungszentren - der SC Motor Jena gegründet und eine Außenstelle für Wintersport in Zella-Mehlis eingerichtet, die wenig später als SC Motor Zella-Mehlis selbständig wurde. Die zehn besten Junioren aus Thüringen und dem Harz wurden in die-sen SC delegiert. Leiter und Trainer war dere unvergessliche Sprunglauftrainer Hans Renner. Er kam damals zu einem Ge-spräch in den Volkseigenen Betrieb (VEB) ELMO Wernigerode, in dem ich als Elektromechaniker arbeitete. Ich habe sofort zugesagt, nach Zella-Mehlis zu kommen und gehörte dort zur Gruppe der jüngeren Athleten, zu denen noch die erfahrenen Kuno Werner
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und Werner Moring kamen. Am 1. Juli 1955 wurden wir bei der Ka-sernierten Volkspolizei (KVP) eingestellt. Ich erinnere mich noch, daß unser Trainer, Heinz Holland, der den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, nach seinen furchtbaren Erfahrungen keine Uniform mehr tragen wollte. So kam er als Zivilangestellter nach Oberhof.
Frage: Und später wechselten sie von Zella-Mehlis nach Oberhof. Warum?
Rudolf Dannhauer: Das hatte zwei gute Gründe: Zum einen waren die Bedingungen für den Skisport in Oberhof günstiger. Außerdem war Oberhof damals bereits ein Zentrum des Wintersports in der DDR. Zum anderen gab es bereits Armeesportler in Oberhof. Die kleine Sportgruppe sollte leistungsmäßig verstärkt werden. Außer den Skilangläufern wurden die Nordisch-Kombinierten und die Springer in Oberhof konzentriert, die zuvor in Brotterode trainiert hatten. Mit der Gründung der Nationalen Volksarmee am 1. März 1956 und der Gründung des Armeesportklubs (25. August 1956) wurden wir Mitglieder des Armeesportklubs Vorwärts Oberhof. Zur Langlaufmannschaft gehörten damals Heinz Holland und Günther Ostrowski als Trainer und die Aktiven Kuno Werner, Werner Mo-ring, Werner Haase, Adolf Jankowski, Alfred Recknagel, Horst Ni-ckel, Siegfried Böttner, Kurt Hinze, Egon Fleischmann, Dieter Möl-ler, Günter Deinert, Rudolf Kaulfuß und Horst Wagner. Die Renn-schlittensportler begannen 1967, die Bobsportler 1973.
Frage: Ein Wort zu den Bedingungen damals.
Rudolf Dannhauer: Wir wohnten in Doppel- und Vierbettzimmern im Heim „Friedrich Engels“. Gegessen wurde im Armee-Erholungsheimes „Karl Marx“. Die Biathleten waren in dem mitten im Thüringer Wald gelegenen Kammerbacher Pirschhaus unterge-bracht. Sportkleidung und Material stellte der Klub. Die Bekleidung kam später aus Lichtentanne, die Laufschuhe wurden von Meister Wagner in Oberschönau und von einem Schuhmacher in Geor-genthal angefertigt. Die Poppa-Sprung-Ski aus Oberwiesenthal im Erzgebirge waren damals Weltspitze. Wir Langläufer trainierten mit Skiern der Skifabrik Ludwig aus dem Erzgebirge und mit Höhen-berg-Ski aus Thüringen. Bei den Wettkämpfen benutzten wir Jär-vinen-Ski aus Finnland und Splittkein-Ski aus Norwegen.
Frage: Eine heute oft gestellte Frage: Welche Beziehungen gab es zu den Sportlern aus dem Westen Deutschlands und dem westli-chen Ausland?
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Rudolf Dannhauer: Sie waren freundschaftlich und kameradschaft-lich. Schon im Dezember 1955 starteten wir erfolgreich bei den Hessischen Skimeisterschaften im Habichtswald. Zur Olympiavor-bereitung für die Winterspiele 1956 waren wir in Trainingslagern in Obergurgl und in Seefeld. 1956 gab es ein gemeinsames Auftreten deutscher Wintersportler beim internationalen Czech-Marusarz-Memorial in Zakopane (Polen). Und während der Olympischen Winterspiele 1960 und 1964 wohnten wir mit den westdeutschen Athleten unter einem Dach. Ich erinnere mich noch gut an Hans-Peter Lanig, Ossi Reichert und Sepp Beer.
In den 60er und 70er Jahren nahm der Kalte Krieg im Sport be-kanntlich zu. 1964 wurden die DDR-Biathleten an der Teilnahme bei den Weltmeisterschaften gehindert und während des Schieß-trainings von der bayerischen Polizei abgeführt, weil sie das Staatsemblem mit Hammer und Zirkel auf der Laufkleidung trugen.
Lange Jahre führten wir in Finnland, in Vuokatti, unsere Trainings-lager durch. Engere freundschaftliche Beziehungen hatte ich zu dem Finnen Sulevi Elonen. In Pallastuntunturi, 300 km nördlich von Rovaniemi, waren wir die ersten Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier hatte die faschistische deutsche Wehrmacht bei ih-rem Rückzug 1944 nur verbrannte Erde hinterlassen. Die Bevölke-rung stand uns - nach diesen Erfahrungen - zunächst sehr skep-tisch gegenüber. Schon bald gelang es uns aber, das Eis zu bre-chen. Da waren wir wirklich Diplomaten im Trainingsanzug. Nicht selten wohnten wir bei finnischen Familien. Sie haben sich um uns gesorgt als gehörten wir zur Familie.
Frage: Welches Gehalt bezogen Sie in ihrer Zeit als Spitzensport-ler?
Rudolf Dannhauer: 1954 verdiente ich beim SC Motor Zella-Mehlis 200,00 DM im Monat. Verpflegung und Unterkunft waren frei. Das Sportmaterial wurde uns - wie schon erwähnt - kostenlos zur Ver-fügung gestellt. Nach den olympischen Winterspielen 1960 erhiel-ten wir eine Uhr als Auszeichnung und die Biathleten ein Fernglas. Für Meistertitel und Sporterfolge gab es auch Beförderungen in der Armee, die logischerweise mit einer Gehaltserhöhung verbunden waren. Das ist wohl heute nicht anders. 1965 bezog ich ein Gehalt von 1000,00 DM. Ich hatte die Gewißheit, daß nach meiner aktiven Laufbahn und dem Abschluß meines Studiums als Diplomsportleh-rer ein Arbeitsplatz gesichert war.
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Frage: Welche Gedanken bewegen Sie angesichts der gegenwär-tigen Entwicklung des Skisports?
Rudolf Dannhauer: Die zunehmende Kommerzialisierung führt aus meiner Sicht dazu, daß der Sport seine ursprüngliche Funktion ver-liert. Der Kommerz ist heute auch eine Triebkraft für zunehmendes Doping. Trainer und Sportfunktionäre entscheiden längst nicht mehr allein und einzig mit Blick auf das zu Verantwortende und für die Ath-leten Verkraftbare. Der Einfluß der Sponsoren oder auch der Medien nimmt so zu, daß die Medien oft schon die Zeitpläne der Wettkämp-fe bestimmen. Die wachsende Zahl der Wettkämpfe geht zu Lasten des Trainings, wodurch die Vorbereitung auf besondere Wettkampf-höhepunkte beeinträchtigt wird.
Die einstigen Kinder- und Jugendsportschulen haben sich als Elite-schulen des Sports bewährt. Sie sind aber die einzige Gewähr dafür, daß der Sportnachwuchs den Schritt zur nationalen Spitze und even-tuell in die Weltspitze schaffen kann. Die staatliche Förderung darf jedoch nicht nur an das Abitur gebunden sein. Die Berufsausbildung sollte ebenfalls ermöglichen, Aufbautraining zu absolvieren. In der DDR, waren die Rahmen- und die individuellen Trainingspläne mit der beruflichen Aus- und Weiterbildung abgestimmt. Das vermittelte das Gefühl sozialer Sicherheit.
Ein anderes Problem: Während die Trainer im Westen langfristige Verträge haben, herrscht im Osten Deutschlands Unsicherheit. Bis auf wenige Ausnahmen haben die Trainer nur kurzfristige Verträge und das ist ein unüberbrückbarer Mangel bei der kontinuierlichen Arbeit im Leistungssport. Materielle Bedingungen für den Sport sind heute teilweise deutlich besser als in der DDR. Ich meine da-mit Sportstätten, Hallen und Geräte. Der Widersinn besteht darin, daß mit diesen besseren Voraussetzungen weniger erreicht wird. Schon die allgemeine Sportausbildung an den Schulen wird so stark vernachlässigt, daß die Grundlagen für Höchstleistungen feh-len. Auch die Realisierung des sogenannten Goldenen Plans Ost dauert zu lange. Er scheitert auch daran, daß die bereitgestellten Mittel gar nicht ausreichen.
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Zehn Jahre olympische Einheit Deutschlands
„Allwissende Journalisten, Historiker, Wissenschaftler oder auch Ju-risten (...) urteilen, agieren und agitieren auf der Grundlage unzu-reichender Kenntnisse der Verhältnisse im DDR-Sport und in der DDR-Gesellschaft ganz allgemein und ohne ausreichendes Einfüh-lungsvermögen. Viele der publizistischen oder vermeintlich wissen-schaftlichen Darstellungen sind dermaßen polemisch, dass sie ge-radezu als Attentate auf Gemeinschaftsgefühle im Osten wirken und ebenso überzogene Repliken provozieren.“
Olaf Heukrodt in „Zehn Jahre Wiederbeginn der olympi-schen Einheit Deutschlands“. Dokumentation, 2000
„...eklatante Benachteiligung“
„Doch gibt es bemerkenswerte Unterschiede, die wir insgesamt nochmals als eklatante Benachteiligung der Jugendlichen in Bran-denburg bewerten. Dahinter stehen als entscheidende Faktoren vermutlich Struktur, Tradition und jetziger Entwicklungsstand der Sportvereine in Brandenburg. Wenn die Grundannahme unseres Beitrages zutrifft, liegen hier wichtige Ursachen für ungleiche Ent-wicklungschancen der Jugendlichen in Ost und West. Vereinsförde-rung, die zugleich den strukturellen Ungleichheiten entgegenwirkt, wäre eine wirksame Jugendförderung.“
Dietrich Kurz /Maike Tietjens, Sportwissenschaft 30 (2000) 4
„... in den ostdeutschen Sportvereinen“
„Insgesamt geben 83 % aller Sportvereinsmitglieder an, als Funkti-onsträger im Sportverein mitzuarbeiten oder sich vereins- oder grup-penbezogen regelmäßig zu engagieren. Bezieht man diesen Anteil auf die ostdeutsche Bevölkerung insgesamt, bedeutet das, dass sich fast 1.200.000 Ostdeutsche in den Sportvereinen engagieren. Diese hohen Mitwirkungs- bzw. Beteiligungsquoten zeigen an, dass soli-dargemeinschaftliche Merkmale in den ostdeutschen Sportvereinen stark ausgeprägt sind. Zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung ist also zu konstatieren: Die solidargemeinschaftlichen ostdeutschen Sportvereine können auf eine hohe Bereitschaft zu freiwilligem En-gagement ihrer Mitglieder setzen... Zwei Drittel der heutigen Sport-vereinsmitglieder und annähernd 90 % der Funktionsträger waren
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schon zu DDR-Zeiten Mitglied einer Sportgemeinschaft... Dabei zeichnen sich gerade die Funktionsträger durch langjährige Karrie-ren in Sportorganisationen aus: Die ‘alten’ wie die ‘neuen’ Funktions-träger setzen sich vornehmlich aus Mitgliedern zusammen, die auf Karrieren zurückblicken können, die bereits weit vor der ‘Wende’ be-gonnen haben. Selbst acht Jahre nach der ‘Wende’ wird knapp die Hälfte der Vereinsämter von Mitgliedern wahrgenommen, die bereits Ämter in Sportgemeinschaften inne hatten.“
J. Baur/S. Braun: Sportvereine in Ostdeutschland I, Potsdam 2000
Das DDR-Erbe als politischer Langzeitkonflikt
„Die Rückschau auf Dopingpraktiken des DDR-Sports im Zusam-menhang mit leistungssportlichen Reformdiskussionen wird von den meisten Entscheidungsträgern als störend empfunden. Das hat nicht allein damit zu tun, dass die Leistungssport-Verantwortlichen des vereinigten Deutschlands um penible Unterscheidung zwischen nachahmungswürdigen und abzulehnenden Teilbereichen des DDR-Systems bemüht sind und garantiert niemand von ihnen ein deckungsgleiches Plagiat anstrebt, sondern es ist weitgehend auch eine Reaktion auf pauschal einseitige Diskreditierung des gesamten DDR-Sports... So signalisieren die derzeitigen Reformdiskussionen trotz Unzufriedenheiten über unzureichende Vergangenheitsbewäl-tigung die Abkehr von lange Zeit gängigen Thesen, DDR-Leistungssport habe eben vorrangig nur auf der Verabreichung ‘un-terstützender Mittel’ und einflussnehmender Überwachung durch die Stasi beruht.
Vorsätzliche und/oder irrtümliche Interpretationen solchen Inhalts häuften sich während des etwa zeitgleichen Ablaufs des Prozesses gegen den vormaligen DDR-Sportchef Manfred Ewald und des Do-ping-Verfahrens gegen Olympiasieger Dieter Baumann. Nachhaltig von vorurteilsvollen Medienberichterstattern protegiert, unterstützte derselbe Personenkreis im Fall Ewald die Nebenklage und im Fall Baumann den Beschuldigten, was Oberstaatsanwalt Klaus-Heinrich Debes zu der sarkastischen Anmerkung veranlasste, wir leben in ei-ner Zeit, ‘in der sich die Verteidiger der Westdoper für die Bestra-fung der Ostdoper einsetzen’. Die Zeitung hinter der vermeintlich immer ein kluger Kopf steckt, krönte die Farce durch einen Leitartikel auf Seite eins. Dort wurde allen Ernstes die Möglichkeit erörtert, der nach zwei positiven Dopingtests auch nach dem Urteil des Internati-
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onalen Sportgerichts (CAS), der höchsten juristischen Sportinstanz, schuldige Baumann könnte ‘Opfer eines gezielten Anschlages durch ehemalige Angehörige der Stasi sein’...“
Willi Ph. Knecht, Deutschland Archiv 33 (2000) 6
Belehrende Hinweise... sind wirkungslos
„Nach wie vor glaube ich, dass es uns nicht gelungen ist, das Know-how, das Wissen, die Bildung, den großen Erfahrungs-schatz, den viele Menschen im System des DDR-Sports aufzuwei-sen hatten, in angemessener Weise mit hinüberzunehmen in eine neu zu schaffende Sportordnung, die zwingend erforderlich ist, wenn Ost und West gemeinsam einen Weg in einer offenen Ge-sellschaft gehen möchten. Belehrende Hinweise sind nicht nur in der Schule wirkungslos, sie sind vor allem in der aktuellen Sportpo-litik nicht angebracht.“
Prof. Dr. Helmut Digel, DLV-Präsident, Neues Deutschland v. 21.2.2001
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Zehn Jahre Gemeinsamkeit
Von ERHARD RICHTER
Auf ein zehnjähriges Bestehen konnte der Freundeskreis Sport-Senioren Berlin am Ende des vergangenen Jahres zurückblicken. Es waren zehn Jahre der Gemeinsamkeit mit vielen Gesprächen, Wanderungen, Ausflügen, Kegel-Wettbewerben und anderen Zusammenkünften. Als 1990 in der Storkower Straße 118 in Berlin, dem Sitz des DTSB-Bundesvor-standes, das Licht ausging und die Kündigungswelle einsetzte, entschlossen wir uns, den Freundes-kreis der Sport-Senioren zu bilden, der bei den Veteranen sowie bei den in den Vorruhestand geschickten einstigen Mitarbeitern des DTSB und seiner Sportverbände lebhaften Widerhall fand.
Heute, nachdem der Freundeskreis zehn Jahre besteht, können wir einschätzen: Die Idee, gemeinsam den neuen Anforderungen gerecht zu werden, hat uns allen geholfen, ob wir Gedanken aus-tauschten oder uns an gemeinsame Erlebnisse erinnerten, uns ge-gen Ungerechtigkeiten wehrten, uns gegenseitig in Rentenfragen oder vielen persönlichen Angelegenheiten halfen. Das Engage-ment und die Arbeit im Freundeskreis waren, nachdem wir nicht mehr gebraucht wurden, nicht nur eine sinnvolle Betätigung, son-dern auch eine Herausforderung.
Das 1992 erlassene Rentenüberleitungsgesetz durch den Deut-schen Bundestag entfachte unseren nicht zu überhörenden Wider-spruch. Rentenkürzungen aus politischen Motiven mit der Schuld-zuweisung von „Staatsnähe“ konnten und wollten wir nicht hin-nehmen. Viele unserer Freunde legten Widerspruch ein oder klag-ten vor Sozialgerichten. Unser Freundeskreis schicke Widersprü-che, Eingaben und Beschwerden an das zuständige Ministerium, an den Bundeskanzler, an den Bundespräsidenten, an den Bun-desgerichtshof, an alle Parteien und ihre Fraktionen im Deutschen Bundestag sowie an die Bundestagausschüsse. Die Antworten wa-ren zunächst - und das über Jahre - nichtssagend. Wir wandten uns deshalb auch an die UNO-Menschenrechtskommission und an das Internationale Olympische Komitee (IOC). Und wir bündelten unsere Aktivitätten und Initiativen mit dem Kuratorium ostdeutscher Verbände und der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde.
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Die Widersprüche vieler Rentner und durch das diskriminierende Rentenrecht Betroffener aus den neuen Bundesländern zwangen schließlich den Bundestag 1997 und das Bundesverfassungsge-richt 1999 zu ersten Korrekturen. Aber das Ringen um ein Renten-recht, daß die Bürger aus den neuen Ländern nicht zu Menschen zweiter Klasse degradiert, ist noch nicht beendet. Es wird und muß weitergehen.
Spätestens ab 1998 wurde unsere Aufmerksamkeit auf den juristi-schen Feldzug gegen Trainer, Ärzte, Funktionäre und Wissen-schaftler des DDR-Sports, insbesondere des Leistungssports, ge-lenkt. Hunderte von Ermittlungsverfahren waren eingeleitet und neunzig Prozesse vorprogrammiert worden. Dutzende von Staats-anwälten, Justizbeamten und Kriminalisten aus allen alten Bundes-ländern hatte man dazu in Berlin zusammengezogen und Millionen DM für eine beispiellose Kampagne wegen vermeintlichen Dopings verpulvert. Am Ende all dessen wurden zwar acht Prozesse durch-geführt, es konnte aber kein einziger Körperschaden gerichtsmedi-zinisch nachgewiesen und in keinem Fall ein Zusamenhang zwi-schen den Praktiken im Leistungssport der DDR und den zur Sprache gebrachten Schädigungen im juristischen Sinne bewiesen werden. Da halfen schließlich auch nicht die Vorverurteilungen durch die Medien und die beispiellose Verleumdung vieler durch die - mit vermeintlich wissenschaftlichen Methoden und aus-schließlich auf Akten des MfS beruhenden - Publikationen im Er-gebnis zeitgeschichtlicher Untersuchungen.
Viele von uns verfolgten im Gerichtssaal die Prozesse, überzeug-ten sich selbst von einer Rechtskonstruktion, die auf den juristisch erforderlichen Beweis verzichtete, und bekundeten - abgestimmt mit der Gesellschaft für humanitäre und rechtliche Unterstützung - ihre Solidarität mit den Verleumdeten, Diskriminierten und Ange-klagten. Wir überzeugten uns damit auch selbst von der abstrusen Situation, die KNECHT so beschrieb: „Nachhaltig von vorurteilsvol-len Medienberichterstattern protegiert, unterstützte derselbe Per-sonenkreis im Fall Ewald die Nebenklage und im Fall Baumann den Beschuldigten.“ (Deutschland Archiv 6/2000, S. 955)
Selbstverständlich beschränkten sich unsere Aktivitäten nicht nur darauf. Bis heute stehen 20 Wanderungen mit stets kompetenter Führung in unserer Chronik, so zum Olympiastadion, rund um den Schlachtensee, nach Woltersdorf und Erkner, um den Tegeler
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See, in den Britzer Garten, nach Birkenwerder, Kladow, Babels-berg, Strausberg, zur Zitadelle nach Spandau, nach Rüdersdorf oder Müggelheim. Die leider schon verstorbenen Wanderleiter Gerhard Wenzel, Ernst Schramm und Prof. Dr. Edelfrid Buggel hatten alle diese Wanderungen präzise und liebevoll vorbereitet. Nicht weniger Ressonanz fanden unsere bisher 17 Ausflugsfahrten in die nähere oder weitere Umgebung von Berlin, die Polit-Frühschoppen, z.B. mit Hans Modrow, Alfred B. Neumann, Gustav-Adolf Schur und Klaus Köste, wie auch unsere Jahreszusammen-künfte. Dabei zählte vor allem: Man traf sich, tauschte Meinungen aus, prüfte kritische Standpunkte, lernte dazu.
Seit 1997 erschien neunmal unsere kleine Zeitung „Der Sport-Senior“ und zusätzlich drei Sonderausgaben, die sich zunehmen-der Beliebtheit erfreuen. Interessenten aus vielen Teilen unseres Landes sind Leser und warten oft darauf, daß die nächste Ausga-be vorgelegt wird.
Allen sei gedankt, die durch ihr unermüdliches Wirken das stets gute Gelingen ermöglichten.
(Kontaktadresse: Erhard Richter, 12685 Berlin)
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REZENSIONEN
Ein Lebensbericht: Täve
Wer diese Memoiren liest und in der DDR aufgewachsen ist oder sie im Nachhinein kennenlernen will, kommt sicher zu der Auffas-sung: Es ist gut, daß sie geschrieben wurden. Der Rezensent be-kennt, selten eine Biographie mit so viel Anteilnahme gelesen zu haben. Täve bezieht den Leser in seine Autobiographie mit ein. Und das nicht nur, weil man ihn kennt oder einige der beschriebe-nen Lebensstationen selbst miterlebt hat. Er erzählt von seinem Land, in dem er, der junge Arbeiter - offensichtlich talentiert für den Radsport - ohne soziale und materiell-finanzielle Hindernisse zu ei-nem der bedeutendsten deutschen Rennfahrer wurde, sich zu ei-nem Weltklasse-Athleten entwickeln konnte. Seine ungewöhnliche Lebensbilanz ist aber zugleich auch eine ganz gewöhnliche, wie sie viele Tausende Bürger der DDR ziehen könnten. Eine sich im Aufbruch befindende, von Faschismus und Krieg befreite Gesell-schaft öffnete der Selbstverwirklichung der Menschen Tür und Tor. Die Brechung des bislang herrschenden Bildungsprivilegs machte den Talenten die „Bahn frei“, die „Täves“ erhielten ihre Chance, die begeistert genutzt wurde. Das belegt die Autobiographie Gustav-Adolf Schurs überzeugend, beginnend beim Elternhaus, seiner Kindheit und Jugend bis zu seiner Studienzeit und den Anfängen seiner Sportkarriere. In diesem Buch wird zu Protokoll gegeben, wie es wirklich war. Ehrlich und von überzeugender Bescheiden-heit, dankbar und liebenswürdig, ganz so wie er war und immer noch ist, erzählt Täve sein Leben. Dabei läßt er den Leser nach-empfinden, wie er mit ursprünglicher Intelligenz und Beharrlichkeit, die er immer und bei allem offenbarte, was er tat, die großen sport-lichen Erfolge vorbereitete und errang. Er läßt aber auch erkennen, Vorteilsnahme - gleich welcher Art - war ihm fremd. Sein Trainer, Herbert Weißbrod, kam einst händeringend zu mir mit der Bitte, als Prorektor für Studienangelegenheiten der DHfK zu verhindern, daß Täve in der Vorbereitungsphase zu den Weltmeisterschaften auch weiterhin die für das Fach Schwimmen erforderlichen vier Schwimmarten mit großem Eifer trainiert und damit die Wett-kampfvorbereitung nicht unbedingt unterstützte. Das war keines-wegs einfach. Täve absolvierte im Studium alles Erforderliche,
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auch im Boxen, für das er sich bei den Kampfsportarten entschie-den hatte, selbst die öffentlichen Pflichtwettkämpfe im Ring. Gus-tav-Adolf Schur blieb und bleibt sich stets treu, wie sein Lebensbe-richt deutlich macht. So ist sein Schritt in die Politik bis hin zu sei-ner Tätigkeit als Mitglied des Bundestages mit PDS-Mandat kon-sequent und läßt seine tiefe Verbundenheit mit der dem Humanis-mus verpflichteten sozialistischen Idee wie auch seine Un-beugsamkeit, dafür alles in seinen Kräften stehende zu tun, erken-nen.
Was er aus seinem Leben erzählt, beeindruckt durch die Offenheit und das Fehlen jeder - in Autobiographien oft anzutreffenden - Selbstheroisierung. Als ich ihm im Bundestagswahlkampf wieder des öfteren begegnete, war für mich längst entschieden: Er ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Jeder, der seine Autobiographie ohne Voreingenommenheit und vorurteilsfrei liest, wird das bestä-tigen. Mehr noch, er erfährt aus berufenem Munde vom Bewah-renswerten der DDR-Gesellschaft. Und so ist die Feststellung ver-ständlich, die ich auch als ein Credo Täves verstehe. „Und schließ-lich: Ich bin nicht gegen den Staat, in dem ich heute lebe und den viele für einen guten Staat halten. Ich will nicht zurück in die DDR, aber ich fordere Recht und Würde für die DDR und ihre Bürger.“
Gustav-Adolf Schur erzählt sein Leben; Das Neue Berlin, Berlin 2001, 256 S.
Heinz Schwidtmann
50 Jahre DHfK
Anlaß der Veröffentlichung der Schrift war die 50. Wiederkehr des Gründungstages der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig (22. Oktober 1950). Ausgehend von einem Goe-the-Wort, nach dem nur derjenige eine Chronik schreibt, dem die Gegenwart wichtig ist, wird vom Herausgeber betont, daß es not-wendig erscheint, „einiges aufzuhellen“, was die Entwicklung und die „Abwicklung“ der Hochschule und vor allem die für letztere ge-gebenen fragwürdigen Begründungen betrifft.
Der eigentlichen Chronik ist ein Prolog vorangestellt, in dem fünf mit der Hochschule zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschied-licher Weise verbundene Personen (Helmuth Westphal, Helmut
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Schulze, Heinz Schwidtmann, Volker Mattausch, Maik Nowak) zu Wort kommen. Sie und ihr Interviewer, Ulrich Pfeiffer, bringen ihre persönliche Sicht ein und provozieren damit naturgemäß neben Zustimmung auch Einwände. Beispielsweise ist es eine sehr grobe Vereinfachung, die wissenschaftlichen und strukturellen Entschei-dungen, die nach 1969 in Realisierung des damaligen Leistungs-sportbeschlusses getroffen wurden, auf „politische Eingriffe“ zu re-duzieren (S. 5), wurde doch die „Leistungssportorientierung“ von der absoluten Mehrheit der in den olympischen Sportarten und in der Trainingsmethodik Beschäftigten der Hochschule nicht nur ak-zeptiert, sondern aktiv gefordert, ja zum Teil sogar über das von der Hochschule verkraftbare Maß hinaus forciert, da die unmittel-bare Mitwirkung in den Sportverbänden aus verschiedenen objekti-ven wie subjektiven Gründen wichtig erschien. So trafen sich die „Eingriffe“ mit dem Wollen und der Bereitschaft einer Mehrheit der „Betroffenen“ - und umgekehrt! Die eigentliche Chronik in Form ei-ner Zeittafel stützt sich für die Jahre von 1950 bis 1985 natürlich auf eine an der DHfK erarbeitete und als Hochschulschrift 1985 gedruckte 162seitige Fassung einer „Zeittafel zur Geschichte der DHfK“, auf die allerdings nicht bezug genommen wird. Dem Zweck entsprechend wurde die ursprüngliche Fassung stark gekürzt aber hier und dort auch ergänzt. „Erbsenzählerei“ ist selbstredend fehl am Platze, aber sowohl zu den Weglassungen wie zu den Ergän-zungen wird es - wie schon damals zu der Erstausgabe von 1985 und ihrer Vorläuferin von 1980 - unterschiedliche Meinungen und manche Einwände geben: die gesellschaftliche Einbindung wird nicht genügend verdeutlicht; die fachwissenschaftlichen Spezifika sind ungenügend herausgearbeitet; manche Personen sind über, andere unter Gebühr repräsentiert und so weiter, und so fort. Und jeder der Kritiker wird auf seine Weise mehr oder minder Recht bekommen können. Sie alle in einer Kurzfassung wie der vorlie-genden berücksichtigen zu wollen, käme dem Versuch einer Quad-ratur des Kreises nahe. Der Rezensent hebt sich seine Vorschläge für eine eventuell doch einmal zustandekommende erweiterte Fas-sung einer Zeittafel der DHfK auf, sofern er sie noch erlebt; denn die Sportwissenschaftliche Fakultät der Universität Leipzig, die auch die umfangreichen Vorarbeiten für die Hochschulgeschichte im Besitz hat, scheint sich zu genieren, ein solches „heißes Eisen“ anzufassen.
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Neu erarbeitet und deshalb von besonderem Wert sind die Zeitta-fel-Jahre 1985 bis 1991, die zuerst von einer Verbreiterung des akademischen Profils und fortwährender Leistungsfähigkeit in Leh-re und Forschung sowie 1990 von der „Abwicklung“ genannten Li-quidierung der DHfK geprägt sind, wobei letztere gegen vielfältigen in- und ausländischen Protest und mit unseriösen Begründungen auf der Grundlage von Entscheidungen nicht definierter Gremien getroffen wurde. Denn die im Kabinett Biedenkopf formell getroffe-ne Entscheidung hat mit höchster Wahrscheinlichkeit andere Ur-heber. Sportwissenschaftler, die Mitte 1990 im internationalen Rahmen tätig waren, erfuhren schon zu diesem Zeitpunkt in Ge-sprächen, daß beabsichtigt sei, die DHfK zu schließen. Die Zeittafel enthält viele Daten und relativ ausführliche Zitate zum Thema Ab-wicklung und dem bösen Spiel, das mit einem Wissenschaftspoten-tial getrieben wurde, das weltweit Anerkennung gefunden hatte. Wobei es vor allem um die betroffenen Menschen ging, denen als Spezialisten der Sportwissenschaft ein defacto Berufsverbot aufer-legt wurde; denn die nachfolgende „Fakultät Sportwissenschaft der Universität Leipzig“ wurde auf die minimale Kapazität eines der früheren Institute für Leibesübungen reduziert, und die westdeut-schen Institute hatten keine freien Stellen beziehungsweise befürch-teten wohl auch politische Angriffe, wenn sie „Leute aus Leipzig“ einstellen würden.
In die Zeittafel sind bemerkenswerte, aber wenig bekannte literari-sche Zeugnisse zum Sport von Bertolt Brecht, Fred Reinke, Manf-red Wolter, Günter Kunert und Volker Braun integriert. Auch der Eintrag ins Gästebuch der DHfK, den der IOC-Präsident Avery Brundage (USA) bei seinem Besuch im Jahre 1969 machte, ist ab-gedruckt: „Mein Kompliment dem Programm und dem hohen Leis-tungsniveau, die die Deutsche Hochschule für Körperkultur interna-tional berühmt gemacht haben.“ Daran zehn Jahre nach ihrer Li-quidierung erinnert zu haben, ist das Verdienst aller, die am Zu-standekommen der Chronik „50 Jahre DHfK“ beteiligt waren, ins-besondere des Autors, des Verlages und der Sponsoren.
SPOTLESS-Verlag, Berlin 2000, 96 S.
Günther Wonneberger
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WORTMELDUNGEN
Den Wert des im Dezember 2000 erschienenen A5-Bändchens - als Startexemplar einer losen Publikationsreihe WORT-MELDUNGEN gedacht - richtig einzuordnen, ist für den Außenste-henden einigermaßen schwierig, weil isoliert betrachtet kaum mög-lich. Diese komprimierten Wortmeldungen von Zeitzeugen auf ei-nem Forum am 14. Oktober 2000 in Leipzig anläßlich des 50. Jah-restages der Gründung der Deutschen Hochschule für Körperkul-tur (Leipzig, 22. Oktober 1950) stammen von besagter Gedenk-veranstaltung. Die Publikationsreihe WORTMELDUNGEN, die sich nach der Intension ihrer Herausgeber speziell damit beschäftigen soll, „wie man Prozesse der Vorbereitung von Spitzenleistungen in den verschiedenen Bereichen menschlicher Tätigkeit fördern und unterstützen, optimieren und effektiver gestalten“ kann, bot der Diskussion von Zeitzeugen bei ihrer Replik auf die Entwicklung der DHfK deshalb die Möglichkeit einer medialen Öffentlichkeit, weil die sportliche Spitzenleistung und ihre wechselseitige Beziehung zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen auch zum trai-ningswissenschaftlichen, sportmedizinischen, sportpädagogischen und sportpsychologischen Gegenstand der DHfK gehörte und weil die Enttäuschung der Öffentlichkeit über das Abschneiden der Bundesrepublik Deutschland bei den Olympischen Spielen in Syd-ney noch ganz frisch war. Es wird dabei nicht übersehen, daß das Profil der DHfK, abgeleitet von ihrer gesellschaftlichen Aufgaben-stellung, von Anfang an viel umfassender war. Und deshalb berüh-ren die publizierten „Erinnerungen“ - so unterschiedlich die Stand-punkte ihrer Autoren auch sein mögen - nicht nur und nicht primär das Bedingungsgefüge von Spitzenleistungen.
Volker MATTAUSCH/Heinz SCHWIDTMANN als Moderatoren der inte-ressanten, weil aufschlußreichen Diskussion formulieren ihr Ziel so: An einer ehrlichen Aufarbeitung der Geschichte der DHfK mit-zuwirken, „offen und selbstkritisch, nicht nostalgisch verklärt.“ Da-rin sehen sie nicht nur ein Recht, sondern als ehemalige Hoch-schullehrer auch eine Pflicht. Lothar SKORNING hat in einem be-merkenswerten Beitrag mit bislang unbekannten oder unbeachte-ten Fakten die Vorgeschichte der Hochschulgründung durch den Deutschen Sportausschuß erhellt, und Günther WONNEBERGER charak-
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terisiert aus eigenem Erleben, aber mit dem kritisch wertenden Abstand eines international anerkannten Sporthistorikers die Entwicklung des Wissenschaftsprofils der DHfK als einer alsbald staatlichen Hochschule von 1950 - 1990. Die zahlreichen anderen „Wortmeldungen“ in diesem Heft beschäftigen sich unter speziellen Aspekten mit den Leistungen dieser Lehr- und Forschungsstätte, die dem 1990 staatlich vereinigten Deutschland gut zu Gesicht gestanden hätte, ohne problematische De-formationen des Wissenschaftsprofils durch politische Eingriffe und per-sönliche Behinderungen von Wissenschaftlern in der DDR zu ver-schweigen oder zu bagatellisieren (Hartmut DICKWACH). Die Texte sind durch Gründungsdokumente und Zitate zum 50. Jahrestag des Grün-dungsdatums ergänzt. Die „Wortmeldungen“ sind eine anregende Ver-öffentlichung für Arbeiten, die einem realen Geschichtsbild dienen! Das Fazit des Rezensenten lenkt auf zwei Überlegungen, die durch das Gelesene mit angeregt worden sind:
1. Da das Geschichtsbewußtsein der Deutschen auch in der offizi-ellen BRD als ein Machtfaktor angesehen wird, sorgt man sich nach F.P. LUTZ um die Deutungshoheit des Westens, die zusam-men mit den politischen Machtverhältnissen im vereinigten Deutschland die vorherrschende Geschichtskultur noch immer prägt. Der Sportbereich bildet da keine Ausnahme. Um so erfreuli-cher ist die Tatsache, daß in den letzten zwei Jahren durch eine Reihe von bedeutsamen sporthistorischen Insider-Publika- tionen und auch durch Veranstaltungen, wozu die obige gehört, der „Deu-tungshoheit des Westens“ die dringend notwendigen Erschütte-rungen zuteil geworden sind. Nur so kann der rechtskonservativen Entsorgung der ostdeutschen Geschichte allmählich oder zumin-dest teilweise Einhalt geboten werden, was nicht nur der Wahr-heitsfindung dient, sondern auch jenen Kräften der westdeutschen Intelligenz, die nicht im „Mainstream“ agieren, weil ihnen primär an einer fortschrittlichen Gesamtentwicklung dieser deutschen Repub-lik gelegen ist und nicht an bloßer Restauration westdeutscher Verhältnisse in Ostdeutschland.
2. Daß die Liquidierung der DHfK (und nicht nur dieser Wissen-schaftseinrichtung des Ostens), durch Lobbyisten im Hintergrund ziel-strebig betrieben und durch die sächsische Staatsregierung, mit finan-ziellen Argumenten kaschiert, 1991 in die Wege geleitet, in erster Linie ein politischer Akt von vielen anderen zur „Delegitimierung“ der DDR war, ist heute deutlicher denn je. Heute ist keine gleichwertige sport-
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wissenschaftliche Potenz für Körperkultur und Sport in diesem Lande mehr vorhanden. Und das wird allenfalls bedauert, wenn die olympi-sche Bilanz zunehmend schlechter ausfällt. An das beängstigend steil abfallende Niveau des Schulsports in Deutschland hat sich das taten-los zuschauende Establishment offenbar schon gewöhnt. Karsten Schumann und Ronny Leubuscher (Hg), WORTMELDUNGEN, Eigenverlag Köln 2000, 88 S.
Ulli Pfeifer
Das große Lexikon der DDR-Sportler
Nach verschiedenen Lexika zur DDR, wie dem der DEFA-Filme oder dem der DDR-Stars, liegt nun das mit einiger Spannung er-wartete „...Lexikon der DDR-Sportler“ vor. Der Autor stellt insge-samt 1000 Biographien vor, 755 von Athletinnen und Athleten, die zwischen dem 7. Oktober 1949 und dem 3. Oktober 1990 für die DDR starteten und olympische Medaillen errangen. Die restlichen 245 sind Aktiven aus den verschiedensten Sportarten und -disziplinen vorbehalten, die entweder als Welt- und/oder Europa-meister zu den Besten gehörten oder „sehr populär“ waren. Ob-wohl der Autor in seinem Vorwort darauf verweist, daß „jede Ent-scheidung für eine bestimmte Person auch eine... gegen eine an-dere“ war, liegt mit diesem Kompendium durchaus ein repräsenta-tiver Überblick der Biographien jener Frauen und Männer vor, die sich langfristig und zielstrebig auf Weltspitzenleistungen in den sportlichen Arenen vorbereiteten.
Diese „Personengeschichten“ lassen aber nicht nur den „klassi-schen Weg der Athleten... - Talentsichtung, TZ, KJS, Spartakiade, Nationalmannschaft“ (Volker Kluge) erkennen, sondern den Wer-degang des einzelnen in seiner Gesamtheit, die Ausbildung und berufliche Konsolidierung ebenso wie - wenn auch punktuell - die Reifung als Persönlichkeit. Angesichts dessen konstatiert Knecht: „Die in den Jahren 1956 bis 1964 erfolgreichen Kader weisen heu-te die meisten sozialen Problemfälle aus... Die Siegergenerationen von 1968 bis 1990 befinden sich dank der im Spitzensport der DDR gebotenen Ausbildungs- und Bildungsprivilegien mehrheitlich in überdurchschnittlichen Lebensverhältnissen.“ Da von den Ange-hörigen der Geburtsjahrgänge bis 1939 nachweislich mehr als 55
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Prozent ein Studium abschlossen, muß man bezweifeln, ob die Aussagen von Knecht, vor allem auch die zu den vermeintlichen Bildungsprivilegien von Spitzensportlern späterer Generationen, belegbar sind oder nur Klischees bedienen. Die Personenge-schichten verweisen vielmehr auf die Arbeiter- und Bauernfakultät und vor allem auf das Fernstudium, auch das an der DHfK, als gleichberechtigte Ausbildungsform neben dem Direktstudium und „konkurrenzlose Alternative zum ... Ausbildungssystem der Bun-desrepublik“, wie 1990 der damalige Präsident der Deutschen Ver-einigung der Sportwissenschaft (dvs) einschätzte, das zum Bei-spiel Elisabeth Eichholz oder Lothar Metz absolvierten. Das Sys-tem der Fernstudien war so selbstverständlich und gleichrangig, daß es weder einer besonderen Erwähnung bedurfte noch bis heu-te bedarf, wie die Biographien belegen.
Bemerkenswert und aufschlußreich sind auch die Personenge-schichten der Frauen, die den Männern in nichts nachstehen, nicht einmal in der Anzahl derjenigen, die studierten und promovierten. Und diese Geschichten offenbaren vieles über eines der tatsächli-chen Geheimnisse des DDR-Sports, über jene, die vor allem als Trainerinnen und Trainer einen auf das künftige Leistungsniveau der Weltspitze gerichteten langfristigen Leistungsaufbau gewähr-leisteten und sicherten, zum Wettkampfhöhepunkt immer wieder in Form zu sein. Der Autor nennt - was ja keineswegs immer üblich ist - nicht nur jeweils den oder die Trainer der Aktiven, sondern so manche Biographie eines erfolgreichen Athleten ist zugleich die ei-nes nicht weniger erfolgreichen Trainers, wie die von Karin Balzer, Sabine Dähne oder Jutta Lau und die von Siegfried Fülle, Peter Kretzschmar, Bernd Landvoigt, Ernst Schmidt, Paul Tiedemann oder Frank Ullrich und vieler, vieler anderer. Gerade die diesbe-züglichen Einblicke lassen ahnen, welche Bedeutung der Trainer-ausbildung und der Einheit von Theorie und Praxis in diesem Pro-zeß, einer lückenlosen Generationsfolge von Trainern und vor al-lem der Vermeidung von Erkenntnisverlusten zukommt.
Alles in allem ein weiteres Nachschlagewerk über den DDR-Sport, das durch die Fülle der exakt recherchierten Fakten besticht und so manche der lange gehegten und immer wieder bedienten Vorur-teile ad absurdum führt, sofern die Tatsachen denn zur Kenntnis genommen werden. Wenn auch die tatsächliche Breite und Vielfalt leistungssportlicher Möglichkeiten durch die Auswahl der Biogra-
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phien sichtbar wird, ist doch zu bedauern, daß der Behinderten-sport einzig durch Marianne Buggenhagen repräsentiert wird und für andere Athleten keine Chance bestand. Das gilt zum Beispiel für die Biographie des Gehers Gerhard Sperling, der 1961 bei den Weltspielen der Hörgeschädigten die 5000 m (mit Weltrekord) und die 10.000 m gewann, bei den Weltspielen 1969 über 20 km siegte und schließlich 1977 über 20 km noch eine Silbermedaille errang. Ein Geher, der auch vielfach in die Nationalmannschaft des Deut-schen Verbandes für Leichtathletik (DVfL) berufen wurde und er-folgreich bei den Nichtbehinderten an den Start ging. Sicher hätte auch Dr. Wilfried Zapfe verdient, erwähnt zu werden, der dreimal in Folge bei den Weltspielen der Hörgeschädigten den 3000-m-Hindernislauf gewinnen konnte und 1973 Doppelsieger über 3000 m Hindernis und über 5000 m (jeweils mit Weltrekord) wurde, oder vielleicht auch der Weltmeister im Blindenfernschach 1981, Klaus-Peter Wünsche, der ein Jahr zuvor mit der Mannschaft die Blinden-fernschacholympiade gewann und zweimal (mit der Mannschaft) eine Bronzemedaille bei Blindenschacholympiaden erringen konn-te.
Volker Kluge, Das grosse Lexikon der DDR-Sportler Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2000, 448 S.
Margot Budzisch
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JAHRESTAGE
Zum 50. Todestag von G. B. Shaw
Von GÜNTER WITT
In der „Ovation für Shaw“, die Bertolt BRECHT am 25. Juli 1925 im „Berliner Börsen-Courier“ veröffentlichte, sind unter anderen solche Sätze zu lesen: „Man wird es schon gemerkt haben, daß Shaw Terrorist ist. Der Shawsche Terror besteht darin, daß Shaw es für das Recht des Menschen erklärt, in jedem Falle anständig, logisch und humorvoll zu handeln, und für die Pflicht, dies auch zu tun, wenn es Anstoß erregt.“ Diese Kennzeichnung des bedeutendsten Vertreters der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, der 1925 mit dem Nobelpreis geehrt wurde, trifft den Kern seines unverwechselbaren Charakters, der sich in allen Theaterstücken und seinen kunst- und sozialkritischen Schriften widerspiegelt.
1856 in Dublin als Sohn irischer Eltern geboren, eines Justizbeam-ten und späteren Getreidehändlers und einer Musiklehrerin, lebte George Bernard SHAW seit 1876 in London und mußte zunächst seinen Lebensunterhalt als Angestellter, Klavierspieler und Journa-list bestreiten. Die Beurteilung seiner eigenen sozialen Situation und die aufmerksame Beobachtung seiner sozialen Umgebung weckten sein Interesse für die Vorgänge in der britischen Gesell-schaft jener Jahre, führten zum Studium MARX’scher Schriften und motivierten ihn, Mitbegründer der „Fabian Society“ zu werden, ei-ner Vereinigung bürgerlicher Intellektueller, die das Konzept vom allmählichen Hineinwachsen in einen „bürgerlichen Sozialismus“ verfolgte. Nach seinen journalistischen Erfahrungen fühlte sich SHAW zu ersten literarischen Versuchen als Romanschreiber ermu-tigt, stieß damit aber zunächst auf nur wenig Interesse.
Erst als er begann, als Dramatiker mit Stücken über ganz unge-wöhnliche Themen an die Öffentlichkeit zu treten, horchte man auf. Das war etwas ganz Neues, das war eine bisher nicht gekannte Sprache, voller Spott und Ironie, eine schonungslose offene Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Moral. Seine Theater-stücke orientierten sich anfangs formal an seinem Vorbild, dem norwegischen kritisch-realistischen Dramatiker Henrik IBSEN. Aber dessen Schauspiele übertraf SHAW durch den spitzzüngigen Witz und das Paradoxon seiner Dialoge und durch seine darin erkenn-
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bare Absicht, die Gesellschaft zu reformieren. Er kritisierte Fehl-verhalten, wo immer es anzutreffen war, im Privaten, in der Kunst, in der Politik oder der Geschichte. Seine Texte erscheinen manchmal widersprüchlich, eröffnen dadurch aber überraschende geistige Perspektiven, sie sind nüchtern und auch phantasievoll, skeptisch und auch poetisch, humoristisch moralisierend und auch sarkastisch warnend. Texte seiner Stücke und vor allem seiner Schriften zielten, einem bestimmten Einfluß Friedrich NIETZSCHE folgend, auf sein Ideal vom neuen Menschen, der in seinem Ver-ständnis vom „common sense“, also vom gesunden Menschenver-stand geleitet, unkonventionell und vorurteilsfrei sein sollte. Seinem philosophischen und künstlerisch-ästhetischen Credo folgte jedes seiner über siebzig Stücke auf jeweils ganz spezifische Weise, zum Beispiel „Mrs. Warrens Profession“ 1893 (deutsch „Frau War-rens Gewerbe“ 1906, 1926), gegen verlogene bürgerliche Moral, „Caesar und Cleopatra“ 1901 (dt. 1904, 1925) gegen den Helden-kult, „Pygmalion“ 1912 (dt. 1913, 1959) gegen Anmaßung der ge-sellschaftlichen „Oberklasse“, Saint Joan“ 1923 (dt. „Die heilige Johanna“ 1924, 1960) gegen die Mystifizierung durch den Klerus, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Stücke des George Ber-nard SHAW eroberten die Bühnen in ganz Europa, insbesondere die der deutschen Theater. Er selbst wurde unter seinen Zeitge-nossen zur berühmten Legende, die durch Anekdoten über ihn o-der Bonmots von ihm immer wieder neue Nahrung erhielt.
Weniger bekannt ist das Verhältnis George Bernard SHAWs zum Sport. In Erinnerung an seine Kindheit in Dublin, wie in „Who I Am and What I Think“ (1901) und „Parents and Children“ (1965), schil-dert er seine Unlust an sportlichen Aktivitäten. Spiele wie Cricket fand er langweilig, der Einladung einem Baseballspiel zuzuschau-en, folgte er aus dem gleichen Grunde nur einmal. Bemühungen, ihm in der Killiney-Bucht bei Dublin das Schwimmen beizubringen, fand er genauso abstoßend wie den Versuch, ihm das Reiten auf einem Pony zu lehren.
Vollständig andersgeartet entwickelte sich dann aber sein Verhält-nis zum Boxsport, seit er 1881 als Zuschauer zu einem Meister-schaftskampf im Boxen eingeladen wurde. (siehe: Auszüge aus „Berufsboxen zu meiner Zeit“) Seine spontane Begeisterung bei diesem Erlebnis war von anhaltender Wirkung. George Bernard SHAW wollte alles über den Boxsport wissen, nicht nur über die
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Praxis, sondern mehr noch über die Theorien und die Geschichte dieser Sportart. Deshalb studierte er im Londoner Britischen Mu-seum Standardwerke zu dieser Thematik wie „Boxiana“ und „Bell’s Life“. Seine Beobachtung von Boxkämpfen und seine Studien mo-tivierten ihn zu dem Projekt, 1882 einen Roman zu schreiben, der nach Abdruck von Fortsetzungen in „To-day“ dann als Buch unter dem Titel „Cashel Byrons Profession“ als Erstausgabe 1886 in London erschien, der die erste deutschsprachige Ausgabe unter dem Titel „Cashel Byrons Beruf“ 1908 in Berlin folgte. George Ber-nard SHAW erzählt in diesem Roman den Weg eines Profiboxers in die englische Gesellschaft, die hochmütig und verächtlich über seinen Beruf urteilt. Letztendlich, wenn auch widerwillig, muß sie ihn jedoch als Gentleman anerkennen, wegen seines beruflich er-folgreichen Aufstiegs und nicht zuletzt wegen seiner Liebesverbin-dung mit einer Frau aus vornehmsten Kreisen, die zudem eine steinreiche Erbin ist. George Bernard SHAW schrieb zu diesem Roman verschiedene „Prefaces“, die nicht nur Einleitungen schlechthin sind, sondern hochinteressante Darstellungen seiner Ansichten zum Boxsport, wie der Essay über „Modern Prize-fighting“. Der Romanstoff wurde von ihm dramaturgisch bearbeitet. So entstand 1901 das Versdrama in drei Akten „The Admirable Bashville“, das 1924 in einer deutschen Übersetzung als Burleske „Der Boxkampf“ erschien.
George Bernard SHAW hat sich auch in späteren Jahren mehr oder weniger intensiv mit dem Boxsport beschäftigt. So schrieb er bei-spielsweise im Dezember 1919 für die Londoner Zeitschrift „Nati-on“ seinen Bericht als begeisterter Augenzeuge des legendären Meisterschaftskampfes zwischen dem Engländer Joe BECKETT und dem Franzosen Georges CARPENTIER. Er verteidigte auch das Bo-xen und das Sporttreiben überhaupt gegenüber der snobistisch-arroganten Haltung der aristokratischen Gesellschaft, die den Sport und die Sporttreibenden belächelte oder verachtete, selbst aber weit verbreitet ihren „Sport“ in äußerst grausamen Formen des Jagens und Tötens von Tieren fand. Für SHAW war dieser abscheuliche „Sport“ nichts anderes als Mord, wie es in seinem Essay „Killing for Sport“ (1914) hieß. Seine schonungslose Kritik am Verhalten dieser die gesellschaftliche Führung beanspruchenden Kräfte richtete sich auch auf die Forderung, das total vernachlässigte englische Schul- und Bildungswesen zu reformieren. Es müsse auch einschließen,
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daß die Körpererziehung im Interesse der Gesellschaft für jedes Kind dafür sorge, laufen, schwimmen, radfahren und die Kunst der Selbstverteidigung zu erlernen. Und SHAW verteidigte auch den Schritt junger Leute, wenn sie als Mittellose bei vorhandenem Talent den Weg als Berufsboxer einschlagen würden. Dies sei ein legitimer Weg dem Kampf gegen die Armut zu entrinnen.
Aus Anlaß des 50. Todestages von George Bernard SHAW bietet sich an, an seine Schriften zum Sport, speziell zum Boxsport, zu erinnern.
George Bernard Shaw: Berufsboxen zu meiner Zeit
...Ein mir befreundeter Dichter, der wie alle Dichter Freude an Wettkämpfen hatte, bestand vor zwanzig Jahren (1881) darauf, daß ich sein Interesse am Faustkampf teilte, und führte mich zu al-len wichtigen Boxkämpfen der damaligen Zeit. Ich war durchaus nicht abgeneigt. Denn jeder mit einem Sinn für die Komödie muß die Kunst der Selbstverteidigung großartig finden - eine Zeitlang - wegen ihrer Pedanterie, ihrer Scharlatanerie und ihres Pendelns zwischen amateurhaft-romantischer Illusion und professionellem Blick für das Geschäft... Die ersten Kämpfe, die ich besuchte, waren zu Beginn der achtziger Jahre in Lillie Bridge die Kämpfe um die Queensberry-Meisterschaften. Sie hatten nur wenige Teilnehmer, darunter eine ansehnliche Anzahl von Leuten aus höheren Stän-den... Es gab damals noch keine besondere Technik im Kampf mit Handschuhen. Die Tradition und der Einfluß des alten Preisrings wa-ren unbestritten und überragend, und diese unterstützten ganz deut-lich Schlauheit, Können, Schnelligkeit und Beweglichkeit in dem gleichen Umfang, wie sie sich roher Gewalt entgegenstellten. Das kam nicht im geringsten aus moralischen Gründen zustande, son-dern weil die Erfahrung erwiesen hatte, daß unter den alten Regeln nicht die Riesen im Ring Erfolg hatten, sondern die listigen Mittelge-wichtler.
Dieser Zustand hielt nicht lange an. Die Zuschauer wollten nicht sehen, daß technisches Können über Gewalt siegte. Sie wollten Gewalt sehen, die Blut hervorlockte und die sich ihren Weg bis zu einem wilden und spannenden Sieg in der kürzestmöglichen Zeit hindurchschlug (der alte Preiskampf zog sich gewöhnlich stunden-lang hin und wurde mehr durch Erschöpfung als durch einen Sieg beendet)... Die Kämpfe wurden zu offenen Gefechten, die ein
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Übermaß an Blut auslösten und bei denen der K.o.-Schlag immer unmittelbar bevorstand. Selbstverständlich begann sich der Kampf mit Handschuhen bald bezahlt zu machen.
...Der letzte Schritt wurde von einem amerikanischen Faustkämp-fer vollzogen. Er beseitigte die letzte Spur der alten Heuchelei mit der handschuhgeschützten Hand, indem er die ganze Welt heraus-forderte, ihm einen Mann zu zeigen, der sich ihm für eine festge-setzte Zeitdauer stellen konnte, ohne k.o. geschlagen zu werden. Seine kurze, aber glorreiche Karriere brachte den Faustkampf wie-der vollständig in Ehre, indem er eine weltweite Reklame für die Tatsache machte, daß der Boxhandschuh nichts außer dem öffent-lichen Gewissen verschont und daß bei einem Kampf mit Hand-schuhen genauso Wildheit, Blutvergießen, Schmerz und Risiko einer ernsthaften Verletzung oder eines Todesfalles erlebt werden können wie bei einem altmodischen Preiskampf, während die Strapazen für die Kämpfer noch viel größer sind... Die Kämpfe, die er bestreitet, sind den Händel-Festspielen ähnlich: Sie finden in riesigen Hallen vor einem ungeheuren Publikum statt, und Filmkameras sind stark beschäftigt, um die Szenen zur Wiedergabe in London und anders-wo festzuhalten...
Ich weiß, daß einige moderne Boxer aus der amerikanischen Schule beteuern, daß sie den K.o. zu einer Wissenschaft gemacht haben. Aber die Ergebnisse der führenden amerikanischen Kämpfe lassen in überzeugender Weise den Anspruch bezweifeln. Wenn ein Boxer in seinem technischen Können seinem Gegner so überlegen ist, daß er ihn praktisch treffen kann, wo es ihm beliebt, und wenn es ihm den-noch nicht nur mißlingt, ihn k.o. zu schlagen, sondern wenn er schließ-lich selbst k.o. geschlagen wird, dann ist klar, daß dieses Phänomen boxerisch wie physiologisch gesehen ein gleich großes Rätsel dar-stellt, auch wenn jeder Boxer und jeder Arzt den Anspruch erheben mögen, dies zu verstehen. Es ist nur ehrlich hinzuzufügen, daß es noch nicht erwiesen ist, ob eine dauernde Schädigung des Gehirns daraus resultiert. Allerdings kann das Gehirn, so wie die englische Gesellschaft im Augenblick geartet ist, kaum als ein wesentliches Or-gan angesehen werden...
(Shaw, George Bernard: Note on Modern Prizefighting. Essay 1901. In: Cashel Byrons Profession, London 1905. Übersetzung: K. Schwarz)
Am 29. November 2000 starb Günter Schneider nach kurzer Krankheit. Damit verließ uns ein renommierter Fachmann des
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GEDENKEN
Günter Schneider
Fußballsports, dessen besondere Aufmerksamkeit der För-derung des Nachwuchses galt. Die führenden Männer der In-ternationale Fußballföderation (FIFA), der Europäischen Uni-on der Fußballverbände (UEFA) und vor allem die UEFA-Juniorenkommission schätzten lange Jahre seine kompeten-te und verläßliche Mitarbeit, auf die bis in seine letzten Le-bensmonate nie verzichteten.
Die Redaktion der „Beiträge zur Sportgeschichte“ und ihre Leser werden den sachlichen, so sachgerecht urteilenden und dabei heiteren Mitstreiter schmerzlich vermissen.
Mit seinem - kurz vor dem Tode geschriebenen - letzten Be-richt für unsere Zeitschrift wollen wir noch einmal an ihn erin-nern und zugleich Abschied nehmen von einem Menschen, der seinen Idealen treu geblieben war.
Am 16. April 1950 wurde die erste Fußballmeisterschaft der DDR in einem denkwürdigen Spiel entschieden. Viel ist über dieses Spiel in den zurückliegenden Jahren geschrieben und erzählt worden, oftmals mehr Dichtung als Wahrheit. Noch heute nachweis- und be-legbare Tatsachen wurden immer wieder ignoriert. Wie war es wirk-lich?
Ab dem Spieljahr 1949/1950 wurde auf Beschluß des im Oktober 1948 gegründeten Deutschen Sportausschusses (DS) eine zentra-le Spielklasse im Fußball in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) Deutschlands eingeführt, zunächst unter der Bezeichnung „Zonen-liga“, später „DS-Liga“ und schließlich „DDR-Oberliga“.
Die Zusammensetzung dieser zentralen Spielklasse erfolgte nach geographischen Gesichtspunkten. Alle Länder der sowjetisch be-setzten Zone waren vertreten, Mecklenburg mit der Betriebssport-gemeinschaft (BSG) „Anker“ Wismar und „Vorwärts“ Schwerin, Brandenburg mit der BSG „Franz Mehring“ Brieske-Ost und der BSG „Märkische Volksstimme“ Babelsberg, Sachsen-Anhalt mit der BSG „Eintracht“ Stendal und der ZSG „Union“ Halle, Thüringen
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mit der BSG „KWU“ Erfurt und der SG Altenburg-Nord, Sachsen mit der SG Dresden-Friedrichstadt, der ZSG „Industrie“ Leipzig und der SG „Einheit“ Meerane. Zu diesen elf Mannschaften kamen die drei bestplazierten Mannschaften des vom Freien Deutschen Ge-werkschaftsbund (FDGB) erstmalig 1949 ausgetragenen Pokal-wettbewerbes hinzu. Das waren die Endspielteilnehmer BSG „Waggonbau“ Dessau als Pokalsieger und die BSG Gera-Süd, die im Finale 1:0 unterlag.
Der 14. Platz der erstmals startenden „Zonenliga“ war dem Sieger aus den Spielen der Unterlegenen des Pokal-Halbfinals zugespro-chen worden. In drei dramatischen Spielen setzte sich schließlich die ZSG „Horch“ Zwickau gegen die BSG „Carl Zeiss“ Jena durch und damit war die neue Spielklasse komplett.
Diese Zusammensetzung war zwar keine Lösung, die alle Fußball-anhänger befriedigen konnte, sie zeichnete sich aber durch geogra-phische Gerechtigkeit aus und berücksichtigte die spielstärksten Mannschaften in den einzelnen Ländern. Sie wurde - das kann man auch heute noch mit Fug und Recht sagen - der damaligen Nach-kriegssituation weitgehend gerecht.
In dieser Zeit konsolidierte sich in der am 7. Oktober 1949 gegrün-deten DDR die auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens ge-schaffene einheitliche Sportbewegung. Neben den territorialen Sportgemeinschaften entsteht der Betriebssport auf der Basis der „Volkseigenen Betriebe“ (VEB) und es bilden sich Betriebssport-gemeinschaften (BSG). Damit erhielt der Fußball in der sowjetisch besetzten Zone und der DDR eine breite massensportliche Grund-lage und vor allem eine ökonomische Basis. Bis auf wenige Aus-nahmen schlossen sich die Mannschaften der „Zonenliga“ einem großen Volkseigenen Betrieb an. Mit der Gründung der DDR be-ginnt für die gesamte Sportbewegung im Osten Deutschlands eine neue Etappe ihrer Entwicklung, die sich stark an die Traditionen der Arbeitersportbewegung anlehnt und von den Erfahrungen des Sports in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) beeinflußt wird.
Im Deutschen Sportausschuß wird aus der Sparte „Spielsport“, zu der Fußball, Handball, Hockey und Rugby gehören, der Fußball ausge-gliedert und eine eigenständige Sparte im DS gebildet. Erster haupt-amtlicher Leiter dieser Sparte wird der damals bekannte internationale Schiedsrichter Gerhard Schulz aus Dresden, der 1939 das Endspiel
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um die Deutsche Fußballmeisterschaft zwischen FC Schalcke 04 und Admira Wien, das 9:0 endete, geleitet hatte.
Nach 25 Spieltagen der erstmals im zentralen Maßstab spielenden „Zonenliga“ standen die Mannschaften der SG Dresden-Friedrichstadt und der ZSG „Horch“ Zwickau punktgleich an der Spitze der Tabelle. Am 26. Spieltag - dem letzten des Spieljahres 1949/1950 - trafen nun beide Mannschaften im Dresdener „Heinz Steyer Stadion“ aufeinander. Es hatte sich ein echtes Endspiel er-geben. Die Spannung war groß, alte Rivalitäten aus früheren Jah-ren und längst vergangenen „Gauliga“-Zeiten wurden wieder wach. Das „Heinz Steyer Stadion“ war mit 60.000 Zuschauern total über-füllt, die Stimmung und Atmosphäre äußerst angeheizt. Helmut Schubert - im Planitzer Sport-Club groß geworden, spielte in den Kriegsjahren beim Dresdener Sport-Club und errang mit Helmut Schön und Richard Hofmann zusammen zwei Deutsche Meister-schaften - nun sozusagen auf der Zwickauer Seite und Helmut Schön auf der Dresdener Seite.
Das erste Duell vor dem Anstoß gewinnt die Zwickauer Mann-schaft. Die Spielkleidung beider Mannschaften war rot/schwarz, al-so war Trikotwechsel angesagt. Das Ansinnen, vorgetragen vom Leiter der Sparte Fußball im DS, Gerhard Schulz aus Dresden, die Gastmannschaft also die aus Zwickau solle die Auswechseltrikots tragen, wurde strikt abgelehnt.
Das zweite Duell, die Vorbereitung auf dieses entscheidende Spiel, ging ebenfalls klar an die Zwickauer Mannschaft. Sie hatte sich in einem Trainingslager am Fichtelberg im Erzgebirge gewissenhaft vorbereitet, während die Dresdener Mannschaft sicherlich den „Heimvorteil“ überschätzte. Nicht zuletzt trug auch die Öffentlich-keitsarbeit in Presse und Rundfunk, in der die Dresdener Mann-schaft als eindeutiger Favorit dargestellt wurde, zur überheblichen Haltung der Dresdener Spieler bei.
Zunächst schien dann im Spiel auch alles so zu laufen. Nach drei Minuten führte Dresden durch ein Tor des Mittelstürmers Lehmann mit 1:0. Die Zwickauer Mannschaft konnte aber, sich ihrer Stärke bewußt, wenige Minuten später durch ein Tor von H. Satrapa zum 1:1 ausgleichen und wurde mehr und mehr spielbestimmend. Die Dresdener Mannschaft verlor zudem ihren rechten Verteidiger, W. Kreisch, unmittelbar nach dem Ausgleichtor, weil eine alte Menis-kusverletzung - ohne Einwirkung eines Gegners - wieder aufge-
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brochen war. Da das Reglement keine Auswechselung zuließ, mußten die Dresdener mit zehn Spielern auskommen.
Völlig unverständlich wird bleiben, warum Helmut Schön mit 35 Jahren und durch mehrere Knieoperationen gehandikapt, die Fuß-ballschuhe noch einmal anzog. Er war zu diesem Zeitpunkt schon monatelang zentraler Trainer der Sparte Fußball der DDR, gehörte dem Präsidium der Sparte Fußball an und hatte, vom DS delegiert, in den Monaten vorher an einem Trainerlehrgang an der Sport-hochschule Köln teilgenommen. Seine körperliche Fitneß war völlig unzureichend. Er war in keiner Weise den konditionellen Anforde-rungen gewachsen.
So kam es, wie es kommen mußte: Die Zwickauer Mannschaft be-stimmte mehr und mehr das Spielgeschehen und gewann verdient und klar mit 5:1 (3:1). Was sich nun abspielte, hatte mit „Fair play“ nichts zu tun. Tausende enttäuschte Zuschauer stürmten das Spielfeld, umringten die Spieler und den Schiedsrichter und schlu-gen wild drauflos. Nur mit Mühe und mit Hilfe berittener Polizei konnten die Umkleidekabinen erreicht werden.
Hauptsündenbock war für die Zuschauer der Schiedsrichter Schmidt aus Schönebeck, der sicher nicht seinen besten Tag hat-te. Aber nicht er war Schuld an der eindeutigen Niederlage der Dresdener Mannschaft, sondern die schwache, indiskutable Leis-tung der Mehrzahl der Dresdener Spieler und die konditionsstarke, spielerische Leistung der Mannschaft aus Zwickau. Beim gemein-samen Abendessen im Dresdener „Waldpark-Hotel“ hatten sich die Gemüter der Beteiligten schon wieder beruhigt. Und sachlich, sportlich fair stellte Helmut Schön in seiner Tischrede fest: „‘Horch’ Zwickau war unbestreitbar die bessere Mannschaft. Sie waren konditionsstärker, schneller, wendiger, sie haben den Titel als bes-sere Mannschaft verdient gewonnen.“
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Fritz Marcuse
(2. Oktober 1910 - 12. November 2000)
Auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee wurde am 16. November 2000 Dr. Fritz Marcuse von vielen Freunden auf seinem letzten Weg begleitet - geboren wurde er 90 Jahre zuvor am 2. Ok-tober 1910 in Berlin-Steglitz. Sein Leben widerspiegelt alle Kämpfe und Hoffnungen, Verfolgungen und Ängste, denen ein jüdischer Deutscher im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ausgesetzt war, vor allem dann, wenn sein Engagement im kommunistischen Ju-gendverband und im Rotfrontkämpferbund offenkundig geworden war. Es widerspiegelt auch den persönlichen Einsatz im Kampf ge-gen den deutschen Faschismus und das Engagement für den Ver-such, eine humane soziale Ordnung zu etablieren.
Der junge Fritz Marcuse war sportlich ambitioniert, Mitglied des Ar-beitersportvereins „Fichte“ und des jüdischen Boxclubs „Maccabi“. Politische Überzeugung und physische Möglichkeiten ließen ihn mit vielen Gleichgesinnten den braunen Schlägern entgegentreten bis diese schließlich die Straßen Berlins erobern konnten.
Sport und geistig-kulturelle Interessen waren für ihn gleich wichtig: bei Erwin Piscator wirkte er als Kleindarsteller mit und die Erinne-rung an die Uraufführung der „Dreigroschenoper“ im Jahre 1928 war für ihn noch im hohen Alter ein Beispiel für die kulturelle Viel-falt im Berlin seiner Jugend.
1934 nach Dänemark emigriert, kann Fritz Marcuse dort das Stu-dium als Sportlehrer beenden und geht danach in den deutsch-sprachigen Teil Litauens. Hier paßt er seinen Namen dortigen Ge-pflogenheiten an und heißt nun für etwa 50 Jahre Fritzas Mar-kusas. Der Einmarsch deutscher Truppen in das Memelgebiet zwingt ihn 1939 erneut zur Flucht. Mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 tritt er in die Litauische Divi-sion der Roten Armee ein. Seine Einheit besteht zu etwa neunzig Prozent aus Juden und somit wird dort jiddisch zur inoffiziellen Kommandosprache. Als Sanitäter und „Radiosoldat“ mit Propa-gandasendungen an vorderster Front eingesetzt, wird Fritz Mar-cuse 1943 in Weißrußland schwer verwundet und nach der Ampu-tation seines rechten Armes in Kasachstan demobilisiert.
Hier, in Alma Ata, beginnt 1944 mit dem Medizinstudium ein Le-bensabschnitt, der nachhaltig prägend sein wird. Die Synthese sei-
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ner Ausbildungen als Sportlehrer und Arzt läßt ihn zu einem enga-gierten Sportmediziner werden, der zunehmend nationale und in-ternationale Anerkennung findet.
In Tallinn, der Heimatstadt seiner Frau - einer Kinderärztin - wirkte Fritz Marcuse zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens im Jahr 1960 bereits als Chefarzt des Sportmedizinischen Dienstes der Estni-schen SSR. Ich lernte ihn 1960 in Wien kennen, auf dem Kongreß der FIMS, des internationalen Sportärzteverbandes. Damals fiel mir auf, daß der Dolmetscher der Delegation aus der Sowjetunion Deutsch zwar mit einer von manchem Emigranten gehörten Intona-tion sprach, dabei aber mit einem unverkennbaren Berliner Akzent. Meine diesbezügliche Frage beantwortete er eindeutig: „Ich stam-me aus Berlin!“
Aus diesem ersten Kontakt zwischen zwei Berlinern ergaben sich fachliche Verbindungen vielfältiger Natur zur DDR-Sportmedizin. Deren bis 1990 existierende Zeitschrift „Medizin und Sport“ enthält eine Reihe von Publikationen von Fritz Marcuse und seinen Mitar-beitern in Tallinn zu allgemeinen und speziellen sportmedizinischen Problemen. Kongreßberichte weisen ihn als Referenten z.B. zu „Freizeit und Sport“ (1966) und zu „Arbeit und Sport“ (1968) - aus sportmedizinischer Sicht - aus.
Bibliographische Fakten sagen aber nichts über zwischenmensch-liche Beziehungen aus. Und so ist festzuhalten, daß Fritz Marcuse ein stets gern gesehener Gast bei den Sportmedizinern der DDR war, mit denen er sich über Arbeitsergebnisse freute, Probleme und Perspektiven beriet.
Mit 65 Jahren wollte er arbeitsmäßig etwas kürzer treten und be-schränkte sich auf die Leitung der Abteilung Krankengymnastik und Rehabilitation seines Instituts in Tallinn. Hier beendete Fritz Marcuse dann erst als 82-jähriger 1992 seine aktive berufliche Laufbahn! Aus dem durch persönliches Schicksal mit geprägten In-teresse an der sportlichen Betätigung Behinderter ergab sich folge-richtig sein Engagement für den Rehabilitationssport. Ausgehend von seinem Institut in Tallinn entstanden Inhalte und Strukturen, die beispielhaft für das Territorium der UdSSR wurden. Fritz Mar-cuse trug so zur Verbreitung eines Fachgebietes und von Metho-den bei, deren Wert für das Wiedereingliedern Erkrankter und Ver-letzter in das soziale Gefüge weltweit als bedeutungsvoll erkannt wird.
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1993 kehrte er mit seiner Familie wieder nach Berlin, in die Stadt seiner Geburt, Kindheit und Jugend, zurück. Fritz Marcuse berei-cherte hier als kritischer Zeitzeuge von neun Dekaden des 20. Jahrhunderts viele Veranstaltungen im Jüdischen Kulturverein. Noch an seinem 90. Geburtstag, sechs Wochen vor seinem plötzli-chen Ableben am 12. November 2000, konnten wir uns von seiner geistigen Regsamkeit und auch einer für das hohe Alter bemer-kenswert guten physischen Verfassung überzeugen.
Das außergewöhnliche Leben und Wirken von Dr. med. Fritz Mar-cuse verdienen ein ehrendes Andenken.
Kurt Franke
Alfred Neumann
(15. Dezember 1909 - 4. Januar 2001)
In den Nachrufen linker Zeitungen wurden vor allem Neumanns politische Verdienste gewürdigt, der lebenslange Kampf des in Berlin-Schöneberg geborenen Tischlers, der 1929 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands geworden war, aber bereits als Zehnjähriger dem traditionsreichen Arbeitersportverein „Fichte“ beigetreten war. So ist es auch zu erklären, daß seine politische Biographie umfassend ist, während die sportliche noch immer Lü-cken aufweist. Daß die Faschisten - um die politische Haltung Neumanns natürlich wissend - ihn schon frühzeitig für die Olympi-schen Spiele 1936 vornominierten und in die „Kernmannschaft“ aufnahmen, bekräftigt jedenfalls das Urteil, daß Neumann zu den besten Mehrkämpfern der frühen dreißiger Jahre gehörte. Nicht vollständig war bislang die Liste mit den herausragenden Resulta-ten seiner Laufbahn. Einer seiner spektakulärsten Wettkämpfe dürfte das Sportfest am 12. Juli 1931 in Adlershof gewesen sein. Die von der Berliner Polizei verbotene Spartakiade hatte die inzwi-schen in Berlin eingetroffenen Gäste aus aller Welt auf verschie-dene ordentlich angemeldete Meetings verteilt. In Adlershof fand ein Kugelstoßwettbewerb statt, an dem auch der Ringer Werner Seelenbinder teilnahm. Wehn (Fichte-Ost) und Alfred Neumann (Fichte-Südost) waren die Favoriten. Selbst das Leichtathletik-Standardwerk der DDR (Leichtathletik in Vergangenheit und Ge-genwart) gibt keine Auskunft über das exakte Ergebnis. So blieb
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nur die Feststellung, daß Wehn seine Bestleistung von 13,15 m, die auch als Rekord der Kampfgemeinschaft Rot-Sport galt, an diesem Tag auf 13,52 m verbesserte. Die bedeutendste Leichtath-letikveranstaltung nach der Spartakiade war die 1. Rot-Sport-Mei-sterschaft in der Leichtathletik am 13. und 14. August 1932 auf dem Tiergartensportplatz. Neumann errang nicht weniger als vier Titel, erzielte im Kugelstoßen 12,66 m, im Speerwerfen 55,92 m und im Diskuswerfen 41,10 m. Im Hochsprung triumphierte er mit 1,66 m. Er machte sich auch verdient um die Ausbildung von Übungsleitern. Im Oktober 1933 verhaftete die Gestapo den Kern der ersten illegalen Reichsleitung der Kampfgemeinschaft. Alfred Neumann übernahm zusammen mit Karl Maron und Hans Mickinn die Aufgaben der Verhafteten. Später wies ihn die Partei an, zu emigrieren. In den Schützengräben der spanischen Republik wur-de er verwundet, später in Deutschland zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, in ein Strafbataillon gepreßt und floh unweit Horno zur Roten Armee. Seine sportliche Laufbahn war damals schon been-det, wenn er auch zuweilen die Spikes hervorholte und sich über die Hürden testete.
Klaus Huhn
Heinz Gold
(17. Dezember 1922 - 22. Oktober 2000)
Mit großer Betroffenheit nahmen wir die Nachricht vom Ableben ei-nes der Unseren auf - Dr. jur. habil. Heinz Gold. Sein Lebenslauf hatte Vorbildfunktion für alle, die den Aufbau und die Entwicklung des DDR-Schwimmsports von Kriegsende bis zu den Erfolgen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften miterleb-ten und mitgestalteten. Der um viele Jahre Ältere, der sich nach seiner Heimkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft Ende der vierziger Jahre wieder an Wettkämpfen erfolgreich beteiligte, wur-de schon 1949 Ostzonenmeister mit neuer Rekordzeit über 200 m Brust. Bis 1952, in einem Alter, in dem heutige Schwimmer selten unter dem Champions zu finden sind, ist er in den Bestenlisten ver-treten. Er fand 1951 aufmunternde und anspornende Worte für ei-ne Leistung im Brustschwimmen von mir, die mich um zehn Se-kunden von seinem Leistungsniveau trennte, und genauso beein-druckte er uns, wie er trotz höchster beruflicher Anstrengung noch
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an Seniorenwettkämpfen teilnahm - voller stolz darf ich eine Sie-gerurkunde in der 4x50-m-Lagenstaffel mein eigen nennen, die wir gemeinsam mit zwei weiteren Senioren des SC Einheit Berlin in den 60er Jahren errangen. Der Ostzonen- und mehrfache DDR-Meister, Studentenweltmeister über 200 m Brustschwimmen 1951 in Berlin, Rekordhalter der Brustschwimmstrecken beeindruckte nicht nur durch seinen Trainingseifer, sondern auch durch seinen Willen zur beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung. Der ge-lernte Werkzeugmacher, der mit 20 Jahren Deutscher Meister ge-worden war, sechs Jahre seiner Jugend dem faschistischen Krieg und als Kriegsfolge der Gefangenschaft opfern mußte, besuchte eine Volksrichterschule, war wissenschaftlich an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg tätig, promovierte 1965, habilitierte und wurde Leiter der Betriebsaka-demie des DDR-Ministerrates.
Trotz seines beruflichen Engagements blieb er dem Schwimmsport treu, von 1966 bis 1983 als Vizepräsident des DDR-Schwimmsportverbandes und war vor allem immer für die Wasser-springer ein wertvoller Partner.
Er blieb nicht von schweren Schicksalsschlägen verschont; Seine Ehefrau Ina, geborene Andreas, mehrfache DDR-Meisterin, die ihm drei Kinder schenkte, verstarb zu früh, und er selbst kämpfte lange auf dem schmalen Grad zwischen Leben und Tod mit seiner Krankheit, die er bis zum Schluß gefaßt zu tragen wußte. Er bleibt uns unvergessen!
Gerhard Lerch
Günter Thieß
(19. März 1926 - 25. Dezember 2000)
Wenige Monate vor seinem 75sten Geburtstag starb am 25. De-zember 2000 nach langer, schwerer Krankheit Prof. em. Dr. sc. pa-ed. Günter Thieß. Viele werden ihn ebenso wie ich - immer aufs neue bewegt - vermissen.
Er wurde am 19.3.1926 geboren und war nach dem Zweiten Welt-krieg zunächst Neulehrer in Barth/Ostsee, studierte an der Hum-boldt-Universität zu Berlin Körpererziehung und Geographie und ging danach wieder in den Schuldienst, diesmal als Lehrer nach Ei-
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senach. Sehr bald baten ihn die Kollegen des Institutes für Körperer-ziehung der Humboldt-Universität, zurückzukehren, um beim Auf- und Ausbau der Schulsportlehrerausbildung sowie bei der Schaffung von Grundlagen für einen breiten und gesundheitsfördernden Kin-der- und Jugendsport zu helfen. Seine Leistungsfähigkeit und Krea-tivität wurden sehr bald über Berlin hinaus bekannt, anerkannt und gefragt. Nach der Gründung der Deutschen Hochschule für Körper-kultur (DHfK) in Leipzig und der Eröffnung einer Forschungsstelle erhielt er die Möglichkeit, Probleme des Sportunterrichts an der Schule und des Kinder- und Jugendsports zu untersuchen und die Ergebnisse republikweit wirksam zu machen. Ich erinnere mich sehr genau an seine erste Forschungsgruppe in der Leichtathletik, mit der er das Ziel verfolgte, durch eine breite Grundlagenausbildung sowohl die Gesundheit als auch die allgemeine Leistungsfähigkeit der Ju-gendlichen zu fördern. Mit diesen und anderen Arbeiten wurde Gün-ter Thieß zu einem der Pioniere, die den stark fertigkeitsorientierten Sportunterricht der allgemeinbildenden Schule veränderten und den langfristigen Leistungsaufbaus im Kinder- und Jugendsport ermög-lichten. In diese Zeit fällt die Karl-Marx-Städter Konferenz, auf der wir beide 1963 sowohl die Ziele und Aufgaben des Sportunterrichts in der allgemeinbildenden Schule als auch die Standpunkte zum Wett-kampfsport der Kinder und Jugendlichen in der Sportorganisation der DDR zur Diskussion stellen durften. Nach meiner Erinnerung ist es besonders das Verdienst von Günter Thieß, wesentliche Grund-lagen für eine gesundheits- und leistungsfördernde Periodisierung des Nachwuchsleistungssports der DDR geschaffen zu haben. Später praktizierte Trainings- und Wettkampfsysteme in den ver-schiedenen Sportarten wurden oftmals mit seinen Arbeiten be-gründet oder durch sie gestützt. Der stufenweise Leistungsaufbau im Kinder- und Jugendsport sowie die inhaltliche Bestimmung der körperlichen, geistigen und psychischen Aufgaben in den Trai-nings- und Wettkampfsystemen der Kinder und Jugendlichen fin-den in den Erkenntnissen und Ideen der Arbeiten von Günter Thieß wesentliche Begründungen. Seiner Konsequenz verdanken wir die Einführung und den schrittweisen Ausbau des Grundlagen-, Aufbau-, Anschluß- und Hochleistungstrainings. Er kämpfte verbis-sen gegen Vertreter eines zu frühzeitigen oder zu spezialisierten Kinder- und Jugendtrainings und stellte sich an die Spitze der
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Durchsetzung einer vielseitigen athletischen Grundausbildung im Kinder- und Jugendbereich.
Mit der Ausgliederung der Forschungsstelle aus der DHfK (1969) und der Bildung eines selbständigen Forschungsinstituts für Kör-perkultur und Sport (FKS) sowie der Einstellung der Sportlehrer-ausbildung an der DHfK veränderten sich die Arbeitsfelder, und Günter Thieß wechselte an die Pädagogische Hochschule nach Magdeburg. Seine wissenschaftlichen Arbeiten entsprachen dort mehr seinen langjährigen Intensionen. Er half in dieser Einrichtung ein leistungsfähiges Institut für die Sportlehrerbildung aufzubauen und entsprechende Forschungsarbeiten für den Schulsport durch-zuführen. Über viele Jahre leitete er selbst dieses Institut für Sportwissenschaft. In vielen wissenschaftlichen Räten und Beirä-ten waren seine Erkenntnisse und Meinungen gefragt. Das gilt be-sonders für die Zentrale Fachkommission Sport des Ministeriums für Volksbildung und des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwe-sen.
Das besondere Leistungsvermögen von Günter Thieß als Hochschul-lehrer wird in seinen über 150 wissenschaftlichen Publikationen nach-gewiesen. Sein Bestreben, das Begriffssystem der Sportwissenschaft konsequent zu entwickeln und zugleich Klarheit zu den Grundsach-verhalten für einen breiten Nutzerkreis im sportlichen Übungsbetrieb zu ermöglichen, gehört sicher zu seinen beachtenswerten Stärken. Ausdrücklich seien genannt: „Training von A bis Z“ mit Günter Schna-bel und Rainer Baumann (Berlin 1978), „Grundbegriffe des Trainings“ mit Günter Schnabel (Berlin 1986) und schließlich das wiederum ge-meinsam mit Günter Schnabel herausgegebene zweibändige „Lexikon der Sportwissenschaft. Leistung - Training - Wettkampf“ (Berlin 1993). Obwohl Günter Thieß aus gesundheitlichen Gründen bereits 1988 in den Ruhestand versetzt wurde, verdanken wir ihm noch viele wissen-schaftliche Beiträge. So war er bis zu seinem Tode Mitglied des Re-daktions-Kollegiums der Zeitschrift „Leistungssport“ und brachte das „Handbuch zur Wettkampflehre“ (Aachen 1999) gemeinsam mit Peter Tschiene heraus.
In seiner gesamten Lehr- und Forschungstätigkeit in der Sportwis-senschaft der DDR hat Prof. Dr. Günter Thieß einen hohen Stan-dard durchgesetzt, den er auch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland in die nunmehr gesamtdeutsche Sportwissenschaft einzubringen versuchte. Gerade dieses Bemü-
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hen schätze ich besonders. Weiß ich doch selbst sehr genau, wie schwer es ist, Erkenntnissen und Erfahrungen des vielfach noch diskriminierten Sportsystems der DDR und ihrer Sportwissenschaft den ihnen gebührenden Platz zu verschaffen. Der stets aktive und streitbare aber immer bescheidene Günter Thieß wird vielen von uns fehlen. Vergessen werden wir ihn nicht. Das wollen wir im tie-fen anteilnehmenden Schmerz auch seiner Familie sagen.
Paul Kunath
Ernst Schmidt
(1. Februar 1920 - 15. September 2000)
Das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte Ernst Schmidt 1948 in Meißen für Schlagzeilen. Anläßlich des II. Parlaments der FDJ fand auch ein Sportfest auf dem Platz auf den Elbwiesen statt. Die damals erscheinende Jugendzeitung „Start“ hatte einen Pokal für die beste sportliche Leistung gestiftet und mich - da sie keinen eigenen Sportredakteur beschäftigte - gebeten, den Pokal zu über-reichen. Nach der Siegerehrung kamen wir ins Gespräch, und da-nach sind wir uns noch sehr oft begegnet und haben viele gemein-same Stunden verbracht. Ernst wurde zu einer Symbolfigur der ge-rade entstehenden Sportbewegung. Zunächst als überragender Athlet. 1942 hatte er, für den Luftwaffensportverein Wünsdorf star-tend, mit 7280 Punkten im Berliner Olympiastadion als Deutscher Meister eine Weltjahresbestleistung im Zehnkampf aufgestellt. Er sprang 7,50 m weit, 1,80 m hoch, stieß die Kugel über 14 m, und warf den Speer weiter als 60 m. Es hieß, man hätte damals be-sondere Pläne mit ihm gehabt: Er sollte an der Ostfront einen sow-jetischen Panzer knacken, wofür man ihm - wie dem Turn-Olympiasieger Schwarzmann - das Ritterkreuz umhängen und ihn so zu einem Idol für die Jugend machen wollte. Das Projekt kam nie zustande, und das dürfte vor allem Ernst Schmidt zuzuschrei-ben sein. Er kehrte aus der Gefangenschaft mit dem festen Willen zurück, künftig mitzuhelfen, den Frieden zu bewahren. Er trat der eben formierten Volkspolizei bei, leistete dort anstrengenden Dienst und war an den Wochenenden oft auf Sportplätzen anzu-treffen. Im Mai 1947 sprang er in Dresden schon wieder 6,95 m weit. 1949 wurde er mit 13,19 m das erste Mal Ostzonenmeister im Kugelstoßen, im Jahr darauf dreifacher DDR-Meister, im Kugelsto-
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ßen, Diskuswerfen und im Zehnkampf. In der Kugelstoß-Rekordliste findet man ihn zwölfmal, seine letzte Bestleistung stell-te er mit 15,85 m 1952 in Bukarest auf. Mithin: Eine der herausra-genden Persönlichkeiten der frühen DDR-Leichtathletik. Das blieb er auch, als er das Trikot auszog und seine Trainerlaufbahn be-gann. Die Wurf- und Stoßathleten, die er als Disziplintrainer be-treute, kämpften sich schon bald an die europäische Spitze und sorgten für viele internationale Erfolge. Am 17. Juni 1953 verteidig-te er gemeinsam mit Freunden ein Stadion in Berlin, dem Gefahr drohte, verwüstet zu werden, worin er kein Ziel für Arbeiter erken-nen konnte, die gegen Normerhöhungen protestierten. Spätere Entwicklungen und Konflikte sind zu bedauern. Sie mindern aber in keiner Weise seine Verdienste, die er sich beim Aufstieg des DDR-Sports erwarb. Wann immer seriöse Historiker diesen beurteilen werden, kommen sie an dieser Persönlichkeit, an Ernst Schmidt, nicht vorbei.
Klaus Huhn
Wolfhard Kupfer
(21. März 1929 - 30. Januar 2001)
Eine große Trauergemeinde hatte sich Mitte Februar auf einem Friedhof in Berlin-Friedrichshain versammelt, um von einem der profiliertesten deutschen Sportjournalisten Abschied zu nehmen. Die Kollegen, die viele Jahre mit ihm im Rundfunk oder Fernsehen der DDR zusammengearbeitet hatten, schätzten sein Fachwissen, vor allem aber seine Persönlichkeit, die ihm den Ruf eines ehrli-chen, rechtschaffenen und konsequenten Menschen eingetragen hatte, ein Ansehen, das er auch bei den vielen Aktiven genoß, die er im Laufe seines Lebens kennenlernte und als echte Freunde gewann. Sie wußten, daß ihm inquisitorisches Gehabe fremd war und daß seine Kommentare auch Verlierern menschlichen Respekt zollten.
Im thüringischen Martinroda geboren, geriet er schon als junger Mensch in den mörderischen Krieg, und die Erfahrungen, die er damals gesammelt hatte, prägten sein Leben: Er schloß sich ei-nem Kreis Gleichgesinnter an, die sich geschworen hatten, alles dafür zu tun, damit nie wieder ein solches Unglück von deutschem Boden ausgeht. In seinem Heimatort lernte er auch seine Frau
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Gertrud kennen, die dort eine zweite Heimat gefunden hatte. In Leipzig studierte er Geographie und Sport und in jenen Jahren fes-tigte sich mehr und mehr der Wunsch, Sportreporter zu werden. 1949 bewarb er sich beim damaligen MDR und begann bei dem Sender ein Volontariat. Seine Gewissenhaftigkeit und sein Fleiß waren die Grundlagen dafür, daß er schon bald wichtige Aufgaben übernahm. Dabei war er nie auf irgendeine Karriere versessen, wie so mancher in dieser Branche. Und so half er selbstverständlich und uneigennützig vielen jungen Reportern, ihren Weg in diesem Beruf zu finden.
Eines Tages kamen Fremde und beendeten mit einem Federstrich dieses erfolgreiche Arbeitsleben. Sie konnten und wollten nicht verstehen, daß Geschichte Menschen formt. Er ließ sich nicht entmutigen und fing noch einmal ganz von vorn an. Sein Platz war immer dort, wo sportliches Leben pulsiert. Sein Kalender war bald wieder vollgeschrieben, und wo immer er erschien, bereiteten ihm viele Athleten - möglicherweise, weil sie sich nach Gesprächen mit Journalisten sehnten, wie er einer war - einen herzlichen Empfang. Die - untergegangene - Sportjournalistenvereinigung der DDR ver-lor in Wolfhard Kupfer einen ihrer Mitbegründer, der viel dafür ge-tan hatte, daß im Kollegenkreis moralische und menschliche Quali-täten gefordert und respektiert wurden. So bleibt ein Vermächtnis, und wenn eines Tages seriöse Historiker eine Liste der deutschen Sportjournalisten von Rang und Ansehen aufstellen, ist Kupfer da-rauf eine vordere Position völlig sicher.
Heinz Ortner
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 13 / 2001
INHALT
DISKUSSION/DOKUMENTATION
4 Die Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR
Rudolf Ledig
24 Friedensfahrt in sich wandelnden Zeiten
Klaus Huhn
34 Daumes vorauseilender Gehorsam
Joachim Fiebelkorn
38 Hintergründe einer Affäre
Klaus Köste
41 Zum Umgang mit Forschungsergebnissen
Fred Gras im Interview mit Horst Forchel
45 Gedanken zur Marathondistanz
Sebastian Drost
48 ZITATE
„Benachteiligung von armen Kindern in Sport und
Bewegung“
Andreas Dallmann, Olympische Jugend
„Zwiespältige Wahrheitssuche in Sachen DDR-Doping“
Willi Ph. Knecht, NOK-Report
Medikamentenmißbrauch im Fitneßbereich
Carsten Boos, Deutscher Bundestag Sportausschuß,
Öffentliche
Anhörung 14.3.2001, Ausschußdrucksache Nr. 241
Bundesregierung unterstützte Testosteronversuche
Andreas Singler, Süddeutsche Zeitung
Zur „Ab- und Ausgrenzungpolitik der westdeutschen
Sportführung gegenüber der DDR“
Wolfgang Buss, SportZeit
„... die Nützlichkeit auch einer sinnentleerten Tradition“
Günter Gaus, Freitag
Wie man Geschichte „erforscht“
Unsere Zeit, UZ
REZENSIONEN
59 Jürgen Baur/Sebastian Braun: Freiwilliges Engagement und
Partizipation in ostdeutschen Sportvereinen
Fred Gras
67 SportZeit
Klaus Huhn
70 Klaus Huhn: Die DDR bei Olympia
Werner Riebel
REPORT
73 Leipziger Turnfeste - Tradition und nahe Zukunft
Ulli Pfeiffer
JAHRESTAGE
76 75 Jahre Sportlehrerausbildung an der Humboldt-Universität
Sieghard Below
81 Vor 50 Jahren - Gründung der ABF an der DHfK
Horst Hecker
GEDENKEN
83 Ernst Mohns
Klaus Huhn
84 Heinz Schwidtmann
Volker Mattausch
88 Heinz Schlosser
Erhard Richter
DIE AUTOREN
SIEGHARD BELOW, Dr. paed., geboren 1955, Sportwissenschaft-ler.
SEBASTIAN DROST, geboren 1975, studierte Sport in Göttingen, jetzt Designer.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
HORST FORCHEL, Dr. paed., geboren 1931, Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1978 bis 1990.
FRED GRAS, Dr. paed. habil., geboren 1927, Prof. für Sportsozio-logie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1979 bis 1990.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
KLAUS KÖSTE, geboren 1943, Diplomsportlehrer.
RUDOLF LEDIG, geboren 1935, Diplomsportlehrer.
VOLKER MATTAUSCH, Dr. paed. habil., geboren 1944, Prof. für Theorie der Körperkultur an der Deutschen Hochschule für Körper-kultur (DHfK) Leipzig 1988 bis 1990, 1. Prorektor der DHfK bis 1990
ULRICH PFEIFFER, Dr. paed., geboren 1935, Diplomjournalist, Chefredakteur der Zeitschrift „Theorie und Praxis des Leistungs-sports“ (ab 1990 „Training und Wettkampf“) im Sportverlag Berlin 1977 bis 1991.
ERHARD RICHTER, geboren 1929, Generalsekretär der Deut-schen Ringer-Verbandes (DRV) 1980 bis 1986.
WERNER RIEBEL; Dr. sc. phil. geboren 1937, Prof. für Theorie der Körperkultur an der Friedrich-Schiller-Universität, Jena, 1984 bis 1992.
HELMUTH WESTPHAL, Dr. paed. habil., geboren 1928, Prof. für Theorie der Körperkultur und für Sportgeschichte an der Pädagogi-schen Hochschule Potsdam 1958 bis 1988.
Die Kinder- und Jugendsportschulen
Von RUDOLF LEDIG
Als Gründungsphase der Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR kann der Schuljahresbeginn 1952/53 bezeichnet werden, in der die ersten vier KJS als allgemeinbildende Schulen mit erweiter-tem Sportunterricht begannen, sportbegabte Schülerinnen und Schüler in ihren Spezialsportarten und Spezialdisziplinen in Berlin, Leipzig, Brandenburg und Halberstadt besonders zu fördern. Der gesamte Ausbildungsprozeß, die schulische Bildung und die sport-liche Ausbildung, oblag allein der Schule. Die Klassenstärken ent-sprachen allgemein denen in anderen Schulen. Bei der Neubildung von Klassen wurde angestrebt, Schüler in Sportartengruppen wie Sportspiele, Ausdauerdisziplinen, Wasserfahrsportarten sowie in den Grundsportarten Turnen, Leichtathletik und Schwimmen zu-sammenzufassen. Der Schulzugang der Schüler vollzog sich durch die Bewerbung der Eltern. Eine zentrale Sichtung und Auswahl gab es zu dieser Zeit noch nicht. Für den Unterricht bildete der vom Mi-nisterium für Volksbildung (MfVB) vorgegebene Lehrplan die Grundlage, von dem es keine Abstriche zugunsten der sportlichen Ausbildung gab. Der Sportunterricht sowie das Training wurden von Sportlehrern nach dem Unterricht erteilt. Kooperationsbezie-hungen zwischen der Schule und den Sportgemeinschaften (Ver-einen) oder den Sport- oder Fußballclubs existierten in Anfängen. Die materiell-technische Ausstattung der KJS unterschied sich nicht von der anderer Schulen. Die Schüler wurden - bis auf weni-ge Ausnahmen - externatsmäßig erfaßt und betreut. Lediglich die später in Kleinstädten gegründeten KJS wie die in Halberstadt, Lu-ckenwalde, Nordhausen verfügten bereits über einige Internats-plätze. Erziehung und Ausbildung erfolgten unter der Verantwor-tung der Volksbildungsorgane der Stadtkreise oder der Stadtbezir-ke in Großstädten.
Zur Entwicklung und Profilierung der KJS
Ein 1953 gefaßter Beschluß des Ministerrats der DDR veranlaßte das Ministerium für Volksbildung (MfVB), ab September 1954 „in allen Bezirken der DDR Schulen... zur Entwicklung eines qualitati-ven Sportnachwuchses für sportbegabte Schüler... einzurichten“. (Verordnung des Ministerrates „Über die körperliche Erziehung der Schüler an den allgemeinbildenden Schulen“, 1953 Nr. 60, 657). In
einer Durchführungsbestimmung wurden die Kinder- und Jugend-sportschulen als „Schulen mit verstärktem Unterricht in Körperer-ziehung bezeichnet, die sich der Förderung junger Leistungssport-ler mit einer hohen Allgemeinbildung“ annehmen sollten. (vgl. Bäs-kau 1962) Das wachsende Sportbedürfnis bei Kindern und Jugend-lichen sowie das Interesse von Eltern und der Sportgemeinschaf-ten fanden Unterstützung durch die Volksbildungsorgane, indem weitere KJS in den Städten Anklam, Bad Blankenburg (Thür.), Cottbus, Dresden, Erfurt, Frankfurt/Oder, Forst, Güstrow, Halle, Hettstädt, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Klingenthal, Luckenwalde, Magdeburg, Nordhausen und Zella-Mehlis gegründet wurden.
Als außerschulische Einrichtungen entstanden auf Initiative örtli-cher Organe und einzelner Schuldirektoren Nachmittags-Kinder- und Jugendsportschulen (NKJS), die ebenfalls sportbegabten Kin-dern und Jugendlichen nach dem Unterricht eine sportliche Ausbil-dung und Trainingsmöglichkeiten boten. Vorrangig die an einer leis-tungssportlichen Entwicklung Interessierten und dafür Verantwortli-chen richteten ihre Bestrebungen auf die zweckentsprechende Nut-zung der KJS für die sportliche Entwicklung und Förderung sportli-cher Talente. Unter anderen wurden von der Parteiführung der SED 1958 „Maßnahmen zur schnelleren Erhöhung der sportlichen Leis-tungen in der DDR“ beschlossen. Man bemühte sich, mehr sportbe-gabte Kinder zu finden, sie in die KJS aufzunehmen und die Trai-ningsmöglichkeiten an den Kinder- und Jugendsportschulen zu ver-bessern.
Im Unterschied zur ersten Phase der Schulentwicklung beteiligte sich ab 1962 der Deutsche Turn- und Sportbund mit seinen Sport-verbänden als Sport- und gesellschaftliche Organisation an der Profilierung der KJS. So wurden zum Beispiel in der Richtlinie des Ministeriums für Volksbildung für die Schulen des sportlichen Nachwuchses 1962 erstmals die wesentlichen Aufgaben, Struktu-ren und Organisationsformen gemeinsam erarbeitet. Die Aufgaben der Kinder- und Jugendsportschulen wurden wie folgt formuliert:
„1. Die Kinder- und Jugendsportschulen sind Spezialschulen des sportlichen Nachwuchses im Rahmen der allgemeinbildenden poly-technischen Oberschulen... Sie haben die Aufgabe, besonders veranlagte Kinder und Jugendliche systematisch auf sportliche Leistungen vorzubereiten. Für die besten Nachwuchskräfte des Leistungssports sind alle notwendigen Voraussetzungen zu schaf-
fen, die ein Aufstieg zur Weltspitze in den olympischen Sportarten erfordert. Außerdem ist die Erreichung der in den Lehrplänen für den allgemeinbildenden Unterricht festgelegten Bildungs- und Er-ziehungsergebnisse einschließlich der polytechnischen Erziehung und der Berufsausbildung zu sichern.
2. Die Schüler der KJS schließen im allgemeinen ihre schulische Ausbildung mit der 10. Klasse ab. Absolventen der 10. Klassen können bei herausragenden sportlichen und entsprechenden schu-lischen Leistungen nach einem mehrjährigen Kurs das Abitur und den Facharbeiterbrief erwerben. Ihre sportliche, schulische und be-rufliche Qualifizierung wird gemeinsam von dem Leitungskollektiv und den Erziehungsberechtigten in langfristigen Entwicklungsplä-nen vertraglich festgelegt.
...Für die Schüler der KJS ist sowohl die Vorbereitung auf höchste sportliche Leistungen als auch die Erfüllung der Lehrplanziele im allgemeinbildenden Unterricht und in der Berufsausbildung zu si-chern.
Die Schulen arbeiten ab dem Schuljahr 1964/65 nach besonderen Stundentafeln und Lehrplänen. Für den Unterricht im Abiturkurs, der nach der 10. Klasse beginnt, gelten die vom Ministerium für Volksbildung erlassenen Direktiven.
...Die Hauptform der Bildungs- und Erziehungsarbeit ist der Unter-richt im Klassenverband. Bei Bedarf ist für Leistungssportler Grup-pen- bzw. Einzelunterricht zu erteilen. Die dafür notwendigen Leh-rerstunden sind vom Leitungskollektiv vorzuschlagen. Die Bestäti-gung und Planung der Kräfte und Mittel erfolgt durch die Abteilung Volksbildung beim Rat des Bezirkes.
...Bei der Planung des Unterrichts und der Berufsausbildung ist die Periodisierung des Trainings zu berücksichtigen... Der Unterricht ist in allen Fächern so zu erteilen, daß die vorhandene Zeit und der erzieherische Gehalt des Bildungsstoffes optimal genutzt werden. Die Bildungs- und Erziehungsarbeit ist regelmäßig auszuwerten und zu beurteilen. Bewährte Methoden der schulischen Förderung von Nachwuchs- und Leistungssportlern sind zu verallgemeinern.
...Der Umfang der Hausaufgaben ist durch Intensivierung des Un-terrichts auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die notwendigen Hausaufgaben sind weitestgehend individuell zu erteilen. Dies gilt besonders... für Gruppenunterricht und Lehrgänge.
...An allen Kinder- und Jugendsportschulen ist die ganztägige Er-ziehung und Bildung schrittweise einzuführen und materiell zu si-chern. Vorrangig ist die Schaffung von Verpflegungs- und Ruhe-möglichkeiten. Darüber hinaus sind Hausaufgabenzimmer zu schaffen, in denen die Schüler in der Freizeit unter Anleitung von Lehrkräften und Erziehern ihre Kenntnisse festigen und vertiefen und sich kulturell betätigen können.“
Das Hauptanliegen der Kinder- und Jugendsportschulen war, zu-sammen mit den Sport- und Fußballclubs geeignete Schüler aus-zuwählen, die Planung und Organisation des Unterrichts nach den Erfordernissen des Trainings zu gewährleisten und die individuelle schulische und berufliche Förderung der Schüler zu garantieren. Die Kooperation zwischen der Schule und dem Sport trug immer mehr integrierenden Charakter und erforderte zunehmend das Zusam-menwirken der Lehrer und Trainer für eine gute Koordinierung der Unterrichts- und Trainingsgestaltung, die Abstimmung der Zeitabläu-fe für den Tages- und Wochenrhythmus, die Festlegung der Ferien-termine und Verlagerung von Prüfungsterminen entsprechend den sportlichen Erfordernissen, die Klassenzusammensetzung nach Sportarten, nach Gruppen- oder Einzelunterricht für Schüler mit ho-hen Trainingsumfängen und hoher zeitlicher Belastung oder erfor-derlichem Unterricht für die Schüler in Lehrgängen außerhalb der Schule.
Ohne alle für die weitere Entwicklung der KJS maßgeblichen Be-dingungen hier aufzählen und erläutern zu können, zeichnete sich schnell ab, daß die Entwicklung dieser Schulen zu Spezialschulen des sportlichen Nachwuchses insbesondere die Auswahl der Schü-ler nach sportlichen Kriterien und schulischen Leistungen bedingte. Das Grundlagen- und Aufbautraining mit Zügen und Absichten ei-nes Auswahltrainings waren für die sportlichen Leiter Anlaß, Kon-sequenzen und Maßnahmen zur Erhöhung der Effektivität der Sichtung und Auswahl einzuleiten. Dazu wurde die Richtlinie zur einheitlichen Sichtung und Auswahl der Klassenstufen eins und drei präzisiert, der Terminablauf der Auswahlschritte konkretisiert sowie eine weitere Optimierung der Ziele, Inhalte und Aufgaben der Sichtung in den Klassenstufen sechs und neun gewährleistet. Die Sichtung der letztgenannten Klassen war mehr eine Nachsich-tung.
Mit Wirkung vom 1.9.1978 wurde dann das Aufnahmealter der Schüler für die KJS in den Sportarten: Eiskunstlauf auf die 1. Klas-se, Turnen (Mädchen) auf die 3. Klasse, Turnen (Jungen) auf die 4. Klasse, Rhythmische Sportgymnastik auf die 3. Klasse, Wasser-springen auf die 4. Klasse und im Fußball auf die 7. Klasse vorver-legt. Zur Realisierung dieser anspruchsvollen und komplexwirken-den Aufgaben wurde in Zusammenarbeit von DTSB und Sportme-dizinischem Dienst der DDR eine Direktive zur Arbeit mit Kindern der Klassen 1 bis 4 der KJS erarbeitet.
Die Umdelegierung von Nachwuchsportlern der 1. und 2. Förder-stufe stellte eine Maßnahme im Rahmen der Sichtung und Auswahl dar und betraf solche Nachwuchssportler, die in ihrer Sportart nicht die erwartete Leistungsdynamik erreichten, aber in einer anderen, für sie eventuell erfolgversprechenderen Sportart zielgerichtet ge-fördert werden konnten. Von der Richtlinie zur Umdelegierung von Sportlern des Grundlagen- und Aufbautrainings von 1986 erwarte-ten die Sportorganisation, die Basis der Sportarten zu erweitern, aufgetretene Lücken in der „Kaderpyramide“ zu schließen und die Anzahl der jährlichen Rückdelegierungen von leistungssportlich ausgebildeten Nachwuchsathleten aus dem SC/FC zu verringern. In der Öffentlichkeit bekannte Spitzensportler wie Klaus Ampler - Weltmeister im Straßen-Radsport, ehemals Schwimmer, Karin Richter-Enke - mehrfache Weltmeisterin im Eisschnellauf, ehemals Eiskunstläuferin, und Sylvia Fröhlich - mehrfache Weltmeisterin im Rudern, ehemals Leichtathletin-Hürdensprinterin sprachen für die Bestrebungen, Schüler mit sportlichem Talent für andere, erfolg-versprechendere Sportarten zu interessieren. So konnten 1984/85 insgesamt 86 und 1985/86 schon 91 Schüler für eine andere Sportart gewonnen werden.
Entscheidend für die sportliche Ausbildung war auch die Anstellung der Sportlehrer als Trainer beim DTSB. So half die Vereinbarung zur Überleitung von Sportlehrern der Volksbildung in die Tätigkeit als Trainer im DTSB von 1978, vor allem das Niveau der sportli-chen Ausbildung der Schüler an den KJS weiter zu erhöhen. Damit sollte auch die Vereinheitlichung der Arbeits- und Lebensbedin-gungen der Sportlehrer und der im DTSB tätigen Trainer, und zwar abgestimmt zwischen MfVB, DTSB und dem Zentralvorstand der Gewerkschaft für Unterricht und Erziehung, unterstützt werden. In 581 Gesprächen mit Sportlehrern hatten sich 306 für eine Trainer-
anstellung im DTSB entschieden und 238 für eine Trainertätigkeit bei Beibehaltung der Anstellung in der Schule. In eine andere Schule wechselten 37 Sportlehrer.
Das Internat der Kinder- und Jugendsportschule war eine Einrich-tung der Spezialschule Es hatte voraussetzenden Charakter und sollte den sportlichen Talenten des Bezirkes (Landes) den Besuch der KJS ermöglichen, vor allem aber den Schülern, die aus entfernt gelegenen Orten kamen und einen unvertretbar langen Schulweg zu bewältigen gehabt hätten. Bereits 1963 wurde mit der Richtlinie des MfVB festgelegt, daß 50% der KJS-Schüler internatsmäßig unterge-bracht werden sollen. Im Interesse der Sicherung einer guten Be-treuung und Erziehung im Internat waren für die Klassen 3-6 für je zehn Schüler und für alle weiteren Klassen für je fünfzehn Schüler ein qualifizierter Erzieher gefordert und einzusetzen. Resümierend konnte schon frühzeitig festgestellt werden, daß die Internate (in de-nen schließlich fast zwei Drittel der Schüler wohnten) für den größ-ten Teil der Schüler günstige Voraussetzungen und Bedingungen bezüglich der Abstimmung und Koordinierung des Unterrichts mit dem Training sowie für die tägliche und wöchentliche Belastungsge-staltung boten.
Dem Internatsleiter und den Erziehern oblagen in Vertretung und im Auftrag der Eltern bzw. der Erziehungsberechtigten verantwor-tungsvolle Aufgaben. Sie hatten die Erziehung und Ausbildung auf der Grundlage des Lehrplanes entsprechend der Altersspezifik und in Abstimmung mit dem Klassenlehrer und Trainer zu unterstützen, die individuelle Betreuung und Hilfe bei der Erledigung der Haus-aufgaben ebenso zu sichern wie das enge und kooperative Zu-sammenwirken mit den Klassenlehrern, Fachlehrern und Trainern, die Fürsorge- und Aufsichtspflicht wahrzunehmen, eine sportge-rechte Lebensweise einschließlich der Wahrnehmung der notwen-digen Ruhezeiten durchzusetzen. Den Erziehern oblag es auch zur sinnvollen Freizeitgestaltung, vor allem an den sportfreien Wo-chenenden ohne Heimfahrt, beizutragen und enge Kontakte zu den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten zu pflegen. Obwohl eine prak-tische Verwirklichung nicht mehr erfolgen konnte, waren die stän-dig gestiegenen Anforderungen an eine sinnvolle Freizeitgestaltung - vorrangig für Internatsschüler - der Anlaß dafür, daß vom MfVB festgelegt wurde, ab 1990 Freizeitpädagogen an den KJS einzu-setzen.
Für den Ausbau und den Neubau von Internaten stellte das Staats-sekretariat für Körperkultur und Sport über zwei Millionen Mark zweckgebunden zur Verfügung. Die Verpflegung der Internatsschü-ler erfolgte durch die Kücheneinrichtungen der KJS mit einer staat-lichen Unterstützung und einem Tagessatz in der Regel von 5,00 M bzw. 8,00 M je Schüler bei einem Elternanteil von 42,00 M monat-lich. Da für Schüler der Klassen 1 bis 8 keine Unterhaltsbeihilfe ge-zahlt wurde, konnte von einer im Internat gebildeten Kommission entsprechend der Schülerleistung und der sozialen Lage der Erzie-hungsberechtigten eine gestaffelte Verpflegungskosten-Erstattung zwischen 42,00 M, 30,00 M, 20.00 M, 10,00 M bis zur Freistellung gewährt werden.
Die Struktur der 25 Kinder- und Jugendsportschulen in den 15 Be-zirken und in Berlin basierte auf der Auswahlbasis der 15 Bezirksor-ganisationen des DTSB, der Sportvereingung Dynamo, der Armee-Sportvereinigung Vorwärts sowie der Gesellschaft für Sport und Technik und umfaßte schließlich 1989 (Stand vom Oktober) 10.052 Schülerinnen und Schüler der 41 SC/FC, der GST und von Sport-gemeinschaften mit Leistungssportauftrag in 24 besonders geförder-ten Sportarten, davon 5326 Internatsschüler, etwa 1461 Lehrer und 437 Erzieher.
Alle hier genannten und viele andere nicht besonders erwähnten Schritte ermöglichten es, daß sich die besten und sportlich talen-tiertesten Schüler durch ein langfristiges und systematisches Trai-ning mit gleichzeitigem KJS-Besuch zu Weltspitzenathleten entwi-ckeln und sich in den olympischen Sportarten für eine Olympiateil-nahme qualifizieren konnten. Für die Olympischen Spiele (Winter) 1980 hatten sich 42 KJS-Schüler oder ehemalige Schüler von ins-gesamt 58 Olympiateilnehmern der DDR qualifiziert, die 80 Prozent der Nation-Punkte erreichten; von 364 Teilnehmern an den Olym-pischen Spielen im Sommer 1980 waren 251 KJS-Schüler oder Absolventen der KJS, die zu 75 Prozent an den schließlich errun-genen Nation-Punkten beteiligt waren.
Die Schulische Ausbildung
Unter der Obhut der Organe für Volksbildung war die schulische Bildung, der allgemeinbildende Unterricht an den Kinder- und Ju-gendsportschulen das Hauptanliegen bei der Vermittlung eines so-liden und fundierten Allgemeinwissens sportbegabter Kinder und Jugendlicher bei gleichzeitigem Erreichen hoher sportlicher Leis-
tungen. Die Gewährleistung der schulischen Bildung und einer möglichst optimalen sportlichen Leistungsentwicklung erforderten eine ganztägige Erziehung und Bildung für alle Schüler, wofür die Kinder- und Jugendsportschulen die entsprechenden Vorausset-zungen zu schaffen hatten. Bereits 1963 orientierte das Ministeri-um für Volksbildung darauf, den Unterricht zu intensivieren und den Umfang der Hausaufgaben auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Es galt also, den Unterricht zu organisieren, ohne das Training zu be-einträchtigen. Grundsätzlich erfolgte der Unterricht an den Kinder- und Jugendsportschulen nach der zentral vorgegebenen Stunden-tafel. Die Unterrichtsstunden für das Fach Sport wurden anfangs von den Sportlehrern für die allgemeinathletische Ausbildung mit genutzt. Ab 1963 war mit der Stundentafel den an den KJS vertre-tenen Sportverbänden bzw. den SC eingeräumt worden, den Sportunterricht für die sportliche Ausbildung und somit für das Training der Schüler mit einzuplanen und zu nutzen.
Als eine der wesentlichen Aufgaben erwies sich die Koordinierung der schulischen Bildung mit der sportlichen Ausbildung unter Be-rücksichtigung der Wettkampfteilnahme und Freizeitgestaltung. Dem kam entgegen, daß es der Schulleitung gestattet war, die Lehrinhalte der einzelnen Fächer entsprechend der Tainingsrhyth-misierung und Periodisierung der Sportarten zu verteilen und an-zuordnen. Im Interesse eines qualitativ hochwertigen Fachunter-richts wurde jährlich der Einsatz von Fachlehrern an den KJS von den Direktoren nach Bedarf entsprechend der Stundentafel geplant und vom Ministerium für Volksbildung bestätigt. Sofern der Einzel- oder Gruppenunterricht eine erhöhte Stundenzahl für Fachlehrer erforderte (über die reguläre Wochenstundenzahl hinaus), war dies durch den Direktor plantechnisch zu lösen, die betreffenden Lehrer erhielten kein Honorar.
Insgesamt konnte sich die Kinder- und Jugendsportschule als Teil des Bildungssystems zur Sicherung qualifizierter Abschlüsse der Allgemeinbildung der Schüler auf Rahmenbedingungen stützen, die sowohl für eine solide schulische Bildung als auch eine fundier-te sportliche Ausbildung im Prozeß der Vorbereitung auf hohe sportliche Leistungen sorgten.
Resümierend sind die zu lösenden Aufgaben und entwicklungsbe-stimmenden Faktoren in einem Katalog zusammengefaßt:
- Die Organisation und Koordination von Unterricht und Training sowie deren Rhythmisierung im Tages- und Wochenablauf auf der Basis der Stundentafel und des Trainingsplanes.
- Der Einsatz für den Nachwuchsleistungssport geeigneter und qualifizierter Pädagogen, Erzieher und Trainer.
- Die Anwendung der fortgeschrittensten Unterrichtsmethoden und effektivsten Lehr-, Lern- und Unterrichtsmittel.
- Die zeitweilige Befreiung der Schüler vom Unterricht zur Teilnah-me an Wettkämpfen und Lehrgängen der Sportverbände des DTSB.
- Der Unterricht während der Lehrgänge an Sportschulen des DTSB durch Lehrer der KJS und die Anwendung spezieller Unter-richtsmittel u.a. von Aufgabenblättern zur Aneignung der Lehr- und Lerninhalte.
- Der Einsatz von Lehrkräften für die Beratung der Schüler, die be-rufsvorbereitende Orientierung und Information über Studienmög-lichkeiten.
- Die Erweiterung der Schulzeit für die Abiturstufe von zwei auf drei Jahre.
- Die Pädagogische Forschung (KJS-Forschung), zum Beispiel zur Bewältigung der unterrichtlichen und leistungssportlichen Anforde-rungen durch die Schüler; die Bestimmung des Aufnahmealters, die Grenzwertbestimmung für eine optimale Belastungsgestaltung u.a.m.
- Die Schaffung sportmedizinischer Einrichtungen für die sportme-dizinische und physiotherapeutische Betreuung der Schüler.
- Die Verlegung von Prüfungsterminen der Schüler, die verpflichtet sind, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen.
- Die veränderte Feriengestaltung (auf Antrag des SC) auf der Grundlage der Trainingsperiodisierung der Sportverbände.
- Die Möglichkeiten der Schulzeitstreckung bzw. Schulzeitverlänge-rung für Schüler mit hohen Trainingsanforderungen und Trainings-umfängen.
- Die Gewährleistung einer den Anforderungen des Nachwuchsleis-tungssports entsprechenden Verpflegung in vollem Umfang und in hoher Qualität nach der Richtlinie von 1975.
Die sportliche Ausbildung
Die Stellung und Bedeutung der sportlichen Ausbildung an den Kinder- und Jugendsportschulen nahm in den 39 Jahren der Exis-
tenz dieser Schulen eine Entwicklung vom Sport mit Training an Nachmittagen bis zur sportlichen Ausbildung mit Training (ohne zusätzlichen Sportunterricht) im System einer Ganztagsgestaltung und -betreuung. Teilweise wurde zweimal täglich trainiert, entspre-chend den Trainingsanforderungen der Gruppen- bzw. individuel-len Trainingspläne in den Sportverbänden. Während bis 1962 die Direktoren auch für die sportliche Ausbildung einschließlich für das Training verantwortlich zeichneten, wurden in Vorbereitung der Olympischen Spiele 1968 und 1972 gemeinsam vom MfVB und dem DTSB festgelegt, daß nun die Sportorganisation für die sport-liche Ausbildung an den KJS zuständig sein soll. Für den DTSB und die Sportverbände ergaben sich mit der Erarbeitung und Durchsetzung der sportlichen Entwicklungs- und Leistungspläne für alle an den KJS geförderten Sportarten sowie für die Durchführung und Kontrolle des Trainings auf der Grundlage der Rahmentrai-ningspläne der Sportverbände verbindliche Aufgaben. Dazu gehör-ten die organisatorische und finanzielle Sicherung ausreichender Wettkampfmöglichkeiten, die Gewährleistung der Teilnahme der Sportlehrer/Trainer der KJS an Trainerkonferenzen und Weiterbil-dungslehrgängen der Sportverbände und die Erarbeitung und Be-stätigung von Aufnahme- und Kontrollnormen für die KJS.
Mit der Gesamtverantwortung der Sportclubs für die sportliche Ausbildung waren Absprachen mit der Leitung der Kinder- und Ju-gendsportschule gefordert, um die Koordinierung von Unterricht und Training vornehmen zu können.
Mit der Entscheidung, daß die Sportorganisation die volle Verant-wortung für die Sportausbildung einschließlich des Sportunterrichts zu übernehmen hatte, waren zwei Institutionen - zum einen die Schule als staatliche Einrichtung für die schulische Bildung und Er-ziehung und zum anderen der Sport, der DTSB als gesellschaftli-che Organisation, für die sportliche Ausbildung und Erziehung der Schüler - ab 1963 als gemeinsame Träger der Kinder- und Ju-gendsportschulen zu betrachten.
Vor den Sportverbänden mit ihren wissenschaftlichen Zentren und den Sportclubs mit den Trainern stand die anspruchsvolle Aufgabe, die Planung der vielseitigen sportartgerichteten Ausbildung (mit Wettkämpfen) unter Berücksichtigung der Ansprüche für die Etap-pen des Grundlagentrainings, Aufbautrainings bis hin zum An-schlußtraining für die KJS-Schüler sowie die Sportler der Trai-
ningszentren/Trainingsstützpunkte zu planen. Das hatte u.a. zur Folge, daß die Sportverbände, mit möglichst vielen Kindern - am liebsten mit einer kompletten Klasse von 20 bis 25 Schülern an der jeweiligen Kinder- und Jugendsportschule - beginnen wollten, was natürlicherweise für den Gesamtprozeß der sportlichen Ausbildung und auch für den Unterricht von Vorteil sein konnte. Es war vor al-lem möglich, in einer Gruppe trainieren zu können, die auch ge-meinsam unterrichtet wurde. Der Anspruch auf eigenständige Klassen konnte jedoch nur für die Sportarten realisiert werden, die großen Zuspruch genossen und zu den besonders geförderten Sportarten und Disziplinen gehörten. Die Zusammensetzung der Klassen war aus der Sicht des Unterrichts und der trainingsmetho-dischen Gestaltung nach Sportartengruppen, wie Ausdauersportar-ten, technisch-kompositorische Sportarten, Kraft-Schnellkraft-sportarten, Kampfsportarten oder Spielsportarten, möglich.
Im Gesamtkanon der sportlichen Ausbildung stand an der Kinder- und Jugendsportschule vorrangig das leistungssportliche Nachwuchstrai-ning der Sportverbände im Mittelpunkt, welches sich durch eine hohe Verbindlichkeit einheitlicher Zielvorgaben sowie durch erprobte Mittel und Methoden auszeichnete. Erwartet wurden in jeder Sportart und in jedem Jahrgang ein steigendes Niveau vielseitiger sportartgerichteter Leistungsvoraussetzungen und altersgerechte Wettkampfleistungen von immer mehr Mädchen und Jungen sowie jährlich, zu den KJS-Aufnahmen und am Ende des Aufbautrainings, die erforderliche An-zahl junger Nachwuchsathleten, die allseitig und gut vorbereitet, be-lastungsverträglich und außerordentlich motiviert, Spitzenleistungen auf neuem, höheren Niveau anstreben. Folgende Faktoren erwiesen sich als bestimmend im Prozeß einer langfristigen und systemati-schen Ausbildung sportlicher Talente:
Die Ableitung der Anforderungen der sportlichen Leistungsentwick-lung von den internationalen Entwicklungstrends der Sportarten;
Der Trainingsbeginn für eine solide und umfassende Grundausbil-dung unter Berücksichtigung der Abhängigkeit des voraussichtli-chen Erreichens sportlicher Höchstleistungen von 10 bis 15 Jahren Training;
Die Anwendung von wissenschaftlich fundierten Kriterien und Nor-men zur Bestimmung der Eignung, der Leistungsentwicklung und Klassifizierung in Verbindung mit der Aufnahme in die KJS und in den Abiturkurs;
Die sportliche Eignung und Trainingsbereitschaft und die Aufnah-me in die Kinder- und Jugendsportschule sowie in den Sport-club/Fußballclub;
Die Sicherung des Trainings und der Betreuung durch qualifizierte Trainer;
Den jeweiligen Entwicklungsmöglichkeiten des einzelnen ange-messene Anforderungen und eine möglichst objektive Bewertung des Erreichten ausgehend vom Spitzenniveau und den internatio-nalen Trends;
Die Planung und Gestaltung der Tages- und Wochenrhythmisie-rung bei Berücksichtigung der Unterrichtsanforderungen und die Koordination von Training, Unterricht und Freizeitgestaltung;
Die Teilnahme an systematisch angeordneten Vorbereitungs- und Aufbauwettkämpfen sowie territorialen und nationalen Meister-schaften;
Die Gewährleistung einer sportgerechten Ernährung;
Die sportmedizinischen Betreuung in allen Altersstufen und Trai-ningsetappen und die kontinuierliche Einflußnahme auf die systemati-sche, die Belastungsverträglichkeit sichernde Belastungsgestaltung, Wiederherstellung und Erholung;
Die Stimulierung der Wettkampfleistungen durch die Anwendung von Leistungsprinzipien und Leistungskategorien;
Entsprechend dem Bildungsgesetz dienten die Spezialschulen - zu denen auch die KJS gehörten - der Förderung von Begabungen auf technischen, mathematischen, naturwissenschaftlichen, sprachlichen, künstlerischen und sportlichen Gebieten. Das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport (vormals Staatskomi-tee für Körperkultur und Sport) war somit staatlicherseits der Ent-wicklung und Förderung des Sports - so auch an den Kinder- und Jugendsportschulen - verpflichtet. Vom Beginn an in den Entwick-lungsprozeß der KJS einbezogen, nahm das Staatssekretariat sei-ne Aufgaben gegenüber den Schulen bezüglich materieller, finan-zieller und personeller Belange sowie der Gewährleistung der sportmedizinischen Betreuung und Einflußnahme auf eine sportge-rechte Ernährung und der Weiterbildung und Qualifizierung von Sportlehrern wahr. Zum Beispiel wurden für den Neubau und Aus-bau von Kinder- und Jugendsportschulen, Internaten und Verpfle-gungseinrichtungen vom Staatssekretariat (ab 1964) zweckgebun-dene Finanzmittel zur Verfügung gestellt. Auf der Grundlage des
Fünfjahrplanes (Staatsplan) waren die Kinder- und Jugendsport-schulen, Internate und Sozialeinrichtungen bis 1980 in Oberhof, Potsdam, Magdeburg, Oberwiesenthal, Jena, Erfurt und Cottbus fertigzustellen bzw. zu komplettieren. Die medizinische Betreuung der KJS-Schüler wurde durch den Sportmedizinischen Dienst (SMD) der DDR und seine Beratungsstellen in den Bezirken gesi-chert. An allen Kinder- und Jugendsportschulen waren Sportärzte und medizinisches Personal gemäß der verbindlichen Richtlinien einzusetzen. Verantwortlich dafür war der Direktor des SMD. Zur Gewährleistung der Bildung und Erziehung an den KJS als einen komplexen Prozeß von Training, Unterricht und Freizeitgestaltung wurden sportwissenschaftliche, sportmedizinische und pädagogi-sche Forschungsaufgaben in zunehmend engerem Zusammenwirken der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen realisiert und dazu ermög-licht, die KJS Magdeburg als Forschungs-Schule zu nutzen. Oder - um ein letztes Beispiel zu nennen - in den „Prinzipien zur Durchset-zung ... entsprechend der sportartspezifischen Ernährung der Leis-tungssportler“ vom 01.09.1975 wurden von Ernährungswissenschaft-lern und vom SMD Richtwerte für KJS-Schüler - nach Sportart und Al-tersklassen differenziert - für die Verpflegungseinrichtungen der Kin-der- und Jugendsportschulen verbindlich festgelegt.
Zur Sichtung, Auswahl und Aufnahme sportlich geeigneter Schüler
Für das Training in der 1. Förderstufe standen 1685 Trainingszen-tren (TZ) und ca. 150 Trainingsstützpunkte (TS) des DTSB zur Ver-fügung. In 24 olympischen Sportarten nahmen 54.960 Trainierende an einem 3-jährigen Grundlagentraining (GLT) teil. Zur Sicherung der Kaderpyramide waren von den 7300 Übungsleitern und 1970 Trainern der 1. Förderstufe jährlich 23.000 sportlich geeignete Jun-gen und Mädchen für die Aufnahme in die TZ/TS zu gewinnen, von denen etwa 10.000 bis 11.000 zu Beginn des 3. Trainingsjahres für die Auswahl und Aufnahme in die Kinder- und Jugendsportschulen und SC/FC vorbereitet und vorgestellt werden sollten.
Um aus dem Gesamtreservoir der Nachwuchssportler die sportlich talentierten Kinder für die Aufnahme in die TZ/TS zu finden, wurde in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Volksbildung und der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig 1976 ein Programm mit dem Titel „Die einheitliche Sichtung und Auswahl für TZ/TS des DTSB der DDR“ (ESA) erstellt. Nach diesem Pro-
gramm konnten mit aktiver Unterstützung der Sportlehrer der Schu-len alle Kinder der 1. und 3. Klassen gesichtet und die sportlich Geeignetsten für eine Trainingsaufnahme in den TZ/TS vorgeschla-gen und möglichst gewonnen werden. In einem sehr aufwendigen Sichtungsprozeß wurden zwischen rund 180.000 bis 250.000 Kinder jährlich in zwei Auswahlschritten nach einem wissenschaftlich erar-beiteten Testprogramm mit 6 Leistungskontrollwerten in der 1. Klas-se und 14 Leistungskontrollwerten in der 3. Klasse gesichtet und ihre sportliche Eignung festgestellt. Die Kinder der 1. Klasse wurden für die Sportarten Turnen, Rhythmische Sportgymnastik, Schwimmen und Wasserspringen im ersten Auswahlschritt nach ihren physi-schen Anlagen, der Gewandtheit, Kraftveranlagung und nach Kör-perbaumerkmalen nur in den Schulen in unmittelbarer Nähe der TZ gesichtet. In der 3. Klasse standen im ersten Auswahlschritt für alle anderen Sportarten (außer Eiskunstlauf) die Beurteilung von Kör-perbaumerkmalen und physischen Parametern, wie Ausdauer, Kraft, Schnellkraft, technisch-koordinative Anlagen und Gewandtheit, im Mittelpunkt. Auf der Grundlage der Ergebnisse wurden nach einer Normentabelle die für eine Sportartengruppe geeigneten Kinder zum zweiten Auswahlschritt eingeladen und von Trainern und Kreissport-lehrern getestet. Im Grundlagentraining waren jährlich 2800 Kinder für das 2. und 3. Trainingsjahr nachzusichten.
Die Vorschläge zur Delegierung in ein TZ/TS berücksichtigten so-wohl die Testergebnisse als auch die Beurteilung der Schule, die Ergebnisse der sportmedizinischen Untersuchung und die Aussagen zur biologischen Entwicklung. Die nicht für ein TZ/TS ausgewählten Kinder waren für den regelmäßigen Übungsbetrieb in einer Schul-sportgemeinschaft oder Sportgemeinschaft zu gewinnen. Hinzuzu-fügen ist, daß neben der Sichtungsform ESA zusätzlich sportveran-lagte Kinder aus dem allgemeinen Übungs-, Trainings- und Wett-kampfbetrieb der Sportgemeinschaften und Schulsportgemeinschaf-ten von den TZ-Trainern für die Aufnahme in ein TZ/TS gesichtet und gewonnen wurden. Im Ergebnis des Grundlagentrainings galt es zu Beginn des 3. Trainingsjahres mit rund 10.000 Sportlern die etwa 4-fache Anzahl Schüler für eine Delegierung vorzubereiten.
Auch für die 2. Förderstufe, deren Struktur im wesentlichen durch die Kinder- und Jugendsportschulen und die Nachwuchsabteilun-gen der Sport- und Fußballclubs gebildet wurde, war die Sichtung und Auswahl sportlich talentierter Schüler für den Aufnahmeprozeß
von jährlich 2550 Schülern in die Aufnahmeklasse der jeweiligen Sportart und 320 Nachdelegierungen in bereits vorhandene Klas-sen der KJS ein Grundanliegen zur Förderung der sportlichen Ta-lente in über 20 Sportarten.
Für die Auswahl- und Aufnahmegestaltung kam dem Aufnahmeal-ter eine Schlüsselstellung zu. Während ab 1952 die Aufnahme für Turnen, Schwimmen und Eiskunstlauf in der 5. Klasse erfolgte und alle anderen Sportarten ab der 7. Klasse begannen, folgten in den Jahren darauf mehrfache Veränderungen des Aufnahmealters. Be-reits 1966 wurde gemeinsam vom MfVB und dem DTSB festgelegt, die geeigneten Schüler für Gewichtheben, Hallenhandball und Ju-do in die 9. Klasse und im Segeln und Skilauf in die 8. Klasse auf-zunehmen. Veränderungen des Aufnahmealters ergaben sich auf Antrag der Sportverbände vorrangig in Ableitung vom Höchstleis-tungsalter der Spitzenathleten. In erster Linie betraf dies die Sport-arten Eiskunstlauf, Turnen, Rhythmische Sportgymnastik und Schwimmen (weiblich), um für sie die an den Kinder- und Jugend-sportschulen gegebenen Trainingsmöglichkeiten und 12-20 Stun-den Training in der Woche im Aufbau- und Anschlußtraining bei un-terstützender Unterrichtsgestaltung nutzen zu können. Verände-rungen des Aufnahmealters in höhere Klassenstufen ergaben sich auch auf Grund biologischer Kriterien und durch die Berücksichti-gung von Körperbaumerkmalen (Körpergröße) für Rudern (männ-lich), Volleyball (männlich) und Gewichtheben (obere Gewichts-klassen), da sich vorrangig bei Jungen im 13. und 14. bis zum 16. Lebensjahr sowohl ein rasches als auch spontanes Körperwachs-tum einstellen kann. Dieser natürlichen Gegebenheit Rechnung tragend, wurde für die oben genannten Sportarten die Aufnahme in die 9. Klasse vorgesehen und nach umfassender Prüfung festge-legt.
In den Auswahlprozeß eingeschlossen waren auch Aspekte der Nach-, Um- und Rückdelegierung sportengagierter Schüler und KJS-Sportler.
Im Aufnahmeprozeß galt vor allem den Nachaufnahmen und damit den Nachdelegierungen eine besondere Aufmerksamkeit, die einen konkreten Bestandteil bei der Planung und Abrechnung der Dele-gierungsaufträge für die TZ/TS bildeten. Vor allem bestehende Lü-cken in der Kaderpyramide der jeweiligen SC-Sportarten (Diszipli-nen, Alters- und Gewichtsklassen) sollten dadurch geschlossen
und sportlichen Talenten, die eine etwas spätere sportliche Leis-tungsentwicklung nahmen, eine nachträgliche Aufnahme ermög-licht werden ebenso jenen, für die zum Aufnahmetermin noch nicht alle Fragen zur Aufnahme beantwortet werden konnten.
Im System des Nachwuchsleistungssports waren alle beteiligten Trainer, Lehrer und Funktionäre damit konfrontiert, daß nicht alle für die Kinder- und Jugendsportschule geeigneten Schüler die an-gestrebte Leistungsdynamik erreichen und nur etwa jeder achte bis zehnte sportliche Höchstleistungen/Weltspitzenleistungen erzielen kann. Für die Mehrzahl der KJS-Schüler stand zwangsläufig früher oder später bei Leistungsstagnation die Frage, die Kinder- und Ju-gendsportschule zu verlassen. Die dann nötigen Umschulungen waren prinzipiell - so die Richtlinie für die Kinder- und Jugendsport-schule von 1964 - am Ende des Schuljahres vorzunehmen. Es gab natürlich auch die Möglichkeit, nach einer weiteren Eignungsprü-fung durch den SC/FC sich für eine andere Sportart zu entscheiden und eventuell einer Umdelegierung zuzustimmen. Die Schüler hat-ten nach zwei und mehr Trainingsjahren in ihrer Sportart eine um-fangreiche allgemeinathletische und sportartspezifische Ausbildung erhalten, so daß es nahe lag, die sportliche Entwicklung in einer anderen, vom Sportler gewollten Sportart zu versuchen. Im Ergeb-nis dieser Bestrebungen konnten zum Beispiel 1982/83 insgesamt 45, 1984/85 - 86 und 1985/86 - 91 Schüler für eine Umdelegierung gewonnen werden. Nur in Ausnahmefällen war dies mit einer Um-schulung verbunden. Von den umdelegierten Schülern erreichten einige ein besonders hohes Leistungsniveau, wie ihre Teilnahme und ihre Ergebnisse bei Welt- und Europameisterschaften, bei Olympischen Spielen und anderen internationalen Wettkämpfen belegen.
Unter Berücksichtigung vieler für die Entwicklung bedeutender Aufgaben im System des Nachwuchsleistungssports der DDR wur-den vor allem den Fragen der Rückdelegierung bzw. der Umschu-lung von Schülern der Kinder- und Jugendsportschule besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Entsprechend der Richtlinie für die Ar-beit der Spezialschulen waren die Eltern bei Aufnahme ihrer Kinder darauf hingewiesen worden, daß Schüler, die den sportlichen An-forderungen nicht mehr gewachsen sind, am Ende des Schuljahres umgeschult (rückdelegiert) werden. Ein entsprechender Passus dazu war im Aufnahmeantrag enthalten. Für neu aufgenommene
Schüler durfte frühestens am Ende des 2. Schuljahres eine Rück-schulung erfolgen. Zuvor jedoch war zu prüfen, ob der/die Schü-ler/in in einer anderen, an der Schule gelehrten Sportart eine Ent-wicklungsmöglichkeit hatte. Frühere Umschulungen waren im Ein-vernehmen mit den Eltern möglich. Schüler die vorzeitig die KJS verließen, waren in die zehnklassige allgemeinbildende polytechni-sche oder in die Erweiterte Oberschule (EOS) zu übernehmen. So-fern es notwendig war, waren von den KJS für den umzuschulen-den Schüler individuelle Fördermaßnahmen einzuleiten, um einen reibunglosen Übergang an eine andere Schule zu gewährleisten. Im Interesse eines kontinuierlichen Unterrichts der Schüler, wurde mit der Arbeitsordnung der KJS von 1979 festgelegt, Umschulun-gen aus leistungssportlichen oder medizinischen Gründen nicht am Ende der 9. und während der 10. Klasse - außer auf ausdrückli-chen Wunsch der Eltern oder bei notwendigen Disziplinarmaß-nahmen auf der Grundlage der Schulordnung - vorzunehmen. Wurde eine Rückdelegierung eines Schülers aus dem Sportclub wegen fehlender sportlicher Perspektive festgelegt, entschied der Direktor der Kinder- und Jugendsportschule über die Umschulung. Er hatte nicht nur die schulischen Maßnahmen zu sichern sondern auch eine würdige Verabschiedung aus der Schule vorzunehmen. Für Schüler der Abiturstufe, die bereits in der 11. Klasse das Leis-tungssporttraining beendeten, konnte der Direktor der KJS, nachdem sie die Ziele des Lehrplans der 11. Klasse der Erweiterten Oberschule an der KJS erreicht hatten, die Umschulung an eine andere EOS ein-leiten bzw. den Schüler im 12. Schuljahr an der KJS zum Abitur zu führen.
Eine immer größere Bedeutung kam der weiteren sportlichen Betä-tigung der aus den KJS in die Heimatschule zurückdelegierten Schüler zu. Insbesondere den SC/FC, denen die zurückdelegierten Schüler bis dahin angehörten, oblag es, das regelmäßige Training in einer Sportgemeinschaft zu gewährleisten. Entsprechende Maß-nahmen und Verantwortlichkeiten für den SC/FC zur Rückdelegie-rung von KJS-Schülern in die Sport- oder Schulsportgemeinschaf-ten (möglichst am Heimatort) waren in der Richtlinie zur Rückdele-gierung vom DTSB konkret fixiert.
Schulzeitstreckung und Schulzeitverlängerung
Die in Ableitung vom Entwicklungstempo sportlicher Höchstleistun-gen ständig wachsenden Anforderungen an die Qualität und Inten-
sität, den Umfang und die Häufigkeit des Trainings, forderten von den Kinder- und Jugendsportschulen die Bereitschaft und Einstel-lung, für alle Schüler das Training in einem ihren sportlichen Auf-trag entsprechenden zeitlichen Umfang bei Sicherung des Unter-richts in den allgemeinbildenden Fächern zu gewährleisten. Anlaß für diese Konsequenzen waren die gestiegenen Trainingsumfänge laut Rahmentrainingsplan der Sportverbände für das Aufbautrai-ning vor allem in den Sportarten mit einem relativ frühen Hochleis-tungsalter, wie Turnen (weiblich und männlich), Schwimmen (weib-lich und männlich), Rhythmische Sportgymnastik, Eiskunstlauf (weiblich und männlich) und Wasserspringen (weiblich und männ-lich). In den Klassenstufen 5 bis 10 hatten die Schülerinnen und Schüler wöchentlich über 23/24 Trainingsstunden und 28 bis 30 Stunden Unterricht zu bewältigen. Deshalb beschloß der Minister-rat mit der „Richtlinie zur Arbeit der Kinder- und Jugendsportschu-le“, daß für Schüler bestimmter Sportarten mit einer hohen Ge-samtbelastung (durch Training, Wettkämpfe und Unterricht) eine Streckung der Schulzeit im Bereich der zehnklassigen allgemein-bildenden polytechnischen Oberschulen möglich ist. Das Ministeri-um für Volksbildung legte daraufhin in Abstimmung mit dem Deut-schen Turn- und Sportbund und dem Staatssekretariat für Körper-kultur und Sport im Beschluß vom 29.05.1979 „Maßnahmen zur Einführung der Schulzeitstreckung“ an den festgelegten Kinder- und Jugendsportschulen für die oben genannten Sportarten fest. Das bedeutete konkret, den Unterrichtsstoff von zwei Klassenstu-fen für alle Schüler in den jeweiligen Sportarten auf drei Schuljahre zu strecken. Diese Streckung des wöchentlichen Unterrichtsumfangs von 28 bis 30 Stunden ermöglichte nun eine Stundenanzahl von 22 bis 18 Stunden Unterricht pro Woche. Natürlich mußte solch eine Schul-zeitstreckung bei stagnierender Leistungsentwicklung und für Schüler mit „relativ geringer sportlicher Erfolgsaussicht“ auch rechtzeitig wieder aufgehoben werden, um durch eine zielstrebige Förderung den schuli-schen Anschluß an die entsprechende Klassenstufe wieder herstellen zu können. Den talentiertesten Schülern konnte anfangs eine zweimali-ge Schulzeitstreckung gewährt werden. Da jedoch manche sich bereits nach der ersten Streckung infolge ihrer sportlichen Leistungen für einen Kaderkreis des jeweiligen Sportverbandes qualifiziert hatten, kam für sie eine Schulzeitverlängerung und nicht die 2. Streckung in Frage. Im Schwimmen männlich wurde folgerichtig 1984/85 die Schulzeitstre-
ckung korrigiert und nur noch auf eine Streckung orientiert, die sich auf eine Dehnung des Unterrichts in den Klassen 8, 9 und 10 auf insge-samt vier Jahre bezog.
Bei Schülern, die den Nationalmannschaften der Sportverbände (Kaderkreis 1), dem Auswahlkaderkreis der unmittelbaren An-schlußkader (Kaderkreis 2) oder dem Auswahlkader der besten jungen Nachwuchssportler angehörten, war das vorgesehene Trai-ning und der geplante Unterricht in den individuellen Trainingsplan aufzunehmen. Durch die Kinder- und Jugendsportschule war der Unterricht für die Schüler der Kaderkreise 1 und 2 als Einzelunter-richt oder Gruppenuntericht zu planen und zu realisieren. Vom sportlichen Leistungsauftrag war abhängig, ob die Schulzeit von Schülern der 3. Förderstufe zur Erlangung des Abschlusses der 10. Klasse der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule oder der Reifeprüfung (13. Klasse) verlängert werden konnte. Die dazu notwendigen schulischen Fördermaßnahmen wie Einzel- oder Gruppenunterricht waren in Vorbereitung des Schuljahres langfris-tig und gemeinsam von der Leitung der KJS und des SC/FC festzu-legen, was jedoch erst nach erfolgter Zustimmung durch die Sport-verbände, das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport und den Bezirksschulrat möglich war. Die Schulzeitverlängerung für die Spitzenathleten der Sportverbände war unter anderen begründet, durch die Vorbereitung auf internationale Wettkampfhöhepunkte und Perioden höchster sportlicher Belastung. In diesen Zeiträumen durfte der Unterricht zeitweilig eingeschränkt oder ausgesetzt wer-den.
Wesentlich für die Förderung war auch die Freistellung der Schüler für Lehrgänge. Die Anzahl der Kaderkreissportler wurde jährlich dem Mi-nisterium für Volksbildungen mitgeteilt. Für besonders förderungswür-dige Schüler, die zu „Spätentwicklern“ zählten oder durch Verletzun-gen oder Krankheit längere Unterrichtsausfälle hinnehmen mußten, wurden jeweils vom DTSB die notwendigen Schritte für eine Schul-zeitverlängerung eingeleitet.
Allerdings - und darauf möchte ich abschließend besonders hinweisen - sind die hier genannten und erörterten Aufgaben, Maßnahmen, Vorge-hensweisen Teil eines gesamten und in seinen Hauptkomponenten ausgewogenen Fördersystems, die eine individuelle Förderung und Entwicklung begünstigten.
LITERATUR
- Helfritsch W./Becker U.: Dokumentationsstudie Pädagogische KJS-Forschung, Köln: Bundesinstitut für Sportwissenschaft. 3/1993
- Joch, W.: Das sportliche Talent, Aachen 1992
- Verordnung des Ministerrats der DDR vom 30.04.1953
- Beschluß des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport; „Zur schnelleren Erhöhung der sportlichen Leistungen“ vom 25.03.1958
- Richtlinie für die Arbeit der Spezialschulen des sportlichen Nachwuchses in der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Volksbildung vom 01.01.1962 und 1963, vom 21.10.1977, überarbeitete Fassung
- Prinzipien zur Durchsetzung und Kontrolle (...) sportartspezifischer Ernährung der Leistungssportler, Staatssekretariat für Körperkultur und Sport vom 01.09.1975
- Richtlinie zur Planung und Finanzierung der KJS vom 11.05.1964 und 01.11.1971
- Vereinbarung zwischen Bundesvorstand des DTSB und Ministerium für Volksbil-dung zur wirkungsvolleren Durchsetzung des Beschlusses über die Arbeit der Kin-der- und Jugendsportschulen der DDR als Spezialschulen des sportlichen Nach-wuchses, MfVB und DTSB vom 6.4.1966
- Grundlinie der weiteren Entwicklung der KJS bis 1980, MfVb vom 24.06.1970 und der dazu mit dem DTSB gemeinsam festgelegte Maßnahmeplan
- Arbeitsordnung für die Kinder- und Jugendsportschulen, MfVB vom 25.01.1971 und überarbeitete Fassung vom 29.05.1979 und Ergänzung zur Arbeitsordnung vom 30.04.1982
- Richtlinie zur einheitlichen Sichtung und Auswahl sportlich geeigneter Schüler für die Trainingszentren und Trainingsstützpunkte des DTSB vom 10.07.1973 und vom 01.09.1976
- Vereinbarung zur Überleitung von Sportlehrern der Volksbildung in die Tätigkeit als Trainer im DTSB der DDR, MfVB vom 15.03.1978
- Maßnahmen zur weiteren Förderung der Körperkultur und des Sports in der DDR, Beschluß des Ministerrats der DDR vom 13.07.1978
- Verordnung über die Sicherung einer festen Ordnung in den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen (Schulordnung) vom 29.11.1979
- Richtlinie zur Sichtung, Auswahl und Vorbereitung von Vorschulkindern für die Aufnahme in die Kinder- und Jugendsportschulen im Eiskunstlauf, Bundesvor-stand des DTSB 1979
- Anweisung zur Verantwortlichkeit der Volksbildungsorgane einschließlich der Leiterinnen von Kindergärten bei der Einbeziehung von Vorschulkindern in ein Eiskunstlauftraining des DTSB der DDR, MfVB 1979
- Direktive zur Arbeit mit Kindern der Klassen 1-4 an den Kinder- und Jugend-sportschulen der DDR, MfVB und DTSB vom 25.03.1981
- Richtlinie zur Rückdelegierung der aus dem Sportclub/Fußballclub ausscheiden-den Sportler in Sektionen der Sportgemeinschaften, Bundesvorstand des DTSB vom 01.04.1983
- Richtlinie zur Umdelegierung von Nachwuchssportlern der 1. und 2. Förderstufe, Bundesvorstand des DTSB vom 10.06.1986
- Helfritsch, W.: Die Kinder- und Jugendsportschulen - Schulen ohne Schulsport. Altlasten oder Beispieleinrichtungen für die Nachwuchsförderung im Leistungssport? Unveröffent-lichtes Manuskript
Die Friedensfahrt in sich wandelnden Zeiten
Von Klaus Huhn
In Kürze erscheint in Berlin eine von Klaus Ullrich Huhn ver-faßte „Geschichte der Friedensfahrt“, das Vorwort schrieb Gustav-Adolf Schur. Dem Eröffnungskapitel sind die folgen-den Zeilen entnommen.
Die Chronik des Radsports kennt kaum ein Rennen, das so gefeiert aber auch verdammt wurde wie die Friedensfahrt. Allerdings muß diese Feststellung geopolitisch eingeschränkt werden, denn sie gilt vorrangig für Deutschland, also für die beiden deutschen Staaten. Als Willy Brandt mit seiner spektakulären Geste am 7. Dezember 1970 die Toten von Warschau ehrte, was heute zuweilen als Beginn der deutsch-polnischen Freundschaft ausgegeben wird, war bereits die 22. Friedensfahrt gefahren worden und das Verhältnis zwischen Polen und der DDR auf vielen Ebenen freundschaftlich. Die Reste alter Vorbehalte abzubauen bemühten sich die Veranstalter des Rennens alljährlich.
In dieser Hinsicht machten die Veranstalter des Rennens auch gar kein Hehl aus ihrem politischen Anliegen. So ließ der Paragraph I des Rennens nie Zweifel an der Absicht und dem Ziel des Rennens aufkommen. Zum Beispiel las man im Reglement des Jahres 1975: „Die Friedensfahrt verbindet den sportlichen Wettkampf mit dem gemeinsamen Streben der Völker, den Weltfrieden zu festigen und die friedliche Koexistenz zur Grundlage der Beziehungen zwischen Staaten verschiedener Gesellschaftsordnungen zu machen. Sie demonstriert die Entschlossenheit aller Teilnehmer, für dauerhaften Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit der Völker einzutreten.“
Die Frage ist legitim, ob solche Anliegen die Möglichkeiten eines Radrennens etwa überfordern, zu verurteilen sind sie gewiß nicht und die Internationale Radsportföderation und ihre leitenden Funk-tionäre nahmen auch nie den geringsten Anstoß daran. Im Gegen-teil: Man könnte viele Eröffnungsreden von UCI-Präsidenten ab-drucken, die diese Ziele des Rennens ebenso rühmten wie seinen Namen. Daß sie von der „Partei“ dazu genötigt worden waren, wird wohl niemand behaupten wollen.
Schwer zu begreifen war, warum man sich in der Bundesrepublik für dieses Anliegen nie aufrichtig erwärmen konnte. Wer sich aller-dings der Verfolgung der Friedensbewegung bis vor die Schranken der Gerichte erinnert, kann erahnen, wie suspekt der Obrigkeit ein Rennen unter der Taube Picassos sein mußte. Diese Aversion nahm indes so unbegreifliche Ausmaße an, daß der Radsportver-band Jahre hindurch daran gehindert wurde, seine Mannschaft überhaupt starten zu lassen. Das wird bis heute von niemandem kritisiert und Sporthistoriker haben dieses Thema bis heute nicht „aufgearbeitet“, sondern ignoriert.
Jahreszahlen belegen indes überzeugend die kategorische Abnei-gung: Als man 1967 die 20. Friedensfahrt startete, wurde die DDR zum 18. Mal in den Startlisten geführt, während die Bundesrepublik Deutschland erst drei Mal (1956, 1958 und 1967) teilgenommen hatte. Noch eine unverdächtige Vergleichszahl: Frankreich war in diesem Zeitraum bereits zwanzig Mal an den Start gegangen.
Dürftige Spuren für Hintergründe dieses verordneten Boykotts lie-fern nur die BRD-Medien der frühen Jahre. In den offiziellen Archi-ven sucht man vergeblich. Die Medien können wiederum nur be-dingt als verläßliche Zeitzeugen gelten, weil sie sich mit dem Prob-lem konfrontiert sahen, zum einen dem weltweit beachteten Ren-nen nicht mehr Aufmerksamkeit als einem belanglosen Vor-stadtereignis schenken - demonstriert durch Fünf-Zeilen-Meldun-gen -, und es zum anderen politisch diffamieren zu sollen. Daß dies nicht den Sportjournalisten zuzuschreiben war, belegt ein Zitat des von der Bonner Regierung herausgegebenen „Bulletins“ das 1959 in einer Sonderbeilage „Sport hinter dem Eisernen Vorhang“ die in-zwischen nicht mehr zu ignorierende Begeisterung der DDR-Bevölkerung für das Rennen regierungsamtlich so deutete: „Das Geheimnis der zehn Millionen Zuschauer erklärt sich nicht aus der Faszination des Rennens oder dem Wunsch, für den Frieden zu demonstrieren. Da ist der Druck auf die Bevölkerung, der Veran-staltung beizuwohnen und den ausländischen Teilnehmern Frie-densbotschaften auszuhändigen.“
Als 1958 zum zweiten Mal eine BRD-Mannschaft an der Friedens-fahrt teilnahm, wurde der für die Teilnahmemeldung zuständige Straßenwart Ewert heftig kritisiert, wegen der Teilnahme überhaupt und auch weil er die besten Fahrer zur Friedensfahrt statt zu jener Vier-Etappen-Fahrt geschickt hatte. Im „Sport-Kurier“ (Berlin-West)
plädierte ein Leser für Konsens: „Mein Vorschlag: Verlegt die Vier-Etappen-Fahrt um vierzehn Tage nach der Friedensfahrt.“ Die Re-daktion belehrte ihn: „Der Charakter der beiden Rennen ist so ver-schieden, daß man sie nicht vergleichen kann.“
Diese Feststellung muß nicht kommentiert werden. Wenn noch 43 Jahre später der Mitteldeutsche Rundfunk die Abneigung des BRD-Radsportverbandes 1991 offenherzig mit den Worten erklärte: „Der Bund Deutscher Radfahrer sieht die Fahrt eher als sozialistisches Relikt, denn als Sportveranstaltung“ ist die Tendenz mühelos er-kennbar und nebenbei auch ein Kapitel Mär vom unpolitischen Sport in der BRD widerlegt. Die Absurdität der BRD-Friedensfahrt-Antipathie wog um so schwerer, da politische und militärische Bündnispartner der BRD schon lange zu den Stammgästen der Fahrt gehörten und darauf verzichteten den in anderen Bereichen gegenüber den Veranstalterländer praktizierten Antikommunismus auf das Rennen zu übertragen...
Und wenn der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte des Sports der Universität Potsdam, Prof. Teichler, der in der DDR aufgewachsen ist, heute noch einräumt, weite Wege geradelt zu sein, um die Friedensfahrt am Straßenrand mitzuerleben, fällt er zumindest als Zeuge für die angeblich an die Strecke Getriebenen aus. Diese Behauptung überlebte indes die Jahrzehnte. Am 9. Mai 1990 wur-de in der „Berliner Morgenpost“ das nachlassende Interesse der Zuschauer an dem Rennen mit den Worten erklärt: „Ein paar hun-dert wirklich Interessierte säumten gegen 16 Uhr die Strecke. Um diese Zeit wird in Ost-Berlin fast überall noch gearbeitet und die Zeiten der vom Betrieb zum Jubeln freigestellten Delegationen sind vorbei.“ Eine Version, die auf ziemlich erschreckende Weise bestä-tigte, daß man im „Springer“-Gebäude noch immer die Schablone verwendete, die von Bonn - siehe oben - vierzig Jahre zuvor aus-gegeben worden war.
Noch zwei Vermerke aus der Geschichte des Rennens: Die BRD-Nachrichtenagentur dpa meldete am 6. Mai 1953: „Die österreichi-schen Teilnehmer an der so genannten Friedensfahrt Prag-Berlin-Warschau mit Deutsch und Sitzwohl an der Spitze wurden von der österreichischen Radsportkommission am Dienstag zurückberufen, da ihnen bei einer weiteren Teilnahme eine Sperre durch den in-ternationalen Radsportverband (UCI) droht. Die beteiligten Fahrer aus Großbritannien, Frankreich und der sowjetisch besetzten Zone
Deutschlands sind keine Mitglieder der UCI, die nur Wettbewerbe zwischen Mitgliedsverbänden gestattet.“
An dieser Nachricht stimmte faktisch nur das Datum, denn: die Ös-terreicher Deutsch und Sitzwohl fuhren bis ins Ziel der letzten Etappe. Noch heute weist das Abschlußprotokoll aus, daß der eine 6. geworden war und der andere 22. der Gesamtwertung. In Wien konnte sich auch niemand erinnern, die Mannschaft zurück beor-dert zu haben. Weiter: Die Fahrer aus Großbritannien und Frank-reich waren Mitglieder von Verbänden, die der UCI angehörten, Fahrer aus der „sowjetisch besetzten Zone“ waren auf keiner Start-liste zu finden und daß die aus der DDR noch nicht Mitglied der UCI waren, mußte man einzig den Interventionen der BRD-Funktionäre gegen die Anerkennung des DDR-Verbandes zu-schreiben.
1956 - das ward schon erwähnt - hatte der BRD-Verband zum ers-ten Mal die Einladung zur Friedensfahrt angenommen. Als er seine Zusage nach Warschau geschickt hatte, intervenierte DSB-Präsident Willi Daume beim Bund deutscher Radfahrer, verwies in einem Brief - wörtlich - auf solche Reisen nicht zulassende „Abma-chungen mit der Bundesregierung“ und forderte die sofortige Ab-sage. Daraufhin trat der Vorstand des BDR (Bund deutscher Rad-fahrer) zusammen und beschloß einmütig, bei der Zusage zu blei-ben. Auf einer Zusammenkunft der Leitung des Deutschen Sport-bundes (DSB), verzichtete Daume auf eine offene Kontroverse mit dem BDR, weil er fürchtete, überstimmt zu werden. Er ließ die Mit-teilung verbreiten: „Es werden noch Sondervereinbarungen zwi-schen dem westdeutschen Verband und der UCI getroffen.“ Damit sollte angedeutet werden, daß die BRD-Mannschaft unter anderen Bedingungen starten würde, als die übrigen Teilnehmer. Offen blieb, welche „Sonderregelungen“ da ins Auge gefaßt worden wa-ren. Tatsache ist: Die UCI erhielt nie einen Brief in dieser Frage und hätte garantiert über solche „Vereinbarungen“ auch gar ver-handelt. Wer bei einem Rennen meldet, bestreitet es unter den Bedingungen, die im Reglement stehen.
Dennoch hatten sich die Querelen wegen der Teilnahme an der Friedensfahrt noch nicht erschöpft: Dem besten bundesdeutschen Straßenfahrer jener Zeit, dem Nürnberger Loy drohte der bayeri-sche Verband mit einer Sperre, wenn er teilnehmen würde. In letz-ter Minute mußte auch noch der Mannschaftsleiter ausgewechselt
werden. Dem Straßenfachwart Ewert, der ursprünglich nominiert worden war, wurde bedeutet, daß er seine Stelle in einem Regie-rungsbüro verlieren könnte, wenn er nach Warschau fahren sollte. So wurden „Ostkontakte“ behandelt! Daß man ihm zwei Jahre spä-ter ankreidete, daß er die besten Fahrer für die Friedensfahrt ge-meldet hatte, war schon erwähnt worden. Angemerkt werden sollte noch, daß die beiden deutschen Mannschaftsleiter des Jahres 1956 in Warschau übereinkamen, nebeneinander hinter einer deutschen Flagge ins Stadion zu marschieren und das auch taten.
An der Aversion gegenüber dem Rennen änderte sich durch all die Jahrzehnte nur wenig. Als BRD-Bundestrainer Peter Weibel, der noch als Aktiver 1975 die erste Friedensfahrtetappe für die BRD gewonnen hatte, 1987 seine Mannschaft bei der 40. Fahrt betreute, erklärte er die magere Resonanz in der bundesdeutschen Öffent-lichkeit in einem Zeitungsinterview bei Halbzeit so: „Daran sind auch unsere Medien schuld. Wir sind doch auf den ersten Etappen wirklich gut gefahren. Aber das wurde so gut wie totgeschwiegen.“ Ebenso wie seine im gleichen Gespräch getroffenen Feststellun-gen: „Jedes Land versucht, die erste Garnitur zu bringen. Auch wir motivieren unsere jungen Leute für diese Fahrt. Sie dient unge-heuer der Willensbildung. Vom organisatorischen Ablauf stimmt al-les. Den Betreuern wird jede Hilfe gewährt. Nichts dergleichen gibt es auf der Welt. Und dann hat sich diese dem Friedensgedanken verschrieben. Alle Verbände, die kommen, tragen diesem Geist der Fahrt Rechnung.“
Vom unbestritten politischen Anliegen der Fahrt war schon die Re-de. Der 1975 geltende erste Punkt des Reglements sei noch ein-mal wiederholt: „Die Friedensfahrt verbindet den sportlichen Wett-kampf mit dem gemeinsamen Streben der Völker, den Weltfrieden zu festigen und die friedliche Koexistenz zur Grundlage der Bezie-hungen zwischen Staaten verschiedener Gesellschaftsordnungen zu machen. Sie demonstriert die Entschlossenheit aller Teilneh-mer, für dauerhaften Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit der Völker einzutreten.“
Die Regeln der Olympischen Spiele, formuliert vom Internationalen Olympischen Komitee werden öfter mal modernisiert. Ein Para-graph überdauerte allerdings die Jahrzehnte mit geringen Ände-rungen. 1960 lautete die Regel 4 der „Grundprinzipien“: „Das Ziel der olympischen Bewegung besteht darin, bei der Jugend sowohl
die physische Leistung als auch die moralischen Qualitäten wach-zurufen, die die Grundlagen des Amateursports sind, und weiterhin durch die Einladung aller Sportler der Welt zu einem offenen, brü-derlichen Wettstreit aller vier Jahre beizutragen zur Liebe und Auf-rechterhaltung des Friedens unter den Völkern.“
Ein Vierteljahrhundert später lauteten die ersten beiden Abschnitte der Regel 1 der Grundprinzipen: „Die Ziele der Olympischen Be-wegung sind: die Entwicklung der physischen und moralischen Werte zu fördern, die die Basis des Sports sind, junge Menschen durch den Sport zu erziehen im Geiste besserer Verständigung un-tereinander und Freundschaft, um dadurch zu beizutragen, eine bessere und friedvollere Welt zu schaffen.“
Könnte jemand gravierende Unterschiede zwischen den Zielen der Spiele und denen der Friedensfahrt erkennen?
Wo ließe sich ein Wort entdecken, das die Unterstellung erhärten könnte, die Friedensfahrt sei ein parteipolitisches Vorhaben?
Daß aus der traditionellen Drei-Länder-Fahrt Mitte der achtziger Jahre plötzlich eine Vier-Länder-Fahrt mit langen Luftreisen wurde, war einer sowjetischen Intervention zuzuschreiben. 1986 folgte ein unleugbarer fataler politischer Mißbrauch des Rennens in Kiew. Dort war der Auftakt der 39. Fahrt geplant. Der Prolog sollte am 6. Mai stattfinden. Am 26. April - also zehn Tage vorher - erschütterte die Nachricht von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl die Welt. Das Kernkraftwerk liegt am Stadtrand Kiews und aus allen Ländern kamen sofort besorgte Anfragen, ob das Rennen etwa dennoch dort gestartet werden sollte. Der Hauptleitung gegenüber versicher-ten die zuständigen sowjetischen Behörden, daß keinerlei Gefahr für die Teilnehmer bestünde, nachdem Strahlenexperten die Situa-tion gewissenhaft überprüft hätten. So kam es, daß Tausende sich im Hauptbahnhof Kiews drängten, um aus der Stadt zu fliehen, während die Rennfahrer den Flugzeugen entstiegen und ihr Quar-tier im Hotel neben dem Dynamo-Stadion bezogen. Vor dem Ein-gang agierten Posten mit Geigerzählern und beruhigten alle Skep-tiker. Zahlreiche Länder sagte in letzter Stunde ab. So Schweden und Briten.
Heute muß festgestellt werden, daß Gorbatschow das Rennen als Bühnendekoration gegenüber der Weltöffentlichkeit benutzte. Wäh-rend Hunderttausende Kiewer Zuschauer zusammenströmten, das Rennen als Zeichen dafür betrachtend, daß die Gefahren der Ka-
tastrophe gebannt waren, ließ der Staats- und Parteichef fast 300 in Moskau akkreditierte Journalisten nach Kiew fliegen, um ihnen dort mit Hilfe der Friedensfahrt „normales Leben“ vorzuspielen.
In aller Frühe des 10. Mai 1986 verließen die Teilnehmer der Fahrt Kiew und damit wäre faktisch auch die Gastrolle der UdSSR in der Geschichte der Friedensfahrt beendet gewesen, wenn man nicht zwei Jahre darauf, in Moskau auf die Idee gekommen wäre, 1989 ein „Super-Rennen“ zu veranstalten. Anläßlich des 200. Jahresta-ges der Französischen Revolution wollte man eine Etappenfahrt von Paris nach Moskau austragen. Es scheiterte am Widerstand der Profis, die darin eine Konkurrenz für ihre großen Rundfahrten sahen...
Die vom mdr engagierten Historiker beschreiben das Rennen im Wendejahr so: „Die besten Amateure wandern ins Profilager ab. Zudem sind die finanziellen Mittel knapp. Die Wende ermöglicht aber auch dies: Letzter Etappensieger für die DDR wird ausge-rechnet Martin Goetze (32 Jahre), der zuvor nie teilnehmen durfte. Die DDR-Führung hatte ihn als ‘politisch unzuverlässig eingestuft und durch ein Startverbot von internationalen Wettkämpfen fern gehalten.“ Eine unbewiesene Behauptung, die schlicht ignoriert, daß Goetze zuvor bereits drei Mal für den Friedensfahrt-Kandidatenkreis nominiert worden war und sich nie qualifizieren konnte. Es reichte nicht einmal zum Ersatzmann.
1991 verschwanden die Deutschen vorübergehend aus dem Kreis der Veranstalter. Täve Schur kämpfte unverdrossen um den Erhalt des Rennens und hatte in dem Tschechen Pavel Dolezel einen Verbündeten, der durch geschickte Marktstrategie das Rennen über die schwersten Zeiten rettete. 1992 konnte man mit dem Zu-schuß der Berliner Olympiabewerber wieder in Berlin starten, in den nächsten beiden Jahren rollte man nur durch tschechische Lande, hatte aber 1995 mit Oberwiesenthal zum ersten Mal wieder einen deutschen Etappenort auf der Landkarte. Und einmal mehr wäre BDR-Präsident Werner Göhner zu rühmen, der in seinem Vorwort 1996 alte Vorurteile begrub und schrieb: „Durch die tief greifenden wirtschaftlichen Veränderungen nach der Wiederverei-nigung erlebte die Friedensfahrt eine Krisenzeit. Aber die 49. Auf-lage mit drei Etappenorten in Deutschland - Dessau, Leipzig und Cottbus - zeigt ein Wiedererstarken der Friedensfahrt. Die Krise wurde offenbar erfolgreich bewältigt. Einen maßgeblichen Anteil an
dieser erfolgreichen Entwicklung hat der ehemalige Ausnahme-Radsportler und heutige Vorsitzende des Vereins Internationale Friedensfahrt, Gustav-Adolf Schur. Die ungebrochene Popularität von ‘Täve’ und das hohe Ansehen, das er genießt, ist für die Fahrt von unschätzbarem Wert.“
Bereits nach den Olympischen Spielen von 1988 hatte das von dem Spanier Samaranch dirigierte Internationale Olympische Ko-mitee eine gravierende Entscheidung getroffen, als es entschied, künftig keinen Unterschied mehr in seinen Zulassungsregeln zwi-schen Amateuren und Profis zu machen. Der Internationale Rad-sportverband öffnete die olympischen Pforten ebenfalls für die Pro-fis, ließ sich aber mit einer endgültigen Lösung Zeit. 1995 wurden die letzten Amateurlizenzen ausgeschrieben. Danach vereinigten sich Amateur- und Profiverband in der UCI. Am 14. Juli 1995 wurde der alles verändernde Beschluß gefaßt und ab 1. Januar 1996 gab es nur noch Lizenzen in Alterskategorien. Damit brach für die Frie-densfahrt endgültig eine neue Ära an. Das von Täve Schur ge-gründete Kuratorium konnte den rührigen Veranstaltern zwar mora-lische Hilfe leisten, aber nicht als ein Sponsor agieren, der das Rennen zu finanzierte. Bei dem Ruf, daß das Rennen aus der Ver-gangenheit mitbrachte - erinnert sei an das mdr-Urteil: „sozialisti-sches Relikt“ - waren Schlangen von Sponsoren nicht zu erwarten. Wenn sich dennoch Finanziers für das „sozialistische Relikt“ fan-den, war das dem imponierenden Zulauf des der Friedensfahrt die Treue bewahrenden Publikum zuzuschreiben. Wo immer sich sol-che Zuschauermassen scharen, rechnet sich auch Werbung. So kam es, daß zumindest Geld genug floß, um die Fahrt vor dem Un-tergang zu bewahren. Als 1997 die 50. Friedensfahrt auf dem Pro-gramm stand, sorgte Potsdam für einen stimmungsvollen Auftakt. Daß mit Ministerpräsident Stolpe die politische Obrigkeit auf der Tribüne erschien, wurde nicht moniert. Inzwischen hatte man sich auch in deutschen Landen längst daran gewöhnt, daß sportliche Großereignisse den Politikern gute Gelegenheit bieten, für ihre Po-pularität zu sorgen und intensiver, als es in der DDR der Fall war, Wahlkampf zu betreiben.
Ob die erfolgreiche Jubiläumsfahrt den Anstoß gab, kann nicht nachgewiesen werden, aber plötzlich engagierte sich der BDR ve-hement für die Wiederbelebung der so genannten Deutschland-Rundfahrt. Man erinnerte sich als erstes der „Tradition“: 1911 war
eine Etappenfahrt durch Deutschland aus der Taufe gehoben wor-den. In den über 90 Jahre, die seitdem ins Land gingen, war sie al-lerdings nur 25 mal ausgetragen worden. Man hatte selten die nö-tigen Mittel. 1939 - die Nähe zu einem von den Deutschen losge-tretenen Krieg drängt sich auf - hatte man plötzlich genügend Geld, um eine - so offiziell eingetragen - „Großdeutschlandfahrt“ zu ver-anstalten. Mit 5049 Kilometern war sie damals die längste der Welt. Die Tour de France wurde um 1000 km übertroffen!
Nach dem Krieg holperte sich die Fahrt mühselig durch die Zeiten, fand von 1962 bis 1979 überhaupt nicht statt und geriet nach wenig gelungenen Versuchen 1982 endgültig in Vergessenheit. Bis sie Mitte der neunziger Jahre wieder „entdeckt“ wurde. Mit aufwendi-gem Eifer wollte man dem Rennen ein erfolgreiches Comeback si-chern. Dafür engagierte sich nicht nur ein rühriger Veranstaltern, sondern sehr energisch der Bund Deutscher Radfahrer, der zwar andeutete, keineswegs eine Konkurrenz zur Friedensfahrt im Sinn zu haben, aber allein der Hinweis schreckte auf. Aufsehen erregte vor allem ein beinhartes Interview des Nachfolgers von Werner Göhner an der Spitze des BDR, Manfred Böhmer, im November 1997, in dem er verkündete: „Wenn die Deutschland-Rundfahrt stattfindet, hätte sie einen höheren Stellenwert als jede andere re-gionale Rundfahrt in Deutschland.“ Auf den Einwand des Intervie-wers, das man die Friedensfahrt doch wohl kaum als ‘regionale Rundfahrt’ klassifizieren könne, polterte Böhmer: „Das ist doch nicht mein Problem. Ich will die Deutschland-Tour im Kalender der UCI so hoch wie möglich ansiedeln, und auch so viele Tage wie möglich bekommen. Da haben Veranstalter von deutschen regio-nalen Rennen, ob Bayern- oder Niedersachsen-Rundfahrt oder Friedensfahrt natürlich weniger Spielraum.“ Frage des Reporters: „Ich frage Sie: Warum ist dem BRD die Friedensfahrt ein Dorn im Auge?“ Antwort Böhmer: „Von mir gibt es persönliche Vorbehalte gegen die Friedensfahrt wegen ihres ideologischen Anspruches, sonst nichts.“
„Wie bitte?“ Böhmer: „Ich sehe, in der letzten Friedensfahrt in der Form, wie man sie veranstaltet hat und vor allen Dingen, wie man sie ‘rübergebracht hat in den Medien, die Gefahr einer Spal-tung für eine nationale Weiterentwicklung des Radsports. Und das ist das, was mir persönlich nicht gefällt.“
Reporter: „Wieso Spaltung? Was war ideologisch?“
Böhmer: „Es wird doch im Grunde genommen der Gedanke ge-schürt, wie toll das alles früher war. Jetzt wollen wir doch mal se-hen, ob wir das nicht wieder hinkriegen. Das ist eine Politik, die man in dieser Form nicht betreiben sollte.“
Zu der kurz darauf stattfindenden Eröffnung der neuen Berliner Winterbahn erschien auch der niederländische UCI-Präsident Ver-brüggen und in einer Pressekonferenz empfahl er dem BDR nach-drücklich keinen Feldzug gegen die Friedensfahrt zu führen. Das warnende Signal wurde beherzigt, man verzichtete künftig in der Öffentlichkeit, die Friedensfahrt als eine Fahrt zu charakterisieren, die der DDR-Nostalgie geweiht ist.
Übrigens fungierte als Schirmherr der Deutschland-Tour dann - wie aufschlußreich - der Bundesminister für Verteidigung, Scharping.
Die neue Struktur der Friedensfahrt - vornehmlich Fabrikmannschaf-ten am Start - hatte gravierende Veränderungen im Teilnehmerfeld zur Folge. 2001 waren zum Beispiel 38 Deutsche am Start (29,5 %), 18 Tschechen (14 %), 17 Polen (13,2 %), 10 Belgier (7 %), 9 Dänen (6,97 %), 5 Niederländer, 5 Spanier (jeweils 3,9 %), 3 US-Amerikaner, 3 Slowaken, 3 Litauer, ( jeweils 2,3 %), 2 Australier, 2 Schweizer, 2 Kanadier, 2 Russen (jeweils 1,6 %) und 1 Norweger, 1 Kasache, 1 Österreicher, 1 Ungar, 1 Italiener, 1 Franzose, 1 Ukrainer, 1 Kirgise (jeweils 0,8 %). Summa Summarum: Fahrer aus 22 Ländern. Der Wandel aber wurde auch daran deutlich, daß einer der neun Dänen das Rennen gewann - weil das Unternehmen CSC-World Online vier weitere Dänen und einen Spanier engagiert hatten, um Jacob Piil ge-bührend zu unterstützen und in diesem Fall seinen Sieg zu sichern.
So hat die Friedensfahrt ihr Gesicht gründlich verändert.
Daumes vorauseilender Gehorsam
Von JOACHIM FIEBELKORN
Der Leipziger Historiker Prof. Dr. Gerhard Oehmigen hat in mehre-ren Ausgaben der „Beiträge zur Sportgeschichte“ (u.a. 5/97, 6/98, 7/98, 8/99, 10/2000) Dokumente des Auswärtigen Amtes der BRD vorgestellt, die nicht nur die engen Bindungen der bundesdeut-schen Sportführungen an Regierung und regierende Parteien in der BRD transparent machten, sondern zuweilen auch vor-auseilenden Gehorsam der Sportoberen erkennen ließen. Es über-raschte mich nicht, daß die Historiker in den alten Ländern - eben-so wie die aus den alten in die neuen „versetzten“ - diese Doku-mentenserie fast unbeachtet ließen. Eine Ausnahme bildete der Göttinger Dr. Buss, dessen Darstellung der Rolle der Alleinvertre-tung in der neuen Publikation „SportZeit“ an anderer Stelle gewür-digt wird. Sein Engagement für die Aufklärung der politischen Hal-tung der BRD-Sportführung verdient Respekt, ändert aber nichts daran, daß zum Beispiel das Bundesinstitut für Sport bislang wenig Eifer zeigte, sich mit diesem brisanten Thema zu beschäftigen. Bri-sant schon deshalb, weil in diesem Fall eine von der Bundesregie-rung finanzierte Behörde die nicht gerade lobenswerten Initiativen der Bundesregierung, sich in den nationalen und internationalen Sport zu involvieren und ihn sogar maßgeblich politisch zu beein-flussen.
Als mir dieser Tage ein Brief Willi Daumes vom 23. Juni 1966 an den damaligen Außenminister Dr. Gerhard Schröder (Band 1625, IV 5, 86-13 des Auswärtigen Amtes) in die Hände fiel wurde ich nachdrücklich an Oehmigens Arbeiten erinnert. Abweichend von seiner Methode, die Dokumente komplett zu kommentieren, ent-schloß ich mich, den Brief absatzweise zu bewerten. Die Anrede „Verehrter Herr Minister, lieber Herr Dr. Schröder“ darf auf vertrau-lichen Umgang schließen lassen. Der Hinweis darauf, daß „ich Ihnen in der Norwegen-Angelegenheit auf ausdrücklichen Wunsch der vier Ministerien geschrieben hatte, die mich im Verlauf einer Besprechung im Bundesministeriums des Innern darum baten“, of-fenbart, daß Daume nicht nur Briefe schrieb, sondern kontinuierlich in engem Kontakt mit mehreren Ministerien stand.
Daume weiter: „Es ging dabei bekanntlich um die Vorfälle bei der Ski-Weltmeisterschaft in Oslo, wo den sowjetzonalen Sportlern das
Zeigen ihres sog. Staatsemblems gestattet worden war. Der Brief sollte zum Gebrauch bei Verhandlungen innerhalb des Nato-Rates bestimmt sein. Er wurde später noch durch die Belegung mit ent-sprechenden Fotos von mir ergänzt. Wie mir Herr Dr. Dvorak inzwi-schen schrieb, ist der Fall nun auch Gegenstand von Auseinander-setzungen im Rahmen der Nato geworden.“
Da die Nato selbst nach den internationalen Verjährungsfristen für Geheimhaltung keine Protokolle ihrer Tagungen freigibt, ist man auf eigene Deutung angewiesen. Niemand wird leugnen können: Der „Präsident des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympi-schen Komitees für Deutschland“ (so der Briefkopf) wandte sich an den Bonner Außenminister und lieferte ihm unaufgefordert Unterla-gen - einschließlich Fotos -, die dem Nato-Rat vorgelegt werden soll-ten, um zu verhindern, daß DDR-Sportler künftig noch als solche in Nato-Ländern starten dürften.
Daume konstatierte allerdings im nächsten Satz: „Genützt hat es aber offenbar nicht viel, denn danach hat in Luxemburg anläßlich der Europameisterschaften im Judo sogar in aller Öffentlichkeit, auf den Sportstätten und in der Stadt, die Spalterflagge geweht. Die Embleme der Zone wurden sowieso gezeigt, und wenn ein sowjet-zonaler Sportler - es war nahe daran - in einer Gewichtsklasse ge-siegt hätte, würde man die Becher-Hymne gespielt haben. Dafür war alles vorbereitet, auch zu diesem Vorkommnis werde ich in Kürze noch authentisches Beweismaterial liefern.“ Also: Der Sport-Doppelpräsident bangt, daß ein Deutscher Europameister werden könnte und bittet den Außenminister erneut einzugreifen. Der durch keine Regel und kein Gesetz an die Regierung Gebundene - eher gilt das Gegenteil, denn der Sportbund sollte und das NOK muß, durch die IOC-Charta verpflichtet, unabhängig sein - demonstriert echten Denunzianteneifer, der im Nachhinein endlich untersucht werden sollte. Und er versichert in seinem Brief sogleich: „Ich bin, sehr geehrter Herr Minister Dr. Schröder, durchaus Ihrer Auffas-sung, daß wir gegen diese Positionskämpfe des Ostens auch of-fensiv reagieren müßten.“ Und er versichert: „Das ist meine Taktik seit langem...“
In den Gesprächen, die er lange vor dem Brief mit den maßgebli-chen Leuten des NOK der DDR führte - und in deren Kommuni-qués er widerspruchslos hinnahm, daß sie die Deutsche Demokra-tische Republik als „Sowjetzone“ deklarierten - forderte er zwar, die
„unpolitische“ Rolle des Sports zu akzeptieren, ließ aber nichts von seiner dem Minister gegenüber in Selbstbescheidenheit gelobten „Taktik“ spüren.
Auf der dritten Seite kommt Daume zur Sache: „Der eigentliche An-laß meines Briefes ist jedoch folgender. Im nächsten Monat finden in England die Fußball-Weltmeisterschaften statt. Das ist nach den Olympischen Spielen die größte und bedeutsamste Sportveranstal-tung der Welt, die überall ungeheure Anteilnahme und auch Emoti-onen bewirkt. Den sowjetzonalen Sportjournalisten ist die Einreise zur Berichterstattung über diese Spiele verweigert worden. Das hat den Protest nicht nur der beteiligten Sportverbände, sondern im besonderen der internationalen Presse-Organisationen und natür-lich der Presse selbst hervorgerufen. Der Internationale Sportpres-se-Verband hat auch mich um Hilfe gebeten.“
Zwischenfrage: Was mag den Verband UIPS bewogen haben, sich gerade an Daume zu wenden? Als Sportjournalist kenne ich den Hintergrund gut: In der UIPS wußte jeder, daß die ständigen Ein-reisequerelen für DDR-Journalisten nur den Interventionen der Bonner Regierung im Nato-Rat zuzuschreiben waren. Wer daran bislang zweifelte, dürfte durch den ersten Teil des Briefes bereits belehrt worden sein.
Und Daume? „Selbstverständlich habe ich eingewendet, daß die Bundesrepublik in dieser Frage überhaupt nichts tun kann, denn Visa-Fragen seien Sache des Allied Travel Boards in West-Berlin, das wiederum seine Anweisungen von der Nato erhalte. Ich habe weiterhin erklärt, daß grundsätzlich Zonen-Journalisten keine Visa für Nato-Länder bekämen, weil man in ihnen nachweisbar in erster Linie politische Propagandisten zu sehen habe. Ich konnte mich aber nicht weigern, zu versprechen, wenigstens insoweit guten Wil-len zu zeigen, als ich die Bundesregierung von dieser speziellen Aktion des Internationalen Sportpresse-Verbandes verständigen wolle.“ Solch „guten Willen“ dürfte kaum jemand einzuordnen im-stande gewesen sein. Wenn das Allied Travel Board zuständig war und er die Bundesregierung informieren wollte, mußte er Verdacht aufkommen lassen, daß das Board seine Befehle auf Umwegen doch von der Bundesregierung bekam. Aber er lieferte auch so-gleich das „Argument“ für seinen Schritt: „Das ist auch dankbar an-erkannt worden...“. Und dann folgt der enthüllende Satz: „... wir brauchen solche Sympathien.“ Etwa, weil die Welt längst wußte,
wer hinter den Anti-DDR-Aktionen steckte? Und dann empfahl der DSB- und NOK-Präsident dem Außenminister: „Es ist die Frage, ob nicht versucht wird, mit gewissen Auflagen einigen sowjetzonalen Sportjournalisten und Funk- und Fernsehreportern - möglicher-weise nach unserer Auswahl - die Berichterstattung in England zu ermöglichen.“ Das sollte man zweimal lesen, auch im Hinblick auf die ständigen „Entdeckungen“ von Historikern, die die engen Bin-dungen zwischen Sport und Partei in der DDR aufdecken und an-prangern. Daume diente sich beim BRD-Außenministerium an, DDR-Journalisten auszusuchen, die man nach England reisen las-sen wollte! „Ich kann nicht beurteilten, ob Sie das für möglich an-sehen. Gegebenenfalls wäre es für den Sport der Bundesrepublik ein Prestige-Erfolg von noch gar nicht abzusehendem Ausmaß. Und wenn dann die andere Seite bei ihrer Berichterstattung nicht loyal ist, hätten wir besonders das Recht auf unserer Seite. Meine heutige, sehr herzliche Bitte an Sie, lieber Herr Dr. Schröder, ist, wenigstens zu überlegen, ob wir aus dieser Sache nicht etwas Gu-tes machen können.“ Kein Kommentar vonnöten.
Hintergründe einer Affäre
von KLAUS KÖSTE
Viele werden sich vermutlich erinnern, daß ich die DDR bei drei Olympischen Spielen vertrat, und das recht erfolgreich. „Belege“ da-für sind vier olympische Medaillen. Bronze mit der Mannschaft 1964 in Tokio, vier Jahre später nochmals Mannschafts-Bronze in Mexiko City dazu ein vierter Platz am Reck. In München 1972 zum dritten Mal in Folge die Bronzemedaille in der gleichen Disziplin also Mehr-kampf (Mannschaft), 6. Platz im Mehrkampf (Einzel), zwei 5. Plätze im Bodenturnen und an den Ringen. Der absolute Höhepunkt war der Gewinn der Goldmedaille beim Pferdsprung. Wer mich kennt, wird überrascht sein, daß ich diesen Beitrag mit einer solchen Auf-zählung beginne, denn normalerweise pflege ich sportliche Erfolge nicht auf meiner Visitenkarte zu drucken. Sollte das aber doch unter-stellt werden, sollte man wissen, daß eine Visitenkarte nicht ausrei-chen würde, um alle Titel und Medaillen einer 15 Jahre währenden internationalen Turnerkarriere zu erfassen. Diese Aufzählung dient allerdings nur einem besseren „Unverständnis“ für folgende Tatsa-chen.
Nachdem die DDR nicht mehr existierte, vermuteten viele, die mich kennen, das ich meiner Gesinnung treu bleiben und diese nicht am Kleiderhaken der Wendezeit ablegen würde. Zwar war ein so ge-richteter aufrechter Gang zunächst kaum demokratisch legitimiert, aber meine Freunde irrten sich nicht. Die aufgelisteten Medaillen und Titel bei internationalen Meisterschaften zählten schnell sehr viel weniger, denn das Land, für das sie errungen wurden, war nicht mehr vorhanden. Sehr bald erwies sich sogar, daß insbeson-dere die Medaillen benutzt wurden, um daraus ein Stück Legende vom „Unrechtsstaat“ DDR zu schmieden. Man verbreitete, sie sei-en das Resultat eines grenzenlosen Betruges gewesen, weil wir - und auch ich - nur durch Doping zu unseren Erfolgen gelangt sei-en. Es wurde gleich nach der Wende sogar an das Internationale Olympische Komitee appelliert, daß alle Medaillen von DDR-Athletinnen und -Athleten wieder eingezogen werden müßten. Das IOC reagierte auf diesen Vorschlag sehr rational, nämlich gar nicht. Inzwischen ist vieles relativiert worden. Dennoch hat sich eine klei-ne Gruppe von eifrigen Eiferern zusammengetan, die das Thema „Doping in der DDR“ mit blinder Leidenschaft weiter verfolgt. Bü-cher wurden finanziert und verlegt, deren Absatz und Widerhall sich in Grenzen hielt, und immer mal wieder stellen auch Zeitungen
diesen Eiferern ihre Spalten zur Verfügung. Im Frühjahr wärmte der PR-Chef der Dopingritter - ein vor den Toren Berlins agierender Hochschullehrer - in einer Zeitung die alten Geschichten einmal mehr auf. Ich beantragte, wie in unserem Rechtsstaat üblich, eine einstweilige Verfügung, um die Verbreitung dieses Unfugs zu un-tersagen. Ein Berliner Gericht entschied dementsprechend. Da-nach legte die Zeitung Widerspruch ein und der soll nun verhandelt werden. Der Herr Lehrer hatte einen ehemaligen Mannschaftska-meraden von mir mobilisiert, der nun schwor, daß wir nach den Olympischen Spielen 1972 bei Wettkämpfen und Trainingslagern zuweilen in einem Zimmer wohnten - was stimmt - und gemeinsam dort „Pillen“ zu uns nahmen - was nicht stimmt. Nun müßte ich be-schwören, daß die Pillenlegende erfunden ist und fürchte, daß kein Richter - nicht mal Lessings weiser Nathan - imstande wäre, her-auszufinden, daß da von dem ehemaligen Gefährten eine Lüge beschworen wurde. Darüber hinaus wird mir in einem spitz(er)findigem Konstrukt unterstellt, wider besseren Wissens durch sportliche Fehlbelastungen entstandene Körperschäden nicht von Sportverletzungen bei den von mir betreuten Athleten un-terschieden zu haben, weil ich das angeblich nicht gewollt hätte. Darstellungen und Gegendarstellungen an Eides statt wären auch in diesem Falle die logische Konsequenz. Das bewog mich, das Gericht wissen zu lassen, daß ich an weiteren Versuchen, das Recht herauszufinden, nicht mehr interessiert bin, weil ich ziemlich sicher bin, daß diese Lügenspiralen endlos sind. Ich habe weder Zeit noch Lust, von Gericht zu Gericht zu ziehen. Deshalb gestatte ich Zeitungen und jenem sich für einen Lehrer Haltenden und sonstwem, auch in Zukunft zu behaupten, ich sei ein gedopter Olympiasieger und schwere Körperschäden der mir anvertrauten Turnerinnen und Turner hervorragend informierter Trainer gewe-sen. Warum? Weil die Goldmedaille, ein Beweis dafür ist, daß ich am 1. September 1972 der beste Pferdspringer der Welt war, 0,25 Punkte besser als mein Freund Viktor Klimenko. Die unmittelbar nach dem Wettkampf durchgeführte Dopingkontrolle attestierte mir negativen Befund. Demzufolge kann ich mit gutem Gewissen ver-sichern, ein ungedopter Olympiasieger gewesen zu sein, ganz gleichgültig, was andere behaupten, ob vor Gerichten, in Zeitun-gen, vor Fernsehkameras und Mikrofonen. Ich kann auch den vie-len, von mir betreuten Turnerinnen und Turnern, Studenten und
Trainern mit festem Blick und ruhigem Gewissen in die Augen se-hen und werde mich weiterhin - wie bisher - für die Interessen des Sports engagieren, insbesondere aber als unermüdlicher Botschaf-ter für das Turnen, ob für die Belange des Sports im Vorschulbe-reich, für die Realisierung der täglichen Turn- und Bewegungs-stunde in den Schulen oder für die Entwicklung und Ausprägung solch einer sportlichen Leistungsfähigkeit, das Höchstleistungen und medaillenwürdige Leistungen erreichbar sind.
Zum Umgang mit Forschungsergebnissen
FRED GRAS im Gespräch mit HORST FORCHEL
Frage: In der Rubrik „Rezensionen“ findet man Ihre Besprechung des Buches von Baur und Sebastian. Unabhängig von Ihrem Standpunkt zu diesem Werk, möchten wir Ihnen einige Fragen stel-len. Sie waren bis zu Ihrer Emeritierung mehr als 30 Jahre an der weltweit bekannten und geschätzten Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig Lehrstuhlleiter der Wissenschafts-disziplin Sportsoziologie. Welches waren die hauptsächlichen Auf-gaben in dieser Tätigkeit?
Prof. Gras: Selbstverständlich die Lehraufgaben, also Vorlesungen, Seminare, Übungen, Projektarbeiten mit Studenten im Direkt-, Fern- und Ausländerstudium, und die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses in ihrer Einheit mit der sportsoziologischen Forschung, für die wir an der DHfK landesweit eine Koordinierungs- und Integrati-onsfunktion übernommen hatten. Alle DDR-repräsentativen sportsozi-ologischen Untersuchungen, die erste wurde 1965 durchgeführt, ent-standen in Verantwortung der Sportsoziologie an der DHfK. Zu unse-ren Aufgaben gehörte auch die Ausbildung von Fachkadern für die Sportsoziologie aus und in verschiedenen Entwicklungsländern.
Die Ergebnisse unserer langjährigen und kontinuierlichen wissen-schaftlichen Arbeit und ihre Relevanz ermöglichten es mir, im For-schungsrat der Akademie der Wissenschaften der DDR und im Präsidium des Internationalen Komitees für Sportsoziologie (ICSS) mitzuwirken, was natürlich unser Problemverständnis und unsere Bestrebungen zum abgestimmten Zusammenwirken mit den ande-ren sportwissenschaftlichen Fachdisziplinen und zur interdisziplinä-ren Forschungsarbeit nachhaltig beförderte.
Frage: Welchen Nutzen hatten die Ergebnisse der wissenschaftli-chen Arbeit für die Entwicklung von Lehre und Forschung in der Sportsoziologie?
Prof. Gras: Zunächst ist die Praxisrelevanz der durch unsere Arbeit gewonnenen Ergebnisse und Erfahrungen hervorzuheben, die so-wohl die Theoriebildung unterstützte als auch methodische und methodologische Entwicklungen erforderte und begünstigte, z.B. die Präzisierung qualitativer und quantitativer Forschungsmetho-den als Bedingung für die Erhöhung des Aussagewertes unserer Forschungsergebnisse.
Frage: Welchen Nutzen hatten die Forschungsergebnisse für die Praxis?
Prof. Gras: In die meisten unserer Forschungsprojekte waren die jeweiligen Praxispartner unmittelbar eingebunden, so daß dadurch zunächst grundsätzlich notwendige Bedingungen für eine rasche Überführung der Forschungsergebnisse und von neuen Erkennt-nissen gegeben waren. Nachweislich führten gesicherte Ergebnis-se bei verschiedenen Verantwortungsträgern zu Präzisierungen des gewohnten Vorgehens und z.T. auch zu Veränderungen hin-sichtlich der Formen und Methoden in der Sportorganisation, von Leitungsstrukturen und Planungsprozessen in Körperkultur und Sport. Der hauptsächliche Praxispartner der sportwissenschaftli-chen Forschung in der DDR überhaupt war der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB). Er war - ebenso wie das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport - vielfach auch der Auftraggeber und demzufolge auch der Hauptnutzer der Forschungsarbeiten. Und die Ergebnisse wurden zumeist unmittelbar auf ihre Verwertbarkeit hin geprüft und nicht selten auch umgehend in die Planung, inhalt-liche Gestaltung, zum Beispiel des Übungs-, Trainings- und Wett-kampfbetriebens oder des Massensports und ihrer Organisation, übernommen. Es bestand also eine enge Verbindung von Theorie und Praxis, die ich als eine wesentliche Bedingung für die dynami-sche Entwicklung des Sports insgesamt in der DDR ansehe.
Frage: In Ihrer Rezension bemerken Sie kritisch, daß die Autoren nur vier Quellen nannten, die über den Breiten- oder den Freizeit- und Er-holungssport in der DDR Auskunft geben. Gibt es denn dazu keine zugänglichen Quellen?
Prof. Gras: Es gibt einen großen Fundus an Materialien, die er-schlossen werden können. Es handelt sich dabei - und eigentlich ist das besonders günstig für die wissenschaftliche Arbeit - zumeist um wissenschaftliches Schrifttum, um Staatsexamens- und Dip-lomarbeiten, Dissertationen und Habilschriften, Forschungsberichte und -studien, die in den wissenschaftlichen und sportwissenschaft-lichen Bibliotheken für jeden einsehbar und nutzbar sind. Außer-dem liegen einschlägige Publikationen in den Fachzeitschriften und den wissenschaftlichen Zeitschriften der Universitäten und Hoch-schulen vor. Und schließlich wird die Suche erleichtert durch die vorliegenden Bibliographien von TROGSCH und GRAS, in denen na-hezu vollständig der sportsoziologische Fundus an Publikationen bis 1987 als Gesamtschrifttum ausgewiesen ist. Spätestens seit 1989 liegt auch die Dissertation von Willi LUTZ zum Thema „Ideolo-
gie und Wissenschaft in der Sportsoziologie der DDR“ (Verlag Dr. N. Brockmeyer-Bochum) vor, in der nahezu alle sozialwissenschaft-lichen Publikationen der Sportwissenschaft in der DDR erfaßt wor-den sind. Darunter befinden sich allein neun Beiträge von Klaus HENNIG, die ganz unmittelbar den BAUR und BRAUN behandelten Gegenstand betreffen. (S. 338-339) Insofern auch meine Kritik in der erwähnten Rezension, weil behauptet wird, daß „über die Sportge-meinschaften nur spärliche empirische Daten vorliegen“. (BAUR/BRAUN 2000, S. 14) Die Autoren lassen es sich auch nicht nehmen, die Behauptung von angeblich spärlichen Daten hinzuzu-fügen: „Deren Validität wird man zudem eher skeptisch einschätzen, weil ihre politisch erwünschte Einfärbung wahrscheinlich ist, zumin-dest aber nicht ausgeschlossen werden kann. Dieses empirische Defizit ... ist für ost-westdeutsche Zeitreihenvergleiche ein gravie-rendes Hindernis.“ (S.14) Und das trotz des Umfangs und der inter-national geachteten Wertigkeit unserer - zumeist DDR-repräsen-tativen - sportsoziologischen Untersuchungen, in die jeweils unter-schiedliche Wissenschaftdisziplinen der Sportwissenschaft einbezo-gen worden waren.
Sie haben die DDR auf vielen internationalen Symposien und Kon-gressen zu sportsoziologischen Fragen vertreten. Wie wurden die von Ihnen vorgetragenen Forschungsergebnisse und Erfahrungen bewertet?
Prof. Gras: Als Wissenschaftler, die grundsätzlich die historisch-materialistische Betrachtungsweise in der Soziologie bevorzugten, wurden wir vor allem hinsichtlich des Aussagewertes unserer empi-rischen Befunde und der Repräsentanz dieser Befunde für große soziale Gruppen befragt. Besonders anerkannt waren unsere Er-gebnisse wegen des multidisziplinären und zunehmend auch inter-disziplinären Herangehens im Prozeß der Großgruppenforschung. Dabei wurde oft mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, daß die Sportsoziologie der DDR vorrangig Entwicklungen im Breiten-sport, insbesondere im Freizeit- und Erholungssport, untersuchte und vorrangig für die Weiterentwicklung im Breitensport wirkte.
Frage: War die sportsoziologische Forschung der DDR an interna-tionalen Projekten beteiligt?
1967 nahm die Akademie der Wissenschaften ein von der UNESCO initiiertes komplexterritoriales Städteprojekt an. Als typi-sche, den vorgegebenen Kriterien entsprechende Stadt wurde Ho-
yerswerda ausgewählt. Der Sportsoziologie oblag der empirische Teil der Untersuchungen, bei repräsentativer Auswahl der Proban-den. Da die DDR-Repräsentativerhebung von 1965 gerade abge-schlossen worden war, konnten wir all unsere hinzugewonnenen Erfahrungen für die Vorbereitung der neuen Aufgabe nutzen und ein weiterentwickeltes methodisches Instrumentarium einsetzen.
1970 bis 1973 wurde unter Federführung des ICSS ein internationales Foschungsvorhaben zum Sport in der Lebensweise der Menschen durchgeführt, an dem sich zwölf europäische und außereuropäische Länder, einschließlich der DDR, beteiligten. Ich hatte die Ehre als Co-Direktor mitzuwirken und die Untersuchungen in den sozialistischen Ländern zu koordinieren.
1985 schließlich beteiligte sich die DHfK mit einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern unter Leitung der Sportsoziologie an ei-nem von der UNESCO ausgeschriebenen Wettbewerb. Unter der Thematik „Sport für alle“ in den der UNESCO angehörenden 153 Län-dern war ein strategisches Konzept zu erarbeiten, das die unterschied-lichen ökonomischen, politischen, kulturellen und sportlichen Entwick-lungsbedingungen berücksichtigte und gleichzeitig die religiösen, ethno-logischen und sozialen Besonderheiten beachtete. In diesem Wettbe-werb errang das von uns vorgelegte Konzept den ersten Preis. Der un-voreingenommene Rückblick auf die sportsoziologischen Forschungen in der DDR bis 1990 offenbart Möglichkeiten und auch Grenzen. Aber durch nichts ist eine durch Vorurteile bestimmte Herabwürdigung vor-liegender Ergebnisse, wie wir sie gerade erleben konnten, zu rechtferti-gen. Das ist jeglicher seriöser wissenschaftlicher Arbeit zutiefst fremd und abträglich.
Gedanken zur Marathondistanz
Von SEBASTIAN DROST
In der einschlägigen Literatur wird versichert, die heute gültige Län-ge eines Marathonlaufs von 42,195 km sei von der Streckenlänge abgeleitet, die bei den Olympischen Spielen 1908 in London gelau-fen worden war. Wer âllerdings einen Blick in den Offiziellen Report von 1908 wirft, wird mit einigem Staunen lesen: „Der Marathonlauf. Von Windsor Castle zum Olympia-Stadion in Shepherd’s Bush, wo noch 385 Yards auf der Aschenbahn bis zum Ziel unter der Königli-chen Loge zu laufen waren, weshalb der Läufer nach links biegen
musste, wenn er die Laufbahn gegenüber der Königlichen Loge be-trat. Totale Streckenlänge, 26 Meilen 385 Yards, oder 42,263 Kilo-meter.“1) Der 17 Seiten füllende Report - zuweilen in der Ich-Form geschrieben, ohne dass man irgendwo über den Autor aufgeklärt wird - enthält auch eine „Distanztabelle“2), die erstaunlich detailliert ist: „Start Windsor Castle, Ostterrasse, 700 Yards vom Denkmal der Königin Victoria entfernt.“ Die vorletzte Zeile lautet: 26 Meilen = 41,84 Kilometer - Eingang zum Stadion.“ Und die letzte „26 Meilen 385 Yards = 42,263 Kilometer. Volle Streckenlänge.“
In einem der „Standardwerke“ des Sports im ersten Drittel des vori-gen Jahrhunderts, dem von einer stattlichen Schar Experten aus fünf Ländern erarbeiteten „Beckmanns Sport-Lexikon“ liest man unter „Marathonlauf“: die längste bei Wettkämpfen international gebräuch-liche Laufstrecke; sie beträgt 42,000 km.“3) Und nach einem histori-schen Rückblick in die Antike: „Bei den ersten Olympischen Spielen in Athen 1896 wurde der M. auf Antrag des Franzosen Bréal auf der geschichtlichen Strecke (die Strecke betrug 1896 ungefährt 36,7 km) ausgetragen.“4) David Wallechinsky, einer der gefragtesten Olympia-Chronisten unserer Tage vermerkt in seiner jüngsten Ausgabe was wir schon wissen: Die Strecke war verlängert worden, um den Lauf genau vor der Königlichen Loge enden zu lassen: „Es geschah so und diese Zufallsdistanz wurde später die Standarddistanz für Mara-thonläufe.“5) Abgesehen davon, dass diese Distanz eben umstritten ist, weil die Engländer damals selbst eine andere Kilomterstrecke angaben, sind auch zahlreiche Leichtathletikexperten unterschiedli-cher Ansicht. Querecetani gibt die Strecke von 1896 in Athen mit „rund 40,000 Metern“6) an. Und über die Länge des Laufs von 1908 schreibt er: „Die Strecke, einschließlich der zwei Drittel einer Stadi-onrunde, maß 26 Meilen, 385 Yards. Beginnend mit den Spielen von 1924 wurde diese Strecke als verbindlich für alle olympischen Mara-thonläufe erklärt. So kommt es, daß die oft als ‘klassische griechi-sche Distanz’ angegebene Länge sich in seiner gegenwärtigen (ab-normalen) Länge von der britischen“7) unterscheidet.Selbst viele sportliche Laien erinnern sich des Bildes von London, auf dem dem vor dem Ziel zusammengebrochenen Sieger Pietri Dorando über die Ziellinie geholfen wird, was bekanntlich zu seiner Disqualifikation führte. Das Pikanteste an dem Foto ist vielleicht, dass einer der barmherzigen Helfer - die ungewollt Dorando zur Disqualifikation verhalfen - der Sherlock-Holmes-Erfinder Conan Doyle gewesen
sein soll. (In der Liste der Kampfrichter und Helfer im Stadion fand ich ihn allerdings nicht.) Nun aber zu der umstrittenen Distanz. Wenn es bis zum Eingang des Stadions genau 41,84 km waren - 26 Meilen zu 1609,3 m wären 41841,80 m - und danach noch 385 Yards (1 Yard = 0,914398 m) zu laufen waren, ergäben sich 352,04 m, die zu den 41,84 km addiert, zwar 42,194 km ergeben würden, doch bliebe die Frage unbeantwortet, wie die Briten 1908 auf 69 Meter mehr ge-kommen waren. Die einzig mögliche Antwort: Der Yard war damals länger, als er heute ist, wofür die Tatsache spricht, dass die Meilen-maße 1935 im Vergleich zu den metrischen Maßen „reguliert“ wor-den waren. So bleibt als Tatsache nur, dass die Briten 1908 über-zeugt davon waren, dass die Läufer 42,263 km zurückgelegt hatten, was nach den heutigen Maßen nicht zutrifft. Und der Gedanke: Do-rando soll zwar schon beim Betreten des Stadions zusammengebro-chen sein, hatte sich aber wieder aufgerafft und war erst endgültig zu Boden gegangen - man fürchtete in diesem Augenblick um sein Leben -, als die 42,195-m-Marke schon passiert war. Nach den da-maligen Maßen...
1) Offizieller Report der Olympischen Spiele 1908, London 1909, S. 68
2) Ebenda S. 69
3) Beckmanns Sportlexikon, Wien 1933, S. 1566
4) Ebenda
5) Wallechinsky, London 2000, S. 72
6) Querecetani, Track and Field Athletics, London 1964, S. 162
7) Ebenda, S. 165 f
ZITATE
Benachteiligung von armen Kindern in Sport und Bewegung
Ein nicht überraschendes und dennoch positives Ergebnis der Oldenburger Untersuchung ist..., dass eine vergleichbare Bewe-gungsvielfalt auch bei sozialhilfebeziehenden Kindern anzutreffen ist. Die von ihnen gewünschten Aktivitäten unterscheiden sich zu-nächst nicht von denen ‘normaler’ Kinder; es scheint sich also kei-ne ‘Armutskultur’ herauszubilden. Aber... sie gehen ihren Aktivitä-ten insgesamt seltener nach und unter qualitativ schlechteren Be-dingungen.
Für rund 59,1 Prozent der Kinder im Alter bis zu 5 Jahren und 63,1 Prozent der älteren Kinder (bis 14 Jahre) im Sozialhilfebezug ge-ben die Eltern an, die Kinder nicht entsprechend ihren Bewe-gungsbedürfnissen fördern zu können. Die Einschränkungen resul-tieren dabei wesentlich aus den schlechten Rahmenbedingungen der Haushalte. So sehen sich die Eltern nicht in der Lage, Spiel- und Sportgeräte wie z.B. Fahrräder, Bobbycars oder auch Inliner, andere notwendige Ausstattungen wie Turn- und Fußballschuhe, Schläger oder Bälle sowie die nötige Sportbekleidung ausreichend zu finanzieren. Darüber hinaus konnte 22,7 Prozent der jüngeren und 32,1 Prozent der älteren Kinder die Teilnahme im Sportverein nicht ermöglicht werden - beispielsweise am Kinderturnen, am Fußballtraining oder an Schwimmkursen -, so dass erschreckend viele Kinder ihren Sport nicht ausüben können. In der Folge sind
beispielsweise 38 Prozent der sozialhilfebeziehenden Kinder in ih-rem Bewegungsleben auf Fahrradfahren und Schwimmen be-schränkt, mehrheitlich auf nur eine dieser Aktivitätsformen. Sie ge-hen im Grunde keiner weiteren Sport- oder Bewegungsart nach, obwohl Bedürfnisse in dieser Hinsicht geäußert werden. Da sich Kinder in ihren (Sport-)Interessen sehr stark auch an ihren Freun-dInnen orientieren, erleben sie so nicht nur Ausgrenzungserfah-rungen in ihrem Bewegungsleben, sondern auch in ihren sozialen Kontakten... Berücksichtigt man den starken Wunsch der Kinder aus Sozialhilfehaushalten nach Aktivitäten in den Sportvereinen, so zeigen sich die Tendenzen der Ausgrenzung in besonderem Maße. Dies bestätigt sich im Vergleich zur durchschnittlichen Mitglieder-zahl derselben Altersgruppe. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war nahezu jedes zweite Kind (48,2 Prozent) in Oldenburg im Alter bis zu 14 Jahren Mitglied eines Sportvereins, aber nur jedes fünfte Kind (21,1 Prozent) stammte aus Sozialhilfehaushalten. Dabei stel-len nicht nur die Mitgliedsbeiträge für die Eltern ein Problem dar, denn eine Teilnahme der Kinder im Verein bringt bekanntlich weite-re Ausgaben mit sich... So sind es weit weniger die Sportvereine selber, als vielmehr die mit der Beteiligung verbundenen Kosten, die eine Beteiligung armer Kinder häufig nicht zulassen.
Die Eltern tun ihr Möglichstes, ihre Kinder zu fördern und deren Bedürfnisse zu befriedigen. Sie müssen dabei allerdings mit unzu-reichenden Mitteln auskommen, was dann zwangsläufig zu Be-nachteiligungen der Kinder führt. Einem Kind in der Sozialhilfe steht heute kein Fahrrad zu, es hat keinen Anspruch auf Fußball-schuhe, auf die Übernahme von Sportvereinsbeiträgen oder der Kosten für den Ballettunterricht. Dreiräder oder Roller können nicht finanziert werden, weil der monatlich für Spielzeug vorgesehene Betrag die Summe von zwei DM kaum übersteigt. Die mit der Sozi-alhilfe zugestandene Sport- und Bewegungsausstattung für Kinder beschränkt sich auf einen Minimalstandard, der es ihnen erlaubt, am Schulsportunterricht teilzunehmen: Turnhose, -schuhe, -hemd und -beutel, dazu einen Trainingsanzug sowie Badebekleidung. Insbesondere Mittel für Gebrauchsgegenstände mit höheren An-schaffungskosten, wie z.B. Inliner, die heute bei Kindern sehr beliebt und häufiger auch vorhanden sind, sind nicht vorgesehen. Bedürfnisse von Kindern, wie die Teilnahme im Sportverein, wer-den sozialhilferechtlich nicht anerkannt und gelten als „Annehm-
lichkeit“, als keine von der Würde des Kindes her gebotene Not-wendigkeit. Gesellschaftliche Veränderungen im Bewegungsleben der Kinder sind in der Sozialhilfe aktuell nicht berücksichtigt...
Andreas Dallmann, Olympische Jugend, Heft 12/2000, S. 8 f
Zwiespältige Wahrheitssuche in Sachen DDR-Doping
...Sowieso scheinen gewollte oder ungewollte Informationslücken Charakteristiken der gegenwärtigen Kampagne zur Durchsetzung von Regressansprüchen für DDR-Dopinggeschädigte zu sein. Es geht dabei, so der vom 8. Mai 2001 datierte „Offene Brief an den Bundestag“, nicht um eine „eventuelle einmalige Entschädigung“, sondern um „eine Entschädigung in Form einer monatlichen Ren-te“. In den meisten Presseveröffentlichungen mit polemischem Fin-gerzeig auf die Fünf-Millionen-DM-Hinterlassenschaft des NOK der DDR fehlt das noch sehr bezeichnende Faktum, dass die Forde-rung von nur neun Akteuren unterschrieben ist, die sich als Ge-schädigte des DDR-Dopingsystems verstehen.
Das irritiert denn nicht nur denjenigen, der einschlägige Publikatio-nen Dr. Giselher Spitzers wie „Doping in der DDR“ konsumierte. Der dank finanzieller Bezuschussung durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft den DDR-Sport mit starrem Westblick sezieren-de wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität Potsdam geht in seinen Spekulationen davon aus, dass in das flächendeckende DDR-Doping rund 10.000 Athleten/innen einbezogen waren, von denen 15 Prozent leichtere, fünf Prozent schwere gesundheitliche Schädigungen erlitten. Ein Drittel der gedopten Sportlerinnen sei gynäkologisch mehr oder minder beeinträchtigt. Nur genereller Argwohn gegenüber Spitzers Ermittlungsergebnissen schützt vor tiefer Nachdenklichkeit, die ansonsten angesichts der verschwin-dend geringen Zahl von nur neun Petitionsunterschriften wohl auf-kommen müsste.
Auch das jüngst edierte, als weit über thematisch vergleichbaren Veröffentlichungen stehend gelobte Buch von Ines Geipel kann derartige Unschlüssigkeit nicht ausräumen. Die vormalige Sprinte-rin des SC Motor Jena mit einer Bestzeit von 11,21 sek. über 100 m, gegenwärtige Professorin an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Berlin und der Hochschule für Film und Fernsehen „Kon-rad Wolf“ in Babelsberg, etablierte sich seit 1996 durch die Her-ausgabe und die Autorenschaft diverser literarischer Werke... Stil-
elemente der dort bewährten Semantik transportierte Ines Geipel jetzt auch in ihr Buch „Verlorene Spiele - Journal eines Prozesses“, doch trotz der einen oder anderen belletristischen Formulierung bleibt das 158-seitige Werk das, was es nach dem Willen der Autorin sein soll: ein Plädoyer gegen im DDR-Sport praktizierte Dopingme-thoden und für die Entschädigung deren Opfer. Mit professionellem Geschick begründet Ines Geipel, selbst eine der 22 Nebenklägerin-nen beim Ewald/Höppner-Prozess, die Forderung nach Wiedergut-machung, noch nicht ganz so provokativ, wie sie dies inzwischen, mit abenteuerlichen Schlussfolgerungen garniert, bei öffentlichen Lesungen vorführt, aber immerhin so unverblümt, dass einseitige Parteilichkeit nicht übersehen werden kann. Grundlegend neue Er-kenntnisse werden von der Autorin nicht angeboten... Dass bei der Beschreibung damaliger Sachverhalte und deren Folgen die Schrift-stellerin hinter der parteilichen Anklägerin zurück tritt, darf allein nicht Anlass für Misstrauen genommen werden, wohl aber Ines Geipels Danksagung im Schlusswort an Professor Dr. Werner Franke, dem Heidelberger Rundumschläger in Sachen Doping. Ihn musste im Ju-ni 1993 die damalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Dr. Rita Süßmuth, darauf hinweisen, „dass der unzutreffende Eindruck zu vermeiden ist, es bestehe ein innerer Zusammenhang zwischen dem Gutachten für die Enquetekommission und den Presseveröf-fentlichungen“, die den Eindruck vermittelten, „er sei weiter im Auf-trag des Deutschen Bundestages tätig“. Trotz aller Hilfestellungen aber und aller schriftstellerischer Professionalität vermag auch Ines Geipel nicht eine plausible Erklärung für die fatale Diskrepanz zwi-schen der Gesamtzahl der vom flächendeckenden Doping Betroffe-nen und der Minigruppe der nunmehr neun Unterzeichnenden des offenen Briefes zu liefern... Angesichts solcher Personalknappheit haben die wenigen bekennenden Dopingopfer viel zu tun, um ihrer Aktivistenrolle gerecht zu werden. So operierte Karen König, 1985 als Mitglied des TSC Berlin 16-jährig Schwimm-Europameisterin mit der 4x100-m-Freistilstaffel, als Prozessbeteiligte bei drei sich bieten-den Gelegenheiten: Hauptbelastungszeugin im August 1998 beim Berliner Verfahren gegen den Abteilungsleiter Leistungssport der sportärztlichen Hauptberatungsstelle Berlin, die Sektionsärztin Schwimmen und drei Trainer des TSC Berlin, im Januar 2000 als Nebenklägerin im Berliner Prozess gegen den Verbandsarzt (1975 bis 1985) des Deutschen Schwimm-Verbandes, Dr. Lothar Kipke,
dessen Geständnis die Anhörung von Karen König und weiterer fünf Zeuginnen entbehrlich machte, und schließlich als Nebenklägerin und Zeugin bei der Verhandlung gegen Ewald und Höppner.
Anfang Mai nun hat Karen König beim Landgericht Frankfurt (Main) einen Klageantrag einreichen lassen, der gerichtlich klären soll, ob das Nationale Olympische Komitee für Deutschland durch die sei-nerzeitige Übernahme des Restvermögens des Nationalen Olympi-schen Komitees der DDR einer „Schuldmitübernahme“ unterliegt und als Konsequenz Regressansprüche von Opfern des DDR-Dopings zu erfüllen hat. Warum Karen König das NOK als Ziel-scheibe auserkor, ist nicht erkennbar. Sie hat nie an Olympischen Spielen teilgenommen... Klagen dieser Adressierung haben nach Expertenansicht allein schon deshalb kaum eine Chance, weil das Nationale Olympische Komitee für Deutschland nicht Rechtsnach-folger des NOK der DDR ist, genau so wenig wie der Deutsche Sportbund Rechtsnachfolger des Deutschen Turn- und Sportbun-des der DDR. Zudem handelte es sich beim flächendeckenden Doping in der DDR um die Ausführung eines Staatsplans, was die juristische Ahndung, wie die diversen Prozesse zeigten, substanti-ell und zeitlich einengte. In ihrem Antrag zur „Errichtung eines Fonds zur Unterstützung der Doping-Opfer der DDR“ verweist selbst die ansonsten zur Parteinahme bereite CDU/CSU-Fraktion auf die Auffassung, dass, über den Sport hinaus, auch „gegen die Bundesrepublik Deutschland kein Anspruch auf Rechtsnachfolge bestehe.“
„Moralische Kategorien überwiegen in diesem Fall rechtliche Nor-men“, argumentieren deshalb der sportpolitische Sprecher der Uni-on, Klaus Riegert, und seine Freunde. Dies findet sicherlich vieler-orts Zustimmungen - vorausgesetzt, der Verstandsbegriff „morali-sche Kategorien“ wird präzisiert. Im Klartext: Die Kapitalisierung er-littenen Unrechts setzt in jedem Einzelfall die exakte Prüfung vo-raus, ob die Entschädigungsforderung tatsächlich auf ohne eigenes Selbst- und Mitverschulden erlittenen Dopingfolgen beruht. Längst nicht jeder wird bejahen, dass solche schwierige und oftmals schon vom Ansatz her zwiespältige Wahrheitssuche per Bereitstellung von vorerst 750.000 DM und einem späteren Versorgungsvolumen von schätzungsweise 30 Millionen DM aus Steuermitteln einem umstrittenen Privatzirkel überlassen wird.
Willi Ph. Knecht, NOK-Report vom 1. Juni 2001
Medikamentenmißbrauch im Fitneßbereich
Angesichts der vorliegenden Ergebnisse muß von einem leistungs-teigernden Medikamentenmißbrauch größeren Ausmaßes im ambi-tionierten Breitensport ausgegangen werden. Der Erwerb entspre-chender Präparate auf dem Schwarzmarkt erscheint unkompliziert. Da Freizeitsportler, die entweder gar nicht oder nur an kleineren regionalen Wettkämpfen teilnehmen, nicht getestet werden kön-nen, ist der Medikamentenmißbrauch unkontrollierbar. Es hat sich gezeigt, daß hochdosierte Steroideinnahmen über längere Zeit-räume keine Seltenheit sind. Wir haben es daher in Deutschland mit einem in seinen medizinischen Konsequenzen weitaus größe-ren Problem zu tun als bisher angenommen wurde. Aus den ge-wonnen Fakten lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten.
1. Sollten die vorliegenden Zahlen auch nur zur Hälfte stimmen, ist angesichts der Mitgliederzahlen in kommerziellen Fitneßstudios von mindestens 200.000 Anabolikakonsumenten in Deutschland auszugehen.
2. Legislative Maßnahmen auf EU-Ebene zur konsequenten Be-schränkung der Anabolikaabgabe in Absprache mit der Pharmain-dustrie sind dringend geboten.
3. Die mögliche Suchtkomponente beim Anabolikamißbrauch ist bisher unzureichend untersucht. Die sportmedizinisch betreuenden Ärzte müssen durch Erkennen und Aufklärung von Hochrisikogrup-pen im Breitensport einen Beitrag zur Risikoabwendung ihrer Pati-enten leisten.
4. Plötzliche Todesfälle von bisher gesunden Amateursportlern sollten prinzipiell immer von entsprechend in der Dopingproblema-tik erfahrenen Rechtsmedizinern mitbegutachtet werden.
5. Die breite Diskussion der Dopingproblematik im Freizeitsport und den damit assoziierten Gefahren muß offensiv von Medien, Breitensportverbänden, Sportmedizinern und Drogenbeauftragten geführt werden! Die medienwirksame Diskussion von Dopingfällen im Hochleistungssport ist in diesem Zusammenhang von nachran-giger Bedeutung.
Carsten Boos, Deutscher Bundestag, Sportausschuß, Öffentl. An-hörung 14. März 2001, Ausschußdrucksache Nr. 241
Bundesregierung unterstützte Testosteronversuche
...Aber die damalige Regierung Kohl hat mitgedreht am Rädchen der unerlaubten Leistungsmanipulation. Das Kuriose an dieser Feststellung ist: Die Regierung hat bereits vor zehn Jahren zuge-geben, dass die umstrittenen westdeutschen Testosteronversuche der 80-er Jahre zu Dopingzwecken auf den Weg gebracht wurden. Nur vermied man das hässliche Wort Doping und wollte die Hor-monspritzen gewissermaßen als humanitäre Maßnahme verstan-den wissen... Dokumentiert ist das verkappte - natürlich nicht als solches gedachte - Dopingeingeständnis in den Bundestagsproto-kollen der 12. Wahlperiode (Bundestags-Drucksache 12/1781). Je-der Bürger kann sie einsehen. Nachdem Anfang der neunziger Jahre die so genannten Versuche zur „Regeneration im Ausdauer-sport“ mit Testosteron einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurden (Süddeutsche Zeitung vom 26./27. Oktober 1991), hatte der ehe-malige westdeutsche Leistungssport plötzlich alle Hände voll zu tun, um das angekratzte Image zu korrigieren... Zeit, dass der westdeutsche Sport seine Geschichtsschreibung modifiziert. Ziel der vom Bund mit 300.000 Mark geförderten Studie sei es nach Angaben des Geldgebers nämlich gewesen, „dass im Sinne der Sportler wissenschaftlich zu klären sei, ob durch physiologische Testosterongaben zum Defizitausgleich eine schnellere Wieder-herstellung eines normalen Gesundheitszustandes erreichbar wä-re“. Von Antidoping steht in dem zehnseitigen Antwortprotokoll auf die Kleine Anfrage oppositioneller Parlamentarier nichts. Testoste-ron sollte nach erfolgreichen Tests wohl auch im Ausdauersport der Bundesrepublik angewendet werden, zumal man die Substanz „beim gesunden erwachsenen Mann in der eingesetzten Dosierung nebenwirkungfrei“ wähnte... Aber selbst einmal angenommen, die-se Testosteronversuche seien nur aus gesundheitlichen Überle-gungen heraus auf den Weg gebracht worden: Das Regelwerk kennt dafür trotzdem kein anderes Wort als - Doping.
Die Ära der Trainingskontrollen war bei der Initialisierung der ab Mitte der achtziger Jahre durchgeführten Tests noch längst nicht angebrochen. Schön also, dass Heinz Liesen 1987 vor dem Sport-ausschuss des Deutschen Bundestages (Hearing-Thema „Humani-tät im Spitzensport“) damit zu beeindrucken vermochte, dass er „bei den Nordischen Kombinierern aus wirklich absolut durch-schnittlich talentierten Athleten über Jahre hinweg Weltspitzenath-
leten“ geformt habe. Kerngesund versteht sich, dank hormoneller „Substitution“. Beunruhigend? Kein halbes Jahr zuvor war die Sie-benkämpferin Birgit Dressel gestorben.
Andreas Singler, Süddeutsche Zeitung vom 5.7.2001
Die Ab- und Ausgrenzungspolitik der westdeutschen Sportführung gegenüber der DDR in den frühen 50er Jahren
...Deutlich wird die Tatsache der besonderen Involviertheit des Sports in die allgemeine Deutschlandpolitik jener Jahre. Dass der DSB-Präsident Daume dabei stets zugleich um die Handlungsfrei-heit seiner Organisation bemüht war, kann nicht übersehen wer-den, dass er aber gleichermaßen zu einer kontinuierlichen Ab-stimmung mit der Bundesregierung - unabhängig von einer auch gleichlaufenden persönlichen politischen Überzeugung - gezwun-gen war, wurde auch mehr als deutlich. Nachhaltig war auf jeden Fall der Schaden, den der Sport an sich und im besonderen die ostdeutschen Sportler dieser Zeit durch die Instrumentalisierung für übergeordnete politische Auseinandersetzungen erfuhren. Ohne die gegebene politische Konstellation hätten sicherlich auch schon 1952 Sportlerinnen oder Sportler aus Ostdeutschland an den Olympischen Spielen in Helsinki teilgenommen, welchen Staat auch immer repräsentierend - auf jeden Fall aber in Wahrnehmung ihrer Persönlichkeitsrechte und im Sinne eines friedensstiftenden Internationalismus.
Das Faktum von 1980, das Sportlern in Deutschland (hier dann aus Westdeutschland) infolge einer übergeordneten, allgemeinpoliti-schen Interessenlage die Teilnahme an den Olympischen Spielen verwehrt wurde, hatte also schon 1952 einen Vorlauf.
Deutlich relativiert werden muss aber die vor allem aus westlicher Sicht bisher zumeist einseitig der DDR-Sportführung zugeschrie-bene Verantwortlichkeit für diese Entwicklung. Dass das NOK der DDR erst 1955 vom IOC anerkannt wurde, ging zu einem ent-scheidenden Teil auf die aktiven Interventionen des westdeutschen NOK-Präsidenten Ritter von Halt zurück. KLUGE (2001, 18) verweist zwar jüngst auf eine 1951 v. Halt durch Diem zugeschriebene Be-reitschaft, mit dem DDR-NOK ein „gemeinsames Olympisches Komitee“ zu gründen. Soweit eine Bereitschaft zum Verhandeln durchaus auch da gewesen sein mag, zeigen die oben zitierten Dokumente jedoch auch eindeutig, dass dieses lediglich Taktik war
und v. Halt alles, nur kein „Kommunistenfreund“ (so die Formulie-rung der durch KLUGE - 2001, 18 - erfolgten Interpretation der Vor-würfe Carl Diems gegenüber v. Halt) war. Niemals hatte er wirklich die Absicht, ein gemeinsames NOK zu gründen. Eindeutig vertrat er die Position der Bundesregierung auf Alleinvertretung und stimmte jeden Schritt mit ihr ab. Als langjähriges IOC-Mitglied bis hin zum Sitz in der Exekutive war er im Gegensatz zu Diem jedoch auch überaus vertraut mit der Stimmungslage im IOC insgesamt sowie bei den internationalen Fachverbänden und wusste, dass er zumindest Verhandlungsbereitschaft zeigen musste. Die Verhand-lungen z.B. in Lausanne im Mai 1951 leitete er dann eben so, „dass sie ergebnislos verlaufen mussten“ (v. Halt an den Bundes-innenminister, Brief vom 02.09.1951). Dies war nicht nur internatio-nale Sportpolitik von besonderer, wenn auch negativer Güteklasse, dies war zugleich auch allgemeinpolitisches Handeln mit dem Prä-dikat „Antikommunismus“ und „Kalter Krieg“ der Spitzenklasse - ungebrochen weiter auf dem Standard seines politischen Agierens im Nationalsozialismus.
Auf beiden Seiten gab es also „Opfer“, auf beiden Seiten aber auch „Täter“, zumindest bezogen auf das Recht von Sportlerinnen und Sportlern nach Freizügigkeit und bezogen auf die Entwicklung des Sports in Deutschland insgesamt...
Wolfgang Buss, SportZeit 1 (2001) 1, S. 53 ff.
„...die Nützlichkeit auch einer sinnentleerten Tradition“
Was ist der Abglanz auf Stoiber vom Sieg der Münchner Fußball-mannschaft der feinen Pinkel und Millionäre gegen Schröders Kommentierung des Pokalsiegs von Schalke 04? Die Überreichung des Pokals durch den Kanzler war das protokollarisch Übliche. Aber dann seine Bilanz des Spiels: noch aus dem Stadion; kennt-nisreich („der Schiedsrichter hat das Spiel nicht kaputt gepfiffen“); erinnerungsselig (über einen Spieler: „Einen Wühler haben wir frü-her in unserem Dorffußball so jemanden genannt“). Kein falscher Ton, keine befremdliche Attitüde, sondern Schröder ganz bei sich. Und vom traditionsreichen einstigen Arbeiterverein aus Gelsenkir-chen fiel ein Licht von links auf Gerhard Schröder, aus welcher die neue Mitte bisher noch nie erleuchtet worden ist. Hier erwies sich die Nützlichkeit auch einer sinnentleerten Tradition.
Sogar die deutsche Einheit fand ihre ausgewogene Darbietung auf dem Rasen. Eine Mannschaft aus dem Osten war an Schalkes und des Kanzlers Triumph beteiligt, gehört aber in die zweite Liga: Da-zugehörigkeit ohne unangemessene Gleichheit. So konnten die Deutschen in Ost und West zufrieden sein. Unter Einschluss von Schröders Stasi-Cousine hat sich fast über Nacht ein deutsch-deutsches Gefühlsbündel gebildet, das blühender Landschaften entraten kann. Schröder im Glück.
Günter Gaus, Freitag Nr. 23/2001, S. 1
Wie man Geschichte „erforscht“
Auf den ersten Blick scheint bei den deutschen Sporthistorikern al-les wohl geordnet: Eine Sektion Sportgeschichte in der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) versammelt sich jährlich, auch um einen Überblick über jüngste Forschungsvorhaben zu ge-ben. Thema eins ist natürlich noch immer die „Aufarbeitung der DDR-Sportgeschichte“, worunter in der Regel die einst vom Minis-ter Kinkel in aller Öffentlichkeit von den Juristen geforderte „Delegi-timierung“ der DDR verstanden wird. Der Sport geniesst sogar ge-wissen Vorrang, weil der Groll über die vielen Niederlagen Lang-zeitwirkung offenbart. Bei vielen anderen DDR-Themen reichen Schlagworte wie „marode“ oder „uneffizient“, im Sport müssen Do-ping und Stasi herhalten, um zu suggerieren, dass die DDR-Erfolge - noch dazu über die BRD - allein durch Betrug errungen worden waren. Wer auf diesem Gebiet vorgibt, Neues entdeckt zu haben, wird gefeiert. Wer nicht in solcher Reih und solchem Glied mar-schiert, kann schnell auf die „schwarze“ - präziser: rote - Liste gera-ten. Einer von denen ist ein gewisser Dr. Huhn, der, in der DDR gross geworden, nach 1990 seinen Idealen treu blieb. Er kann ein Lied mit vielen Strophen singen, wie man mit solchen Aussensei-tern umgeht. Zum Beispiel 2001: Die vom 28. Februar datierte Ein-ladung zur Historikertagung wurde am 30. März bei der Post aufge-liefert, womit die Frist für die Anmeldung eines Vortrags verstrichen war. Nach energischem Protest wurde sein Vortrag zugelassen. Der renommierte Anti-DDR-Amokläufer Privatdozent Spitzer forder-te als nächstes durch brieflichen Widerspruch die Streichung Huhns von der Rednerliste, wofür sich indes keine Mehrheit fand. Jetzt widmete man in der Vierteljahresschrift des dvs der Tagung zwei volle Druckseiten - und wieder war Huhn im Visier. Zitat: „In
der DDR spielte der Fussball eine Sonderrolle, wie Giselher Spitzer in seinem Vortrag nachweisen konnte... Und wenn Spitzer den Schwerpunkt seines Beitrags auf Mannschaftsumsetzungen, Fuss-ball-Doping, die Schiedsrichterparteilichkeit beim BFC Dynamo o-der andere Formen der Manipulation im DDR-Fussball legt, kann er sich des Widerspruchs - fast genüsslich vorgetragen von Klaus Huhn (Berlin) - ob der Vollkommenheit und Richtigkeit seiner Dar-stellung gewiss sein.“ Klartext: Spitzer hatte seine erste „Manipula-tion“ beim ersten DDR-Endspiel angesiedelt und als Gegner dieses Finales SG Dresden-Friedrichstadt und Union Halle benannt. Tat-sächlich waren die Dresdner der ZSG Horch Zwickau unterlegen. Nur ein Beispiel für den grosszügigen Umgang Spitzers mit den Tatsachen. Zwei Tage später berichtete die „junge Welt“ über den Umgang mit den Fakten auf der Potsdamer Tagung und daraufhin rechnete das dvs-Organ mit ihr ab: „Es konnte deshalb nicht über-raschen, dass in einer linken Tageszeitung... diese Diskussion... nicht einfach thematisiert, sondern in dem Vorwurf gipfelnd, dass es gar nicht um die Erfoschung des DDR-Sports ginge, sondern um dessen Deligitimierung, auch völlig unangemessen dargestellt worden ist... Ob es nun stimmt oder nicht, dass Klaus Huhn selbst diesen Artikel... verfasst hat, das ganze hatte auch so schon einen höchst zweifelhaften Unterhaltungswert.“
Aufschlussreich in diesem Report eines gewissen Ringo Wagner der Hinweis darauf, dass die jW eine „linke“ Tageszeitung ist. Ord-net der dvs neuerdings die Tageszeitungen politisch ein? Interes-sant auch, dass weitere Noten vergeben wurden: Die Darstellung sei „unangemessen“ gewesen. Wer entscheidet, was „angemes-sen“ ist?
Und um dem Leser etwas mehr Transparenz zu offerieren: Huhn hatte einen Vortrag über „Kinderangeln im Trend“ gehalten und dargelegt, dass der frühere DDR-Anglerverband, der übrigens die „Vereinigung“ mit dem Westverband abgelehnt hatte, seiner Tradi-tion der Förderung des Kinderangelns bis heute treu geblieben ist. Die Frage des Professors für Sportwissenschaften der Universität Münster, Prof. Dr. Michael Krüger, an den Vortragenden: „Könnten sie Genaueres über die Fische sagen, die in den vergifteten Ge-wässern der DDR schwammen?“
Dies nur, um anzudeuten, was in diesen Kreisen als angemessen“ gilt.
UZ 3.8.2001
REZENSIONEN
Wissenschaftliche Berichte
und Materialien
Wenn ein Forschungsbericht von 350 Seiten in Buchform vorgelegt wird, der ein Phänomen ostdeutscher Sportentwicklung breit the-matisiert, dann kommt bei einem sogenannten Insider (wie heute neudeutsch ein Sachkundiger bezeichnet wird) Interesse, ja Neu-gier auf, ohne damit zunächst einen wissenschaftlichen Anspruch zu verbinden. Wenn zudem noch der Auftraggeber bekannt wird, die Förderer des Projekts zu Wort kommen und eine Hand voll hochkarätiger Sponsoren dahinterstehen, dann verstärkt sich der Wunsch, das Erforschte zur Kenntnis zu nehmen.
Obwohl der Rezensent an einer Präsentationsveranstaltung des Bundesinstitutes für Sportwissenschaft (BISP) am 12. März diesen Jahres in Leipzig teilnehmen, bereits einen inhaltlichen Aufriß aus-gewählter Ergebnisse zur Kenntnis nehmen und sich auch kritisch zu dem Gehörten äußern konnte, war er vom Gesamtbericht nicht nur enttäuscht, sondern oft genug beim Lesen auch sprachlos. Wa-rum?
Es ist für den Rezensenten, der seit mehr als 30 Jahren im sozia-len Feld des Volkssports, des Freizeit- und Erholungssports, auch Massensport genannt, leitende Verantwortung an der weltbekann-ten, aber ohne Evaluation abgewickelten Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig trug, an internationalen For-
schungsprojekten beteiligt war und in verschiedenen Erdteilen und vielen Ländern den guten Ruf der wissenschaftlichen Arbeit an der DHfK festigen durfte, schon bestürzend und zugleich fragwürdig, wenn auf S. 14 des Berichts postuliert wird, „über die Sportgemein-schaften liegen nur spärliche empirische Daten vor. Deren Validität wird man zudem eher skeptisch einschätzen, weil ihre politisch er-wünschte Einfärbung wahrscheinlich ist, zumindest aber nicht aus-geschlossen werden kann.“ Damit wird nicht nur unterstellt, daß le-diglich „spärliche empirische Daten“ aus DDR-Zeiten vorliegen und also nicht oder kaum dazu geforscht wurde, sondern den damals verantwortlichen Wissenschaftlern auch jegliche wissenschaftliche Objektivität und Redlichkeit abgesprochen, obwohl das Literatur-verzeichnis von Baur/Braun überzeugend belegt, daß die in der DDR durchgeführten Untersuchungen weder zur Kenntnis genom-men noch analysiert worden sind. Da eine Fülle von Forschungs-berichten, Publikationen, Diplomarbeiten, Dissertationen und ande-res wissenschaftliches Schrifttum vorliegt, das unmittelbar und mit-telbar die Thematik des von Baur/Braun bearbeiteten Forschungs-auftrages tangiert, kann man den Autoren nur eklatante Unkenntnis bescheinigen. Ihnen ist - bewußt oder unbewußt - entgangen, daß es an der DHfK seit 1963 ein Institut für Volkssport gab, 1965 die bislang umfangreichste (im nationalen und internationalen Maß-stab) sportsoziologische DDR-repräsentative Untersuchung zur Komplexthematik „Körperkultur und Sport im Freizeitverhalten der DDR-Bevölkerung (16 - 75 Jahre)“ durchgeführt wurde, und zwar als interdisziplinäres Projekt. Im Band 6 des zehn Bände umfas-senden Forschungsberichtes (Autor: Klaus Hennig) wird übrigens explizit die Gestaltung des Übungsbetriebes in den Sportgemein-schaften analysiert. Insgesamt waren 2659 Probanden aus acht Verantwortungsbereichen einbezogen worden. Hennig hat diesen Forschungsbericht zu einer Dissertation erweitert und 1967 erfolg-reich verteidigt. Baur und Braun hätte bei ihren Recherchen auch auffallen müssen, daß das Institut für Volkssport - 1977 inhaltlich und strukturell erweitert - als Institut für Freizeit- und Erholungs-sport intensiv geforscht hat und auch mit internationalen Aufgaben betraut wurde. Es scheint ihnen zudem jene Ausschreibung der UNESCO nicht bekannt geworden zu sein, wonach eine Studie einzureichen war, die ein strategisches Konzept zur Entwicklung des Sports für alle in den dem Weltverband angehörenden 154
Staaten aller Erdteile enthalten sollte (1985). Die DHfK hat sich seinerzeit mit einem Forscherteam daran beteiligt und den 1. Preis errungen. Es wird auch keinerlei Bezug auf die Arbeiten der 1986 gebildeten Forschungsgemeinschaft „Ausprägung des Massencha-rakters von Körperkultur und Sport“, in der alle Wissenschaftler der DDR mitwirkten, die im Freizeit- und Erholungssport oder im Brei-tensport Forschungsaufgaben bearbeiteten. Es gehörten dazu Wissenschaftler von der DHfK, denen auch die Leitung des Vorha-bens übertragen worden war, und von allen Sektionen für Sport-wissenschaft der Universitäten und Hochschulen, auch von denen in Greifswald oder Halle. Baur und Braun hätten selbst bei einer oberflächlichen Analyse erfahren können, daß es sich bei diesem komplexen, ebenfalls interdisziplinär bearbeiteten Forschungspro-jekt, um das damals weltweit umfangreichste handelte.
Generell muß also die fehlende vorurteilsfreie Analyse aller vor-handenen Untersuchungsergebnisse ebenso kritisch vermerkt werden, die in jeder Wissenschaftsdisziplin zu den unerläßlichen Bedingungen eines neuen Vorhabens zählt, wie der fehlende Be-zug zu den bis 1989/1990 erreichten Ergebnissen im Breitensport, sowohl insgesamt als auch im DTSB und bei den übrigen Verant-wortungsträgern.
Im Kapitel 1 wird neben den Problemstellungen - die Sportvereine in Ostdeutschland betreffend - nicht nur auf Gesetze und Anord-nungen der DDR zu Körperkultur und Sport verwiesen, sondern im Anhang auch eine Auswahl angeboten, z.B. als erstes und zuvör-derst Auszüge aus dem Arbeitsgesetzbuch der DDR, aus der „An-ordnung über die Arbeitsfreistellung von Sportlern und Funktionä-ren...“ oder der „...über die Wahrnehmung der Verantwortung der Betriebe und staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet von Kör-perkultur und Sport“, die für die Entwicklung der Sportgemeinschaf-ten durchaus relevant waren. Allerdings ist nun schon nicht mehr erstaunlich, daß sowohl auf die Verfassung der DDR und die damit gegebenen verfassungsmäßigen Förderzusagen und -ansprüche (übrigens erstmals in einer deutschen Verfassung) und die Ju-gendgesetze als auch auf die „Anordnung über die kostenlose Nut-zung von Sporteinrichtungen zur Durchführung des organisierten Sporttreibens“, die für die Sportgemeinschaften und die Sportgrup-pen der unterschiedlichsten Verantwortungsträger besonders be-deutsam war, keinerlei Bezug genommen wird, sondern auf der
Ebene der Gesetze ausschließlich zu dem zeitlich erst später ent-standenen Arbeitsgesetz. Man merkt die Absicht wohl. Und bereits hier könnte man folgern: Gewollt selektiv, Chance vertan.
Im Kapitel 2 wird die Untersuchungsstrategie, das methodische In-strumentarium und die Untersuchungsbasis vorgestellt und wis-senschaftlich exakt beschrieben. Über die kommunikative Leistung eines - heute vielfach eingesetzten - Telefoninterviews kann man sicher streiten. Es ist zwar zeit- und kostenökonomisch zweckmä-ßiger als eine mündliche Befragung. Abstriche müssen jedoch hin-sichtlich des Vertrauensverhältnisses von Interviewer und Befrag-ten gemacht werden. Qualitative Aussagen in einer auf das Anlie-gen gerichteten Interviewatmosphäre sind so nicht zu erwarten. Entscheidend ist aber, daß nicht nur eine kurze Darstellung der mathematisch-statistischen Sicherung der gewonnenen Untersu-chungsergebnisse, sondern vor allem eine kritische Würdigung der Untersuchungsstrategie wie auch des genutzten methodischen In-strumentariums, also der gesamten Anlage der Untersuchung fehlt. Die da und dort eingestreuten Bemerkungen, z.B. zu den Beson-derheiten von Telefonbefragungen (S. 68 f), ersetzen solch eine Würdigung - nicht nur der Vorzüge, sondern auch der gegeben Grenzen des Vorgehens - auf gar keinen Fall.
Im Kapitel 3 wird sehr breit und aufwendig die „Wiederentdeckung des engagierten Bürgers“ behandelt (S. 75-124) und als Ergebnis ein Systematisierungsvorschlag der „Elemente freiwilligen Enga-gements in Sportvereinen“ (S. 115 ff) vorgelegt. Man kommt aber nicht umhin, anzunehmen, daß die Autoren auch - anhand vorran-gig westdeutscher Quellen und eines willkürlich gewählten Aktions-spektrums - nachweisen oder besser suggerieren wollten, es hätte bis 1990 in Ostdeutschland kein freiwilliges Engagement in den Sportgemeinschaften geben können. Das eigentlich Erstaunliche für einen Forschungsbericht: die aufwendige theoretische Diskus-sion dient keineswegs der weiteren Problemanalyse und vor allem der Bildung von Forschungshypothesen. Wenn man also in diesem Teil der Studie das, was im wissenschaftlichen Forschungsprozeß als forschungsleitende Hypothesen bezeichnet wird, inhaltlich ab-decken wollte, dann vermißt der Rezensent nicht nur die Hypothe-sen, sondern auch den unmittelbaren Bezug zum Forschungsan-satz und dessen Inhalt. Dieses Kapitel führt also in keiner Weise gemäß der Logik wissenschaftlicher Forschungen zu exakten, auf
die Schwerpunkte der empirischen Untersuchungen gerichteten Hypothesen, die außerdem mit den gewählten Untersuchungsme-thoden kongruent sein müßten. Darauf wird - und das ist eigentlich völlig unüblich - einfach verzichtet. Die der Ergebnisinterpretation vielfach vorangestellten, auf das jeweilige konkrete Ergebnis bezo-genen Annahmen sind dafür kein hinreichender Ersatz.
In den Kapiteln 4-6 werden die erhobenen Befunde ausgewiesen und erörtert. Während im 4. Kapitel das freiwillige Engagement nach Umfang, Vereinsgröße, Karrieren und Funktionsträgerent-wicklung behandelt wird, analysieren die Autoren im 5. Kapitel die „vereinspolitische Partizipation“. Es wird also zwischen „Engage-ment“ und „Partizipation“ (Teilhabe, Teilnahme) im Vokabular der Autoren „Mitwirkung der Vereinsmitglieder an den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen“ (S. 181) unterschieden und aus der Sicht gegensätzlicher Annahmen schließlich die ermittelte „auffal-lend hohe Mitgliederpartizipation“ (S. 219) einem doppelten Vorbe-halt (S. 221) unterstellt. Es bleibt das Geheimnis von Baur und Braun, warum sie - so auch in diesem Kapitel - immer wieder politi-sche Klischees nutzen, deren Verfallsdatum schon um einiges zu-rückliegt. Den konkreten Nachweis kann ich mir ersparen. Wichti-ger ist, welch geringe und oberflächliche Kenntnisse über das Le-ben in den Sportorganisationen der DDR die Autoren damit immer wieder offenbaren, was übrigens nicht nur mir oder dem Berichter-statter der FAZ aufgefallen ist. (vgl. Reinsch, FAZ, 4.4.2001) Ein Beleg dafür sind u.a. Aha-Reaktionen ob so mancher der vorge-fundenen Untersuchungsergebnisse, wie der zum sogenannten „common sense“ als Ausdruck einer langen Vereins- und Gruppen-verbundenheit. (S. 139) Diese Beziehungstiefe haben wir übrigens bereits 1965 repräsentativ ermittelt. Gleiches trifft auch für andere Befunde zu. Peinlich für einen Sozialforscher, wenn er sich schlecht vorbereitet auf wenig bekanntes Terrain begibt. Das ist al-lerdings nicht allein dem ausschließlichen Rückgriff auf Quellen aus den alten Bundesländern geschuldet. Bei gründlicherem Studi-um der Sozialstruktur der DDR wäre den Autoren zum Beispiel si-cher aufgekommen, daß die klassenlose Gesellschaft in der DDR stets als Fernziel unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedin-gungen im jeweiligen Lande bei analogen internationalen Rahmen-strukturen propagiert wurde. Es bleibt im übrigen noch dahinge-stellt und bedarf einer semantischen Strukturanalyse, ob das west-
europäische Stratifikationsmodell besser soziale Gleichheit abbildet oder das Modell einer horizontalen Grundstruktur mit den vertikal manifestierten Schichtungen wie Art der Arbeit, Bildungsniveau, Qualifikation u.a., das sich in der DDR im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet hat.
Bei der Darstellung der Beweggründe für den Rückzug aus Verein-sämtern ehemaliger Funktionsträger (S. 163 ff) muß es schon merkwürdig anmuten, wenn der tiefgreifende soziale Faktor der Ar-beitslosigkeit unberücksichtigt bleibt, und das bei Untersuchungen in einem sozialen Raum, in dem die offiziellen Arbeitslosenzahlen hin zu 20 Prozent tendieren. 30 Prozent sind in manchen Gegen-den schon eine reale Größe. Diese Unterlassung wird zumindest die Aussagen zur Motivation für ein Ehrenamt oder für den Rück-zug daraus verzerren. Dieser Mangel wird auch nicht durch den Deutungssatz auf S. 169 behoben, wonach angesichts „der teilwei-se dramatischen Einschnitte in den Erwerbsbiographien vieler Ost-deutscher und den damit verbundenen Veränderungen in der Le-bensführung... die Annahme durchaus angebracht (ist), dass Hin-derungsgründe zur Übernahme von Vereinsämtern nicht zuletzt auch in den Veränderungen seit 1990 zu suchen sind.“ Das ist doch ein allzu zurückhaltender Hinweis auf den Verlust oder die Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten durch das Wegbrechen ganzer Wirtschafts- und Industriezweige in Ostdeutschland. Und es ist für den interessierten Leser der Publikation - im Kapitel 4.8 an-gekommen (S.173 ff) - keineswegs ein Lapsus linguae der Autoren, daß mit den Variablen „selbstorganisierter versus staatsorganisier-ter Sport“ (173 ff) in ihrer Gegenüberstellung der semantische Ge-halt des letzteren unbeachtet bleibt. Eigentlich müßte nach länge-rem Umgang mit dem Phänomen Sport in der DDR bekannt sein, das der Sport nicht vom Staat organisiert wurde. Staatliche Organe haben ihn vor allem finanziell unterstützt. Als langjähriger Vorsit-zender, Sektionsleiter und Spartenleiter von Sportgemeinschaften kann der Rezensent das auf vielfache Weise belegen. Dem Indika-tor „selbstorganisierter Sport“ könnte bestenfalls der „vom Staat un-terstützte Sport“ gegenübergestellt werden. Auf die Folgen für die Untersuchungsergebnisse und deren Interpretation muß nicht ex-plizit verwiesen werden.
Ausgehend von Überblicksthesen bündelt das Kapitel 5 die Aussa-gen unter dem Blickwickel der „Partizipation“ und kommentiert we-
sentliche Daten. Dieser Abschnitt vermittelt tiefere Einsichten in das Leben der Sportvereine nach der Wende. Hervorhebenswert sind die Abschnitte 5.3 und 5.7-5.9. Mit der Zwischenbilanz werden Ableitungen für die Teilnahme an der Vereinspolitik getroffen. Aber auch dieses Kapitel wird leider mit inzwischen wohl unhaltbaren politisch-agitatorischen Szenarien und Schablonen überfrachtet und hinterläßt trotz der guten empirischen Substanz letztlich einen oberflächlichen Eindruck. Im Kapitel 6 geht es um die Sportvereine im „vorpolitischen Raum“. Die Autoren gehen der Frage nach, ob und inwieweit die Sportvereine so etwas wie ein „Lernfeld“ darstel-len, „auf dem generelle politisch-demokratische Orientierungen und Handlungsbereitschaften vermittelt und gefördert werden“ (S. 222 ff), müssen aber bekennen: „Allen ... Interpretationsansätzen ist al-lerdings erst noch anhand differenzierter Analysen nachzugehen.“ (S.256)
Im Kapitel 7 behandeln die Autoren zusammenfassend den Über-gang der Sportgemeinschaften zum Sportverein. (S. 257 ff) Diesen Überlegungen zum Institutionentransfer liegen allerdings keine Vergleichsdaten aus den Jahren 1989 und 1990 zugrunde. Inso-fern fehlen Daten und Aussagen darüber, wie viele Sportgemein-schaften gewissermaßen auf der Strecke formaler Regelungen nach Vereinsprinzipien geblieben sind oder aber über die großen Betriebssportgemeinschaften nach der Abwicklung, Auflösung, Zerschlagung der Mehrzahl der Trägerbetriebe aller Branchen be-ziehungsweise über die Sportgemeinschaften der anderen Verant-wortungsträger. Aus dieser Sicht nimmt der Rezensent die auf Sei-te 260 eigens gesperrt geschriebene und fast euphorisch gehalte-nen Feststellung, wonach sich der vereinsorganisierte Sport „als ausgesprochen bestandskräftig erwiesen hat“ zwar zur Kenntnis, möchte aber mißtrauisch anzeigen, daß mit den von FISAS 1992 festgestellten 77 Prozent der ostdeutschen Vereine als unmittelba-re Nachfolgevereine wohl eher die kleinen Sportvereine gemeint sein müssen. Bis 1989 war aber der überwiegende Teil der Sport-treibenden in der DDR in den Gemeinschaften der Großbetriebe, den Betriebssportgemeinschaften, organisiert. Und mit dem Weg-fall der Großbetriebe brachen vielfach auch wesentliche Strukturen des Sports weg. Hier wie andernorts in diesem Bericht fällt einmal mehr die vergangenheitslose Anlage der gesamten Untersuchung auf, da die Ausgangssituation nicht durch auf den Untersuchungs-
gegenstand bezogene Daten, sondern vor allem durch politische Urteile charakterisiert wird. Und hier können es sich die Autoren dann nicht verkneifen nach einer sachlichen und den Daten ange-messenen Wertung des Innenlebens der Vereine, mit einer auf Zimmer et.al. (1997) zurückgeführten These, die DDR letztendlich doch mit dem Naziregime auf eine Ebene zu stellen, um sofort noch die Gefahr zu beschwören, „dass durch eine massive staatli-che Unterstützung von Dritter-Sektor-Organisationen die Schwä-chung der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation fortgeschrie-ben wird“. (S. 273) Das wird durch die Bemühungen, möglichen Mißverständnissen „vorzubeugen“, zwar relativiert. Schließlich aber fast pointiert festgestellt, obwohl der Sport in Ostdeutschland „auf ‘nachhaltige’ staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen“ und der Staat über „die Gewährleistung grundlegender Sicherungsleis-tungen im organisierten Sport nicht hinausgekommen ist“ (S. 273), „ist auf diese Weise eine weitgehend ungeplante“, „offensichtlich dennoch erfolgreiche ‘Koproduktion’ zwischen staatlichen Instituti-onen und zivilgesellschaftlichen Akteuren entstanden“. (S. 274) Ein Kommentar erübrigt sich.
Mit dem Kapitel 8, das Detlef Krüger verantwortet hat, wird eine re-lativ selbständige Betrachtung der Entwicklung ostdeutscher Sport-vereine aus der Sicht ihrer Funktionsträger vorgenommen. Leitmo-tiv von Krüger ist der sinnige Dualismus „Vorwärts mit dem Blick zurück“. Dieser Teil des Berichts hebt sich methodisch und inhalt-lich deutlich von den anderen Kapiteln ab. Die angewendeten Me-thoden der Prozeßanalyse lassen, komplex angewandt, auf Daten schließen, die der Wirklichkeit in den Sportvereinen und deren dörf-lichem Umfeld entsprechen. Der Autor versucht gleichwohl, konkre-te Verhältnisse der Sportvereins-Entwicklung mit den fördernden und hemmenden sozialökonomischen Faktoren in Beziehung zu setzen. Die Mehrzahl der befragten Sportvereins-Vorsitzenden be-wertet sehr kritisch den nach der Wende aufgetretenen Bruch durch ungenügende Unterstützung von außen, Rückgang des Inte-resses an der Vereinsarbeit, nachlassendes Kommunikationsbe-dürfnis im Dorf, finanzielle Notlagen u.a. (S. 295 ff) Erstmals wird nun in diesem Forschungsbericht auf soziale Grundbedingungen hingewiesen, die maßgeblich das Freizeitverhalten der Bürger und damit die Sportvereinsarbeit beeinflussen, Arbeitslosigkeit, Angst, die Arbeit zu verlieren, Abwicklung der Betriebe, Verlängerung der
Wegezeiten und vieles andere dieser Art stehen für sich verän-dernde Wertorientierungen, Motivationen und konkrete Verhal-tensweisen. Krüger leitet aus der Prozeßanalyse, die in 13 kleins-ten und kleinen Sportvereinen (18 bis 171 Mitglieder) durchgeführt wurde, eine zusammenfassende Erkenntnis ab: „Viele Funktions-träger des ostdeutschen Sports haben vermutlich Erfahrungen ge-sammelt, die sie befähigten und befähigen, unter sich ändernden Rahmenbedingungen durch selbstorganisatorische Aktivität im In-teresse der organisiert Sporttreibenden tätig zu sein.“ (S. 291) Solch eine politisch und sportpolitisch unverstellte Sicht - bei Ein-schluß gewesener und jetzt vorhandener Probleme - auf den Landsport in dieser Region ist glaubhaft. Die in den folgenden Ab-schnitten vorgestellten Untersuchungsergebnisse werden bei kriti-schem Vergleich mit den DTSB-Strukturen, den Aussagen der ehemaligen SG-Vorsitzenden und den jetzigen SV-Verantwortlichen mit Augenmaß und vor allem unvoreingenommen ge- und bewertet.
Summa summarum ordnet sich dieser Forschungsbericht als Mo-nographie in jene Kategorie von Publikationen der Sportwissen-schaft ein, die mit wenigen Ausnahmen bei der Bewertung sozialer Sachverhalte den Delegitimierungsauftrag von über 40 Jahren der Existenz der DDR - bewußt oder unbewußt - befolgen. Sein Aus-sagegehalt hält sich - ob der angezeigten Mängel und Unterlas-sungen - in Grenzen. Das Kapitel 8 verdient größere Aufmerksam-keit. Einen Fortschrittsbericht zum Untersuchungsgegenstand unter den veränderten ökonomischen und sozial-strukturellen Bedingun-gen darf der an dieser Schrift Interessierte nicht erwarten.
Jürgen Baur/Sebastian Braun; Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Wis-senschaftliche Berichte und Materialien, Band 14. Sport und Buch Strauß, Köln 2000, 350 S.
Fred Gras
SportZeit
Man möchte mit der zur Redensart gewordenen Frage beginnen: Zuerst die gute oder die schlechte Nachricht?
Beginnen wir mit der guten: Es gibt in der Bundesrepublik Deutsch-land eine neue Zeitschrift, die sich sporthistorischen Themen wid-met und einen vielversprechenden Start absolvierte: SPORTZEIT.
Vorausgegangen war dieser guten Nachricht die Mitteilung, daß die Zeitschrift „Sozial- und Zeitgeschichte des Sports“ „mitten im 14. Jahrgang ihr Erscheinen eingestellt“ hatte. Hintergründe erfuhr man hinter vorgehaltener Hand überall in der Szene. Die Heraus-geber Peiffer und Spitzer hatten sich hoffnungslos entzweit. Diese Feststellung wirft keine Fragen auf, denn es gibt nur wenige Histo-riker, mit denen sich Spitzer - Spitzname: Amokschreiber - nicht überworfen hat. In seiner hemmungslosen Sucht, alles einzuebnen, was nur den entferntesten Verdacht erregen könnte, Sympathie zur DDR aufkommen zu lassen, soll er jüngst sogar den Bundestags-präsidenten behelligt haben. Nun muß Spitzer damit leben, daß er nicht mehr Mitherausgeber einer Zeitschrift ist, die sich unbestritte-ne Verdienste in der Sporthistorie erworben hatte. Thomas Alkemeyer, Wolfgang Buss, Sven Güldenpfennig und Lorenz Peif-fer geben die SPORTZEIT drei Mal jährlich heraus und die recht schnell nacheinander erschienenen ersten beiden Ausgaben ver-dienten sich hohe Noten.
Die erste Ausgabe zierte die George-Grosz-Zeichnung Max Schmelings und trug den Titel: „Biografie und Nationalsozialismus, Max Schmeling, Karl Ritter von Halt.“
Nun folgt die unvermeidliche „schlechte Nachricht“. Der gemeinhin mit seriösen Forschungen hervorgetretene Hans-Joachim Teichler versuchte mit einem nicht mal mehr auf Jahrmärkten gefragten Kartentrick, Schmelings Idolrolle zu benutzen, um sie antikommu-nistisch zu nutzen: „Bei den Umfragen zur Ermittlung der beliebtes-ten Sportler... Max Schmeling ... oder Gustav Adolf ‘Täve’ Schur fällt eine durchgehende Wertschätzung der frühen Helden auf... Neben vielen Erklärungsmöglichkeiten fällt auf, daß beide den Hö-hepunkt ihre“ (muß wohl heißen: ihrer. A.d.A.) Karriere unter den Bedingungen einer Diktatur erlebten.“ Damit sind die Karten aus-gespielt, die DDR und Nazi-Deutschland wieder mal auf das Po-dest der Diktaturen gehoben, „gleichberechtigt“ also Schmeling und Schur, Boxer und Rennfahrer, Propagandist des Faschismus und Antifaschist. Wie oberflächlich Teichler diese - für ihn offensichtlich - Pflichtübung erledigte, wurde durch Details offenbart. Da wird die traditionell von der „Jungen Welt“ veranstaltete Umfrage nach den populärsten DDR-Sportlern „Neues Deutschland“ zugeschrieben, vermutlich, weil das besser in die Diktaturlandschaft paßt. Und die Rolle Schurs wird mit einer gehässigen Fußnote kommentiert, in
der „kritische Anmerkungen vor allem zur Autorenschaft“ der jüngs-ten Schur-Biografie aus der FAZ gerühmt werden. Wer das Buch las, weiß, daß Schur es selbst schrieb und - nach eigenem Bekun-den - nur zuweilen Klaus Huhn konsultierte. Dessen Schur-Biografie erreichte in der DDR eine Auflage von 1,4 Millionen Exemplaren. Die unterschlägt Teichler und behauptet: „Wirkungs-mächtig war in der DDR die ... Biografie von Klimanschewsky.“
Nebensächlichkeiten beiseite. Noch einmal zur Teichler-Behauptung: Schmeling und Schur wurden in Diktaturen Weltmeis-ter. Daß die Schmeling-Ära-Diktatur Millionen Menschen das Le-ben kostete, erwähnt der Historiker Teichler nicht mal mit einer Fußnote. Und er ignoriert auch diesen Umstand erhärtende Fakten. Zum Beispiel die im November 1946 bekannt gewordenen Tatsa-che, daß Schmeling seine Dahlem-Villa Föhrenweg 16 an Keitel vermietet hatte. Nach dessen Hinrichtung auf Grund des Todesur-teils von Nürnberg soll Frau Schmeling-Ondra beim Zehlendorfer Sozialamt heftig protestiert haben, daß einiges Mobilar aus dem Haus in ein Kinderheim geschafft worden war. Die Beschwerde zei-tigte - so die Publikationen - unangenehme Folgen. Bei einer dadurch ausgelösten Untersuchung aller Möbel kamen Schmeling-Dokumente zum Vorschein, die seine Zugehörigkeit zur SS enthüll-ten, seine Freundschaft mit Naziminister Funk, Reichsleiter Bouh-ler. Es wurden Fotos gefunden, die Schmeling in engster Gesell-schaft mit einem Gouverneur der besetzten Ostgebiete zeigten.
Teichler verzichtete wohlweislich auch darauf, das Protokoll der Tagung des Sekretariats des Deutschen Sportausschusses vom 14.7.1949 einzusehen. Dort hätte er den Beschluß gefunden: „Schmeling wurde als Ringrichter in der sowjetischen Besatzungs-zone abgelehnt, weil er kein Beispiel für die Jugend gibt.“
Nun wieder gute Nachrichten: Im gleichen ersten Heft erschien ein Beitrag von Wolfgang Buss: „Die Ab- und Ausgrenzungspolitik der westdeutschen Sportführung gegenüber der DDR in den frühen fünfziger Jahren.“
Nicht minder verdienstvoll der Beitrag Hubert Dwertmanns „Biogra-fien und Nationalsozialismus“ über die Fortschreibung der Deu-tungskompetenz von NS-Sportfunktionären in sporthistorischen Ar-beiten.
Das zweite Heft wurde dem jüdischen Sport gewidmet und gibt auch Auskunft über den „Fall Bergmann“, jener jüdischen Hoch-
springerin, die 1936 von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wurde und eine kommentierte Bibliographie über den jüdischen Sport in Deutschland. Die möchte man eine Fleißarbeit nennen. Generell gilt: Denkmäler rufen visuell in Erinnerung, solche Litera-tur schafft Wissen. Neben guten und weniger guten Nachrichten gibt es noch eine eher ökonomische: Zu bestellen ist
SportZeit Werkstatt-Verlag, 37083 Göttingen.
Klaus Huhn
Die DDR bei Olympia 1956 - 1988
Wer heutzutage über das Verhältnis der DDR zu den Olympischen Spielen nachdenkt, muß sich mit einem Urteil auseinandersetzen, das nach dem Ende der DDR die Tatsachen dieses Verhältnisses als nebensächlich erscheinen läßt. Dieses Urteil lautet: Die Athle-tinnen und Athleten der DDR nahmen zwar neun Mal an Olympi-schen Sommerspielen und zehn Mal an Winterspielen teil und ge-wannen 1943 Medaillen, jedoch konnte dieser Erfolg nur durch Be-trug erreicht werden. Der DDR-Sport habe mit illegalen Mitteln, insbesondere durch Doping, den Leistungssport auf das Niveau hoher Leistungsfähigkeit gebracht. Seit der damalige Außenminis-ter Kinkel den politischen Anspruch der Bundesregierung in die Formel gebracht hatte, die DDR mit allen Mitteln zu delegitimieren, haben Wissenschaftler, Juristen, Politiker und nicht zu vergessen die Medien keine geringen Anstrengungen unternommen, um den Sport der DDR in Mißkredit zu bringen. Klaus Huhn hat in seinem Buch „Die DDR bei Olympia“ Namen und Zahlen der olympischen Erfolgsstatistik der DDR bei allen 19 Olympischen Spielen zusam-mengefaßt und veröffentlicht. In dieser Statistik fehlen auch jene Aktiven nicht, die ohne Medaillen blieben oder aus verschiedensten Gründen disqualifiziert worden sind. Er war bei 18 dieser Hochfeste des internationalen Sports als Journalist zugegen. Seine fast uni-versalen Kenntnisse sportpolitischer Hintergründe und Zusammen-hänge kommen in den knappen, aber aussagekräftigen Kommen-taren zum Ausdruck. Klaus Huhn weiß gewiß, daß die Frage, was die DDR war und was diese DDR und ihr Sport mit sich gebracht haben, von der nächsten Generation gestellt werden wird. Die
nächste Generation wird diese Fragen aus ihrer Sicht beantwortet wissen wollen. Sie wird fragen, ob jene, die dabei gewesen sind und Mitgestalter waren, unter dem Eindruck der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland nach dem An-schluß der DDR an die Bundesrepublik Deutschland zu neuen Ein-sichten, Erkenntnissen und Urteilen gekommen sind. Schon J.W. v. Goethe wußte, daß „die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umge-schrieben werden müsse, ...weil der Genosse einer fortschreiten-den Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Ver-gangene auf neue Weise überschauen und beurteilen läßt...“
Klaus Huhns Buch sollte man deshalb vor allem im Kontext mit seinem 1975 im Sportverlag erschienen Buch „Olympische Spiele - Die Spiele - Probleme und Tendenzen - Namen, Zahlen, Dokumen-tation“ lesen und beurteilen. Sein Buch aus dem Jahre 1975 enthält den Abschnitt „Der Olympismus und wir (S. 197 ff), in dem der Au-tor beschreibt, welche neuen geistigen (vor allem moralischen) und praktischen (vor allen gesellschaftlichen) Impulse und Leitorientie-rungen der Sport der sozialistischen Länder für die olympische Idee und die olympische Bewegung gebracht hat. Darüber muß nachgedacht, vorurteilsfrei wissenschaftlich geprüft und geurteilt werden. An einem ehrlichen, differenzierenden Urteil über das Ver-hältnis der DDR zum modernen Olympismus und zur Realität der Vielfalt des Sports in der DDR ist die offizielle Politik in Deutschland kaum interessiert. Klaus Huhn verweist auf Zusammenhänge, etwa darauf, daß Tausende Athletinnen und Athleten nicht nur sportlich Beachtenswertes erreicht hatten, sondern „durch ein damals oft be-stauntes und heute fast vergessenes Bildungssystem zu soliden be-ruflichen Existenzen gelangten“.
Das „Autoritätsurteil“ der offiziellen bundesdeutschen Politiker und Juristen sowie einiger akademischer Wissenschaftler hat heute zweifellos beträchtliche öffentliche Wirkung erzielt. Man kann se-hen und hören, daß diese Urteile auf Veränderungen im Lebensstil bestimmten Einstellungen, Gefühlen, Neigungen, Vorstellungen, Stereotypen oder Images der die Menschen umgebenden Wirklich-keit treffen. Man mache die Probe aufs Exempel und frage eine zu-fällig ausgewählte Sportmannschaft aus den neuen Bundeslän-dern, was sie gedanklich mit dem Satz anfangen können: Regel-mäßiges Sporttreiben ist ein Mittel zur Entwicklung allseitig gebilde-ter Persönlichkeiten. Dies, wenn auch unübersehbar im
DDR-Parteideutsch formuliert, war bekanntlich ein wesentliches Credo des DDR-Sports. Auch Klaus Huhn kennt den Widerspruch zwischen diesem sozialpädagogischen Anspruch zur Weiterent-wicklung des olympischen Anliegens in der DDR und der Wirklich-keit. Man mag darüber streiten, ob dieser Widerspruch groß oder klein, unter den gegebenen Bedingungen der DDR gar unlösbar war. Die Leistungssportler der DDR, die Klaus Huhn würdigt, er-hielten trotz Diffamierungen des DDR-Sports im vereinigten Deutschland ihre sportliche Chance, sofern sie noch leistungsfähig und leistungsbereit waren. Der eigentliche Anspruch des Sports in der DDR, Sport für alle zu sein, eines Sports, der sich auch in ei-nem gut entwickelten Schul- und Hochschulsport, im Fördersystem des Kinder- und Jugendsports äußerte, dieser Anspruch und seine Ergebnisse erhielt nur geringe Möglichkeiten zur sachlichen Beur-teilung. Wer Klaus Huhns Buch liest, erhält auch Anregungen, sich Gedanken zur Vielfalt des im Alltag der DDR erreichten Niveaus des Sports zu machen. Ich wünsche, daß diese Publikation für kommende Generationen mehr als ein statistisches Nachschlage-werk sein wird. Es zwingt eigentlich regelrecht dazu, sich gründlich mit der Frage zu beschäftigen, was der Sport in der DDR wirklich gewesen ist.
Klaus Ullrich Huhn, Die DDR bei Olympia, SPOTLESS, Berlin 2001, 272 S.,
Werner Riebel
REPORT
Leipziger Turnfeste - Tradition und nahe Zukunft
Von ULRICH PFEIFFER
Die Arbeitsgruppe Leipziger Sportwissenschaftler im Verein „Sport und Gesellschaft“ hat es in den vergangenen Jahren auch als ihre Aufgabe angesehen, das Bedingungsgefüge zu charakterisieren, das den weltweiten Ruf Leipzigs als Sportstadt ermöglichte. Der ehemalige Rektor der DHfK und spätere Pädagogikprofessor am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport Heinz SCHWIDTMANN, im Juli dieses Jahres viel zu früh verstorben, hatte in dieser Ar-beitsgruppe mühevoll und beharrlich in Richtung Ost und auch West eine kritische, aber differenzierte Sicht auf die Entwicklung des Sports und speziell der Sportwissenschaft in der DDR ange-mahnt und - wenn auch nur teilweise - erreicht. Als ehemaliger Schulpraktiker im Raum Leipzig und als langjähriger oberster Sportfunktionär im Deutschen Boxverband der DDR kannte er wie seine Kollegen in diesem Arbeitskreis von der Basis her den mü-hevollen, schweren und von Irrtümern nicht freien Weg des Auf-baus der Sportstadt Leipzig aus dem Nichts nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Weltgeltung drei Jahrzehnte danach. Er wußte sehr genau, daß dieses Konzept nur durch die selbstlose beharrli-che Aufbauarbeit Tausender über Jahrzehnte in Schulen, Sport-gemeinschaften, Sportklubs, Sportverbänden und Sportorganisati-onen, Wissenschaftseinrichtungen, in kommunalen, staatlichen und politischen Institutionen Praxis werden konnte. Und es schmerzte ihn sehr, wie er nach 1989 und 1990 in einer Art „Bilderstürmerei“ die einstige Sportstadt Leipzig in die Bedeutungslosigkeit versinken sah.
Die demokratische Pflicht zur Einmischung spürend und zur kon-struktiven Mitarbeit bei der späten Wiederbesinnung Leipzigs als
Sportstadt generell bereit, machte die Arbeitsgruppe Leipziger Sportwissenschaftler erstmalig im Herbst 2000 mit einer größeren öffentlichen Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Gründung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig (22. Ok-tober 1950) auf sich aufmerksam. Diese weltbekannte Hochschule war bekanntlich 1991 vom Freistaat Sachsen unter fadenscheini-gen Gründen „abgewickelt“ worden. Trotz vieler Stolpersteine und teilweise kontroverser Bewertungen der jüngeren deutschen Ge-schichte blieb der Wunsch der Teilnehmer dominant, weitere Ver-anstaltungen dieser Art erleben zu wollen. Ende April 2001, ein Jahr vor dem nächsten Deutschen Turnfest in Leipzig (18. - 25. Mai 2002), initiierte Heinz SCHWIDTMANN mit der Arbeitsgruppe in enger Zusammenarbeit mit dem Organisationskomitee Deutsches Turn-fest Leipzig 2002 im Hörsaal Nord der Fakultät Sportwissenschaft der Universität Leipzig (vormals DHfK) eine gelungene Informati-onsveranstaltung „Turnfeste in Leipzig“, bei der auch das Mitglied des DTB-Organisationskomitees, Pferdsprung-Olympiasieger Klaus KÖSTE, sowie der Präsident und der Schatzmeister des Ver-eins „Sport und Gesellschaft“, Prof. Dr. Helmut WESTPHAL und Klaus EICHLER, als Gäste begrüßt wurden. Im Auditorium des Hör-saals trafen sich, inzwischen z.T. hochbetagt, viele ehemalige Teil-nehmer an den Deutschen Turn- und Sportfesten in Leipzig - Mit-wirkende, Übungsleiter, Gestalter und Organisatoren der publi-kumswirksamen Sportschauübungen und der vielen Massensport-veranstaltungen.
Prof. Dr. Volker MATTAUSCH, seit September einer der beiden Ge-schäftsführer des Organisationskomitees des Deutschen Turnfes-tes 2002, der als Sportmanager bereits bei der Wiederbelebung und Entwicklung der Friedensfahrt der Radsportler durch Polen, Tschechien und Deutschland mitgewirkt hat, gewährte sowohl ei-nen Einblick in die lange und wechselvolle Geschichte der bisher zehn Turnfeste bzw. Turn- und Sportfeste in Leipzig seit 1863 als auch in das umfangreiche Programm des bevorstehenden Turnfes-tes und ermöglichte per Film und Video, sich nochmals an Sport-schauübungen zu erfreuen. Es wurde auch filmisch deutlich, daß die Turn- und Sportfeste in Leipzig immer ein Großereignis waren, an dem die ganze Stadt samt Umfeld teilnahm und auch aktiv be-teiligt war. Diese Erfahrungen versuchen die Organisatoren nun-mehr in die Gegenwart zu transportieren, denn das Münchener
Turnfest von 1999 berührte die Bevölkerung der Gastgeberstadt aktiv nur ganz am Rande. Ob sich, wie geplant, die „Turnfestmeile“ 2002 in Leipzig wiederbeleben läßt, muß sich zeigen. Der Versuch, ist es auf jeden Fall wert, ihn allseitig zu unterstützen.
Zum Gesamtprogramm des Turnfestes im nächsten Jahr gehört, wie zu erfahren war, auch ein sehr umfangreicher Bildungskongreß des Deutschen Turnerbundes (DTB) für die Praxis unter dem Titel „Turnfest-Akademie 2002“. Dabei werden nationale und internatio-nale Anbieter sowie renommierte Experten aus Wissenschaft und Praxis neueste Erkenntnisse zu Gesundheit, Fitness und Aerobic, Kinderturnen, Dance, Didaktik und Management vermitteln und Trends verdeutlichen. Zum Kreis der Wissenschaftler gehören auch die Leipziger Professoren Siegfried ISRAEL (Sportmedizin) und Jürgen KRUG (Sportmethodik).
Das Deutsche Turnfest 2002 in Leipzig soll und kann auch einen Beitrag zum Zusammenwachsen von Ost und West leisten. Wenn man in Rechnung stellt, daß etwa 50 % der in den alten Bundes-ländern lebenden Bevölkerung noch nie in den neuen Bundeslän-dern war, so werden viele Turnfestteilnehmer aus dem Westen Deutschlands erstmalig mit dem Osten bekannt werden. Der Appell von Klaus KÖSTE in der Diskussion an alle an der Vorbereitung des Turnfestes Beteiligten, die Kräfte zu bündeln, um allen Programm-teilen, auch den Sportarten, die im Osten fast gar nicht mehr be-kannt sind, zum Erfolg zu verhelfen, ist deshalb nur all zu verständ-lich. Der Sportpsychologe Prof. Paul KUNATH warnte aus seinen persönlichen Erfahrungen im Bereich der Sportwissenschaft vor Il-lusionen beim Tempo des Zusammengehens und Zusammen-wachsens von West und Ost. Gemeinsame Standpunkte zu be-stimmten Aufgaben zu finden, setze primär den Willen dazu vo-raus. Diesen habe er nur selten spüren können. Der Sporthistoriker Prof. Günter WONNEBERGER nahm diesen Gedanken auf und be-merkte, der Sache dienende Verständigung zwischen West und Ost setze die Anerkennung von Fakten voraus. Wenn das bevor-stehende Turnfest 2002 in Leipzig als das 31. Deutsche Turnfest benannt wird, dann ignoriert diese Zählweise, daß zwischen 1954 und 1987 in Leipzig acht große Deutsche Turn- und Sportfeste un-ter maßgeblicher Beteiligung der ganzen Stadt und des ganzen Landes stattgefunden haben. Eine solche Ignoranz stehe einer notwendigen Verständigung im Wege. Der teilweise Verzicht auf
jedwede Zählweise im Programm und in anderen Prospekten des DTB ist ein gangbarer Kompromiß, wenngleich die Hintertür noch immer offen gelassen wurde.
JAHRESTAGE
75 Jahre Institut für Sportwissenschaft an der
Humboldt-Universität
Von SIEGHARD BELOW
In diesen Tagen begeht das Institut für Sportwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin sein 75–jähriges Jubiläum. Dies ist Anlaß, sich nachfolgend der sehr wechselvollen Geschichte dieser Einrichtung zu erinnern. Sie dokumentiert über die Weimarer Re-publik, den Nationalsozialismus, die DDR und das wiedervereinigte Deutschland die gesellschaftspolitischen Brüche aber auch Konti-nuitäten des vergangenen Jahrhunderts, die die deutsche Ge-schichte und damit auch die des Sportinstituts der Berliner Univer-sität maßgeblich beeinflußten.
Die Gründung eines Instituts für Leibesübungen an der damaligen Friedrich–Wilhelms Universität fällt Mitte der 20er Jahre in die Zeit der Weimarer Republik. Dort hatten sich im Ergebnis der gesell-schaftspolitischen Veränderungen nach dem I. Weltkrieg die Rah-menbedingungen für den Sport insgesamt deutlich verbessert und zunehmend die Sportwissenschaft herausbildet und institutionali-siert. So war bereits 1920 in Berlin mit der Deutschen Hochschule für Leibesübungen (DHfL) eine solche allerdings nichtstaatliche sportwissenschaftliche Institution entstanden. Sie wurde nicht nur in der Aula der Berliner Universität gegründet, sondern stand auch unter dem Rektorat des angesehenen Mediziners und Univ.-Prof. August Bier in enger personeller Verflechtung zur Universität.
Infolge der Auswirkungen der Versailler Vertrages wuchs Anfang der 20er Jahre vor allem auch durch studentische Vertreter die Forderung, Körperübungen an den Universitäten aufzuwerten und als Verpflichtung für Studierende zu erheben. Diesen Forderungen
kam die Preußische Regierung mit ihrer Verordnung vom 25.03.1925 nach und machte „für die Philologen die Teilnahme an den Leibesübungen obligatorisch“.1) Um dazu notwendige infra-strukturelle Voraussetzungen zu schaffen, wurde per weiterem Er-laß vom 30.09.1925 die Errichtung von Instituten für Leibesübun-gen (IfL) bestimmt.2) Daraufhin erfolgte dann am 17.10.1925 an der Berliner Universität durch den Rektor die Neugründung eines sol-chen Instituts und die Ernennung des akademischen Turn- und Sportlehrers Dr. Albert Hirn zu dessem ersten Leiter. Vorrangige Aufgaben für das Institut waren zunächst die Sicherung eines An-gebots für pflichtmäßig sporttreibende Studenten, die sportwissen-schaftliche Forschung und partiell - in Arbeitsgemeinschaft mit der DHfL und der Preußischen Hochschule für Leibesübungen (PHfL) - die Ausbildung von Turnlehrern. Im Zuge weiterer Reformen zur Neuordnung der Turn- und Sportlehrerausbildung wurde diese dann ab 1929 stärker in die Verantwortung der Universität gelegt und die bisherige Arbeitsgemeinschaft zwischen den drei Ausbil-dungsinstitutionen neu definiert. Die Auseinandersetzungen um Kompetenzen und Zuständigkeiten führten auch zu engeren per-sonellen Verflechtungen der Lehrkräfte der jeweiligen Einrichtun-gen. So erhielt 1930 der bisherige Prorektor der DHfL, Carl Diem, einen Lehrauftrag an der Universität. Er und Edmund Neuendorff (PHfL) versuchten, ihren persönlichen Einfluß und den ihrer Institu-tionen auf die Turn- und Sportlehrerausbildung auch gegen den teilweise heftigen Widerstand der Studentenschaft zu sichern. Im Ergebnis dieser Bemühungen wurde im Juni 1932 die Kompetenz des bisherigen Instituts für Leibesübungen der Universität und sei-nes Leiters, Hirn, zurückgedrängt und die Gründung eines neuen Instituts für das Studium der Leibesübungen und der Körperlichen Erziehung unter der Leitung Diems und Neuendorffs erlassen.3)
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten begann ein neuer Zeitabschnitt in der Geschichte des IfS, welches eingebunden in die Universität zunehmend in die gesellschafts- und hochschulpoli-tischen Konzeptionen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem integriert wurde. Bereits im April 1933 wurde das nur wenige Mona-te existierende, durch Diem und Neuendorff geleitete Institut aufge-löst und die Weiterführung seiner Aufgaben dem alten IfL überge-ben. Diem verlor in der Auseinandersetzung mit Neuendorff und Hirn seinen Lehrauftrag an der Universität. Neben einer Neuord-
nung der Sportlehrerausbildung wurde als ein erster Schritt beim Aufbau eines nationalsozialistischen Hochschulsports eine Sport-pflicht für alle Studierenden eingeführt und der Hochschulsport zu-nehmend an den ideologischen, erzieherischen und wehrpoliti-schen Zielen des NS-Systems ausgerichtet. Neuer Leiter des IfL wurde überraschend nicht Neuendorff, sondern der Vorsitzende des „Beirates für das Studium der Leibesübungen“ Prof. Dr. Fi-scher.4) Dies war allerdings nur eine Übergangslösung. Im Zuge in-terner konzeptioneller und personeller Auseinandersetzungen for-cierte der Ministerialdirektor des Amtes K im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Dr. Carl Krümmel, die Gründung eines „Hochschulinstituts für Leibesübungen“ (HIfL) an der Universität für alle Berliner Hochschulen und übernahm als neuer Univ.-Prof. dessen Leitung. In den nachfolgenden Jahren baute er in Personalunion (Ministerialdirektor, Leiter der HIfL und ab 1936 der Reichsakademie für Leibesübungen) seinen Einfluß im Hochschulsport uneingeschränkt aus und erweiterte das neu ge-ordnete HIfL strukturell und personell. So wurde u.a. 1935 die bis-herige „Stammschule für Geländesport“ in Neustrelitz als „Führer-schule des Berliner Hochschulinstituts für Leibesübungen“ an das HIfL angegliedert und diese darüber hinaus um eine Segelflug-schule und einen Reitstall erweitert.5) Inhaltlich war das HIfL unter Krümmel und zumeist von ihm systemselektierten Lehrkräften in das nationalsozialistische System verstrickt. Die akademische Ju-gend wurde sowohl im Studentensport als auch in der Sportlehrer-ausbildung auf die gesellschaftspolitischen Anforderungen des Nati-onalsozialismus vorbereitet. Die Folgen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems und des Zweiten Weltkrieges waren auch für das Institut für Leibesübungen der Berliner Universität verheerend. Staatliche und kommunale Strukturen waren zusammengebrochen, die Universität geschlossen, Sportstätten und Ausbildungsgebäude weitgehend zerstört. Da trat unmittelbar nach Kriegsende Carl Di-em wieder auf den Plan. Er war eine der kompetentesten aber auch ambivalentesten Persönlichkeiten des deutschen Sports. Sei-ne Person hat in der Geschichtsschreibung in Ost und West vor 1990 eine sehr differenzierte Bewertung erfahren und ist gerade in jüngster Zeit Gegenstand heftiger Kontroversen, obwohl seine Ver-strickung in die verschiedensten Bereiche des NS-Sports so neu nicht sind.6) Zweifelsohne hat Diem sich, getrieben auch von exis-
tenziellen Sorgen, für die Wiederaufnahme der universitären Sport-lehrerausbildung und den Fortbestand eines entsprechenden Insti-tuts an der Berliner Universität bleibende Verdienste erworben. Wenige Wochen nach der Kapitulation Deutschlands, am 23.07.1945, begann er auf dem Gelände des Reichssportfeldes mit 15 ehemaligen Studentinnen die unterbrochene Ausbildung in ei-nem „Vorkurs zur Ausbildung als Turn- und Sportlehrerin“7) fortzu-setzen und trieb die Aufnahme des ordentlichen Lehrbetriebs en-gagiert voran. So erhielt das Institut für Leibesübungen und Schulhygiene am 15.11.1946 seine Wiederzulassung und konnte unter dem Direktorat von Dr. C. Diem dann mit 12 Studenten den offiziellen Lehrbetrieb aufnehmen. Bereits am 28.11.1946 erfolgte dann die Umbenennung in Institut für Körpererziehung und Schulhygiene und die Einordnung in die Pädagogische Fakultät. Diem, der die gesellschaftspolitische Entwicklung in Berlin klar er-kannte, verließ im Frühjahr 1947 das von ihm geleitete Berliner Institut und wurde Gründer der Deutschen Sporthochschule in Köln.8) Nachfolger von Diem als Leiter des Instituts in Berlin wurde der Oberturnrat Marx Preuss.
Mit der Gründung der DDR begann ein neuer Entwicklungsab-schnitt des Instituts, der wiederum in sehr starkem Maße durch die gesellschafts- und hochschulpolitische Rahmenbedingungen be-stimmt und beeinflußt wurde. Im Oktober 1950 wurde mit Wolfgang Eichel ein neuer Institutsdirektor berufen. Eichel promovierte im Jahre 1954 als erster Angehöriger des Instituts zum Dr. paed. mit einer Arbeit über die Entstehung des modernen Olympismus. Nach seiner Berufung an die DHfK Leipzig wurde 1958 Dr. paed. Alfred Hunold neuer Direktor des Instituts. Im Zuge der 3. Hochschulre-form 1968 erfolgte an der Humboldt-Universität die Gründung einer Sektion Sportwissenschaft, die sich in die Bereiche Studentensport und Sportlehrerausbildung untergliederte. Entsprechend den ver-änderten sportpolitischen Zielsetzungen in der DDR erhielt die sportwissenschaftliche Forschung in den nachfolgenden Jahren ei-ne deutliche Aufwertung. Neben der Schulsportforschung erfuhr vor allen Dingen nach dem Leistungssportbeschluß von 1969 die Ruderforschung mit weltweit beachteten Ergebnissen einen domi-nierenden Stellenwert. Nach über 20jähriger Amtszeit wurde Prof. Dr. paed. habil. Alfred Hunold 1980 von Prof. Dr. sc. paed. Margot Budzisch als Sektionsdirektor abgelöst.
Mit der politischen Wende in der DDR wurde nach 1990 ein weite-rer Entwicklungsabschnitt eingeleitet Unter den hochschulpoliti-schen Rahmenbedingungen im vereinten Deutschland und im Land Berlin boten sich neue Chancen aber auch veränderte Zwänge für das Institut für Sportwissenschaft. Evaluierungen, schmerzhafte Personalreduzierung, neue Strukturen und Lehrstuhlinhaber, exis-tenzielle Sorgen im Zuge des Abbaus von Mehrfachangeboten an Berliner Universitäten, neue Ausbildungskonzepte und –inhalte, aber auch deutlich gestiegene Studentenzahlen, Freiheit in Lehre und Forschung sowie demokratische Formen der Selbstverwaltung bestimmten die Entwicklung in den 90er Jahren. Der Bereich des Hochschulsports wurde als selbständige Einheit der Universität ausgegliedert.
Seit 1993 hat das Institut für Sportwissenschaft seinen Sitz im Sportforum Hohenschönhausen und hat damit zumindest für den sportpraktischen Bereich deutlich verbesserte Bedingungen. Die Leitung des Instituts lag demokratisch legitimiert wechselnd in den Händen der berufenen Lehrstuhlinhaber und Professoren Franke, Tidow und Wolff. Am Institut studieren derzeit etwa 1000 Studenten in den verschiedensten Lehramtstudiengängen und im Diplomstu-diengang, der mit den Profilrichtungen Leistungssport und Rehabili-tation/Prävention neu eingerichtet worden ist.
Mit der Schließung der sportwissenschaftlichen Studiengänge an der Freien Universität ergeben sich wachsende Herausforderungen für das IfS der Humboldt-Universität zu Berlin den komplexen An-sprüchen der Sportwissenschaft im neuen Jahrhundert gerecht zu werden.
ANMERKUNGEN
1) Buss, W.: Die Entwicklung des deutschen Hochschulsports von Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des NS-Staates-Umbruch und Neuanfang oder Kontinuität, Diss. Georg-August-Universität, Göttingen 1975, S. 67
2) Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin (UH der HUB) Bestand: Philosophische Fa-kultät (v. 1945). Leibesübungen, Nr. 166, Blatt 2
3) Vgl. UA der HUB Bestand: Philosophische Fakultät (v. 1945). Leibesübungen, Nr. 166, Blatt 128 ff
4) Vgl. UA der HUB Bestand: Philosophische Fakultät (v. 1945). Leibesübungen. Nr. 166, Blatt 152
5) Vgl. Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1933-37, S. 218 ff
6) Vgl. Laude, A.; Bausch, W.: Der Sport-Führer - Die Legende um Carl Diem, Göttingen 2000
7) Vgl. Bescheinigung über die Teilnahme am Vorkurs zur Ausbildung als Turn- Sportleh-rerin am Hochschulinstitut für Leibesübungen der Universität Berlin vom 15.8.46, IfS der Humboldt Universität Berlin
8) Vgl. Diem, C.: Ein Leben für den Sport. Carl-Diem Institut an der Deutschen Sport-hochschule Köln
Vor 50 Jahren - Gründung der
ABF an der DHfK
Von HORST HECKER
Im September 1951 wurde aus den Vorsemestern - einige Monate umfassende Kurse zur Vorbereitung auf ein Studium - die Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) der Deutschen Hochschule für Körper-kultur (DHfK) in Leipzig gebildet. Das erscheint mir ein gewichtiger Anlaß, die Arbeit dieser Institution zu würdigen.
Die ersten Arbeiter- und Bauern-Fakultäten (ABF) waren bereits zwei Jahre vorher - also 1949 - in der DDR gegründet worden. Durch diese Vorsemester beziehungsweise Vorstudienanstalten, aus denen die Arbeiter- und Bauernfakultäten hervorgingen, war es nunmehr auch den Unbemittelten, den Kindern von Arbeitern, Bau-ern und kleinen Angestellten, möglich, sich die bildungsmäßigen Voraussetzungen für ein Studium an Hochschulen und Universitä-ten anzueignen. Bis zu diesem Zeitpunkt studierten fast aus-schließlich diejenigen, deren Eltern das nötige Geld dafür hatten. Begabte Jugendliche gab es zwar in allen Schichten der Bevölke-rung, deren hauptsächlichen Anteil die Arbeiter, Bauern und klei-nen Angestellten bildeten, von der höheren Bildung aber waren sie ausgeschlossen. Deshalb wurden unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetisch besetzten Zone Vorsemes-ter und später die Vorstudienanstalten eingerichtet, um das Recht auf Bildung für alle durchzusetzen. Nicht alle sahen das und damit die Brechung des Bildungsprivilegs der Besitzenden als gerecht oder gar als Fortschritt an; die Bildungsfähigkeit der Angehörigen aus den „unteren Schichten“ wurde sogar bezweifelt. So läßt der Schriftsteller Erich LOEST seinen Romanhelden in „Es geht seinen Gang“ (S. 164) über diese Zeit und die Arbeiter- und Bauern-
Fakultät sagen, daß „aus jeder Ecke jedes bißchen Intelligenz her-ausgekratzt wurde“. Trotzdem, die Gründung von Institutionen, wie der Vorstudienanstalten und Arbeiter- und Bauern-Fakultäten, und die Schaffung von finanziellen Regelungen, die es Begabten ermög-lichten, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern Wissen zu erwerben und die Fähigkeiten so zu entwickeln, daß eine akademische Aus-bildung möglich wurde, gehört zu den anerkennungswürdigen und anerkennungspflichtigen Leistungen der DDR.
Noch vor der offiziellen Gründung der Deutschen Hochschule für Körperkultur am 22. Oktober 1950 in Leipzig erwarben seit Mai je-nen Jahres junge Menschen in einem Vorsemester die bildungs-mäßigen Voraussetzungen, um ein Studium an der DHfK erfolg-reich absolvieren zu können. Das dürfte im Hochschulwesen zu-mindest selten, wenn nicht einmalig gewesen sein. Von den 96 Studentinnen und Studenten die 1950 als erste immatrikuliert wur-den, hatten 69 die Hochschulreife im Vorsemester erworben und 27 ein Abitur abgelegt. Mit der Gründung der Arbeiter- und Bauern-Fakultät der DHfK wurden die relativ kurzen Vorsemester verlän-gert und schließlich durch das reguläre dreijährige ABF-Studium ersetzt. Das vermittelte Wissen und Können wurde dadurch solider, breiter und praxisorientierter. An der ABF der DHfK erwarben fast 2000 junge Menschen die Hochschulreife oder legten das Abitur ab und nahmen danach ein Studium auf, was ihnen ansonsten ver-wehrt geblieben wäre. Die meisten studierten an der DHfK und ha-ben dann in den verschiedenen Bereichen dem Sport der DDR mit zu seiner Weltgeltung verholfen: In den Sportgemeinschaften, den Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) und Sportclubs, in den all-gemeinbildenden Schulen, den Berufs- und Hochschulen und in den bewaffneten Organen. Bekannte Sportwissenschaftler und Trainer von Olympiasiegern und Weltmeistern sind solch einen Entwicklungsweg gegangen: In der Leichtathletik Prof. Dr. Karl-Heinz Bauersfeld und Erich Drechsler, im Schwimmen Prof. Dr. Helga Pfeifer, im Rudern Prof. Dr. Theodor Körner und Dr. Hans Eckstein, im Kanusport Prof. Dr. Jochen Lenz, im Volleyball Her-bert Jenter oder im Nordischen Skisport Dr. Gotthard Trommler, um nur einige zu nennen. Manche Absolventen der ABF an der DHfK studierten aus unterschiedlichen - meist gesundheitlichen aber auch anderen - Gründen in verschiedensten Wissenschafts-disziplinen und gingen dort ihren Weg, zum Beispiel der Jurist Prof.
Dr. Fritz Mauer oder die Mediziner Dr. Arndt und Dr. Bönsch. Für alle gilt: Der Weg zu ihrem Beruf, zu einem erfüllten Leben wurde ihnen erst durch den Besuch der Vorsemester oder der ABF er-möglicht. In Gesprächen wird von ihnen gerade diese Zeit des Ler-nens immer wieder dankbar als besonders großer Schritt, sogar „Sprung“ in ihrer Entwicklung empfunden: oft von dem in einer we-nig gegliederten Dorfschule angeeigneten geringen Wissen zur Hochschulreife beziehungsweise zum Abitur. Mit dem weiteren Aus- und Aufbau des Bildungswesens in der DDR wurden die Ar-beiter- und Bauern-Fakultäten nicht mehr benötigt. Die ABF der DHfK wurde offiziell am 26. Juli 1963 aufgelöst. Aber selbst nach diesem Zeitpunkt wurden bestimmte Funktionen der ABF noch wei-ter realisiert, weil es selbstverständlich war, gleichzeitig mit der sportlichen Leistungsentwicklung für eine berufliche Perspektive zu sorgen und die Athletinnen und Athleten auf ihren späteren Beruf vorzubereiten. So mancher war an einem Studium interessiert, hat-te aber - aus den verschiedensten Gründen - noch nicht das Abitur. Und so führten die ehemaligen Lehrkräfte der ABF Kurt Georgi, Gerhard Martin und Eberhard Naumann nicht wenige Leistungs-sportlerinnen und Leistungssportler zur Hochschulreife, darunter solche hervorragenden Athletinnen und Athleten, wie Gabriele Sei-fert (Eiskunstlauf), Klaus Ampler (Radsport) oder Helmut Reckna-gel (Skispringen), der später ein Studium der Veterinärmedizin ab-solvierte.
Blicke ich mit dem zeitlichen Abstand von mehreren Jahrzehnten und unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zurück, gilt - trotz der durch die damalige Zeit bedingten ideologischen Kopflas-tigkeit und so mancher linker Abweichungen - auch für die Vorse-mester und die Arbeiter- und Bauern-Fakultät der DHfK, was einer der bedeutendsten deutschen Literaturwissenschaftler, Prof. Dr. Hans MAYER, Ehrenbürger der Stadt Leipzig, in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung am 3. Mai 1991 feststellte: „Was wir damals anstrebten, war eine Umstrukturierung des Bildungswe-sens. Die Leute aus dem Volk, die aus Geldgründen nie die Mög-lichkeit hatten, eine höhere Schule zu besuchen, nicht im Kaiser-reich, nicht in der Weimarer Republik, schon gar nicht im Dritten Reich von Führer und Gefolgschaft, sollten jetzt als Kräfte der Er-neuerung an die Schulen und Hochschulen kommen. Ich meine, diese Umstrukturierung des Bildungswesens allein bedeutet, daß
die DDR einen großen Beitrag zur Humanisierung Deutschlands in unserem Jahrhundert geleistet hat.“
GEDENKEN
Ernst Mohns
(10. Oktober 1922 - 31. Januar 2001)
In seiner Jugend war er ein begeisterter Fußballspieler, später lei-denschaftlicher Jugendtrainer. Ein Autounfall zwang ihn 1957 an den Gehstock. Altentreptow war seine Heimat, und es gab kaum jeman-den in der einstigen Kreisstadt im Norden Neubrandenburgs, der „Molly“ nicht kannte - und schätzte. Der geborene Lehrer erwies sich auch als idealer Kreisturnrat. Daß er mit den Sportwissenschaftlern der Universität in Greifswald in engem Kontakt stand, war ein Kapitel DDR-„Realismus“: Die Professoren waren an seinen praktischen Er-fahrungen interessiert, der Mann von der Basis nutzte das Wissen der Professoren. Da ihn alles bewegte, was helfen konnte, die Ju-gend für sportliches Tun zu gewinnen, begeisterte er sich auch für die Idee der „Kleinen Friedensfahrt“. Es war nur eine seiner vielen Initiativen, aber wohl die, die er mit besonderem Engagement be-trieb. Erkundigt euch in Altentreptow und forscht nach jemanden, der nie eine Kleine Friedensfahrt bestritt! Es würde eine mühsame Su-che. Gewachsen war die Idee in der Börde, als Otto Nitze, in jungen Jahren als „Wasserholer“ bei den Profis für andere radelnd, den Ge-danken mit Elan aufgriff. Als die Friedensfahrtleitung - aus heutiger Sicht angeblich ständig nur sinnend, wie man das Rennen noch mehr „politisieren“ könne - vorschlug, die oft schon Stunden vor der Ankunft des Feldes der großen Friedensfahrt umlagerten und vor al-lem auch abgesperrten Straßen zu nutzen, um zum einen dem Pub-likum Sport und nicht nur Streckenmeldungen und zum anderen Kindern und Jugendlichen eine imponierende Zuschauerkulisse zu bieten, entstand die „Kleine Friedensfahrt“. Otto Nitze packte einen
Koffer mit den nötigen Utensilien, zu denen eine große, lärmende Glocke gehörte, mit der er die letzte Runde oder den letzten Kilome-ter anzukündigen pflegte, und arrangierte die Ausscheidungen in den Schulen. Die Begeisterung für das Rennen übertrug sich in sportliche Betätigung. Ernst Mohns perfektionierte die Initiative, ob-wohl die Friedensfahrt nur selten nach Altentreptow kam. Er begann den Tag mit dem Rollerrennen der Kindergärten, und wenn dann die Älteren ihre Rennen bestritten, war sogar die Straße als Rennstre-cke gesperrt und nur die Linienbusse durften passieren. Für die Sie-gerehrung holte er Friedensfahrer, Trainer, Betreuer. Selbst der Dä-ne Wedel Östergaard erlebte einmal staunend diesen Tag in Alten-treptow. Den Siegern gab er nicht nur Medaillen, sondern auch Kar-ten für die Zieltribüne in Berlin. Mit 47 Jahren schrieb er seine Dip-lomarbeit über die Entwicklung des Schulsports in Altentreptow. Auch daß sein Stammplatz im Rostocker Stadion, den ihm Hansa reserviert hatte, nun leer bleibt, bedauern viele.
Klaus Huhn
Heinz Schwidtmann
(15. Oktober 1926 - 16. Juli 2001)
Auf dem Friedhof in Markkleeberg wurde am 3. August 2001 Prof. Dr. Heinz Schwidtmann von vielen, vielen seiner Freunde und Mit-streiter auf seinem letzten Weg begleitet. Menschen unterschied-lichster weltanschaulicher Auffassungen und politischer Anschau-ungen, aus verschiedenen Parteien, sowohl aus seinem unmittel-baren Wohn- und Wirkungsumfeld - Markkleeberg und Leipzig - wie auch von weit her angereist, trafen sich, um einen Lehrer, Hochschullehrer und Wissenschaftler zu würdigen, der sich, seinen weltanschaulichen Auffassungen und Idealen unter den unter-schiedlichsten Bedingungen stets treu geblieben ist und ganz im Sinne dieser Auffassungen und Ideale bis zuletzt unermüdlich ge-wirkt hat. Trotz erheblicher gesundheitlicher Beschwerden hat er die Arbeit in seiner PDS-Basis in Markkleeberg, in der AG Sportpo-litik oder im Ältestenrat beim Bundesvorstand seiner Partei voran-getrieben und sich in der Gruppe Leipziger Sportwissenschaftler im Verein Sport und Gesellschaft engagiert. Mit großer Selbstdisziplin gegen die zunehmenden gesundheitlichen Einschränkungen an-kämpfend und trotz der unglaublichen Schmerzen wirkte er in
Gremien des Kreises Leipziger Land oder in Markkleeberg, agierte er in öffentlichen Veranstaltungen und nahm sich noch Zeit für sei-nen Boxverein „Atlas“. Da nimmt es nicht Wunder, daß ihn Men-schen unterschiedlicher Anschauungen, verschiedenster Berufe und Generationen, Jüngere und Ältere, Frauen und Männer Ach-tung und langjährige freundschaftliche Verbundenheit erwiesen.
Sein Leben widerspiegelt viele der Kämpfe und Hoffnungen von Menschen, die den Faschismus in Deutschland, den Zweiten Welt-krieg und die Weltkriegsfolgen selbst miterlebt hatten. In Berlin-Oberschöneweide aufgewachsen, wurde er im Alter von 17 Jahren zunächst zum Reichsarbeitsdienst und dann zur Kriegsmarine der faschistischen Wehrmacht eingezogen. Er war mit 18 als Seefun-ker in Nordnorwegen eingesetzt und schließlich mit 19 Jahren in englischer Kriegsgefangenschaft Sprecher der unverheirateten Kriegsgefangenen. Seine elterliche Erziehung und das Erleben des Nationalsozialismus, seine bitteren Erfahrungen im Zweiten Welt-krieg und die Konfrontation mit Kriegsverbrechen und Weltkriegs-folgen veranlaßten ihn, sich in die Reihen derer einzuordnen, die an einem wahrhaft antifaschistisch-demokratischen Reformwerk mitwirken und dazu alte humanistische Ideale in einer neuen Ge-sellschaft verwirklichen, Krieg für immer überwinden und Chancen-gleichheit für alle sichern wollten. Seit dem 1. September 1946 trat er als Neulehrer an der Grundschule in Leipzig-Engelsdorf vor al-lem für die Demokratisierung der deutschen Schule und später für die Realisierung der Verfassung der DDR von 1949 ein. Unermüd-lich wirkte er dafür, die Einheitsschule und damit Bildungsmög-lichkeiten für alle - unabhängig von jeglichen finanziellen Vo-raussetzungen der Eltern - durchzusetzen, weil er auch aus ei-gener Erfahrung und Anschauung wußte: „...nichts in der Welt macht so unfrei wie Armut.“ (Andersen Nexö) Aber Lehrer sein in jener Zeit hieß, vom ersten Tag an einen Ausbildungsmarathon zu absolvieren. Für Heinz Schwidtmann bedeutete das, die erste und zweite Lehrerprüfung, die Fachanerkennung Sport, das Staatsexamen für Geschichte in der Oberstufe und schließlich den Erwerb des Diploms rer. pol. an der Parteihochschule „Karl Marx“, alles im Fernstudium. Theorie und Praxis, zielstrebig Stu-dieren, Lernen und Lehren in täglich zu gestaltender Einheit.
Und es war selbstverständlich für ihn, politisch zu wirken. Er wollte - wie viele andere seiner Generation - als Konsequenz
aus zwölf Jahren Faschismus und Krieg helfen, eine neue Schu-le aufzubauen, in der junge Menschen für eine neue Gesell-schaft lernen. Heinz Schwidtmann wollte ganz in diesem Sinne parteilich sein in der Gewißheit, daß Gesellschaftsveränderung ein zutiefst kultureller Anspruch ist, in den sich Bildungsfragen und Bildungsaufgaben einordnen. Er wußte, daß Gesellschafts-veränderung ohne entsprechende Kulturpolitik - Kultur hier im weitesten Sinne des Begriffs gemeint - ebenso unmöglich ist wie ohne einen permanenten, auf die gesellschaftliche Praxis orien-tierten Diskurs von kulturell Aktiven, also in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Bildung und dem Geistesleben Tätigen. Sein Wirken im Kulturbund der Stadt Leipzig wie auch seine Dis-sertation und vor allem die Habilschrift belegen das. Natürlich mußten die Akteure jener Zeit - ob Künstler, Wissenschaftler, Lehrer - auch begreifen lernen, daß Identifikation und Opposition in einem schwierigen, nicht leicht zu beschreibenden - heute zum Täter-Opfer-Klischee vereinfachten - Verhältnis waren. Wie so mancher andere mußte auch Heinz Schwidtmann bittere Er-fahrungen machen. Aber getreu seinen Idealen, war das für ihn niemals ein Grund, im Bemühen um geistige Unabhängigkeit nachzulassen oder gar sich weniger zu engagieren, auch nach 1990 nicht.
Er war - wie die meisten DDR-Pädagogen und späteren Erzie-hungswissenschaftler - ein praktisch erfahrener und theoretisch befähigter Lehrer, Schuldirektor und Schulrat. Für diese Lehrer - so auch für Heinz Schwidtmann - verstand es sich von selbst mit der wissenschaftlichen Arbeit die Schule oder später die Praxis des Sports und die Bedingungen für die Lehrarbeit verbessern zu wollen. Wissenschaft unabhängig von jeder Praxis zu betrei-ben, das entsprach nicht ihrem Verständnis vom Ethos pädago-gischer Wissenschaftler. Folgerichtig stellten sie sich mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit der Komplexität, Vielschichtigkeit und Kompliziertheit der Praxis. Und setzten das auch im Prozeß der Ausbildung der Studenten und des wissenschaftlichen Nach-wuchses durch. Ganz in diesem Sinne hat Heinz Schwidtmann seit 1958 - ob als Hochschullehrer, Prorektor und Rektor der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK), als Ordinarius für Sportpädagogik (1970 bis 1990), stellvertretender Direktor oder Dekan am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport
(FKS) in Leipzig - gewirkt und nicht zuletzt auch als langjähriger Präsident des Deutschen Boxverbandes der DDR. Insbesondere in dieser Tätigkeit offenbarte sich seine Fähigkeit, das Individu-um zu fördern und zu profilieren, auf die notwendigen sozialen Bedingungen in ihrer Gesamtheit, bis hin zum sozialen Kontext sportlicher Leistungsvorbereitung Einfluß zu nehmen, leistungs-fähige Trainer- oder Sportlerkollektive zusammenzuführen, die Möglichkeiten starker Individualitäten zur Geltung zu bringen und die nicht ausbleibenden Konflikte - ohne Nachteile für die gemeinsam zu lösende Aufgabe - auszutragen. Heinz Schwidt-mann war Lehrer aus Berufung, bis zuletzt. Insofern waren hohe Forderungen im Sinne von Grenzüberschreitungen, vor allem und in erster Linie der eigenen Grenzen, selbstverständlich. Ganz in diesem Sinne schrieb er im Lehrbuch „Boxsport“: „Nicht jeder hat die Prüfungen des Boxsports bestanden.“
Mit Heinz Schwidtmann verlieren viele - auch ich - einen in jeder Situation uneigennützigen, prinzipienfesten und aufrichtigen Freund. Einen Freund im allerbesten Sinne dieses Wortes. Auf seine tätige Hilfe konnte man immer zählen. Seine Freundschaft entsprach den Maximen Balzac’s: „Die Freundschaft verzeiht den Irrtum, die unüberlegte Handlung der Leidenschaft; aber sie muß unversöhnlich sein gegenüber dem Entschluß, mit der See-le, dem Geist und den Gedanken Handel zu treiben.“
Als Bertolt Brecht starb - schreibt Werner Mittenzwei in „Das Le-ben des Bertolt Brecht“ - war die Zuversicht groß, die Welt könn-te freundlich werden, der Mensch dem Menschen ein Helfer, der Frieden das A und O aller menschlichen Betätigung und der Kunst zu leben. Leider war das nur ein Augenblick, eine kurze Spanne - wie wir heute wissen - und es wurde die Zuspitzung der ärgsten Gefahren sichtbar, von Gefahren, die damals auch die Weitsichtigsten nicht erkennen konnten. Aber zu Brechts Vermächtnis gehört, wie er formuliert: „Die Welträtsel werden nicht gelöst, aber wehe der Welt, die die Anstrengung verwei-gert, so zu leben, als könne man sie lösen.“ Heinz Schwidtmann hat sich Zeit seines Lebens eben dieser Anstrengung nicht ver-weigert. Und er wurde nicht müde, uns daran teilhaben und die Notwendigkeit dieser Anstrengung begreifen zu lassen.
Volker Mattausch
Heinz Schlosser
(28. April 1922 - 9. August 2001)
Als mich die Nachricht erreichte, daß Heinz uns verlassen hatte, griff ich nach dem Olympiaband von 1956 und schlug die Doppel-seite mit dem Bild der ersten DDR-Mannschaft bei Olympischen Sommerspielen auf. Man hatte bei allen eine Nummer auf das Mantelrevers geschrieben, um sie wiederzufinden - auch noch Jahrzehnte später. Heinz - damals Sekretär des Nationalen Olym-pischen Komitees - trägt die Nummer 37 und steht ein wenig am Rand des Bildes, hinter ihm Kurt Edel, vor ihm Klaus Richtzenhain, der mit einer Silbermedaille heimkehrte. Er lacht auf dem Bild, so wie alle, die ihn kennen, ihn oft lachen sahen. Es war mehr ein stil-leres, aber dennoch herzliches Lachen. Ich betrachtete das Bild und schlug dann das Buch zu - wir werden ihn nie mehr lachen hö-ren.
Auf dem Parkfriedhof in Berlin-Marzahn begleiteten viele unseren Heinz auf seinem letzten Weg. Wenige Monate vor seinem 80. Ge-burtstag war er nach langer, schwerer Krankheit gestorben. Ein bewundernswertes Leben hatte sich vollendet. Schon früh hatte er den barbarischen Hitlerfaschismus kennengelernt. 1943 war sein Vater, Kurt Schlosser, verhaftet und 1944 hingerichtet worden. Noch heute ehrt ihn der Dresdner Bergsteiger-Chor, in dem er sei-nen Namen trägt. Heinz wurde am Ende des Krieges noch zur Wehrmacht geholt, geriet 1945 in amerikanische Gefangenschaft und lernte dort „Menschenwürde“ gegenüber Negern und Besieg-ten kennen. Nach der Entlassung arbeitete er als Tischler in Helle-rau und nahm dann seine politische Arbeit auf, der er bis zu seiner schweren Krankheit mit viel Engagement in verschiedenen Funkti-onen treu blieb. 1949 gehörte er zu den Mitbegründern der Deut-schen Sportschule in Leipzig, danach war er stellvertretender Leiter
der Sportschulen in Ludwigsfelde und Strausberg. Als begeisterter Wanderer und Bergsteiger wurde er 1952 Mitglied des Präsidiums des Verbandes. 1955 wechselte Heinz zum Nationalen Olympi-schen Komitee der DDR, wo er auch an vielen Verhandlungen mit dem NOK der BRD teilnahm und dabei mit dem Alleinvertretungs-anspruch der anderen Seite konfrontiert wurde. Seinem Wunsch entsprechend wechselte er 1957 wieder zum Wander- und Berg-steigerverband und arbeitete seit 1963 beim Bundesvorstand des DTSB als Scktoren - und Abteilungsleiter. Obwohl er 1987 in Rente ging, blieb er der gesellschaftlichen Arbeit treu. Seit 1949 hatte er in seiner Ehefrau Ursula eine Partnerin, die für seine Tätigkeit viel Verständnis zeigte und der wir in dieser Stunde noch einmal unser Mitgefühl versichern wollen.
Erhard Richter

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 14 / 2001
INHALT
OLYMPIA 2002
5 Salt Lake City - Notate und viele Fragen
Olympiaredaktion
9 Die sportliche Bilanz
Helmut Horatschke
17 OLYMPIA-ZITATE
Pandoras Büchse war geöffnet
Alte Gräben wurden aufgerissen statt neue Brücken gebaut
...auch der Skilanglauf nicht mehr glaubwürdig
...aber die Politik ist beim Sport geblieben
Befehl: Olympiawerbung
Spiele der Weißen
DISKUSSION/DOKUMENTATION
22 Wie die deutsche Olympiamannschaft 1960 zustandekam
Klaus Huhn
37 Athen 1969
Horst Gülle
42 Die endlose „Aufarbeitung“
Klaus Huhn
45 Wurde der Volkssport in der DDR vernachlässigt?
Edelfrid Buggel (†)
51 Gedanken zu Buggels Überlegungen
Klaus Rohrberg
63 Brettsegeln in der DDR
Hans-Joachim Benthin
67 Sportpädagogik - Geschichtsvergessenheit?
Heinz Schwidtmann (†) und Karsten Schumann
79 ZITATE
Doping-Entschädigung als Erbschaftssteuer
„Ein unverschämtes Blatt“
Erhebung der „Doping-Opfer-Problematik“ für 350.00 DM
Finanzierung minderjähriger Sportler... durch Sponsoren
Diego bei Fidel...
Diego Armando Maradona - „working class hero“
„Vom Osten lernen, heißt siegen lernen“...
„...eine durch und durch gesellschaftspolitische Angelegen
heit“
Unsitten des Kalten Krieges
JAHRESTAGE
90 Die erste deutsche Sportgeschichte nach 1945
Hans Simon
REPORT
96 Jahresversammlung von Sport und Gesellschaft e.V
Helmuth Westphal
101 Der kurze, lange Weg Leipzigs nach Olympia
Ulli Pfeiffer
REZENSIONEN
104 Katarine Witt und Heinz Florian Oertel: Salt Lake City 2002
105 Tobias Blasius: Olympische Bewegung, Kalter Krieg und
Deutschlandpolitik 1949-1972
Klaus Huhn
106 Chronik des Eisenbahnersports in der DDR
Kurt Zach
107 Kurt Wätzmann (Red.): 75 Jahre Verband Deutscher Ei
senbahner- Sportvereine
Eberhard Geske/Kurt Zach
GEDENKEN
108 Fred Müller
Klaus Huhn
111 Hans-Georg Herrmann
Karl-Heinz Bauersfeld
DIE AUTOREN
KARL-HEINZ BAUERSFELD, Dr. paed., geboren 1927, Prof. für Theorie und Methodik der Leichtathletik an der Deutschen Hoch-schule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1974 bis 1985, Prof. für Theorie und Methodik des Trainings an der DHfK 1986 bis1990, Prorektor für Wissenschaftsentwicklung der DHfK 1977 bis 1990, Präsident des SC DHfK e.V. Leipzig 1990 bis 1996.
HANS-JOACHIM BENTHIN, geboren 1926, Sportlehrer, Mitglied des Präsidiums des Bundes Deutscher Segler (BDS) 1969 bis 1990, stellvertretender Generalsekretär des BDS 1979 bis 1990.
EDELFRID BUGGEL (†), Dr. paed. habil., 1928 - 2000, Honorar-prof. für Freizeit- und Erholungssport an der Deutschen Hochschu-le für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1967 bis 1990, langjähriger Vi-zepräsident des Verbandes für Wandern, Bergsteigen und Orien-tierungslauf (DWBO), Ehrenmitglied des Weltrates für Sportwis-senschaft und Körpererziehung (ICSSPE/CIEPSS).
EBERHARD GESKE, geboren 1943, Dipl.-Ing. für Informations-verarbeitung, Abteilungsleiter Tennis Lok. Schöneweide.
HORST GÜLLE, geboren 1932, Diplomsportlehrer, Generalsekre-tär des Deutschen Verbandes für Leichtathletik (DVfL) 1966 bis 1969, stellvertretender Generalsekretär des DVfL 1969 bis 1980.
HELMUT HORATSCHKE, geboren 1928, Diplomsportlehrer, Vorsit-zender der Sportvereinigung „Motor“ 1954 bis 1957, Abteilungsleiter (Planung und Koordinierung des Leistungssports) im DTSB-Bundesvorstand 1957 bis 1987.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
ULRICH PFEIFFER, Dr. paed., geboren 1935, Diplomjournalist, Chefredakteur der Zeitschrift „Theorie und Praxis des Leistungs-sports“ (ab 1990 „Training und Wettkampf“) im Sportverlag Berlin 1977 bis 1991.
KLAUS ROHRBERG, Dr. sc. paed., geboren 1932, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der Pädagogischen Hochschule Zwickau und der Universität Chemnitz/Zwickau 1985 bis 1994.
KARSTEN SCHUMANN, Dr. paed., geboren 1963, Absolvent der Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig (DHfK).
HEINZ SCHWIDTMANN (†), Dr. paed. habil., 1926 - 2001, Prof. für Sportpädagogik am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) 1970 bis 1990.
HANS SIMON, Dr. sc. paed., geboren 1928, Hochschullehrer für Sportgeschichte an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1951 bis 1990, Mitglied der dvs.
LOTHAR SKORNING, Dr. paed., geboren 1925, Hochschullehrer für Geschichte der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Ber-lin 1969 bis 1991.
HELMUTH WESTPHAL, Dr. paed. habil., geboren 1928, Prof. für Theorie der Körperkultur und Sportgeschichte an der Pädagogi-schen Hochschule Potsdam 1958 bis 1988.
KURT ZACH, geboren 1926, Sportlehrer, Reichsbahn-Hauptrat a.D.
OLYMPIA
Salt Lake City - Notate und viele Fragen
Wohin ist Olympia geraten? Diese Frage wird zwar oft gestellt, aber die Winterspiele von Salt Lake City sorgten dafür, daß sie wieder an Aktualität gewann und auch an Brisanz zunahm.
Es begann mit der Eröffnung. Daß ein Sicherheitsaufgebot von der Stärke einer Armee in und um Olympia aufmarschiert war, wurde den Ereignissen des furchtbaren 11. September zugeschrieben und deshalb auch von allen hingenommen, das Präsident als ers-tes Staatsoberhaupt der olympischen Geschichte die Regeln der Eröffnungszeremonie ignorierte, löste weltweit Empörung aus und rief Erinnerungen wach. Schon einige Male sahen sich IOC-Präsidenten genötigt, gerade auf diese Regeln Gastgebern der Spiele gegenüber mit Nachdruck zu verweisen. Bei den Sommer-spielen 1936 in Berlin, war Graf Baillet-Latour Präsident des IOC. Der Mann war übrigens ein Belgier. Bevor Hitler die Ehrenloge be-trat, um die in der damals noch auf wenigen Seiten formulierten Olympischen Charta vorgeschriebenen Eröffnungsworte zu spre-chen, erinnerte ihn der Graf daran - und dazu gehörte einiger Mut -, daß er nur die Formel zu sprechen habe und kein Wort mehr. Es heißt, Hitler hatte einen Zettel mit einem Text in der Tasche, in dem auf die „Segnungen“ des Faschismus verwiesen wurde, verzichtete aber nach dieser Warnung darauf, ihn auch nur hervorzuholen.
In Salt Lake City war wieder ein Belgier IOC-Präsident: Jacques Rogge. Nach den vorliegenden Informationen traf er sich mit USA-Präsident Bush wenige Stunden vor der Eröffnung. Es ist zu be-fürchten, daß er es versäumte, Bush auf die Olympische Charta zu verweisen, oder aber Bush nahm das zur Kenntnis, um es an-schließend demonstrativ zu ignorieren. Beide Varianten führen zum gleichen Schluß: Die Olympische Charta wurde schon in den ers-ten Stunden verletzt.
Die Protokollordnung für die Eröffnung ist bis zum letzten Komma vorgeschrieben. Regel 69 1.9 legt die Zeremonie fest: „Das Staats-oberhaupt eröffnet die Spiele, in dem er sagt: ‘Ich erkläre die Spiele von ... (Name der Stadt), die die ... Olympiade der modernen Zeit-rechnung (oder die ... Winterspiele) ausrichtet, für eröffnet.“ Bush verließ kurz vor dem feierlichen Augenblick die Ehrentribüne, begab sich zum Block der US-amerikanischen Mannschaft und sagte von dort aus - eine Hand in der Hosentasche, wie es wohl in Texas Sitte ist: „Stellvertretend für eine stolze, entschlossene und dankbare Na-tion, erkläre ich die Spiele... für eröffnet.“
Die Empörung wurde von den Medien, die sich am Ende der Spiele wegen dreier Dopingverstöße grenzenlos empörte Schlagzeilen leisteten, gedämpft. Die von Gruner & Jahr herausgegebene „Ber-liner Zeitung“ zum Beispiel demonstrierte „uneingeschränkte Soli-darität“ und ereiferte sich: „Einige Kommentatoren machten daraus eine politische Affäre, was es aber nicht war, weil die Spiele trotz des Formulierungsfehlers eröffnet waren. Und das war das einzig Wichtige.“ Die Zwischenzeile lautete: „Leichte Textabweichung“. Fakt bleibt, daß Bush der Welt in der olympischen Arena demons-trierte, was er tagaus tagein tut: Für die USA gelten keinerlei inter-nationale Normen. Sollte man sich vielleicht für Sekunden vorstel-len, was wohl geschehen wäre, wenn Breshnjew die Spiele in Moskau mit den Worten eröffnet hätte: „Stellvertretend für den ers-ten von Ausbeutung freien Staat der Welt, erkläre ich die Spiele für eröffnet.“?
Diese Spiele fanden bekanntlich 1980 statt, als die US-amerikanische Kleinstadt Lake Placid Gastgeber der Winterspiele war. Präsident Carter hatte seinen Außenminister Cyrus Vance zur Eröffnung der allen Spielen vorangehenden Sessionen des Interna-tionalen Olympischen Komitees geschickt. Im alten Lake Placid Club verlangte Vance vom IOC, Moskau wegen des Einmarschs in Afghanistan die Spiele zu entziehen. Der damalige IOC-Präsident Lord Killanin war ein Ire. Der sah allein in der Forderung eine Ver-letzung der Olympischen Charta und verweigerte dem Yankeemi-nister nach dessen Rede den protokollarischen Handschlag, ob-wohl sich in der Charta keine Klausel findet, die diesen Punkt tan-giert. Anschließend sagte er den Journalisten: „Und wenn ich allein an den Start gehen sollte, die Spiele finden in Moskau statt.“ Präsi-dent Carter war darüber derart erbost, daß er seine Teilnahme an der Eröffnungsfeier der Spiele über Nacht absagte und Vizepräsi-dent Walter H. Mondale schickte.
Der Auftritt von Bush blieb nicht die einzige Verletzung der Charta in Salt Lake City. Im Eiskunstlaufen der Paare vergab das Kampf-gericht die Goldmedaillen an ein russisches Paar. Publikum und Medien hielt das auf den zweiten Rang gelangte kanadische Duo für ungerecht bewertet und liefen Sturm. Das war kein sonderlich bemerkenswertes Ereignis. Proteste gegen Entscheidungen beim Eiskunstlaufen gibt es, seitdem diese Sportart 1908 zum ersten Mal auf dem Programm stand. Welche juristischen Möglichkeiten
gegeben sind, eine Kampfrichterentscheidung zu korrigieren, be-sagt Regel 57 1.2: „Die Internationalen Föderationen haben allein das Recht und die Verantwortung über die Resultate und die Rei-henfolge bei den Olympischen Wettbewerben zu befinden.“ In Salt Lake City wurde die Internationale Eislaufföderation massiv unter Druck gesetzt. Der deutsche IOC-Vizepräsident Bach spielte dabei eine unerklärlich „uneingeschränkte“ Rolle und erzwang, daß die Charta ignoriert und das Resultat korrigiert wurde.
Die uneingeschränkte Autorität der Internationalen Föderationen wurde auch bei der Entscheidung über die Eishockeyschiedsrichter massiv verletzt. Die nordamerikanische Profiliga NHL - juristisch betrachtet in etwa eine Aktiengesellschaft - bestand darauf, daß bei ihnen angestellte Schiedsrichter im olympischen Turnier fungierten, wenn mehr als die Hälfte der Spieler bei der NHL unter Vertrag stehen.
Regel 45. 3 der Charta lautet: „Keinem Teilnehmer, der an den Olympischen Spielen teilnimmt, ist es erlaubt, seine Person, seinen Namen, sein Bild oder seine Sportausrüstung während der Spiele für Werbezwecke zu nutzen, es sei denn er verfügt über eine Aus-nahmegenehmigung des IOC-Exekutivkomitees.“ Der Erste, der gegen diese Regel verstieß, war der deutsche Skispringer Martin Schmitt, was man ihm nicht persönlich anlasten sollte, weil fast sämtliche Athleten bekanntlich von Managern „betreut“ werden. Daß eine fällige Geldstrafe ausblieb, war den Versicherungen zu-zuschreiben, es habe sich um einen „Irrtum“ gehandelt.
Schnell erwies sich, das dieser „Irrtum“ als Präzedenzfall genutzt wurde: Die US-amerikanische Eiskunstläuferin Michelle Kwan warb ganzseitig für General Motors und ihre Manager beriefen sich auf die Ausnahme Schmitt. Die Fluggesellschaft „Delta“ agierte noch hemmungsloser. Ungeachtet der Garantieerklärung gegenüber dem IOC, ihren Namen vor Beginn der Spiele von der Eishalle zu entfernen, prangte die Fliegerreklame in Riesenbuchstaben an der Hallenfront. In diesem Fall fiel die Kritik des so agilen deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach auch wieder moderat aus: „Un-glücklich, wir müssen auf Kernbereiche mehr Einfluss nehmen.“ Das tat er dann am Ende der Spiele in beängstigender Weise: Als Vorsitzender der Disziplinarkommission sorgte der Rechtsanwalt auch dafür, daß die juristisch akribisch formulierten Dopingregeln mißachtet wurden. Danach muß jede entnommene Dopingprobe
geteilt, versiegelt und danach die erste Untersuchung vorgenom-men werden. Ergibt sich ein positiver Befund, dürfen die Doping-beauftragten ausschließlich den betroffenen Athleten mitteilen, daß die erste - also die A-Probe - positiv war. Diese Mitteilung ist mit dem Hinweis verbunden, daß der Betroffene für die Untersuchung der B-Probe eine Person seines Vertrauens oder auch einen do-pingversierten Mediziner hinzuziehen darf. Im Fall des für Spanien startenden deutschen Skilangläufers Johann Mühlegg wurde die positive A-Probe den Medien offenbart, was den Ruf des Athleten logischerweise bereits ruinierte. Faszinierend war die „Begrün-dung“ des Juristen Bach für diesen einmaligen Schritt: „Die Mög-lichkeit, daß eine B-Probe ein anderes Ergebnis aufweist, liegt bei 0,0001 Prozent.“ Bach gab - obwohl promovierter Jurist - damit zu verstehen, daß er von Regeln und Bestimmungen wenig hält. Wür-de er vor einem Gericht je mit dem Argument auftreten, daß die Widerlegung der Schuldfrage mit 0,0001 prozentiger Gewißheit nicht zu erwarten ist, dürfte ihn der Gerichtsdiener an die Grund-formel erinnern: „Im Zweifel zugunsten des Angeklagten.“ Es gilt weder darüber zu urteilen, ob Mühlegg gedopt war, noch Zweifel daran zu äußern, daß eine Disqualifikation die einzig mögliche Strafe für jeden Dopingsünder ist, aber festgestellt werden muß, daß auch Dopingverfahren nach den Regeln abzuwickeln sind und nicht nach den Prozentprophezeiungen eines IOC-Mitglieds, das sich gern profilieren möchte. Ganz zu schweigen davon, daß auch in diesem Fall der Schuldanteil der Pharmaindustrie zu untersu-chen wäre. Sie hatte das Medikament so knapp vor den Spielen auf den Markt gebracht, daß es gar nicht auf die Liste der verbote-nen Medikamente gelangte. Dopingwissenschaftler versicherten, daß es „ihrer Meinung nach unter dopingartverwandte Substanzen fällt“. Ob das reicht, sich auf die olympischen Regeln stützend Me-daillen abzuerkennen, darf angezweifelt werden.
Die sportliche Bilanz
Von HELMUT HORATSCHKE
Das olympische Wettkampfprogramm war, ungeachtet alle Forde-rungen, gegen „Gigantomanie“ anzukämpfen, erneut um 10 Diszip-linen erweitert und wie in Nagano1998 auf 16 Tage ausgedehnt worden. Neu unter den jetzt 78 Disziplinen waren:
Biathlon
- 10 km Jagdrennen für Frauen
- 12,5 km Jagdrennen für Männer
Bobsport
- 2-er Bob für Frauen
Ski nordisch
- 1,5 km Sprint für Frauen
- 1,5 km Sprint für Männer
- Großschanze / 7,5 km nordische Kombination
Skeleton
- Einzelwettbewerb für Frauen
- Einzelwettbewerb für Männer
Short-Track
- 1500 m für Frauen
- 1500 m für Männer
In einigen Ski- und Biathlondisziplinen wurde der Austragungsmo-dus durch Massenstarts oder Verfolgungsrennen für die Zuschauer übersichtlicher und interessanter gestaltet.
Seit den Olympischen Spielen 1984 in Sarajewo (Jugoslawien) ist damit eine Verdoppelung des olympischen Wintersportprogrammes festzustellen. Das sollte zu mäßigenden Überlegungen Anlaß ge-ben.
Sport ist der Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit verpflichtet. Deshalb sind Zweifel bei solchen Disziplinen ange-bracht, bei denen der Weg zur Weltspitze über die Operationssäle der Krankenhäuser und Kliniken zu führen scheint. Olympische Spiele sollten nicht zum Spielfeld kleiner Gruppen von Berufsartis-ten verkommen, die - wie zum Beispiel im Trick-Ski - jedes Berufs-risiko in Kauf nehmen.
Der Verdacht, daß es im Wintersport mehr um die marktwirtschaft-liche als um die sportliche Konkurrenz geht, ist sicher angesichts eines hart umkämpften großen Marktes für Wintersportgeräte und -artikel nicht unbegründet. Das erklärt auch das starke Firmenspon-soring (ausgeprägter als in vielen Sommersportarten) und in seiner Folge die weitgehende Professionalisierung des gesamten olympi-schen Wintersports. Auch die Medien haben ihren umkämpften Markt und erzwingen Wettkampfprogramme, die sich in Werbeein-nahmen und Einschaltquoten niederschlagen.
Durch ausufernde kommerzielle Cup-Wettbewerbe werden Sportler und Trainer in die Zwangslage gebracht, sich zwischen geldbrin-gender werbender Präsenz und einer weniger einträglichen plan-mäßigen Olympiavorbereitung entscheiden zu müssen. Ursachen für manche enttäuschende Leistung von Cup-Favoriten bei den olympischen Spielen und für manchen überraschenden Sieger, der nicht zu den Favoriten gezählt wurde.
Ein überraschendes Moment dieser olympischen Wettbewerbe war die dominierende Rolle einer kleinen Gruppe perfekt vorbereiteter Sportler, die nach den Serien-Cups ihrer Sportart nicht unbedingt als Favoriten einzuschätzen waren. Dazu gehörten Ole Einar Bjo-erndalen (4 Goldmedaillen), Janica Kostelic (3 Goldmedaillen), Samppa Lajunen (3 Goldmedaillen) aber auch Claudia Pechstein, Kati Wilhelm, Andrea Henkel, Simon Ammann, Kjetil Andre Amodt und die chinesische Short-Trackerin Yang Yang mit jeweils 2 Goldmedaillen. Mit Kostelic, Ammann und Lajunen sind gleichzeitig sehr junge Sportler in den Kreis der Weltbesten vorgestoßen.
Bei nahezu unveränderter Zahl der Länder, aus denen Athleten Medaillen erringen oder sich auf den Plätzen 4 bis 6 plazieren konnten, halten sich - auch unter Berücksichtigung des erweiterten Programms - Veränderungen hinsichtlich des Anteils der einzelnen Länder in Grenzen. Nur die USA haben ihre Bilanz unter Heimvor-teil verdoppelt, während Japan 58 Prozent seines Nagano-Resultates wieder verlor. Einen deutlichen Leistungszuwachs wei-sen Deutschland, Frankreich, Kroatien, die Schweiz und Schweden nach. Während größere Verluste von den Niederlanden, der Ukrai-ne, von Kasachstan und Finnland hingenommen werden mußten. (Anhang Tab. 1) Bei fortbestehender europäischer Dominanz hat bei diesen olympischen Spielen Nordamerika seine Medaillenbilanz auf Kosten Asiens aufgebessert. Auswirkungen des Heimvorteils werden hier sichtbar. Hinzu kommt, daß die USA durch die 10 neuen Disziplinen den größten Vorteil und Zugewinn erreichten. Sie gewannen vier dieser Disziplinen und eine Silbermedaille. (An-gaben in Prozent)
ERDTEIL
1992
1994
1998
2002
Europa
81,3
75,4
73,0
71,6
Nordameri-
10,5
13,5
14,9
21,4
ka
Asien
7,3
10,7
11,8
5,9
Australien
0,9
0,4
0,3
1,1
Zum Abschneiden der deutschen Mannschaft
Die deutsche Mannschaft hat hoch gespannte Erwartungen erfüllt und diese in einigen Sportarten sogar mit überraschenden Leistun-gen überboten. Daß mit diesen Leistungen auch erneut der erste Platz in der Länderwertung erreicht wurde, ist aber für die Beurtei-lung des Abschneidens nicht entscheidend. Besondere Würdigung verdient, daß neben 19 olympiaerfahrenen Medaillengewinnern vergangener Winterspiele 28 Sportlerinnen und Sportler neu in den Medaillenbereich vorgestoßen sind, darunter junge Athletinnen und Athleten, wie Kati Wilhelm und Andrea Henkel (Biathlon), Evi Sa-chenbacher, Stefan Hocke, Björn Kircheisen und Marcel Höhlig (Ski nordisch) oder Jens Boden (Eisschnellauf). Neben den 35 er-rungenen Medaillen verdienen auch 26 Plazierungen auf den Rän-gen vier bis sechs eine besondere Anerkennung. (Tab. 2)
Insgesamt haben die deutschen Frauen das ausgezeichnete Er-gebnis von Nagano wiederholt. Der nachgewiesene Leistungszu-wachs wurde in den Männerdisziplinen erreicht! (Tab. 5)
Die im Vergleich zu den olympischen Sommerspielen in Sydney ausgezeichnete deutsche Wintersportbilanz hat handfeste Ursa-chen:
- Durch eine weitsichtigere Politik im Vergleich zu den meisten Sommersportarten blieben wichtige Zentren des DDR-Wintersportes - einschließlich der Kinder- und Jugendsportschulen - erhalten und konnten die Arbeit mit vielen ihrer erfahrenen Trainer fortsetzen, zum Beispiel in Oberhof/Zella-Mehlis, Oberwiesenthal, Altenberg, Berlin, Erfurt, Chemnitz/ Dresden. Das Resultat: 67 Pro-zent aller deutschen Medaillen, darunter auch zwei Drittel der Goldmedaillen, wurden von Sportlerinnen und Sportlern erkämpft, deren Entwicklung sich im DDR-Sport oder in den erhalten geblie-benen Leistungszentren der neuen Bundesländer vollzog. (Tab. 3)
- Hohe Anerkennung verdienen die Trainer, die diese Erfolge vor-bereitet haben. Unter ihnen aus der einstigen DDR-Trainerelite Reinhard Heß, Rainer Schmidt und Henry Glaß (Skispringen), Frank Ulrich, Harald Böse und Siegfried Sturm (Biathlon), Heinz
Nestler (Skilanglauf), Achim Franke und Stefan Gneupel (Eis-schnellauf), Raimund Bethge, Wolfgang Hoppe und Mathias Trüb-ner (Bobsport) oder Norbert Hahn (Schlittensport), um stellvertre-tend für alle nur einige zu nennen.
Auch Wachsspezialist Uwe Bellmann hat ausgezeichnete Arbeit geleistet.
- Bundeswehr und Bundesgrenzschutz sind in der Förderung des Wintersports besonders präsent. Von 162 nominierten Sportlerin-nen und Sportlern der Olympiamannschaft gehörten 67 der Bun-deswehr an, 17 dem Bundesgrenzschutz und 2 dem Zoll. Das sind insgesamt 86 Athletinnen und Athleten also 53 Prozent der Mann-schaft.
- Zu den Erfolgen hat auch die aus dem DDR-Sport übernommene Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte beigetragen. Sie baute zum Beispiel den Viererbob der Olympiasieger.
- Nicht zu unterschätzen ist letztendlich auch das bereits erwähnte Engagement von Sportgeräte- und Sportartikelfirmen.
Im Detail bedarf das insgesamt respektable Ergebnis allerdings ei-ner differenzierten Betrachtung. Den ausgezeichneten Resultaten im Biathlon, Schlittensport, Bobsport und Eisschnellauf mit stabilen Positionen in der Spitze der Weltrangliste und dem Aufschließen des nordischen Skisports zu den führenden Ländern, stehen vor al-lem enttäuschende Ergebnisse im alpinen Skisport und im Eis-kunstlauf gegenüber. (Tab. 4) Eine Wertung der Plätze 1 bis 6 ergibt folgende Plazierung in einer Weltrangliste der jeweiligen Sportarten:
Schlittensport
1. Platz
Skeleton
5. Platz
Bobsport
1. Platz
Ski alpin
6. Platz
Biathlon
1. Platz
Curling
7. Platz
Ski nordisch
2. Platz
Eishockey
7. Platz
Eisschnellauf
2. Platz
Keine Wertung: Eiskunstlauf, Snow-Board und Short-Track. Keine Teilnahme: Trick-Ski. Zumindest für den alpinen Skisport (10 Dis-ziplinen!) und den Eiskunstlauf sollte eine nachhaltige Veränderung der Leistungssituation angestrebt werden.
Zum Schluß ein Denkanstoß: Wer so erfolgreich auf den Schultern des DDR-Sportes steht, ist gut beraten, seinem Untermann den Respekt nicht zu versagen.
Tabelle 1: Länderwertung der Olympischen Spiele 2002 und 1998 (Rangfolge nach der Medaillenwertung)
Rang
2002
1998
Punkte 2002
Diff. zu 1998
1. Deutschl.
12 - 16 - 7
10 - 7 - 9
244,5
+ 54,5
2. Norwe-gen
11 - 7 - 6
7 - 4 - 5
169
+ 7
3. USA
10 - 13 - 11
9 - 11- 9
237
+ 121
4. Russland
6 - 6 - 4
7 - 6 - 10
130
- 3
5. Kanada
6 - 3 - 8
7 - 4 - 6
123
+ 15
6. Frank-reich
4 - 5 - 2
1 - 4 - 4
76
+ 25,5
7. Italien
4 - 4 - 4
2 - 5 - 2
82
- 1
8. Finnland
4 - 2 - 1
3 - 4 - 2
61
- 11
9. Niederl.
3 - 5 - 0
3 - 3 - 2
63
- 22
10. Schweiz
3 - 2 - 6
3 - 2 - 5
73
+ 20,5
11. Kroatien
3 - 1 - 0
0 - 0 - 0
26
+ 26
12. Österr.
2 - 4 - 10
11 - 7 - 6
126
+/- 0
13. China
2 - 2 - 4
2 - 1 - 0
48
+ 3
14. Südko-rea
2 - 2 - 0
1 - 2 - 1
32
- 8
15. Austral.
2 - 0 - 0
0 - 0 - 1
15
+ 11
15. Spanien
2 - 0 - 0
0 - 0 - 1
15
+ 15
17. Estland
1 - 1 - 1
0 - 0 - 0
16
+ 15
18. Großb.
1 - 0 - 2
0 - 0 - 0
15
+ 7,5
19. Tsche.
1 - 0 - 1
2 - 1 - 0
19
- 7
20.Schwed.
0 - 2 - 4
4 - 3 - 1
44,5
+ 19,5
21. Bulg.
0 - 1 - 2
1 - 2 - 1
21
+ 11
22. Japan
0 - 1 - 1
3 - 5 - 6
34
- 47,5
23. Polen
0 - 1 - 1
1 - 0 - 1
13
+ 8
24. Belor.
0 - 0 - 1
1 - 2 - 2
13
+ 2
25. Slowen.
0 - 0 - 1
0 - 1 - 1
7
+/- 0
26. Irland
0 - 0 - 0
1 - 0 - 0
3
+ 3
27. Ukraine
0 - 0 - 0
0 - 2 - 1
5
- 13
28. Litauen
0 - 0 - 0
0 - 1 - 0
2
+ 2
Slowak.
0 - 0 - 0
0 - 1 - 0
2
- 4
30. Israel
0 - 0 - 0
0 - 0 - 1
1
+ 1
Kasacht.
0
- 11
Lettland
0
- 9
Belgien
0
- 7
Dänem.
0
- 5
(Punktwertung: Rang 1 bis 6 - jeweils 7, 5, 4, 3, 2, 1 Punkte; geteilte Plätze = geteilte Punkte)
Tabelle 2: Deutsche Medaillengewinner 2002
Name
Sportart
Gesamt
2002
1988-1998
Pechstein, Claudia
Eisschnell.
4 - 1 - 2
2 - 0 - 0
2 - 1 - 2
Groß, Rico
Biathlon
3 - 3 - 1
0 - 1 - 1
3 - 2 - 0
Hackl, Georg
Schlittensp.
3 - 2 - 0
0 - 1 - 0
3 - 1 - 0
Disl, Uschi
Biathlon
2 - 4 - 1
1 - 1 - 0
1 - 3 - 1
Luck, Frank
Biathlon
2 - 3 - 0
0 - 2 - 0
2 - 1 - 0
Fischer, Sven
Biathlon
2 - 2 - 1
0 - 2 - 0
2 - 0 - 1
Zimmermann, M.
Bobsport
2 - 1 - 1
1 - 0 - 0
1 - 1 - 1
Langen, Christoph
Bobsport
2 - 0 - 1
1 - 0 - 0
1 - 0 - 1
Apel, Katrin
Biathlon
2 - 0 - 1
1 - 0 - 0
1 - 0 - 1
Hannawald, Sven
Skispr.
1 - 2 - 0
1 - 1 - 0
0 - 1 - 0
Schmitt, Martin
Skispr.
1 - 1 - 0
1 - 0 - 0
0 - 1 - 0
Sendel, Peter
Biathlon
1 - 1 - 0
0 - 1 - 0
1 - 0 - 0
Friesinger, Anni
Eischnell.
1 - 0 - 1
1 - 0 - 0
0 - 0 - 1
Embach, Carsten
Bobsport
1 - 0 - 1
1 - 0 - 0
0 - 0 - 1
Kraushaar, Silke
Schlittensp.
1 - 0 - 1
0 - 0 - 1
1 - 0 - 0
Ertl, Martina
Ski alpin
0 - 2 - 1
0 - 0 - 1
0 - 2 - 0
Niedernhuber, B .
Schlittensp.
0 - 2 - 0
0 - 1 - 0
0 - 1 - 0
Erdmann, Susi
Bobsport
0 - 1 - 2
0 - 0 - 1
0 - 1 - 1
Garbrecht-E., M.
Eisschnell.
0 - 1 - 1
0 - 1 - 0
0 - 0 - 1
Wilhelm, Kati
Biathlon
2 - 1 - 0
Henkel, Andrea
Biathlon
2 - 0 - 0
Sachenbacher, Evi
Ski nord.
1 - 1 - 0
Henkel, Manuela
Ski nord.
1 - 0 - 0
Bauer, Viola
Ski nord.
1 - 0 - 0
Künzel, Claudia
Ski nord.
1 - 0 - 0
Hocke Stefan
Skispr.
1 - 0 - 0
Uhrmann, Michael
Skispr.
1 - 0 - 0
Leitner, Patrick
Schlittensp.
1 - 0 - 0
Resch, Alexander
Schlittensp.
1 - 0 - 0
Otto, Sylke
Schlittensp.
1 - 0 - 0
Lange, Andre
Bobsport
1 - 0 - 0
Kühn, Enrico
Bobsport
1 - 0 - 0
Kuske, Kevin
Bobsport
1 - 0 - 0
Völker Sabine
Eisschnel.
0 - 2 - 1
Ackermann, R.
Ski nord.
0 - 2 - 0
Kircheisen, Björn
Ski nord.
0 - 1 - 0
Hettich, Georg
Ski nord.
0 - 1 - 0
Höhlig, Marcel
Ski nord.
0 - 1 - 0
Schlickenrieder,
Ski nord.
0 - 1 - 0
Prokoff, Sandra
Bobsport
0 - 1 - 0
Holzner, Ulrike
Bobsport
0 - 1 - 0
Boden, Jens
Eischnell.
0 - 0 - 1
Filbrich, Jens
Ski nord.
0 - 0 - 1
Schlütter, Andreas
Ski nord.
0 - 0 - 1
Angerer, Tobias
Ski nord.
0 - 0 - 1
Sommerfeldt, R.
Ski nord.
0 - 0 - 1
Herschmann, N.
Bobsport
0 - 0 - 1
Tabelle 3: Medaillenanteile der Athletinnen und Athleten aus den alten und den neuen Bundesländern am Gesamtergebnis 2002
Alte Bundesländer:
Medaillen
Anzahl
Prozent
Goldmedaillen
4, 00
33,3
Silbermedaillen
6,25
39,0
Bronzemedaillen
1,25
18,0
Gesamt
11,50
32,9
Neue Bundesländer:
Medaillen
Anzahl
Prozent
Goldmedaillen
8,00
66, 6
Silbermedaillen
9,75
61,0
Bronzemedaillen
5,75
82,0
Gesamt
23,50
67,1
Tabelle 4: Anteile der Sportarten am Gesamtergebnis 2002
Sportart
Anzahl Diszpl.
Medail-len
Ränge 4-6
Punk-te
Welt-rangl.
Diff. 1998
Ski nordisch
18
2 - 5 - 1
4 - 2 - 1
60
2.
+ 52,0
Ski alpin
10
0 - 0 - 1
1 - 2 - 1
12
6.
- 32,0
Trick-Ski
4
Keine
Teilnah-me
- 5,0
Snow-Board
4
0 - 0 - 0
0 - 0 - 0
-
-
- 12,5
Biathlon
8
3 - 5 - 1
2 - 0 - 0
56
1.
+ 28,0
Eiskunstlauf
4
0 - 0 - 0
0 - 0 - 0
-
10.
- 4,0
Eisschnel-lauf
10
3 - 3 - 2
1 - 2 - 3
54
2.
+ 9,0
Short Track
8
0 - 0 - 0
0 - 0 - 0
-
-
-
Eishockey
2
0 - 0 - 0
0 - 0 - 1
1
7.
+ 1,0
Schlittensp.
3
2 - 2 - 1
1 - 0 - 1
32
1.
- 1,0
Bobsport
3
2 - 1 - 1
0 - 0 - 1
24
1.
+13,0
Curling
2
0 - 0 - 0
0 - 1 - 1
2,5
7.
+ 2,5
Skeleton
2
0 - 0 - 0
1 - 0 - 0
3
5.
+ 3,0
Gesamt
78
12-16 - 7
10 - 7- 9
244,5
1.
+54,5
Tabelle 5: Anteile der Frauen, Männer und Paare am Gesamter-gebnis 2002
Anzahl
Diszipl.
Medail-len
Ränge 4-6
Punkte
Differenz
zu 1998
Frauen
34
8 - 8 - 4
4 - 5 - 6
139,5
+ 0,5
Männer
42
4 - 8 - 3
6 - 2 - 3
105,0
+58,0
Paare
2
0 - 0 - 0
0 - 0 - 0
0
- 4,0
ZITATE
Pandoras Büchse war geöffnet...
Wenn Parlamente Resolutionen über Schiedsrichterentscheidun-gen im Eishockey verabschieden, Staatspräsidenten Erklärungen über B-Noten im Eiskunstlauf abgeben und Regierungen mit dip-lomatischen Verwicklungen wegen der Disqualifikation eines Short-Track-Läufers drohen, dann haben die Spiele wahrhaftig ein Prob-lem... Funktionäre, Politiker, die jede noch so kleine Entscheidung gegen ihr Land mit juristischen und politischen Mitteln bekämpfen. Die Tür dazu hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) selbst geöffnet... Das IOC konnte dem Drang des Populismus nicht widerstehen und gab dem Druck der amerikanischen Medien nach. Pandoras Büchse war geöffnet, die Folgen können verheerend sein. Nach dem Kniefall vor dem Fernsehsender NBC muss sich IOC-Präsident Jaques Rogge nun bei jeder künftigen abgelehnten Be-schwerde vorwerfen lassen, mit zweierlei Maß zu messen. Und Be-schwerden wird es hageln.
Der römische Kaiser Theodosius schaffte die antiken Olympischen Spiele 394 n.Chr. ab, weil sie „ein Ärgernis“ waren. Möglicherweise nicht die schlechteste aller Ideen.
MATTI LIESKE die tageszeitung, 25.2.02, S. 1
Alte Gräben wurden aufgerissen statt Brücken gebaut
Eigentlich sollten Olympische Spiele - selbsternannter Treffpunkt der Jugend der Welt - dazu dienen, die Mauern zwischen Nationen niederzureißen, und der globalen Gesellschaft eine verdiente Atempause ermöglichen. In Salt Lake City war das Gegenteil der Fall: Alte Gräben wurden aufgerissen statt Brücken gebaut und die „wichtigste Nebensache der Welt“ verlor ein weiteres Stück Glaub-
würdigkeit. Spätestens am letzten symbolhaft verregneten bezie-hungsweise verschneiten Olympia-Sonntag stand dreierlei fest. Erstens dass der Spitzensport ein Problem hat, mit dem er nicht fertig werden kann (oder will). Zweitens, dass es heute offenbar immer unmöglicher wird, mit Anstand zu verlieren. Und drittens, dass auch in olympischen Gefilden gegen die USA ist, wer nicht für sie ist.
Neue Zürcher Zeitung, 25.2.02, S. 35
...auch der Skilanglauf nicht mehr glaubwürdig
Vor einem Jahr war an den WM in Lahti das ganze finnische Lang-lauf-Team mit den Stars Myka Myllylä und Harri Kirvesniemi wegen EPO-Gebrauchs aufgeflogen. Der beste Finne in Soldier Hollow, Sami Pietila, verlor auf Mühlegg eine Ewigkeit von mehr als 13 Mi-nuten. Nach dem völlig dopingverseuchten Radrennsport, der nicht von innen her, sondern von Staatsanwälten in Frankreich und Ita-lien durchleuchtet wird, und der Leichtathletik, deren Hauptdarstel-ler, die Amerikaner, zu Hause durch ein Vertuschungskartell (auch aus Furcht vor Zivilklagen gedopter Athleten) geschützt werden, ist auch der Skilanglauf nicht mehr glaubwürdig.
PETER HARTMAN, Neue Zürcher Zeitung, 25.2.02, S. 33
„...aber die Politik ist beim Sport geblieben“
Sport soll unpolitisch sein, war stets eine Forderung des Westens gegenüber dem Sozialismus. Der ist inzwischen weg, aber die Poli-tik ist beim Sport geblieben. Das Glückwunschtelegarmm des Kanzlers betonte jedoch auch die modischen Akzente des deut-schen Teams. Pechsteins Schwarz-Rot-Gold-Perücke dürfte er nicht gemeint haben. Ist ja auch nicht so wichtig. Und während im Sportteil der Süddeutschen vom Tag nach Olympia ein nörgelnder Sportrezensent Pechstein den Rat gab, schon mehr anstellen zu müssen, um dahin zu kommen, wo Friesinger schon sei, „auf Seite 1“, lachte uns Deutschlands erfolgreichste Winterolympionikin just von der Titelseite derselben SZ-Ausgabe entgegen. Leichte Ab-stimmungsprobleme. So schön kann Sport sein. Der Westen ist eben auch nicht mehr, was er vielleicht nie war.
DETLEV LÜCKE, Freitag 10/2002, S. 12
Befehl: Olympiawerbung
Der größte Sponsor der deutschen Olympiamannschaft macht we-nig aus seinem Erfolg. Acht Olympiasiege hatten die deutschen Teilnehmer bis Dienstag errungen, acht Olympiasieger kommen von der Bundeswehr. Die Zuschauer bemerken das allerdings meist erst, wenn bei der Werbung für den Arbeitgeber Pannen passieren. "Au weia", sagte die Biathletin Andrea Henkel zum Auf-takt ihres ersten großen Fernsehinterviews als Olympiasiegerin, sie habe doch glatt vergessen, sich wie befohlen den Aufkleber ans Revers zu pappen. Kleben sie, fallen die kleinen Metallnadeln oder die blassen Aufkleber und Anstecker von 53 mal 63 Millimeter Größe mit der Aufschrift "Bundeswehr" kaum auf. "Man kann sie nicht lesen, und bei Nahaufnahmen sind sie schlecht plaziert", sagt Susanne Möckel vom Institut für Medienanalyse (IFM) in Karlsruhe, das ständig alle Fernsehprogramme in Deutschland auf Sponsorenwirkung hin verfolgt. Sie schätzt, daß das Abzeichen während der Spiele insgesamt nur etwa eineinhalb Minuten lesbar gewesen sein wird. Hochgerechnet mit den Preisen für Werbe-spots, ergibt das einen Wert von 85 000 Euro.
Das ist ziemlich schwach bei einem Einsatz von etwa 23 Millionen Euro pro Jahr. Soviel läßt sich der Bund die Unterstützung von Spitzensportlern durch das Militär kosten, Zoll und Bundesgrenz-schutz nicht mitgerechnet. Zum Vergleich.- Obi Baumärkte, War-steiner Brauerei und Ausrüster Adidas zahlen jeweils etwa 0,8 Mil-lionen Euro dafür, offizieller Partner der deutschen Olympiamann-schaft zu sein. Sie sind, durch flankierende-Werbung und im Falle Adidas optimale Plazierung auf der Kleidung der Athleten, prak-tisch bei jeder Übertragung präsent. "Das Logo der Bundeswehr und sein Einsatz erinnern eher an Mäzenatentum als an Sponso-ring", sagt Axel Bruchhausen, Senior Projektmanager bei der Köl-ner Agentur Sport + Markt. "Als förderten sie aus Liebe zum Sport." Das Militär als letzter Hort des Amateurismus?
Seit den Spielen in Sydney 2000 zeigen die Bundeswehr und ihre Sportler mit fliegenden Aufklebern, als Pappkameraden, Flagge auf dem Sportplatz, zumindest versuchen sie es. Der Chef des Streit-kräfteamtes in Bonn, Generalmajor Dieter Henninger, dem die 25 Sportfördergruppen mit mehr als 700 Sportsoldaten unterstehen, hat seine Olympiateilnehmer angewiesen, "die Bundeswehr-Logos (Anstecker/Pins/Aufkleber) mitzuführen sowie dieses Logo bei öf-
fentlichkeitswirksamen Auftritten deutlich sichtbar zu tragen". Die Spiele nennt er "eine herausragende Gelegenheit, erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler der Bundeswehr gegenüber der Offent-lichkeit deutlicher als bisher sichtbar zu machen und so zu einem Imagegewinn der Streitkräfte beizutragen"... Doch von Werbung ist nichts zu sehen. In der Tat wäre es zweischneidig, die in Salt Lake City so erfolgreich laufenden, rodeinden und schießenden Soldaten zu feiern und gleichzeitig mangelhafte Ausrüstung der Truppe in Kabul eingestehen zu müssen... Gäbe es nicht die Profis in Eisho-ckey, Skispringen und Snowboard sowie die Amateure im Curling, würde das deutsche Team dominiert von Staatsdienern, von denen wiederum die Mehrheit... Soldaten sind... Im Mai 1968 erteilte der Bundestag den Auftrag, "zur Förderung von Spitzensportlern bei der Bundeswehr Fördergruppen einzurichten". Die Olympischen Spiele von München standen vor der Tür, und der Ostblock hatte den Amateurparagraphen mit der Erfindung der Staatsamateure ausgehebelt: professionell trainierenden Athleten mit Pro-forma-Anstellung bei Armee, Polizei und volkseigenen Betrie-ben. Das Modell bewährt sich bis heute, da nicht mehr die Politik des Kalten Krieges den Sport beherrscht, sondern die Rendite-rechnung der werbetreibenden Wirtschaft...
Michael Reinsch, FAZ v. 21.2.2002
Spiele der Weißen
Es geht im Leistungssport gar nicht primär um den sportlichen Wettbewerb, sondern um die kommerzielle Konkurrenz. Man muss die Auftritte der Sportler als Werbeträger bloß genauer betrachten. Die Spektakel, und insbesondere die Olympiaden, gleichen großen PR-Festen. Die punzierten Akteure treten an als Idioten ihrer Wa-ren. Sie sind wandelnde Litfaßsäulen. Jeder Trainer, Betreuer, ja Servicemann muss mit Produkten und Etiketten seiner Marke vor der Kamera posieren. Skier, Schuhe, Stirnband, Overall, Pullover, kein Ort entgeht der Verwertung. Solch Großereignisse sind gera-dezu prädestiniert, das herzuzeigen, was man hat und deswegen ist. Wintertourismus und Skierfolge hängen ja ganz eng zusam-men... Das Bild der Idole, vor allem das der Naturburschen, ist frei-lich ein televisionäres Trugbild, eine Erscheinung folkloristischer Werbespots. Jene sind vielmehr hochgezüchtete industrielle We-sen, ständig trainiert, kontrolliert, diszipliniert. Arme Hunde, selbst
wenn sie reich geworden sind. Der extreme Verschleiß der Hoch-leistungssportler ist hingegen kaum Gegenstand der Debatten, we-der der chronische noch der akute. Der Alpine Skilauf wirft auf den Pisten seine Verletzten in Dutzenden ab, inklusive Querschnittsge-lähmte und Tote. Aber das sind die Kollateralschäden der weißen Arena. Auch die Politik darf in diesem Realszenario nicht fehlen. Anwesenheit ist Pflicht, Mitnaschen ist angesagt... Kaum wird ein Erfolg eingefahren, verschafft man sich über die exzessiven Sen-dezeiten zusätzliche Auftrittsmöglichkeiten. Immer mehr Politiker erkennen die Wichtigkeit des Sports, sind bereit, sich zu engagie-ren. Und das dankbare Publikum, es partizipiert und jubelt. „Sport ist das Ventil der Konkurrenzgier, ist Konkurrenz fürs Volk“, schreibt der Philosoph Günther Anders. Eine Um- und somit Ablei-tung des Solidaritätsgefühls. Unterhaltung pur ist angesagt. Spit-zensport ist ideelles Zuckerbrot für reell Gepeitschte. Nichts wird besser, aber man fühlt sich besser... Bereits der Gründer der mo-dernen Olympischen Spiele, der französische Baron de Coubertin (1863-1937), sprach davon, deren Aufgabe sei, dass „die gute so-ziale Laune fließen“ soll. Zweifellos, die fließt. Der passiv konsu-mierte Sport funktioniert so wie Alkohol. Um uns nicht misszuver-stehen, wir propagieren hier keinen Entzug,... wir wollen nur dezi-diert darauf hinweisen, was da in den national geprägten Subjekten abgeht. Mit dem Medaillenspiegel ist es übrigens ähnlich wie mit dem Alkoholspiegel: Je höher er, desto besoffener man. Der we-sentliche Unterschied ist aber der, dass der letztgenannte Rausch zumindest als ein solcher wahrgenommen wird, was für den ersten absolut nicht gilt.
FRANZ SCHANDL, Freitag, 22.2.02, S. 19
DISKUSSION/DOKUMENTATION
Wie die deutsche Olympiamannschaft 1960
zustandekam
Von KLAUS HUHN
Die XVII. Olympischen Sommerspiele fanden vom 25. August bis 11. September statt. Wie 1956 in Melbourne ging auch in Rom eine Mannschaft an den Start, die aus Athleten beider deutscher Staa-ten gebildet worden war. Die Nationalen Olympischen Komitees der BRD und der DDR kamen in einer ersten Beratung am 27. Juni 1959 im Kurhotel auf dem Petersberg bei Bonn überein, daß die 1956 vom IOC-Präsidenten Brundage gefällte Entscheidung auch 1960 gelten würde, wonach die Seite den Chef de Mission stellt, die die Mehrzahl der bei Ausscheidungen in allen olympischen Sportarten ermittelten Athleten aufbietet. Vereinbart wurde auch: „Als Hymne wird ‘Freude schöner Götterfunken’ festgelegt. Fahne ist Schwarz-Rot-Gold.“1)
Auf einer weiteren Zusammenkunft der beiden Komitees am 5. September 1959 auf der Wartburg unterbreitete das NOK der DDR den Vorschlag, die Athleten beider Länder mit unterschiedlichen Emblemen auf ihrer Wettkampfkleidung antreten zu lassen. Der Vorschlag wurde von Seiten der BRD strikt abgelehnt. „Von west-deutscher Seite wurde vor allem in der Pressekonferenz versucht, den Vorschlag des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, in der gemeinsamen Mannschaft die Embleme beider Länder zu tra-gen, als einen Versuch auszulegen, den ‘guten Geist’ der gemein-samen Mannschaft zu stören... Jeder, der auf der Wartburg am runden Tisch saß, spürte in jeder Minute der Verhandlungen, daß hier nicht nur die Delegierten zweier Olympischer Komitees, son-dern auch Menschen aus zwei verschiedenen Staaten saßen.“3), kommentierte „Neues Deutschland“ aus östlicher Sicht.
Noch ehe weitere Vereinbarungen über die Details der Ausschei-dungen getroffen wurden, ergaben sich durch einen Beschluß der Volkskammer der DDR völlig neue Aspekte im Hinblick auf die Flagge der Mannschaft. Im Verlauf der 7. Tagung am 30. Septem-ber und 1. Oktober 1959 wurde ein Gesetz zur Änderung des Staatswappens und der Staatsflagge der DDR beschlossen. Da-nach wurde ein Ährenkranz mit Hammer und Zirkel ins Zentrum der
schwarz-rot-goldenen Nationalflagge gerückt. Beide deutsche Staaten hatten nun also unterschiedliche Staatsflaggen.
Die Organisatoren der Winterspiele in Squaw Valley (USA) sahen sich als erste mit diesem Problem konfrontiert und konsultierten den Kanzler des IOC, Otto Mayer (Schweiz). Es heißt, daß Mayer zu dem Zeitpunkt, da ihn der Brief aus Squaw Valley erreichte noch nicht über den Volkskammerbeschluß informiert war. Das ist wahr-scheinlich, da Schweizer Zeitungen nur sporadisch über Gescheh-nisse in der DDR berichteten. Zudem war der Kanzler nur neben-amtlich im IOC tätig. Er betrieb ein renommiertes Juweliergeschäft in Lausanne und kam in der Regel nur in der Mittagsstunde, wenn er seinen Laden geschlossen hielt, in das Büro des IOC. Er schrieb einen Brief nach Squaw Valley, in dem es hieß: „...informiere ich Sie, daß die vereinte deutsche Mannschaft unter einer einzigen Flagge zu erscheinen hat: Schwarz-Rot-Gold, die ihre Flagge ist. Es kann weder eine andere Fahne noch irgendwelche Wappen da-rauf geben.“2) Da Mayer, korrekt, wie er war, eine Kopie des Briefes an das NOK der DDR schickte, wurde man dort hellhörig. Es wird behauptet, daß von Berlin aus gefordert wurde, zwei Flaggen der Mannschaft voranzutragen, doch fanden sich darüber nirgendwo Unterlagen. (Die Bereitschaft des NOK, Auskünfte an Personen aus den neuen Bundesländern zu geben, ist nicht sonderlich groß. So erhielt der Autor von Präsident Tröger nicht einmal eine Antwort auf die Bitte, ihm einige Fragen zu beantworten.) Wie schon vier Jahre zuvor, als der IOC-Präsident Brundage als „Hauptschieds-richter“ in allen zwischen den beiden deutschen NOK nicht zu klä-renden Fragen fungierte, wurde er auch in diesem Fall befragt. Er sandte ein Telegramm folgenden Wortlauts an Willi Daume: „IOC-Präsident Brundage entscheidet für gesamtdeutsche Mannschaft Verwendung der fünf Ringe im roten Teil der deutschen Fahne, gültig für Fahne und Wappen.“4)
Da er im Gegensatz zum Kanzler Mayer das NOK der DDR nicht informierte, präsentierte Daume es am nächsten Tag in Ostberlin seinen Partnern, da man - ohne zu wissen, wann Brundage welche Entscheidung treffen würde - für den 19. November die nächste Zusammenkunft beider Verhandlungsdelegationen vereinbart hat-te.
Man traf sich im Hotel „Johannishof“ und die Sitzung begann damit, daß das Mitglied der westdeutschen Verhandlungsdelegation Kö-
nig das Kabel des Saaltelefons aus der Steckdose riß und den überraschten Gastgebern erklärte: „Damit unsere Gespräche nicht auf Band genommen werden können.“5) Die um 10 Uhr vormittags begonnenen Gespräche endeten um 22 Uhr. Das vereinbarte Kommuniqué lautete: „Es wurde beschlossen: 1. Für beide Vertre-tungen gilt eine Fahne und ein Emblem. Es sollen die Farben Schwarz-Rot-Gold und die Olympischen Ringe verwendet werden. Das West-NOK verweist auf ein Telegramm des IOC-Präsidenten Brundage, der entschieden hat, daß die Ringe im roten Teil der Fahne verwendet werden sollen. Das Ost-NOK schlug vor, die Ringe auf weißem Untergrund in die Fahne aufzunehmen.
2. Das Ost-NOK erklärt, daß weder Prämien noch andere finanziel-le Zuwendungen an sowjetzonale Sportler gezahlt worden sind. Beide NOK-Vertretungen wollen die Aufstellung der gesamtdeut-schen Mannschaft nach den Amateurbestimmungen und IOC-Statuten vornehmen.
3. Da über das Eishockey-Ausscheidungsspiel am 9. Dezember in Garmisch keine einheitliche Meinung erzielt werden konnte, sollen die Fachverbände am kommenden Sonntag in München noch ein-mal beraten.
4. Im Radsport soll die offizielle Olympia-Ausschreibung des Inter-nationalen Verbandes abgewartet werden. Dann werden die NOK-Vertreter mit den Fachverbänden noch einmal beraten.
5. Die nächste Zusammenkunft findet am 12. Dezember in Hanno-ver statt.“6)
Der Punkt 2 der Vereinbarung resultierte aus der Tatsache, daß das NOK der BRD mehrfach behauptet hatte, das NOK der DDR verletze den Amateurstatus. Später schickte Daume sogar notariell beglaubigte Erklärungen mit solchen Beschuldigungen an das IOC, die dort allerdings nie offiziell zur Kenntnis genommen wurden.
Was sich nach der Rückkehr der BRD-Delegation aus Ostberlin zu-trug, beschrieb „Der Spiegel“ in einem ausführlichen Bericht: „Im-merhin: Die Fahne lag nun fest, und wenn der Sowjetzone die Ähn-lichkeit mit der Bundesflagge zu groß war, dann konnten ihre Bür-ger eben nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen.
Die westdeutschen Unterhändler meinten, ein gutes Ergebnis er-zielt zu haben. Die DDR war durch IOC-Beschluß gezwungen, auf ihr Hammer- und Zirkel-Emblem völlig zu verzichten und würde bei
den Spielen als selbständiger Staat überhaupt nicht in Erscheinung treten.
An diesem Punkt der Entwicklung kam dem Kanzler Konrad Ade-nauer jene Glosse der ‘Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ vor Au-gen, in der fälschlich behauptet wurde, das IOC habe sich auf die Bundesflagge festgelegt, und das westdeutsche Komitee habe trotzdem östlichem Druck nachgegeben. Stunden später war der Bonner Kabinettsbeschluß perfekt, den Unterhändlern des West-NOK ihre Bereitschaft zu nationaler Würdelosigkeit bescheinigte... Rasch wurde offenbar, wie sehr Konrad Adenauer mit seinem Ka-binettsbeschluß danebengegriffen hatte. Die Opposition überschlug sich. Der SPD-Pressedienst fand, der Sport müsse ‘aus den Niede-rungen der Tagespolitik herausgehalten’ werden - womit er die ‘Zeit’ zu der Empfehlung anregte: ‘Heraus aus den Niederungen der Parlamente, hin zu den Fußballplätzen, wo die hohen Ideale herrschen.’ Der gesamtdeutsche Ernst Lemmer (gemeint ist der damalige Minister für gesamtdeutsche Fragen. A.d.A.) hielt sich etwas darauf zugute, an der Kabinetts-Sitzung nicht teilgenommen und statt dessen von Berlin aus per Radio verkündet zu haben, die Flaggenfrage sei allein Sache der Sportverbände.
Konrad Adenauer beschloß, den Frieden mit Methoden wieder her-zustellen, die bei ihm noch selten versagt haben: Er lud den Präsi-denten des Deutschen Sportbundes, Willi Daume, zu einem per-sönlichen Gespräch ein, um ihn auf seine Linie zu bringen.
Felix von Eckardt, intimer Kenner aller Kanzlerschliche, bot Wetten an, daß es geIingen werde, den Sportführer umzustimmen. Daume ließ wissen, er werde den Präsidenten des NOK-West, Ritter von Halt, mitbringen.
So marschierten die beiden Sportmenschen am Mittwoch letzter Woche um 18.45 Uhr zur Gehirnwäsche ins Kanzlerarbeitszimmer im Bonner Palais Schaumburg. Konrad Adenauer hatte Außenmi-nister von Brentano, Innenminister Schröder, die Staatssekretäre Globke und von Eckardt dazugebeten. Ernst Lemmer, in dessen Ressort die zu behandelnden Fragen entscheidend fielen, war wi-der eigenes Erwarten nicht gebeten worden.
Willi Daume hatte sich zu Hause auf eine Rede über Olympia ges-tern, heute und morgen vorbereitet, die er vortrug. Er wies darauf hin, daß Finnland und Böhmen vor 1914 eigene olympische Mann-schaften mit eigenen Fahnen hatten, obgleich diese Länder zu
Rußland beziehungsweise Österreich-Ungarn gehörten, er erzählte davon, daß das Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg als Nation an den Olympischen Spielen teilnahm, und er gab zu bedenken, daß Nordkorea und Südkorea auch olympisch völlig unabhängig voneinander auftreten.
Nach dieser Darstellung dessen, was im olympischen Bereich möglich gewesen ist, wurde Daume konkret und zählte auf, welche Möglichkeiten er sehe, wenn es nicht bei dem Beschluß des IOC - Bundesflagge mit Olympiaringen - bliebe:
• die Deutschen ziehen ohne Fahne auf,
• sie kommen nur mit der Bundesfahne,
• sie kommen mit zwei Fahnen,
• sie kommen überhaupt nicht.
Die Möglichkeiten eins und zwei hält Daume nicht für durchsetzbar, die Fälle drei und vier für nicht akzeptabel.
Daume, selbst Mitglied des IOC, kennt die Unlust seiner Kollegen, sich dauernd mit den streitenden Deutschen befassen zu müssen, die sich heute nicht über eine gemeinsame Mütze und morgen nicht über eine gemeinsame Fahne einigen können.“ (Der Hinweis auf die Mütze resultierte aus der Entscheidung der beiden NOK wegen des Streits über die Frage, ob die Kopfbedeckung beim Einmarsch in Squaw Valley aus Ost oder West geliefert werden soll, ohne Kopfbedeckung einzumarschieren und bei Schnee aus-zulosen, welche Kopfbedeckung benutzt werden sollte. A.d.A.) „...Daume machte dem Kanzler einen Kompromißvorschlag: Ob man die neue Fahne - analog zur Bundespostflagge mit dem Post-horn - nicht zur Bundessportflagge erklären könne: „Der Vorschlag kommt aus Ihren eigenen Reihen.“ Daume hatte ihn im Westberli-ner „Kurier“ gelesen, der den Christdemokraten nahesteht und für den früher der gesamtdeutsche Minister Lemmer als Verleger zeichnete.
Aber Konrad Adenauer blieb starr. „Die Lage ist so ernst wie noch nie“, sagte er, „wir können dem Druck aus dem Osten nicht nach-geben.“ Und: „Sagen Sie mal den Franzosen oder Engländern, sie, sollten ihre Fahne ändern, was meinen Sie, was die antworten.“
Eine Alternative zu der IOC-Flaggenlösung hatte Konrad Adenauer allerdings nicht parat. „Akzeptieren Sie die Bundesflagge“, meinte er, „es wird dann schon alles klar gehen.“ Wie, verriet er nicht.
Eine Chance wäre, den IOC-Beschluß über die Fahne, dem die DDR schon zugestimmt hat, zugunsten Bonns zu ändern - eine Möglichkeit, die Daume meint ausschließen zu müssen, zumal Kanzler Mayer aus der Schweiz drohte: „Die Mannschaft, die nicht hinter dieser Flagge marschieren will, muß auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen verzichten.“
Elegant zog sich Willi Daume aus der Zwickmühle des Bundes-kanzleramtes. Im Sport, sagte er, sei es nicht so, daß der Vorsit-zende die Richtlinien bestimme: Am kommenden Sonntag soll das Nationale Olympische Komitee der Bundesrepublik Deutschland darüber entscheiden, ob es lieber dem Kanzler Mayer oder dem Kanzler Adenauer folgen will.“7)
In der „Frankfurter Rundschau“ kommentierte der spätere Bundes-pressechef Conrad Ahlers (CDU) am 23. November: „Bei seinem Beschluß ließ sich das Bonner Kabinett von folgenden Gedanken-gängen leiten: Erstens sei es nicht einzusehen, warum man in die-ser Frage der Sowjetzone nachgeben solle, die ja schließlich durch ihre neue Fahne den ganzen Streit vom Zaune gebrochen habe. Zweitens sei es unzumutbar, daß der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees einfach eine neue deutsche Flagge vor-schreibe. Und drittens würde der Bonner Kampf gegen die ‘Spalter-Fahne’ im Ausland unglaubwürdig werden, wenn man in dieser Sa-che so ohne weiteres die eigene Fahne streichen würde.“8)
Ahlers räumte dann ein: „Wir müssen allerdings berücksichtigen, daß hier doch ein Sonderfall vorliegt und daß der Vorschlag des Olympischen Komitees einen im Grunde annehmbaren Ausweg aus der verfahrenen Lage eröffnet... Wir meinen, es sei das höhere Ziel, eine gesamtdeutsche Mannschaft zu stellen.“9)
Der IOC-Kanzler äußerte sich in einem Interview: „Es ist nicht die Ansicht des IOC, daß die Sportler der DDR unter der Bundesflagge zu marschieren haben. Wir heißen die Einmischung der Regierung von Bonn nicht gut.“10)
Am Sonntag, dem 6. Dezember 1959, versammelten sich die Mit-glieder des Nationalen Olympischen Komitees der BRD im Conti-Hochhaus in Hannover. Die Situation hatte sich vor der Abstim-mung noch zugespitzt, nachdem der Bundespressechef Felix von Eckardt den in einer Bonner Pressekonferenz versammelten Jour-nalisten eine Wette angeboten hatte, daß das NOK den Wünschen Adenauers entsprechen würde. Zudem hatte die „Welt“ am Tag vor
der Zusammenkunft in Hannover gedroht: „Die Flagge ist ihre Chance. Die letzte, um die Luft zu reinigen und sich selbst Ent-schlußfreiheit zu bewahren.“11)
Die Debatte unter den 27 ordentlichen und persönlichen Mitglie-dern des NOK dauerte nur 20 Minuten. Dr. Danz, Präsident des Leichtathletikverbandes, hatte eine geheime Abstimmung vorge-schlagen. Er wurde unterstützt vom Präsidenten des Ruderverban-des, Dr. Wülfing. Dagegen wandte sich der Präsident des Schwimmverbandes, Beier. Der Antrag von Danz wurde gegen drei Stimmen abgelehnt. NOK-Präsident Ritter von Halt las die Namen der Mitglieder vor, nachdem er alle Anwesenden aufgefordert hat-te, laut mit „Ja“ oder „Nein“ zu antworten. 27mal wurde mit „Ja“ und damit für den Antrag gestimmt, die vom IOC empfohlene Flagge zu akzeptieren.
Ich fragte damals den Bundespressechef von Eckardt, wie er seine Wettschulden zu begleichen gedenke. Er antwortete mir: „Durch eine Spende an das Rote Kreuz.“
Nachdem die Abstimmung in Hannover die Voraussetzung für eine Mannschaft beider deutscher Staaten geschaffen hatte, ging es um die Ausscheidungen in den einzelnen Sportarten. Auch da waren Querelen zu erwarten. Der in Westberlin erscheinende „Kurier“ re-sümierte die Situation Anfang November: „In der überwiegenden Zahl der 17 auf dem Programm stehenden Sportarten bedarf es im Hinblick auf die Bildung der deutschen Mannschaft für die nächst-jährigen Olympischen Sommerspiele in Rom noch Verhandlungen zwischen den Fachverbänden der Bundesrepublik und der Sowjet-zone. Nur in wenigen Sportarten sind sich die betreffenden Fach-verbände über den Austragungsmodus zur Ermittlung der Olympia-teilnehmer einig...
Anfang November ergibt sich folgender Überblick:
FUSSBALL: Nach zwei Erfolgen über die Zonen-Elf bilden die DFB-Amateure die Vertretung Deutschlands. DFB-Wunsch von der Zone abgelehnt, einzelne Spieler für gesamtdeutsche Elf abzustellen. Somit Qualifikationsspiele der DFB-Elf um Teilnahme in Rom gegen Finnland und Polen.“12)
Zu erwähnen wäre hier, daß die schwierigen Verhandlungen der beiden Fußballverbände auf westdeutsche Forderung mit dem Er-gebnis geendet waren, zwei Spiele ohne Zuschauer auszutragen. Sie fanden 16.9.1959 in Ostberlin und am 23.9.1959 in Düsseldorf
statt. Das erste endete 2:0 für die BRD-Elf, das zweite 2:1 Die aus-schlaggebenden Qualifikationsspiele gegen Polen verlor die BRD im April 1960 in Essen 1:3 und in Warschau 0:3.
„LEICHTATHLETIK: Ausscheidungswettbewerbe am 16./17. Juli (Marathon, 50-km-Gehen, 10.000 m, Zehnkampf) und am 6./7. Au-gust (übrige Einzelwettbewerbe, Staffeln, 20-km-Gehen) in der Sow-jetzone und in der Bundesrepublik. Nächste Besprechung am 12. Dezember in Ostberlin.
BOXEN: Bisher keine offiziellen Verhandlungen. DABV-Vorschlag Ausscheidungsturnier zwischen den beiden besten Boxern jeder Gewichtsklasse der Bundesrepublik und der Zone wie 1956 in West- und Ostberlin. Die zehn Sieger sollen nach Rom.
RINGEN: Einigung darüber, daß je acht Ringer in beiden Stilarten nach Rom sollen... Nächste Besprechung am 26. Februar in Saar-brücken.
GEWICHTHEBEN: Erste Besprechung voraussichtlich im Novem-ber in München. Auswahl nach dem Leistungsprinzip.
FECHTEN: Bisher keine Verhandlungen, aber vermutlich Verzicht der Zone.
RUDERN: Bisher noch keine Besprechungen, DRV der Bundesre-publik mit Ausscheidungsrennen einverstanden, die aber turnus-gemäß in der Bundesrepublik stattfinden müssen.
SCHWIMMEN: Erste Beratungen über Schwimmen, Wasserball und Springen am 14./15. November in Leipzig. Im Wasserball Deutschland auf Grund des sechsten Platzes in Melbourne ohne Ausscheidung für Rom qualifiziert.
BASKETBALL: Im Prinzip einig, in Ausscheidungsspielen stärkste Vertretung zu ermitteln, die sich dann beim Turnier in Bologna (Au-gust) für Rom qualifizieren muß. Sowjetzone dafür, daß Sieger der Ausscheidungsspiele Vertreter Deutschlands ist. Deutscher Bas-ketball-Bund für Nominierung der Spieler unabhängig vom Aus-gang der Spiele. NOKs entscheiden.
RADSPORT: Besprechungsergebnis von Stuttgart: Zone stellt Fah-rer in allen Straßenrennen und auch im Vier-Kilometer-Mannschaftszeitfahren, wenn BDR-Mannschaft Mailänder Zeit der Zonenmannschaft nicht erreicht. Sonst Ausscheidungsrennen... BDR zog inzwischen Zustimmung zu Stuttgarter Beschlüssen zu-rück, Zone lehnt neue Verhandlungen ab.
REITEN: Besprechungen nicht vorgesehen. Vertretung stellt die Bundesrepublik.
SEGELN: Sowjetzone an Beteiligung in den Bootsklassen Stare, Drachen und 5,5-m-Jachten nicht interessiert. Im Finndinghi und Flying Dutchman kamen geplante Ausscheidungsregatten in Kiel, Travemünde und Warnemünde nicht zustande. Neue Verhandlun-gen nötig.
KANU: Deutscher Kanu-Verband der Bundesrepublik für zwei Aus-scheidungsregatten (nur Einzelrennen) in der Sowjetzone und in der Bundesrepublik. Danach gemeinsame Aufstellung der Vertre-tung. Bisher keine Antwort des Zonenverbandes.
TURNEN: Einladung der Zone zu einem Gespräch Ende Oktober vom DTB der Bundesrepublik nicht angenommen, der Verhandlun-gen nach vorjährigen Angriffen ablehnt.
HOCKEY: DHB der Bundesrepublik zu Ausscheidungsspielen mit der Zone bereit. DHB möchte Hamburg als Ort der ersten Bespre-chung, nicht Leipzig, wie vom Zonenverband vorgeschlagen, da DHB-Präsident Reinberg wegen schwerer Krankheit reiseunfähig. Deutschland als Vierter von Melbourne ohne Qualifikation für Bonn teilnahmeberechtigt.
MODERNER FÜNFKAMPF: Bisher keine Verhandlungen, Bundes-republik für zwei Ausscheidungs-Wettkämpfe in der Zone und in der Bundesrepublik nach 1000-Punkte-Wertung, dann Addierung der Punkte der Kämpfe und Nominierung der vier Besten.
SCHIESSEN: Keine konkreten Abmachungen bei erster Bespre-chung in Mailand getroffen. Deutscher Schützenbund der Bundes-republik zu Ausscheidungskämpfen bereit, wenn sie von der Zone verlangt werden.“13)
Noch im November begann der Marathon der Verhandlungen und der Ausscheidungen, in dessen Verlauf unzählige Hürden zu neh-men waren.
BASKETBALL: Die DDR gewann beide Spiele deutlich. Der West-berliner „Telegraf“ schrieb nach dem ersten Spiel in Halle: „Es bleibt nur zu hoffen, daß die Burschen im zweiten Treffen mit einer besseren Einstellung gegen die DDR antreten. Sonst gute Nacht, Herr Kartak“14) (Kartak war der Trainer der BRD-Mannschaft.) Der BRD-Verband weigerte sich, der Olympia-Nominierung der DDR-Mannschaft zuzustimmen, so daß erst ein Machtwort der beiden NOK für die Nominierung sorgte. Im Qualifikationsturnier in Bolog-
na unterlag die DDR im entscheidenden Gruppenspiel Kanada mit 60:61 und mußte damit ihre olympischen Hoffnungen begraben.
BOXEN: In Westberlin und Schwerin wurden Vorkämpfe in je fünf Gewichtsklassen ausgetragen. Die Sieger ermittelten in Schwerin und Westberlin die Olympiateilnehmer. Die beiden Verbände hat-ten sich darauf geeinigt, zwei internationale Richter einzuladen, von denen einer als Ringrichter und der zweite gemeinsam mit je einem Punktrichter aus der DDR und der BRD als Punktrichter am-tierte. Beim Auftakt am 1. Juli in Westberlin kam es zu Tumulten, weil am Ring sitzende Zuschauer den tschechischen Punktrichter Oplustil als „Kommunistensau“ beschimpft hatten. Am Ende setz-ten sich sechs BRD-Boxer und vier DDR-Boxer durch.
FECHTEN: Es wurden Ausscheidungen in allen Waffenarten ausge-tragen. Kein DDR-Fechter konnte sich qualifizieren. Alle 21 Fechter stellte die BRD.
GEWICHTHEBEN: Ausscheidungen wurden in Meißen und Mün-chen ausgetragen. Sechs der sieben Gewichtheber stellte die DDR, im Mittelgewicht setzte sich die BRD durch.
HOCKEY: Mit 3:0 gewann die BRD das erste Spiel in Köln, durch ein überraschendes 4:1 in Jena zog die DDR gleich. Das dritte Spiel endete in Köln 0:0, das vierte in Jena am Pfingstsonntag 1960 mit 3:0 für die BRD, deren Elf sich damit qualifizierte.
KANU: Die beiden Ausscheidungen auf dem Chiemsee (BRD) und dem Bardenslebener See (DDR) endeten jeweils mit 4:3-Siegen der Gastgeber. Nach der zweiten Regatta wurde das Aufgebot oh-ne Querelen nominiert: Sechs Kanuten aus der BRD und sieben aus der DDR.
LEICHTATHLETIK: Der Auftakt der Ausscheidungen fand in Schweinfurt statt. Hans Grodotzki gewann im 10.000-m-Lauf mit deutschem Rekord (28:57,8 min) vor Hönicke (DDR) und Xaver Höger (BRD). Mit einem Eklat endete der Zehnkampf. Die FAZ sah das so: „Das Kampfgericht disqualifizierte den Ost-Berliner Grogo-renz wegen mehrfachen Behinderns des jungen Bock über 1500 m, so daß Grogorenz in dieser Konkurrenz ohne Punkte blieb.“15) Das ND schilderte den Sachverhalt so: „Grogorenz, seiner Nomi-nierung bereits sicher, setzte sich einige Male vor den an dritter Stelle liegenden Bock, der immer wieder antreten mußte. Grogo-renz tat das für den an der Spitze laufenden Walter Meier. Daß ei-nige Zuschauer pfiffen, hätte man menschlich verstehen können.
Daß westdeutsche Kampfrichter Grogorenz disqualifizierten, war schon nicht mehr verständlich und auch nicht zu akzeptieren, zu-mal die dem Kampfgericht angehörenden DDR-Vertreter gar nicht um ihre Meinung gefragt worden waren.“16) Das bald darauf im ND veröffentlichte Wettkampfprotokoll wies Grogorenz mit seiner Lauf-zeit von 4:38,2 min zwar als Vierten aus, gab auch die nach der Zehnkampftabelle dafür zu vergebenden 430 Punkte an, enthielt aber in einer nachträglich eingefügten Bemerkung die Disqualifika-tion von Grogorenz. Die Beratung der beiden Verbände, in der der Streitfall geklärt werden sollte, fand in Gegenwart der beiden inter-nationalen Schiedsrichter Paulen (Niederlande) und Knenecky (CSR) statt, dauerte fünf Stunden und zum Programm gehörte auch die Vorführung des Films von Schweinfurt. Beide Schiedsrich-ter „bestätigten, daß - nach diesem Dokument zu urteilen - Grogo-renz in keiner Phase unfair gehandelt hatte. Nach den Bestimmun-gen der internationalen Leichtathletik-Föderation dürfen jedoch Fo-tos und Filmaufnahmen, die nicht vom Zielgericht stammen, als Beweise nicht anerkannt werden. So blieb schließlich allein der Vorschlag des Holländers Paulen, den Bundeswehroffizier und Klaus Grogorenz am kommenden Wochenende einen neuen Zehnkampf bestreiten zu lassen. Die Fachleute waren sich einig, daß dies nichts als eine Prestigeprobe ohne sportlichen Sinn ge-blieben wäre. So stimmte der Westverband schließlich doch zu, Grogorenz zu nominieren.“17) Das war 21 Tage nach dem Wett-kampf. Die übrigen Entscheidungen in der Leichtathletik fielen oh-ne Zwischenfälle. Von den 105 zu meldenden Athleten stellte die BRD 57 und die DDR 48. Das herausragende Ergebnis der Aus-scheidungen in Hannover und Erfurt war der Weitsprungweltrekord von Hildrun Claus (DDR) mit 6,40 m.
MODERNER FÜNFKAMPF: Es fanden Ausscheidungen in Waren-dorf (BRD) und Halle (DDR) statt. Gemeldet wurden drei BRD-Fünfkämpfer und als Ersatz ein DDR-Vertreter.
RADSPORT: Der schon erwähnte ursprüngliche Verzicht der BRD auf Ausscheidungen bei den Straßenfahrern wurde rückgängig gemacht, indem man den Präsidenten des BRD-Verbandes zum Rücktritt bewog und danach die Gültigkeit der von ihm unterschrie-benen Vereinbarungen angefochten wurde. Man einigte sich auf zwei Ausscheidungen, die von der DDR überzeugend gewonnen wurde. Alle fünf Straßenfahrer kamen aus der DDR. In den Bahn-
wettbewerben gab es großen Ärger, den die FAZ so beschrieb: „So schön der Gedanke einer gesamtdeutschen Olympiamannschaft ursprünglich war, der Weg dorthin ist verschmutzt und verseucht. Die Qualifikationsspiele, -rennen, -turniere beider Verbände tragen sehr wenig dazu bei, das Zusammengehörigkeitsgefühl dieser deutschen Sportler und Sportfunktionäre zu stärken. Ist das noch eine Suche nach den Besten im Lande, die Deutschland bei den Weltspielen vertreten sollen? Bewegt man sich hier noch in Regeln sportlicher Gesetze? Nein, man verläßt sie immer mehr und stem-pelt die Ausscheidungswettbewerbe zu politischen Prestigekämp-fen, die unschön und peinlich sind... Bei den Bahnradfahrern erga-ben sich besonders ungünstige Voraussetzungen... Flieger- und Tandemrennen sind aber stark von der Taktik abhängig, und nicht nur bei diesen Ausscheidungen wird mit Ellenbogen, Einbiegen, Hochfahren und allerlei Mätzchen gearbeitet... Proteste gab es schon beim ersten Rennen in Forst. Während die Männer der Sow-jetzone ein internationales, neutrales Kampfgericht anfordern woll-ten, meinte man in der Bundesrepublik, ein paritätisch zusammen-gesetztes Kampfgericht genüge. Über ihm thronte als Schiedsrich-ter der jeweilige Verbandspräsident, in Forst Werner Scharch, in Frankfurt Erwin Hauck aus Gießen. Diesem Umstand aber scho-ben es die westdeutschen Fahrer zu, daß ihre Proteste in Forst abgelehnt wurden, obwohl sie sich kraß behindert fühlten. Das schaffte bei ihnen eine Atmosphäre unter dem Motto ‘Revanche für Forst’. Peter/Stäber wurden nun genauso Disqualifikationssieger und fahren nach Rom wie der West-Berliner Flieger Günther Kaslowski, dessen Protest man behandelte, wie die Proteste in Forst behandelt wurden. Nicht die Besten, sondern die Glücklichen und Bevorteilten unter Gleichwertigen haben sich qualifiziert. Ein Ergebnis, das nicht befriedigt. Natürlich hatten auch die Funktionä-re der Sowjetzone ein Recht zu Klagen... In den Diskussionen. die noch im gemeinsamen Quartier in der Nacht geführt wurden, machte man sich selten von subjektiver Betrachtung frei.“18)
Die Entscheidung über die Vierermannschaft auf der Bahn fiel nach langen Verhandlungen durch einen Vergleich auf der Vigorellibahn in Mailand, wo das DDR-Quartett die bessere Zeit erzielte.
REITEN: Die gegen den Willen des BRD-Verbandes von den NOK durchgesetzten Verhandlungen endeten mit der Nominierung der Springreiter Hans-Günter Winkler und Fritz Thiedemann (beide
BRD). Die beiden anderen Starter wurden durch Ausscheidungen in Elmshorn und Halle ermittelt. Zitat aus der FAZ nach der ersten Ausscheidung: „In Elmshorn gab es sowohl durch Alwin Schocke-möhle als auch bei dem Spitzenvertreter der Zone, Manfred Nietz-schman, eine ‘Panne’, die sie im Kampf um die Rom-Fahrkarten aussichtslos zurückgeworfen hätten, wenn nicht gerade ihnen das zweite Pferd zur Verfügung gestanden hätte (je ein Reiter beider Verbände darf mit zwei Pferden starten)... Ein Sturz oder ein zufäl-liges Verweigern eines westdeutschen Vertreters kann zum Bei-spiel in Halle den Zonenvertreter vor oder zwischen die beiden in-ternational erprobten Reiter der Bundesrepublik und damit nach Rom bringen.“19) Alwin Schockemöhle (BRD) und Manfred Nietz-schmann (DDR) qualifizierten sich in Halle, doch weigerte sich der BRD-Verband das Resultat von Halle anzuerkennen. Nach endlo-sen Verhandlungen wurde eine dritte Ausscheidung angesetzt, die am 18. August - zu diesem Zeitpunkt hatten die ersten Aktiven be-reits das olympische Dorf in Rom bezogen - in Bochum ausgetra-gen wurde. Nach dem ersten Umlauf führte Nietzschmann auf „Seegeist“ vor Schockemöhle auf „Ferdl“, nach dem zweiten Um-lauf führte Schockemöhle vor Nietzschmann. Beide hatten sich damit qualifiziert.
RINGEN: Die Ausscheidungen verliefen ohne Zwischenfälle. Im griechisch-römischen Stil setzten sich sechs BRD-Ringer und zwei DDR-Athleten durch, im Freistil lautete das Verhältnis 4:4.
RUDERN: Im Einer setzte sich Achim Hill (DDR) durch, im Zweier o.St. Neuling/Weigel (DDR). Alle anderen Bootsklassen stellte die BRD. Reibungslos verliefen allerdings auch diese Ausscheidungen nicht. Hill hatte im Einer-Rennen den Vize-Europameister Klaus von Fersen nach der Hälfte der Distanz hinter sich gelassen. Als von Fersen kurz darauf kenterte, brach Schiedsrichter Wallbaum den Lauf wegen „Verdachts eines technischen Schadens“ ab. Das Rennen wurde wiederholt. Hill und der zweite DDR-Ruderer Hel-mut Gerds ließen von Fersen weit hinter sich.
SCHIESSEN: In sechs Disziplinen qualifizierten sich sechs DDR-Schützen und vier BRD-Schützen.
SCHWIMMEN: Noch vor den ersten Ausscheidungen gab es eine Kontroverse, weil der Internationale Verband mehrere DDR-Schwimmer wegen eines Starts in China - damals noch nicht Mit-glied der Föderation - nicht starten lassen wollte. Nach einer Inter-
vention des Ehrenpräsidenten des BRD-Verbandes, Bernhard Bai-er, wurde die Affäre beigelegt. Die Ausscheidungen fanden in München und Leipzig statt und das 200-m-Freistilschwimmen im schwedischen Uppsala, weil sich Frank Zierold, der die DDR ver-lassen hatte, weigerte, in der DDR an den Start zu gehen. Illustriert wird die Atmosphäre durch ein Zitat einer Westberliner Zeitung: „Das war eine derbe Abfuhr für Deutschlands Kunstspringer, die in Bad Kissingen zu den ersten Olympia-Ausscheidungen gegen die Vertreter der Sowjetzone antraten.“20) Nach elfstündigen Verhand-lungen wurden 14 DDR-SchwimmerInnen und acht BRD-Aktive und fünf SpringerInnen aus der DDR nominiert. Die Wasserballer bestritten vier Ausscheidungsspiele (BRD-DDR 4:3, 4:2, 4:5 und 4:6). Danach bestand die BRD-Seite auf einem entscheidenden fünften Spiel, das entweder in der BRD oder im westlichen Ausland stattfinden sollte. Es wurde in Uppsala (Schweden) ausgetragen und endete 3:1 für die BRD.
TURNEN: So sah die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ den Auftakt der Turn-Ausscheidungen in Leipzig: „Die schwärzesten Voraussa-gen für das erste Olympiaausscheidungsturnen haben sich am ers-ten Tag bewahrheitet: Nur der Oppauer Philipp Fürst konnte sich... vor den mitteldeutschen Turnern behaupten.“21)
Für den Rückkampf in München nominierte der BRD-Verband eini-ge neue Teilnehmer, was gegen die Vereinbarungen verstieß und schon deshalb unmöglich war, weil die Resultate beider Ausschei-dungen addiert werden sollten. Während der Wettkämpfe dann wurden vom Wettkampfleiter und Sprecher mit Bemerkungen wie ‘Wir bitten die Zuschauer, nicht zu pfeifen, aber wir wollen unser Recht’ ein übriges getan, um das ohnehin schon mit Schreihälsen und Pfuirufern gespickte Publikum noch mehr aufzuputschen.“22)
Die „FAZ“ berichtete aus München: „Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Das Ergebnis der Kürübungen steht noch aus. Wenn aber nicht alles täuscht, wird die gesamtdeutsche Turnriege bei den Olympischen Spielen zu gleichen Teilen von der Bundesrepub-lik und der Sowjetzone gestellt werden.“23) Tags darauf las man in der gleichen Zeitung: „Die deutsche Turnriege für Rom wird nicht paritätisch aus Vertretern der Bundesrepublik und der Sowjetzone besetzt werden. Sie wird vielmehr aus zwei westdeutschen und vier Turnern der Zone zusammengesetzt sein... Daß es so kam, lag nicht an den Turnern, das war einzig und allein die Schuld der
Kampfrichter aus der Sowjetzone. Sie amtierten nur dann einiger-maßen objektiv, wenn es sich um einen Turner handelte, der für die Romfahrt nicht mehr in Frage kam. Sobald jedoch die Leistung eines möglichen Olympiakandidaten zu benoten war, hoben sie ih-re eigenen Leute skrupellos in den Himmel, während sie die west-deutschen Turner in einer Weise unterbewerteten, die nicht anders als skandalös zu bezeichnen ist... Es war das traurigste und wider-lichste Schauspiel, das man je bei einem Turnkampf erlebt hat.“24)
KOMMENTARE: Nach der Ermittlung der Mannschaft erklärte DSB-Präsident Willi Daume: „Man sollte die kleinen Zwischenfälle nicht dramatisieren, zumal jeder weiß, daß die mitteldeutschen Olympiakandidaten daran nicht die Schuld tragen, sondern gewis-senlose und unsportliche politische Funktionäre... Und wenn ich mir diese prächtigen jungen Kämpfer und unsere liebenswerten Mädchen vorstelle, die nun in Rom hinter dem Schild ‘Deutschland’ ins Olympia-Stadion einmarschieren - was bedeuten dann daneben einige traurige Funktionärsfiguren, die aus solchem Geschehen er-bärmlichen politischen Gewinn schlagen wollen!“25)
ANMERKUNGEN
1) Der Spiegel, Hamburg, Nr. 49/1956, S. 22
2) Ebenda
3) Neues Deutschland vom 7.9.1959
4) Der Spiegel 49/1959, S. 22
5) Die Welt vom 20. November 1959
6) Ebenda
7) Ebenda S. 23
8) Frankfurter Rundschau vom 23.11.1959
9) Ebenda
10) Deutsches Sportecho vom 25.11.1959
11) Zitiert nach Neues Deutschland vom 7.12.1959
12) Der Kurier vom 3.11.1959
13) Ebenda
14) Zitiert nach Neues Deutschland vom 24.4.1960
15) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.7.1960
16) Neues Deutschland vom 18.7.1960
17) Neues Deutschland vom 9.8.1960
18) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.6.1960
19) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.7.1960
20) Der Telegraf vom 30.6.1960
21) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.6.1960
22) Neues Deutschland vom 18.7.60
23) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.7.1960
24) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.7.1960
25) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.8.1960
Athen 1969
Von HORST GÜLLE
Der Autor leitete 1969 als Stellvertretender Generalsekretär des Leichtathletikverbandes die DDR-Mannschaft bei den Europameisterschaften.
Am 16. September 1969 wurden in Athen Europameisterschaften der Leichtathletik eröffnet. Im Vorfeld war es zu Kontroversen ge-kommen. Nach dem Putsch der griechischen Obristen am 21.4.1967 und der ihm folgenden Verfolgung und Verhaftung Tau-sender Griechen, forderten verschiedene Leichtathletikverbände, Athen die Titelkämpfe zu entziehen. Das Europakomitee der Inter-nationalen Leichtathletikföderation (IAAF) lehnte diese Anträge ab und verwies darauf, daß die Entscheidung über den Austragungs-ort bereits Oktober 1965 gefallen war. Der DDR-Leichtathletikverband verwies in einer Erklärung darauf, daß sein Start nur als eine Respektierung des internationalen Reglements zu werten ist und die Solidarität mit den verfolgten griechischen Patrioten in keiner Weise mindert. Beim Einmarsch ins Stadion verweigerte die DDR-Mannschaft die im internationalen Sport übli-che Reverenz gegenüber den auf der Ehrentribüne sitzenden Re-präsentanten des Obristenregimes und senkte beim Vorbeimarsch auch nicht die DDR-Flagge, die der Mannschaft vorangetragen wurde.
Bereits vor der Eröffnung bahnte sich ein Eklat an, als die Mann-schaft der BRD die IAAF zwingen wollte, Regeln nach ihren Wün-schen auszulegen. Bis heute gab es kaum Veröffentlichungen, in denen diese Affäre aufgearbeitet wurde. Da uns die in Frage kom-menden altbundesdeutschen politischen Archive, in denen man Ak-ten über den Hintergrund der Ereignisse finden könnte, nicht zur Verfügung stehen, haben wir uns entschlossen, die Reflexion in den Medien von damals nahezu unkommentiert wiederzugeben.
Der Fakt selbst ist mit wenigen Worten darzustellen. Der Mittel-streckler Jürgen May hatte im April 1967 mit einem gefälschten Paß die DDR verlassen und sich danach in Hanau niedergelassen. Der DLV-Leichtathletikverband der BRD - hatte ihn in die Athen-Mannschaft aufgenommen, obwohl klar war, daß er nach den Re-geln dort nicht würde starten dürfen. Wie also zu erwarten war,
verweigerte die IAAF ihm die Startgenehmigung, von ihrer Mann-schaftsführung über die Vorgeschichte nicht informiert, beschloß das BRD-Aufgebot in einer Abstimmung der Athleten (29:27 Stim-men) an den Europameisterschaften nicht teilzunehmen. Da das griechische NOK andeutete, man würde im Falle des Boykotts er-wägen, den Veranstaltern der nächsten Olympischen Spiele - 1972 in München - die Entzündung des olympischen Feuers im antiken Hain von Olympia zu verweigern, wurde der Beschluß dahinge-hend verändert, daß die BRD ihre Teilnahme an den Staffel-Wettbewerben zusagte.
DER ABEND (16. September 1969): „Dr. Danz hatte es gewußt: Jür-gen May ist gesperrt... Der Brief, in dem Adrian Paulen, der hollän-dische Präsident des IAAF-Europakomitees, den DLV-Präsidenten eingehend unterrichtet hatte, ist nämlich vom 21. August datiert.“
DIE ZEIT (26. September 1969): „...Nicht genug damit: Danz unter-richtete später in Schwetzingen auch noch seinen Vorstand, insge-samt fünf Herren. Doch keiner erkannte offenbar den politischen Zündstoff und die Notwendigkeit, einen solchen Vorfall, wie es heißt, ‘transparent’ zu machen.“
FRANKFURTER RUNDSCHAU (18. September 1969): „...Hier vollzog sich eine politische Enthüllung, die für die Bundesregierung und die von ihr bis zur Stunde verfochtene Politik des Nichtzurkenntnis-nehmens von Tatsachen eine weitere schwere Niederlage darstellt. Mit frommem Wunschdenken, wonach die DDR kein Staat ist, weil sie nach Bonner Ansicht keiner sein darf, ist heute nicht einmal in der Sportwelt Beifall zu holen. Es mag schön und edel klingen, daß Jürgen May mit seiner Übersiedlung aus der DDR in die Bundesre-publik nicht auch seine Staatsangehörigkeit gewechselt habe, weil es keine zwei Deutschländer gebe. Aber im Ausland werden diese speziellen Feinheiten bundesdeutscher Politlogik schlichtweg nicht gesehen. Dort hat man sich den Blick für Realitäten nicht durch ei-ne Bonner Spezialbrille trüben lassen. Und wenn dann noch gar Statuten hinzukommen, wie die des Internationalen Leichtathletik-verbandes, die mühelos die simple Auslegung zulassen, wonach die DDR ein Staat ist, dann gehört schon Mut der Verzweiflung o-
der grobe Verantwortungslosigkeit dazu, Jürgen May doch ins Athener Feuer zu schicken.“
DER TELEGRAF (17. September 1969): „Der Skandal von Athen - Der Sport, repräsentiert durch den Internationalen Leichtathletik-verband und dessen englischen Präsidenten Marquess of Exeter, hat sich die Entscheidung angemaßt, daß es zwei deutsche Staatsbürgerschaften gibt. ... Überflüssig zu betonen, daß es nach bundesdeutscher Rechtsauffassung nur eine deutsche Staatsbür-gerschaft gibt. ...“
DIE WELT (18. September 1969): „...Der Paragraph 12 besagt, daß Athleten, die einmal ein Mitglied der IAAF (also einen Verband) bei internationalen Meisterschaften vertreten haben, nicht mehr für ei-nen anderen Verband starten dürfen, es sei denn bei folgenden Ausnahmen. Die Ausnahme im Absatz 9e lautet: ‘...bei einem Wechsel in der Nationalität durch Naturalisierung oder Registrie-rung in einem anderen Lande oder durch anderes Ersuchen nach Staatsbürgerschaft in der Art, das in diesem Lande gesetzlich an-erkannt ist, vorausgesetzt, daß der Nachsuchende mindestens drei Jahre in diesem Lande ansässig war, von dem letzten Tage an, an dem er sein früheres Land vertrat.’“
DIE WELT (16. September 1969): „...Es fällt schwer, bei so viel Bor-niertheit an höchster sportlicher Stelle nicht grob zu werden. Ob ein Deutscher, unter welchen Umständen auch immer, von Erfurt nach Hanau geht, damit seine Staatsbürgerschaft wechselt, dies zu ent-scheiden, steht keinem sportlichen Gremium zu ... In jedem Falle ... hätten sie berücksichtigen müssen, daß ... die ‘DDR’ darum auch kein ‘Land’ im Sinne des sportlichen Reglements ist.“
DER TAGESSPIEGEL (18. September 1969): „So verstaubt, wie viel-fach angenommen wurde, ist der Punkt 9e des Paragraphen 12 gar nicht; er wurde erst auf dem IAAF-Kongreß 1964 in das Reglement aufgenommen. Vorher hätte für einen Athleten beim Wechsel von Verband zu Verband überhaupt keine Chance bestanden, jemals für den neuen Verband an Olympischen Spielen oder Europameis-terschaften teilzunehmen, wenn er dies zuvor bereits als Mitglied eines anderen Verbandes getan hatte.“
BILD (16. September 1969): „Bleibt hart deutsche Leichtathleten! Laßt Euch nicht länger von internationaler Funktionärswillkür an die Wand drücken. Kommt lieber wieder nach Hause, statt zweifelhaf-ten Kompromissen nachzugeben. Pfeift auf die Medaillen. Die Konsequenzen: Der Marquess of Exeter hatte nämlich gestern abend durchblicken lassen, daß eine Abreise der deutschen Mann-schaft einen Bruch der IAAF-Regeln bedeuten würde. Und daß dieser Verstoß möglicherweise eine einjährige Internationale Sper-re zur Folge haben könnte... Denn Tatsache ist, wenn der Interna-tionale Leichtathletikverband die Streichung von Jürgen May nicht zurücknimmt, wäre jeder Sportler, der jetzt noch aus der Zone in die Bundesrepublik flüchten würde, für die Olympischen Spiele in München für die Bundesrepublik nicht startberechtigt.
BILD (17. September 1969): „...Dieser mutige und in der deutschen Sportgeschichte einmalige Vorgang ist für BILD Grund genug, alle 70 Athen-Fahrer mit einer Goldmedaille auszuzeichnen...“
„Bonn begrüßt den Verzicht der Leichtathleten. Die Bundesregie-rung hat gestern die Entscheidung der Leichtathleten begrüßt. Ein Regierungssprecher: ‘Wir begrüßen es, daß die deutsche Mann-schaft aus Solidarität und sportlicher Kameradschaft mit Jürgen May nicht dem Rat ihrer Funktionäre gefolgt ist.’“
„...Um diese Gruppe herum gab es Szenen, die man noch nie er-lebt hat. Sprinter Wucherer saß mit gesenktem Kopf auf dem Kant-stein, Tränen in den Augen, in einer anderen Gruppe Mannschafts-sprecherin Ingrid Becker völlig erschöpft.“
„BILD sprach mit Frau May...
BILD: Wußten Sie schon vorher Bescheid?
Bärbel May: Ja, zwei Tage vor der Abreise nach Athen ließ Dr. Danz in einem Gespräch mit meinem Mann durchblicken, daß es Schwie-rigkeiten geben würde. Und da war mir schon klar, daß Jürgen wohl nicht starten darf.“
FRANKFURTER ALLGEMEINEN (17. September 1969): „Seine Hoch-achtung hat der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Wolf-gang Mischnick den deutschen Leichtathleten in Athen versichert.“
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (18. September 1969): „Zu ih-rer Solidarität mit Jürgen May hat der Vorsitzende des CDU-Bundesfachausschuß Sport, der Bundestagsabgeordnete Dr. Man-fred Wörner, die in Athen weilende Leichtathletik-Mannschaft der Bundesrepublik beglückwünscht. Wörner sieht in der Haltung der Sportler die ‘klare Weigerung, sich politischen Erwägungen zu beugen’. Es könne auch nicht ‘durch Machenschaften internationa-ler Verbände hinwegdiskutiert’ werden, daß Jürgen May Deutscher sei und bleibe.“
BILD (23. September 1969): “Nun greift auch der Bundesinnenmi-nister den BILD-Leservorschlag auf! Minister Benda hat angeregt, Jürgen May, den ‘Betrogenen von Athen’, mit dem Silbernen Lor-beerblatt auszuzeichnen.“
DIE ZEIT (26. September 1969): „Nicht der Schatten der Akropolis, den ein Festredner bei der Eröffnungsfeier beschwor, lag über den IX. Europameisterschaften der Leichtathleten - der Boykott der Mannschaft aus der Bundesrepublik verdüsterte... die sportliche Szene...“
FRANKFURTER RUNDSCHAU (18. September 1969): „Auf den Ge-danken, den griechischen Demokraten, die in den Kerkern der Mili-tärdiktatur gefoltert werden, Reverenz zu erweisen, kam ... freilich niemand.“
Die endlose „Aufarbeitung“
Von KLAUS HUHN
Zur Einleitung einige offizielle Erklärungen, die vom Bundesinstitut für Sportwissenschaften (BISp) als Pressemitteilung mit ausdrück-lich vermerkter „Sperrfrist“ - 15. Februar, 12.00 Uhr - in Göttingen verteilt wurden: „Anlässlich des Erscheinens von vier weiteren Bü-chern aus dem Forschungsauftrag des BISp zur ‘Aufarbeitung und Geschichte des DDR-Sports’ veranstaltet das BISp... einen Work-shop... An dieser Tagung ...nehmen über 50 Sporthistoriker teil... Anlässlich der Präsentation führte der Direktor (wieder des BISp) Dr. Martin-Peter BÜCH aus: ‘Diese Untersuchungen demonstrieren einerseits den Anschluss der Sporthistoriografie an die allgemeine Geschichtsschreibung andererseits aber auch den berechtigten Anspruch mit ihren Ergebnissen von dieser wahrgenommen und rezipiert zu werden. Speziell bei der bedeutenden Stellung, die der DDR-Sport für das Staatswesen insgesamt einnahm, wäre eine solche Vernachlässigung der Sportgeschichte auch sachlich völlig unangemessen.“
Diese leicht verschlüsselt klingende Mitteilung bewegte indes we-niger als die von den anwesenden Journalisten sofort gestellten Fragen nach den Kosten des Projekts. Man mußte die genannten Zahlen addieren und kam dann auf rund 1,4 Millionen DM oder 715.819,61 Euro. Das warf unwillkürlich die nächste Frage auf: Wofür wurde diese stattliche Summe in Zeiten steigender Staats-armut ausgegeben? Eine Frage, die nicht nur jeder mit Sparmaß-nahmen konfrontierter Bürger stellen dürfte. Nach der - bis 12.00 Uhr gesperrten Pressemitteilung - für vier Bücher: BUSS/BECKER: Der Sport in der DDR und in der frühen DDR, 450 Seiten, Laden-preis 61,30 Euro; BUSS/BECKER: Aktionsfelder des DDR-Sports, 450 Seiten, Ladenpreis 34 Euro; PFISTER, Frauen und Sport in der DDR, 300 Seiten, Ladenpreis 18 Euro; TEICHLER: Die Sportbe-schlüsse des Politbüros der SED, 340 Seiten, 50 Euro. Ergo: Rund 350.000 DM - also 60.000 Euro - pro Buch.
Staunen muß da erlaubt sein. In der Pressekonferenz erfuhr man auch am Rande, daß demnächst in den neuen Bundesländern eine etwa 350 Seiten starke „Geschichte des DDR-Sports“ erscheinen wird. Der BISp-Direktor wußte nichts davon, erfuhr aber, daß es
ohne einen Cent Fördermittel erscheinen und er wunschgemäß ei-nes der ersten Exemplare als Präsent zugestellt bekommen wird.
Zwei Stunden vor der Pressekonferenz war der Workshop eröffnet worden. Mit vier Reden mehr oder weniger profilierter Historiker, von denen sich einer - der Göttinger Wolfgang BUSS - mit folgender Passage als DDR-Spezialist auswies: „Der weitaus größte Teil meiner Verwandtschaft ist Bürger der DDR geworden und so ge-hörten Besuche bei den Großeltern und der restlichen Verwandt-schaft, also der praktische Kontakt mit der DDR und ihren Men-schen seit frühester Nachkriegszeit zu den Selbstverständlichkei-ten meines Lebens.“ Die Ziele des Marxismus wurden bei diesen Besuchen wohl eher am Rande erörtert, denn BUSS fuhr fort: „Den-noch muss die immer wieder festgestellte bzw. behauptete“ „‘In-strumentalisierung des Sports durch die politischen Machthaber in der DDR deutlich differenzierter bewertet werden. Zumindest für unseren Untersuchungszeitraum ist festzustellen, dass es letztlich allen ‘Mächtigen’ in Staat und Gesellschaft der DDR nie gelungen ist, die Eigensinnstruktur des Kulturgutes ‘Sport’ im Sinne ihrer poli-tischen Motive grundsätzlich zu verändern.“ Man hörte es und grü-belte, wohin BUSS denn wohl wollte und dann kam der Schock: „In einer Gesellschaft, die vorgab, Egalität als Zielperspektive zu ha-ben, war der elitäre, auf Differenzierung aufgebaute Spitzensport nicht nur anerkannt, er konnte sich auch im Sinne des elitären Leis-tungsvergleichs weiterentwickeln.“ BUSS muß also bei all seinen Omabesuchen nie davon gehört haben, daß die Volksbildung Ta-lente auf allen Gebieten förderte, nicht nur Hochspringer von Rang suchte, sondern auch Mathematiker, die ebenso auf spezielle Ma-thematiker-Schulen delegiert wurden, wie andere in die Kinder- und Jugendsportschulen Danach stieß der Referent, dem man bei un-überhörbarem Crashkurs ein hohes Maß an Akzeptanz sachlicher Argumente bescheinigen möchte, zum Kern der Erkenntnisse der altbundesdeutschen Sporthistoriker vor: „Unwidersprochen bleibt sicherlich, dass die Machthaber in der DDR niemals eine mehrheit-liche Zustimmung für das von ihnen praktizierte und durchgesetzte Gesellschaftssystem bekommen haben.“ So wurde also „nebenbei“ noch erforscht, daß das DDR-System von den DDR-Bürgern nie akzeptiert worden war.
Finale: „Von der insgesamt zu lösenden Aufgabe einer Geschichte des DDR-Sports haben wir jedoch nur einen ersten... Abschnitt
bewältigt. Um es mit einem Bild aus der Archäologie zu sagen, hof-fe ich, dass wir... die Oberfläche freigelegt haben, die Tiefenboh-rungen müssen jetzt noch folgen und bedürfen vor allem einer an-gemessenen Finanzierung.“ (Die Verwendung des Wörtchens „an-gemessen“ könnte den Verdacht wecken, daß die 1,4 Millionen das noch nicht waren...)
Blieb die Erkenntnis, daß die Sporthistoriker wohl noch viele Tie-fenbohrungen niederzubringen haben, ehe sie tatsächlich zu den realen Wurzeln gelangen. Zumal rundum ständig und eifrig an der noch so zarten Wahrheit gesägt wird.
Wurde Volkssport in der DDR vernachläs-sigt?
Von EDELFRID BUGGEL (†)
Unter dem Titel „Wurde der Volkssport in der DDR vernach-lässigt?“ hinterließ Edelfrid BUGGEL (†) ein unvollendetes Manuskript (Fragmente). Es greift in die nach wie vor aktuelle Diskussion zu der Frage ein, wie der DDR-Sport wirklich war. Klaus ROHRBERG geht seinerseits in einem anschließenden Beitrag der von Edelfried BUGGEL aufgeworfenen Frage nach und stellt ergänzende, weiterführende Überlegungen vor.
Die Frage „Wurde der Volkssport1) in der DDR vernachlässigt?“ im-pliziert sofort die Gegenfrage, „Wurde in der DDR nicht ausschließ-lich der Leistungssport gefördert?“ Mit dieser Problematik sah ich mich sowohl in der DDR als auch im Ausland konfrontiert, von westdeutschen und ausländischen Sportwissenschaftlern vor allem immer dann, wenn DDR-Sportler bei Weltereignissen beachtliche Erfolge erzielten oder erzielt hatten. Das hatte mich zum Beispiel bereits 1984 mit bewogen, einen Vortrag anläßlich des Olympi-schen Wissenschaftskongresses in Eugene (USA) im Arbeitskreis „Sport und Politik“ zum Thema „Mass Sport Activities and Top-Class Athletics - Unity or Contradiction?“ (Massensport und Leis-tungssport - Einheit oder Gegensatz?) zu halten.2) Nach dem Un-tergang der DDR 1990 kamen von bestimmten Sportpolitikern und Sportwissenschaftlern der BRD und früheren DDR-Sportwissenschaftlern diskriminierende Wertungen hinzu, so zur angeblich sträflichen Vernachlässigung des Freizeit- und Erho-lungssports, seiner „staatsdirigistischen“ Lenkung und der diktatori-schen Verfügung über die Bedürfnisse der Menschen.3) Da hinrei-chend wissenschaftliche Untersuchungen, wissenschaftliches Schrifttum und Veröffentlichungen zu diesem Bereich vorhanden sind4), konnte es also nicht Unkenntnis sein. Ich vermute vielmehr, daß diese Vertreter des deutschen Sports sich an die Order des damaligen Bundesjustizministers hielten, der auf dem 15. Deut-schen Richtertag am 23.9.1991 die Forderung formulierte, „das SED-Regime zu delegitimieren“5), somit auch die Sportbewegung und die Sportwissenschaft der DDR.
Die Förderung oder Vernachlässigung eines bestimmten Sportbe-reiches oder bestimmter Sportarten kann nicht auf die finanziellen und materiellen Bedingungen reduziert werden. Von primärer Be-deutung ist, unter welchen gesellschaftlichen und sozialen Bedin-gungen der aufgeworfene Sachverhalt analysiert und bewertet werden soll. Unter kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Bedingun-gen, in denen das Geld der primär bestimmende Faktor jeder ge-sellschaftlichen und persönlichen Entwicklung ist, rangiert bei jed-weder Förderung oder Vernachlässigung eines Bereiches der Fak-tor Finanzen uneingeschränkt an erster Stelle. In Gesellschaften mit sozialer Prägung - in unserem Falle der realsozialistischen DDR - war der finanzielle Aspekt ein Bestandteil des Komplexes al-ler Wirkungsfaktoren, aber eben nicht der alleinige. Das hat seine Ursache im Grundverständnis der menschlichen Gesellschaft, in der menschliche Werte und nicht die dinglichen im Mittelpunkt des Interesses von Politik, Wirtschaft, Kultur und anderen Bereichen stehen sollten. Dabei kann für die prinzipielle Wertung zunächst einmal vernachlässigt werden, inwieweit in der DDR die gesell-schaftliche Realität den hohen Idealen und festgeschriebenen Ge-setzen und Beschlüssen gerecht wurde beziehungsweise gerecht werden konnte - aus welchen inneren und äußeren Einflußfaktoren auch immer. Die in der DDR wirkenden Faktoren für einen „Sport für alle“ sind mit den gesellschaftlichen Grundlagen der DDR und des DDR-Sports aufs engste verknüpft. Das beginnt mit den prole-tarischen und bürgerlich-demokratischen Auffassungen zum Sport-treiben, das die antifaschistischen Sportfunktionäre 1945 und in den Folgejahren in den Sportbetrieb der Sowjetisch besetzten Zo-ne einbrachten. Das setzt sich fort in den Befehlen der Sowjeti-schen Militäradministration zum Sport wie auch in den Beschlüssen der staatstragenden Partei, der SED, der Blockparteien, des Natio-nalrats, des Demokratischen Frauenbundes, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, der Industriegewerkschaften sowie den Sportorganisationen Deutscher Turn- und Sportbund und Gesell-schaft für Sport und Technik. In der Verfassung der DDR von 1968, in den Staatsratsbeschlüssen von 1968 und 1970, in den Jugend-gesetzen von 1950 und 1964, im Arbeitsgesetzbuch 1977 und an-deren Beschlüssen waren nicht nur das Recht der Bürger für ein regelmäßiges Sporttreiben für alle in jedem Alter festgeschrieben, sondern auch die Pflichten für staatliche und gesellschaftliche Insti-
tutionen und deren Leiter, die erforderlichen Bedingungen zu reali-sieren. Das hatte unzweifelhaft den Vorteil, daß die in der DDR nicht üppig sprießenden ökonomischen Ressourcen - bedingt durch die großen Kriegsschäden im Osten Deutschlands, die ho-hen Reparationsleistungen für die Sowjetunion aufgrund der Tat-sache, daß diese wegen der enormen Kriegszerstörungen im eige-nen Land keine auch nur ähnlich gelagerte Marshallplanhilfe leisten konnte - nach einem mehr oder minder einheitlichen Gesellschafts-konzept in etwa günstig verteilt werden konnten. Das gilt gleicher-maßen für das stets angestrebte, in der Praxis aber nicht durchge-hend erreichte Umsetzen der Gesetze, Verordnungen und Be-schlüsse hinsichtlich der Inhalte und Gestaltungsformen, der Lei-tung, Aufklärung, Werbung und Gewinnung im Volkssport. Sportpo-litiker und Sportwissenschaftler der Alt-BRD kritisieren allein aus ih-rem Verständnis von Demokratie und Freiheit der Persönlichkeit das Sportsystem der DDR als „dirigistisch“. Sie wollen nicht wahr-haben, daß Sportfunktionäre, Übungsleiter, Schieds- und Kampf-richter und natürlich die Sporttreibenden selbst gemeinsam mit den gesellschaftlichen Trägern den Volkssport gestalteten. Durch Initia-tiven und ein beachtliches Engagement von unten wurde das sport-liche Leben aufgebaut, und nicht primär durch einen großzügigen Aufbau von Sportanlagen, wie es in der damaligen BRD durch den Marshallplan, den darauf folgenden Wirtschaftsboom und den Gol-denen Plan Sport geschah.
Dem häufig strapazierten Argument der Verunglimpfer des DDR-Sports, daß das Sporttreiben lediglich angeordnet und keine freie Entscheidung des Individuums war, was von den jeweiligen Auto-ren weder wissenschaftlich belegt werden kann noch belegt wird, sei exemplarisch entgegengehalten: Wie die DDR-repräsentativen sportsoziologischen Erhebungen von 1965 hochsignifikant bele-gen, haben 30 Prozent der DDR-Bevölkerung zwischen 16 und 75 Jahren Sport, Spiel und Wandern als aktive Erholungsformen in ih-re Lebensweise in der Freizeitgestaltung aufgenommen. Sie waren mit den inhaltlichen, strukturellen und methodischen Bedingungen hinsichtlich der finanziellen, medizinischen und arbeitsrechtlichen Gestaltung generell zufrieden. Unzufriedenheit gab es bei der Ver-sorgung mit bestimmten Sportgeräten und Ausrüstungsgegenstän-den sowie der Freizügigkeit im Sportverkehr ins kapitalistische Ausland. Die in dieser Erhebung nachgewiesene positive Einstel-
lung der DDR-Bevölkerung zum persönlichen Sporttreiben betrug immerhin 62 Prozent, damals ein internationaler Spitzenwert. Und dies, obwohl die materiellen Bedingungen vergleichsweise mittel-mäßig bis schlecht waren.6) Diese positive Einstellung hängt mit unterstützenden Faktoren zusammen, die zentral organisiert, den Sporttreibenden zugute kamen, so die kostenlose Nutzung der Sportstätten und Sportgeräte, auch kostenaufwendiger, die kosten-lose medizinische und sportmedizinische Betreuung, die Sportun-fallversicherung einschließlich der für mögliche Unfälle auf dem Weg vom und zum Sport, die Freistellung von der Arbeit ohne Lohneinbuße, Fahrpreisermäßigungen bei Sportreisen, niedriger Mitgliedsbeitrag. Die Motive für das eigene Sporttreiben erwuchsen aus eben diesen Momenten, ganz gleich, ob dies in einer Sport-gruppe, in einer Mannschaft, im Arbeitskollektiv oder nicht organi-siert, selbständig in der Familie, mit Freunden oder allein geschah. Hinzu kommt das im Sportgeschehen der DDR ausgeprägte Klima des kameradschaftlichen Miteinander und der verständnisvollen, eben nicht „dirigistischen“ Verbindung zwischen Arbeitskollektiv, Familie und Sportverein.
An der positiven öffentlichen Meinung zum Volkssport hatten auch die Medien einen bemerkenswerten Anteil, wenngleich die für den Volkssport Verantwortlichen und die vielen ehrenamtlichen Helfer häufig Kritik übten an der nach ihrem Verständnis unterrepräsenta-tiven Berichterstattung über ihren Bereich.7) Ein weiterer Ausdruck der positiven öffentlichen Meinung zum Volkssport lag in der Aner-kennung und hohen Wertschätzung der ehrenamtlichen Tätigkeit in der Sportorganisation, in Sportgruppen der Gewerkschaft und der Jugend- und Frauenorganisationen. Im Jahre 1988 waren es laut Statistik 264.700 Übungsleiter und Trainer, 400.000 Funktionäre und 160.000 Kampf- und Schiedsrichter. Bis auf die Übungsleiter und Trainer im Fußball (und auch hier sind die Honorare mit den heutigen nicht zu vergleichen) gab es nur ein symbolisches Salär. Wie die sportsoziologischen Erhebungen weiterhin auswiesen, war es für die Ehrenamtlichen nicht eine administrative Verpflichtung, sondern eine Tätigkeit, die zunehmend stärker gesellschaftlich an-erkannt wurde und persönliche Zufriedenheit brachte. Ein anderer Beleg dafür, daß der Volkssport der DDR nicht „flächendeckend“ benachteiligt war, besteht darin, daß jährlich überaus zahlreiche regionale und zentrale Volkssportveranstaltungen durchgeführt
wurden. So gab es Kreis-, Wohngebiets- und Dorfsportfeste, Früh-jahrs- und Herbstwaldläufe, Volkssport- und Landsporttage, über-regionale Fitnessaktionen wie „Medizin nach Noten“, „Lauf Dich gesund“, „Eile mit Meile“, „Mach mit, bleib fit“, „Stärkster Lehr-ling...“, „Tischtennisturnier der Tausende“, „Dein Herz dem Sport - Stark wie ein Baum“. Auch der Volkssportteil der Turn- und Sport-feste ist hier einzuordnen. Ihn nur als „pompöse politische Schau-veranstaltung“ zu disqualifizieren, verstellt den Blick auf die seriöse sportliche Substanz im Interesse der teilnehmenden Sportlerinnen und Sportler sowie die damit verbundene Werbewirkung auf die noch nicht regelmäßig Sporttreibenden. Freilich hatten die Volks-sportveranstaltungen auch einen politisch-erzieherischen Auftrag, eine Bezugnahme auf politische und gesellschaftliche Ereignisse. Diese sportpolitischen Vorgaben waren auf massenhafte Wirkung und großflächige Verbreitung aus, wie Klaus HENNIG rückblickend feststellt.8) Es „wird deutlich, dass der organisierte Sport der DDR mittels seines perfekten Arsenals der Information und Administrati-on, über zentralistische Beschlüsse und permanente Anleitungen der nachgeordneten Leitungen sowie über die Methode von Auf-tragserteilung und Wettbewerb flächendeckend wirksam werden konnte... Veranstaltungen und Aktionen des Sports erreichten und bewegten unzweifelhaft jährlich in der DDR Hunderttausende von Menschen.“9)
Der ebenfalls häufig geäußerte Vorwurf, der Volkssport der DDR sei auch finanziell sträflich vernachlässigt worden, kann so nicht aufrechterhalten werden. Aus Gründen der Reputation des Staates DDR erhielt der Leistungssport selbstverständlich finanzielle und materielle Zuwendungen. Dies war, ob man es wahrhaben will oder nicht, der Situation des Kalten Krieges in Europa, den Bedingun-gen des Wirtschaftsembargos des Westens gegenüber dem Osten geschuldet. Während alle ökonomischen Zahlen des Leistungs-sports auf Heller und Pfennig und Personen und Investitionen zent-ral erfaßt waren und in Soll und Ist jährlich abgerechnet wurden, konnte das im Volkssportbereich zentral durch den DTSB nicht in gleicher Weise geschehen. Zwar gab es auch hier jährliche Zu-wachsraten, die eine Entwicklung sicherten, wenn auch dem wach-senden Sport- und Gesundheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht adäquat. Einzubeziehen sind hier aber unbedingt die Quellen, die außerhalb der Sportorganisation flossen. So hatten die Vereinba-
rungen des DTSB mit dem FDGB, mit dem DFD und anderen Insti-tutionen stets auch deren finanzielle Unterstützung für den Volks-sport zum Gegenstand. Durch Kombinate und Betriebe, LPG, Staatsgüter, Gemeindeverbände und andere flossen umfangreiche Mittel in den Volkssport, die in der Sportorganisation nicht erfaßt wurden. Auch die Eigenleistungen der Sportler sind zu nennen und vieles andere, wie auch in der von mir vorgelegten Studie „Der Volkssport (Breitensport) und die Volkssportforschung in der DDR von 1960/61 bis 1965/66“10) deutlich wird.
ANMERKUNGEN
1) Der Begriff „Volkssport“ wird synonym gebraucht für die Begriffe „Freizeit- und Erho-lungssport“, „Massensport“ und „Breitensport“.
2) BUGGEL, E.: Mass Sport Activities and Top-Class Athletics - Unity or Contradiction? Olympischer Wissenschaftskongreß „Sport, Gesundheit und Wohlbefinden“. Eugene 1984
3) Vgl. HINSCHING, J.: Der Bereich „Freizeit- und Erholungssport“ im „ausdifferenzierten“ Sport der DDR. In J. HINSCHING (Hrsg.): Alltagssport in der DDR. Aachen 1998, S. 25
4) Vgl. BUGGEL, E.: Der Volkssport (Breitensport) und die Volkssportforschung in der DDR von 1960/61 bis 1965/66. In W. BUSS / C. BECKER (Hrsg.): Der Sport in der SBZ und frühen DDR. Genese - Strukturen - Bedingungen. Schorndorf 2001, S. 465-534
5) 15. Deutscher Richtertag am 23.9.1991. Begrüßungsansprache. DR 1/1992, S. 5
6) Vgl. ERBACH, G./ BUGGEL, E.: Körperkultur und Sport im Freizeitverhalten der DDR-Bevölkerung. Bericht über die sportsoziologische DDR-Erhebung 1965. Berlin 1967
7) Vgl. HERRMANN, R.: Breitensport in der Sportberichterstattung der DDR dargestellt an den „Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten“ 1968/69. In: J. HINSCHING (Hrsg.): A.a.O., S. 282 ff
8) Vgl. HENNIG, K: Breitensportliche Kampagnen und Konstrukte. In: J. HINSCHING (Hrsg.): A.a.O., S. 88
9) HENNIG, K.: Ebenda, S. 89
10) Vgl. Buggel, E.: Der Volkssport (Breitensport) und die Volkssportforschung... A.a.O.
Gedanken zu Buggels Überlegungen
Von KLAUS ROHRBERG
Wurde der Volkssport in der DDR vernachlässigt? Diese Frage wollte Edelfrid BUGGEL wahrheitsgemäß zu beantworten versu-chen. Er konnte sein Vorhaben leider nicht mehr vollenden.
Aus heutiger Sicht drängen sich sofort weitere Fragen auf: Interes-siert die obige Fragestellung eigentlich überhaupt noch? Wurde diese Fragestellung nicht längst mit einem deutlichen Ja beantwor-tet? (u.a. HINSCHING 1998) Aber auch: Inwieweit sind die bisher gegebenen Antworten zutreffend, wissenschaftlich hinreichend gül-tig oder handelt es sich lediglich um neu angepaßte opportunisti-sche Auskünfte?
Mein wissenschaftliches Interesse als Sportsoziologe gilt gegen-wärtig primär der kritischen Beobachtung der Sportentwicklung in der „postmodernen“ Gesellschaft. Wenn ich es dennoch überneh-me, in Fortsetzung des von BUGGEL begonnenen Aufsatzes noch-mals auf den Volkssport in der DDR zurückzublicken (ROHRBERG 1993, 1996, 1998 und 1999), so geschieht das aus zwei Gründen: Erstens gehörte Edelfrid BUGGEL zu den Begründern und Wegbe-reitern sportsoziologischer Arbeit in der DDR und hatte einen ho-hen Anteil an der Durchführung der beiden ersten großen empiri-schen sportsoziologischen Erhebungen von 1965 und 1968. (ERBACH/BUGGEL 1967; GRAS et al. 1970) Es ist also eine geschul-dete Reverenz gegenüber einem Fachkollegen.
Zweitens sind zum Volkssport in der DDR inzwischen Aufsätze und Bücher veröffentlicht worden, deren Aussagen und Urteile zu die-sem Thema nicht frei sind von ideologisch geprägten Vorurteilen und Verzerrungen, vor allem seitens einiger westdeutscher Sport-wissenschaftler und auch ehemaliger Sportwissenschaftler aus der DDR, die bei letzteren vermutlich karrieristisch motivierten Anpas-sungsritualen geschuldet sind. An der Universität Potsdam wurde eigens eine Inaugural-Dissertation erstellt - ausdrücklich auf der Basis von sekundärer Literatur (S. 64) - und erfolgreich verteidigt (CHUNG - HO PARK 2000), in der es zum Beispiel abschließend heißt: „Der Breitensport der DDR war der wettkampf-orientierte Sportarten-Sport“ (297), nachdem bereits mehrfach betont worden war, daß Sport in der DDR keinen westlichen breitensportlichen Charakter aufwies (222) und - gemessen am Spitzen- und Leis-
tungssport im völligen Gegensatz zum Sport in der einstigen BRD, wo der Breitensport ein riesiges Basisfeld bildete - nur ein winziges Segment umfaßte. (Schemata S. 295 und 296) Das fordert im Inte-resse wissenschaftlicher Wahrheit zum Einspruch heraus. Als Be-leg für meine kritische Einschätzung sei ein weiteres Beispiel ge-nannt, das sich direkt auf die Arbeit der Sportsoziologie bezieht. In einer Fußnote schreibt HINSCHING: „In einer interessanten, von der offiziellen Sportsoziologie der DDR unbeachteten und auch nur in-offiziell publizierten soziologischen Analyse zu Lebensgewohnhei-ten und Gesundheitsverhalten von Rennsteigläufern wird, gestützt durch Befragungsergebnisse von 1977 und 1981, darauf verwie-sen, daß ‘der hohe Anteil der Intelligenz und der Angestellten... ty-pisch für die Laufbewegung’ ist.“ (1998, 26) Dazu: Vor mir liegt der Protokollband des I. Wissenschaftlichen Kolloquiums des Guts-Muths-Rennsteiglaufes vom 29.10.1977, offiziell herausgegeben vom DTSB-Bezirksvorstand Suhl, zusammengestellt von Hans-Georg KREMER. Mir und anderen Sportsoziologen war dieses Pro-tokoll ebenso wie die nachfolgenden Veröffentlichungen zum Rennsteiglauf von KREMER sehr wohl bekannt und ich habe die Er-gebnisse und Aussagen auch wissenschaftlich verwendet. HINSCHING benutzt hier offensichtlich seine Unkenntnis, um ein ab-wertendes Urteil über die damalige Sportsoziologenzunft, der er selbst jahrelang angehörte, zu fällen und beweist damit immerhin eine gewisse Lernfähigkeit im Hinblick auf den „Delegitimierungs-auftrag“. Die Tatsache, daß der DTSB Herausgeber des Protokolls ist, spricht gegen die einseitige und undifferenzierte Auslegung der Haltung des DTSB zum Rennsteiglauf, wie sie an anderer Stelle des von HINSCHING herausgegebenen Buches zum Ausdruck kommt.
Sportsoziologie als Wissenschaft muß sich ausschließlich dem Wahrheitskriterium verpflichtet fühlen und darf sich nicht den jewei-ligen politischen Gegebenheiten unterwerfen. Das sei den folgen-den Betrachtungen nachdrücklich vorangestellt. Allerdings besagen meine neuerlichen Erfahrungen inzwischen, daß es heute nicht weniger schwierig und nicht weniger undankbar ist, Wahrheiten gegenüber bloßen, sozusagen „aus der Luft gegriffenen“ Behaup-tungen, die sich dem „Mainstream“ anpassen, zu verteidigen, als früher. Öffentliche Wahrheit „wird von dem machtgestützten Dis-
kurs als ein nutzloser und unbequemer Ballast empfunden“, stellt Heleno SANA (2001, 22) zutreffend fest.
Will man die von BUGGEL gestellte Frage wissenschaftlich begrün-det und vorurteilsfrei beantworten, so sind zunächst Kriterien zu benennen, auf deren Grundlage dann eine tatsächlich vorurteils-freie Beurteilung möglich wird. Das ausschließliche Kriterium wird für mich das Verhältnis zwischen Volkssport und Leistungssport in der DDR sein, nicht aber der Vergleich zwischen der Volkssport-entwicklung in der DDR und der gegenwärtigen Breitensportent-wicklung in den neuen Bundesländern der BRD und auch nicht der Vergleich zwischen der Volkssportentwicklung in der DDR und der Breitensportentwicklung in der einstigen BRD und den alten Bun-desländern, weil sonst die Konturen des Vergleichs verschwimmen würden.
Also: Wurde der Breitensport in der DDR gegenüber dem Leis-tungssport vernachlässigt? Diese Frage kann nicht vorausset-zungslos beantwortet werden. Denn außer dem bereits genannten Kriterium wären die Dimensionen und Fakten zu bestimmen, an-hand derer ein objektiver Vergleich erfolgen könnte. Jede der nach-folgend angeführten Dimensionen des Vergleichs zwischen Volks-sport- und Leistungssportentwicklung bedürfte einer gesonderten vorurteilsfreien und umfassenden Recherche, die von diesem Auf-satz nicht erbracht werden kann. Hier soll lediglich dargelegt wer-den, wie - nach meiner Ansicht - ein solcher wissenschaftlicher ideologiefreier Vergleich vorgenommen werden könnte. Diese me-thodenkritischen Vorbemerkungen sollen gelegentlich durch ver-fügbare Fakten untersetzt und durch notwendige Richtigstellungen zu vorliegenden Veröffentlichungen ergänzt werden.
Als erstes Kriterium wäre die finanzielle Unterstützung heranzuzie-hen. Wieviel Millionen wurden jährlich für den Volkssport und für den Leistungssport bereitgestellt? Bei den Mitteln für den Breiten-sport wären nicht nur die auf Landes- und später auf Bezirksebene, die von den Städten und Gemeinden bereitgestellten staatlichen Finanzen und die aufgewendeten Mittel der Sportorganisationen (DTSB, GST) selbst zu berücksichtigen, sondern auch die Zu-schüsse der Gewerkschaften und anderer Organisationen sowie vor allem seitens der Betriebe, worauf BUGGEL bereits hingewiesen hat. Inwieweit das nachträglich exakt zu bilanzieren wäre, möchte ich offen lassen. Es sollte aber zumindest versucht werden, und
zwar ohne die nun schon weithin bekannten selektiven Vorge-hensweisen und einseitig begründeten Urteile und Schlüsse. Denn es kann angenommen werden, daß bei Berücksichtigung aller Zu-wendungen für den Volkssport ein Betrag zusammenkäme, der den für den Leistungssport bereitgestellten weit übertrifft.
Als zweites ebenso wichtiges Kriterium wäre die materielle Ausstat-tung zu vergleichen, auf die BUGGEL ebenfalls eingegangen ist. In dieser Dimension dürfte der Leistungssport, insbesondere hinsicht-lich der Sportanlagen, sicherlich besser abschneiden. Für den Volkssport fehlte es vielerorts an Sporthallenkapazitäten und an Schwimmhallen sowie an anderen Sportanlagen. Sportsoziologen haben deshalb zuletzt 1988 in einer Art Zukunftspapier zur Ent-wicklung des Volkssports den Neubau weiterer Sport- und Schwimmhallen gefordert und unter anderem konkret die Errich-tung von Sport- und Erholungszentren in allen Bezirksstädten nach dem Muster des Berliner SEZ vorgeschlagen. (GRAS/SIEGER 1988) Immerhin hat die wirtschaftlich schwache DDR in der Zeit von 1975 bis 1988 insgesamt 67 Volksschwimmhallen errichtet, deren Unter-haltung heute finanzielle Schwierigkeiten bereitet und Schlie-ßungspläne wie auch bereits Schließungen zur Folge hatte. (Tab. 1) Eine Reihe von Sportstätten war ausschließlich dem Leistungs-sport vorbehalten und hätte bei entsprechendem Willen auch teil-weise und nicht so zögerlich, wie es dann zum Teil in den 80er Jahren geschah, für den Volkssport zugänglich gemacht werden können, um die angespannte Situation zu verbessern. Das Ange-bot an Schuhen, Sportkleidung und Sportgeräten für den Volks-sport blieb hinter dem zunehmenden Bedarf und den gestiegenen Ansprüchen an Vielfalt und Modernität zurück, worauf BUGGEL ebenfalls hingewiesen hat. Allerdings wären Begründungen der Art „Ich wollte ja gerne Sport treiben, aber ich bekam keine Sportschu-he“ ebenso als ein Märchen einzustufen, wie heute das häufige Ar-gument „Ich habe keine Zeit oder keine Gelegenheit“.
Tab. 1: Hallenschwimmbäder und Sporthallen in der DDR 1975 - 1988
1975
1985
Zuwachs
1988
Zuwachs ges.
Hallenbäder
141
198
57
208
67
Sporthallen 1
4244
5716
1472
6026
1782
Sporthallen 2
159
199
40
211
52
Sporthallen 3
2048
3388
1340
3869
1821
1) Sporthallen und -räume über 180 Quadratmeter
2) Sporthallen mit Zuschauerkapazität
3) Sporthallen ohne Zuschauerkapazität (Statist. Jahrbuch der DDR 1990)
Als eine dritte einzuschätzende Dimension wäre der Stellenwert des Volkssports im Verhältnis zum Leistungssport innerhalb der Sportorganisation (DTSB) und im Sportsystem generell zu analy-sieren. Gewiß: Der Leistungssport war innerhalb des DTSB perso-nell besser abgesichert, wurde straff organisiert und geleitet, konk-ret geplant und bilanziert, wie detailliert bei SCHUMANN/SCHWIDTMANN dargestellt wird. (1999, 63-67) Jedoch erfolgte auch im DTSB in den 70er Jahren eine stärkere Rückbe-sinnung auf die notwendige Förderung des Volkssports, wie auch HINSCHING konstatiert. (1998, 10) Unter anderem fand das seinen Niederschlag in der Einführung der Funktion des Stellvertreters für Freizeit- und Erholungssport bei allen Kreis- und Bezirksvorstän-den sowie eines Vizepräsidenten im Bundesvorstand des DTSB. Zahlreiche Sportgemeinschaften wurden in den folgenden Jahren mit dem Titel „Verdiente Sportgemeinschaft des DTSB“ für ihre Er-folge bei der Volkssportentwicklung geehrt, so zum Beispiel die von mir geleitete Hochschulsportgemeinschaft (HSG), deren erfolgrei-che Mitgliederentwicklung (1979: 566 Mitglieder; 1989: 1238 Mit-glieder) überwiegend aus Zugängen von Erwachsenen aus dem Territorium in ausgesprochenen Volkssportarten resultierte, wie den Laufgruppen, den Volleyballgruppen, den verschiedenen
Gymnastikgruppen, den Yogagruppen und den Wander- und Rad-wandergruppen. Als eine Besonderheit im DTSB kann die organi-satorische Einrichtung der „Allgemeinen Sportgruppen“ angeführt werden, die teilweise in den Landessportbünden im Osten heute noch existieren, aber wegen ihrer Nichtzugehörigkeit zu einem Fachverband nun Finanzprobleme bereiten. Man Kann also sehr wohl für die 80er Jahre von einem ausdifferenzierten Sportangebot für alle seitens und innerhalb des DTSB sprechen, wobei neben den organisierten Sportgruppen die zahlreichen vom DTSB initiier-ten volkssportlichen Veranstaltungen zu ergänzen wären, auf die auch Buggel hinweist. (Ausführlich bei HENNIG 1998, 34 ff u. 87 ff)
Viertens müßte die staatliche Förderung des Volkssports einer um-fassenden Analyse unterzogen werden, von der Analyse einschlä-giger Dokumente (der Verfassung, der Gesetze, Verordnungen und Anordnungen) über die Leitungsstrukturen und -praktiken bis hin zur Effektanalyse (Wirkungsforschung). Dieser Anforderung wird man nicht gerecht, wenn man nur selektiv diese oder jene Doku-mente heranzieht, um a priori feststehende Urteile zu „beweisen“, also - um nur einige Beispiele solcher Vorurteile zu nennen - daß der Volkssport in der DDR instrumentalisiert worden wäre und ar-beitszentriert gewesen sei (BAUR/BRAUN 2000, 21 ff), daß das Sys-tem zentralistisch und dirigistisch, die staatliche Förderung eine „vormundschaftliche“ gewesen wäre und dergleichen, was schließ-lich den lobenswerten, ja vorbildlichen Entwicklungen im Volkssport der DDR, zum Beispiel der gesetzlich verankerten kostenlosen Nutzung von Sporteinrichtungen durch Volkssportgruppen oder die kostenlose Inanspruchnahme des staatlichen sportmedizinischen Dienstes unterschiedslos durch alle, auch durch die Volkssportler von vornherein abwertet und einen negativen Anstrich verleiht. Nach meiner Kenntnis der Sachlage hat der Staat DDR die mit der Verfassung gegebene Förderzusage eingehalten, diese in entspre-chenden Gesetzen und Anordnungen verankert und eine umfas-sende und systematische staatliche Förderung des Volkssports gewährleistet, das Zugesagte auf der Grundlage langfristiger Kon-zepte also auch praktisch umgesetzt, obwohl vor allem in materiel-ler Hinsicht viele Wünsche nicht befriedigt werden konnten. Als ein Beispiel für solch ein langfristiges Konzept zur Entwicklung des Volkssports sei auf die Beschlußvorlage für den Bezirkstag Karl-Marx-Stadt vom 12.6.1985 verwiesen. (vgl. Dokumente)
Eine fünfte Dimension, die zu der im Thema genannten Frage ana-lysiert werden müßte, wäre die Präsenz des Volkssports in den Medien. Für eine objektive Analyse wäre die Sportberichterstattung einer repräsentativen Auswahl von Zeitungen und Zeitschriften, und zwar über längere Zeiträume, und eine Analyse der TV-Sportsendungen vorzunehmen. HERRMANN (1998) hat aus der Sicht persönlicher Erfahrungen und der Analyse einer einzigen Lo-kalzeitung einen Beitrag vorgelegt, der den Ansprüchen einer wis-senschaftlichen Recherche schon infolge der Beschränkung auf ein einziges Lokalblatt, den Zeitraum von einem Jahr (1968/69) und der Art und Weise der Darstellung seiner Untersuchungsergebnis-se (nachträglich distanzbetonten Schreibweise) nicht gerecht wird. So wird zum Beispiel die Berichterstattung der analysierten Zeitung über den Tanzsport fast zu einer Widerstandsaktion hochstilisiert. (288-289) Übrigens heutzutage ein weit verbreitetes Ritual, und man nimmt mit Erstaunen zur Kenntnis, wie viele sich heute sozu-sagen als frühere Widerstandskämpfer outen. Meine Hypothese lautet, daß der Volkssport in den damaligen Medien durchaus in normalem Maße präsent war, sicherlich auch kampagnehaft (HERRMANN 1998, 282), wobei sich das Prädikat „normal“ auf die Relation Leistungssport-Berichterstattung bezieht, die ja verständli-cherweise ein größeres und seitens der Medien zu beachtendes Zuschauer- oder Leserinteresse fand und noch immer findet.
Die Betrachtung könnte schließlich durch eine wesentliche sechste Dimension ergänzt werden: Welche Rolle spielten die Bedürfnisse der Individuen bei der Volkssportentwicklung in der DDR? Auch zu dieser Frage liegen bereits Anworten vor. So behauptete DIGEL, daß es einen an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Brei-tensport wie in der BRD in der DDR nicht gegeben habe. (1995, 16) Und HINSCHING spricht im Zusammenhang mit dem Alltags-sport von einer „diktatorischen Verfügung über die Bedürfnisse der Menschen“. (1998, 25) Für mich bleibt hier offen, inwieweit diese Aussage von HINSCHING das Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse darstellt oder nur Ausdruck für eine bereitwillige Übernah-me der „Totalitarismusthese“ ist. Ich möchte darauf hinweisen, daß wiederholte und vergleichbare Befragungen zu Motiven der Brei-tensportlerinnen und -sportler keine prinzipiellen Unterschiede zwi-schen West und Ost in Bezug auf die Motivationen erbrachten. Ge-sundheit, Fitneß, Figur, Natur, Selbstbestätigung spielten im Brei-
tensport in Ost und West etwa die gleiche Rolle. (ERBACH/BUGGEL 1967, 30; PRAHL 1977, 101; GÄRTNER/HINSCHING 1982, 308; GRAS et al. 1989a, 10; VOIGT 1992, 126-131; ROHRBERG 1993, 148) Mei-ne Gegenthese hierzu lautet daher: Ohne ein Eingehen auf die Be-dürfnisse der Menschen wäre der nachweisbare Zuwachs an Mit-gliedern im DTSB von 1971 (2,2 Millionen) bis 1989 (3,6 Millionen, 23 Prozent der Bevölkerung) undenkbar gewesen. Der Mitglieder-zuwachs im Erwachsenenbereich resultierte vor allem aus Zugän-gen in solchen bedürfnisgerechten und trendgemäßen Sportarten wie Laufen, Gymnastik in unterschiedlichen Formen, vor allem Popgymnastik oder Rückengymnastik, Yoga, Bergsteigen, Wan-dern zu Fuß, per Rad oder im Boot oder Skilanglauf sowie in den Allgemeinen Sportgruppen. Zum Beispiel verfügten 1988 die drei größten Sportgemeinschaften in der Stadt Zwickau, die Betriebs-sportgemeinschaft (BSG) Sachsenring (3400 Mitglieder, davon 1305 Erwachsene, 18 Sektionen), die BSG Lokomotive (2087 Mit-glieder, davon 1284 Erwachsene, 25 Sektionen) und die HSG Pä-dagogische Hochschule (1201 Mitglieder, davon 1119 Erwachse-ne, 15 Sektionen sowie Allgemeine Sportgruppen) über mehr Mit-glieder (6.784), als infolge des Wegbrechens der großen Betriebs-sportgemeinschaften 1991 der gesamte Stadtsportbund mit 58 Sportgemeinschaften aufzuweisen hatte (6.724 Mitglieder). Zu ei-nem hohen Anteil waren die von den Erwachsenen betriebenen Sportarten „Volkssportarten“ wie Wandern, Kegeln, Schwimmen, Tischtennis, Laufen, Volleyball oder Gymnastik. Im Bereich des in-formellen Sports dürfte es ein ähnliches Bild gegeben haben, wo-rüber allerdings keine exakten statistischen Angaben vorliegen. Die BSG Lokomotive Zwickau organisierte aber zum Beispiel im Jahr 1988 insgesamt 35 offene Wanderungen, 12 Laufveranstaltungen, 24 Volleyballturniere, 2 Tischtennisturniere und 21 Brigade- und Betriebssportfeste, übrigens alle, ohne einen Unkostenbeitrag von den Aktiven zu erheben.
Auf die Bedeutung des individuellen Sporttreibens wurde bereits im Bericht über die DDR-Erhebung von 1965 (ERBACH/BUGGEL 1967, 17; 20-23; 32-35; 63; GRAS/STEGLICH et al. 1969, 163; 193) sowie auch in den nachfolgenden Analysen hingewiesen und Konse-quenzen abgeleitet. Nach HINSCHING aber hat die „institutionalisier-te Sportsoziologie“ dies „so gut wie nicht zur Kenntnis genommen und als Tendenz nicht kritisch hinterfragt“. (1998, 198) Zudem stili-
siert HINSCHING den Trend zum individuellen Sporttreiben einer-seits zu einer Distanzierung vom offiziellen Sportsystem hoch und erklärt ihn andererseits mit „Individualisierungstendenzen“. (1998, 28-29; 198; 202-204) Angesichts der Einschätzung von ZAPF, daß die Bundesrepublik Deutschland um 1970 erstmals eine „moderne Gesellschaft“ war (1992, 196), wäre also die DDR schon 1965 eine „moderne Gesellschaft“ gewesen! Eine ernsthafte Analyse der Be-ziehung zwischen „Individualisierung“ und dem informellen Sport-treiben liefert HINSCHING in der 1998 erschienen Schrift nicht und ersetzt sie statt dessen durch die bloße Übernahme von gängigen Begriffen, die so zu leeren Worthülsen verkommen. Angesichts der wiederholten umfassenden und zumeist landesweit repräsentativen sportsoziologischen Analysen zur Entwicklung des Volkssports in der DDR, zur Rolle der Sportgemeinschaften und der Übungsleiter, zu den Bedürfnissen und Wertorientierungen der Sporttreibenden und zu den Gründen der Inaktiven fragt man sich, wie HINSCHING zu der Aussage kommt, die Sportentwicklung von unten habe die Sportsoziologie in der DDR nicht interessiert. (1998, 23)
Natürlich muß auch festgestellt werden, daß bestimmte vorhande-ne, durch internationale Trends beeinflußte Sportartenwünsche nicht oder nur unbefriedigend befriedigt werden konnten, teils aus wirtschaftlichen Gründen (zum Beispiel das Angebot an Alpinski oder Surfbrettern), teils auf Grund von Restriktionen (zum Beispiel Drachenfliegen, Ballonfahren), teils auf Grund der Reisebeschrän-kungen (zum Beispiel die Teilnahme an internationalen Massenläu-fen oder Skilaufen in alpinen Regionen in Westeuropa). Derartige Beschränkungen werden ja bei HINSCHING (1998) mehrfach her-vorgehoben, um der offensichtlich politischen Diktion des Buches zu entsprechen. Aber es gab im Unterschied zu heute kaum finan-ziell bedingte Zugangsbeschränkungen zu exklusiven oder auf-wendigen Sportarten, wie etwa Pferdesport oder Segelsport weder für Erwachsene noch für Kinder, die zu einer derartigen sozialstruk-turellen Differenzierung im Breitensport wie in der Gegenwart ge-führt hätten. Das vorhandene Sportangebot war finanziell er-schwinglich (einheitlicher Mitgliedsbeitrag für Erwachsene 1,30 Mark, für Lehrlinge, Oberschüler, Studenten, Rentner 0,80 Mark, für Schüler 0,20 Mark monatlich!) und daher für jedermann prinzi-piell zugänglich.
Schließlich müßte eine objektive Analyse der Rolle des Volkssports auch als eine siebente Dimension die Förderung des Volkssports durch wissenschaftliche Untersuchungen einschließen. Die sport-wissenschaftlichen Forschungen in der DDR zum Thema „Volks-sport“ werden bei DICKWACH/AUSTERMÜHLE (1998, 160-183) relativ ausführlich dargestellt, wenn auch mit Konzentration auf die DHfK in Leipzig und das dort seit 1977 bestehende Institut für Volkssport, später Institut für Freizeit- und Erholungssport beziehungsweise Institut für Massensport. Das der Arbeit von DICKWACH/AUSTERMÜHLE angefügte Literaturverzeichnis (179-183) gewährt nicht nur Einblick in die umfangreichen empirischen Unter-suchungen zum Volkssport und die entsprechenden Publikationen, sondern es ermöglicht auch festzustellen, daß die umfangreichen soziologischen Untersuchungen ausschließlich dem Breitensport der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen galten. Diese Untersu-chungen waren und sind zwar vor allem der angewandten For-schung zuzuordnen. Auch wenn DICKWACH/AUSTERMÜHLE behaup-ten, „Grundlagenforschung wurde auf volkssportlichem Gebiet nicht geleistet“ (165), sind doch - insofern muß man dieser Behauptung widersprechen - beachtenswerte theoretische Arbeiten seitens der Sportsoziologie vorgelegt worden, zum Beispiel zu „Sport und Ar-beit“ (GRAS 1964), zu den „sportbezogenen Bedürfnissen“ (BAUM 1967, ROHRBERG 1979 b, 1982, 1987), zu „sportbezogenen Wer-torientierungen“ (HENNIG/KAFTAN/KUHNKE 1989) und zu „körperli-cher Leistungsfähigkeit und Persönlichkeit“. (ROHRBERG 1977, 1979 a) Darüber hinaus sei hier ausdrücklich auf verschiedene theoretisch angelegte sportmedizinische und sportmethodische Ar-beiten verwiesen, die von DICKWACH/AUSTERMÜHLE zum Teil auch selbst angeführt werden. Besonders hervorzuheben ist für alle wis-senschaftlichen Untersuchungen im Volkssport die frei vom Stre-ben um Existenzsicherung und Besitzstandswahrung praktizierte interdisziplinäre wissenschaftliche Zusammenarbeit, die Komplexi-tät und komplexe Einsichten ermöglichte. Mein vorläufiges Fazit lautet daher.
Der Volkssport in der DDR wurde umfassend gefördert und hatte eine beachtliche Verbreitung und Vielseitigkeit erreicht. Seine an-erkannte Bedeutung für die Volksgesundheit und die Bedürfnisbe-friedigung wie auch seine allseitige Förderung reproduzierte das Verhältnis und die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit
stets auf höherem Niveau und in neuen Formen. Für die neu ent-stehenden und entstandenen Widersprüche und Herausforderun-gen wurden - ob auf dem Land oder in der Stadt - vielfältige aber - auch bedingt durch die ökonomischen Voraussetzungen - nicht immer befriedigende Lösungen gefunden.
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Statistisches Jahrbuch der DDR 1990
Brettsegeln in der DDR
Von HANS-JOACHIM BENTHIN
An der Universität Potsdam befassen sich Wissenschaftler mit der Erforschung der Entwicklung des Brettsegelns in der DDR. Der als ehemaliger Stellvertretender Generalsekretär des DDR-Segelverbandes für diese Frage durchaus kompetente Hans Joachim Benthin war bislang nicht befragt worden. Er hörte von dem Projekt und bot uns den folgenden Beitrag an.
Das schnell erlernbare Windsurfen, auch Segelsurfen, Stehsurfen oder Brettsegeln wurde am Ende der sechziger Jahre entwickelt und verbreitete sich schnell über alle Erdteile, besonders auch in Europa.
Ab 1974 begann diese Sportart in der DDR Fuß zu fassen. Mitglie-der von Motorsportclubs (MC), zumeist ehemalige Wasserskiläufer, waren die Ersten. Aus den Segelsektionen des Bundes Deutscher Segler (BDS) fanden weitere Sportfreundinnen und Sportfreunde Gefallen an dieser neuen Sportart und die Zahl der Sporttreiben-den wuchs in allen Bezirken der DDR stetig an. Die Veranstal-tungsinitiativen für das Brettsegeln gingen 1975 noch von den MC aus, wie die folgende Übersicht erkennen läßt:
Veranstalter
Segelrevier
Zahl d. Teilneh-mer
MC Waren
Müritz
42
MC Potsdam
Schwielochsee
29
MC Eisenach
Bleilochtalsperre
28
MC Neptun (1.)
Krüpelsee
21
Chemie Schmöckwitz
Seddinsee
37
Ing.-Hochschule
Warnemünde
28
MC Neptun (2.)
Krüpelsee
29
Zur Ausübung ihres Sports benutzten die Aktiven zunächst ein in Ei-genbau und Holzbauweise hergestelltes Segelbrett in den Maßen 3,65 x 0,65 x 13.
Das Präsidium des BDS unterstützte die vielfältigen Aktivitäten und faßte 1975 - auf der Grundlage der Vorarbeit seiner Fachkommis-sionen - grundsätzliche Beschlüsse zur Förderung des Brettse-
gelns und zur Integration in den BDS als nationale Bootsklasse. So wurden durch die Kommission Prüfungswesen des Präsidiums in Zusammenarbeit mit der Abteilung Wasserschutzpolizei des Minis-teriums des Innern „Zusatzbestimmungen zur Sportbootordnung“ (SBAO) vom 2. Juli 1974 (Sonderdruck des Gesetzblattes Nr. 730) zur Regelung des Verkehrs auf den Gewässern mit Segelbrettern (Windsurfing) erarbeitet, die 1975 mit sofortiger Wirkung in Kraft traten. Diese Zusatzbestimmungen zur SBAO vom 2. Juli 1974 wurden wenig später mit der Anordnung Nr. 2 zur SBAO vom 15. Mai 1979 für das Brettsegeln konkretisiert und erweitert.
Die Kommission Prüfungswesen des BDS gewährleistete, daß die Zusatzprüfung für das Brettsegeln abgelegt und jeweils im Befähi-gungsnachweis für das Führen von Sportbooten eingetragen wer-den konnte. Denn für die Wassersportler war es selbstverständlich: Wer sich auf den Gewässern mit einem Segelbrett bewegt, muß auch alle einschlägigen Bestimmungen kennen und wissen, wie man sich auf den Wasserstraßen verhält, ohne sich selbst oder andere zu gefährden. Die Regattatätigkeit wurde auch für das Brettsegeln von der Kommission Regattasport des BDS koordiniert und ein Vertreter der Brettsegler in die Kommission berufen. In den Jahren 1975-1977 waren alle Brett-Typen startberechtigt.
Die Technische Kommission des BDS nummerierte die Segelbret-ter fortlaufend in einem Register. Ein Klassenzeichen wurde nicht eingeführt. Und es wurde eine erste Bauvorschrift mit relativ gro-ßen Toleranzen beschlossen, nach der in den Jahren bis 1977 in-dustriell und im Selbstbau gefertigte Segelbretter gebaut werden konnten.
Das Präsidium des BDS bat die Industrie, in Zusammenarbeit mit den Kommissionen des Präsidiums die Produktion von Segelbret-tern aufzunehmen mit dem Ziel, die Entwicklung der Einheitsboots-klasse 1977 abzuschließen und ab 1.1.1978 alle Neubauten nur noch nach Einheitsvorschrift zu produzieren und zu vermessen. Seit 1976 wurden in der DDR Segelbretter industriell hergestellt, im VEB Yachtwerft Berlin der Typ „Ypton“ und im VEB Waggonbau Ammendorf der Typ „Delta“. Das Segelbrett vom Typ „Delta“ - eine Gemeinschaftsentwicklung der Ingenieurhochschule Warnemün-de/Wustrow und des VEB Waggonbau Ammendorf - wurde ab 1978 eine im BDS anerkannte nationale Einheitsklasse, in der jähr-lich DDR-Meisterschaften ausgetragen werden konnten. Mit allem
Zubehör in der Standard- und der Regattaversion war das Segel-brett „Delta“ im Fachhandel zu beziehen. Standard- und Regatta-version unterschieden sich durch ihre Segelqualitäten. Die Serien-nummer des Segelbrettes, die vom Waggonbau Ammendorf an den Handel mitgeliefert wurde, fungierte zugleich als Segelzeichen. Der Einzelhandelspreis lag bei 1900,00 bis 2000,00 Mark. Wie bei vielen anderen hochwertigen Konsumgütern der damaligen Zeit blieben Wartezeiten von 12 bis 18 Monaten nicht aus.
Mit der industriellen Fertigung von Segelbrettern nahm das Brett-segeln in der DDR einen raschen und breiten Aufschwung. Die Vorteile des Segelbrettes gegenüber einer modernen Gleitjolle la-gen auf der Hand: einfache, schnell erlernbare Handhabung, be-deutend geringerer Preis, keine Liegeplatzprobleme, geringeres Gewicht (etwa 25 kg) und damit günstige Transportmöglichkeiten, ein schnelleres Klarmachen zum Segeln, vom Spaß, ein solches Brett zu beherrschen, ganz zu schweigen. Das Brettsegeln zählte zu den nationalen Bootsklassen im BDS. Als internationale Boots-klasse im Rahmen des olympischen Regattasports war sie nicht vorgesehen. 1977 wurde die Kommission Brettsegeln im Präsidium des BDS gebildet. Ihr gehörten die Vorsitzenden der 15 Bezirks-fachausschüsse (BFA) Brettsegeln und Vertreter aus den Motor-sportclubs (MC) an. Der Vorsitzende dieser Kommission wurde ins Präsidium des BDS berufen.
Die erste Bestenermittlung der Brettsegler fand auf der Ostsee vor Warnemünde 1977 statt. Es waren insgesamt 59 Brettsegler am Start, 49 Männer und 10 Frauen. Die nationalen Meisterschaften wurden auf folgenden Segelrevieren durchgeführt:
Jahr
Segelrevier / Ort
Jahr
Segelrevier / Ort
1978
Müritz
1985
Müritz
1979
Wismar
1986
Senftenberger See
1980
Bad Saarow
1987
Müritz
1981
Müritz
1988
Greifswalder Bodden
1982
Saaler Bodden
1989
Schweriner Außensee
1983
Müritz
1990
Rerik
1984
Schwerin
Die Meisterschaften waren ausgeschrieben für Männer bis 75 kg Körpergewicht, Männer über 75 kg Körpergewicht und Frauen, ab 1979 auch für die männliche und weibliche Jugend. Die Teilneh-
merzahlen bei Meisterschaften und Pokalregatten beliefen sich auf 50 bis 60 Starterinnen und Starter pro ausgetragener Klasse.
Einschränkungen für den gesamten Sportbootverkehr einschließ-lich des Brettsegelns ergaben sich aus folgenden Verordnungen und Verfügungen:
- Verordnung des Ministerrates der DDR zum Schutze der Staats-grenze (Grenzordnung) vom 19. März 1964 (GBL II, S. 257) und Anordnung des Ministerrates für Nationale Verteidigung über die Sicherung der Seegrenze der DDR (Nautische Mitteilungen für Seefahrer Nr. 33/64). Welche Sportsegelboote innerhalb und au-ßerhalb der Territorial-Gewässer der DDR verkehren durften, regel-ten die §§ 40 und 43 der Grenzordnung.
- Verfügung des Seefahrtsamtes der DDR über die Durchführung des Verkehrs mit Sportbooten und Hausbooten auf den inneren Seegewässern vom 18. Juni 1976 (GBL II Nr. 107, S. 749) und die Sportbootordnung (SBAO) vom 2. Juli 1974 (Sonderdruck Nr. 730), und zwar der § 3 Abs. 4.
Mit der Entwicklung des Brettsegelns im Bund Deutscher Segler (BDS) wurde durch das Zusammenwirken von Mitgliedern, Sektio-nen in den Sportgemeinschaften, Kreis- und Bezirksfachausschüs-sen und Präsidium des BDS sowie mit den im Allgemeinen Deut-schen Motorsportverband (ADMV) organisierten Motorsportclubs (MC) nachweislich ein Beitrag zur Entwicklung des Breitensports geleistet. Als Zeitzeuge sehe ich mich in der Pflicht, das hier - wenn auch nur sehr knapp - zu dokumentieren, mit bedingt durch die Erfahrung, daß im Prozeß der sogenannten Geschichtsaufar-beitung mitunter Sachkunde und Sachwissen offenbar eher stören.
Sportpädagogik - Geschichtsvergessenheit?
Von HEINZ SCHWIDTMANN (†) und KARSTEN SCHUMANN
In der Schrift „Sportwissenschaft in Deutschland und Japan“ (NAUL/OKADE 2000) konnten wir unlängst in einem Beitrag von Ommo GRUPE zur „Sportpädagogik in Deutschland“ lesen: „Von Sportpädagogik als Bezeichnung für ein bestimmtes sportwissen-schaftliches Fachgebiet wird seit Ende der 1960er Jahre gespro-chen. Im Titel des Buches ‘Grundlagen der Sportpädagogik’ wurde zum ersten Mal der neue Name für das Fachgebiet benutzt. In der 200-jährigen Geschichte hat es unterschiedliche Namen getragen und wurde als Turnen, Gymnastik, Leibesübungen, Leibeserzie-hung, Körpererziehung oder ‘Theorie der Leibeserziehung’ be-zeichnet.“ (50) In seinen einleitenden Bemerkungen hatte der Autor einschränkend formuliert: „Die Sportpädagogik gibt es nicht, es gibt sie nicht international und auch nicht in Deutschland. Es gibt viel-mehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was Sportpädagogik ist. Diese unterschiedlichen Vorstellungen will ich im Folgenden nicht besonders herausstellen; ich möchte vielmehr die Übereinst-immungen hervorheben, die der Sportpädagogik ein bestimmtes und gemeinsames Profil geben.“ (47) Alle notwendigen Einschrän-kungen für eine aspekthafte Betrachtung scheinen formuliert und Fragen sollten sich damit erübrigen.
Trotzdem fällt erstens der Geltungsbereich für die getroffenen Aus-sagen auf, der sich zweifelsfrei und völlig uneingeschränkt auf Deutschland bezieht, obwohl lediglich die Entwicklung der Sport-pädagogik in den alten Bundesländern behandelt wird, und zwei-tens die ganz konkrete Zeitangabe, mit dem Verweis auf den Titel „Grundlagen der Sportpädagogik“ (GRUPE 1969). Auch wenn der Text dieses Beitrages zur „Sportpädagogik in Deutschland...“ un-verwechselbar eine ganz bestimmte Entwicklung und Entwick-lungslinie verfolgt und darstellt, verweisen wir - wenn auch nur kurz - auf eine völlig andere Entwicklung und Entwicklungslinie, weil sie - geht man von der Institutionalisierung der Wissenschaftsdisziplin Sportpädagogik aus - anders verlief und zeitlich früher nachweisbar ist.
Zu den unumstößlichen Tatsachen der Wissenschaftsentwicklung im Bereich der Sportwissenschaft gehört, daß nach dem Zweiten Weltkrieg die „ursprüngliche Absicht der Alliierten“ in Deutschland darin bestand, „dieses Volk nicht zuletzt durch Erziehung auf den Weg zur Demokratie und in die internationale Völkergemeinschaft zurückzuführen“. (OPPERMANN 1989, XLVII) „Und da von alliierter Seite das überkommene, ständisch orientierte Bildungssystem als mitschuldig an der Katastrophe erkannt wurde, lag die zentrale Aufgabe nationaler Gesundung in einer demokratischen Schulre-form.“ (XLVII) Für die sowjetisch besetzte Zone - so Heinrich DEITERS in seinen Erinnerungen - „ist es wichtig zu sagen, daß der Einfluß der jeweiligen Besatzungsmacht die Einführung der Ein-heitsschule in den Westzonen ebenso verhindert, wie in der Ostzo-ne ermöglicht hat.“ (1989, 167) Und es sich „im wesentlichen“ aus „dieser Konstellation erklärte..., daß die sowjetische Militäradminist-ration und ihr deutsches Organ für Angelegenheiten der Volksbil-dung sich entschlossen, die alte Forderung der Lehrerschaft nach akademischer Ausbildung aller Lehrer zu erfüllen. Es war eine Tat der Demokratisierung, die mit der Einrichtung der demokratischen Einheitsschule parallel ging.“ (200) Unmittelbarer Ausdruck für die-sen Prozeß der Demokratisierung war das „Gesetz zur Demokrati-sierung der deutschen Schule“ von 1946 und die Verfassung der DDR von 1949. Sie „formulierte erstmals das Prinzip der Chancen-gleichheit in der Bildung (Art. 35) und in Artikel 37 nahm sie text-identisch die Formulierungen aus dem Schulgesetz von 1946 auf...“ (OPPERMANN 1989, XXXII) „Die achtjährige (Einheits-) Grundschule wurde durchgesetzt, Oberschule und Universität de-mokratisiert, die Lehr- und Lehrmittelfreiheit eingeführt...“ (XXX) und im Herbst 1946 wurden an allen Universitäten und Hochschu-len der sowjetischen Besatzungszone pädagogische Fakultäten gegründet. Dieser hier nur knapp skizzierte Prozeß der Neugestal-tung der Bildung im Osten Deutschlands schloß das Fach Körper-erziehung und die akademische Bildung von Sportlehrern für die-ses Fach ein. Das Lehrfach Körpererziehung erhielt einen festen Platz in der Stundentafel der Grund- und Oberschule, am 1. Juli 1946 legte eine Kommission der Zentralverwaltung Volksbildung der Sowjetisch Besetzten Zone unter Vorsitz von Max Preuß den Lehrplan „Körpererziehung“ vor, ab 10. April 1950 wurde das Un-terrichtsfach Körpererziehung und ab 15. Mai 1950 der Schwimm-
unterricht an allen allgemeinbildenden Schulen (Verordnung des Ministeriums für Volksbildung... vom 30. März 1950) obligatorisch eingeführt ebenso wie für die Studierenden in den ersten beiden Semestern ab Studienjahr 1951/1952 und ab 1953 an allen Berufs-schulen (Verordnung des Ministerrates... vom 19. Dezember 1952). Zugleich wurde begonnen, die dazu notwendigen Sportlehrer an den Universitäten auszubilden. So wurde zum Beispiel am 5. No-vember 1946 das Institut für Leibesübungen und Schulhygiene (ab 28.11.46 Institut für Körpererziehung) an der Berliner Universität zugelassen und wieder- oder neugegründet (BELOW 2001, 64) ebenso wie an den Universitäten in Halle, Jena, Leipzig, Rostock und Greifswald - wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten - und an den Pädagogischen Instituten und Hochschulen Potsdam (1949), Magdeburg und Zwickau (1950). Damit wurde zugleich die Entwicklung der Wissenschafts- und Lehrdisziplin „Methodik der Körpererziehung“, die später als „Methodik des Schulsports oder des Sportunterrichts“ bezeichnet wird, eingeleitet, das heißt einer Wissenschafts- und Lehrdisziplin, die sich ausdrücklich als „Fach-methodik“ verstand, die „in ihrem Inhalt durch die allgemeine Pä-dagogik und speziell durch die Didaktik“ (STIEHLER 1966, 38) be-stimmt war, und zwar als „pädagogische Disziplin“ und „spezielle Didaktik“ (STIEHLER 1973, 15 ff), der als Fachmetho-dik/Fachdidaktik Sport aber eigene Begründungs- und Orientie-rungsleistungen abgefordert wurden, für die ein spezifisches Ver-hältnis von Methodik und Fachwissenschaft charakteristisch war (HUMMEL 1997, 131) und „kein reduktionistisches Methodikver-ständnis unterlegt wurde“. (137) Also eine spezifisch ostdeutsche Entwicklung, die „nicht verkürzt und gleichgesetzt“ werden kann „mit der ‘methodischen Dimension’ der ‘Fachdidaktik Sport’ im Sin-ne des westdeutschen Entwicklungsweges“. (131) In diese spezi-fisch ostdeutsche Entwicklung war auch die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK), die 1950 gegründet worden war, einge-schlossen, insbesondere das Institut „Theorie der Körpererziehung der Kinder und lernenden Jugend“, das 1952 entstand, die Abtei-lung schulische Körpererziehung (ab 1955/1956) und schließlich das in den 60er Jahren von Günther STIEHLER geleitete Institut für Theorie und Methodik des Schulsports. Das gilt gleichermaßen für die entsprechenden Abteilungen der Forschungsstelle an der DHfK. STIEHLER leitete auch die Fachkommission Methodik des
Sportunterrichts, die 1963 gegründet worden war und 1966 das erste eigenständige Studienprogramm vorlegte, und das Autoren-kollektiv von Sportwissenschaftlern aller Einrichtungen, das 1966 die Schrift „Methodik des Sportunterrichts“, eine komplexe Ge-samtdarstellung der Fachmethodik Sport (137), und 1973 eine überarbeitete und in wesentlichen Teilen neu bearbeitete Fassung veröffentlichte, die als Hochschullehrbuch anerkannt war.
Im September 1967 wurde an der Humboldt-Universität zu Berlin der erste Lehrstuhl für Theorie und Methodik des Sportunterrichts errichtet und Dr. paed. habil. Alfred HUNOLD als erster zum or-dentlichen Professor mit Lehrstuhl für dieses Fachgebiet berufen, an einem Institut, das seit 1946 der Pädagogischen Fakultät an dieser Universität angehörte. (BELOW 2001, 64) Zum selben Zeit-punkt (1.9.1967) wurde Dr. paed. STIEHLER mit der „Wahrnehmung einer Professur mit Lehrauftrag für Methodik des Sportunterrichts“ an der DHfK betraut und am 1.9.1969 zum ordentlichen Professor für „Theorie und Methodik des Sportunterrichts“ berufen. 1968 exis-tierten an allen universitären Einrichtungen und den Pädagogi-schen Hochschulen, die Schulsportlehrer ausbildeten, in den jewei-ligen Sektionen Sportwissenschaft eigenständige Wissenschafts-bereiche Methodik des Sportunterrichts. Die Methodik des Sportun-terrichts war als sportpädagogische Wissenschaftsdisziplin an allen sportwissenschaftlichen Einrichtungen institutionalisiert und hatte in Lehre und Forschung Leistungen erbracht, die im wissenschaftli-chen Schrifttum, in komplexen Lehr- und Forschungskonzepten ih-ren Niederschlag fanden.
An der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig war zu-dem vom Anbeginn die Verankerung der Pädagogik generell, und speziell der Sportpädagogik, in den Ausbildungskonzepten für das Direktstudium und das Fernstudium (ab 1953 und dem Direktstudi-um ebenbürtig) aller Fachrichtungen, für die systematische Weiter-bildung - in ihrer Einheit mit der Ausbildung - und für die sportpä-dagogische Ausbildung der Fachärzte für Sportmedizin (ab 1966) selbstverständlich. Und die konzeptionelle Entwicklung der Päda-gogik wie der Sportpädagogik als Wissenschaftsdisziplinen unver-zichtbarer Teil der Wissenschaftsentwicklung. Mit Wirkung vom 1. Dezember 1954 wurde Dr. paed. Günther RÖBLITZ „mit der Wahr-nehmung einer Dozentur für das Fach Systematische Pädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig“ beauf-
tragt. Er konzentrierte sich zugleich darauf, die Wissenschaftsdis-ziplin Sportpädagogik an dieser Hochschule aufzubauen. 1963 - also bereits Anfang der 60er Jahre - gab die Abteilung Sportpäda-gogik am Institut für Pädagogik im Ergebnis des Forschungsvorha-bens „Sportlehrbuch“ zum Zwecke eines Schulversuchs „Trainiere mit“ (OELSCHLÄGEL) und 1964 „ABC der Technik - Fußball, Basket-ball“ heraus, in deren Ergebnis ab 1968 die - auch von anderen Ländern übernommenen - Schülersportbücher entstanden. Mit Wirkung vom 1. Februar 1965 wurde Dr. paed. habil. RÖBLITZ „zum Professor mit Lehrauftrag für Systematische Pädagogik - Sportpä-dagogik“ ernannt. Damit war die Wissenschaftsdisziplin Sportpä-dagogik an der DHfK bereits Mitte der 60er Jahre als Lehr- und Forschungsdisziplin konzeptionell und strukturell vollgültig instituti-onalisiert. Mit Wirkung vom 1. September 1969 erfolgte schließlich die Berufung des Leiters des Instituts für Pädagogik, Dr. paed. ha-bil. RÖBLITZ, „zum ordentlichen Professor für Systematische Päda-gogik/Sportpädagogik an der Deutschen Hochschule für Körperkul-tur“. Nahezu zeitgleich wurde die Sportpädagogik auch am For-schungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig instituti-onalisiert. Der Dozent für Allgemeine Pädagogik, Dr. paed. habil. Heinz SCHWIDTMANN, der - seit der Gründung des Instituts für Kör-perkultur und Sport im März 1969 - den Forschungsbereich I leite-te, wurde laut „Ergänzungsschreiben zur Berufungsurkunde mit Wirkung vom 1. September 1969 als Hochschuldozent für das Fachgebiet Sportpädagogik am FKS“ berufen. Ein Jahr später er-folgte mit Wirkung vom 1. September 1970 seine Berufung vom zuständigen Minister „zum ordentlichen Professor mit Lehrstuhl für Sportpädagogik am FKS“ in Leipzig.
Solche relativ weit zurückreichenden Überlegungen zur Sportpä-dagogik und ihrer Entwicklung (hier nur knapp skizziert am Beispiel von zwei Entwicklungslinien der Sportpädagogik in der DDR) bis hin zu wesentlichen Entwicklungsbedingungen, die sich dann auch auf die Entwicklungskonzepte dieser Wissenschaftsdisziplin aus-wirken mußten, hätten wir sicher nicht angestellt, wäre nicht bereits 1996 und dann nochmals im Jahr 2000 vom selben Autor, GRUPE, in der Schrift „Vom Sinn des Sports: kulturelle, pädagogische und ethische Aspekte“ folgendes zu lesen gewesen: „Die Sportwissen-schaft in Deutschland ist nach der Vereinigung der beiden deut-schen Staaten eine andere geworden; einheitlich ist sie jedoch
nicht, auch wenn sie unter dem gleichen Namen firmiert und orga-nisatorisch in den neuen Bundesländern in Hochschulen und Uni-versitäten eingebunden ist, die die Hochschulstruktur der alten Bundesländer weitgehend übernommen haben. Das muß auch nicht der Fall sein; auch in der Sportwissenschaft sollten sich die Vielfalt der Sportkultur und ihre unterschiedlichen Sinnmuster wi-derspiegeln. Trotzdem wird sie nicht umhinkommen, sich nicht nur mit der Auflösung und Umstrukturierung der Sportwissenschaft in der ehemaligen DDR und den daraus entstandenen Folgen ausei-nanderzusetzen, sondern auch ihr Selbstverständnis zu überprü-fen. Das gilt im Hinblick auf die Literatur aus jener Zeit, die in den Bibliotheken verbleibt, mit Denkweisen, die in dem östlichen Teil Deutschlands gepflegt wurden und sicher auch zu einem Teil wei-ter gepflegt werden, und es gilt auch für die zum Teil anders gear-teten sportwissenschaftlichen Kompetenzen und Erkenntnisse, die dort vorhanden waren und noch sind. So deutet manches darauf hin, daß die in der alten DDR entwickelte Beratungskompetenz der Sportwissenschaft, die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft als eigenes System, die Nachwuchspflege, die Gütemaßstäbe für wissenschaftliche Arbeiten nicht nur zu beach-ten sind, sondern auch zur Fortsetzung der Diskussion zu diesen Fragen herausfordern sollten. Dabei wird es darauf ankommen, die politischen Verflechtungen der DDR-Sportwissenschaft von ihren sachlichen und fachlichen Gehalten zu trennen - sofern dies mög-lich ist.“ (GRUPE 2000, 292 f)
Natürlich hätten wir solch eine Einschätzung 1990/1991 noch ganz anders gelesen als 1993 oder jetzt 2001, nachdem wir die Ent-wicklung der Kultur, der Wissenschaft - einschließlich der Sport-wissenschaft - oder der Bildung in den neuen Bundesländern zehn Jahre beobachten, miterleben und selbst erfahren konnten. 1993 zum Beispiel hätten wir möglicherweise - und das als erste Über-legung - noch auf Wissenschaftsfreiheit vertraut, wohl wissend, daß Wissenschaft sich immer unter bestimmten sozialen Bedin-gungen, Gegebenheiten, Abhängigkeiten vollzieht und etablierte Wissenschaft auch den jeweiligen sozialen Gegebenheiten ge-recht werden muß. Denn - so KROHN aus Sicht der Wissenschafts-forschung - die „reflexiven Mechanismen, die sich diesseits der klassischen Kontroverse ‘Steuerung versus Autonomie’ ausbilden, können... längst nicht mehr als Bremsen des Fortschritts gedeutet
werden.“ (1990, 944), wohlweislich des Fortschritts der Wissen-schaftsentwicklung. Auch insofern hatte Jürgen MITTELSTRAß da-mals bereits generell bilanziert: „Gegebene, ihrerseits längst re-formbedürftige Strukturen des (westdeutschen) Systems wurden durch Transfer in die neuen Länder zusätzlich gestärkt bzw. kon-serviert... Geistes- und Sozialwissenschaften, einschließlich der Rechtswissenschaften. Hier ist die Wende am radikalsten - und oft am unsensibelsten - ausgefallen. Sie hat unter einem allgemeinen Ideologieverdacht, der sich bis zum Argument zu großer Staatsnä-he verdünnt, in der geschilderten Weise Strukturen, Programme, vor allem aber Personen getroffen. Der Wiederaufbau dieses Be-reichs ist schwierig... Zur Unübersichtlichkeit des Systems tritt in-stitutionelle Kurzsichtigkeit...“ Und er befürchtete, daß man „...am Ende im Osten nur den Westen wiederfinden (wird - d.A.) - mit seiner Stärke, sprich Wissenschaftsfreiheit, und mit seiner Schwä-che, sprich Reformunfähigkeit, der Unfähigkeit nämlich, in wissen-schaftssystematisch reflektierten Strukturen zu denken und zu ar-beiten.“ (1993, 230 ff) Aus der Sicht von heute muß man zunächst der 1998 gezogenen knappen Bilanz zur Entwicklung in der Sportwissenschaft im Osten Deutschlands, die BUDZISCH (79 ff) versucht hat, zustimmen und darüber hinaus erkennen, daß Chan-cen - wenn sie denn überhaupt vorhanden waren - ungenutzt blie-ben oder vertan wurden. Und in mancherlei Hinsicht fällt es ange-sichts aktueller Entwicklungen sehr schwer, sich der Einschätzung, vorsätzlich vertan wurden, zu enthalten, wie MEYER 1990 erkennen ließ und EHRHARDT (2002) oder PASTERNACK (2002) unlängst be-stätigten. Für die Sportwissenschaft, insbesondere für deren geis-teswissenschaftliche Disziplinen, aber nicht nur für diese, gilt zwei-fellos das von BOLLINGER formulierte Fazit: „Im Zuge der Neustruk-turierung der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft erfolgte ein radikaler Elitentransfer, der nicht nur in der Besetzung der jetzigen Professuren und Leitungsfunktionen, sondern auch in der näheren Zukunft in den davon abhängigen Mitarbeiterpositionen eine Do-minanz West und einen Ausschluss Ost sichert. Hier funktionieren Netzwerke, die im Unterschied zu den gern beschworenen Seil-schaften mindestens auch noch die nächste Generation ostdeut-scher Intellektueller fast durchweg ausgrenzen wird. Das wäre al-les nicht so schlimm, wenn die neuen Eliten ihre Elitenfunktion wahrnehmen würden. Aber genau das tun und können sie nicht...
Der Elitentransfer ist gescheitert.“ (2001, S. 14) Diese hier thema-tisierte Ausgrenzung auch der nächsten Generation ostdeutscher Intellektueller zeichnete sich in der Sportwissenschaft vom Anbe-ginn der Umstrukturierung im Umgang mit den Promovierten ab (LANGHOFF 1993, 21), setzte und setzt sich im Umgang mit den damals und inzwischen Habilitierten ebenso fort wie in der offen-sichtlichen Entmutigung, eine Promotion oder vor allem Habilitati-on überhaupt anzustreben oder abzuschließen. Die Rückläufigkeit der wissenschaftlichen Graduierungen im Osten, und insbesonde-re von Ostdeutschen, ist bekannt. Bewahrenswertes im wissen-schaftlichen Prozeß zu tradieren, tendiert also schon aus personel-ler Sicht hin zu kaum oder nicht mehr möglich.
Bewahren setzt auch in den Prozessen der Wissenschaftsentwick-lung - und das als zweite Überlegung - voraus, zu wissen und zu kennen. Eine Analyse der Wissenschaftsentwicklung der Sport-wissenschaft in der DDR steht jedoch aus, eine Wissenschaftsge-schichte liegt nicht vor. Die nun vorhandenen Analysen - so ver-dienstvoll sie auch sind - ersetzen nicht eine Wissenschaftsge-schichte der Sportwissenschaft in ihrer Gesamtheit. Die Analysen aus der Sicht verschiedener Wissenschaftsdisziplinen sind unver-zichtbare Vorarbeiten für eine mögliche Gesamtsicht. Und die im Prozeß der Aufarbeitung von DDR-Sportgeschichte entstandenen Schriften tangieren die Wissenschaftsgeschichte - als Ganzes ge-sehen - lediglich. Zudem mußte insbesondere in diesem Prozeß immer wieder die Einhaltung der Rationalitätskriterien wissen-schaftlicher Arbeit thematisiert und angemahnt werden (BUDZISCH/SCHWIDTMANN 1997; BUDZISCH 1998, 1998; SCHUMANN/SCHWIDTMANN 1998, 1999; BUSS et al. 1999 u.a.) Heu-te muß man - wohl begründet - hinzufügen: Auch der Anspruch, sich der Komplexität des Gegenstandes durch eine angemessene Komplexität der Analysen (TEICHLER/REINARTZ 1999, BAUR/BRAUN 2000) zu nähern, wurde bisher nicht hinreichend eingelöst. (SCHWIDTMANN/HUHN 2000, GRAS 2001) Noch prägen Enthüllun-gen und Enthüllungsliteratur - Denunziation eingeschlossen - stär-ker das Bild. Und verständliche Reaktionen derjenigen, gleichgültig ob sie sich zu Wort meldeten, weil sie DDR und Sport in diesem Land selbst erlebt hatten oder sich infolge grundlegender Erwä-gungen zur wissenschaftlichen Arbeit aufgefordert sahen, konnten sich elitärer Arroganz der Reaktionen gewiß sein. Aber das über-
zeugt nicht und schränkt Wirkungsmöglichkeiten von Wissenschaft tiefgreifend und nachhaltig ein, macht ebenso unglaubwürdig wie eine intellektuelle Kultur, die in der Analyse nicht mehr zu differen-zieren, sondern nur noch moralisch zu diskriminieren versteht und damit ständig der Gefahr unterliegt, Einsichten durch moralische Vor-Urteile zu ersetzen, und zwar durch eine Fülle von - zum Teil schon außerordentlich althergebrachten - Vorurteilen und Kli-schees sowohl über den DDR-Sport als auch über die Sportwis-senschaft und ihre Entwicklung, die mit einer ungemein erstaunli-chen Akribie immer wieder bedient werden und offenbar auch be-dient werden müssen, wenn man all die doch mitunter geradezu verwunderlichen „Anstrengungen“ von Wissenschaftlern beobach-tet, die es eigentlich besser wissen müßten. Wir verweisen hier nur auf die von GRAS (1999), WONNEBERGER (2000) und ROHRBERG (2002) vorgelegten Einschätzungen. Die eine wie die andere - hier nur kurz charakterisierte - Erscheinung kennzeichnen letztlich den Mangel an Zweifel. Aber - so MILHAUD - auf „den Zweifel nicht zu-rückzugreifen, würde in jedem Fall bedeuten, sich der Verpflich-tung zum Denken zu entledigen; es an Umsicht und an Methode bei seiner notwendigen Anwendung fehlen zu lassen, würde be-deuten, vor den Erfordernissen der intellektuellen Arbeit, die per definitionem antidogmatisch ist, zu versagen.“ (1990, 1008) Und insofern ist die Frage berechtigt, ob und inwieweit die neuen Eliten ihre Elitefunktion als Wissenschaftler erfüllen wollen und können.
Und schließlich drittens ist Wissenschaft vor allem geistige Kultur. Die DHfK und das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) erfüllten im Zusammenwirken mit allen anderen sportwis-senschaftlichen Einrichtungen - und das nicht erst im letzten Jahr-zehnt ihrer Existenz - infolge ihrer Struktur, ihrer grundlegenden Konzepte und ihrer wissenschaftlichen Leistungen in Lehre und Forschung, in Theorie und Praxis ihre Funktion als Zentrum der geistigen Kultur für die in Körperkultur und Sport Tätigen, und zwar national wie auch international. Vor allem KÖRNER (2000), TAUBMANN (2000) oder RÜMMLER (2000) haben das anläßlich des 50. Gründungstages der DHfK aufgrund ihrer Erfahrungen - wenn-gleich aspekthaft - bestätigt und manches offenbart, wodurch das möglich war. DHfK, FKS und die Sportwissenschaftlichen Sektio-nen an den Universitäten und Hochschulen wurden - wenn auch mehr oder weniger - der Aufgabe gerecht, das aufzubereiten, was
im pädagogischen Prozeß (in seiner Weite und Vielfalt) umsetzbar war, der Befähigung der jungen Generation von Sportlehrern und Trainern, den Anschluß bruchlos an das Vorhandene zu finden, und auch der Wahrung der geistigen Kultur in ihrer Einheit von theoretischer, praktisch-geistiger und ästhetischer Aneignung. Das setzte nicht nur zunehmendes Verständnis für die Komplexität des Gegenstandes gemeinsamer sportwissenschaftlicher Arbeit vo-raus, sondern zunehmendes komplexes wissenschaftliches Her-angehen und die Lösung der damit verbundenen Kooperations-probleme der Wissenschaften im multi- und interdisziplinären Ar-beits- und Forschungsprozeß, für dessen Gelingen der Wert des kommunikativen Kontakts der verschiedenen Wissenschaftsdiszip-linen alles andere als gering veranschlagt wurde, weder für die Problemfindung und -generierung noch für die Problemlösung und die praktische Erprobung und Umsetzung neu hinzugewonnener Erkenntnisse. Und damit wird zugleich deutlich: das von GRUPE genannte Anliegen (2000, 292 f) bedarf einer vorurteilslosen Ana-lyse der Wissenschaftsentwicklung der DDR-Sportwissenschaft in ihrer Gesamtheit, die den Maßstäben der Wissenschaftsforschung gerecht wird, ohne Geringschätzung und Diskreditierung. Das be-darf aber offenbar auch noch eines viel größeren Gespürs dafür, wo Ignoranz bereits anfängt und Vorurteile die Möglichkeiten einer vorurteilsfreien Analyse einzuschränken beginnen. HAAG hatte zum Beispiel versucht, die in der Vergangenheit in der BRD und der DDR jeweils schwerpunktmäßig entwickelten Aspekte der Sportpädagogik zu nennen und schließlich resümiert: „Im Osten Deutschlands gab es keine Entwicklung der Sportpädagogik wie im Westen. Statt dessen gab es in der Deutschen Demokratischen Republik konsequenterweise eine starke Entwicklung der Trai-ningswissenschaft und Trainingslehre.“ (1999, 20 f) Ob diese Re-duktion einer komplexen Analyse standhält, muß sich erst erwei-sen. Jenes von M. KRÜGER formulierte Verdikt (2001, 57) zu Kör-pererziehung und Sport in der DDR erinnert indes an die Worte von Hans-Jochen VOGEL am 6.10.2000: „Aufarbeitung von Ge-schichte fand weithin als Fortsetzung des Kalten Krieges statt - aus der Perspektive seiner sich selbst so sehenden Sieger.“
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ZITATE
Doping-Entschädigungsfonds als Erbschaftssteuer...
Der Doping-Opfer-Hilfe Verein wirkt als operatives Zentrum eines Netzwerks, dem unterschiedliche Interessenten und Befürworter fi-nanzieller Entschädigungen für Folgen von Doping im DDR-Sport zuzuordnen sind. Die private Zweckgemeinschaft wurde am 5. Au-gust 1999 in das Vereinsregister Weinheim eingetragen; als Vorsit-zender fungiert der dort beheimatete Chirurg Dr. Klaus Zöllig. Zu den Mitbegründern zählt der Heidelberger Rechtsanwalt Dr. Mi-chael Lehner, Rechtsbeistand gleichermaßen diverser Nebenklä-gerinnen bei DDR-Doping-Prozessen und des ebenso finessen-reich wie erfolglos gegen seine Dopingverurteilung kämpfenden 5000-m-Olympiasiegers von 1992, Dieter Baumann. Staatsanwalt Klaus-Heinrich Debes bedachte Lehner während des Prozesses gegen den DDR-Sportchef Manfred Ewald mit dem Bonmot, dass wir in einer Zeit leben, „in der sich die Verteidiger der West-Opfer für die Verurteilung der Ost- Opfer einsetzen“.
Quasi als Pate des Vereins gilt der ebenfalls in Heidelberg residie-rende Zellbiologe Prof. Dr. Werner Franke, selbsternannter Doping-fahnder, der im Frühjahr 1994 amtlicherseits aufgefordert werden musste, sich nicht unwidersprochen „Bundesbeauftragter zur Auf-arbeitung des Dopingmißbrauchs in der DDR“ nennen zu lassen. In einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 20. Ju-ni 1998 fällte der Präsident des Deutschen Sportbundes, Manfred von Richthofen, bei der Zurückweisung von Attacken Frankes auf den DSB ein vernichtendes Urteil: „Was Herr Franke betreibt, ist gefährlicher Flächenbrand. Ernstzunehmende Vorwürfe werden vermischt mit Effekthascherei. Oftmals halten die von Franke in Aussicht gestellten Dokumente nicht das, was sie versprechen. Viele Menschen in Ostdeutschland fühlen sich ungerecht an den Pranger gestellt.“ Als Zulieferer zweckdienlicher Materialien schließlich bemüht sich insbesondere der in Kiel gebürtige Privat-dozent Dr. Giselher Spitzer. Der mittels staatlicher Finanzierung durch das Bundesinstitut für Sportwissenschaft den DDR-Sport mit starrem Westblick sezierende Mitarbeiter der Universität Potsdam
geht davon aus, dass in das DDR-Doping rund 10.000 Athle-ten/innen einbezogen gewesen seien, von denen 15 Prozent leich-tere, fünf Prozent schwere gesundheitliche Schädigungen erlitten hätten...
Die von den Staatsanwaltschaften den verschiedenen Prozessen zugeführten Angeklagten und deren Sympathisanten fanden zwar bei der Verunglimpfung der gerichtlichen Verfahren als „Siegerjus-tiz“ nur sehr geringe Gefolgschaft, die im publizistischen Umfeld der Dopingprozesse verbreiteten Pauschalbeschuldigungen dage-gen provozierten zunehmend Widerspruch nicht nur in den neuen Bundesländern. Längst eskalierte Doping als Fixpunkt unbewältig-ter DDR-Vergangenheit zu einem die sportlichen Gemeinsamkeiten belastenden Ost-West-Zerwürfnis. Klaus Katzur, Mitglied der ge-samtdeutschen Olympiamannschaft 1964 und DDR-Olympiateilnehmer 1968 und 1972 mit Gewinn der Silbermedaille in der Lagenstaffel in München, vormals Fregattenkapitän der Nati-onalen Volksmarine, nunmehr Präsident der Gemeinschaft Deut-scher Olympiateilnehmer, argumentierte massiv gegen die unglei-che Beurteilung von Dopingdelikten in Ost und West: „Es geht um die besonders auch innerhalb der Gemeinschaft Deutscher Olym-piateilnehmer als höchst gemeinschaftsstörend empfundene Unart, alle Dopingvorgänge in der früheren DDR ohne Nachprüfung im Einzelnen schärfstens zu verurteilen, Dopingvergehen im Westen dagegen zu beschönigen“, schrieb er im „NOK-Report“, der Mo-natspublikation des Nationalen Olympischen Komitees. „Wir wissen heute sehr viel über den DDR-Sport, jedoch kaum etwas über Hin-tergründe des Leistungssports in der früheren Bundesrepublik. Es gibt dafür keine Akten, die offen gelegt wurden, geschweige denn solche eines Geheimdienstes. Es gab keine Verhöre, keine Haus-durchsuchungen, keine Tribunale, keine Prozesse und Medien-kampagnen. Es gibt auch keine Ost-Wissenschaftler oder Journa-listen, die über solch aufschlussreiche Quellen verfügen und die dazu noch den Mut besitzen, sich beispielsweise mit dem Thema ‘Doping im Westen’ zu beschäftigen. Es liegt mir fern, den geziel-ten Einsatz ‘unterstützender Mittel’, im DDR-Sport und die oftmals dilettantische Anwendung von Dopingmitteln im Westen miteinan-der zu vergleichen oder gar gegeneinander aufzurechnen. Unbe-streitbar gehörte das UM-Programm seit 1974 zur staatlich verord-neten Methodik der Leistungssteigerung. Doch die Existenz des
viel zitierten ‘Staatsplans 14.25’ wird allein durch Akten und Treff-berichte des Ministeriums für Staatssicherheit und durch Protokolle unter anderem der Leistungssportkommission und des Sportmedi-zinischen Dienstes belegt. Ich kenne niemand, der das Originaldo-kument schon einmal gesehen hat.“...
Nach Klaus Katzurs Meinung sind solch kritikwürdige Darstellun-gen Folge des Mankos, “dass mit der Aufarbeitung der Geschichte des DDR-Sports vorwiegend Personen befasst sind, die bis zur Wende über die Lebensverhältnisse in der DDR wenig oder gar nichts wussten. Dies gilt für Journalisten ebenso wie für Sportwis-senschaftler...“
Die Verhärtung der Fronten bei der sachlichen und emotionalen Beurteilung des DDR-Dopings und dessen Folgerungen kulminierte parallel zur wachsenden Lautstärke der Forderung nach finanzieller Entschädigung für Doping-Opfer. Rund zwei Dutzend vormals Mit-wirkende des DDR-Sports hatten bei Dopingprozessen in Berlin und Leipzig als Nebenklägerinnen agiert, vornehmlich anwaltlich vertreten durch Dr. Michael Lehner. Einige von ihnen traten gleich mehrfach als Belastungszeuginnen und/oder Nebenklägerinnen in Erscheinung, so in drei verschiedenen Prozessen Karen König, 1985 als Mitglied des TSC Berlin 16-jährig Schwimm-Europamei-sterin mit der 4x100-m-Freistilstaffel. In einem gegen das Nationale Olympische Komitee für Deutschland gerichteten Schriftsatz vom 27. September 2001 an das Landgericht Frankfurt am Main ver-langt sie als Ausgleich für erlittene Dopingschäden „die Zahlung von Schmerzensgeld, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 20.000 DM betragen sollte.“
Karen König besitzt mit dem Eintreiben von Geld bei Sportorgani-sationen gute Erfahrungen. Mit Schreiben vom 17. Januar 1990 an Dr. Wilfried Poßner, Leiter des Amtes für Jugend und Sport beim Ministerrat der DDR, forderte ihre Mutter Hannelore König für Tochter Karen als während der Kaderzugehörigkeit „erschwomme-ne Preisgelder (...) grob gerechnet etwas über 30.000,- M“. Der Be-trag wurde mit amtlicher Verfügung vom „30.3.1990 an die Sportle-rin überwiesen“; davon 10.000 Mark als Zugabe zum Vaterländi-schen Verdienstorden in Gold, 20.000 Mark als Siegerprämie bei den „Wettkämpfen der Freundschaft“ als Olympiaersatz 1984. Zehn Jahre später, bei der Vernehmung durch die Zentrale Ermitt-
lungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV), gab Karen König laut Protokoll vom 3. Mai 1994 allerdings an, „über den Verbleib des Geldes (sei) ihr jedoch nichts bekannt“.
Die meisten der 13 ehemaligen DDR-Sportlerinnen, die mit einem „Offenen Brief an den Bundestag“ am 8. Mai 2001 Entschädigun-gen für Doping-Folgen forderten, liefen freilich während ihrer Wett-kampfzeit der internationalen Elite hinterher und erreichten großen-teils nicht einmal nationale Spitzenklasse. Von 137 Sportlerinnen, die sich einer Fragebogenaktion bzw. Verhören durch die ZERV stellten, gehörten nur 18 während ihrer Karriere DDR-Olympiamannschaften an. Unter 28 Sportlerinnen, die anlässlich der verschiedenen Dopingprozesse Strafantrag stellten, befanden sich per 21. März 2000 nur zwei Olympiateilnehmerinnen. In min-destens zwei von bisher knapp zwei Dutzend im Zusammenhang mit Dopingprozessen juristisch überprüften Fällen herrschen sogar Zweifel an der Kaderzugehörigkeit und somit an der Einbeziehung in das U.M.-Programm. Nach jüngster Bekanntgabe soll die Klien-tel des Doping-Opfer-Hilfe Vereins auf 240 Mandanten/innen an-gewachsen sein - weder quantitativ noch qualitativ ein Beleg für die Richtigkeit der auf Kristin Otto zielenden Polemik, es sei nur mehr eine „Minderheit ehemaliger Spitzensportler, die die DDR-Zwangsmedikation bis heute leugnet“.
Tatsächlich darf nach derzeitigem Erkenntnisstand unterstellt wer-den, dass Entschädigungen für Doping-Folgen hauptsächlich sol-che Akteure fordern, denen während ihrer Wettkampfzeit der große Coup versagt blieb. Gleichwohl garnierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihren Antrag vom 27. März 2001 auf „Errich-tung eines Fonds zur Unterstützung der Doping-Opfer der DDR“ mit einem süffisanten Hinweis auf die praktizierte Einbeziehung vormaliger DDR-Erfolge in gesamtdeutsche Medaillenstatistiken: „Die positiven Auswirkungen des erfolgreichen Leistungssports der ehemaligen DDR haben wir bis in die heutige Zeit anstandslos übernommen, Spitzensportlerinnen und Spitzensportler der ehema-ligen DDR sind willkommene Sieger bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften. Bisher sind keine Mittel und Wege gefunden worden, sich um die Spitzensportlerinnen und Spitzensportler der ehemaligen DDR zu kümmern, die (...) unter den Folgen des damals systematisch verordneten Dopings leiden.“ Von der Bundesregierung geforderte Konsequenz: „Durch die Er-
richtung eines Fonds ist sicherzustellen, dass dem Doping-Opfer-Hilfe e.V. Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit Sportlerinnen und Sportler der ehemaligen DDR, die durch Einnahme von Do-pingsubstanzen geschädigt sind, angemessen geholfen werden kann. ...
Was „angemessen“ erscheint, konnte in der Petition an den Deut-schen Bundestag nachgelesen werden: „Wir machen in diesem Zusammenhang deutlich, dass mit einer eventuellen einmaligen Entschädigung von DDR-Dopingopfern die Tatsache der ein Leben lang Bestand habenden Schädigungen nicht abgegolten ist“, postu-lierten die 13 Unterzeichnerinnen. „Wir fordern deshalb zum einen umfassende diagnostische Untersuchung, um in der Folge selbst-präventiv wirksam werden zu können. Des weiteren ist eine Ent-schädigung in Form einer monatlichen Rente zwingend, um die ständig höheren Lebenskosten relativ auszugleichen und somit ei-ne Gleichstellung zum nicht mit Doping geschädigten Bundesbür-ger zu erreichen. Bestehende oder absehbare körperliche Doping-folgen machen es den Opfern zum Teil unmöglich, eine private Al-tersversorgung in Form einer Lebensversicherung oder auch einer Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen. Das wiederum hat zur Folge, dass die Kinder der Betroffenen unversorgt zurück blei-ben.“ Im Oktober 2000 zitierte das Fachorgan des Landessport-bundes Berlin den Vorsitzenden des Doping-Opfer-Hilfe Vereins, Klaus ZölIig, mit der Ankündigung, „zur Wiedergutmachung für Op-fer staatlich verordneten Dopings in der ehemaligen DDR bestehe ein finanzieller Bedarf von rund 750.000 DM“. Fast auf den Tag genau ein Jahr später hielt er bei seiner Aussage vor dem Sport-ausschuss des Deutschen Bundestages „einen finanziellen Rah-men von 15 Millionen Mark für ausreichend, um effektive Hilfe für 300 Opfer leisten zu können“.
WILLI PH. KNECHT, Deutschland Archiv 2/2002, S. 104-111
„Ein unverschämtes Blatt“
Manfred von Richthofen mag sich nicht genau festlegen. Mal nennt er das Heft ,Kampfblatt“, dann wieder „unverschämtes Blatt“. Letzt-lich ist es auch egal, der NOK-Report, das offizielle Mitteilungsor-gan des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), nervt ihn jeden-falls beträchtlich. Chefredakteur des NOK-Report“ ist der Berliner Journalist Willi Knecht, und mit dem hat von Richthofen, der Präsi-
dent des Deutschen Sportbundes.(DSB), seit sieben Jahren keinen Kontakt mehr. „Damals hat er in unverschämter und verzerrender Weise über mich geschrieben“, sagt von Richthofen. Der Baron war gerade zum DSB-Präsidenten gewählt worden, und Knecht hatte, sinngemäß, behauptet, dass der neue DSB-Chef das NOK entmachten wolle. „Völliger Blödsinn“, sagt von Richthofen. „Der NOK-Report“, sagt er auch noch, „berichtet in verzerrender Weise. Und es gibt nun eine Serie von verzerrenden Berichten.“ Zuletzt bezeichnete Knecht DDR-Dopingopfer mehr oder weniger als Lüg-ner. Ihre Opfergeschichten seien nicht bewiesen... „... über die grundsätzliche politische Zielsetzung des Blattes muss geredet werden“, das sagt er schon. Und natürlich hat er dabei ein Ziel vor Augen. Wenn man darauf tippt, dass er Knecht, der seit vielen Jah-ren für den „NOK-Report“ schreibt, ablösen lassen will, liegt man wahrscheinlich nicht falsch... NOK-Chef Walther Tröger wurde schon mehrfach von Präsidiumsmitgliedern das Befremden über den „NOK-Report“ mitgeteilt“ (von Richthofen). Doch Tröger dürfte das nicht groß gestört haben. Er steht fest zu Knecht und über-nimmt lieber dessen Einschätzungen. Beim NOK-Kongress am Wochenende bezeichnete Tröger dopinggeschädigte frühere DDR-Sportler als Leute, „die sich Opfer nennen“ und ihre Ansprüche auf eine Entschädigung lediglich über gute Anwälte und Journalisten mit brauchbarer Schreibe formulieren. So redet auch Knecht. Der kann, sagt von Richthofen, beim Schreiben schalten und walten, wie er will. Seine Artikel werde eher stichprobenartig gegengele-sen; dass er beim NOK nicht festangestellt ist, stört dabei nicht. Knechts Freiraum führte freilich dazu, dass er im Sommer den Kanzler und dessen Mitarbeiter verärgerte. Ein Treffen von Tröger mit Gerhard Schröder bezeichnete Knecht im NOK-Report als „sportpolitisches Treffen nahe der Talsohle“. Im Kanzleramt sagt von Richthofen, schüttelte man nur noch den Kopf.“
Frank Bachner, 7.11. 2001 im „Tagesspiegel“
Finanzierung minderjähriger Sportler... durch Sponsoren
Das sportliche Talent vieler Kinder wird durch Sponsoren gefördert, wenn Eltern die Ausbildung selbst nicht finanzieren können. Die fi-nanzielle Unterstützung kann zum einen durch Darlehensgewäh-rung erfolgen, wobei die Rückzahlung in der Regel erst mit Eintritt sportlicher Erfolge zur Zeit der Volljährigkeit erfolgen wird. Zum an-
deren kann aber auch die Finanzierung der Ausbildung des Sport-lers vom Sponsor übernommen werden, wenn sich im Gegenzug dazu der minderjährige Sportler verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz von den künftigen Einnahmen aus den sportlichen Er-folgen an ihn abzuführen. Das Charakteristische dieser Verträge ist, dass der Förderer zur Zeit der Minderjährigkeit des Sportlers mit der Ausbildungsfinanzierung vorleistet, er aber in der Regel erst zur Zeit der Volljährigkeit an den Erträgen aus den Erfolgen des Sportlers profitiert.
Bis zum Inkrafttreten des Minderjährigenhaftungsbeschränkungs-gesetzes am 1.1.1999 konnten Eltern ihre minderjährigen Kinder auch für die Zeit der Volljährigkeit unbeschränkbar verpflichten. Diese Rechtslage erklärte das Bundesverfassungsgericht für ver-fassungswidrig und nicht mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Minderjährigen gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ver-einbar. Mit dem Gesetz zur Beschränkung der Haftung Minderjäh-riger sollte der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes umgesetzt und dafür Sorge getragen werden, „daß den Volljährigen Raum bleibt, um ihr weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belas-tungen zu gestalten, die sie nicht zu verantworten haben.“
Mit Einführung des § 1629a BGB steht den Volljährig Gewordenen nun gegen die Verbindlichkeiten, die die Eltern durch Rechtsge-schäft mit Wirkung für sie begründet haben, die Einrede der be-schränkten Haftung zu. Bei Erhebung dieser Einrede haften sie be-schränkt nur noch mit dem Bestand des Vermögens, das bei Ein-tritt der Volljährigkeit vorhanden war. Damit sind alle Einnahmen des Sportlers ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit dem Zugriff der Gläubiger entzogen.
Bevor Sponsoren sich zur finanziellen Förderung minderjähriger Sportler verpflichten, muss deshalb geklärt sein, ob der volljährig gewordene Sportler den Forderungen des Finanziers, z.B. auf Rückzahlung des Darlehens oder auf prozentuale Gewinnabfüh-rung, die Einrede der beschränkten Haftung gemäß § 1629a BGB entgegenhalten kann und wie die Interessen der Sponsoren be-rücksichtigt werden können...
Fazit: Der Förderer des minderjährigen Sportlers kann unabhängig vom Erheben der Einrede der beschränkten Haftung nach § 1629 BGB durch den volljährig gewordenen Sportler wegen seiner Forde-rung auf den Bürgen zurückgreifen. Zwar werden die Interessen des
Sponsors nicht umfassend durch Bürgschaften der Eltern gesi-chert... Ein Anreiz für den volljährig gewordenen Sportler... könnte sein, dass die Ausbildung als Darlehen finanziert wird, dessen Rückzahlung durch die Bürgschaft abgesichert wird und dessen Rückzahlung wiederum erlassen wird, sobald mit Eintritt in das 18. Lebensjahr die Verpflichtung zur Gewinnabführung bestätigt wurde.
Katrin Thiel, SpuRt, Zeitschrift für Sport und Recht 1/2002, S. 1 ff
Diego bei Fidel - 11. Internationale Buchmesse in Kuba
Ein Neuling der Branche fiel jedoch sofort auf...: Diego Maradona stellte seine Biografie „Ich bin der Diego der Leute“ vor. Er solle etwas sagen, drängte ihn die Menge. Er zierte sich nicht lange und, keine Angst, er werde nicht so lange reden wie Fidel Castro. Also: Kuba gebe ein Beispiel, denn sein Land Argentinien habe weder Bildung noch Zukunft. Auch anderweitig fühlt er sich mit Kuba und mit Fidel Castro verbunden. Hier habe man ihn von seiner Drogen-sucht befreit. Von seiner Biografie, deren Rechte er an Kuba abge-treten hat, erwarte er, dass sie „ein zusätzliches Lächeln in die Gesichter der kubanischen Kinder zaubert“.
Leo Burghardt, Neues Deutschland, 4.3.02, S. 12
Maradona - „Working class hero“
Bezeichnend für Einschätzungen Maradonas ist, daß sie sich über den Zusammenhang von technischen Medien, politischer Macht und fußballerischem Rang nicht im geringsten Gedanken machen. ...Nur medienpolitisch läßt sich erklären, warum einer, dessen Ta-lent über jeden Zweifel erhaben ist, hierzulande nicht in den Göt-terhimmel der Beckenbauers und Pelés gelassen wird. Es liegt nicht an seinem unabwaschbaren Underdoggeruch, seinem offen-siven Herumsumpfen und Koksen in fragwürdigen Etablissements oder seiner begnadet ungehobelten Art, anderen die Laune zu ver-sauen. Es liegt daran, daß Mythen und Stars in Deutschland nichts sind als pädagogische Instrumente der herrschenden Moral.
Maradonas Wirken verdankt sich der Rückkopplung mit dem ar-gentinischen Publikum. Maradona ist eine Geburt der Verzweiflung. Sein Aufstieg vollzieht sich in einer Zeit der Militärjunta, als Unter-drückung, Zynismus und Gewalt der Herrschenden, Bereicherung der privilegierten Klassen und Verelendung des Volkes ein uner-trägliches Maß angenommen haben. Er schafft es, unterdrückte
Empfindungen, Triebziele und Utopien auf sich zu vereinen. Er wird zum Volkshelden. Während der deutsche (Sport-)Star aus schwie-gersohniger Anpassung besteht, immer auf seiten der Macht zu finden ist - man merkt ihm die Rhetorikkurse, die erzwungene poli-tische Feigheit und Indifferenz stets an -, versucht Maradona das Bild, das man sich von ihm macht, zu beeinflussen. Und so kom-men Fußball, Solidaritätsadressen an Che Guevara und Fidel Cast-ro und Koksexzesse als Bild gewordene Revolte zusammen. Ma-radona das ist eine Antwort auf Fragen, die man hierzulande nicht mehr stellt...
Der WM-Sieg von 1990 ist die Katastrophe des deutschen Fuß-balls. Die falschen Leute bekommen recht. Die, die in verhuschten Stolperern wie Guido Buchwald Überlegenheit ausmachen, sie na-seweis Diego nennen, ohne zu bemerken, wie sie dadurch deut-sche Schädel endgültig abschließen gegen jede Wahrnehmung, jeden Blick für Fußballtechnik. Und diejenigen, die dem Sport Ma-radona austreiben, also alles wirklich Individuelle, Ambivalente und alles Volkstümliche, das keinem Heimatfilm entnommen ist. Wer neulich beim zirka 18. Maradona-Abschiedsspiel gesehen hat, wie der Dicke spielt, wie seine Anhänger ihn und seinen Stil schätzen, kann beim Anblick von Michael Ballack und seinen Fans nur de-pressiv niedersinken und weinen.
Michael Girke, junge Welt 9/2002, S. 14
Vom Osten lernen, heißt siegen lernen...
Bei aller berechtigten Kritik, die nach der Wende vor allem aus dem Altbundesgebiet gegen die ideologische Ausrichtung der Sport-Eliteschulen laut wurde, übersahen die nun Verantwortlichen eines: Nämlich, dass die ostdeutschen Sportschulen erstklassige Athleten in fast allen Sparten ausbildeten... Unter den Fußballern aus der ehemaligen DDR setzte sich nach der Wende schnell die Erkennt-nis durch: So schlecht, wie anfangs oft dargestellt, war die Ausbil-dung in der DDR nicht. Rückblickend beurteilen fast alle Akteure, die nach der Wende im Westen aktiv waren, die Ost-Ausbildung „als besser und professioneller“. Vor allem in spielerischer und sportwissenschaftlicher Hinsicht hatte die Sportschulausbildung in der DDR der Nachwuchsförderung im Westen einiges voraus...
Michael Peter: Der Weg in den Westen. Ein Beitrag zum deutsch-deutschen (Fußball-)Verständnis. Kassel 2001, S. 54 ff
...eine durch und durch gesellschaftspolitische Angelegenheit
Hochleistungssport ist... keineswegs eine Frage privater Interessen oder gar das Privatvergnügen einzelner Vereine und Athleten, son-dern eine durch und durch gesellschaftspolitische Angelegenheit. Wer heute zum Hochleistungssport ja sagt, bejaht das System, in das dieser Sport eingebunden ist. Betrachten wir den Sport als Ganzes, so sehen wir, daß der Sport zu einem der bedeutendsten politischen und wirtschaftlichen Faktoren in unserer Gesellschaft geworden ist, an dem weder Arbeitgeber und Gewerkschaften noch Kirche oder andere Kulturträger vorbeigehen können.
Helmut Digel, leistungssport 1/2002, S. 13
Unsitten des Kalten Krieges
Günter Weise beklagt in Nr. 11/2001 (Der Sportjournalist), dass am 6. Oktober 1961 der Kalte Krieg 35 seiner Kollegen und ihn selbst frösteln ließ. Zu dem Thema wäre mehr zu sagen. Zum Beispiel: Viele seiner Kollegen hatten nichts dagegen, dass solches Frösteln Sportjournalisten der DDR bis Ende der 60er Jahre zur Gewohn-heit gemacht wurde. Auch dem von ihm genannten Ernst Werner, damals Präsident des VDS, nicht. Man braucht nur in den Seiten der damals von "E.W." redigierten Hamburger Sportzeitung zu blät-tern, um Bestätigung dafür zu finden.
Die üble Unsitte, Sportlern und Sportjoumalisten die Teilnahme an internationalen Sportveranstaltungen zu verwehren, wurde in Bonn, nicht in Warschau erfunden. Man braucht nur in den inzwischen freigegebenen Akten des Bonner Außenministeriums zu blättern, um die Bestätigung dafür zu finden. Wem das zu zeitraubend er-scheint, der kann die in (Ost)Berlin erscheinenden "Beiträge zur Sportgeschichte" durchsehen, die in ihren seit 1995 erschienenen 13 Heften mehrfach solche Akten kommentierten (5/97, 6/98, 7/98, 8/99, 10/00, 13/01). Die Hefte findet man wahrscheinlich in den Ar-chiven aller Institute für Sportwissenschaft.
Damit würde sich auch die Frage erledigen, warum so mancher Sportwissenschaftler oder Sportjournalist aus den alten Bundes-ländern in den Akten der Stiftung Archiv der Parteien und Massen-organisationen, der DDR (SAPMO) wühlt, aber kaum einer der ei-genen Vergangenheit nachspürt. Das wäre, ich verspreche es, eine äußerst spannende Angelegenheit.
Ein Beispiel: In den jüngst öffentlich gemachten Akten des AA (Band 1625, IV 5, 86 -13) ist eine besondere Delikatesse zu finden, ein Schreiben Willi Daumes vom 23.6.1966 an den damaligen Au-ßenminister Dr. Schröder, ein vertraulicher Brief, wie die Anrede "Lieber Herr Dr. Schröder" vermuten lässt. Darin zeigt sich, dass Daume es für angebracht hielt, Regierungen und Sportleitungen anderer NATO-Staaten beim AA zu denunzieren, wenn sie sich nicht an die von Hallstein aufgeschriebenen Spielregeln hielten, was selten genug geschah. Aber es kommt noch schlimmer. Dau-me schrieb an den Minister, weil er von der AIPS gebeten worden war, in Bonn für die Zulassung von DDR-Journalisten zur Bericht-erstattung von den Fußball-Weltmeisterschaften einzutreten. (Die AIPS hat offenkundig gewusst, warum sie sich an Daume, nicht an den englischen Verband zu wenden hatte.) Der DSB-Präsident schrieb u.a. "Es ist die Frage, ob nicht versucht wird, mit gewissen Auflagen einigen Sportjournalisten und Funk- und Femsehrepor-tern - möglicherweise nach unserer Auswahl - die Berichterstattung in England zu ermöglichen." Und weiter: "Gegebenenfalls wäre es für den Sport der Bundesrepublik ein Prestigeerfolg von gar nicht abzusehendem Ausmaß. Und wenn dann die andere Seite bei ihrer Berichterstattung nicht loyal ist, hätten wir besonders das Recht auf unserer Seite."
Das alles schrieb eben jener Daume, der 24 Jahre später den DDR-Sport einen stolzen nannte. Deutsche Sportjournalisten - so-fern sie Interesse an der ehrlichen Darstellung deutscher Sportge-schichte haben - könnten sich nun vor die Frage gestellt sehen, welchem der beiden Daumes sie dabei folgen wollen.
Joachim Fiebelkom, (sportiournalist 11/2001)
JAHRESTAGE
Die erste deutsche „Sportgeschichte“
nach 1945
Von HANS SIMON
Die Geschichte der Sportwissenschaft in der DDR und ihrer Diszip-linen, darunter auch der Sportgeschichte, ist noch nicht geschrie-ben. Und es dominiert der Trend, die DDR-Sportwissenschaft zu ignorieren. Dem ist heute nur dadurch entgegenzuwirken, daß Pro-zesse, Themen und Personen vorgestellt und natürlich auch kri-tisch beleuchtet werden.
Zur Situation in den Jahren nach 1945: Als historische Orientierung für die sich herausbildende Sportbewegung gab es bis 1952 im Grunde nur einige Presseartikel zu Friedrich Ludwig JAHN, über Werner SEELENBINDER, über Antifaschisten im Sport. Das waren Ansätze, es lag jedoch keine neue Gesamtdarstellung vor; man tat sich schwer mit der Geschichte des deutschen Sports. In der Erin-nerung waren vielfach nur die Olympischen Spiele von 1936 in ih-rer komplexen Ambivalenz. Diskutiert wurde das in Öffentlichkeit jedoch kaum. An den Lehreinrichtungen der Sportlehrerausbildung nach 1945 gab es das Fach Sportgeschichte oder Geschichte der Körperkultur, wenn auch zuerst als Sportsoziologie, Geschichte der Methodik der Leibeserziehung, der Körperziehung oder ähnlich be-nannt. Auch an den Sportschulen der Länder gehörte Sportge-schichte zu den Bildungs- und Erziehungsinhalten. Insofern ver-langte die Praxis nach einer Zusammenschau der deutschen Sportgeschichte nach dem Desaster des Faschismus und nach dem Zweiten Weltkrieg. Solch eine historische Zäsur erforderte ei-ne neue Sicht auf die Geschichte.
In den Bibliotheken der Institute für Körpererziehung (IfK) der Uni-versitäten und der DHfK, die am 22. Oktober 1950 gegründet wor-den war, existierten nur Einzelexemplare der für die Lehre und das Studium dieses Faches verwendbaren Bücher, wie die Werke von GUTSMUTHS, JAHN, VIETH, GASCH, RECLA, BOGENG, die Arbeiten von Helmut WAGNER und Fritz WILDUNG zum Arbeitersport, die Streitschrift „Unsere Gegner“ von GELLERT/FREY. Lehr- oder Studi-enmaterialien für die Hand der Studenten fehlten. Andere sporthis-torische Schriften, wie von NEUENDORFF (4 Bände 1930-1936) und
SAURBIER (1939), enthielten rassistische und nationalistische Grundpositionen und waren von der NS-Ideologie geprägt. Eine quasi entnazifizierte Fassung des letzteren wurde übrigens 1955 bei Limpert in der Bundesrepublik Deutschland gedruckt.
Die Praxis indes forderte eine möglichst umfassende Darstellung und Wertung der Entwicklung des Sports in seiner Gesamtheit. Für die Heranbildung der neuen Sportlehrer- und Trainergeneration wurde dann auch vom Deutschen Sportausschuß (DS) eine Hand-reichung für erforderlich erachtet. Bereits seit 1946 bemühten sich am Berliner Institut für Körpererziehung Studenten, Beiträge für ein neues Geschichtsbild des Sports zu leisten. Seit 1950 stellten sich diesem Anliegen in Leipzig an der DHfK einige wissenschaftliche Aspiranten (Promotions-Stipendiaten) und verfaßten 1951/52 in wenigen Monaten die Schrift „Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur in Deutschland seit 1800“1), die mit Unterstützung des Sportverlagsleiters Wilhelm BEIER in einer für die damaligen Bedin-gungen hohen Auflage 1952 gedruckt wurde. Die Gesamtleitung im Autorenkollektiv hatte Lothar SKORNING inne, der als spiritus rector dieses Vorhabens anzusehen ist. Seine 1949 vorgelegte Staats-examensarbeit, die in einer überarbeiteten Fassung aus dem Jahre 1951 in einem Fahnenabzug zum Thema „Die gesellschaftlichen Beziehungen der Körperkultur in Deutschland seit 1800“ (Sportver-lag, Berlin 1951) vorlag (davon wurden damals 75 Exemplare ge-druckt), bildete das strukturelle Gerippe für den „Abriß...“.
Was war neu an diesem vor nunmehr 50 Jahren, vor einem halben Jahrhundert, vorgelegten Buch? Im Grunde wurde erstmalig eine Diskussionsgrundlage vom Standpunkt des historischen Materia-lismus geschaffen, die die Geschichte der bürgerlichen Sportorga-nisationen und der Arbeitersportbewegung in engem Zusammen-hang mit der internationalen olympischen Bewegung aus marxisti-scher Sicht abhandelte. Lücken im Geschichtsbild wurden ge-schlossen und erstmals Grundzüge der Geschichte des deutschen Arbeitersports2) und der Entwicklung des Sports in der Zeit des Na-tionalsozialismus in Deutschland3) vorgelegt. Und schließlich wurde - weiterführend - auch eine erste Wertung der neuen Wege im Sport nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR sowie in Westdeutschland und der BRD4) vorgenommen. Auch der Abschnitt „Die sowjetische Körper-kultur - unser Vorbild“ im Kapitel XI entsprach den Überzeugungen
der Autoren im Hinblick auf die gesellschaftlichen Funktionen und die Ziele des Sports in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahr-hunderts.
Im einleitenden Teil wurden übergreifende Probleme der Funktion von Geschichte in der Politik, theoretische sowie terminologische Fragen samt einer knappen Übersicht zur Genese der Körperkultur und ihrer Funktion in der Klassengesellschaft behandelt. Und die Autoren - Günter ERBACH, Paul MARSCHNER, Hans SCHUSTER, Hans SIMON, Lothar SKORNING, Georg WIECZISK, Günther WONNEBERGER - bekannten sich zu Unzulänglichkeiten und Män-geln5), die nicht nur aus Zeitmangel, sondern auch aus den gerin-gen wissenschaftlichen Erfahrungen der Autoren resultierten.
Nach der Abgabe der Manuskripte für „Kurzer Abriß...“ an den Ver-lag hatte sich allerdings die Situation im Sport der DDR entschei-dend verändert. Insbesondere für die Entwicklung der Sportwis-senschaft waren im Frühjahr 1952 neue, günstigere Bedingungen entstanden. Im März 1952 war der Wissenschaftliche Rat beim Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport gebildet und Fach-kommissionen berufen worden. Im Mai erschien erstmalig die Mo-natszeitschrift „Theorie und Praxis der Körperkultur“ als eine stän-dige periodische Diskussions- und Informationsmöglichkeit für sämtliche Lehranstalten (DHfK, IfK, LBA, Landesportschulen) und für alle staatlichen und gesellschaftlichen wissenschaftlichen Sportanliegen. Die Zeitschrift ist in der Vielfalt der Themen allein der Jahre 1952 bis 1955 eine Reflexion der intensiven Bemühun-gen und Initiativen, die auf allen Gebieten des Sports und der Sportwissenschaft zu finden waren. Das bezieht sich auf die ver-schiedenen Grundorientierungen, den Massensport, die Methodik des Sports und der Sportarten, die pädagogischen und naturwis-senschaftlich-medizinischen Grundlagen, die Erforschung der Technik und Methodik der sportlichen Leistungserhˆhung, die In-tensivierung des Trainings, die Kinder- und Jugendsportproblema-tik, Anleitungen für den Aufbau der allgemeinen Sportgruppen bis hin zur Veröffentlichung des staatlichen Forschungsplans für das Gebiet von Körperkultur und Sport im Jahr 1954. Wer sich nur die Inhaltsverzeichnisse dieser Jahrgänge der Zeitschrift ansieht, dabei bedenkt, daß auch speziell für die Sportlehrer in der Schule die Zeitschrift „Körpererziehung“ monatlich erschien, und wenn man Themen und Autoren betrachtet, kann man allein daraus die sport-
wissenschaftlichen Entwicklungsrichtungen, die Breite der sport-wissenschaftlichen Bemühungen in der DDR ersehen. Hier wurden damals bereits strategische Entscheidungen gemeinsam erarbeitet und erstritten, für die in den 60er und 70er Jahren die Ernte einge-fahren werden konnte. So hat zum Beispiel Paul KAUTZ, Trainer und Prorektor für Forschung an der DHfK, bereits im Sommer 1953 „Vorschläge für ein einheitliches System der Trainingsplanung im leichtathletischen Leistungssport“ unterbreitet.6) Aus der prakti-schen Erfahrung und der Diskussion in den Trainerkollektiven, aus den Erfahrungen und Erfordernissen der Praxis erwuchsen oftmals die zentralen Festlegungen. Umgekehrt wäre es sehr schwer mög-lich, wenn vielleicht auch nicht völlig unmöglich gewesen.
Neben vielen zustimmenden Äußerungen zu „Kurzer Abriß...“ in der Presse wurde damals auch massive Kritik geäußert, zum Bei-spiel in der Fachkommission Geschichte des Wissenschaftlichen Rates beim Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport, die von Gerhard LUKAS, Professor für Geschichte der Körpererziehung am IfK der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg, geleitet wurde. Die Fachkommission beschloß auf ihrer Tagung am 4. Dezember 1952 - die sich sehr kritisch mit der Mitarbeit fast aller der Mitglie-der und der FK insgesamt befaßte - eine kritische Einschätzung zu erarbeiten. Aber erst der Wissenschaftliche Beirat der DHfK führte am 19.11.1953 eine Beratung zu „Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur...“ durch, zu der auch Vertreter anderer Institute ein-geladen worden waren. Erschienen waren vor allem Vertreter des IfK Halle. Prof. Dr. Kurt MEINEL leitete diese Tagung. Einleitend re-ferierte der Prorektor der DHfK, Erhard HÖHNE, in Ergänzung zu seinen dreizehn Thesen, die als Wachsmatritzenabzug den Ta-gungsteilnehmern vorlagen. Diese enthielten insgesamt theore-tisch-weltanschauliche Forderungen und Qualitätskriterien an eine zukünftige sporthistorische Gemeinschaftsarbeit. Von ungleich kri-tischerer Art war das Referat von Willi SCHRÖDER, wissenschaftli-cher Aspirant am IfK Halle, der zwar den Wert des Buches darin sah, daß es „an den Lehranstalten und in den Kreisen interessier-ter Sportler als Studienmaterial verwandt worden“ ist „und eine Lü-cke in der Fachliteratur geschlossen“ hat. Aber nach einer detail-lierten Aufführung von Belegen für seine differenzierte kritische Wertung zu einigen wichtigen Folgerungen kam: fruchtbare wis-senschaftliche Diskussionen zu sichern, wissenschaftliche Mono-
graphien zu erarbeiten, ein großes Kollektiv der Historiker für die Geschichte der Körperkultur zu bilden, einen koordinierten For-schungsplan zu erarbeiten. Er forderte auch das Staatliche Komi-tee auf, der wissenschaftlichen Arbeit an den IfK die gleiche Förde-rung zu gewähren wie der DHfK, und resümierte: „Zusammenfas-send kann man also feststellen, daß der Versuch der Aspiranten, die Diskussion über brennende Probleme der Geschichte der Kör-perkultur einzuleiten, gelungen ist.“ (Abschrift des Referats.) Einen ausführlichen Bericht über diese Tagung hat Gerhard LUKAS7) pu-bliziert. Die von der Fachkommission beschlossene kritische Be-sprechung des Buches „Kurzes Abriß...“ ist schließlich unter Betei-ligung aller Mitglieder der Kommission erarbeitet worden, sie hatte beträchtlichen Umfang angenommen. Auf ihrer Tagung am 10. und 11. November 1956 in Halle bestätigte die Fachkommission die Rezension8), die im Juni 1957 veröffentlicht worden ist. Es waren faktisch mehr als vier Jahre seit Erscheinen des Buches vergan-gen.
Inzwischen war seit Mai 1952 - also seit dem ersten Heft - in der Zeitschrift „Theorie und Praxis der Körperkultur“ auch über inhaltli-che oder organisatorische sporthistorische Ereignisse informiert worden. Beiträge über GUTSMUTHS oder JAHN, Dokumente und Prozesse der Arbeiter-Turn- und Sportbewegung, die Positionen von Karl MARX zur körperlichen Erziehung, die Turner in der Revo-lution von 1848, den antifaschistischen Widerstand, das Leipziger Turnfest von 1863, Berichte über Konferenzen mit Veteranen des Arbeitersports, Konferenzberichte über das Natürliche Turnen, die Theorie der Körpererziehung, Kontroversen zwischen dem Direktor des Berliner IfK, Wolfgang EICHEL, und dem Hallenser IfK-Direktor, Gerhard LUKAS, über die Körperübungen in der Urgesellschaft und ihre gesellschaftliche Funktion fanden in der Zeitschrift ihren unmit-telbaren Widerhall. Diese unvollständigen Angaben beziehen sich allein auf die Jahrgänge 1952 und 1953. Sämtliche sporthistori-schen oder wissenschafts- und sportpolitischen Themen zu nennen, verbietet sich in diesem Rahmen. Aus den Beiträgen geht hervor, daß die Sporthistoriker 1957, als die umfangreiche Rezension zu „Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur seit 1800“ in der Zeit-schrift „Theorie und Praxis der Körperkultur“ erschien, bereits an den nächsten Aufgaben arbeiteten. Diese Publikationen ließen auch die Arbeitsschwerpunkte und Arbeitsrichtungen erkennen. Tatsächlich hat-
ten die Vorarbeiten für eine mehrbändige „Geschichte der Körperkultur in Deutschland“, die dann in den 60er Jahren erschienen ist10), praktisch bereits begonnen.
Die konstruktiven Forderungen von Willi SCHRÖDER aus dem Jahre 1956 waren also schrittweise umgesetzt worden. Es wurde noch während der Diskussion zu „Kurzer Abriß...“ begonnen, an den Konzeptionen für die mehrbändige „Geschichte der Körperkultur in Deutschland“ zu arbeiten. Erste Autorenkollektive fanden sich zu-sammen. Die konzeptionellen und inhaltlichen Diskussionen be-stimmten die letzten Jahre des Jahrzehnts. Das belegen nicht nur die Publikationen, sondern auch die Promotionen der 50er Jahre zu sporthistorisch relevanten Themen: Gerhard LUKAS (1951 Habil. Universität Halle), Gerhard ULBRICHT (1953 Universität Berlin), Wolfgang EICHEL (1954 Berlin), Alfred HUNOLD (1955 Berlin), Gün-ter BORRMANN (1956 DHfK Leipzig), Paul MARSCHNER (1956 DHfK), Günther WONNEBERGER (1956 Universität Leipzig), Günter ERBACH (1956 DHfK), Hans SIMON (1956 DHfK), Georg WIECZISK (1956 DHfK), Helmuth WESTPHAL (1957 DHfK), Hanns-Peter NEUGEBAUER (1957 DHfK), Günter EHMKE (1958 Berlin), Wolfgang PAHNCKE (1958 Universität Rostock), Willi SCHRÖDER (1958 Halle).
ANMERKUNGEN
1) SKORNING, L. et al.: Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur in Deutschland seit 1800. Berlin 1952
2) Vgl. Autorenkollektiv: Besprechung „Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur in Deutschland seit 1800“. Theorie und Praxis der Körperkultur 6 (1957) 6, S. 559
3) Vgl. Ebenda, S. 564
4) Vgl. Ebenda, S. 565 f
5) Vgl. SKORNING, L. et al.: A.a.O., S. IX f
6) Vgl. KAUTZ, P.: Vorschläge für ein einheitliches System der Trainingsplanung im leichtathletischen Leistungssport. Theorie und Praxis der Körperkultur 2 (1953) 7, S. 13-30
7) Vgl. LUKAS, G.: Bericht über die Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates der DHfK vom 19. November 1953... Theorie und Praxis der Körperkultur 3 (1954) 4, S. 374-377
8) Vgl. EICHEL, W.: Bericht über die Tagung der Fachkommission Geschichte... vom No-vember 1956. Theorie und Praxis der Körperkultur 5 (1957) 2, S. 169-170
9) Vgl. Autorenkollektiv: Besprechung... A.a.O., S. 554-567
10) EICHEL, W. et al. (Hrsg.): Geschichte der Körperkultur in Deutschland. Band I, Berlin 1968; Band II, Berlin 1965; Band III, Berlin 1964; Band IV, Berlin 1967
REPORT
Jahresversammlung von
„Sport und Gesellschaft e.V.“
Von HELMUTH WESTPHAL
Als vor etwa vier Jahren der Gedanke einer Vereinsgründung erörtert wurde, ließen wir uns von der Absicht leiten, auf der Grundlage der in fast einem halben Jahrhundert gesammelten Einsichten und Erfahrungen die Verwirklichung der eigenen Wertvorstellungen im Bereich von Körperkultur und Sport zu analysieren, die hoch bezahlten Kampagnen zur Diffamierung des DDR-Sportes zu entlarven und Vorstellungen über die Dy-namik des Sportes der Gegenwart und Zukunft anzubieten. Diese Initiative fand sehr schnell unter jenen Zuspruch, die ihre kommunikativen Bindungen nicht verloren und ihre Arbeit stets als Engagement im Sinne der olympischen Idee verstanden haben. Das ausdrückliche Bekenntnis zur olympischen Idee war für sie keine taktisch verordnete Scheinorientierung zur Verschleierung einer fragwürdigen Praxis, sondern ein pro-grammatischer Auftrag als Lehre aus der verhängnisvollen Ge-schichte des deutschen Sportes in der Ära des deutschen Fa-schismus, war zugleich ein Bruch mit jenen Strukturen, Perso-nen und Ideen, die zu jenem Mißbrauch des Sportes gehörten. Nie wieder sollte die deutsche Körperkultur auf dem Boden der damaligen DDR in den Dienst der Macht- und Ausbeutungsin-teressen deutscher Monopole gestellt werden, nämlich das Volk mit Hilfe des Sportes chauvinistisch zu manipulieren, sei-ne Wehrfähigkeit für Aggressionskriege zu mehren sowie den Sport zur Steigerung von Profiten zu mißbrauchen. Besonders dieser Lehren wegen ging es nach dem Zweiten Weltkrieg da-rum, mit Hilfe des Sportes freundschaftliche Beziehungen zu anderen Völkern zu pflegen, vor allem zu den Nachbarvölkern, die durch die Aggressionspolitik deutscher Monopole brutal heimgesucht wurden. Gerade die Friedensmission des DDR-Sportes bot die entscheidende Voraussetzung dafür, daß die Staatsbürger der DDR, zu welchen Altersgruppen und sozialen Schichten sie auch gehörten, ihren Sport zur Lebensbereiche-rung, Persönlichkeitsentfaltung und sicher auch zur Bewälti-
gung widersprüchlicher Lebensumstände betreiben konnten. In diesem Sinne hat der hier anwesende Kreis von Aktivisten des DDR-Sportes seine Arbeit verstanden, wodurch es gelang, un-ter der Bevölkerung eine hohe Identifikation mit dem Sport zu erzielen und den Sport in der kulturellen Lebensweise vieler Menschen fest zu verankern. In dem Geschichtsbuch der deut-schen Körperkultur gebührt dem Kapitel über den DDR-Sport nicht in erster Linie seiner internationalen sportlichen Erfolge, sondern seines Wirkens im Sinne der olympischen Ideale we-gen ein würdiger Platz. Ein solcher Platz kann ihm auch dadurch nicht streitig gemacht werden, daß es ihm nicht ge-lang, fragwürdige Praktiken des internationalen Sportes wie Doping konsequent zu ignorieren. Es mangelte in der Vergan-genheit und fehlt auch in der Gegenwart nicht an Versuchen, den DDR-Sport in seiner Gesamtheit zu verteufeln. In den meisten Medien erfährt der Bundesbürger über den DDR-Sport nur Doping und Stasigeschichten. Wenn es nur um die Karriere von Akademikern und die Honorare von Journalisten ginge, verdienten solche Diffamierungen nicht unsere Aufmerksam-keit. Eine solche tendenziöse Darstellung des DDR-Sportes richtet sich aber gegen das Werk Tausender von Menschen, die mit Anstrengung und Begeisterung im System der sozialis-tischen Körperkultur erfolgreich und verdienstvoll gearbeitet haben, und deren Leistungen schon deshalb nicht in den Schmutz gezogen dürfen, weil ihr Engagement gerade in die-sen Tagen mehr denn je vonnöten ist. Aber nicht nur deshalb ist die Auseinandersetzung mit den Diffamierungspraktiken er-forderlich. Schließlich geht es auch darum, von den Praktiken des Sportes unter den Bedingungen der kapitalistischen Ge-sellschaft heute abzulenken. Um so mehr haben wir Anlaß, die Nähe zu all jenen zu suchen, die sich mit dem alltäglichen Zu-mutungen des kapitalistischen Sportes, wie Snobismus, Ver-marktung und Ausbeutung sportlicher Leistungen, Bestechlich-keiten und Käuflichkeiten, Konsumideologie und Konsummani-pulierung, Massendoping und anderem auseinandersetzen. Gewiß, wir haben auch Gründe, unsere eigene Arbeit der ver-gangenen Jahre kritisch zu beleuchten, haben aber keinen An-laß, uns Ratschläge von jenen geben zu lassen, denen morali-
sche Legitimation und fachliche Kompetenz abgesprochen werden muß.
Aus den genannten Zwängen kam es zur Bildung unseres Ver-eins. Gemäß der von uns geleisteten Arbeit im Bereich von Körperkultur und Sport und der Notwendigkeit humanistischer Orientierungen für den Sport der Gegenwart ist die Leitlinie un-seres Wirkens im Paragraphen 2 unserer Statuten fixiert. Dort heißt es: „Der Verein läßt sich in seiner Tätigkeit von den olympischen Prinzipien leiten und tritt für Humanismus und Demokratie im aktuellen nationalen und internationalen Sport-geschehen ein. Er unterstützt alle Bestrebungen zur Verwirkli-chung des Rechtes auf Ausübung des Sportes in der Lebens-gestaltung der Individuen und ist den demokratischen wie allen fortschrittlichen Traditionen der deutschen Körperkultur und des Weltsportes verpflichtet. Die Zusammenarbeit der Mitglie-der des Vereins verfolgt das Ziel, wissenschaftliche Untersu-chungen, insbesondere zu sportpolitischen und sporthistori-schen Fragen, aufzunehmen, die Arbeitsergebnisse zu disku-tieren, zu publizieren und im Rahmen von Konferenzen oder Weiterbildungsveranstaltungen vorzutragen. Zwangsläufig er-geben sich daraus auch Stellungnahmen zu aktuellen Proble-men des Sportgeschehens.“
Unserer Satzung folgend, haben wir in diesem Jahr einen neu-en Vorstand zu wählen. Aus diesem Anlaß können wir rückbli-ckend sagen, daß die Mitglieder des Vereins die Orientierung des Statuts realisierten, indem sie sich zu aktuellen Fragen des Sportes äußerten. Das geschah nur in einem sehr begrenzten Rahmen durch eine gleichberechtigte Mitarbeit in wissenschaft-lichen Gremien, die daran ausdrücklich interessiert waren. Ei-nige von uns wurden als Zeitzeugen in Anspruch genommen oder trugen ihre Auffassungen in wissenschaftlichen Konferen-zen vor. Andere nutzten Tageszeitungen, so zum Beispiel und vor allem Dr. Klaus HUHN, Prof. Dr. Günter ERBACH oder Er-hard RICHTER und Wolfgang AHRENS.
Unsere eigenen Veranstaltungen befaßten sich mit Höhepunk-ten des DDR-Sportes und unsere Jahresversammlungen ga-ben Antworten auf Fragen des Sportes der Gegenwart. Ich verweise auf die Veranstaltungen anläßlich des 50. Jahresta-ges der Gründung des Deutschen Sportausschusses (DS), die
von unseren Leipziger Mitgliedern initiierte großartige Veran-staltung zum 50. Jahrestag der Gründung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) sowie das Treffen von Inte-ressenten zur Vorbereitung des Leipziger Turnfestes im Jahre 2002 in Fortsetzung der Leipziger Turn- und Sportfest-Traditionen.
Neben den genannten großen Veranstaltungen bearbeiteten zwei Gruppen unseres Vereins spezielle Projekte. Es handelt sich um die Leipziger Sportwissenschaftler, die anläßlich des 50. Jahrestages der DHfK zwei Publikationen vorlegten.1) Au-ßerdem fanden sich um Prof. Dr. Günther WONNEBERGER Sport-historiker zusammen, um eine Geschichte des DDR-Sportes zu verfassen. Alle geplanten Abschnitte liegen ausgearbeitet vor und wir können damit rechnen, daß das gesamte Manuskript zum Jahresende angeboten werden kann. Für die Erarbeitung dieses Manuskriptes erwies sich besonders eine Studie als wertvoll, die unser leider verstorbener Sportfreund Prof. Dr. Edelfrid BUGGEL über den Massensport in der DDR2) verfaßt hat. Es lohnt sich, auf diese fundierte Studie zurückzugreifen, wenn es darum geht, die Verleumder des Massensportes der DDR in die Schranken zu weisen.
Ihre Auffassungen zu aktuellen Fragen des Sportes veröffent-lichten unsere Mitglieder vor allem in der Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“, die vom Berliner Spotless-Verlag halb-jährlich herausgegeben wird. Unser Verein bedankt sich bei, Dr. Klaus HUHN, der diese Zeitschrift begründet hat, sie verlegt und dafür auch immer wieder die nötigen finanziellen Mittel aufbrachte, und bei allen Autoren der „Beiträge zur Sportge-schichte“, die zu den Mitgliedern oder Sympathisanten unseres Vereins zählen.
Besonders hervorzuheben ist die Arbeit unseres Sportfreundes Heinz MATTKEY im Deutschen Seesportverband für eine sinn-volle Freizeitgestaltung von Jugendlichen und des Sportfreun-des Kurt ZACH in der Interessengemeinschaft des Eisenbah-nersportes der DDR. Die von ihm und seinen Freunden erar-beitete „Chronik des Eisenbahnersportes in der DDR“ kann ei-nerseits als Resultat einer Herausforderung, zugleich aber auch als wertvolle Bereicherung unserer Kenntnisse über die in der DDR in einem speziellen Sektor des Sports geleistete Ar-
beit verstanden werden. Dank ihrer Kompetenz und Autorität wurde ein würdiger Abschnitt über den Eisenbahner-Sport der DDR in einer Denkschrift zum 75-jährigen Jubiläum des Eisen-bahnersports in Deutschland3) aufgenommen.
Dank der Initiative des Olympia- und Sportphilatelisten-Clubs kam es aus Anlaß des 50. Jahrestages der Gründung des Na-tionalen Olympischen Komitees der DDR zu einer repräsentati-ven Veranstaltung, zu der auch Mitglieder unseres Vereins ge-laden waren. Ehemalige Gründungsmitglieder und Olympioni-ken kamen zu Wort und bekannten sich ausnahmslos zu ihrem Engagement. Geladen war auch Dr. LENNARTZ, der als Direktor der Carl-Diem-Stiftung an Hand von Dokumenten offenlegte, welche Rolle Carl DIEM in dem verbissenen Kampf gegen die legitime antifaschistische Erneuerung des deutschen Sportes und die Anerkennung eines Nationalen Olympischen Komitees auf dem Boden der DDR gespielt hat. Es mußte zu einer Ent-gegnung unseres Vorsitzenden kommen, als LENNARTZ die An-sicht äußerte, daß DIEM kein Militarist gewesen sei.4)
Unser Wirken ist von den Medien in Berlin und Leipzig verfolgt worden. Die „junge Welt“, „Neues Deutschland“ und die „Leipziger Volkszeitung“ berichteten objektiv über unsere Akti-vitäten, die ganz im Sinne unseres Statutes fortzuführen, wir uns täglich veranlaßt sehen.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. Schumann, K.: 50 Jahre DHfK. Eine Chronik. Berlin 2000; Schumann, K./ Leubuscher, R. (Hrsg.): Wortmeldungen - 50 Jahre DHfK
2) Vgl. Buggel, E.: Der Volkssport (Breitensport) und die Volkssportforschung in der DDR von 1960/61 bis 1965/66. Studie. In: W. Buss/C. Becker (Hrsg.): Aktionsfelder des DDR-Sports in der Frühzeit 1945-1965. Köln 2001, S. 465-534
3) Vgl. Zach, K. Chronik des Eisenbahnersports in der DDR. Dresden 2001; Grunske, K./Geske, E. u.a. (Hrsg.): 50 Jahre Lok Schöneweide 1951-2001. Berlin 2001; Wätzmann, K. (Red.): 75 Jahre Verband Deutscher Eisenbahner-Sportvereine... Frankfurt a.M. 2001
4) Vgl. Holz, J.: „Keiner muss sich dafür entschuldigen“. Kolloquium zur Gründung des NOK der DDR vor 50 Jahren. Neues Deutschlad 56. Jg., Nr. 105 vom 8.5.2001, S. 19
Der kurze, lange Weg Leipzigs nach Olympia
Von ULLI PFEIFFER
Die Podiumsdiskussion „Leipzig im Zeichen der olympischen Rin-ge“, die Mitte Januar mit beachtlicher Resonanz im Hörsaal Nord der Sportwissenschaftlichen Universitäts-Fakultät (ehemals DHfK) weit mehr als 100 Sportexperten, Sportstudenten und Sportinteres-sierte zusammenführte, ist in mehrfacher Hinsicht als gelungen zu bewerten. Für dieses Urteil sind verschiedene Aspekte von Belang.
1. Der Veranstalter, die „Arbeitsgruppe Leipziger Sportwissen-schaftler im Verein Sport und Gesellschaft“, hat mit Weitsicht und Beharrlichkeit an seinem Vorsatz festgehalten, aus der internen Diskussion heraus ein- bis zweimal im Jahr an die Öffentlichkeit zu treten und im Rahmen seiner Möglichkeiten konstruktiv-kritisch für den Sport der Gegenwart zu wirken. Die Arbeitsgruppe hat sich bei dieser Prämisse während der letzten Jahre von nostalgischen Ver-dächtigungen und auch von anfänglichen Geringschätzigkeiten nicht beeindrucken lassen. Das zahlt sich nun aus!
2. Nun unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Mattausch, der den Staffelstab von Heinz Schwidtmann nach dessen Ableben über-nommen hat, ist die Öffentlichkeitsarbeit der Gruppe auf Kernthe-men der wieder erwachenden Sportstadt Leipzig und damit zu-gleich auf den gesamten deutschen Sport fokussiert. Stand im Herbst 2001 (vgl. „Beiträge zur Sportgeschichte“ Heft 13/2001) das bevorstehende Deutsche Turnfest im Mittelpunkt der Debatte, so war es Anfang dieses Jahres die Olympiabewerbung Leipzigs für die Sommerspiele 2012 im Wettbewerb mit Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Stuttgart.
3. Die Vorstellung der eingeladenen Gäste auf dem Podium und im Saal durch Prof. Mattausch und der Verlauf der Diskussion be-stärkten in der Ansicht, daß die Arbeitsgruppe Leipziger Sportwis-senschaftler durchaus in der Lage sein kann, im Kreis konstruktiver Kräfte des Leipziger Sportlebens einen eigenen Beitrag zu leisten, nämlich neben der vertiefenden Information auch der Sachdiskus-sion und der geistigen Koordination bei der Lösung von Problemen und anstehenden Aufgaben Impulse zu verleihen. Neben Prof. Dr. Sven Güldenpfennig vom Deutschen Olympischen Institut in Berlin, der einen vielbeachteten und auch kritisch hinterfragten einleiten-den Kurzvortrag zum Thema „Olympische Idee zwischen Anspruch
und Wirklichkeit“ hielt, waren der Einladung auch der Hausherr, Dekan Prof. Dr. Helmut Kirchgässner, der im Januar berufene Ge-schäftsführer der „Leipzig, Freistaat Sachsen und Partnerstädte GmbH“ Dirk Thärichen, der zugleich auch den Olympiabeauftrag-ten der Stadt Leipzig Burkhard Jung vertrat, der Bundestagsabge-ordnete und sportpolitische Sprecher seiner Fraktion Gustav-Adolf Schur (PDS) und das Mitglied des Organisations-Komitees Deut-sches Turnfest 2002 in Leipzig, Pferdsprung-Olympiasieger Klaus Köste, gefolgt. In diesem Kreis nutzte die im Aufbau befindliche Bürgerbewegung „Leipzig für Olympia e.V.“ durch ihren Vorsitzen-den Hans-Peter Büllesbach die Chance, sich vorzustellen.
Besonders erfreute den Veranstalter die Tatsache, daß in dieser Sonnabendvormittag-Veranstaltung nicht nur Sportwissenschaftler mehrerer Generationen, Olympiaexperten und erfahrene Sportor-ganisatoren diskutierten, sondern erstmalig auch viele Sportstu-denten. Das Resümee Güldenpfennigs auch als Reaktion auf eine konträre Mediendebatte in Deutschland, die er betont an die Adres-se aller deutschen Bewerberstädte richtete, lautete, daß die durch die Olympische Idee - auf Grundpositionen von Pierre Coubertin fu-ßend - bestimmten grundsätzlichen Fragen immer wieder neu be-antwortet werden müssen und daß dabei die vielschichtigen Prob-leme des olympischen Sports in seiner Entwicklung zu berücksichti-gen sind. Die olympische Idee mit ihren kulturellen, ihren geistigen und moralischen Aspekten sei in der heutigen Zeit genauso unver-zichtbar wie Olympische Spiele. Allerdings sei sie ständigen Gefah-ren ausgesetzt und wird weiterhin bedroht bleiben. Optimistisch stimme, daß starke progressive Kräfte zu ihrer Verteidigung in der ganzen Welt vorhanden waren und sind.
Dirk Thärichen verwies aus der Sicht der von ihm geleiteten örtli-chen und regionalen Organisationsleiteinheit auf den harten Wett-lauf mit der Zeit und das Ringen um ein tragfähiges und überzeugen-des sportliches Konzept für die Leipziger Olympiabewerbung. Als sporterfahrener Marketingfachmann weiß er, daß durch Sydney 2000 die Meßlatte für die Vorbereitung und Ausrichtung der Spiele sehr hoch gelegt worden ist. Nach Athen 2004 und vor allem Peking 2008 wird sie dann eher noch höher liegen. Bis 15. Mai dieses Jahres muß der Aufgabenkatalog des NOK (identisch mit dem Aufgabenkatalog des IOC für alle Bewerberstädte) abgearbeitet sein, und das Leipziger Konzept hat dabei alle Aspekte moderner olympischer Spiele (Nach-
nutzung, Ökologie etc.) zu berücksichtigen. Spiele in Leipzig und Um-feld dürften weder politisch noch marktwirtschaftlich dominiert werden. Die konstruktive Diskussion beschwor die Leipziger Organisatoren, al-le Potenzen für ein überzeugendes sportliches Konzept sofort zu nut-zen. Nur wenn Leipzig und Sachsen zu einer gewaltigen konzeptio-nellen Vorleistung fähig sind, werden sie das NOK bei seiner Ent-scheidung im April 2003 für eine der fünf deutschen Bewerberstädte beeindrucken können.
Gustav-Adolf Schur, Klaus Köste und andere prominente Teilneh-mer an der Podiumsdiskussion setzten sich leidenschaftlich für Leipzig als Bewerber ein. Klaus Köste fügte hinzu: Das Deutsche Turnfest in Leipzig müsse trotz widriger Umstände beim Umbau des Stadions ein Erfolg werden, sonst sinken die Chancen Leipzigs beträchtlich.
REZENSIONEN
Salt Lake City 2002
Von KATARINA WITT und HEINZ-FLORIAN OERTEL
Die Akribie, mit der dieser Bildband gefertigt wurde, offenbaren die letzten fünf Seiten imponierender als viele vorherigen: Sie listen bis auf die Zuschauer alle Deutschen auf, die nach Salt Lake City geflo-gen waren. Das Register reicht vom NOK-Präsidenten Walter Tröger und dem Skiverbandspräsidenten Fritz Wagnerberger bis zu Christi-ane Zettel - Sekretärin beim Hessischen Rundfunk - und Martin Zimmermann, einem Reporter vom SFB. Das ist einmalig in der Ge-schichte dieser Bände, die seit langem zum bibliophilen Fastfood nach den Spielen gehören.
„Kati“ und „Flori“ waren - den Verlag Das Neue Berlin und dort einen Stab rühriger und verläßlicher „Heimwerker“ hinter sich - die unange-fochtenen Sieger: Ihr Band kam als erster auf den Markt und ver-diente sich auch in der Qualität eine Spitzennote. Ein Buchkaufhaus im Zentrum Berlins musste fünf Tage mit ihm auskommen, ehe man ein „Westprodukt“ in die Schaufenster rücken konnte.
Insider wissen auch, dass ein mächtiger deutscher Zeitungskonzern seiner Bildagentur untersagt hatte, Fotos an die „Ossis“ zu liefern. Dies wissend, möchte man gern bestätigen, dass der Verlag nach dem Tempolauf auch diesen Hindernislauf überzeugend gewonnen hat. Das Buch vermittelt dank exzellenter Schnappschüsse von Bongarts Sportfotografie olympische Atmosphäre, lässt die Höhe-punkte nacherleben.
Die Texte sind durchweg sachlich seriös, verzichten - was heutzuta-ge auffällt - auf billige Klischeevokabeln, wie man sie während der olympischen Fernsehübertragungen pausenlos über sich ergehen lassen musste.
Der Resultatteil ist von belanglosen Kleinigkeiten abgesehen, verläß-lich und umfassend, obwohl man von einem solchen Band durchaus auch noch mehr in dieser Hinsicht erwarten dürfte. Vielleicht sucht man nämlich in Jahren vergeblich nach der Plazierung eines Athle-ten, dessen große Zeit erst nach Salt Lake City begann. Die Affäre Mühlegg bis ins Detail zu recherchieren, dürfte beim Kampf gegen
die Uhr nicht mehr möglich gewesen sein. Fazit: Katarina Witt und Heinz Florian Oertel als Gallionsfiguren für Das Neue Berlin startend sicherten sich mit ihrem Team einen Medaillenrang nicht nur auf dem Buchmarkt.
Katarina Witt/Heinz Florian Oertel, Salt Lake City 2002, Berlin 2002, 240 S.;19,90 Euro
Klaus Huhn
Olympische Bewegung, Kalter Krieg und Deutschlandpolitik 1949-1972
Von TOBIAS BLASIUS
328 Seiten umfaßt die Dissertation des derzeit bei der „Westdeut-schen Allgemeinen Zeitung“ tätigen Tobias BLASIUS. Die Themen des Titels würden Bände füllen. Immerhin offenbart der Autor, was altbundesdeutsche Historiker bislang höchstens am Rande er-wähnten: Jeder über die Grenzen der alten Bundesrepublik hin-auswirkende Schritt des Sports wurde zuvor in Bonner Ministerien erörtert und genehmigt oder abgelehnt. Zwei Zitate als Beleg dafür, mit welcher Akribie BLASIUS die Bonner Akten daraufhin studierte. 1956 - in Cortina standen die Winterspiele bevor -, begann sich „die Sportwelt damit abzufinden, daß das Auftreten einer zweiten deutschen Olympiamannschaft nur eine Frage der Zeit sein würde und dies nahezu ausschließlich in Bonn als Katastrophe begriffen wurde, versuchte das Auswärtige Amt höchstselbst, im Vorfeld der Plenar-Sitzung“ (des IOC) „Einfluß auf die Mitglieder des Exekutiv-Komitees zu nehmen. Walter HALLSTEIN beauftragte die entspre-chenden Botschafter per Drahterlass, die mächtigen IOC-Mitglieder ‘auf die Konsequenzen des Pariser Beschlusses hinzuweisen’ und ‘von der Notwendigkeit einer Revision zu überzeugen’.“ (S. 146) Gemeint war die Entscheidung von Paris, DDR-Athleten künftig in einer gesamtdeutschen Mannschaft starten zu lassen. So akribisch die BLASIUS-Ermittlungen sonst sind: Daß die IOC-Mitglieder der BRD schon in Paris dagegenstimmten wird präzise nirgendwo mit-geteilt.
Das andere Zitat: „Als Walter HALLSTEIN zur Konzentration auf ‘die politisch soviel wichtigeren Fragen’ mahnte, deutete sich an, dass von HALT längst begriffen hatte, wie die Zauberformel in der Zu-
sammenarbeit mit der Bundesregierung künftig lautete: Es genüg-te, ein Szenario zu entwerfen, wonach auch ‘ein SBZ-Funktionär in das IOC aufgenommen würde’, um die Dringlichkeit einer solchen Personalie zu untermauern.“ (S. 147)
Kurzum: Eine nützliche und reputierliche Arbeit, die allerdings auch 2001 untermauert, wie die Dinge liegen: Im Literaturverzeichnis sucht man vergeblich nach Quellen von Historikern der neuen Bundesländer.
Blasius, Tobias: Olympische Bewegung, Kalter Krieg und Deutschland-politik 1949-1972. Frankfurt/Main 2001, 328 S
Klaus Huhn
Chronik des Eisenbahnersports in der DDR
Die nun vorliegende „Chronik des Eisenbahnersports in der DDR“ umfaßt mehr als 800 Ereignisse und gewährt Einblicke in die Viel-falt des Eisenbahnersports von 1948 bis 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik. Sie berichtet sowohl über den Breiten-sport der Betriebssportgemeinschaften (BSG) als auch über den Wettkampf- und den Leistungssport, zunächst in den Schwer-punktsektionen der Sportvereinigung (SV) Lokomotive und dann im Sportclub (SC), über den Kinder- und Jugendsport und über den Freizeit- und Erholungssport in den Reichsbahndienstorten. Es sind zum Beispiel solche Ereignisse enthalten, wie die Kinderolym-piaden bei den Betriebssportgemeinschaften am Ende der 50er Jahre aber auch die Beteiligung an den Kinder- und Jugendsparta-kiaden, die Lehrlingssportfeste oder die Kraftsportwettbewerbe der Lehrlinge. Selbstverständlich wurden die Aktivitäten zum Gemein-samen Sportprogramm von DTSB, FDGB und FDJ aufgenommen wie auch jene zum Erwerb des Sportabzeichens. Es wird über die in den 70er und 80er Jahren von hauptamtlichen Sportleitern un-terstützten prophylaktischen Kuren für die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner berichtet und ebenso über den Einsatz von Übungs-leitern aus den Betriebssportgemeinschaften in den Kinderferienla-gern der Reichsbahn. Vollständig sind die Meisterschaften und Meetings des internationalen Eisenbahnersports aufgeführt, an de-nen die DDR-Eisenbahner-Auswahlmannschaften teilnahmen oder die wir ausrichteten. Selbstverständlich werden herausragende Leistungen und die Namen der Aktiven genannt, die sie vollbrach-
ten. Es fehlen auch nicht die Veranstaltungen in den 50er und 60er Jahren, bei denen die Athletinnen und Athleten infolge politischer Diskriminierung gehindert wurden, an den Start zu gehen. Und die-se „Chronik des Eisenbahnersports“ gibt auch Auskunft über die eigene Sportschule „Philipp Müller“ in Halberstadt und ihr Wirken oder über die Aktivitäten zur Errichtung neuer Sportstätten und Freizeiteinrichtungen. Sie ist - alles in allem - ein Kompendium der vielfältigen Bemühungen und Leistungen Tausender Übungsleiter, Trainer und Funktionäre der mehr als 200 Betriebssportgemein-schaften Lokomotive, gewerkschaftlicher Sportorganisatoren und Sportkommissionen der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner, die nun auch in der Gesamtgeschichte des deutschen Eisenbahner-sports (75 Jahre Verband Deutscher Eisenbahner-Sportvereine) gewürdigt worden sind.
Chronik..., Berlin 2002, 126 S.
Kurt Zach
75 Jahre deutsche Eisenbahner-Sportvereine
Von KURT WÄTZMANN (Red.)
Am 7. März 2001 jährte sich zum 75. Mal der Gründungstag des Verbandes Deutscher Eisenbahner-Sportvereine e.V. (VDES). Aus diesem Anlaß gab der Verband eine Festschrift heraus, in der die Verbandsgeschichte dargestellt wird, und zwar gleichermaßen res-pektiert die gemeinsame Geschichte, die Geschichte der Eisen-bahner-Sportvereine in der BRD nach 1945 und die der Sportver-einigung (SV) Lokomotive in der DDR.
Auf weit mehr als 30 Seiten werden die ersten Initiativen nach dem Zweiten Weltkrieg und die in der Sowjetisch Besetzten Zone gezo-genen Konsequenzen ebenso dargelegt wie die Entstehung der Sportvereinigung Lokomotive, die Aktivitäten in der und für die Uni-on Sportive Internationale des Cheminots (USIC) und vor allem die Fülle und Vielfalt des Eisenbahnersports in der DDR bis zur Auflö-sung der SV und der Gründung des „VDES Lokomotive e.V.“ sowie die satzungsmäßige Übernahme durch den VDES der BRD.
Die Zeittafel Ost ist ebenso enthalten wie die Zeittafel West. Auch das für den Osten Unverständliche und den Westen so Selbstver-
ständliche wird nicht ausgespart. So heißt es denn auf Seite 49 der Schrift: „Ein Relikt holte die Eisenbahnersportvereine ein, welches in der DDR schon ausgestorben war. Die 50%-Regel, das heißt 50 % Eisenbahnermitglieder. Da hatten die meisten Vereine mit nur 30 % Eisenbahnern eine richtig steile Wand vor sich. Dass das Geld auch den Sport regiert, musste auch erst einmal gelernt werden. Eine Mitgliedsbeitragserhöhung von 1000 % war eine ganz norma-le Sache, denn die Bahn fühlte sich jetzt nicht mehr für die Vereine und Sportstätten verantwortlich. Zuschüsse aus dem ‘Kultur- und Sozialfonds’ der Betriebe wurden gestrichen...“
Alles in allem die Festschrift eines Vereins, der Leben und Leistung aller seiner Mitglieder - auch die in der Sportvereinigung Lokomoti-ve in der DDR vollbrachten - gleichermaßen würdigt und respek-tiert.
Eberhard Geske/ Kurt Zach, Festschrift.., Frankfurt a.M. 2001
GEDENKEN
Fred Müller
(8. Juli 1913 - 11. Oktober 2001)
Mit ihm hat einer die Schar der Unerschütterlichen verlassen, den man guten Gewissens ungewöhnlich nennen konnte. Man konnte ihn sich noch als Offizier in irgendeiner Uniform vorstellen, in der Kommunisten die Freiheit verteidigten - wie in Spanien - oder in der jungen DDR-Armee. Mühe hatte man schon, in ihm den Sportfunk-tionär zu erkennen. Er hatte so gar nichts von einem Medaillenzäh-ler an sich oder von jenen, die nach jeder Niederlage gleich wis-sen, wer sie verschuldet hat. Parteisekretär in einem Autowerk? Dazu reichte die Vorstellungskraft. Beim Professor für dialektischen und historischen Materialismus, fiel es schon wieder schwer, und der Gedanke, daß dieser so ruhige und besonnene Mann einen Hörsaal voller Kubaner faszinieren könnte, erreichte schon wieder die Grenzen des Denkbaren. Mit einem Wort: Fred Müller hatte an vielen Kapiteln der Geschichte der untergegangenen DDR mitge-schrieben. Als es in Mode kam, sich für die DDR und ihre Leistun-gen zu entschuldigen, erhob er seine Stimme und warnte vor sol-chem Unsinn.
Bei der Gründungstagung des Vereins Sport und Gesellschaft (1998) anläßlich des 50. Jahrestages der Bildung des Deutschen Sportausschusses sprach er über die erste Reise einer DDR-Studiendelegation in die UdSSR, aber er begann nicht mit dem Wortlaut der Einladung oder einer Beschreibung des Abflugs in Schönefeld, sondern er stellte zunächst einiges klar: „Um bei ei-nem gesellschaftlichen Ereignis nicht nur seine momentane Bedeu-tung, sondern auch seine bleibende Wirkung richtig einzuschätzen, ist es erforderlich, zu ihm einen größeren zeitlichen Abstand zu gewinnen. Nach dem Niedergang der sozialistischen Staatenge-meinschaft haben diejenigen - die auch die Beseitigung der DDR zum Hauptziel des Kalten Krieges gemacht hatten - keine Zeit ver-streichen lassen, um den Nachweis für die Überlegenheit ihrer Ge-sellschaftsordnung zu erbringen, glaubend, daß sie damit bewei-sen könnten, warum sie über ‘Diktatur’ und ‘Unrecht’ gesiegt hät-ten. Auf Gebieten, auf denen solch eine Begründung nicht gelingen wollte, weil die erzielten Erfolge dem widersprachen, bediente man sich der Lüge, der Fälschung und Diskriminierung. Nun gibt es für viele Vorgänge bekanntlich keine ‘objektive’ Wertung, weil sie auf
die davon Betroffenen eine subjektiv völlig unterschiedliche Aus-wirkung haben. Je nach der sozialen Stellung und der politischen Position wird von dem Einen eine Sache als gut und nützlich, von dem Anderen als schlecht und schädlich bewertet. Etwas ganz an-deres ist es, die bewußte Verfälschung oder die Lüge als Mittel zu gebrauchen, um eigene kriminelle oder moralisch verwerfliche Handlungen zu verschleiern. Man möge mir diese kurze Vorbe-trachtung entschuldigen, aber sie trifft gegenwärtig in starkem Ma-ße auf Sport und Gesellschaft zu. Wenn ich aufgefordert wurde über erste Eindrücke und Erfahrungen in der Sowjetunion zu spre-chen, dann lassen sich diese beiden nicht voneinander trennen. Meine erste Erfahrung, die ich gewann, nämlich, daß Sport vom Wesen und Charakter der jeweiligen Gesellschaft bestimmt wird, hat sich in den folgenden Jahrzehnten in vollem Maße bestätigt. Wenn ich von den ersten Erfahrungen, welche die erste Sportdele-gation der DDR in der Sowjetunion gewinnen konnte, nicht nur über die Organisation, den Aufbau und die sporttechnischen Fra-gen spreche oder sie vordergründig behandele, so nicht, weil ich sie unterschätze oder weil wir auf diesem Gebiet keine wichtigen Erkenntnisse übermittelt bekamen, sondern weil der Aufbau, die Entwicklung und die Erfolge des Volkssports in der DDR nicht denkbar gewesen wären, wenn wir nicht - im Gegensatz zu der Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen - mit überholten Traditionen gebrochen hätten. Das bedeutet keine Negierung vor-handener fortschrittlicher Sporttraditionen, die geachtet und ge-pflegt wurden, sondern ich spreche hier von der Zielsetzung und dem Charakter der sportlichen Entwicklungen und jenen, in deren Händen sie lag. Nach der Einverleibung der DDR in das wirtschaft-liche Staatsgefüge der alten Bundesrepublik Deutschland zeigte sich sehr schnell die völlige Abhängigkeit des Sports von der domi-nierenden gesellschaftlichen Ordnung. Es ist sehr aufschlußreich, daß viele ehemalige Sportfunktionäre die Entwicklung der sozialis-tischen Sportbewegung nicht auf das Engste mit der revolutionären Umwandlung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ver-binden und deshalb die Bedeutung der Sowjetunion und ihrer Sportbewegung auf die Vermittlung sporttechnischer Erfahrungen reduzieren... Typisch für eine solche Auffassung ist das Buch von Manfred Ewald ‘Ich war der Sport’. Damit will ich keineswegs die Verdienste schmälern, die Manfred Ewald für die beachtlichen Er-
folge, für den Leistungssport und damit für das Ansehen der DDR hatte. Man kann jedoch die Überlegenheit einer gesellschaftlichen Ordnung nicht als persönliches Verdienst verbuchen. Aber man muß sich im klaren sein, daß es vom persönlichen Engagement und von den fachlichen Kenntnissen in starkem Maße abhängig ist, wie gut und gründlich und möglichst wenig Verzögerungen eine Sache realisiert wird. Die Aufgabenstellung und Zielsetzung wird natürlich vom Wesen und Charakter der Gesellschaftsordnung be-stimmt, von der sie ja selbst ein Bestandteil ist.“
Klaus Huhn
Hans-Georg Herrmann
(13. April 1935 - 22. November 2001)
Es waren Freunde, Weggefährten, Mitstreiter, die am 14. Dezem-ber 2001 auf dem Friedhof in Leipzig-Wahren ihre Trauer und Hochachtung bekundeten. Die Nachricht vom Tode Hans-Georg Herrmanns hatte viele überrascht. Er hatte seine schwere Krank-heit nicht preisgegeben.
Am 13. April 1935 geboren, war er ein Kind dieser Zeit und wuchs - wie so viele von uns - unter oft komplizierten Bedingungen im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit im Osten Deutsch-lands auf. Nach dem Studium an der Pädagogischen Fakultät der Karl-Marx-Universität in Leipzig arbeitete er zunächst in Stendal und später in Leipzig als Sportlehrer.
Seit 1960 war er an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig tätig, als wissenschaftlicher Assistent im Institut für Theorie und Methodik des Schulsports und wenig später schon als stellvertretender Leiter dieses Instituts. Als Direktor der Sektion Leitungs- und Erziehungswissenschaften setzte er ab 1969 all sein Wissen und Können für die weitere Profilierung der Sportwissen-schaft ein. Besonders auch in dieser Zeit wurde spürbar, daß hohe Anforderungen für Hans-Georg Herrmann immer Ansporn und Herausforderung waren. So auch während seiner Tätigkeit als Pro-rektor für Prognose und Wissenschaftsentwicklung ab 1971 und als 1. Prorektor der DHfK ab 1972. Leitungsverantwortung und inhaltli-che Profilierung als Wissenschaftler bildeten für ihn immer eine un-trennbare Einheit. Am 1. Juli 1978 wurde er zum ordentlichen Pro-
fessor für „Leitung und Planung der sozialistischen Körperkultur“ berufen und im gleichen Jahr zum Rektor der Deutschen Hoch-schule für Körperkultur gewählt. Diese Aufgabe - für die er 1981 und 1984 für jeweils drei weitere Jahre wiedergewählt wurde - hat er mit persönlicher Hingabe, Initiative und außerordentlichem Ver-antwortungsbewußtsein bewältigt. Er kannte wahrhaftig diese Hochschule mit all ihren Stärken und Schwächen und hat wesentli-che Entwicklungen, insbesondere hinsichtlich der praxisbezogenen Lehre und Forschung sowie der weiteren leistungssportlichen Profi-lierung, beeinflußt und einen beachtenswerten Beitrag zur weltwei-ten Anerkennung des DDR-Sports, der Sportwissenschaft und der DHfK geleistet.
Besonders wichtig war für ihn der direkte Kontakt zur sportlichen Praxis. Als aktiver Handballer war er anfangs auch Kreisvorsitzen-der des Fachausschusses Handball in Stendal und später von 1984 bis zu seiner Auflösung 1990 Präsident des Deutschen Handball-Verbandes (DHV). Von 1988 bis 1996 war er zugleich Mitglied des Rates und Präsident der Propaganda- und Entwick-lungskommission der International Handball Federation (IHF). Na-tional wie international setzte er sich konsequent für gesellschaftli-chen Fortschritt, für die Bewahrung des Friedens und friedliches Zusammenleben aller ein.
Seine wohl schwierigste Aufgabe übernahm er am Ende seiner be-ruflichen Tätigkeit. Im Rahmen der sich vollziehenden gesellschaft-lichen Veränderungen in der DDR wurde er im Dezember 1989 in den aus 25 Mitgliedern bestehenden Arbeitsausschuß des Deut-schen Turn- und Sportbundes (DTSB) gewählt, dessen Leitung er übernahm. Die angebotene Kandidatur für die Wahl zum Präsiden-ten des DTSB im März 1990 lehnte er aber ab. Er hatte gespürt und zunehmend auch erkannt, daß kaum noch Gestaltungsmög-lichkeiten bestanden und die zu treffenden Entscheidungen nicht vom DTSB oder von dessen Mitgliedern abhingen.
Ich habe Hans-Georg Herrmann als einen offenen, ehrlichen, hilfs-bereiten und sehr konsequenten Menschen kennengelernt, der durch seine Lauterkeit, sein Verantwortungsbewußtsein, durch ho-he Forderungen an sich selbst - aber auch an uns - den Jüngeren wie den Älteren ein Vorbild war. Nach meiner Rückkehr an die DHfK im Jahre 1972, insbesondere durch meine Tätigkeit als Wis-senschaftsbereichsleiter, Dekan der Fakultät für Sportmethodik und
Prorektor für Wissenschaftsentwicklung konnte ich das in der tägli-chen Zusammenarbeit an der Hochschule erleben. Ich schätze - und mit mir sicher auch viele seiner Weggefährten - sein Wirken für die Entwicklung der DHfK und ihrer Leistungsfähigkeit, seinen Bei-trag zur Entwicklung der Sportwissenschaft, der Aus- und Weiter-bildung in ihrer Einheit, zum Ausbau unserer internationalen Bezie-hungen und seine Tätigkeit im und für den nationalen und interna-tionalen Handballsport hoch ein. Aus den Jahren unserer gemein-samen Tätigkeit kann ich nur sagen, auf sein Wort konnte man sich verlassen, Vertrauen und Offenheit zeichneten ihn aus. Gleiches erwartete er natürlich auch von uns. Es bleibt mir das Bild eines Menschen, eines Sportwissenschaftlers, eines Freundes, der vor allem die nationale und internationale Anerkennung der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig maßgeblich mitge-prägt hat.
Karl-Heinz Bauersfeld

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 15 / 2002
INHALT
DOKUMENTATION/DISKUSSION
4 War Willi Daume IM?
Klaus Huhn
9 Gauck-Rambos jüngste Attacke
Horst Forchel
11 Ein Aufschlußreicher Briefwechsel
Sigfrid Edström 1943 an Ritter von Halt
14 Zum Thema Carl Diem
Sturmlauf durch Frankreich
17 Bewundert, geschmäht - auch vergessen?
Malerei, Grafik und Plastik der DDR zum Thema Sport
Günter Witt
31 Die Wahrheit über „Sport II“
Gespräch mit Siegfried Geilsdorf
38 Die kleine Friedensfahrt in Altentreptow (Auszüge)
Ernst Mohns (†)
41 Nur Politik? - Sport in der DDR (Auszüge)
Jurgen Tampke
55 Das zweite Spiel
BRD und DDR hatten schon 1972 gegeneinander Fußball
gespielt
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JAHRESTAGE
57 Zu Friedrich Ludwig Jahns 150. Todestag
Wolfhard Frost
61 1912 in Stockholm: V. Olympische Spiele
65 Zehn Jahre IAT
Auszüge aus der Rede von Reinhard Daugs
68 ZITATE
Erinnerung an Melbourne
Vor 25 Jahren: heiße Luft
Der Fall Krabbe
Über das Staatsplanthema 14.25
Sport - modernste Kapitalkonzentration
Vereinsrechtliche Fundierung brüchig
Nationalsozialismus nicht rezipiert
Mit Vollgas in die Pleite
REZENSIONEN
80 Günther Wonneberger et al.:Geschichte des DDR-Sports
Werner Riebel
83 Karl-Heinz Camman: Jubiläumsbuch. 75 Jahre VDS
Joachim Fiebelkorn
87 Hermann Dörwald: Zeittafel Versehrtensport der DDR
Margot Budzisch
89 Andreas Maus / Burkhard Peter: Drüben
Klaus Huhn
GEDENKEN
94 Herbert Vollstädt
Erhard Richter
95 Heinz Seiler
Hans Pechmann
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DIE AUTOREN
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theo-rie der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
HORST FORCHEL, Dr. paed., geboren 1931, Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1978 bis 1990.
WOLFHARD FROST, Dr. phil. habil., geboren 1931, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1985 bis 1991.
SIEGFRIED GEILSDORF, geboren 1929, Forstingenieur, Vizeprä-sident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) 1975 bis 1989.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
ERNST MOHNS (†), 1922 bis 2001, Sportlehrer und Kreisturnrat.
ERHARD RICHTER, geboren 1929, Generalsekretär des Deut-schen Ringer-Verbandes (DRV) 1980 bis 1986.
WERNER RIEBEL, Dr. sc. phil., geboren 1937, Prof. für Theorie der Körperkultur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1984 bis 1992.
GÜNTER WITT, Dr. phil. habil., geboren 1925, Prof. für Kulturtheo-rie und Ästhetik an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1982 bis 1990.
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DOKUMENTATION/DISKUSSION
War Willi Daume IM?
Von KLAUS HUHN
Die im Titel formulierte Frage könnte Anwälte mobilisieren und „Einstweilige Verfügungen“ heraufbeschwören. Deshalb vorweg: Als „IM“ wurde bislang bezeichnet, wer in einer Kartei als „Informel-ler Mitarbeiter“ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) geführt wurde. Das hat sich hierzulande längst eingebürgert. (Daß ein Ex-Kanzler nicht in diesem Verdacht steht und dennoch gegen die Aktenauslieferer klagt, soll hier nicht erörtert werden.) Zu diesem konkreten Fall wäre anzumerken, daß bislang ein sol-cher Vermerk in den Kellern der Birthler-Behörde nicht gefunden wurde, was die Möglichkeit indes nicht ausschließt. Damit ist je-doch noch keineswegs bewiesen, daß Daume nicht vielleicht ande-ren Instanzen Informationen zukommen ließ. Der Begriff „IM“ ist weder ein geschütztes Markenzeichen, noch ist etwas darüber be-kannt, daß das MfS über ein Monopol bei der Verwendung verfüg-te. Mithin kann die obenstehende Frage formuliert werden, ohne daß deswegen Rechtsmittel zu befürchten wären. Noch dazu: Ständig werden irgendwelche Akten zitiert - es sei denn sie beträ-fen einen Ex-Bundeskanzler - , ohne daß je eine exakte Quelle an-gegeben wurde, die es anderen gestattet, die Akte wenigstens da-raufhin zu prüfen, ob sie wenigstens korrekt zitiert wurde. Ihr Wert als juristisch verwendbares Beweisstück ist ohnehin zumindest fragwürdig, weil noch nie in solchen Situationen danach gefragt wurde, wer die Akte tatsächlich verfaßt hatte, ob er dazu genötigt oder gar gezwungen worden war und ob er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, als er sie zu Papier brachte. Alles Fragen, die jedes Gericht nach den geltenden Gesetzen zu klären hätte, bevor es sich entscheidet, ein beschriebenes Stück Papier als Beweis-stück anzuerkennen.
Wir sind in der Lage, eine schriftliche Information des Herrn Willi Daume zu präsentieren, die im Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland eingesehen und auf Ersuchen des Antragstellers kopiert und ausgehändigt wurde. Der Informations-bericht trägt die Registraturnummer 6043/88/14011 und den hand-
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schriftlichen Hinweis „Vertraulich“. Das Wort ist dick unterstrichen und mit einem unübersehbaren Ausrufungszeichen versehen.
Der Briefkopf (links) lautet: „Der Präsident des Deutschen Sport-bundes“ und trägt (rechts) das Datum: „25. Juli 1961“. Die 58. Session des Internationalen Olympischen Komitees hatte am 6. Juni 1961 in Athen stattgefunden. Erörtert und dann abgelehnt wurde unter anderem der Antrag des NOK der DDR auf Anerken-nung durch das IOC.
Die Informationen Daumes an die Bundesregierung wurden durch einen vermutlich nicht freigegebenen Brief des Ministerialdirektors Dr. Sattler im Auswärtigen Amt der BRD vom 3. Juli ausgelöst. Das Schreiben Daumes bezieht sich im ersten Satz darauf.
Wir haben uns entschlossen, das Originaldokument nicht im ko-pierten Original wiederzugeben, weil Daume - sein Leben lang Freund moderner Schreibmaschinen und -geräte den Brief auf ei-ner Maschine schreiben ließ, die nur große Buchstaben verwende-te. Am Text wurde keine Zeile verändert.
„Sehr geehrter Herr Dr. Sattler,
Vielen Dank für Ihren freundlichen Brief vom 3.7.1961. Heute sind verschiedene Dinge so weit gediehen, dass ich ausführlich antwor-ten kann. Die dringend benötigten Termine von sportlichen Begeg-nungen, bei denen das Fahnenproblem Ärgernisse bereiten könn-te, waren Ihrem Haus ja schon zugegangen.“
Damals verlangte die BRD von Ihren Bündnispartnern noch immer, bei Sportveranstaltungen keinesfalls die DDR-Flagge zu hissen. Offensichtlich wollte das Auswärtige Amt gründliche Arbeit leisten und hatte von Daume einen verläßlichen Kalender aller Ereignisse angefordert, bei denen dieses Problem auftauchen konnte.
„Ich möchte zunächst betonen, dass in dieser Hinsicht die Eisho-ckey-Weltmeisterschaften, die Anfang nächsten Jahres in Colora-do Springs stattfinden werden, von außergewöhnlicher Bedeutung sind. Wenn schon nicht erreichbar ist, dass beispielsweise die USA auch gewisse Konsequenzen ziehen, wenn wir die Kanu-Weltmeisterschaften in Dresden aus besagten Gründen nicht be-suchen können, muss unter allen Umständen durchgesetzt wer-den, dass die USA zur Hissung der Spalterflagge die gleiche strenge Haltung einnehmen, wie wir.“
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Klartext: Daume, Präsident des NOK und des DSB beriet nicht nur die Bundesregierung in ihren Aktionen gegenüber der DDR, son-dern formulierte konkrete politische Ratschläge an die amerikani-sche Regierung. (Wenn eines Tages auch der Sport der Alt-BRD „aufgearbeitet“ wird, wünscht man sich eine Sammlung solcher In-formationsbriefe, die an Bonn adressiert waren und die engen Bin-dungen zwischen der jeweils regierenden Partei und den höchsten Sportinstanzen transparent machen.)
„Die Politik der Bundesregierung wird unglaubwürdig, wenn der Hauptbündnispartner nicht zu einer harten Haltung wenigstens in solchen Fällen veranlasst werden kann, in denen die amerikani-sche Regierung auf ihrem eigenen Grund und Boden zu bestim-men hat. Die ahnungslosen amerikanischen Sportfunktionäre ha-ben uns durch ihr grenzenlos törichtes Gerede in Genf sehr ge-schadet. Sie sind zur Wiedergutmachung verpflichtet. Es wäre für unsere Sache von ganz erheblichem Schaden, wenn in Colorado Springs nicht ein Exempel in unserem Sinne statuiert würde. Eine solche Gelegenheit kommt so leicht nicht wieder. Die Politik der Bundesregierung stellt oft Forderungen an den deutschen Sport. Hier ist es mal umgekehrt, und wir müssen erwarten, dass unsere Wünsche in diesem Falle bei der amerikanischen Regierung durchgesetzt werden und zwar ungeachtet aller Konsequenzen, die sich möglicherweise durchaus ergeben. Wenn ich wiederholen darf, so galt es also zunächst abzuklären, ob die amerikanische Regierung bereit ist, der sowjetzonalen Eishockey-Mannschaft die Einreise-Visa für diese Weltmeisterschaften zu erteilen. In ähnlich gelagerten Fällen hat sie bisher immer Schwierigkeiten gemacht und oft genug die Visa-Erteilung abgelehnt. Ich könnte mir durch-aus denken, dass man amerikanischerseits zunächst mal die Visa verweigert, dass wir aus sportlichen Gründen Fürsprache leisten und man dann die Visa in Aussicht stellt, allerdings mit der aus-drücklichen Bestimmung, dass die Spalterfahne nicht gezeigt wer-den darf. So würde die Sache am besten laufen. Ich bin mal ge-spannt, ob unsere Diplomatie potent genug ist, das zu erreichen. Für möglichst baldige Unterrichtung, wie diese Dinge stehen, wäre ich dankbar.“
Auch dieser „Nebensatz“ ist aufschlußreich: Daume lieferte nicht nur Informationen, sondern erwartete auch umgehend Informatio-
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nen von Regierungsseite. Und das wohl nicht aus Neugierde, son-dern um neue Vorschläge zu formulieren und ständig auf dem Lau-fenden zu sein. Es folgten seine Informationen zu den Ereignissen in Athen, die er offensichtlich in Stichworten schon vorab geliefert hatte:
„Wie Herr Dr. Holz Ihnen schon berichtet hat, ist es in Athen noch einmal gelungen, die vollgültige Mitgliedschaft der Zone im IOC zu verhindern. Dazu waren eine Reihe von Kunststückchen notwen-dig, mit denen wir aber auf die Dauer keinen Erfolg haben werden. Man muss in diesen Dingen klar sehen. Im Grunde ist die Zone echtes Mitglied, denn eine ‘provisorische’ Mitgliedschaft gibt es nach den IOC-Statuten garnicht. Der jetzige Status ist also schon rechtlich angreifbar. Das IOC kann auf die Dauer der Zone nicht ein Recht verweigern, das ausnahmslos alle anderen Länder ha-ben. Wenn man die Satzung der sowjetzonalen Sportorganisatio-nen prüfen will, dann müsste man auch die entsprechenden Sat-zungen von allen anderen Ländern prüfen, insbesondere von de-nen des Ostblocks.“
Diese Bemerkungen beziehen sich darauf, daß man die Aufrecht-erhaltung der „provisorischen“ Anerkennung des NOK der DDR von westdeutscher Seite aus damit begründete, dessen Satzung entspreche nicht den IOC-Regeln über die Unabhängigkeit der Na-tionalen Olympischen Komitees von der Politik. Daume wußte, daß diese Behauptung, die von den Medien ständig wiederholt wurde, erfunden war, und gab in jenem Brief unumwunden zu:
„Die Satzungen des Olympischen Komitees der Zone sind darüber hinaus vollkommen einwandfrei. Das IOC will also jetzt auf unser Drängen hin nochmals die Satzungen der sportlichen Dachorgani-sation, des sogenannten Deutschen Turn- und Sportbundes prü-fen. Der ‘Deutsche Turn- und Sportbund’ ist aber gar nicht Mitglied des IOC. Das ganze ist also schon vollkommen unlogisch und ich wundere mich eigentlich, dass daraus nicht mehr Protest aus dem östlichen Lager entstanden ist. Zum Teil ist das darauf zurückzu-führen, dass wir selbst auf einer rein persönlichen Basis eine Reihe der IOC-Vertreter aus den Ostblockländern für uns gewinnen konn-ten, die dann wenigstens schwiegen, obwohl sie zur Intervention in diesem Punkte einzeln verpflichtet waren. Die Russen selbst ha-ben sprachliche Schwierigkeiten und ihr Dolmetscher kommt in der
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Materie mit ihren vielen Spezialausdrücken augenscheinlich nicht mit. Aber auf einer solchen Konstruktion kann man auf die Dauer den jetzigen Zustand nicht aufrecht erhalten, das ist mir vollkom-men klar...“
IM Daume begnügte sich nicht damit, Bonn mitzuteilen, mit wel-chen im Grunde gegen die IOC-Regeln verstoßenden Tricks das NOK der BRD die längst fällige Anerkennung des NOK der DDR verhinderte, sondern unterbreitete der Bundesregierung auch noch einen anderen Vorschlag, der die erfolgreiche Bewerbung Mos-kaus für Olympische Spiele vereiteln sollte:
„An dieser Stelle möchte ich noch auf meine Ihnen bekannten Be-mühungen zurückkommen, Griechenland durch Gewährung von Wirtschaftshilfe die Möglichkeit einer Bewerbung zur Ausrichtung der Olympischen Spiele 1968 zu geben. Die Sowjetunion wird, was auch in Athen sehr deutlich sichtbar wurde, aussergewöhnliche Anstrengungen machen, Moskau die Spiele für 1968 zu sichern. Was das bedeutet - für die Spiele selbst und auch in politischer Hinsicht - braucht hier nicht zur Debatte zu stehen. Ich habe die Frage in vertraulichster Form mit den Griechen besprochen, ggf. würden diese also mitziehen. Der Finanzbedarf wird insgesamt zwischen 10 bis 12 Millionen $ liegen. Ich werde in der Sache selbst wohl am Zweckmässigsten zunächst den Bundeskanzler an-sprechen, bzw. ihm ein Memorandum zum Studium der Frage ge-ben. Oder?...“
Es war kein Dokument zu finden, daß die Antwort auf diese Dau-me-Frage liefert. Ungeachtet dessen offenbart dieser Brief mit wel-chem Eifer die bundesdeutsche Sportführung politische Ziele ver-folgte, die den Konzepten der Bundesregierung deckungsgleich waren. Aber: Es wurden nicht nur Informationen geliefert, die den Begriff vom „informellen Mitarbeiter“ durchaus rechtfertigen, son-dern darüber hinaus in vorauseilendem Gehorsam eine Serie von Vorschlägen unterbreitet, die bis zur Empfehlung gingen, den Griechen 15 Millionen Dollar zu spendieren, damit Moskau nicht die Spiele bekommt! Es fällt schwer, sich beim Lesen dieser Zeilen nicht daran zu erinnern, was in jüngster Vergangenheit in olympi-schen Kreisen alles unternommen - und auch gezahlt - wurde, da-mit ein Land die Spiele bekam.
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Gauck-Rambos jüngste Attacke
Von HORST FORCHEL
Selbst tragische Ereignisse genießen „Moral-Schutz“, wenn es ge-gen die DDR geht. Giselher Spitzer - Spitzname in der Branche: Gauck-Rambo - wartete nicht einmal bis die Gedenkreden zum 30. Jahrestag des blutigen Überfalls auf das israelische Quartier im Olympischen Dorf von 1972 beendet waren, als er einmal mehr „Enthüllungen“ präsentierte. Diesmal um der Welt mitzuteilen, daß DDR-Sportler an dem Attentat indirekt beteiligt waren, was ihm al-lerdings die deutschen Medien nicht abnehmen wollten, weshalb er auf die Online-Seite der „Neuen Zürcher Zeitung“ (5.9.02) auswich.
Am 5. September 1972 waren palästinensische Terroristen in das ungenügend gesichert Olympische Dorf - am 30 August hatte der Verfassungsschutz vor einem mit unbekannten Ziel aus Beirut ab-gereisten Trio gewarnt - eingedrungen, hatten zwei israelische Ath-leten erschossen und die anderen als Geiseln genommen.
Spitzer überschrieb seine Fabel mit der amtlich klingenden Zeile: „Der Münchner Terroranschlag aus der Sicht des früheren DDR-Ministeriums für Staatssicherheit“ und beklagt: „Kaum je wurde aber die empörende Obstruktion des von Stasi-Agenten durchwirk-ten DDR-Sportteams durchleuchtet.“ Dieser Satz des am Potsda-mer Institut für Zeitgeschichte des Sports tätigen Privatdozenten muß gewisse Zweifel an seinen Kenntnissen der deutschen Spra-che aufkommen lassen. Die aus dem Lateinischen stammende „Obstruktion“ steht gemeinhin für „Hemmnis“, „Verstopfung“, „durchwirken“ erläutert der Duden mit dem Hinweis „mit Goldfäden durchwirkt“. So bleiben nur vage Deutungen dessen, was er mei-nen könnte. (Bekanntlich hatte der damalige Bundeskanzler Willy Brandt die ergriffenen Maßnahmen, die mit einem furchtbaren Blutbad endeten, ein „erschreckendes Dokument deutscher Unfä-higkeit“ genannt.) Privatdozent Spitzer liefert die Aufklärung: Die Münchner Gastfreundschaft „wurde auf der anderen Seite der Mauer mit Füßen getreten“. Für diese nicht minder verschwomme-ne Behauptung wird ein DDR-Gewichtheber ins Feld geführt, der zwar am 6.9. mit dem Erringen der Bronzemedaille im Super-schwergewicht ausgelastet war, aber nach „Gauck-Rambo“ genü-gend Zeit hatte, unter dem Decknamen „Händel“ Berichte an das
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MfS zu verfassen. Zum Beispiel: „Von ‘Händel’ stammt ein hand-geschriebener Bericht über den Terror des 5. September, der an Herzlosigkeit kaum zu überbieten ist. War das ein Produkt der langjährigen Erziehung in der Sportvereinigung ‘Dynamo’, die vom Ministerium für Staatssicherheit dominiert wurde? Der Bericht be-ginnt mit: ‘Am 5.9. gegen 6 Uhr 30 weckte mich xyz mit den Wor-ten: ‘Geh nicht auf den Balkon, da kannst du abgeknallt werden.’ Eine Woche später schildert er für die Stasi alles, was ihm einfiel.“ Sollte das so gewesen sein, hätte er Spitzers Gewohnheit prakti-ziert: „Händel“ war nämlich nicht einen Tag für Dynamo gestartet, konnte deshalb auch weder von Dynamo noch vom MfS erzogen werden. Um Wissenslücken zu schließen: „Händel“ war von der BSG Netschkau zum SC Karl-Marx-Stadt gewechselt. Darin „Herzlosigkeit“ zu erkennen fällt sicher schwer. Aber Spitzer entdeckte sie überall: „Die Herzlosigkeit wiederholt sich, indem keine Sportmannschaft der DDR zur Trauerfeier erschien.“ Das trifft nicht zu.
Erdrückend scheint dem Privatdozenten die Beweislast für den An-teil der DDR am Münchner Attentat durch folgende Fakten: „Ab-schließend soll auf einen weiteren Sportler verwiesen werden, der den Klassenkampf vor die Verbrechensbekämpfung stellt...“, er „gab Filme vom Terroranschlag zum Entwickeln weiter... nicht aus-zudenken, was die Aufnahmen vom Tatort hätten bewirken kön-nen, wenn sie sofort durch die Münchner Kripo und Staatsanwalt-schaft hätten genutzt werden können...“ Mit folgenden Sätzen schließt die Anklage: „Von den inoffiziellen Mitarbeitern der DDR-Staatssicherheit hat man so etwas nicht gehört. Sie hoffen wohl auf Vergessen. Verfügen sie noch über ihre Filme.“
Dies wiederum scheint unglaubwürdig, denn es gab so gut wie nichts, das Spitzer bislang nicht gefunden hätte. Von einer Kleinig-keit abgesehen: Damals hatte die Bundesregierung das MfS auf höchster Ebene wissen lassen, daß zwei Anti-Terror-Experten in München alle Vorkehrungen für den Schutz der DDR-Mannschaft treffen sollten. Sie erhielten einen Landeplatz zugewiesen, man gestattete ihnen - das war ein einmaliges Ereignis - ihre persönli-chen Waffen zu tragen, und brachte sie zum Schauplatz des Ge-schehens. Mithin: Zwei hohe MfS-Offiziere waren vor Ort und machten sich kundig. So konnten sie auf Amateurfilme und Berich-te gut und gerne verzichten.
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Ein aufschlußreicher Briefwechsel
Der folgende Briefwechsel stammt aus dem Privatarchiv eines deutschen Sporthistorikers - der Name ist der Redaktion bekannt - und offenbart auch die engen Bindungen des letzten deutschen NS-Reichssportführer und späteren NOK-Präsidenten in der BRD, Ritter von Halt, zu maßgeblichen Männern des dritten Reichs. Der Schreiber des Briefes an von Halt war der Schwede Sigfrid Edström, der von 1946 bis 1952 IOC-Präsident war, 1912 die Spie-le in Stockholm organisiert und die IAAF mit begründet hatte. In sei-ner Jugend hielt er den damals noch geführten Sprintweltrekord über 150 m.
J. Sigfrid Edström Stockholm den 2. März 1943
Herrn Dr. Karl Ritter von Halt,
Deutsche Bank,
BERLIN W.8,
Mauerstraße 39.
Mein lieber Karl,
Es ist mit schwerem Herzen, daß ich heute an Dich schreibe, u. zw. mit der Bitte in der nachstehenden Angelegenheit falls möglich mir behilflich zu sein.
Wie Du weißt, hat meine Gesellschaft Asea eine Tochtergesell-schaft in Brüssel, Soc. Belge d’Electricité Asea, Place Sainctelette 30. Vor etwa zwei Jahren wurden 4 Ingenieure und die Frau eines von diesen verhaftet. Sie wurden später nach Hamburg überführt und ins Zuchthaus gesetzt. Ich dachte, daß die Sache hiermit zu Ende war, erfahre aber jetzt, daß drei von den Ingenieuren wegen Spionage zum Tode verurteilt worden sind. Ob sich die Frau auch unter den zum Tode verurteilten befindet, weiß ich nicht, aber es läßt sich vermuten. Sie haben jetzt Gnadengesuche eingereicht und meine Bitte an Dich ist, falls möglich auszuwirken, daß diese Gesuche genehmigt werden.
Die drei Ingenieure sind alle Asea-Leute, die für uns tadellos gear-beitet haben und sehr anständig sind, weshalb es ganz unver-
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ständlich ist, daß sie sich auf Spionage eingelassen haben kön-nen. Anlässlich ihres vieljährigen Dienstes in unserer Gesellschaft muß ich mein Möglichstes tun, um ihr Leben zu retten. Leider habe ich keine Verbindung um dies durchzuführen, und meine einzige Hoffnung ist, daß Du mir helfen kannst.
Nachstehend sind die Auskünfte der verurteilten Leute, die alle belgische Staatsangehörige sind:
1) SOIMT Hector, Kennzeichnungsnummer des Zuchthaus und Strafgefängnisses Hamburg-Fuhlsbüttel, Männergefängnis Suh-renkamp 98, B.IV/253. Er befindet sich z.Z. im Gefängnis der Lehr-terstraße, 3 Berlin NW 40; ist geboren am 8.10.1900 und seit 18 Jahren in Diensten der Asea. Er ist Ingenieur von großem Wert.
2) MOREAU Victor, Kennzeichnungsnummer 251...
3) Frau MOREAU, geborene Wattiez, Emma, Kennzeichnungs-nummer 7-27...
4) DEWAEL Robert, Kennzeichnungsnummer 255...
Ich bedauere sehr, daß ich leider gezwungen bin Dich mit dieser unangenehmen Angelegenheit zu belästigen, aber ich weiß wirk-lich nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.
Dein alter Freund
Sigfrid
Nach den vorhandenen Unterlagen wurde der Brief nie beantwor-tet, nachdem Ritter von Halt die kopfbogenlose Information folgen-den Inhalts bekam:
Herrn Dr. von Halt.
Zu dem anliegenden Schreiben des Herrn J. Sigfrid Edström vom 2.3.1943:
Diese Sache ist vor dem Volksgerichtshof zur Aburteilung gekom-men. Sie ist daher streng geheim. Irgendwelche Auskünfte können und werden an niemanden erteilt. Ob die Verurteilten noch am Le-ben sind, läßt sich daher nicht ergründen.
Es ist in diesem Fall daher auch nicht opportun, irgendwelche In-terventionen zu unternehmen oder zu versuchen. Im übrigen kann man sich darauf verlassen, daß, wenn Gnadengesuche vorliegen, diese von dem beauftragten Richter peinlichst genau geprüft wer-den; auch wären in diesem Fall Interventionen von irgendwelcher Seite nicht möglich, aber auch nicht nötig.
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Es läßt sich also nicht das mindeste in dieser Angelegenheit tun.
Es ist ratsam, Herrn Edström über diese Interna nicht zu unterrich-ten, sondern ihm lediglich zu schreiben, daß es unmöglich ist, ir-gend etwas zu unternehmen, und daß vorliegende Gnadengesu-che von den Behörden stets wohlwollend und eingehend geprüft und entschieden werden.
5.4.43 Rechts-Abteilung
Unterschrift unleserlich
Recherchen des Historikers im Jahre 1971 in Stockholm ergaben, daß Dewael, Moreau und Soimt bereits im Oktober 1942 „irgend-wo“ in Deutschland erschossen worden waren. Von Frau Moerau fehlte jede Spur, ein fünfter Verhafteter war im November 1943 in den Ardennen erschossen worden. Der befragte schwedische Di-rektor Henning J. kannte alle Hingerichteten von jahrelanger Zu-sammenarbeit persönlich. Veranlaßt worden war, im Eingang der belgischen Filiale eine Gedenktafel anzubringen. Direktor J. erklär-te sich zunächst bereit, ein Interview zu dieser Affäre zu geben, das dann durch einen bundesdeutschen Mitarbeiter des Konzerns übermittelt wurde und „einsilbig“ war. Zum Beispiel: „Was waren die Motive der vier?“ Antwort: „Der Widerstand war gegen die Be-satzungsmacht gerichtet und hatte nichts mit Politik zu tun.“ - „Kennen Sie die Opfer oder gibt es andere Personen bei Asea, die sich an sie erinnern können? Was waren es für Menschen?“
Antwort: „Ja“.
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Zum Thema Carl Diem
Die Diskussion um die Person Diems wird vehement fortgesetzt. Vor allem Historiker aus den alten Bundesländern - auch solche, die inzwischen den neuen Ton angeben - versichern ständig, daß bei der unbestritten zwiespältigen Person die Verdienste um den „deut-schen Sport“ nicht übersehen werden dürfen, wenn auch seine pro-faschistische Haltung nicht ignoriert werden kann. Wir verzichten auf eine Beteiligung an dieser nahezu endlosen Diskussion und veröffentlichen kommentarlos einen Artikel Diems im Wortlaut, weil uns deucht, daß er für den Leser aufschlußreich genug ist, um zu befinden, welche „Verdienste“ Diem für den deutschen Sport er-warb. In der Bibliographie des Diem-Insituts findet er sich mit fol-genden Daten: „1940... 40/24, ‘...und sie haben die Probe bestan-den’ in: Reichssportblatt 25.6.1940; unter dem Titel ‘Sturmlauf durch Frankreich’ in: Olympische Flamme S. 124-129.“
Sturmlauf durch Frankreich
Von CARL DIEM
Sturmlauf durch Frankreich, wie schlägt uns alten Soldaten, die wir nicht mehr dabei sein können, das Herz, wie haben wir mit atemlo-ser Spannung und steigender Bewunderung diesen Sturmlauf, die-sen Siegeslauf verfolgt! Die fröhliche Begeisterung, die wir in fried-lichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wett-streit empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen, und in Ehrfurcht, und mit einem inneren Herzbe-ben, in das etwas von jener fröhlichen Begeisterung hineinklingt, stehen wir staunend vor den Taten des Heeres. In ihnen zeigt sich, was der Deutsche kann, in ihnen wächst der Deutsche von heute über alles Frühere und über sich selbst hinaus.
Vielerlei sind die Gründe. Eine der Ursachen aber - das dürfen wir stolz verkünden - ist der sportliche Geist, in dem Deutschlands Jungmannschaft aufgewachsen ist. Da gab es nichts mehr von je-ner schlaffen Anstrengungsscheu und platten Begehrlichkeit weichlicher Zeiten. Das Ideal eines gefahrlosen, von Versiche-rungsschutz gegen alle Unfälle des Lebens eingebettetes Dasein,
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des gut gemachten Bettes, des wohlbesetzten Tisches und des pensionsfähigen Lebensabends ist in der deutschen Volksseele verschwunden. Statt dessen Freude am Kampf, Freude an Entbeh-rung, Freude an der Gefahr. Nur in solcher Lebenshaltung kann Norwegen erobert, Frankreich durchstürmt werden. Senken wir einmal die prüfende Sonde in das Entstehen, dieser neuen Le-benshaltung. Suchen wir einmal den Pulsschlag dieser neuen Ju-gend zu erfassen ... im Sport ist sie groß geworden; Anstrengung im Wettkampf war ihr eine Lust. Wenn die Lungen jachten und das Herz in höchster Anstrengung klopfte, dann spürte sie den Rausch der Leistung. Schmerz verwandelte sich in Stolz, ob es die Püffe gegen das Schienbein beim Fußballspiel oder die Schläge gegen das Kinn beim Boxen oder die Schmerzen an Haut und Gelenken beim Marathonlauf oder bei der Radfernfahrt oder die Schrammen und Erfrierungen beim Bergsteigen waren. Wie ein edles Pferd beim Herannahen der Hürde anzieht, so spannte sich die Seele dieser Jugend bei Anstrengung und Gefahr. Es reizte sie jede Prü-fung dieser Art und nur der galt als vollwertig, der mannhafte Prü-fungen bestanden hatte.
Wir wollen nicht unsere Frauen dabei vergessen. Sie waren und sind unsere Kameradinnen beim Sport, und dieses neue junge Frauengeschlecht wagt sich nicht minder fröhlich an anstrengende und gefährliche Skifahrten und Bergtouren, ist nicht minder ver-gnügt dabei, wenn es zum Wettkampf oder im Turnsaal aufgerufen wird. Die Frauen haben zwar am Sturmlauf durch Frankreich nicht unmittelbar teilgenommen, aber sie haben das Lebensgefühl mit-bestimmt, das zu diesem Sturmlauf führte. Sie haben diese neue Generation als Mütter, Schwestern und Bräute mitgeschaffen, mit-gehämmert. Uns Daheimgebliebenen klingen die Marschlieder die-ser Soldaten des Sturmschritts wie eine alte vertraute Melodie in den Ohren. Im Geiste marschieren wir mit und suchen uns, die Er-lebnisse der jungen Kriegsmannschaft vorzustellen. Die Tornister sind zwar etwas leichter geworden, dafür sind die Marschweiten länger und die Marschtritte schneller. Und so sehen wir sie hinter den motorisierten Einheiten herhasten, denn darauf kommt es ent-scheidend an, daß die marschierende Infanterie nicht allzu lange nach den Kampfwagen und den motorisierten Einheiten das Schlachtfeld erreicht. Da muß Kilometer um Kilometer in glühender
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Sommersonne bewältigt werden, da wird in irgendeiner Marsch-pause ein Auge voll Schlaf genommen oder während des Mar-schierens gedöst oder schließlich in irgendeiner Stunde der Rast etwas totenähnlich geschlafen. Dann heißt es wieder weiter und immer weiter, bis die Stunde des Gefechtes kommt, und in diesem Augenblick ist alle Müdigkeit dahin, und im Laufschritt werden die Bewegungen ausgeführt, im Laufschritt die feindliche Stellung ge-stürmt. So war es und so kam es, daß die deutsche Streitmacht in unvorstellbarem Tempo siegte und daß, wenn die Franzosen sich gegen die pfeilartig, vorstoßenden motorisierten Truppen im Flan-kenangriff zu wehren suchten, die deutsche Infanterie eben im Sturmlauf zur Stelle war und auch da den Sturmlauf zum Sieges-lauf wandelte.
Wer wollte schließlich daran vorbeisehen, daß in den Leistungen der Fallschirmtruppen ein Stück sportlich-turnerischen Wagemutes steckt, und wir wissen, daß es kein Zufall war, wenn unter den mit höchster Auszeichnung Bedachten sich der Olympiasieger Schwarzmann befand. Das ist wie ein Symbol für das junge Ge-schlecht: Olympiasieger und Held im ernsten Kampfe zugleich. Sportbegeisterte Soldaten, sportbegeisterte Offiziere, sportbegeis-terte Führer! Nennen wir noch einen: den General Dietl, den Hel-den von Narvik, uns älteren Skiläufern als ein forscher, zäher, fröh-licher Sportkamerad wohl bekannt, der seinen sportlichen Geist seiner Truppe einzuimpfen wußte und der mit ihr dann Über-menschliches geleistet hat.
So kam es zum Sturmlauf durch Polen, Norwegen, Holland, Belgi-en und Frankreich, zum Siegeslauf in ein besseres Europa!
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Bewundert, geschmäht - auch vergessen?
Malerei, Grafik und Plastik der DDR zum Thema Sport
Von GÜNTER WITT
Man mag Kunstwerke nicht mögen, man mag sie kritisieren oder ignorieren, das war und ist legitim. Das bleibt jedem Betrachter ei-nes Gemäldes, einer Grafik oder einer Plastik persönlich überlas-sen. Anders verhält es sich allerdings, wenn sich Kunstwissen-schaftler und -publizisten anmaßen, pauschale, völlig undifferen-zierte und voreingenommene Urteile über das Kunstschaffen einer historischen Periode zu fällen. Und das geschah in vergangenen Zeiten und seit nunmehr einem Jahrzehnt leider immer noch im Umgang mit der bildenden Kunst der DDR, speziell auch mit Wer-ken zum Thema Sport. Die „Außensicht“ auf dieses thematische Segment der bildenden Kunst bediente sich dabei unverdrossen klischeehafter Erklärungsmuster. So war bei dem Sporthistoriker H. Bernett zu lesen, daß die „Symbiose“, die „enge Verbindung“ von Kunst und Sport in der DDR, „Element zentraler Planwirt-schaft“ gewesen sei. (8, 35) Der Journalist C. Mrosek glaubte so-gar zu wissen: „Die Ergebnisse dieser fast 40jährigen Bemühungen wurden von der SED per Dekret in der ‘Hochschule für Körperkul-tur’ in Leipzig gesammelt.“ (Neue Ruhrzeitung 28.5.1991) Solch ein Dekret wurde aber nicht nachgewiesen. Der Journalist F. Röcken-haus behauptete ungeniert, daß die „neo-antike Säulenhalle“ der Leipziger DHfK „eine Porträtgalerie von Olympiastars zierte“ (ZEIT-Magazin 12.4.1991) und auch H. Bernett meinte, daß die Galerie der Hochschule „als eine ‘Hall of Fame’ des DDR-Sports“ betrach-tet werden könne. (8, 38) Was man per „Außensicht“ glaubte ver-muten zu können (oder zu müssen?), hatte mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Diese Kritiker versuchten nicht einmal, sich per Au-genschein ein Bild vom Charakter und Gehalt solcher Sammlun-gen zu machen und dann zu urteilen. Fachlich solide kunstwissen-schaftliche Analysen und sachlich orientierte publizistische Darstel-lungen des Bestandes an Kunstwerken dieser Herkunft zählen zu den Ausnahmen. Überwiegend wird - in durchschaubarer Absicht - darauf verzichtet, zu einem objektiven Urteil über das Bild vom Sport in der Malerei, Grafik und Plastik der DDR zu gelangen, in-
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dem man vom Zusammenbruch der Kunstszene der DDR mit de-ren Ende ausgeht, statt bei ihren Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg zu beginnen und ihre vierzigjährige Entwicklung unter dem Einfluß innerer kulturpolitischer Vorgänge wie auch äußerer Tendenzen zu verfolgen. So kann keine fundierte Analyse über die bildende Kunst der DDR, über ihre erhaltenswürdigen Leistungen wie über ihre Fehlleistungen, über ihre Förderung wie auch ihre Beschädigung gefunden werden. Die Vernachlässigung eines kunsthistorischen Grundprinzips, von den Umständen und Bedin-gungen der Entstehung über deren Entwicklung bis zum erreichten Zustand der Kunst einer geschichtlichen Periode zu einer Wertung zu gelangen, führt zwangsläufig zu verhängnisvollen Fehlurteilen. Das ganze Ausmaß des unglaublichen Umgangs mit Werken von bildenden Künstlern der DDR zum Thema Sport erklärt sich letzt-endlich aus diesem ahistorischen, undifferenzierten und zudem ideologisch voreingenommenen Herangehen an die bildende Kunst der DDR, das ganz offensichtlich der Rechtfertigung dient, sie zu verurteilen oder zu verschweigen, um sie möglichst vergessen zu lassen. Wie anders ließe sich erklären, daß zum Beispiel P. Kühnst in seinem üppigen, 427 Seiten umfassenden Buch „Sport - eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst“ wider besseren Wissens die Entwicklung und die Resultate der Beziehungen von Kunst und Sport in der DDR mit keinem Wort erwähnt? (3, Anmerk.) Verges-sen droht tatsächlich. Denn: Ein nicht geringer Teil der in vierzig Jahren entstandenen Kunstwerke wurde in Depots eingelagert und dem öffentlichen Zugang entzogen. Einige Kunstwerke sind sogar spurlos verschwunden. Die so entstandene Situation muß als erns-tes Hindernis begriffen werden, die schon vor zehn Jahren postu-lierte Hoffnung wirklich zu erfüllen, nämlich die bis dahin auf die-sem Gebiet in Ost- und Westdeutschland „getrennt gesammelten Erfahrungen und erreichten Ergebnisse zusammenzuführen“ (8, 5f) und als unverzichtbares geistiges Potential für die künftige Gestal-tung der Sportlandschaft und der Kunstszenerie Deutschlands zur Wirkung zu bringen.
Ein Rückblick auf die Entwicklung der bildenden Kunst im Osten und im Westen Deutschlands nach dem Ende des faschistischen Regimes und des Zweiten Weltkrieges gelangt häufig zu dem eil-fertigen Schluß, daß sie sich jeweils sofort in ihrer Gesamttendenz
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in ganz unterschiedliche Richtungen bewegte. Dennoch befand sich der Neuanfang der bildenden Kunst sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland in den ersten Nachkriegsjahren in einer gleichar-tigen historischen Ausgangssituation. Die Maler, Grafiker und Bild-hauer, die Kunstwissenschaftler und die Kunstfreunde in beiden Teilen des Landes waren mit den Folgen der zerstörerischen Kul-turbarbarei des Nazireiches konfrontiert. Den Höhepunkt der ab-scheulichsten Bilderstürmerei in der Kunstgeschichte bildete die Aktion „Entartete Kunst“ im Jahre 1937. Sie war der endgültige, vernichtende Rundumkahlschlag gegen alle Künstler und ihre Werke, die der Auffassung der Nazis von einer „arisch-deutschen“ Kunst nicht entsprachen. Dem Amoklauf der Nacht-und-Nebel-Aktionen in ganz Deutschland fielen allein in diesem Zusammen-hang 5.000 Gemälde und Skulpturen sowie 12.000 Grafiken und Zeichnungen zum Opfer. Der größte Verlust der bildenden Kunst Deutschlands durch diese „Säuberungen“ war die Tatsache, daß hervorragende Künstler von internationalem Format seit 1933 aus dem Kunstleben Deutschlands verbannt wurden. Die in den zwan-ziger Jahren durch sie bereicherte deutsche Kunstlandschaft mit ihrer Vielfalt von Strömungen und individuellen Handschriften verö-dete. Nicht nur die Sprache der Bilder verstummte, da sie verboten, versteckt oder vernichtet worden waren, sondern auch die ihrer Schöpfer, die das Land verlassen mußten oder seelisch und körper-lich an der Zerstörung ihres Lebenswerkes zerbrachen. Nicht wenige der betroffenen Künstler hatten in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch einmalige, unwiederholbare Kunstwerke zum Thema Sport geschaffen, die ein eindrucksvolles, unverwechselba-res Bild vom Sport jener Zeit boten. Allein die Nennung einiger Na-men ihrer Schöpfer markiert den unersetzlichen Verlust für die deut-sche bildende Kunst generell und auch speziell hinsichtlich dieser Thematik: Baumeister, Beckmann, Belling, de Fiori, Feininger, Grosz, Heckel, Hofer, Isenstein, Kandinsky, Kirchner, Klee, Lieber-mann, Marc, Mueller, Pechstein, Schlemmer und viele andere. (10)
Die Ausgangssituation 1945 war durch die Hinterlassenschaft des Naziregimes auf dem Gebiet der bildenden Kunst zudem in zweifa-cher Hinsicht belastet, nämlich durch die von den Nationalsozialis-ten geforderte und geförderte Darstellungsweise eines Menschen-bildes, das durch Rassendünkel, völkischen Hochmut, Wehr- und
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Kampfbereitschaft, Verherrlichung von Kraft und Schönheit sowie einen mystisch gesteigerten Körperkult gekennzeichnet war. Be-sonders die von den Protagonisten dieses Menschenbildes in der Bildhauerkunst, Breker, Thorak und Albiker, geschaffenen Sport-lerfiguren forderten zur Auseinandersetzungen auf. Auch die Plas-tiken von Kolbe, Lederer und Scheibe wurden einbezogen, weil sie - aus der realistischen Tradition kommend und ihr verpflichtet blei-bend - und ihre Werke von der offiziellen Kunstpolitik der Nazis vereinnahmt worden waren. Vor dem Hintergrund einer allgemei-nen Agonie angesichts der Berge materieller und geistiger Trüm-mer nach dem Zweiten Weltkrieg fand diese Art von Kunst durch-weg Ablehnung. So stand die Suche nach Zielen und Wegen für einen Neubeginn der bildenden Kunst also in doppelter Hinsicht ei-nem durch die Kunstpolitik der Nazis verursachten Vakuum ge-genüber. Das wirkte sich für längere Zeit besonders auch auf die Annäherung der bildenden Kunst an das Thema Sport aus. Die Art von Kunstwerken, die den Sport in der Nazizeit thematisierten, wollte niemand mehr sehen, geschweige denn schaffen. Und daß eine andere Art von Kunst durch die Nazis physisch vernichtet und das subjektive künstlerische Potential brutal dezimiert worden war, hatte lähmende Bestürzung und Scham zur Folge. So wurde denn der Ausweg in beiden Teilen Deutschlands darin gesucht, dem Nachholbedarf zu folgen und die zwölf Jahre lang vorenthaltenen Entwicklungen in der Weltkunst kennenzulernen.
Sehr bald begannen sich die Wege von Ost und West jedoch zu trennen. In der Bundesrepublik dominierte für lange Jahre die abs-trakte, gegenstandslose Kunst. Aber offenbar erwies sich diese Entwicklung als ungeeignet, in geistiger Überwindung der Na-zikunst ein neues Verhältnis der bildenden Kunst zum Sport zu gewinnen. Bemerkenswert war die besorgte Feststellung von Ernst Jirgal: „Insgesamt muß von der modernen Kunst gesagt werden, daß sie den Menschen immer mehr vergißt... Die Stilfreude wird immer größer, der Menscheninhalt immer dürftiger. Natürlich läßt daher auch das Interesse der Allgemeinheit nach, denn nur die Spezialisten sind fähig, hier noch etwas zu finden, was sie angeht: Symbolwerte der Farben, Wechselbezüge der Figuren, Geheim-nisse der Linien... Um das Menschenbild aber, wie steht es da?“ (Olympisches Feuer 11/1954) Die bildende Kunst der Bundesre-
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publik folgte, von solchen Mahnungen offenbar unberührt, den je-weiligen Trends in der Kunst der Moderne, wie der sich aus den USA verbreitenden Pop-Art-Strömung. Sie orientierte sich zuneh-mend auf ihren multikulturellen Charakter. Das schloß auch das In-teresse am bildkünstlerischen Erbe des deutschen Avantgardis-mus aus der Weimarer Republik, an Werken zum Thema Sport, an Plastiken von Lehmbruck und Marcks, an Malerei und Grafik von Baumeister und Schlemmer und anderen ein. (9) Die Grundten-denz dieses Weges war dadurch gekennzeichnet, daß er für alle bildkünstlerischen Innovationen offen war, sich auf Tradiertes wie auf „Nochniedagewesenes“ gleichermaßen bezog, zugleich aber die Entwicklung der bildenden Kunst nahezu total auf den Kunst-markt mit allen seinen Unwägbarkeiten fixierte. Angesichts des vi-suellen Durcheinanders, der Beliebigkeit und der Brüchigkeit der Postmoderne, der Bilderflut in den Massenmedien und in der all-täglichen Umwelt konnte ein „normales“ Begleiten des Sports durch die bildende Kunst nicht erreicht werden. (10) Weil es auch an der Inspiration und Förderung der Kunst durch den Sport man-gelte, war viele Jahre das Interesse der bildenden Kunst der Bun-desrepublik an einer bildkünstlerischen Gestaltung von Themen und Motiven der Realität des Sports eher zurückhaltend: Es wand-te sich höchstens Figuren in ihrer körperlichen Bewegtheit zu, ob im Sport, in der Artistik oder im Alltag. Diese künstlerische Sicht- und Gestaltungsweise entwickelte sich im diametralen Gegensatz zur bildenden Kunst in der DDR. Erst in den siebziger und achtzi-ger Jahren, vor allem im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1972 und der Fußball-Weltmeisterschaft 1976, wurde ein bemerkenswerter Schub der Hinwendung zur differenzierten, geis-tig vielschichtigen und originellen Gestaltung von Themen aus der Realität des Sports sichtbar, so in Werken von Asmus, Diehl, Gen-kinger, Nagel, Peres-Lethmate und vielen anderen. Objektiv kann dies als Ausdruck einer Tendenz der Annäherung der bildenden Kunst in West- und Ostdeutschland gedeutet werden.
Im Osten Deutschlands wirkte zunächst durchaus ähnlich die ver-ständliche Ablehnung der Nazikunst, nicht zuletzt der sportlichen Figuren von Bildhauern jener Zeit, denn sie wurden als Synonym der Ideologie und Politik der Nationalsozialisten mit ihren schreckli-chen Folgen empfunden. Auch hier war der Nachholbedarf am
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Kennenlernen der Weltkunst nach so langer Abschirmung ver-ständlich. Aber die schon 1951 geführte Formalismus-Diskussion bereitete derartigen Bemühungen ein bitteres Ende, das für die Neuentwicklung der bildenden Kunst in der DDR äußerst schädli-che Folgen hatte. Der Kampf gegen den „Formalismus“, inspiriert von der kulturpolitischen Kampagne Stalins und Shdanows in der Sowjetunion, richtete sich gegen spätbürgerliche „Dekadenz“ und Avantgardismus, gegen jede Art von Entideologisierung in der Kunst. Gezielt wurde leider auch auf Künstler wie Barlach, Hofer, Lingner und andere, deren Werke und Auffassungen von den Na-zis als „entartet“ verfolgt worden waren. Aber nicht nur die nament-lich Betroffenen wurden verletzt, sondern eine ganze Generation bildender Künstler wurde irritiert. Auf schwerste Weise wurde ver-sucht, der gerade erst begonnenen Kommunikation mit der Welt-kunst, die in Bausch und Bogen als dekadent und gefährlich diffa-miert wurde, einen Riegel vorzuschieben. Friedrich Wolf charakte-risierte in einem Brief vom Dezember 1951 diese Attacke gegen den Fortschritt der Kunstentwicklung: Er halte es „für abwegig, das Wort Formalismus sorglos zu verwenden. (...) Kinderkrankheiten ja - aber Formalismus nein!“ Wichtige Fragen würden „heute oft furchtbar dilettantisch und zugleich totschlägerisch angefaßt (...)“. (11, 296 f) Zweifellos erfuhr die bildende Kunst in der DDR weitere Beschädigungen durch die Kunstpolitik, indem sie nach dem Vor-bild der Sowjetunion auf den Weg des „sozialistischen Realismus“ geführt werden sollte, und das in einem platten dogmatischen Ver-ständnis. Diese Kunst sollte die Stelle einer von Formalismus und Dekadenz „befreiten“ Kunst einnehmen. Auch was später am Ende auf oder am „Bitterfelder Weg“ lag, zeugte nur begrenzt vom Erfolg der kulturpolitischen Kampagnen von 1959 und 1964, die Künstler eng „mit dem sozialistischen Leben“ zu verbinden. Und die exemp-larische Abstrafung von Künstlern durch das 11. Plenum des ZK der SED Ende 1965 hatte personelle Verluste durch Weggang aus der DDR zur Folge. Sie beförderte aber zugleich das Selbstver-ständnis der Künstler in den siebziger und achtziger Jahren, das sich keineswegs gegen sozialistische Ideale richtete, sondern auf eine Kunst im und für den Sozialismus zielte. Kennzeichnend war die Besinnung auf echte Traditionen, auf die proletarisch-revolutionäre Kunst und den Expressionismus und Konstruktivis-
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mus in Deutschland, war der Bezug auf das Geschehen in der zeitgenössischen Weltkunst für eigene künstlerische Innovationen. Es entstanden Werke, die ihre subjektive, differenzierte Sicht auf die sie umgebende Realität artikulierten, die Fragen nach dem Sinn des Lebens stellten, auch nach dem Sinn des Sports, vor al-lem des Hochleistungssports in allen seinen Aspekten und oft in bildkünstlerischen Metaphern. Es waren zwei Jahrzehnte, die von der individuellen künstlerischen Emanzipation unzähliger Maler, Grafiker und Bildhauer zeugen. Der Widerspruch zur offiziellen Kunstpolitik der DDR hatte Freiräume für das Kunstschaffen be-wirkt, das zunehmend nicht nur das Interesse von Kunstfreunden anregte, sondern die internationale Kunstwelt auf sich aufmerksam machte. (6) Das trifft auch auf jene Werke zu, die, untrennbar mit der generellen Entwicklung der bildenden Kunst in der DDR ver-bunden, zum Thema Sport geschaffen wurden. So berichtete H. Pieper nach seinem Besuch der DHfK Leipzig über seine dort ge-wonnenen Eindrücke von der Galerie „Sport in der bildenden Kunst“: „...Wer dabei jetzt an Prachtwerke muskelstrotzender und zielstrebiger Helden und Aktivisten des Ostblocks der 50er und 60er Jahre denkt, findet sich nur noch zum Teil bestätigt. Auch in der sportlichen Kunstszene hat sich ausgewirkt, was Experten schon lange behaupten und wonach die DDR-Kunst auf eigenen Füßen steht und vor allem souverän geworden ist. Da wird munter experimentiert und phantasiert, aber vor allem handwerklich ge-konnt gearbeitet. (...) Die sportlichen Kunstbanausen und die kultu-rellen Sportbanausen der Bundesrepublik müßten eigentlich vor Neid erblassen...“ (Süddeutsche Zeitung 5.10.1983) Hervorzuhe-ben sind auch die zahlreichen Artikel von K. Graßhoff, die er über viele Jahre hinweg in der Zeitschrift „Olympisches Feuer“ veröffent-lichte, um sachlich fundiert und differenziert urteilend bildende Künstler der DDR und deren Werke zum Thema Sport vorzustel-len. Erstaunen und Anerkennung zollten nicht wenige Besucher von Ausstellungen „Kunst und Sport“ in der DDR, vom IOC-Präsident Samaranch angefangen über die Teilnehmer des ENOK-Symposiums in Leipzig (12) bis zu den Besuchern von Ausstellun-gen zu diesem Thema in Athen, Berlin, Budapest, Leipzig, Mos-kau, Paris, Sofia, Warschau und vielen anderen Städten im In- und Ausland. Immer wieder wurde besonders auch aus diesen Anläs-
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sen danach gefragt, wie diese bildkünstlerische Fülle und Vielfalt von Werken zum Thema Sport zu erklären sei. Sie war das Resul-tat eines Konzepts von komplex zusammenwirkenden Faktoren. Die Ideen des Begründers der olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, eine Verbindung von Kunst und Sport anzu-streben und den Sport als „Gelegenheit und Auftraggeber der Kunst“ (2, 86) zu verstehen, wurden wieder aufgegriffen und er-wiesen sich als inspirierende geistige Schubkraft aller Bemühun-gen auf diesem Gebiet. Da sich die besten Ideen jedoch nicht im Selbstlauf in Realitäten verwandeln, verbündete sich die Sportor-ganisation der DDR, der DTSB, mit den Institutionen und Organi-sationen der Künste. Seit 1962 traf man sich regelmäßig zu den Gesprächen „Kunst und Sport“, die jeweils den Stand des Zusam-menwirkens analysierten und neue Impulse für künftige Entwick-lungen gaben. Dazu zählten die Aufrufe zur schöpferischen Mitar-beit der Künstler, die Ausschreibung von Wettbewerben in Verbin-dung mit der Stiftung von Kunstpreisen und die Durchführung von Ausstellungen und künstlerischen Veranstaltungen, in der Regel mit dem Programm der Turn- und Sportfeste der DDR verbunden. Die geistige Anregung der Künstler und die praktischen Formen der Förderung und Zusammenarbeit trugen ihre Früchte, beson-ders signifikant in Gestalt unzähliger neuer Werke der Malerei, Grafik und Bildhauerkunst. Natürlich waren für die Entstehung sol-cher Werke die Fördermittel, vor allem seitens des DTSB, des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport und des Kulturfonds der DDR, hilfreich. Aber dennoch können klangvolle Appelle an Künstler, neue Kunstwerke zum Thema Sport zu schaffen, groß-zügige Ausgaben von Fördermitteln und auch effektives Manage-ment zur Realisierung der Kooperation mit künstlerischen Instituti-onen und Organisationen sowie der Kunstwettbewerbe, der Kunst-preisermittlung, der Kunstausstellungen und künstlerischen Veran-staltungen usw. allein nicht die Früchte dieses Bündnisses von Kunst und Sport erklären. Entscheidend war vor allem die Atmo-sphäre, die den fruchtbaren Boden für das Kunstschaffen bildet. Sie entstand durch enge persönliche Kontakte, durch feinfühlige Beobachtungen und offenherzige Erörterungen künstlerischer Ideenfindungen und Schaffensprozesse, durch eine verständnis- und anspruchsvolle Partnerschaft, die von gegenseitiger Achtung
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und Anerkennung getragen wurde und die auch gemeinsam künst-lerische Innovationen gegen kleinkariertes Unverständnis und an-maßende Eingriffsversuche verteidigte. Diese Atmosphäre geisti-ger Verbundenheit war letztendlich der Schlüssel zum Erfolg, sie vor allem begünstigte das Entstehen von Kunst und von speziellen Kunstsammlungen mit Werken sportlicher Thematik. (5) Es wird wohl niemand von den Beteiligten an diesem thematisch speziellen Weg der Kunstentwicklung auf den Gedanken kommen, daß nur unvergängliche Meisterwerke entstanden. Natürlich gab es bloße Abbilder von Themen und Motiven der sportlichen Wirklichkeit und deren Mangel an bildkünstlerisch-ästhetischer Ideenfindung und Gestaltung erzielte kaum Aufmerksamkeit geschweige denn Aner-kennung. Und mancher versuchte offensichtlich und daher vom Betrachter schnell durchschaubar, ganz einfach an der Popularität des Sports zu partizipieren. Dennoch: Bleibend in ihrer künstleri-schen Unverwechselbarkeit, und daher nicht nur aus historischen sondern auch ästhetischen Gründen erhaltenswert, sind jene Wer-ke, die von Künstlern geschaffen wurden, die auch generell die Entwicklung der bildenden Kunst in der DDR prägten. Dazu zählen unter anderen: Die Maler Burger, Büttner, Heller, Hertel, Marx, Metzkes, Rechn, Sitte, Stelzmann, Wagner, Walther und Zitzmann, die Grafiker Goltzsche, Kuhrt, Mohr, Münzner, Ruddigkeit, Schade, Schnürpel, Scholz, Ticha und Zettl, die Bildhauer Baldamus, Beber-niss, Burschik, Fitzenreiter, Geyer, Gläser, Göbel, Rommel, Roßdeut-scher, Schreiber, Schwabe, Steffen und Wurzer, um nur einige von ihnen beim Namen zu nennen. Erfreulich war das wachsende Interes-se junger bildender Künstler, das durch Förderverträge sowie Begeg-nungen mit Sportlern und Sportstudenten während der in Sporteinrich-tungen veranstalteten Pleinair geweckt wurde.
Diese Entwicklung brach mit dem Ende der DDR abrupt ab. Die umfängliche Sammlung von Kunstwerken im Besitz des Bundes-vorstands des DTSB wurde vom Sportmuseum Berlin übernom-men, der Bestand von über 500 Werken der Malerei, Grafik und Plastik im Besitz der DHfK Leipzig (16 u.17) in seiner Mehrheit aus den Innen- und Außenräumen der Hochschule entfernt und von der Kustodie der Universität Leipzig eingelagert, die Sammlung der Zentralschule des DTSB Bad Blankenburg dort zunächst nicht mehr ausgestellt. Wieviel einzelne Kunstwerke in anderen Einrich-
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tungen des Sports gestohlen oder vernichtet wurden, ist nicht be-kannt. Künstler, die sie einst schufen, wurden nicht einmal infor-miert. Diese Zeit des Abbruchs einer Kunstentwicklung von Jahr-zehnten ist beispiellos. Sie hat es verdient, nicht in Vergessenheit zu geraten. Noch vor der „Abwicklung“ der DHfK Leipzig und ihrer Umwandlung in eine Fakultät der Leipziger Universität zeigten die Veranstalter der Ruhrfestspiele Recklinghausen Interesse an einer Ausstellung „Sport und Kunst“ mit einer Auswahl von Werken aus der Sammlung der DHfK Leipzig. Diese Idee wurde 1991 unter dem Titel „In Abwicklung“ durch Mitarbeiter des Deutschen Sport-museums Köln und der DHfK Leipzig gemeinsam realisiert. (7 u. 8) Erstaunlich war, daß diese Ausstellung in Recklinghausen, die an-schließend auch in Düsseldorf und in Stuttgart gezeigt wurde, ein außerordentliches Interesse fand. Es war beim zahlreichen Publi-kum, bei offiziellen Vertretern der betreffenden Länder und Städte, wie Kultusminister Schwier und Oberbürgermeister Rommel, eben-so zu beobachten, wie in der Presse, im Rundfunk und auch bei dem Filmteam, das für BBC London den vielbeachteten zweiteili-gen Film „Visions of Sport“ schuf, in dem auch eine Reihe von Werken aus der Leipziger Sammlung vorgestellt wurde. Bemer-kenswert waren auch die sachlichen Kommentare zur bildenden Kunst der DDR durch bekannte Kunstwissenschaftler wie Beaucamp und Ruhrberg. (7, 9 ff) Viele Besucher der Ausstellun-gen waren von der ästhetischen Qualität der präsentierten Kunst-werke überrascht, andere betonten deren unverzichtbaren Wert als künstlerisch gestaltete Zeitzeugnisse des Sports in der DDR. Und nicht zuletzt war es die unerwartet offene, kritische und selbstbe-wußte Bildsprache von Malern, Grafikern und Bildhauern, die bei-spielsweise den Journalisten J.-O. Freudenreich veranlaßte, sie als „Honeckers subversiver Haufen“ zu bezeichnen. (Stuttgarter Zei-tung 12.8.1991) Diese Vorgänge hatten offenbar Signalwirkung in verschiedenen Richtungen. Der damalige Kustos der Universität Leipzig Behrends, der die Sammlung der DHfK zunächst mit sicht-lichem Unbehagen übernommen hatte, entdeckte offenbar eine Chance, damit Lorbeeren zu verdienen. Der Sinneswandel kündig-te sich allmählich an. (1) Sein Verdienst, durch zwei repräsentative Kunstkalender und zwei Ausstellungen (1994, 2002) auf die Exis-tenz der eingelagerten Bestände aufmerksam zu machen, soll in
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keiner Weise geschmälert werden. (18 u. 14) Aber die passive Po-sition gegenüber der beunruhigenden Frage, wann, wie und wo die eingelagerten Bestände endlich wieder einem Publikum öffentlich zugänglich sein werden und sein müssen, war und ist einfach nicht zu akzeptieren. (15, 279 ff) Auch kann die Wandlung einer Samm-lung als ehemals wirksames Angebot unmittelbarer, alltäglicher Begegnung mit Kunst für die Sportstudenten in ein magaziniertes Objekt der kunsthistorischen Forschung unter Ausschluß der Öf-fentlichkeit nicht als vertretbare Perspektive überzeugen. (14, 7) Der Weg hingegen, der im Umgang mit der Sammlung der jetzigen Landessportschule Thüringen in Bad Blankenburg gegangen wur-de, ist erfreulicherweise dem ursprünglichen Konzept nahe, näm-lich dem der ständig möglichen öffentlichen Begegnung mit Kunst-werken zum Thema Sport. (13) Dieses Beispiel ist auch und nicht zuletzt im Hinblick auf eine andere Tendenz im Umgang mit dem Bestand von Kunstwerken zum Thema Sport von Bedeutung. Die ersten Begegnungen mit Werken der bildenden Kunst der DDR zum Thema Sport lösten Anfang der 90er Jahre zwar Erstaunen, Überraschung und Anerkennung aus, aber sehr bald mehrten sich die Attacken in einer Mischung aus Voreingenommenheit, Ober-flächlichkeit und Dummheit. Die beliebteste und zugleich dümmste Schmähung dieser Kunst spielte sich in öder Monotonie nach der immer wiederholten Formel ab: Sie sei nur „Auftragskunst = sys-temnahe Kunst = politisch instrumentalisierte Kunst = Nichtkunst“. Das zeugt von Ignoranz und verrät absolute Unwissenheit über Vorgänge bei der Entstehung von Kunst und über das Verhältnis von Mäzenen (modern: Sponsoren) und Künstlern. Der stupide Gebrauch dieser Formel war und ist natürlich auch ein Ausdruck von Heuchelei und kaum zu verdeckender politisch-ideologischer Instrumentalisierung dieser Art von „Kunstkritik“ selbst. Geradezu grotesk mutet es an, wenn - wie jüngst erst im Zusammenhang mit der Ausstellung „Sport in der zeitgenössischen Kunst“ in Nürnberg (4) - sich solche Leute immer noch nicht genieren, sich des nun doch wohl langsam völlig ausgelaugten Repertoires von Schmä-hungen der Kunst in der DDR zum Thema Sport zu bedienen. Ausgestellt wurde eine Auswahl von Arbeiten relativ unbekannter Künstler aus den alten Bundesländern, in der Presse teilweise ge-lobt aber auch als flach, schematisch und unbedeutend beurteilt.
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Erwähnenswert ist, daß jemand offenbar die Chance witterte, Er-gebnisse einer Dissertation bei dieser Gelegenheit unter die Leute zu bringen. Unter dem nebulösen Titel „Kalter Krieg auf dem Ascheplatz“ (!?) wurde im Ausstellungs-Katalog ein Vergleich der „Sportdarstellung“ in der bildenden Kunst Ost- und Westdeutsch-lands versprochen. Die Besucher hatten aber keine Chance, sich selbst von original präsentierten Werken ostdeutscher Künstler ein Bild zu machen, denn sie wurden nicht ausgestellt. Man fand sie nur - etwa in der Größe von Streichholzschachteln - als in den Text eingeklinkte Abbildungen des Kataloges. Und das ist nicht die ein-zige Unredlichkeit. Sie setzt sich fort in den bedenkenlos aus dem historischen Zusammenhang geklaubten Zitaten zur Entwicklung der Kunst-Sport-Beziehungen in der DDR und in der braven Ver-wendung aller abgenutzten gängigen, ideologisch intendierten Kli-schees in Ermangelung wirklicher kunstästhetischer und -politischer Analysen. Ohne seriösen Quellennachweis wird bei-spielsweise unterstellt, daß dem völlig unsinnigen Begriff „Sport-kunst“ die Definition von Körperkultur und Sport in der DDR zu Grunde läge. Tatsächlich aber war von „Sportkunst“ bei westdeut-schen Autoren die Rede. Und das wurde schon in den achtziger Jahren von ostdeutschen Autoren als unzutreffend zurückgewie-sen, da es sich um eine ahistorische Ableitung von „sporting art“ handelte, einer spezifischen Kunstperiode im 18. Jahrhundert in England. Schließlich ist der besagte Katalog-Artikel wegen seines sprachlich konfusen Stils und seiner vielen sachlichen Fehler ein Ärgernis, er ist in seiner Mischung aus Phrasen und Unwahrheiten, aus Unkenntnis und Oberflächlichkeit bestürzend. Publikationen dieser Art sind alles andere als geeignet, Wege in die Zukunft zu öffnen. Fragt man sich, welche Motivationen solche „Kritiker“ um-treiben könnten, so muß man vermuten, daß ideologische Bor-niertheit ganz sicher dominiert. Aber: Sollte am Ende nicht auch ganz einfach Eifersucht und Neid als Motiv im Spiel sein? Neid auf den erfolgreichen Sport der DDR und Neid auf dessen Bild in der Kunst der DDR? Man vermag es zwar kaum zu glauben, aber auch nicht auszuschließen. Das allerdings wäre auf jeden Fall kein emp-fehlenswerter Ratgeber, denn letztendlich liefe eine solche Einstel-lung auf Verschenken von Möglichkeiten für die gemeinsame Zu-kunft hinaus, auf Verwerfungen der vorhandenen Substanz an
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Kunstschätzen und auf Lähmungen des vorhandenen individuellen künstlerischen Potentials. Und das zu bewirken und zu verantwor-ten, wäre - um es unmißverständlich den „Kritikern“ und denen, die auf sie hereinfallen ins Stammbuch zu schreiben - fatal und unver-zeihlich. Denn: Auf die Zukunft blickend drängen sich Fragen auf, deren Beantwortung unausweichlich ist und deren Lösung keinen längeren Aufschub duldet: Bekanntlich ist eine Reihe von Städten Deutschlands gegenwärtig bemüht, sich um die Austragung von Olympischen Spielen zu bewerben. Es bedarf sicher keiner aus-führlichen Begründung, daß schon eine solche Bewerbung und mehr noch eine eventuelle Entscheidung für die Vorbereitung und Durchführung solcher Spiele in hohem Maße eine Herausforde-rung des Potentials der Künste bedeuten würde, nicht zuletzt auch der bildenden Kunst. Ihr Beitrag ist unverzichtbar. Deutschland ver-fügt über einen kostbaren Schatz an Werken der bildenden Kunst zum Thema Sport, hervorgebracht von Generationen von Malern, Grafikern und Bildhauern, in der Renaissance und in den folgen-den Jahrhunderten, auch im vergangenen halben Jahrhundert in Ost- und Westdeutschland. Und es kann auch in der Gegenwart mit einem kreativen Potential bildender Künstler rechnen, wenn zur künstlerischen Mitgestaltung eines solchen Festes des Sports auf-gerufen wird. Sich darauf zu konzentrieren, ist ein Gebot der Zeit. Die Voraussetzung für ein zustimmendes Echo der bildenden Künstler auf den Ruf des Sports ist die Achtung gegenüber ihrem individuellen Schöpfertum. Sie gebührt den Künstlern im Westen wie im Osten Deutschlands. Und sie schließt einen sachlichen und kultivierten Umgang mit Werken der bildenden Kunst, die in der DDR zum Thema Sport entstanden sind, und mit ihren Schöpfern ein. Dies in aller Deutlichkeit auszusprechen, mag manchen der angesprochenen Schmäher dieser Künstler und deren bildkünstle-rischen Schöpfungen empören. Sie würden lieber den loben, der ihre Arroganz und Ignoranz im Umgang mit diesem Bestandteil des Erbes bildender Kunst zur Rechtfertigung verhelfen würde. Gerade deshalb darf die Wahrheit und Wirklichkeit der entstandenen und immer noch anhaltenden Situation nicht länger oder gar für immer verschwiegen werden. Das würde dem deutschen Sport und des-sen traditionellen Bemühen um ein kreatives Verhältnis zur Kunst irreparablen Schaden zufügen. Angesagt ist also die ehrliche, of-
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fenherzige und produktive Diskussion über ein schöpferisches Zu-sammenwirken von Kunst und Sport, von einer unvoreingenom-menen Bestandsaufnahme ausgehend und den Weg in die Zukunft suchend, geeignet, Visionen in Wirklichkeiten umzugestalten.
LITERATUR
1 Behrends, R.: Aus den Sammlungen der Universität - „Sport und bildende Kunst“ im Be-stand der Kustodie. In: Universität Leipzig - Mitteilungen und Berichte, Heft 5/1993, S. 36-37
2 Coubertin, P.d.: Olympische Erinnerungen. - Berlin, o.J.
3 Kühnst, P.: Sport - eine Kulturgeschichte im Spiegel der Kunst. Dresden 1996, 427 S.; Witt, G.: Erkenntnisgewinn? (Rezension). Beiträge zur Sportgeschichte 5/1997, S. 89-93
Anmerkung: P. Kühnst veröffentlichte 1985 „Sport und Kunst - Sporting Art in der DDR“ (Edition Deutschland Archiv, Köln 1985, 32 S.) mit zahlreichen Abbildungen. Er ist also seit dieser Zeit mit den Resultaten der Kunst-Sport-Beziehungen in der DDR vertraut.
4 Schmid, B.: Kalter Krieg auf dem Ascheplatz - Momente der Sportdarstellung in der bil-denden Kunst in Ost- und Westdeutschland. In: Sport in der zeitgenössischen Kunst. Kunsthalle Nürnberg, 2002, S. 78-119
5 Witt, G.: Sammlungen „Sport in der bildenden Kunst“. In: Kunst und Sport - Ausstellung zum VIII. Turn- und Sportfest und zur XI. Kinder- und Jugendspartakiade der DDR 1987 (Katalog), S. 35-38
6 Witt, G.: Sportstudenten, Kunst und Ästhetik ex post facto betrachtet. In: hochschule ost - Leipziger Beiträge zur Hochschule und Wissenschaft, Heft 1/1998, S. 156-164
7 Witt, G.: Sport in der bildenden Kunst - Nachdenken über eine real existierende Spezial-sammlung. In: In Abwicklung? Werke aus der Sammlung der Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig (Katalog), S. 45-56. Hrsg. Träger der „Woche des Sports“ anläßlich der Ruhrfestspiele 1991 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sportmuseum Köln. (Red. A. Petersen/weitere Beiträge von E. Beaucamp, H. Bernett, M. Lämmer, K. Ruhrberg), 84 S.
8 Witt, G.: „In Abwicklung?“. Mitteilungsblatt des Deutschen Sportmuseums Köln, 11. Jg., Nr. 4/5 1991, 8. S.
9 Witt, G.: Präsenz der Künste - ein Kennzeichen der Turnfeste. In: Sportschau - Ausstel-lung Deutsche Turnfeste 1860 - 2002. (Begleitbuch) Hrsg. Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, 160 S.
10 Witt, G.: Vor 60 Jahren: Die Nazi-Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“ - Erinnerun-gen und Fragen. Olympisches Feuer, Heft 4/1997, S. 36-45
11 Friedrich Wolf - Bilder einer deutschen Biographie. Dokumentation v. L. Hohmann. Hen-schelverlag Berlin 1988, 304 S.
12 Internationales Symposium „Kunst und Sport“, veranstaltet vom Nationalen Olympischen Komitee der DDR (NOK) im Auftrag der Vereinigung der Europäischen Nationalen Olympi-schen Komitees (ENOK) in Leipzig vom 5.-7. Juli 1983, 108 S.
13 Sühlfleich, J./Lölke, J./Tröbs, A. (Hrsg.): Kunstbestand der Landessportschule Thüringen / Bad Blankenburg. CD-Rom, 2002
14 Behrends, R. (Red.): Kunst und Sport - Ausstellung zum Deutschen Turnfest Leipzig 2002, Kunstwerke aus dem Besitz der Kunstsammlung der Universität Leipzig, präsentiert von der AOK Sachsen vom 19.5. bis 28.6.2002. Katalog, 68 S.
15 Leipzig sportlich - Das Sportleben der Stadt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. BlickPunktBuch Verlag, Leipzig 2002, 400 S.
16 Witt, G./Petzold, I. (Hrsg.): Sport in der bildenden Kunst der DDR. - Katalog der Galerie der Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig. Leipzig 1980, 96 S.
17 Klaucke, C. (Hrsg.): Werkverzeichnis der Galerie „Sport in der bildenden Kunst der DDR“. Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig (Mitarbeit: P.Tzschoppe, G.Witt), 65 S.
18 Behrends, R. (Red.): ZeitLäufe - Sport in der bildenden Kunst - Eine Sammlung. Katalog. Hrsg. AOK Leipzig/Universität Leipzig 1994 (Beiträge: R. Behrends, G. Witt), 192 S.
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Die Wahrheit über „Sport II“
Gespräch mit SIEGFRIED GEILSDORF
FRAGE: Sie werden in den Publikationen der „Aufarbeiter“ des DDR-Sports mit Vorliebe als derjenige benannt, der im Auftrag der Partei, die Sportarten verwaltete, die nicht an Olympischen Spielen teilnehmen durften, weil sie keine Medaillen garantieren konnten. Wie lebt es sich mit solchem Ruf?
SIEGFRIED GEILSDORF: Ich habe schon deshalb keine schlaflo-sen Nächte, weil an dieser Behauptung so gut wie nichts stimmt. Ich bin nie in der Sportbewegung tätig gewesen, um Sport zu dros-seln, sondern um ihn voranzubringen, und ich habe mein Möglichs-tes getan, diese Aufgabe zu lösen. Das war auch so, als ich Vize-präsident des DTSB und zuständig für „Sport II“ war.
Frage: In einem dieser Bücher wird als eine Art dokumentarischer Beweis für die schon erwähnte These ein Brief des für Basketball zuständigen Generalsekretärs publiziert, in dem der beklagt, daß für die Spieler nicht genügend Schuhe, vor allem über die Größe 45 hinaus, zur Verfügung standen...
S.G.: Solche Briefe gerieten nicht selten in mein Büro. Was könn-ten sie heute beweisen? Basketballschuhe wurden aus Bulgarien importiert, wenn ich mich recht erinnere, und es kam vor, daß die für die Wirtschaft des Landes Zuständigen andere Dinge für wich-tiger hielten als Basketballschuhe. Es fiel ihnen vielleicht schwer, sich für deren Import zu entscheiden und Transportgeräte, die in einem Betrieb dringend gebraucht wurden, von der Liste zu strei-chen. Beides wurde aus Bulgarien importiert. Ich kann mich nicht erinnern, daß die DDR je von sich behauptet hatte, über Dollars oder auch Lewas im Übermaß zu verfügen.
Frage: Hat denn je einer der Autoren dieser Aufarbeitungsliteratur ein Wort mit Ihnen gewechselt, um sich zu informieren?
S.G.: Nein.
Frage: Unbestritten ist, daß in der DDR die Sportarten in zwei Gruppen aufgeteilt waren. Die eine - bürokratisch knapp „Sport I“ - wurde nach den vorhandenen Möglichkeiten intensiv gefördert, die andere - Sport II, die ihnen unterstand - nahm weder an Olympi-schen Spielen noch an internationalen Meisterschaften teil?
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S.G.: So war es. Es fällt wohl auch schwer, sich vorzustellen, Bas-ketballer zu Olympischen Spielen zu schicken und ihnen vorher sagen zu müssen, daß man ihnen leider keine passenden Schuhe mitgeben kann. Das ist nur ein Mini-Detail, denn zur Vorbereitung auf Olympia gehören bekanntlich nicht nur passende Schuhe. Die Realität war, daß die dem DDR-Sport zur Verfügung stehenden Devisen nicht für die intensive Förderung aller Sportarten reichten und mit dieser Realität mußten wir leben. Diese Feststellung kann man beklagen und auch kritisieren, aus der Welt schaffen ließ sie sich nicht. Das wissen natürlich auch die Bücherschreiber, weil in der Bundesrepublik unser damaliges System inzwischen perfektio-niert und sogar vier Förderstufen für unterschiedliche Sportdiszipli-nen eingerichtet wurden. Um Vergleiche anstellen zu können, habe ich mir das Protokoll der Tagung des Bereichs Leistungssport im Deutschen Sportbund vom 10. Oktober 1996 besorgt. Wörtlich las ich dort: „Der Vorsitzende“ - das war Herr Feldhoff - „erläutert die Notwendigkeit dieser außerordentlichen Zusammenkunft, bei der die bevorstehenden gravierenden Änderungen in der Trainerbe-schäftigung, die Umsetzung des Förderkonzepts 2000 am 1.1. 1997... erläutert werden sollen.“ Dann folgen die Listen der Sport-arten in den vier Fördergruppen und danach die Details über die Reduzierung der zu vergebenden Mittel. Fördergruppe IV las ich muß mit einem minus von 20 bis 30 Prozent der bisherigen Sum-men rechnen. Und in „Sport 4“ befanden sich damals zum Beispiel: Leichtathletik-Gehen, Leichtathletik-Mittelstrecken-Frauen, und Turnen-Einzelgeräte-Frauen, also alles Sportarten, die keine Me-daillenchancen bei Olympia hatten. Ich gebe zu, daß sich die Struktur des Systems von unserem unterschied, aber das Resultat war das gleiche. Eine Feststellung scheint mir noch wichtig: Aus meiner Sicht und Erfahrung ist es gar nicht möglich, finanzielle Summen als Vergleichsfaktor für verschiedene Sportarten ins Feld zu führen. Die für die Sportarten nötigen Voraussetzungen lassen sich gar nicht auf einer Tabelle vergleichen.
Zurück zu „Sport II“ in der DDR: Wollte man zum Beispiel die Vo-raussetzungen für Pferdesport und Tischtennis durch Zahlen zu vergleichen versuchen, würde man nie an ein Ziel gelangen. Und das mit irgendwelchen Dokumenten nachträglich zu versuchen, ist auch deshalb irreführend, weil in der DDR zahllose Möglichkeiten
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der finanziellen Sportförderung gegeben waren, die in keiner Ge-samtstatistik auftauchten. Dieser Tatbestand wurde bisher - ich möchte behaupten vorsätzlich - schlicht ignoriert. Die Summen, die aus den Kulturfonds der Betriebe in den Sport flossen, hingen von der Planerfüllung der Betriebe ab und die war nicht vorhersehbar. Hinzu kam, daß die Betriebe selbst darüber befanden, wem sie wieviel Mittel zukommen ließen. Andererseits: Wenn zum Beispiel ein kleinerer Betrieb logischerweise auch nur einen relativ kleinen Kulturfonds erwirtschaftete und davon einen Teil dem Sport zu-kommen ließ, kann die Summe im Vergleich zur Dimension der Sportförderung verschwindend gering gewesen sein, doch gibt das keinen Aufschluß darüber, wie effektiv und erfolgreich die Förde-rung des Sports in diesem konkreten Fall tatsächlich war.
Frage: Um auch denen, die bislang den Kundigen nie Fragen stell-ten, aber pausenlos kluge Antworten liefern, die Struktur klarzuma-chen, hier die Frage nach einem Sportverband: Zu Ihrer Gruppe ge-hörte auch der Hockeyverband. Hatte der eine ordentliche Ge-schäftsstelle und wie hoch war das Gehalt des Geschäftsführers?
S.G.: Hockey verfügte, wie alle Verbände, über ein Generalsekre-tariat und der Generalsekretär wurde nach seiner Qualifikation vom DTSB bezahlt. Das dafür maßgebliche Gehaltsregulativ galt für alle Verbände, berücksichtigte aber die Größe der Verbände und deren besondere Bedingungen. Außerdem gab es die Planstelle für ei-nen hauptamtlichen Verbandstrainer in jedem Verband.
Frage: Simpel gefragt: Was widerfuhr jemandem, der sich nicht davon abbringen ließ, Hockey spielen zu wollen?
S.G.: In der Regel spielte er Hockey. Voraussetzung war natürlich, daß in der Gegend, in der er lebte, eine Hockey-Sektion existierte. Hockey ist schließlich eine Mannschaftssportart.
Frage: Die „Aufarbeiter“ behaupten gern, es gab in der DDR Sport-arten, die überhaupt nicht gefördert wurden...
S.G.: Das ist und bleibt eine der vielen unbewiesenen Behauptun-gen. Zum Beispiel versucht man uns - und auch speziell mir - an-zulasten, daß in der DDR Triathlon verboten war. Das wird damit zu beweisen versucht, daß in der DDR nicht sofort, als Triathlon aufkam, ein Triathlonverband gegründet wurde. Das stimmt, ist aber wohl kein schlüssiger Beweis für ein Verbot. Schon deshalb nicht, weil man in der DDR nicht unbedingt einen Verband brauch-
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te, um drei verschiedene Sportarten zu betreiben, deren Wett-kämpfe in einer Disziplin ausgetragen wurden. Massensportliche Triathlon-Wettkämpfe haben schon in großer Zahl stattgefunden, als noch kein Verband existierte. Die liebsten Begründungen sind Unterstellungen wie die, wir seien gegen Triathlon gewesen, weil es besonders intensiv auf Hawai betrieben wurde, also - so die Redensarten - beim „Klassenfeind“. Würde ich Gegenfragen auf diesem Niveau stellen wollen, könnte ich zum Beispiel feststellen, daß es nie einen Bogenschützenverband in der BRD gab. Diese Sportart war immer das fünfte Rad am Wagen des Deutschen Schützenbundes. Wir hatten seit 1959 einen Bogenschützenver-band mit fast 5000 Mitgliedern. Und was folgert man daraus? Daß man der BRD vorwerfen sollte, sie hätte keinen Verband zugelas-sen, weil Bogenschießen seinen Ursprung im Fernen Osten hatte?
Oder: Kinder- und Jugendsportschulen wurden nach der Wende als „Kaderschmieden“ verteufelt. Jetzt werden die einst dort aus-gebildeten Kader langsam knapp, und man erinnert sich der KJS, ändert ihren Namen und hofft auf eine „Wiedergeburt“. Um diese Entdeckung zu machen, hat man zwölf Jahre gebraucht. Auch nicht gerade eine rekordverdächtige Frist. Um zum Triathlonver-band zurückzukehren: Eines Tages fanden sich genügend Ehren-amtliche, die bereit waren, die nötige Verbandsarbeit zu leisten und danach entstand der Verband.
Frage: Saßen die Verbände von Sport II unter einem Dach? Die Historiker Teichler und Reinartz haben ja auch seitenlang über die angebliche Überwachung der Verbände durch das MfS geschrieben.
S.G.: Um die Unterbringung der Verbände kümmerte sich der dafür zu-ständige DTSB. Als das Haus in der Storkower Straße zu eng wurde, be-kamen wir zusätzliche Räumlichkeiten in der Rhinstraße. Einige Verbände wie Motorsport, Angeln und die Versehrtensportler blieben in ihren Büros. Das MfS saß meines Wissens in der Normannenstraße.
Frage: Trafen sich die Verbandsfunktionäre von Sport II regelmäßig?
S.G.: Ja, in der Regel fand einmal monatlich ein Erfahrungsaus-tausch statt. Es waren Arbeitsberatungen, die die weitere Entwick-lung zum Thema hatten. Bei solchen Beratungen fielen natürlich auch viele kritische Bemerkungen. Das wird jeder verstehen.
Frage: Zum Beispiel: Forderte der Tennisverband, Aktive nach Wimbledon schicken zu dürfen?
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S.G.: Nein, die Tennisfunktionäre waren Realisten. Es ging ihnen, wie auch den Basketballern vor allem um das nötige Sportgerät. Im Tennis hatten wir übrigens nicht nur einen Verbandstrainer, son-dern dazu noch Stützpunkttrainer, die in besonders aktiven Sektio-nen mit vielen Mitgliedern tätig waren und sich intensiv um den Kinder- und Jugendsport kümmerten.
Frage: Es ging ihnen vermutlich also um genügend Tennisbälle?
S.G.: Ja, das war ein Dauerthema. In der DDR waren früher keine Tennisbälle produziert worden. Als man damit begann, testeten Spieler und Funktionäre die Produkte und schließlich wurde die Produktion aufgenommen. Das waren keine Bälle, mit denen zum Beispiel in Wimbledon hätte gespielt werden können, aber schwe-rer wog, daß wir auch mit unserer Produktion den Bedarf nicht be-friedigen konnten. Für wichtige Turniere mußten wir uns um China-Importe bemühen. Gleiches galt für Schläger, vor allem für die, die von der Elite benutzt wurden. Der Import hatte auch da seine Grenzen, und es kam nie der Tag, an dem wir in dieser Hinsicht keine Sorgen hatten. Man kann es drehen und wenden wie man will: Die wirtschaftlichen Grenzen der DDR konnte der Sport nicht ignorieren. Hinzu kam: In der Alt-BRD regelte bekanntlich schon damals das Geld den Spielbetrieb. Die Mitgliedsbeiträge - auch für Kinder - waren dementsprechend.
Frage: Hand aufs Herz: Mit welcher Sportart gab es die meisten Probleme? Wer lärmte am lautesten in den Sitzungen?
S.G.: Jeder Generalsekretär vertrat seine Forderungen mit Nach-druck. Ich könnte keinen „Spitzenreiter“ nennen.
Frage: Noch einmal: Keiner dieser Verbände konnte an Weltmeis-terschaften teilnehmen?
S.G.: Das stimmt. Wir haben ausreichend über die Probleme mit den Sportgeräten geredet. Wäre jemand zu Internationalen Meis-terschaften geschickt worden, hätte man ihm doch mindestens Ge-räte in die Hand drücken müssen können, die ihn nicht von vornhe-rein chancenlos machten. Ganz zu schweigen von den Devisen, die die Reise und eine vertretbare Betreuung verlangten. Nehmen wir mal an, wir hätten gewisse Zahlungen geleistet, hätten sie aus den Fonds kommen müssen, die wir für die Förderung des Sports im Lande zu verwalten hatten. In jeder Sportart wurden zum Bei-spiel DDR-Meisterschaften in vielen Altersklassen ausgetragen,
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Wettkämpfe wurden in sozialistischen Ländern oder mit sozialisti-schen Ländern in der DDR durchgeführt. Mit denen ließen sich je-derzeit Vereinbarungen zum gegenseitigen Vorteil schließen. Zum Beispiel im Pferdesport, bei dem wir viele Vergleiche mit den in dieser Sportart zu den führenden Ländern gehörenden Ungarn austrugen. Es fiel oft nicht leicht, die Reisen dorthin zu finanzieren. Da halfen uns oft auch Landwirtschaftliche Genossenschaften. Sie bezahlten die Reise von Reiter und Pferd...
Frage: ...Sponsoren also...
S.G.: Sponsoren trifft es wohl nicht, denn der Sponsor verbindet doch mit seinen Zahlungen meist Forderungen. Die hörten wir von den LPG nie.
Frage: Eine ganz andere Frage: Durften Aktive von Sport II die viel gerühmten Trainingscamps des Spitzensports benutzen?
S.G.: Ja. Es war eines meiner Anliegen, die Möglichkeiten, die der DDR-Sport in dieser Hinsicht bot, auch für diese Verbände zu nut-zen. Kurz vor Olympischen Spielen war Kienbaum natürlich ausge-bucht, aber oft habe ich mit anderen Vizepräsidenten Varianten ge-funden - um bei dem Beispiel zu bleiben -, um Kienbaum Verbän-den von Sport II zur Verfügung zu stellen. Auch da ließen sich nicht immer alle Wünsche erfüllen, aber es gibt genügend positive Beispiele. Bei der Bewertung der Möglichkeiten der Sportverbände von „Sport II“ haben die Aufarbeiter fast nur nach Fakten gesucht, mit denen sie nachweisen wollen, was nicht getan wurde, aber mit keiner Silbe wird erwähnt, was alles getan wurde. Zum Beispiel: Bei den Kreisspartakiaden standen viele Disziplinen auf dem Pro-gramm, die nicht zu den olympischen Sportarten gehörten. Das ging hin bis zu Billard. Kein Wort erfährt man darüber. Statt dessen aber die Feststellung, daß bei irgendeiner Kreisspartakiade nicht Hockey gespielt „werden durfte“. Ginge man der Sache nach, kä-me man schnell dahinter, daß in jenem Kreis gesagt worden war: Unsere Kapazität ist erschöpft und wir können nicht noch ein Ho-ckeyturnier auf das Programm setzen, nur weil wir zwei Hockey-sektionen im Kreis haben. Was ist denn eigentlich aus „Jugend trainiert für Olympia“ geworden. Man hört nur noch wenig darüber und auf Kreisebene hat dieses Fest wohl nie stattgefunden.
Frage: Sportmedizinische Betreuung?
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S.G.: Die sportmedizinische Betreuung war genau so gesichert, wie im Bereich der olympischen Sportarten. Jeder Bezirkssportarzt hatte einen Stellvertreter für unsere Verbände, der sich auch um die Anleitung unserer Verbandsärzte gekümmert hat, denn jeder unserer Verbände hatte auch einen Verbandsarzt.
Frage: Wenn heute von Sportärzten in der DDR die Rede ist, sind die Aufarbeiter ja sofort mit dem Schlagwort Doping zur Stelle...
S.G.: Sie behaupten doch aber, daß gedopt wurde, um zu Medail-len zu kommen. Warum sollte in unseren Verbänden gedopt wer-den, da wir doch nie zu Olympiamedaillen kamen?
Frage: Da wird sich auch eine Argumentation finden lassen. Wie stand es um die Ausbildung der Trainer?
S.G.: Wir hatten jährlich ein Kontingent an Studienplätzen an der DHfK und dort konnten Trainer unserer Verbände ihre Ausbildung absolvieren. Und was nicht minder wichtig war: Unsere Trainer wa-ren in das gleiche Weiterbildungssystem eingebunden, wie die Trainer von Sport I.
Frage: In dem schon erwähnten Buch findet sich auf Seite 72 auch der Satz: „Insbesondere auch bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit wurden diese Sportarten systematisch benachteiligt.“ Das klingt abenteuer-lich, denn wie ließe sich die Öffentlichkeitsarbeit benachteiligen?
S.G.: Sie artikulieren die Anklagen immer nach dem gleichen Schema. Eine Äußerung oder ein Brief wird benutzt, um den Inhalt als - im günstigsten Fall - „Direktive“ oder - im Steigerungsfall - als ZK-Beschluß ausgegeben. In diesem Fall war Manfred Ewald zu einer Konferenz mit Chefredakteuren eingeladen worden und hatte dort - eher nebenbei, aber aus seiner Sicht durchaus begründet - dafür plädiert, die so materialaufwendigen Sportarten etwas zu-rückhaltend zu behandeln. Aus seiner Sicht völlig begreiflich, denn vielleicht hätte ich ihn am nächsten Tag wieder nach Mitteln für Tennisschläger gefragt. Und das wird hemmungslos als Parteibe-fehl gedeutet. Ich erinnere mich daran, daß ich aus meiner Dresd-ner Zeit enge Kontakte zu den Faustballern in Hirschfelde hatte. Bei passender Gelegenheit schlug ich Fernsehreportern vor, doch einmal die DDR-Meisterschaften im Faustballturnier zu übertragen. Sie taten es. Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten zwölf Jah-ren eine Fernsehübertragung im Faustball erlebt zu haben.
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Kleine Friedensfahrt in Altentreptow
Von ERNST MOHNS (†)
Der 2001 verstorbene ehemalige Kreisturnrat von Altentrep-tow, Ernst Mohns, hatte sich große Verdienste um die Kleine Friedensfahrt in diesem Kreis erworben. 1987 trug er seine Erlebnisse und Erfahrungen in einer Schrift zusammen, die er später den „Beiträgen...“ zukommen ließ und die wir aus-zugsweise veröffentlichen, um diesem Aspekt des Jugend- und Massensports in der DDR Aufmerksamkeit zu widmen.1)
Die Pflege von Traditionen enthält bedeutende Potenzen für die Erziehung der jungen Generation in allen Bereichen unseres Bil-dungswesens. Der nachfolgende Erfahrungsbericht des Verdienten Meisters des Sports Ernst Mohns bringt überzeugend zum Aus-druck, in weIch hohem Maße dies auch für den Kinder- und Ju-gendsport gilt. Tausende von Schülern des Kreises Altentreptow wurden in den letzten dreißig Jahren über die Kleine Friedensfahrt auf beeindruckende Weise mit dem bedeutendsten Radrennen der Amateure, der Internationalen Radfernfahrt für den Frieden, ver-traut gemacht... Die vorgelegte Arbeit zeigt anschaulich, wie Tradi-tionen des Schulsports zur Popularisierung und Verbreitung des Kinder- und Jugendsports... beitragen können...
Prof. Dr. sc. paed. Heinz Bäskau
Die Friedensfahrt darf sich rühmen, das erste Rennen der Welt gewesen zu sein, das daran ging, die Zeit der wartenden Zuschau-er für die sportliche Betätigung nutzbar zu machen, passive Zu-schauer zumindest vorübergehend in aktive Sportler zu verwan-deln. Der erste Schritt schon vor drei Jahrzehnten: Die „Kleine Friedensfahrt“. Man ging davon aus, daß vor allem viele begeister-te Jugendliche an den Straßen stehen, die in den Rennfahrern ihre Vorbilder sehen. Was lag also näher, sie auf den schon einige Zeit vor der Ankunft der Fahrer abgesperrten Straßen ein Rennen, die „Kleine Friedensfahrt“, austragen zu lassen...
Welche Rolle diese lange nicht allzusehr beachtete Tradition die-ses Rennens im Kreis Altentreptow spielt, soll durch diese Schrift angedeutet werden. Die Ursprungsidee hätte in Altentreptow kaum Anhänger finden können, weil die Fahrt fast nie durch Altentreptow
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führte. Sie setzte sich dennoch überzeugend durch. Als die „Gro-ße“ Friedensfahrt 1977 zum zweiten Mal in ihrer Geschichte durch Altentreptow führte, veranstaltete man hier bereits die 20. Kleine Friedensfahrt. Begonnen hatte alles 1956, als wir Lehrer der All-gemeinen Berufsschule den Lehrlingen vorschlugen, an einem zweitägigen Vier-Etappen-Rennen durch die MTS (Maschinen-Traktoren-Stationen)-Bereiche des Kreises teilzunehmen. Durch die Hilfe von Betrieben und Institutionen wurde dieses Vorhaben ein voller Erfolg. An der gesamten Durchfahrtsstrecke wehten Fahnen und vor einer stattlichen Zuschauerkulisse endete die Fahrt auf dem Sportplatz. Einer der Teilnehmer war Hubert Schur aus Teetzleben. Auf der 1. Etappe hatte er 6 Kilometer vor dem Ziel Reifenschaden. Er schulterte das defekte Rad und lief die Strecke bis Altentreptow. In der Mittagspause kauften wir ihm - damals noch ein rarer Artikel - einen neuen Schlauch und nachmit-tags trat er wieder an. Ein Jahr darauf starteten die Lehrlinge zur zweiten 4-Etappenfahrt.
1958 wurde zur „Kleinen Friedensfahrt“ aufgerufen und wir hatten bereits Erfahrungen gesammelt. Der vorgeschlagene Modus er-schien uns eher als ein Geschicklichkeitswettbewerb, aber ein Etappenrennen wäre wiederum zu strapaziös geworden. Wir fan-den eine Variante, die alle Vorteile berücksichtigte. 1961 gab es den ersten Kreisausscheid im Einzelzeitfahren für die Pioniere und im Straßenrennen über 10 km und 15 km für die FDJler. In diesem Jahr führte die Große Friedensfahrt zum ersten Mal an Altentrep-tow vorüber und in Kleeth und Gädebehn standen die Erfolgreichs-ten mit ihrem Transparent „Die Sieger der 4. Kleinen Friedensfahrt aus Altentreptow grüßen ihre Vorbilder“.
Als 1962 die Ausschreibung zur 5. „Kleinen Friedensfahrt“ in den Schulen eintraf, forderten die Mädchen, auch zugelassen zu wer-den. Das Reglement wurde geändert, die kleinen Mädchen starte-ten beim Rollerrennen, die größeren beim Einzelzeitfahren.
1965 beteiligten sich zum ersten Mal auch die Kindergärten an den Rollerrennen und insgesamt wurden 472 Teilnehmer gezählt. 1967 wurde die 10. Kleine Friedensfahrt gestartet. 1969 begleitete Egon Henniger - Schwimm-Europarekordler und Olympiavierter - die Kleine Friedensfahrt von Altentreptow nach Tützpatz und zurück. Die Rennmützen, die die Sieger errangen, trugen seine Unter-
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schrift, 1970 signierte sie der Friedensfahrtsieger Axel Peschel. 1971 wurde ein neuer Teilnehmerrekord aufgestellt: 571 Mädchen und Jungen wurden am Start gezählt. 1972 fanden die 25. Große und die 15. Kleine Friedensfahrt statt. 534 Teilnehmer wurden ge-zählt und der Rad-Weltmeister von 1960, Bernhard Eckstein, star-tete das Feld. 1973 bat das DDR-Rundfunkkomitee darum, den Termin auf den 26. Mai zu verlegen, um an diesem Tag eine Kon-ferenzschaltung zwischen der letzten Etappe der Großen Fahrt und der Kleinen in Altentreptow zu ermöglichen. Den Wünschen des Rundfunks Rechnung tragend, wurde zum ersten Mal ein Rund-streckenrennen organisiert. Im Jahr darauf rollte die Große Fahrt zum ersten Mal durch Altentreptow. Vormittags wurde die Kleine Fahrt ausgetragen und als Ehrengast rollte einer der populärsten dänischen Rennfahrer, Wedell Östergard, in einem der Begleitwa-gen mit. 1977 führte die Friedensfahrt wieder durch Altentreptow und obwohl während der „Kleinen“ der Himmel seine Schleusen geöffnet hatte, war die Begeisterung groß. 1982 nahmen in Alten-treptow 300 an der Kleinen Friedensfahrt teil - es war die 25. Nach wie vor kümmerte sich ein erfolgreicher Stab Ehrenamtlicher da-rum, daß die Fahrt erfolgreich ausgetragen werden konnte. Heiko Fraas war der überlegene Sieger. Einige Tage später kamen die rührigen Organisatoren zusammen und feierten das erste Viertel-jahrhundert. Man blieb der Tradition treu, wenn auch die Teilneh-merzahlen geringer wurden. Mopeds wurden „in“, und harte Rad-rennen waren nicht mehr nach dem Geschmack aller. Die 30. Fahrt wurde mit Schalmeienklängen eröffnet. Der Vorsitzende des Rates des Kreises war mit von der Partie und gab den Start frei.
1987 zog ich diese Bilanz und dankte allen Lehrern, den Schuldi-rektoren, Sportpädagogen, Erziehern und Pionierleitern, die ge-meinsam die erzieherischen Aspekte des Sports auch außerhalb des Schulunterrichts nutzten und den Schwung der ersten Jahre über die Jahrzehnte bewahrten, was oft nicht leicht war und viel Engagement erforderte.
1) Der Abdruck schien schon deshalb vonnöten, weil die Kleine Friedensfahrt mit Hunderttausenden von Teilnehmern jährlich von den mit der „Aufarbeitung“ des DDR-Sports beauftragten Wissenschaftlern bislang ignoriert wurde. Vielleicht, weil das Ereignis in keinem SED-Politbürobeschluß zu finden war...
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Nur Politik? - Sport in der DDR
Von JURGEN TAMPKE
Der nachfolgende Beitrag, den wir auszugsweise zitieren, wurde bereits 1979 in dem in Australien herausgegebenen Sammelband „Sport in History“, (University of Queensland Press, St. Lucia, Queensland)veröffentlicht. Der Autor, Jur-gen Tampke, lehrte zu jener Zeit „Neuere europäische Ge-schichte“ an der Universität von New South Wales. Der Bei-trag erschien uns reizvoll und für die Gegenwart nützlich, weil der Autor deutlich macht, daß Antikommunismus damals wie heute bei Sporthistoriken seine Rolle spielt.
...Die Deutsche Demokratische Republik, gewöhnlich in Australien als Ostdeutschland bekannt, wurde zur Zeit der Olympischen Spie-le in Montreal 1976 sehr häufig in den Nachrichten erwähnt. Der Erfolg der DDR-Sportler war außerordentlich. Obwohl sie einer Na-tion angehören, deren Bevölkerung nicht viel größer als die Austra-liens ist, gewannen sie vierzig Goldmedaillen, fünfundzwanzig sil-berne und vierzig bronzene. Insgesamt wurden sie Zweiter hinter der Sowjetunion, wobei sie sogar die Vereinigten Staaten überhol-ten. Für jeden, der sich einigermaßen im internationalen Sport auskennt, kam das nicht besonders überraschend. Es gab seit un-gefähr einem Jahrzehnt hervorragende Leistungen durch den DDR-Sport. Viele Menschen in Australien waren jedoch sowohl durch diese Leistungen als auch durch die Tatsache schockiert, daß die australische Medaillenanzahl nicht beeindruckend war. Da sich Australien nun damit konfrontiert sah, womit sich die West-deutschen seit langem beschäftigen mußten und was später Westeuropa und kürzlich die USA ärgerte, wurde überall nach ei-ner Erklärung für den internationalen sportlichen Erfolg der DDR gesucht. Die Antworten, die in Australien gegeben wurden, um diesen Erfolg zu erklären, befanden sich in Übereinstimmung mit der westlichen Tradition vor etwa einem Jahrzehnt. Es wurden grundsätzlich drei verschiedene Erklärungen bevorzugt.
Die erste wird am besten als „SOS“-Betrachtung beschrieben: „Success (Erfolg) oder Sibirien“. Nach dieser Erklärung wird die Spitzenleistung aus verängstigten Sportlern herausgepreßt, die
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angstvoll jeden Mißerfolg zu vermeiden suchen. Der Sport wird von einem autoritären Regime einer widerstrebenden Masse aufge-zwungen. Solch eine Erklärung blieb im Westen bis in die Mitte der sechziger Jahre unangefochten. Das Handbuch der westdeut-schen Regierung über die DDR gebrauchte eine solche Termino-logie bis 1967.2) Die Bildzeitung, Westdeutschlands am weitesten verbreitete Tageszeitung, erklärte sogar noch während der Winter-spiele in Sapporo 1972 den Sieg der Rennschlittenmannschaften über die Westdeutschen, die Favorit für den Gewinn der Goldme-daille gewesen sind, in der folgenden Art und Weise: „Die Renn-rodler aus der Deutschen Demokratischen Republik werden durch brutale Trainingsmethoden zum Erfolg getrieben. Ihre Superform kommt von den höllischen Peinigungen, die ihnen in der Tortur-kammer des Trainers Köhler auferlegt werden..., der... seine Män-ner an den Schlitten kettete.“3) Solche primitiven Erklärungen gibt es jedoch nun weniger häufig in Europa. Die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren und der allgemeine Geist der Entspannung, der damals vorherrschte, ermutigte zu einer rea-listischeren Bewertung des DDR-Sports. Jedoch sterben alle Vor-urteile nur sehr langsam, besonders in Australien. Der für den Sport verantwortliche Minister in der Fraser-Regierung, von dem man erwarten konnte, daß er den Erfolg der DDR besser als mit dem SOS-Prinzip einem „This Day Tonight“-Reporter zu erklären vermag, wußte nur zu sagen, daß in der DDR angeblich Kinder, die irgendein Talent erkennen ließen, ihren Eltern weggenommen würden, um sich einzig und allein dem Training zu widmen. Ein be-kannter australischer Kolumnist... hat sogar diese Ursache vermu-tet: „Ostdeutschland besitzt zahlreiche Weltmeister aller Arten. Wer sind sie? Besitzen sie irgendeine Identität? Nenne einen von ihnen? Wer sorgt sich schon darum? Diese mechanischen Auto-maten zu beobachten, ist nicht begeisternder als eine Schachmeis-terschaft zwischen zwei Computern zu beobachten.“4)
Die zweite Erklärung, die oft den Erfolg der DDR-Sportler begrün-den soll, verfälscht die Ursachen des Erfolgs noch mehr. Denn es wird behauptet, daß die Ostdeutschen die effektivste Art und Wei-se für den Gebrauch von anabolen Steroiden entwickelt haben und daß die Überlegenheit bei den Arzneimitteln ihren Erfolg erklärt.
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Doping ist seit langem bekannt und zu bestimmten Zeiten wurde es breit bei sportlichen Wettkämpfen angewandt.5) Erst kürzlich gab es böse Zweifel in Westdeutschland als einige olympische Schwimmer zugaben, daß ihnen Luft in ihren Dickdarm geblasen wurde, so daß sie „auf dem Wasser flach wie ein Brett liegen konn-ten“.6) Dies bewirkte nicht nur beträchtlichen Schmerz bei den be-troffenen Schwimmern, sondern führte zu der Beschuldigung, daß in der Bundesrepublik unfaire Methoden angewandt würden. Der Beobachter von außen ist natürlich nicht in der Lage, dafür Bewei-se zu liefern, daß die DDR-Sportler gedopt sind. Aber diejenigen, die annehmen, daß doch gedopt wird, haben noch weniger Bewei-se. Aus einem Grund: die Kontrollen sind bei allen sportlichen Wettkämpfen sehr hart. Wenngleich der Arzneimittelgebrauch oft genug entdeckt wird, wurde bisher kein DDR-Sportler gefunden, der gedopt war. Dieser zweiten Erklärung fehlt also, wie der ersten, schließlich der Beweis und die Überzeugungskraft.
Die dritte Erklärung, die heute im Westen gebraucht wird, ist die einzige, die einer Analyse wert ist, da sie nicht auf bloßen spekula-tiven Beschuldigungen basiert. Wenn man anerkennt, daß der DDR-Erfolg das Ergebnis immenser Anstrengungen ist, dann er-fordert eine Erklärung ernsthaft den Sinn, die Grundidee solcher Anstrengungen zu entschlüsseln. Die immensen finanziellen Kos-ten werden kritisiert. Diese sehr großen finanziellen Kosten, wird gesagt, werden geopfert, um das einzige Ziel der sozialistischen Länder zu erreichen, die Glorie des Systems zu verbreiten. Und wir, eine verantwortungsbewußte Gesellschaft, können für solche zweifelhaften politischen Ziele kein Geld verschwenden. Ein Leitar-tikler des Sydney Morning Herald schrieb: „Es wäre unglückselig, wenn die Enttäuschung über die relativ schwachen Vorstellungen der australischen Wettkämpfer bei olympischen Spielen eine nati-onale Untersuchung mit dem unweigerlichen Druck nach großen Almosen der Regierung zur Folge hätte... Sport... sollte nicht zur Sache des nationalen Prestiges gemacht werden, zu einem Maß-stab, mit dem Nationen gemessen werden. Das kann Ostdeutsch-land und Rußland überlassen werden (deren Sportler vom Staat fi-nanziert, trainiert und befohlen werden)... Australien besitzt einen guten olympischen Nachweis, genau der Proportion und der Größe seiner Population entsprechend. Es kann nicht immer erwarten, so
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gut zu sein. ...Regierungen können in Grenzen helfen, indem sie bessere Sportstätten finanzieren. Es wäre jedoch besser, das Wetteifern zu den Spielen aufzugeben, als zu versuchen, den ost-deutschen oder russischen Methoden nachzueifern.“7) Diese Art einer Erklärung wurde fast einstimmig in den australischen Medien präsentiert. Es gab nur wenige Ausnahmen. Während W.F. Mand-le über „PM“ an einem Abend während der Spiele sagte, daß wir unsere gesamte Grundhaltung zum Sport überprüfen und einigen der DDR-Initiativen folgen sollten, gab Rod Humphries in vier kur-zen Artikeln im Sydney Morning Herald der DDR eine Chance, ihre Auffassung darzulegen.8) Das waren jedoch Ausnahmen. Der gro-ße Pulk der Kommentare stimmte mit dem oben zitierten Leitartikel überein.
Vor der detaillierten Analyse dieses Herangehens müssen zwei Punkte kurz erwähnt werden. Der erste ist der, ob es wahr ist, daß die DDR mehr Geld für den Sport ausgibt als Australien, denn das australische Sportbudget ist so klein, daß es im Vergleich zu den meisten Ländern abfallen würde. Es ist nicht so sicher, ob die Deutsche Demokratische Republik mehr Geld für den Sport aus-gibt als einige westliche Länder. Die Frage ist, für welche Art Sport das Geld ausgegeben wird. In der DDR geht z.B. das meiste Geld in Einrichtungen, die die aktive Teilnahme der Bevölkerung am Sport fördern. In Westdeutschland werden gleich große Summen für Zuschauersport ausgegeben. Die Sportarenen der führenden westdeutschen Fußballclubs sind riesige moderne Komplexe, die dem Zuschauer allen Komfort bieten. Der durchschnittliche Fußballfan erreicht seinen heimatlichen Fußballplatz mittels sechs- oder achtspuriger Auto-bahn, verläßt sein Auto auf dem Parkplatz und betritt ein überdachtes Stadion, das ihm nicht nur einen bequemen Sitzplatz bietet, sondern auch die Dienste von Bier- und Würstchenboys, welche die nötigen Erfrischun-gen liefern. Dies ist das normale westdeutsche Stadion der Spitzenfuß-ballklasse, und wenn wir die Summen berechnen, die der Aufbau und die Aufrechterhaltung dieser Sportart kosten, dann beschäftigen wir uns mit Zahlen der Größenordnung des DDR-Sportprogramms. Entscheidend ist, daß es mehrere Arten gibt, Geld für den Sport auszugeben, und die DDR ist nicht notwendigerweise der einzige große Geldausgeber für Sport.
Es gibt einen zweiten Trugschluß in der Annahme, daß alles, was für internationalen Erfolg erforderlich ist, die Bereitschaft ist, große
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Summen Geldes dafür auszugeben. Wieder soll das am westdeut-schen Beispiel erläutert werden. Seit ungefähr 1969 haben sowohl die westdeutsche Regierung als auch die Industrie in der Bundes-republik große Summen Geldes zur Hebung des Standards der westdeutschen Spitzenathleten ausgegeben. Das war ursprünglich dafür gedacht, erfolgversprechende Leistungen des Gastgebers in München 1972 zu sichern. Dies war eine verständliche Politik, da der Betrag Geldes, der in die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1972 gesteckt wurde, so groß war, daß man Gegenreaktionen be-fürchtete, sollten Westdeutschlands eigene Leistungen nur mittel-mäßig sein. Diese Politik war erfolgreich. Westdeutschland schnitt gut ab in München, wenngleich nicht nahezu so gut wie ihre deut-schen Brüder aus dem Osten. So fuhren sowohl die Regierung als auch die Industrie in der Bundesrepublik fort, große Summen für ihre Spitzenathleten auszugeben - mutmaßlich so viel, wie es die DDR tat.9) Trotz dieser großen Ausgaben übertraf die DDR zu den Olympischen Spielen 1976 nichtsdestoweniger die Bundesrepublik an Punkten, diesmal vier zu eins. Man sollte sich also vor allzu starken Vereinfachungen hüten.
Wie können wir diesen Erfolg denn nun erklären? Was gehört zur Geschichte des Sports in Ostdeutschland? Eine der Prioritäten der DDR-Regierung nach der endgültigen Teilung Deutschlands in den frühen 50er Jahren bestand darin, das Gesundheits- und Erzie-hungswesen völlig zu rekonstruieren. Das mußte bei einer kom-munistischen Regierung erwartet werden. Im alten Deutschland hatten sowohl Gesundheitsfürsorge als auch Erziehung Klassen-charakter, so daß jede sozialistische Regierung versuchen würde, diese Ungleichheiten zu beseitigen. Was diese Aufgabe besonders bedeutungsvoll machte war, daß die DDR einige der am wenigsten privilegierten Teile Deutschlands erbte: die sehr proletarisierten Teile der Arbeiterklasse von Deutschland in Ostberlin, Sachsen und Thüringen. Seine ländliche Bevölkerung war auch arm; der größte Teil des Landes östlich der Elbe war noch bis 1945 in den Händen der Großgrundbesitzer, den Preußischen Junkern. Teil des DDR-Programms, Gleichheit und einen guten Gesundheitszu-stand zu schaffen, war der Aufbau von Sportstätten in großem Ausmaß. Tatsächlich erlaubte das Budget der DDR seit den frühen 50er Jahren jährlich zwischen 1,5 und 1,8 Prozent für den Sport
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auszugeben.10) 1974 betrug die Summe für den Sport 180 Millio-nen Mark bei einem Gesamtbudget von 108 Billionen, also knapp unter 1,8 Prozent des Gesamtbudgets. Fast 80 Prozent davon - 141 Millionen Mark - flossen in den Aufbau weiterer Sportstätten oder in die Erhaltung bereits bestehender. Das Ergebnis all dessen war beeindruckend. 1974 gab es z.B. ungefähr 4.000 Schulturnhal-len, 2.000 Schwimmbecken und Stadien, 10 Prozent davon waren Hallenbäder. Es gab 400 Skisprungschanzen, 1.500 Bootsschup-pen und Bootshäuser. Die Zahl der Sportplätze betrug 7.500 (von denen 1.000 als groß beschrieben werden). Die Zahl der Sporthal-len wurde mit 224 angegeben und der Stadien mit 306.11) Es ist nicht einfach, die entsprechenden Zahlen für Australien zu be-stimmen, da hier keine regelmäßige Statistik geführt wird. Nichts-destoweniger, urteilt man von dem wenigen verfügbaren Material aus, dann ist der Unterschied sehr groß.12) Wenngleich die DDR und Australien etwa vergleichbare Bevölkerungszahlen haben, würden in der DDR dreimal so viele Sportplätze wie in Australien existieren, zweimal so viele Schwimmstadien, und es gibt möglich-erweise viermal soviel Sporthallen und Schulturnhallen. Das ist ein signifikanter Unterschied.
Für einen geringen monatlichen Mitgliedsbeitrag13) kann ein Ein-wohner in der DDR in irgendeine Sportgemeinschaft eintreten, die er mag, einschließlich Sportgemeinschaften für Tennis, Jagen und Segeln, Sportarten die im alten Deutschland nur für die privilegier-ten Schichten der Gesellschaft geöffnet waren. Mit Einrichtungen wie diesen ist es nicht überraschend, daß die Zahl der Mitglieder in den verschiedenen Sportverbänden ständig wuchs. Heute sind 2,6 Millionen Einwohner (ungefähr ein Sechstel der Bevölkerung) Mit-glied in einer der Sportkörperschaften: Insgesamt wird geschätzt, daß ungefähr 40 Prozent der gesamten Bevölkerung regelmäßigen Gebrauch von den Sportangeboten macht.14) Dieses Interesse am Sport wird weiter durch großzügige Arbeits- und Reiseunterstüt-zungen gefördert. Alle aktiven Sportler und Sportlerinnen, nicht nur die wenigen der Spitze, sind zu Trainingseinheiten pro Woche während ihrer Arbeitsstunden berechtigt, und sie können sehr billig zum jeweiligen Wettkampfort reisen. Es gibt 35 Sportverbände in der DDR, alle gut mit Trainern und Übungsleitern versehen, wodurch es jedem, der am Sport interessiert ist, ermöglicht wird,
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zu üben, zu trainieren und regelmäßig an Wettkämpfen teilzuneh-men. Erwachsene und junge Menschen werden ermutigt, das nati-onale Sportabzeichen zu erwerben, um welches mehr als fünf Mil-lionen in den letzten Jahren kämpften. Es gibt auch zahlreiche Wettkämpfe, an denen jeweils eine große Anzahl von Sportlern teilnimmt: das Freiburger Turnfest unter freiem Himmel, der Berlin-Lauf, ein Staffellauf der Massen, die „Sportfestmeile“, zahlreiche „Kleine Friedensfahrten“ der Radsportler, Wettkämpfe, um den stärksten Lehrling zu ermitteln oder das sportlichste Mädchen, um nur einige zu nennen, alle zusätzlich zu den regelmäßigen lokalen Wettkämpfen auf allen Gebieten des Sports vom Fußball bis zum Volleyball.
Sport spielt auch eine große Rolle in den Schulen, wenngleich er nicht ganz so wichtig ist, wie manchmal behauptet wird. In der Grund- und Oberschule werden vier Stunden pro Woche für den Sport reserviert. Das sind ungefähr 10 Prozent des Stundenplans. Die entsprechenden Zahlen für Deutsch und Mathematik entspre-chen je 20 Prozent. Hunderttausende Kinder und Jugendliche wetteifern beim nationalen Jugendsportfestival, der sogenannten Spartakiade... Die Spartakiade ist zweifellos ein Paradies für die Talentsuche. Schließlich gibt es Spezialschulen für besonders be-gabte und vielversprechende Kinder. Diese Spezialschulen sind nicht auf den Sport begrenzt; andere spezielle Interessen werden auf dieselbe Weise gefördert. Alle diese Schulen folgen dem nor-malen Lehrplan, betonen jedoch besonders das jeweilige Feld der Spezialisierung. Wenngleich gute sportliche Leistungen für die Aufnahme in die Sportschule erforderlich sind, sind sie nicht die einzige Voraussetzung. Gute Ergebnisse auf nichtsportlichen Ge-bieten sind auch gefordert, und ein Schüler, der keine annehmba-ren schulischen Leistungen beibehält, verliert seinen Platz, unge-achtet der sportlichen Leistungen.15)
Der Großteil der für den Sport in der DDR ausgegebenen großen Summen Geldes wird zum Nutzen der ganzen Bevölkerung und für alle Altersgruppen ausgegeben; nicht nur zum Nutzen der Spitzen-sportler. Die Frage ist nun die: Warum macht dies die Regierung? Warum all diese Anstrengungen? Die Antwort lautet entsprechend der Publikation der DDR-Regierung Ein neues Kapitel in der Ge-schichte des deutschen Sports: Die Frage „von Körperkultur und
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Sport kann keine unparteiische sein. Gehört schon zu dem Kom-plex >Menschliches Glück< unbedingt ... >Gesundheit<, so kann auch nicht übersehen werden, daß im Zeitalter des raschen wis-senschaftlich-technischen Fortschritts die Menschen vor Lebens- und Arbeitsbedingungen gestellt werden, die nahezu gebieterisch eine gesteigerte körperliche und geistige Bereitschaft erfordern... Der... Grundsatz, jedem Bürger alle Möglichkeiten zur umfassen-den geistigen und körperlichen Ausbildung zu geben... schließt selbstverständlich Körperkultur ein. Eine gesunde Lebensführung, die Hebung der Volksgesundheit ist in der Konsequenz ohne re-gelmäßige sportliche Betätigung nicht denkbar.“16) Das mag ziem-lich hochtrabend klingen. ...Trotzdem gilt auch für viele in unserer Gesellschaft die Annahme „Sport führt zur Gesundheit, führt zum Glück“. Die meisten Menschen glauben daran, daß es gut ist, sich gesund zu fühlen. Sie würden zustimmen, falls Streß und Druck der Arbeit tatsächlich vorhanden sind, zwei oder drei Tage Wan-dern im Busch zum Beispiel tun Wunder, helfen Körper und Geist. Und gibt es nicht Tausende in Australien, die das regelmäßige Squashspiel genießen? Es gibt also einen pragmatischeren Grund für diese Anstrengungen im Sport. Kein Zweifel, der Betrag, den die DDR für den Sport ausgibt, bringt Dividende. Wie uns die Sportärzte bestätigen, sind Menschen, die Sport treiben, gesünder und werden beträchtlich weniger krank, also nutzen sie die Sporteinrichtungen. Verlust von Arbeitskraft ist ein besonders ver-wundbarer Aspekt der DDR-Ökonomie, und zwar wegen der gerin-gen Arbeitskraft und des beträchtlichen Mangels an Arbeitern. Ein umfassendes und fortgeschrittenes Sportprogramm als allgemeine Gesundheitsversicherung ist etwas, was viele Menschen im Wes-ten, die mit dem Sport verbunden sind, seit langer Zeit gefordert haben. In der Tat ist Westdeutschland seit nunmehr einigen Jah-ren in der großen „halt dich fit“-Kampagne für alle Einwohner en-gagiert.17) Somit sollte der Sport als eine Gesundheitsversicherung nicht ohne weiteres in einer Diskussion über die Leistungen des DDR-Sports beiseite gelassen werden. Das läßt in der Tat an der Auffassung, die im Westen so häufig ist, zweifeln, daß alle An-strengungen nur das einzige Ziel hätten, den Sozialismus zu glori-fizieren. Der größte Teil des für den Sport in der DDR ausgegebe-nen Geldes geht zum durchschnittlichen Sportler und zur durch-
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schnittlichen Sportlerin, bei denen es unwahrscheinlich ist, daß sie an irgendeinem internationalen Wettkampf teilnehmen. Anderer-seits sind die fortgeschrittenen Einrichtungen und die größere An-zahl Menschen, die am Sport teilnehmen, die Grundlage für den in-ternationalen Erfolg. Und mit solch einer soliden Arbeit an der Ba-sis ist dann nur ein wenig mehr Anstrengung erforderlich, um auch international Spitzenleistungen zu erreichen.
Ehe wir uns den internationalen Leistungen des DDR-Sports zu-wenden, müssen zwei Bemerkungen über den Hochleistungssport im allgemeinen gemacht werden. Die erste ist die, daß der Hoch-leistungssport seit nunmehr einigen Jahren kritisiert wird. Man spricht darüber, daß es Bedrohungen für die Gesundheit der Sport-ler gibt. Diese Debatte betrifft natürlich alle Länder, nicht nur die DDR, obwohl hier die medizinischen Autoritäten dafür bekannt sind, daß sie besonders sorgfältig die Auswirkungen des Sports auf die Sportler untersuchen.18) Zweitens gibt es eine Herausforde-rung an die gesamte olympische Idee. Viel Kritik ist jüngst am ge-samten Konzept der modernen olympischen Spiele geübt worden. Die riesige Menge Geldes, die erforderlich ist, um heute die Spiele durchzuführen, die Schaffung von Paradestücken, um den Reich-tum der Nation zu zeigen, die allgemeine Entartung der Spiele auf das Niveau von „Brot und Spiele“ der alten Römer - alles das ist stark kritisiert worden. Diese gesamte Tendenz erreichte wahr-scheinlich ihren Höhepunkt mit den Olympischen Spielen 1972 in München, wo die Gesamtausgaben fast eine Billion Dollar betru-gen und wo viele Einrichtungen, die mit diesem Geld errichtet wor-den waren, gegenwärtig verwaist sind und nur vierzehn Tage ge-nutzt wurden. Es ist vielleicht interessant zu bemerken, daß allein die Kosten für die Beseitigung des Abfalls und für die allgemeine Reinigung nach den Spielen in München etwa zwanzig Millionen DM betrugen, nur vier Millionen weniger als die Gesamtkosten der Olympischen Spiele 1956 in Melbourne... Wenn ein Land akzep-tiert, daß seine Sportler mit denen anderer Nationen wetteifern - und fast alle Nationen akzeptieren das - dann scheint es auch fair genug, daß diese Sportler in ihren Anstrengungen unterstützt wer-den. Das ist in der DDR der Fall. Zusätzlich zu der breiten Grund-lage für den Sport... werden die Spitzensportler erstens durch die wissenschaftliche Forschungsarbeit über die sportliche Leistungs-
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entwicklung und zweitens durch großzügige Freistellung für das Training unterstützt. Die wissenschaftliche Forschung wird von der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig durchgeführt, ei-ner Institution, die grundsätzlich für die Ausbildung von Sportleh-rern sorgt. Es gibt zehntausend Sportlehrer, die heute in der DDR arbeiten, die ihre Ausbildung an dieser Sportakademie erhielten. Sie ist keine geschlossene Werkstatt; Gaststudenten sind will-kommen, und ungefähr 20 Prozent der Studienplätze sind pro Jahr für Studenten aus der „Dritten Welt“ reserviert. Es gibt in Leipzig auch ein Kollektiv von Wissenschaftlern, dessen Untersuchungen helfen, die Trainingsmethoden und die Leistungen der Athleten zu verbessern. Ein DDR-Spitzensportler kann sich seinem Sport hin-geben, ohne fürchten zu müssen, finanzielle Verluste oder Nach-teile in seiner beruflichen Laufbahn zu erleiden. Das führt manch-mal zu Beschuldigungen, daß sie keine wirklichen Amateure seien und sie nicht an Amateurwettkämpfen teilnehmen sollten. Staats-amateure ist der dafür geprägte Begriff. Die Schweizer Tageszei-tung „Neue Zürcher Zeitung“ schlußfolgerte in einer Serie von tief-gründigen und informativen Artikeln über den DDR-Sport, daß dies keine korrekte Einschätzung ist: „Sportlicher >Ruhm< entbindet nicht von beruflichen Verpflichtungen und übrigens auch nicht von der Leistung des Grund-Militärdienstes. Der Abschluss einer Be-rufslehre oder eines Studiums wird von allen Athleten erwartet; während der sportlichen Karriere läuft die berufliche Ausbildung - in >slow motion< zwar - durchaus weiter, unter besonders günsti-gen Bedingungen in den Klubs der Armee (ASK Vorwärts) oder der Polizei (Dynamo). Wenn sich also Schweizer Athleten gegenüber ihren Konkurrenten aus dem Osten benachteiligt fühlen, so durch-aus mit Recht, aber Attribute wie >Voll-Professionals aus dem Os-ten< oder >Staatsamateure< suggerieren einen falschen Eindruck vom Sachverhalt; ein grundsätzlicher Unterschied zum Schweizer Sportsystem besteht darin, dass in der DDR die Koordination von Beruf, Militär und Sport institutionalisiert ist, sowohl während, als vor allem auch nach der sportlichen Laufbahn. Während sich in der Schweiz Beruf und Sport häufig als Alternativen präsentieren.“19) Die Privilegien der DDR-Spitzensportler entsprechen auch keines-falls dem Geschrei über die Summen an Geld, die von führenden westlichen Professionellen verdient werden. Bei letzteren sprechen
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wir von Hunderten, Tausenden oder in der Tat von Millionen Dollar. Als der Schwimmheld der Vereinigten Staaten von 1972, Mark Spitz, vom Wettkampf Abschied nahm, war er Millionär. Die Spit-zenschwimmerin der DDR bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal, Kornelia Ender, hatte am Ende ihrer Schwimmlaufbahn zwanzigtausend Mark. Ender studiert... und sie erwartet ein Gehalt von ungefähr zwanzigtausend Mark jährlich. Wenn wir in Betracht ziehen, daß ihr Engagement im Schwimmen sie nur um ein Jahr zurückgeworfen hätte, dann würden die zwanzigtausend Mark ge-rade ihren beruflichen Verlust abdecken.
Laßt uns nun der Bewertung der politischen Komponente im DDR-Sport zuwenden. 1974 veröffentlichte das „Canadian Journal of History and Physical Education“ einen Artikel über diesen Sach-verhalt, der von G. A. Carr von der Universität von Victoria, British Columbia, geschrieben worden ist und die Behauptung unterstützt, daß der Sport in osteuropäischen Ländern nur politischen Zwecken dient.20) Als Beweis dafür zitiert Carr Passagen aus dem Statut des DDR-Sportbundes. Der Autor führt dann mehrere Regierungsbe-reiche auf, die den Sport in der DDR kontrollieren, und beschreibt, wie die verschiedenen Sportverbände zur politischen Indoktrination benutzt werden. Schließlich zitiert Carr den westdeutschen DDR-Sportexperten, Willi Knecht, der darüber spekuliert, daß in der DDR jährlich etwa eine Billion Dollar für den Sport ausgegeben wird. „Der Zweck“, so wird behauptet, „heiligt die Mittel“.21) Worauf läuft dieser Artikel hinaus? Es ist wahr, daß es mehrere Bezüge zum Sport in der DDR-Verfassung gibt. Das ist kein Geheimnis. Lassen sie mich eine der Regierungsveröffentlichungen zitieren: „Gesetze wurden in der DDR verabschiedet, die garantieren, daß der Staat und die verantwortlichen sozialen Organisationen, die eng mit den aktiven Teilnehmern zusammenarbeiten, Körperkultur und Sport jeden zugänglich machen. Durch die sozialistische Ver-fassung der DDR wird das Recht aller Bürger auf Körpererziehung und die entsprechende Verantwortlichkeit des Staates und der Ge-sellschaft staatsrechtlich verankert. Der Artikel 18 der Verfassung stellt fest, daß Sport Teil der sozialistischen Kultur ist und der all-gemeinen körperlichen und intellektuellen Entwicklung der Men-schen dient. Dieses Recht wird in anderen Abschnitten der Verfas-sung im Detail erläutert. Der Artikel 25 zum Beispiel legt fest, daß
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die Regierung und die Gesellschaft als ganzes Sport als Teil der zivilen Rechte jedes Bürgers zur Teilnahme am kulturellen Leben fördern wird. Andere Artikel fordern die Entwicklung von Körperer-ziehung, Schul- und Massensport und Tourismus, um die Gesund-heit und die Arbeitskraft der breiten Massen zu erhalten.“22) Zugegeben das ist politisch, aber selbst wenn, wir die Auffassung unterstützen, daß es in der modernen Gesellschaft keine Beziehung zwischen Sport und Politik gibt, könnten wir dann daraus viel machen? Mög-licherweise gibt es keine Verbindungen oder nur wenige zwischen Sport und Politik in Kanada, vielleicht auch in Australien. Was aber das angespannte politische Leben von Zentraleuropa anbelangt, können beide nicht isoliert voneinander gesehen werden. Der erste Paragraph der Statuten des westdeutschen Sportbundes (DSB) lautet zum Beispiel, daß „der DSB eine freie Föderation der Deut-schen Athletik- und Sportverbände und Sportinstitutionen ist. Der Sitz ist Berlin.“ Wenn wir den kontroversen Status der ehemaligen deutschen Hauptstadt in Betracht ziehen, dann ist dies ein hochpo-litischer Satz.
Es ist auch nichts politisch Eklatantes an der zweiten Behauptung, daß die DDR-Sportverbände Regierungsinstitutionen untergeord-net sind. In Australien gibt es auch mehrere Abteilungen auf föde-raler, Staats- und städtischer Ebene, die für die Verwaltung des Sports und die Verteilung des Geldes verantwortlich sind. Carr er-bringt überhaupt keinen Beweis für seine Feststellung, daß die Sportverbände zur Indoktrination benutzt werden. Es sind keine entsprechenden Untersuchungen über das Leben in den Sportge-meinschaften in der DDR durchgeführt worden. Die statistischen Zahlen über ihre Sportverbände zeigen, daß die größte Körper-schaft die Fußballassoziation mit einer halben Million Mitglieder ist. Warum wollen wir nicht annehmen, daß diese halbe Million Fuß-ballspieler den Ball jeden Sonntag oder Sonnabend zur bloßen Freude spielen, so wie sie es in Westdeutschland tun? Die zweit-größte Sportorganisation ist Angeln, und kann Carr wirklich ernst-haft behaupten, daß die durchschnittliche oberthüringer Forellen-bruderschaft das Zentrum von Wahlpropaganda in großem Aus-maß ist? Carr verweist auch auf das alte „Führerprinzip“ im Sport und daß die DDR der geistige Erbe des Hitlertotalitarismus23) sei, ein Vorwurf, der 1973 in einem Artikel von Louis Burgener, einer
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französischen Autorität auf dem Gebiet des Sports24), erhoben wurde. Dies ist eine besonders unglückselige Feststellung, schon deshalb, da viele der führenden Politiker der DDR während Hitlers Regime in Konzentrationslagern waren. In der DDR wurden außer-dem ernsthaftere Anstrengungen als in Westdeutschland unter-nommen, mit der Nazivergangenheit aufzuräumen.
Am wenigsten ist die letzte Behauptung zu akzeptieren, daß Hun-derte von Billionen Dollar jedes Jahr investiert werden, weil die po-litischen Zwecke alle Mittel rechtfertigen würden. Die beeindru-ckende ökonomische Leistung der DDR in den letzten 15 Jahren wurde nicht nur in Osteuropa positiv kommentiert. Dieses ökono-mische Wunder (der kleine Staat ist nun die zehntgrößte Indust-riemacht in der Welt) läßt wirklich nicht annehmen, daß Hunderte von Billionen Dollar sinnlos verschwendet werden. Schließlich ist der politische Wert des sportlichen Erfolgs ein sehr fraglicher. Oh-ne Zweifel erhöht der große internationale sportliche Erfolg den Stolz der Menschen in der DDR; er gibt ihnen ein Gefühl für das Erreichte. Das wiederum ist nicht auf die DDR begrenzt. Was aber den außenpolitischen Wert anbetrifft, ...dann unterstellen wir der DDR einen Grad von Naivität, den wir als verletzend empfänden, würde man uns selbst beschuldigen. Es gibt sehr wenig Menschen im Westen, die glauben, daß der Kommunismus besser ist als der Kapitalismus, nur weil ein Sportler aus dem Osten drei Zentimeter weiter als irgendeiner aus dem Westen springt. Tatsächlich sind die politischen Folgen für die DDR negativ gewesen. Seit der Zeit der frühesten Erfolge im Westen wurden die Leistungen des DDR-Sports in der plumpen und zu vereinfachten Weise, wie dargelegt, präsentiert. Selbst die Neue Zürcher Zeitung schrieb in ihrem aus-gewogeneren Herangehen, daß der Sport zumindest half, die DDR „diplomatisch auf die Landkarte zu bringen“. Sogar das entspricht nicht der Geschichte dieses Landes25), da weder die Welle der dip-lomatischen Anerkennung durch die Entwicklungsländer während der sechziger Jahre noch der diplomatische Durchbruch, der der Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten in den frühen siebziger Jahren folgte, auf den sportlichen Erfolg zurückgeführt werden kann.
Anstelle einer Schlußfolgerung sollte gesagt werden, daß der DDR-Erfolg nicht auf kleinen Kindern basiert, die ihren Eltern weggenommen werden,
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noch hat bisher irgend jemand bewiesen, daß sie das „Wundersteroid“ entwickelt haben, noch verschwenden sie sinnlos Geld. Statt dessen ern-ten sie nun die Vorteile einer Generation, die in einem gut organisierten System der Körpererziehung, des Sports und der Gesundheit herange-wachsen ist. Einige westliche Nationen in Europa, hauptsächlich West-deutschland, beabsichtigen nun, den Sport in ihrem sozialen System stär-ker zu fördern. Die eigentliche Ursache dafür ist... die Sorge um die sich verschlechternde Gesundheit. Wenn solch eine Politik durchgesetzt wer-den kann, wird sie möglicherweise die Kluft zwischen ihnen und der DDR überbrücken helfen. Aber, in Zeiten der ökonomischen Instabilität ist es in der westlichen Welt der Sport, der zuerst gekürzt wird.
ANMERKUNGEN
1) HARRIS, Max: Gelding the Lillee. Australian 5.2.1977
2) Bundesministerium für Innere Angelegenheiten: SBZ von A bis Z. Deutscher Bundestag, Bonn 1967, S. 448-449
3) Der Spiegel, 14.2.1972
4) HARRIS, Max: ... Australian 5.2.1977
5) Zum Beispiel Protokoll der Ninth Annual Conference of the Australian Sports Medicine Federation, Adelaide 1972, S. 19-22
6) Neues Deutschland 7.2.1977
7) Sydney Morning Herald 27.7.1976
8) Ibid. 12.8.1976, 17.8.1976, 18.8.1976, 20.8.1976
9) Der Spiegel 19.7.1976, S. 90-95
10) Statistisches Jahrbuch der DDR. Taschenbuch. Berlin 1975, S. 101-103
11) Informationsheet, S. 2
12) SVENSSON, Helen: Entertainment and Society in Australia, a UNESCO Report. Among other things chart lists 1, 162 sports fields and 244 public swimming pools.
13) Informationsheet: Der monatliche Mitgliedsbeitrag für Erwachsene 1,30 Mark, für Kinder 0,20 Mark und 0,80 Mark für Lehrlinge, Studenten und Rentner.
14) Ibid., S. 4
15) Neue Zürcher Zeitung: Sport in der DDR... 26.3.1977, S. 35
16) FIEBELKORN, Joachim: Ein neues Kapitel in der Geschichte des deutschen Sports. Dresden 1965, S. 4
17) Zum Beispiel: Deutscher Sportbund Sport-Freizeit-Arbeit, 1976
18) Neue Zürcher Zeitung 31.1.1977
19) Neue Zürcher Zeitung: Sport in der DDR... 26.3.1977, S. 35
20) CARR, G.A.: The Birth of the German Democratic Republic and the Organisa-tion of East German Sport. Canadian Journal of History and Physical Education 7 (1974) 1, S. 1-21
21) Ibid., S. 20
22) Fun - Health - Fitness. Panorama, DDR, S. 17
23) Ibid., S. 16
24) BURGENER, Louis: ... Information Historique 35 (1973), S. 63
25) Neue Zürcher Zeitung 20.3.1977
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Das zweite Spiel
Bei der Erforschung von Details der Geschichte des DDR-Sports ist oft die Rede davon, daß die Fußball-National-mannschaften der BRD und der DDR nur einmal aufeinan-dertrafen, nämlich am 22. Juni 1974 im Hamburger Volks-parkstadion. Tatsächlich gab es bereits zwei Jahre vorher ei-ne Begegnung während des olympischen Fußballturniers 1972 in München. Dazu unsere Dokumentation.
Auszug aus dem offiziellen Teilnehmerverzeichnis der XX. Olympi-schen Spiele 1972, Seiten 335/336:
gdr - rep. democratique all., german democratic rep., deutsche demokr. republik
croy, juergen 19.10.46 ... bsg motor zwickau
kurbjuweit, lothar 06.11.50 ... sc motor jena
zapf, manfred 24.08.46 ... fc magdeburg
weise, konrad 17.08.51 ... fc carl zeiss jena
bransch, bernd 24.09.44 ... sc chemie halle
irmscher, harald 12.02.46 ... fc carl zeiss jena
pommerenke, juergen 22.01.53 ... fc magdeburg
schulenberg, ralf 15.08.49 ... bfc dynamo berlin
sparwasser, juergen 04.06.48 ... fc magdeburg
kreische, hans-juergen 19.07.47 ... sg dynamo dresden
streich, achim 13.04.51 ... fc hansa rostock
haefner, reinhard 02.02.52 ... sg dynamo dresden
seguin, wolfgang 14.09.45 ... fc magdeburg
ducke, peter 14.10.41 ... sc motor jena
vogel, eberhard 08.04.43 ... fc carl zeiss jena
tyll, axel 23.07.53 ... fc magdeburg
waetzlich, siegmar 16.11.47 ... sg dynamo dresden
ganzera, frank 08.09.47 ... sg dynamo dresden
schneider, dieter 20.10.49 ... fc hansa rostock
ger - allemagne, germany, bundesrepublik deutschland
wienhold, guenter 21.01.48 ... eintracht frankfurt
baltes,heiner 19.08.49 ... fortuna duesseldorf 0096
hollmann, reiner 30.09.48 ... rot weiss oberhausen
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schmitt, egon 12.11.48 ... kickers offenbach
haebermann, friedhelm 24.07.46 ... eintr. braunschweig
bleidick, hartwig 26.12.44 ... bor. moenchengladbach
bitz, hermann 21.09.50 ... 1. fc kaiserslautern
seliger, rudi 20.09.51 ... msv duisburg
wunder, klaus 13.09.50 ... msv duisburg
hoeness, ulrich 05.01.52 ... fc bayern muenchen
worm, ronald 07.10.53 ... msv duisburg
mietz, dieter 03.09.43 ... borussia dortmund 0107
nickel, bernd 15.03.49 ... eintracht frankfurt
kaltz, manfred 06.01.53 ... hamburger sv
seelmann, hans-dieter 18.09.52 ... tsv muenchen 1860
kalb, juergen 20.05.48 ... eintracht frankfurt
hitzfeld, ottmar 12.01.49 ... fc basel
hammes, ewald 04.08.50 ... sg wattenscheid
bradler, hans-juergen 12.08.48 ... vfl bochum
Im Band 2 der Resultate der XX. Olympischen Spiele 1972 Mün-chen, Seite 17-33 findet sich der Report des Spiels 33 - Zwischen-runde Gruppe 1 -, das am 8. September 1972 im Olympiastadion in München vor 80.000 Zuschauern ausgetragen wurde. (Diese Zuschauerzahl wurde nur zweimal während des Turniers erreicht: Bei diesem Spiel und beim Spiel um die Bronzemedaille zwischen UdSSR und DDR.)
Das Protokoll des Spiels gdr - ger:
spielverlauf / match progress
min ereignis result
12 tor/goal 1:0 pommerenke, juergen gdr
31 tor/goal 1:1 hoeness, ulrich ger
53 kopfballtor, goal-head 2:1 streich, achim gdr
68 kopfballtor, goal-head 2:2 hitzfeld, ottmar ger
71 wechsel-ein, substitut.-in vogel, eberhard gdr
82 kopfballtor, goal-head 3:2 vogel, eberhard gdr
schuesse aufs tor/goal attempts 35 - 30
freistoesse/freekicks 21 - 19
ecken/corner 12 - 11
In dem 1985 von Günter Simon in Berlin herausgegebenen „Fußball informativ“ wurde dieses Spiel nicht erwähnt. Tatsächlich war es Länderspiel 111.
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JAHRESTAGE
Zu Friedrich Ludwig Jahns 150. Todestag
Von WOLFHARD FROST
Im Festzug beim Leipziger Turnfest im Mai 2002 trugen die Turner aus ganz Deutschland ihre Fahnen in endloser Zahl, und viele von diesen, besonders die Traditionsfahnen der alten Vereine, zeigten das Abbild Friedrich Ludwig Jahns. Wer steht in der deutschen Sportgeschichte des 19. Jahrhunderts wohl mehr für politische Aufbruchsstimmung, gilt als Symbolgestalt für eine neue Auffas-sung von der Rolle körperlicher Tüchtigkeit als notwendiger Ergän-zung zu geistiger Leistungsfähigkeit, charakterlicher Integrität, staatsbürgerlichem Engagement wie auch bürgerlicher Lebens-tüchtigkeit? Daher war es uns Lehrern in der Sportgeschichte im-mer ein wesentliches Anliegen, unseren Studenten Jahns Wirken auf dieses Ziel hin nahezubringen.
Gemeinsam mit Johann Christoph Friedrich GutsMuths und Gerhard Ulrich Anton Vieth zählten wir in der Zeit des DDR-Sports Jahn als den Dritten zu den Vätern der bürgerlichen Körperkultur (Mehl spricht vom Dreigestirn der Turnklassiker). Jeder von ihnen hatte einen besonderen persönlichen Beitrag geleistet; war es bei Vieth in seinem „Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen“ (1794) der erste Ansatz, die körperliche Bewegung (insbesondere unter biomechanischem Aspekt) zu untersuchen und darzustellen, so erwies sich GutsMuths mit der „Gymnastik für die Jugend“ (1793) als der pädagogische Wegbereiter modernen Sportunter-richts, den er als unverzichtbaren Bestandteil bürgerlicher Erzie-hung nach den Auffassungen des Philanthropismus entwickelte. Jahns Beitrag zu diesem Werk bestand dann aber darin, Vieths wissenschaftliche Erkenntnisse, GutsMuths’ methodische Erfah-rungen in die Öffentlichkeit seiner Turnplätze getragen und damit den entscheidenden Impuls für das Entstehen einer Volkskörper-kultur gegeben zu haben, an der in den Jahren seines Wirkens (1810/11 - 1818/19) vor allem die Jugend teilzuhaben begann.
Seine wichtigsten Werke, „Deutsches Volksthum“ (1810) und „Die deutsche Turnkunst“ (1816), doch auch die berliner Vorlesungen von 1817 über Volkstum trafen auf große Aufnahmewilligkeit, denn
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sie bestätigten die zumeist bitteren Erfahrungen vieler Deutscher in dieser Zeit politischer Zersplitterung, militärischer Schwäche, fremdländischer Unterdrückung und, später, ausbleibender bürger-licher Freiheiten. Diese Aufforderung zum Handeln, die den Cha-rakter eines Nationalerziehungsplanes hatte, wurde richtig ver-standen. Sie verband das sportpraktische Tun mit politischen Vor-stellungen und alsbald auch Forderungen, die auf die Emanzipati-on der bürgerlichen Klasse aus den Fesseln der spätfeudalen Ge-sellschaftsformation zielte. Hier liegt die Ursache vor allem, aus der heraus gerade Jahn diese Popularität seit 1810 erlangte. Und die studentische Jugend war es besonders, die den zutiefst politi-schen Charakter der Turnbewegung erkannte und sich mit ihr ver-band. Gleichzeitig liegt hier auch die Begründung für die tiefe Ent-täuschung, die die radikaldemokratisch gesinnten Turner 1848/49 empfanden, als Jahn sich nicht an ihre Spitze stellte, sondern poli-tischen Vorstellungen verhaftet blieb, die nicht den Erfordernissen einer bürgerlich-demokratischen Revolution gerecht wurden. Diese Tragik in seinem Lebensweg ist nur zu begreifen, wenn man die Bedingungen in Betracht zieht, denen Jahn vor allem seit 1819 ausgesetzt war, nachdem das Turnen durch den preußischen Staat verboten worden, er in Haft und Verbannung genommen und ihm jahrzehntelang jegliches Wirken in der Öffentlichkeit untersagt war. Die Zwiespältigkeit seiner politischen Auffassungen ist es aber auch, die späteren Generationen die leichte Handhabe bot, Jahn als angeblichen Vordenker eigener Auffassungen zu verein-nahmen. Und es ist nicht zu übersehen, daß auch heute Wertun-gen der Person und ihres Wirkens vorgenommen werden, die aus dem heute erreichten Erkenntnisstand historischer Entwicklungen, aus heute gültigen Gesellschaftsnormen und heutigen, gerade ak-tuellen politischen Standpunkten abgeleitet sind, nicht aber ad fon-tes gehen und damit nicht der historischen Persönlichkeit Friedrich Ludwig Jahn gerecht werden. Er bleibt bis heute eine herausra-gende Gestalt des frühen 19. Jahrhunderts - und auch weiterhin umstritten und des ernsthaften Streits würdig.
Nach Faschismus und Krieg, den schweren Nachkriegsjahren - das Jahnmuseum in Freyburg war bis 1951 Flüchtlingsquartier ge-worden - begann in der jungen DDR, angeregt durch die Besin-nung auf historische Beispiele nationaler Bewährung in schweren
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Zeiten, auch eine Wiederentdeckung Jahns. In der Vorbereitung auf seinen 100. Todestag 1952 setzte eine intensive Auseinander-setzung mit seinem Werk und Wirken ein, mit seinem Leben und seinen Leistungen, eine Auseinandersetzung, in der geprüft wer-den sollte, nicht nur was geschichtlich Bleibendes sei, sondern auch womit er in Haltung und Handlungen bereits bei den Zeitge-nossen Widerspruch und Ablehnung ausgelöst hatte und welche Folgen Jahns Vereinnahmung durch das wilhelminische Deutsch-land, in der Weimarer Zeit und mehr noch durch die faschistische Ideologie und mit ihr verbundene Militarisierung des Lebens, spe-ziell des Sports, in Nazideutschland nach sich gezogen haben.
Vor diesem Hintergrund wurde das im Jubiläumsjahr 1952 neu er-öffnete Jahnmuseum in Freyburg nicht nur von den Turnern, es wurde von der Öffentlichkeit insgesamt positiv angenommen dank der ausgezeichneten fachwissenschaftlichen Vorbereitung und museologisch gelungenen Gestaltung durch Schröder/Jena und Knorr/Halle. Seit dieser Zeit entstand in der DDR ein Jahnbild, das bis in das Geschichtswissen der Schüler reichend bei der Masse der DDR-Bürger zumindest in groben Zügen Kenntnis vom Wirken jenes großen Patrioten einschloß. Das jährliche Jahnturnen in Freyburg blieb auch aus diesen Gründen eine ungebrochene Tra-dition die ganze DDR-Zeit hindurch, so daß im Sommer 2002 (23.-25. August) das nunmehr 80. Friedrich-Ludwig-Jahn-Turnen statt-finden konnte. Wie bei jedem Jahnturnen wurden Kränze auf Jahns Grab gelegt und in Erinnerung an den 150. Todestag eh-rende Worte des Gedenkens gesprochen. Das renovierte Jahn-haus beherbergt das 1999 neugestaltete Museum und wird weiter vom Jahnförderverein und seiner wissenschaftlichen Arbeitsgruppe betreut, in der Jahnkenner aus ganz Deutschland zusammenarbei-ten. Erfreulich sind die, im Turnfestjahr 2002 besonders gestiege-nen, Besucherzahlen, die vom wachsenden Interesse nicht nur all-gemein an deutscher Geschichte, sondern hier an einer bedeuten-den Phase deutscher Sportgeschichte zeugen.
Doch einige Begebenheiten in Deutschland, insbesondere seit 1999, stimmen nachdenklich. Eine hamburger Schule hat den Eh-rennamen Jahn abgelegt. Die für des Turnfest 2002 vorgesehene feierliche Verleihung des Namens Friedrich Ludwig Jahn an die leipziger Sportmittelschule wurde zurückgestellt. In einer bestimm-
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ten Presse wird mit unsäglichen Kennzeichnungen der Eindruck erweckt von einem Jahn, der eher ein Verderber denn ein Lehrer der Jugend gewesen sei. Und Antisemit. Wer gewinnt diese Er-kenntnisse? Wo sind die Belege? Wurde der Sohn des Rabbiners Salomon in Berlin, der sich in die erhalten gebliebene Liste für das Winterturnen 1817 eintrug, von Jahn ausgeschlossen? Er nahm teil. In der Fernsehfolge des MDR im Mai 2002 über leipziger Turn-festtraditionen wurden die Übungen der Sportler der Sportvereini-gungen „Vorwärts“ (Nationale Volksarmee) und „Dynamo“ (Volks-polizei) beim Deutschen Turn- und Sportfest 1987 gekennzeichnet mit dem Hinweis „im Stile Jahns“. Welche Schlußfolgerung soll nach solcher Zuordnung durch den wissenschaftlichen Berater der TV-Sendung nun der Zuschauer ziehen? Sportliche Übungen von Armeesportlern „im Stile Jahns“ können also offensichtlich nur mili-taristische Einstellungen ausdrücken: Jahn - ein Militarist. In den alten Bundesländern ein oft zu vernehmendes Klischee. Auch das ist falsch.
Friedrich Ludwig Jahn, geboren am 11. August 1778 in Lanz in der Prignitz, gestorben vor 150 Jahren, am 15. Oktober 1852 in Frey-burg an der Unstrut. Das gelungene 39. Turnfest 2002 in Leipzig, das 80. Jahnturnen vom 23.-25. August und die Gedenkveranstal-tung am 12. Oktober 2002 in Freyburg, insbesondere der Festvor-trag von Bartmuß (Jahnförderverein), drückten die Gefühle der deutschen Turner und Sportler, der deutschen Öffentlichkeit für Jahn, ihr Urteil über diese historische Persönlichkeit und ihre Rolle in der deutschen Geschichte in würdiger Form aus. Und das 40. Deutsche Turnfest 2005 in Berlin, am Hauptort von Jahns Wirken, soll auch in Erinnerung an ihn begangen werden, an sein Deut-sches Turnen, das er 1811 auf der Hasenheide begonnen hat, mit den Turnfesten, die er dort „erfunden“ hat. Die heutigen Turner und Sportler werden dann erneut zeigen, wie sie in immer neuen Ge-staltungsformen sein Erbe weiterführen wollen und können.
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1912 in Stockholm: V. Olympische Spiele
(DOKUMENTATION)
Vor 90 Jahren fanden vom 29. Juni bis 22. Juli 1912 in Stockholm die V. Olympischen Sommerspiele statt. Der Verlag Julius Wagner (Zürich und München) brachte nach den Spielen einen Bild- und Textband von A. Eichenberger heraus, der mit viel Akribie erarbei-tet worden war und in dessen Vorwort betont wurde: „Die Verleger scheuten keine Kosten, das Werk, dessen Druck eine der ersten Kunstanstalten Münchens ausführte, in illustrativer und technischer Hinsicht mustergültig und reich auszustatten. Dennoch wurde der Preis des Buches so bescheiden angesetzt, daß ihn auch der klei-nere Geldbeutel erschwingen kann. Denn in erster Linie wollte der Herausgeber der guten Sache dienen, für die Ausbreitung der olympischen Grundgedanken wirken.“
DIE FEIERLICHE ERÖFFNUNG DER SPIELE IM STADION: Ein herrlicher Sommertag ist am 6. Juli über dem im Festschmuck prangenden Stockholm aufgegangen. In ungetrübtem Blau wölbte sich der Himmel über die schon seit dem frühen Morgen laut be-lebte Stadt. Flüssiges Gold goß die strahlende Sonne aus auf Land und See, die eine frische Brise kräuselte. „Wer zählt die Völker, nennt die Namen“, Länder durchquerten, Meere durchschifften sie und strebten nun zu Fuß, mit der Straßenbahn, auf Wagen und Automobilen im Wogen babylonischen Sprachengewirrs dem einen Ziel - dem Stadion - der Stätte des Völkerturniers zu. Durch das breite Tor an der Südseite durch die dreizehn Eingänge an den Ost- und Westseiten des riesigen, 25.000 Zuschauer fassenden Gebäudes flutete die schiebende und geschobene Menschen-menge. Langsam erst, dann immer rascher und dichter füIlten sich die langen Sitzreihen mit den festlich gekleideten, froh erregten Scharen. International wie der prachtvolle Bannerschmuck rings-herum ist auch die gewaltige Menschenmenge. Glänzende Unifor-men neben offiziellen Fräcken und supereleganten Damentoiletten, einfacher Sportdreß neben bunten Nationaltrachten - eine impo-sante, farbenreiche Versammlung der Nationen, aus der branden-des und wogendes Stimmengewirr aufsteigt. Da plötzlich - vom Stadionturm verkündete der Glocken eherner Mund die elfte Stun-de - ging eine Bewegung durch die harrende Menge. Fanfaren melden die Ankunft des Königs. Im Galaaufzug erscheint der kö-
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nigliche Hof mit großem Gefolge, empfangen vom Internationalen Olympischen Komitee und dem schwedischen Organisationskomi-tee...
DER MARATHONLAUF war das größte und bedeutendste Ren-nen, ja sogar die vom Publikum mit dem meisten Interesse verfolg-te Konkurrenz der Olympischen Spiele. Bei allen neuzeitlichen Olympischen Spielen bildete dieser Lauf den Höhepunkt der gan-zen Veranstaltung, und die Gewinner des Rennens wurden jedes-mal berühmte Leute, deren Namen die ganze Welt kennt... Zu dem Stockholmer Marathonlauf hatten achtundneunzig Läufer ihre Nennung abgegeben. Der gewaltige Zuschauerraum war schon Tage vorher ausverkauft, denn jeder wollte den feierlichen Moment sehen. Die Marathonbahn maß in Stockholm 40.200 Meter und führte nur am Beginn und zum Ende kurze Strecken durch Wald, sonst ist sie immer hügelige Landstraße, auf der die Läufer ständig der glühenden Sonne ausgesetzt waren. Hier wurde eine über-menschliche Leistung verlangt bei 450 Hitze mehr als 40 Kilometer in weniger als drei Stunden zu durcheilen. Auf der ganzen Strecke hatte man sanitäre Stationen errichtet. Wendepunkt war die Dorfkirche Sollentuna; Militär sperrte die ganze Strecke ab. Lange vor dem Start war das Stadion schon vollbesetzt, der Hof erschien vollzählig; die weißen Damenkleider und die farbigen Sonnen-schirme gaben dem Ganzen ein imposantes Gepräge. Die anderen Kämpfe im Stadion begegneten keinem Interesse, gespannt warte-te alles auf den Start der Marathonläufer. Die besten Läufer fanden sich in der Arena ein; nur 68 meldeten ihre Beteiligung dem Starter an, der sie in acht Reihen aufstellte. Man suchte unter der Schar mit dem Fernglas einige besonders markante Gestalten und die Favoriten heraus: den Indianer Tewanima, den Amerikaner M. J. Ryan und den Finnländer T. Kolehmainen sowie die beiden Schweden Ahlgren und Törnros, die durch das Training auf der Strecke einen guten Vorteil voraus hatten. Fünf Minuten vor halb zwei Uhr ertönte der Schuß; die Läufer mußten etwas mehr als ei-ne halbe Runde zurücklegen, dann ging es zum Tor hinaus. Als Erster betrat ein Schwede die Straße. Mit einem alles übertönen-den Hurra, der Menge verschwand das Feld... Mit Spannung wur-den die durch Anschlag und Megaphone bekannt gegebenen Teil-resultate entgegen genommen. Die erste Kontrollstation führte für
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den Hinlauf die Bezeichnung A, für den Rücklauf die Bezeichnung E auf einer großen Tafel in der Mitte der Arena; die zweite Station Tureberg, die Bezeichnung B und D; der Wendepunkt Sollentuna die Bezeichnung C. Telephonisch wurde von jeder Station das Passieren des ersten Läufers gemeldet und auf dem Flaggenmast die Fahne des betreffenden Landes gehißt, während gleichzeitig durch das Sprachrohr die genauen Resultate verkündet wurden. So war das Publikum ständig über den Stand des Rennens infor-miert. Mit Interesse vernahm man die Resultate der einzelnen Etappen. Die erste Kontrollstation wurde von dem Finnländer Koh-lemainen, dem Schweden Ahlgren und dem Italiener Speroni gleichzeitig... Den Wendepunkt erreichte Gitsham als Erster... Um vier Uhr hatten die ersten drei die letzte Kontrollstation Stocksund erreicht. Zuerst kam Gitsham, dann Kolehmainen, als Dritter Mc Arthur. Fünf Minuten später war der erste Läufer vom Turme aus in Sicht; drei gellende Trompetenstöße gaben dies der aufgeregten Menge bekannt. Nicht viel später kommt ein kleiner Läufer in grü-nem Sportdreß durchs Tor. Langsamen Schrittes legt er die letzten 200 Meter zurück, geht durchs Ziel und bricht dicht am Zielpfosten auf dem Rasen zusammen. Es ist der Südafrikaner Mc Arthur, der unter Aufbietung seiner letzten Kräfte sich noch bis an seine Geg-ner heranarbeitete und diese kurz vor dem Stadion überholte... Fast alle Genannten kamen in verhältnismäßig guter Verfassung an; einzelnen war es infolge der Hitze allerdings unwohl geworden. Der Portugiese Lazaro verschied leider an den Folgen. Ein von den Schweden veranstaltetes Stadionfest zugunsten des unglücklichen Läufers warf die Summe von 20.000 Mark ab...
DIE FESTLICHEN VERANSTALTUNGEN: Zu dem Schlußfest für alle Sportleute am Sonntag, den 14. Juli, abends 9 Uhr, hatte das Schwedische Organisationskomitee die in- und ausländischen Ho-noratioren und Funktionäre sowie die aktiven Teilnehmer an den Spielen, im ganzen etwa 4000 Personen, geladen. Die weite Arena hatte sich in einen Wiesenplan verwandelt, den eine Riesentafel für die Honoratioren, von einem Ende zum anderen, durchquerte. Links und rechts davon strahlten, die Breite der Arena durchmes-send, Tafeln aus für die aktiven Teilnehmer an den Kämpfen. Ein Abendessen wurde eingenommen, bei dem nur alkoholfreie Ge-tränke serviert wurden. Von der Musikestrade klangen in die laue
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Sommernacht die Nationalhymnen der einzelnen Länder, deren Sportleute sie stehend mitsangen. Feierliche Ansprachen hielten: S. K. Hoheit der Kronprinz, Baron P. de Coubertin und Oberst V. Balck. Und in der Festfreude Branden und Wogen, sie glättend, klangen weihevolle Lieder, die der 2500 Mann zählende schwedi-sche Sängerchor vortrug...
DIE PREISVERTEILUNG: Ein feierlicher Akt wickelte sich am 15. Juli, abends 5 Uhr, im Stadion ab. Die in langem Bogen die riesige Arena umfassenden Sitzreihen waren dicht gefüllt von dem inter-nationalen Sportpublikum. Mit Spannung erwarteten die Völker den Einzug der Olympioniken, der Sieger in den olympischen Kämpfen. Vor der königlichen Loge hatte man in der Rennbahn drei Podien errichtet: das mittlere für den König von Schweden, das äußere rechts für den schwedischen Kronprinzen und dritte für den Prin-zen Karl von Schweden. Mit lautem begeisterten Jubel begrüßte die gewaltige Menschenmenge die in das Stadion einmarschieren-den Sieger. Sie waren in drei Gruppen geteilt: voran die Gewinner der ersten Preise, dann die der zweiten und zum Schluß die der dritten Preise. Die erste Gruppe stellte sich vor dem Podium des Königs auf, die zweite vor dem des Kronprinzen, die dritte vor dem des Prinzen Karl. In jeder Gruppe waren die Sieger in nachstehen-der Reihenfolge geordnet: Athletik, Tauziehen, Ringen, Fechten, Moderner Fünfkampf, Schwimmen, Schießen, Turnen. Ein Herold rief die Namen der drei Sieger in jeder Kampfart aus, die Olympio-niken traten gleichzeitig vor die Podien, wo der König jedem Ge-winner eines ersten Preises einen Eichenkranz, die goldene olym-pische Medaille und den Wanderbecher der Olympischen Spiele überreichte... Bevor die Wanderbecher eingehändigt wurden, hat-ten der Sieger und zwei Mitglieder des Olympischen Komitees des betreffenden Landes sich schriftlich zu verpflichten, den Becher sorgfältig aufzubewahren...
Das Gesamtergebnis der Nationen ergibt sich aus der Wertung der Goldmedaillen mit 3 Punkten, der Silbermedaille mit 2 Punkten und der Bronzemedaillen, 1 Punkt. Interessant ist die Gegenüberstel-lung der Resultate von 1908 und 1912. Schweden rückte vom 3. auf den ersten Platz , England vom 1. auf den 3., Deutschland vom 6. auf den 5. (Insgesamt 18 Länder erkämpften Medaillen.)
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Zehn Jahre IAT
Am 23. April 2002 hielt Prof. Dr. Daugs vom Sportwissen-schaftlichen Institut der Universität des Saarlandes in Leipzig einen Vortrag zum zehnjährigen Bestehen des „Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft“ (IAT), aus dem wir Aus-züge zitieren.
Viel war es ja nicht, was man bei der Wiedervereinigung von der ehemaligen DDR übernehmen konnte oder wollte. Aber das Spit-zensportsystem, mit dem es diesem kleinen Land mit seinen nur 17 Mio. Einwohnern nach vergleichsweise kurzer Zeit gelungen war, sich in allen medaillenträchtigen Sportarten und bei allen in-ternationalen Sportgroßereignissen nachhaltig in der Weltspitze festzusetzen - dieses Spitzensportsystem zumindest fand erhebli-ches Vereinigungs- und Integrationsinteresse. Das „Sportwunder DDR“ faszinierte insgeheim den Westen, machte neidisch und är-gerlich zugleich. Ärgerlich, weil die DDR mit den großen Erfolgen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen offensichtlich genau die internationale politische Anerkennung und Aufwertung erfuhr, die man aus der Sicht der alten Bundesrepublik unbedingt verhindern wollte. Neidisch, weil doch das eigene Gesellschafts- und Sportsystem zu vergleichbaren Erfolgen einfach nicht in der Lage war... auch die Idee von einem bundesdeutschen zentralen Forschungsinstitut für die Belange des Spitzensports, die bereits Mitte der 70er und noch einmal Mitte der 80er Jahre diskutiert wur-den, hatte bekanntlich keine Chance auf Verwirklichung. Für Sportpolitiker und Sportfunktionäre war es immer ein Traum, das Spitzensport-Teilsystem der ansonsten wenig geliebten DDR zu kopieren und innerhalb des freiheitlich-demokratischen und födera-listischen Gesellschaftssystems der Bundesrepublik zur Wirkung kommen zu lassen. Und plötzlich, so schien es, konnte dieser Traum wahr werden. So bekannte etwa der Vorsitzende des Bun-desausschusses Leistungssport (BAL) des DSB, Ulrich Feldhoff: „Die erkannten Defizite in der wissenschaftlichen Betreuung des Leistungssports in der ehemaligen Bundesrepublik haben dazu ge-führt, Überlegungen anzustellen, das, was sich im Sport der ehe-maligen DDR bewährt hat, in den gemeinsamen Leistungssport zu integrieren.“
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So gelang es schließlich - durch wen und wie letztlich auch im-mer... - die „Fortführung und Eingliederung“ (wie es wörtlich hieß) sowohl des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig als auch der Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte (FES) in Berlin im Einigungsvertrag vom 31.8.1990, Artikel 39, festzuschreiben... Die sportpolitischen und wissen-schaftspolitischen Hintergründe der Auseinandersetzungen um die „Fortführung und Eingliederung“ des FKS können und sollen... nicht verschwiegen werden. Bereits am 23. April 1990 richtete der damalige Ministerialdirektor im Bundesinnenministerium, Erich Schaible, die Bitte an das Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Köln, eine Bestandsaufnahme der Sportwissenschaft der DDR zu erstellen. Dies war offensichtlich kein größeres Problem, denn be-reits am 2. Mai 1990, also nach nur acht Tagen, lag der Bericht vor. Die Schlussfolgerungen waren eindeutig: Das FKS als zentra-les Forschungsinstitut zu erhalten sei nicht sinnvoll! Und: „Wenn man bedenkt, mit welch üppiger finanzieller und personeller Aus-stattung dort zwanzig Jahre lang geforscht worden ist, so ist das Ergebnis, gemessen an der Leistungsfähigkeit großer westdeut-scher Institute, eher dürftig. ...Im Übrigen sei am FKS nicht, wie im Westen üblich, geforscht, sondern nur Auftragsarbeit im Sinne der Leistungssteigerung erledigt worden.“ ...Insbesondere die Tatsa-che, dass... an einer Reihe von Mitarbeitern festgehalten wurde, die den Stasi- und Dopingvorwürfen öffentlich ausgesetzt waren, deren Schuld aber nirgendwo rechtsstaatlich nachgewiesen war, bewirkte den Eklat bei der Eröffnungsfeier: Das Land Sachsen und die Universität inklusive ihrer damals in Gründung befindlichen Fa-kultät für Sportwissenschaft sagten kurzfristig ihre Teilnahme „aus Protest“ ab... „Ich denke, niemand von uns (hatte und) hat ein juris-tisch und moralisch allgemein akzeptiertes Konzept für die Aufar-beitung der DDR-Vergangenheit insgesamt und für die Aufarbei-tung der FKS-Vergangenheit im speziellen“. Dies ist übrigens ein Satz aus meiner damaligen Festrede bei der Eröffnungsfeier, der für mich überraschend von fast allen deutschen Tageszeitungen zi-tiert wurde. Dass ein eigentlich so selbstverständlicher Satz so große Aufmerksamkeit erfuhr, ist aber bezeichnend für die damali-ge Situation, genauso wie die Tatsache, dass politische und wis-senschaftliche Institutionen sich von diesen schon damals nicht
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rechtlich belegten Schuldvorwürfen so stark beeinflussen ließen. Dies war keine Sternstunde und keine gute Zeit der deutschen Sportwissenschaft! ...Außer Frage steht heute wohl, dass der deutsche Spitzensport in den letzten 10 Jahren von diesen beiden Instituten (IAT und FES) doch sehr stark profitiert hat. Dies hob be-reits 1992 Ulrich Feldhoff im Rückblick auf die Olympischen Spiele in Albertville und Atlanta deutlich hervor... Wir haben offensichtlich nicht berücksichtigt, dass man eine Kuh, von der man viel Milch haben möchte, auch gut füttern muss. Kurzum: Unser gesellschaft-liches Rekrutierungs- und Nachwuchssystem für den Spitzensport ist offensichtlich nicht hinreichend in der Lage, einen entsprechen-den Athletennachwuchs sicherzustellen. Für den Bereich der Sommerspiele scheint das damals durch die Wiedervereinigung gegebene Überpotenzial an Spitzenathleten jedenfalls weitgehend aufgebraucht. Übrigens, diesem Problem liegt wohl vor allem ein Systemfehler zugrunde und nicht etwa nur ein institutionelles oder gar individuelles Versagen. Mal an der einen und mal an einer an-deren Schraube dieses Systems zu drehen bringt dabei wenig... Natürlich können und wollen wir dafür unser freiheitlich-demokratisches und föderalistisches Gesellschaftssystem nicht mit einem zentralistisch-totalitären Spitzensportsystem ausstatten, aber höhere Effizienz bei verbesserter Kooperation und Koordina-tion scheint erforderlich und durchaus möglich... Und auch das Spitzensportsystem braucht eine umfassende Qualitätssicherung. Unser Sportsystem braucht dies alles übrigens ebenso, wie etwa unser Bildungs- und Hochschulsystem, unser Gesundheitssystem oder unser Sozialsystem... „Wenn wir so weitermachen wie bis-her“, so Edzard Reuter am 8. August 1996 nach den Olympischen Sommerspielen in Atlanta in allen deutschen Tageszeitungen, „dann sind wir in zwei Olympiaden viertklassig“... Das Ziel ist klar: Der Spitzensport braucht ein exzellentes und effizientes, wissen-schaftlich-technologisch fundiertes Betreuungssystem. Ein solches Betreuungssystem seinerseits - und dies wird oft von der Praxis wie von den verantwortlichen Funktionären verkannt - braucht aber hierfür auch eine problemangemessene anwendungsorientierte Grundlagenforschung („Vorlaufsforschung“) zur nachhaltigen Qua-litätssicherung der Betreuung...
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ZITATE
Erinnerung an Melbourne
Schauplatz war Leipzig. (Das ist eine der Städte, deren Bürger da-von träumen, dass sie demnächst Gastgeber Olympischer Spiele sein könnten.) Handelnde Personen (laut LVZ 1./2. Juni 2002): „Grit Hartmann, Journalistin und Buchautorin; Irmtraut Hollitzer, Leiterin des Museums über die Stasi in Leipzigs Runder Ecke; Burkhard Jung, Leipziger Beigeordneter; Klaus Köste, Turn-Olympiasieger 1972, als IM geführt; Thomas Mädler, Präsident des Stadtsportbundes, Volker Mattausch, beurlaubter Geschäftsführer des Turnfest-Organisationskomitees, nachdem in der „Welt“ seine Geheimdiensttätigkeit bekannt wurde, Andreas Müller, Leipziger Beigeordneter, Uwe Müller, Journalist der Zeitung ‘Die Welt’.“
Thema: „Bürgerkomitee wirft dem Leipziger Sport Stasi- und SED-Seilschaften vor.“ Als lesender Zuschauer wurde ich für Sekunden an das Dokumentar-Schauspiel von Hans Magnus Enzensberger „Das Verhör von Habana“ erinnert, aber dann vertrieb ich den Ge-danken schnell wieder, weil in Leipzig doch alles ganz anders war. In Havanna waren die in der Schweinebucht gefangen genomme-nen Söldner über die Motive ihres Überfalls auf Kuba befragt wor-den, in Leipzig saßen mit dem Ex-Prorektor der DHfK, Volker Mattausch und dem Turn-Olympiasieger Klaus Köste zwei auf der Anklagebank, die von den „Geschworenen“ (siehe Liste der han-delnden Personen) ins Kreuzverhör genommen worden waren, weil sie in der DDR eine Rolle gespielt hatten. Journalist Müller: „Die Vergangenheit vergeht nicht... Herr Mattausch und Herr Köste... ich halte beide für ungeeignet, den Leipziger Sport und große Ver-anstaltungen nach außen zu repräsentieren.“ Urteilt Herr Müller, der sich um Gesetze nicht scherend, die Köste Stasi-Akte schwenkte und sich wohl einbildet, er eigne sich zum Reichsanklä-ger, nur weil die „Welt“ zuweilen seine Söldner-Texte druckt. Grit Hartmann nahm den Verein ins Visier, dessen Vizepräsident ich bin (Sport und Gesellschaft e.V.): „Das ist der Verein, der immer noch von ‘so genannten’ Dopingopfern spricht.“ Natürlich verzichte-te sie darauf, wenigstens einen Hinweis zu geben, wo und wann „der Verein“ das verlautbart hatte, es genügte ihr wohl, dass ich dort amtiere. Und als ich das las, fiel mir ein Abend ein, der schon 46 Jahre zurückliegt. Man hatte im Vorfeld der Olympischen Spiele
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in Melbourne alle Deutschen in den Union-Club geladen, und eine auf den ersten Blick unauffällige Dame fragte, ob jemand im Saal sei, der Auskünfte über die in den nächsten Tagen zu erwartenden DDR-Sportler liefern könnte. Ich meldete mich. Die Dame eilte auf mich zu, bat mich zur Seite - „keine Mithörer!“ - und versprach mir stattliches Salär, wenn ich Dossiers über die Athleten liefern wür-de. Ich stellte mich dümmlich: „Was wollen Sie denn so wissen?“ Sie eifernd: „Zum Beispiel, die Mädchen, rauchen sie? Und wie stehen sie zu Männern? Wüßten Sie, welchen Typ die eine oder andere bevorzugt?“ Ich versprach, ausführliche Berichte zu liefern. Im Abgang fragte sie mich: „Wo arbeiten Sie eigentlich?“ Ich wahr-heitsgetreu: „Beim ND!“ Tags darauf wurde die Dame in die Haupt-stadt Canberra abberufen und durch einen jungen Mann ersetzt. Warum ich das alles erzähle? Weil der Bundesnachrichtendienst - nach dem Urteil der Leipziger Ankläger der Geheimdienst eines demokratischen Staates und deshalb nahezu ehrenwert - mich fürstlich belohnen wollte, wenn ich über die Mutter von Grit Hart-mann, die DDR-Schwimmerin Eva-Maria ten Elsen, schriftliche In-formationen liefern würde. Die war damals 19 Jahre alt, und ich hätte sicher einiges über sie herauskriegen können. Und ich hätte mühelos einiges dazuschwindeln können. (So wie in vielen Akten, die heute kursieren mancherlei dazugeschwindelt wurde.) Ich tat es nicht, weil ich die DDR und deren Bürgerin ten Elsen nicht ver-raten wollte. Ihre Tochter klagt heute mit Vehemenz andere an, die niemanden verrieten, aber DDR-Bürger vor Schaden bewahren wollten...
Und: Auf diesem Wege sende ich einen fröhlichen Gruß an Eva Maria ten Elsen, die nun heute endlich von mir erfährt, dass ich In-formationen über sie und auch alle anderen Mitglieder der DDR-Mannschaft nicht an den BND lieferte. Die Akte liegt sicher noch in Pullach. Aber wird man sie dort herausgeben?
Das könnte doch ihre Tochter mal recherchieren.
Klaus Huhn, „Leipzigs Neue“ 7.6.2002
Vor 25 Jahren: heiße Luft
Der dreiseitige Vertrag datierte vom 16. Juni 1976; er war in fünf mit römischen Ziffern nummerierte Abschnitte unterteilt und be-gann mit den geheimnisvollen Worten: „Herr Bode versichert, ein
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Mittel bzw. eine Möglichkeit der Anwendung dieses Mittels zu ken-nen, das zu einer nachprüfbaren Leistungssteigerung bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal bei Schwimmern führt. Er erklärt weiter, dass die Verwendung bzw. Anwendung nicht unter die geltenden nationalen und internationalen Dopingbestimmungen fällt, nicht die Verbote der FINA (des Weltschwimmverbandes, d. Red.) berührt, weder gesundheitsschädlich ist noch leistungsmin-dernd wirkt und die Zulassungsbestimmungen zu den Olympischen Spielen nicht berührt.“
Als Vertragsparteien waren ein gewisser Hans-Jürgen Bode aus Norderstedt sowie der Deutsche Schwimm-Verband, vertreten durch seinen Präsidenten, Manfred Kreitmeier, und seinen Vize-präsidenten, Ortwin Kaiser, ausgewiesen. Das Dokument war so brisant, dass im letzten Paragraph eine Konventionalstrafe von 100.000 Mark festgelegt war, sollte eine der beiden Seiten gegen die gegenseitige Verpflichtung verstoßen, „zu keinem Zeitpunkt über den Inhalt des Vertrages bzw. über die Vorverhandlungen ei-nem Dritten gegenüber Kenntnis zu geben“.
An Verschwiegenheit sollte es nicht mangeln. Tatsächlich drangen die Vertragsdetails erst neun Monate später an die Öffentlichkeit. So hatte sich der Verband zu einer Zahlung von 150.000 Mark „im Erfolgsfall“ verpflichtet, dessen Eintreten in Absatz Il genau defi-niert war: „Das Mittel bzw. seine Anwendung führt nachweisbar zu Leistungssteigerungen von 1,5 % bei Schwimmern der deutschen Spitzenklasse.“ Zum Vergleich der Zeiten sollte der Verband eine „Liste der projektierten Leistungen der einzelnen Athleten in Mont-real“ vorlegen. „Wird eine höhere Leistungssteigerung als 1,5 % erzielt, erhöht sich der Herrn Bode zu zahlende Betrag um DM 100.000.-“
... Zudem ließ man sich scheinheilig versichern, dass kein Verstoß gegen Regeln und Sitten vorliegen würde. All dies, ohne überhaupt zu wissen, worum es sich bei dem versprochenen Leistungswun-der überhaupt handelte... Vermutlich waren die Funktionäre sogar stolz auf ihren Coup. Schließlich hatte jener Hans-Jürgen Bode schon im April 1976 angekündigt, „dass er und eine Interessen-gruppe über ein leistungsförderndes Mittel im Schwimmen, das schon von Spitzensportlern erprobt und als absolut erfolgreich er-klärt worden sei, verfüge“, wie Helmut Meyer, der Direktor des
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Bundesausschusses Leistungssport (BA-L), später in einer inter-nen dienstlichen Erklärung gegenüber dem Präsidium des Deut-schen Sportbundes (DSB) einräumen musste. Der BA-L, der Leis-tungssportbereich des DSB, hing von Anfang an in der unrühmli-chen Affäre drin. Mehr noch: Er betätigte sich sogar als Kuppler. Bode hatte nämlich als Handball-Nationaltorhüter bis Dezember 1975 den Vorsitz im Beirat der Aktiven geführt und selbst im BA-L-Vorstand gesessen. So schloss sich der Kreis. Meyers Bericht zu-folge hatte der geschäftstüchtige Sportsfreund gar gedroht, „bei einer Ablehnung unsererseits das Mittel international an andere Nationen verkaufen zu wollen“. Dieses Argument zog offenbar; schließlich musste der DSV - gerade im direkten deutschdeut-schen Vergleich mit der DDR - befürchten, bei Olympia baden zu gehen... Die ursprüngliche Forderung von einer Million handelte Meyer herunter... Am 21. Juni bestätigte der zuständige Ministerial-rat im Bundesinnenministerium dem DSV, für den „genannten Zweck“ dürften 250.000 Mark Fördergelder verwendet werden...
Worin „das Mittel“ nun wirklich bestand, das sollten alle Beteiligten allerdings erst in Kanada erfahren. Der Vorhang wurde im vor-olympischen Trainingslager in Calgary gelüftet: Was später eu-phemistisch als „Luftdusche“ bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit ein Klistier, mit dem jedem Schwimmer 1,8 Liter Luft durch den Af-ter in den Dickdarm geblasen wurde, was zu einer höheren Was-serlage führen sollte...
Das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ höhnte hinge-gen: „Die Olympische Pumpen-Premiere fiel ins Wasser: In Mont-reals Schwimmhalle fand sich kein Raum zum diskreten Aufbla-sen.“ Damit war das grandiose Experiment verpufft, und vielleicht wären die peinlichen Details wirklich unter der Decke geblieben, wenn eine Boulevardzeitung die Luftnummer nicht doch noch ent-hüllt hätte...
Dirk Schmidtke, NOK-Report 5/2002, S.29f
Der Fall Krabbe
Die Nachricht lieferte keine Schlagzeilen. Sie reduzierte sich auf ein paar spärliche Zeilen, einspaltig und geronnen bei manchen (ND) gar zur Bildunterschrift. Der Tenor: Die Weltleichtathletikföde-ration (IAAF) hat mit Katrin Krabbe einen „Vergleich“ geschlossen.
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Klartext: Die IAAF wird eine Million Strafe dafür bezahlen müssen, dass sie deutschen Intentionen folgend, die Neubrandenburger Sprintweltmeisterin Katrin Krabbe für vier Jahre sperrte und damit daran hinderte, möglicherweise Olympiasiegerin zu werden. Wem der Name Krabbe schon entfallen sein sollte, könnte sein Ge-dächtnis mit einem „Spiegel“-Zitat von 1991 auffrischen: „In der Vereinigungseuphorie des Herbstes hatten die westdeutschen Me-dien wie auf ein geheimes Zeichen hin eine bis dahin unbekannte“ - hier muß eingeschränkt werden: In der BRD unbekannte - „Sprin-terin für eine tragende Rolle ausgewählt: Als alle noch vom deut-schen Wirtschaftswunder träumten, sollte Katrin Krabbe der friedli-chen Vereinigung dienen - hatte nicht auch der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem ‘deutschen Fräulein-Wunder’ (Bild) begonnen?... Im Zusammenhang mit ‘Königin Katrin’ war nichts banal genug, um nicht berichtet zu werden... So glänzt die Europameisterin Krabbe, die aus dem alten DDR-System mit Kin-der- und Jugendsportschule und muffigen Trainingshallen kommt, heute als ‘Grace Kelly’ (Bild) oder ‘Greta Garbo’ (Stern) der ge-samtdeutschen Leichtathletik...“
Doch als diese „Spiegel“-Hymne gedruckt wurde, wuchs schon Frust in manchen Köpfen über das umjubelte Mädchen aus dem Osten. Und als sie 1991 in Tokio zweifache Weltmeisterin wurde, begann er zu wuchern, auch weil sie sich dort Auskünfte geleistet hatte, die mißfielen. Der aufmerksame Schweizer Sportjournalist Carl Schönenberger, - einst selbst ein renommierter Athlet - schrieb im Züricher „Sport“: „Es hat in Japan so manchen deut-schen Journalisten gegeben, der Doppelweltmeisterin Katrin Krab-be am liebsten selbst des Dopings überführt hätte.“
Der „Westdeutschen Zeitung“ hatte sie (27.9.1991 und 7.10.1991) Antworten gegeben, die Unbehagen auslösten: „Die Quellen ihrer Leistungen lägen nicht in der Bundesrepublik Deutschland. ‘Die Er-folge, die ich heute habe, verdanke ich der DDR. Ich verdanke sie den Schulen, die ich dort besuchen konnte, und das war eine schöne Zeit für mich’, berichtet Katrin Krabbe. Schade findet sie, ‘daß bei der Vereinigung so vieles aus der DDR jetzt auf der Stre-cke bleibt’. Der letzte Auftritt für die DDR bei den Europameister-schaften 1990, bei denen sie drei Titel holte, hat für die Sprint-Königin eine besondere Bedeutung gehabt: ‘So intensiv habe ich
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noch nie der Nationalhymne zugehört. Es war unheimlich bewe-gend. Ich hatte einen Kloß im Hals, ich war ganz schön traurig.’ Ih-re Einstellung zum vereinigten Deutschland ist dagegen weniger emotional. ‘Wenn ich jetzt sage, daß ich nicht für Deutschland lau-fe, kann das falsch aufgefaßt werden. Ich formuliere das mal so: Ich bin im deutschen Team, und insofern zählen meine Punkte bei Welt- und Europameisterschaften auch für Deutschland’, erklärt Katrin Krabbe, die die bundesrepublikanische Hymne als ‘etwas Fremdes’ empfindet. ‘Ich glaube auch, daß die Generation, die im alten DDR-Leistungssystem groß geworden ist, für die deutsche Hymne nie diese Gefühle entwickeln wird, die sie bei der DDR-Hymne hatte.’ Kalt läßt sie auch das Doping-Thema, das durch zahlreiche Enthüllungen vor allem das DDR-Sportsystem in ein fragwürdiges Licht taucht. ‘Ich glaube das alles nicht’, meint Katrin Krabbe dazu.“
Es ist keine Unterstellung, wenn man vermutet, dass sie mit diesen Worten bereits das Urteil gegen sich gesprochen hatte. Derlei durf-te man damals noch denken, aber nicht sagen und schon gar nicht in Mikrofone. Der Vorsitzende des Leichtathletikvereins TV Stock-mannsmühle 1961 e.V. aus Wuppertal-Elberfeld, Glaser, schnitt die inkriminierenden Artikel aus der „WAZ“ und schickte sie mit fol-genden Zeilen an den Deutschen Leichtathletikverband: „Im Na-men meines Turnvereins und vieler meiner Freunde stelle ich den Antrag, daß Frau Katrin Krabbe von der Teilnahme an Wettbewer-ben im deutschen Nationaltrikot zumindest so lange ausgeschlos-sen wird, bis sie sich auf den Boden unseres Grundgesetzes zu-rückbegibt...“ Im DLV-Statut war keine Klausel, die solchen Schritt zugelassen hätte. Also wählte man einen anderen Weg: Am 31. Januar 1992 wurde sie wegen Dopings suspendiert. Es war ein Stümper, den man mit dieser Affäre beauftragt hatte: Die Dame, die in Südafrika ihren Urin abnahm, besaß keine Lizenz, der Transport der Flaschen geschah unversiegelt und unkontrolliert. Am 5. April hob der DLV die bereits verhängte Sperre wieder auf und gestand: Viele Formfehler. Am 28. Juni folgte der Freispruch der IAAF. Beim zweiten Anlauf ging man geschickter vor. Eine im Juli genommene Probe ergab Spuren von „Spiropent“, einem Asthmamittel. Am 22. August 1993 wurde Katrin Krabbe für zwei Jahre gesperrt, im November die Sperre auf vier Jahre verlängert.
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Katrin Krabbe verschwand von den Laufbahnen und wurde künftig weder nach der DDR gefragt, noch was sie von deren Hymne hielt. Werbeangebote blieben aus. Ankläger marschierten in Scharen auf. Zum Beispiel Dieter Baumann, der sich demonstrativ von sei-nem niederländischen Manager trennte, weil der seinem Schützling Krabbe die Treue hielt.
Katrin Krabbe ging vor Gericht. Juristen kamen schnell darauf, dass das Asthmamedikament gar nicht auf der Dopingliste gestan-den hatte. Einige erfuhren, dass Tour-de-France-Sieger Ullrich - wie übrigens 40 Prozent der führenden Leistungssportler - ein ärzt-liches Attest in der Tasche hat, dass ihm erlaubt, ständig Asthma-mittel zu nehmen. Es schien fast, als würden sich Katrin und die IAAF vor dem Bundesgerichtshof treffen. Aber die IAAF zog ihre Revision still und heimlich zurück. Nun beschloss man in Nairobi, wo nicht mit allzu viel Fragen von allzu viel Journalisten zu rechnen war, eine stattliche Summe zu zahlen und das ganze einen „Ver-gleich“ zu nennen. Das geschah acht Jahre und sechs Monate nach der Verbannung der Katrin Krabbe von der Tartanbahn. Die Nachricht lieferte keine Schlagzeilen. Sie reduzierte sich auf ein paar spärliche Zeilen, einspaltig und geronnen bei manchen gar zur Bildunterschrift.
Klaus Huhn, junge Welt 8.5.2002
Über das Staatsplanthema 14.25
...Vorwiegend gestützt auf Stasi-Dokumente und häufig subjektive Aussagen von Doping-Betroffenen, stilisierten bundesdeutsche Rechercheure als Überbau zum „flächendeckenden Doping in der DDR“ den geheimnisumwitterten „Staatsplan 14.25“, eine Direktive, die seither durch fast alle das Thema Doping behandelnde West-publikationen geistert, ohne dass irgendwo ein schriftliches Doku-ment dieses Inhalts vorgelegt wurde. Prof. Dr. Günter Erbach, 1955/56 Leiter der Abteilung Wissenschaft im Staatlichen Komitee, 1956 bis 1963 Rektor der Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig, 1965 bis 1974 Stellvertretender Vorsitzender des Staatli-chen Komitees bzw. des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport und von 1974 bis 1989 Staatssekretär, schreibt dazu in ei-nem bisher unveröffentlichten Manuskript: „14.25 ist eine Regist-riernummer für ein Forschungsvorhaben zur Untersuchung von
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Wirkungsmechanismen ausgewählter pharmakologischer Sub-stanzen, erstens, um den tatsächlichen Einfluss auf die sportliche Leistung zu erkennen und zweitens, um einen Missbrauch in der Dosierung und damit Gesundheitsschäden auszuschalten. Mit Un-tersuchungen ist 1975 begonnen worden und nicht - wie unterstellt wird - seit 1960. Zunächst erhielt der Forschungsansatz die Nr. 8, 1977 dann unter der Kurzbezeichnung ‘Unterstützende Mittel’ die Nr. 14.25, nachdem vier Sportthemen als Staatsplanthemen auf-genommen werden konnten. Es waren dies weiterhin 14.26 Stütz- und Bewegungssystem, 14.27 Gleittreibung (für Schlitten und Bobs) und 14.28 Telemetrie und Bildmessverfahren. ...Im Übrigen ist der Begriff Staatsplan nicht gleichbedeutend mit Regierungsbe-schluss, sondern eine Bezeichnung für Vorrangigkeit in der Ver-wendung des wissenschaftlichen Forschungspotentials in der DDR sowie der Bereitstellung von finanziellen Mitteln und erforderlichen Materialien. Es gab etwa 4.000 Staatsplanthemen. ... Das Staats-planthema 14.25 enthielt im zentralen Bestätigungsverfahren und seiner Leitung keine Anwendungskonzeption...“ Die Darstellung Erbachs mag von denjenigen, denen sie nicht in ihre Konzeption der Darstellung des DDR-Dopings passt, bezweifelt oder ignoriert werden. Tatsächlich jedoch besitzt die in dieser Form erstmalige Erklärung eines früheren Spitzenfunktionärs des DDR-Sports si-cherlich mehr Aussagekraft als zweifelhafte Stasi-Dokumente. Hier wird ein Ansatz dafür sichtbar, dass eine gemeinsame Kommission zur Geschichtserforschung durch Wort und Widerwort und wieder Wort der historischen Wahrheit weit mehr gedient hätte, als das Gegeneinander wechselseitiger Agitation. Daran nämlich besteht kein zusätzlicher Bedarf; es gibt schon mehr als genug. W.K.; NOK-Report 9/2002, 4.9.2002
Sport - modernste Kapitalkonzentration
Die Selbsttätigkeit des Ökonomischen hat keine Scheu mehr vor abschreckenden Wirkungen ihrer Hässlichkeit. Der nackte Kapita-lismus begibt sich nicht mal mehr an den Schminktisch, er betritt unverstellt die Bühnen des Geschäfts. Solche Schamlosigkeiten kann sich der Profit leisten. Und auch im Fußball hat besagte Nacktheit wirtschaftlicher Verwertungskraft einen Namen: Bayern München. Über den Klub heißt es: Die Eleganz habe längst aus-
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gedient, die Freude sei in den Amateurstatus zurückgestuft wor-den, der Überschwang sei ausgemerzt, der Kampf treibe das Spiel vom Feld, und das Feld gerate zum Schlachtfeld. Auf dem die Tak-tik ihre zähen, seelenlosen Siege feiere. Wer die Bayern mag, ha-be sich wohl nur abgefunden mit der Hierarchie des Finanziellen, und in der Zuneigung zum formidabelsten der Profiteure drückt sich möglicherweise ein wenig Selbstbetrug aus: Indem man den Zug der Zeit begriffen hat, stellt sich vielleicht das Gefühl ein, man säße selbst darin... In jeder Beziehung sind die Münchner die ehr-lichste Mannschaft der Bundesliga: Sie sind der erfolgreiche Ein-bruch von unaufhaltsamer Zukunft in die letzten Bastionen einer fast verzweifelten Illusion - der Illusion nämlich, der Sport sei selbst dort, wo er hoch kommerzialisiert ist, letztlich doch nicht nur Wirt-schaftszweig. Ach, wer Bayern verachtet, möchte doch nur der Wahrheit nicht in die Augen sehen: Sport ist unter den obwalten-den gesellschaftlichen Umständen eine vitale Anmaßung moderns-ter Kapitalkonzentration.
HANS-DIETER SCHÜTT; Neues Deutschland, 9.8.2002, S. 9
Vereinsrechtliche Fundierung brüchig
Freilich erweist sich die vereinsrechtliche Fundierung im Spitzen-sport vor dem Hintergrund von Kommerzialisierung und Professio-nalisierung zunehmend als brüchig. Denn in dem Maß, wie die Sportverbände Hochleistungssport als „kommerzielle Angelegen-heit“ betreiben, erfassen die zwingenden Kontrollmaßstäbe des Arbeits- und Wirtschaftsrechts das Sportgeschehen. Ihre Anwen-dung wird durch das Schutzbedürfnis der Athleten gerechtfertigt. Angesichts dieser Entwicklung erscheint das Recht des Hochleis-tungssports heute nur noch teilweise als Vereins-, überwiegend hingegen als Wirtschaftsrecht. ...Auch die Dopingbekämpfung entwickelt sich heute von der Vereinsautonomie weg: Es sind nicht zuletzt die Sportverbände, die nach einer stärkeren Beteiligung des Staates bei der Dopingbekämpfung (insbesondere bei der Finan-zierung und einer strafrechtlichen Sanktionierung) rufen. Dement-sprechend ist es auf nationaler Ebene zur Gründung der NADA, auf internationaler Ebene zur Gründung der WADA, jeweils unter starker Beteiligung des Staates bzw. der internationalen Gemein-schaft, gekommen. Zwar besteht weiterhin eine unübersehbare
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Dominanz der (internationalen) Sportverbände, jedoch haben die internationalen Sportverbände keine alleinige bzw. ausschließliche „Definitionsmacht“ für das Sportrecht. Denn bei den nationalen und mehr noch bei den internationalen Verbänden sind bei der Nor-mensetzung Legitimations- und Transparenzdefizite auszumachen. Allein die - weitgehend fiktive - Mitgliedschaft im Verein oder die vertragliche Unterwerfung unter das Sportregelwerk vermag die oft existenziellen Eingriffe in die Berufs- und Persönlichkeitsrechte der Athleten nicht ohne weiteres zu rechtfertigen.
Burkhard Heß ; Zeitschrift für Sport und Recht/SpuRT 9 (2002) 2,
Nationalsozialismus nicht rezipiert
Insbesondere in den 60er Jahren setzt die Auseinandersetzung mit dem NS-Sport (in den alten Bundesländern - Red.) ein. Ende der 80er Jahre wurde konstatiert, dass „sich der NS-Sport von einer tabuisierten Periode zu dem am besten dokumentierten Zeitab-schnitt der Sportgeschichte entwickelt“ habe (A. Krüger). Aber in-wieweit mit dem quantitativen Aspekt tatsächlich auch die heutigen erkenntnistheoretischen, methodischen und deskriptiven Stan-dards der historischen Forschung abgedeckt sind, ist die Frage. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Forschungsergebnisse der 90er Jahre in der „Mutterwissenschaft“ zum Thema Nationalsozia-lismus in der Sportgeschichtsschreibung nicht rezipiert worden sind. Das hat übrigens auch Folgen für die Diskussion des NS-Sports - etwa der Beteiligung der Protagonisten des NS-Sports im NS-Regime - in der (Sport)Öffentlichkeit... Neben der Frage nach einer auch aus erkenntnistheoretischen Bezügen resultierenden und bis in die Sportgeschichtsschreibung reichenden Verharmlo-sung des NS-Terrorregimes und seiner figurativen Ausgestaltung, dem NS-Sport, stellt sich die, inwieweit nicht das Verhangenblei-ben in - seitens der historischen Forschung - überholten „theoreti-schen Ansätzen“ in andere Forschungsbereiche hineingetragen wurde. Die aus der Entschuldigungsprogrammatik ehemaliger NS-Sportfunktionäre resultierende Legendenbildung, die in der polari-sierenden Gegenübersetzung von scheinbar „eigensinnigem“ Sport und NS-Regime liegt, fände ihre Verlängerung in anderen The-menbereichen der Sportgeschichtsschreibung.
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HUBERT DWERTMANN; dvs, Jahrestagung der Sektion Sportge-schichte 2002, Abstract
Mit Vollgas in die Pleite
Die vor zwei Jahren eröffnete ostdeutsche Rennstrecke Lausitz-ring, deren Bau wegen extrem hoher Subventionen von Beginn an auf Kritik stieß ist pleite. Sowohl die Besitz- als auch die Betreiber-firma des Euro Speedway in der Nähe von Senftenberg haben beim Amtsgericht Cottbus Insolvenz angemeldet. Da bedeutet ei-nen neuen Schlag für die Bank gesellschaft Berlin (BGB). Die Im-mobilien- und Baumanagement GmbH (IBG), eine wegen fragwür-diger Fondsgeschäfte in Verruf geratene Tochter des Bankkon-zerns, räumte gestern das vorläufige Scheitern der seit Monaten laufenden Rettungsbemühungen ein. Somit mussten die Lausitz-ring GmbH & Co KG sowie die Lausitzring Eurodrom Verwaltungs-gesellschaft, die den Rennkurs besitzen und verwalten, und der Betreiber, die Lausitzring Betriebs- und Managementgesellschaft, ihre Zahlungsunflähigkeit erklären. Als vorläufiger Verwalter wurde der Berliner Rechtsanwalt Udo Feser bestellt, Betroffen sind vier Dutzend Beschäftigte. Die Regierung unter Ministerpräsident Stol-pe hatte die Piste hatte die Piste in einem stillgelegten Braun-kohlen-Tagebau mit 123 Millionen Euro bezuschusst und damit erst möglich gemacht. Die Baukasten betrugen 174 Millionen Euro. Praktisch das gesamte wirtschaftliche Risiko für Bau und Betrieb des Lausitzrings übernahm die mehrheitlich dem Land Berlin gehö-rende BGB, nach dem die Prüffirma Dekra sich auf Grund eigener Probleme weitgehend zurückgezogen hatte. Deren früherer Chef Rolf Moll, ein einstiger Rennfahrer, hatte die Idee der Rennpiste, die zu DDR-Zeiten an Geldmangel gescheitert war, nach dem Mauerfall begeistert aufgegriffen und Warnungen in den Wind ge-schlagen, das Projekt werde nie und nimmer rentabel.
Tatsächlich fuhr der Euro Speedway, der von Stolpe und Ex-BGB-Chef Wolfgang Rupf im August 2000 eröffnet wurde, von Beginn an Verluste ein. Von den 1500 Arbeitsplätzen, die einst versprochen wurden, ist nichts zu sehen. Zwar gelang es dem Chef der Betreiberfirma, Hans-Jörg Fischer, den Rennkalender zu füllen und auch Rockkonzerte aufs Gelände zu holen. Die Piste werde „auf jeden Fall ein Erfolg“, das Risiko für den Staat sei „fast
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gleich Null“, beteuerte der Manager gerne. Doch aus dem großen Wurf mit der Veranstaltung von Formel-l-Rennen wurde nichts. Dieser Zirkus gastiert weiterhin im Westen der Republik, auf dem Nürburgring und dem zuletzt aufwändig ausgebauten Hockenheim-ring. Der ehemalige Finanzminister Baden-Württembergs, Gerhard Mayer-Vorfeder (CDU), hatte die Zuschüsse für die Rennpiste hef-tig als pure Geldverschwendung kritisiert und sogar mit Klage ge-droht. Nachdem die BGB wegen fragwürdiger Fondsgeschäfte selbst vor dem Zusammenbruch stand, wollte sie das defizitäre Engagement in der Lausitz abstoßen. Die IBG sucht seit längerem nach Käufern, die aus, den USA kommen sollten. Eine Einigung der IBG mit den Mitgesellschaftern des Rings, dem Landkreis Oberspreewald-Lausitz und der Dekra, zog sich jedoch über Mona-te hin. Schon im Frühjahr soll die Bank deshalb Darlehen fällig ge-stellt und den Druck erhöht haben. Das Land Brandenburg teilte mit, es sei bedauerlich, dass die BGB als Miteigner die weiteren Gespräche nicht abgewartet habe. Es hofft auf einen nahtlosen Weiterbetrieb. Nach Angaben des ADAC Berlin-Brandenburg wer-den zumindest die Deutschen Tourenwagen Masters (Mitte Juli) und der Truck-Grand-Prix im Oktober, stattfinden.
wüp in Frankfurter Rundschau 21.6.2002
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REZENSIONEN
Geschichte des DDR-Sports
Dieses Buch - faktisch die erste umfassende Darstellung des DDR-Sports - war schon in seiner Entstehung umstritten und wird es auch in dieser Beurteilung bleiben. Die Gründe dafür sind vor-nehmlich subjektiv. Diese Geschichte wurde von einem Sextett DDR-Wissenschaftler geschrieben, die in dem Land aufgewachsen und obendrein renommierte Historiker sind. Nach 1990 wurden sie ausgemustert, im amtlichen Sprachgebrauch „evaluiert“, was die Ausmusterung verschleiern sollte, denn evaluieren steht bekannt-lich für „schätzen, würdigen, berechnen“. In Historikertreffen, von denen man sie nicht ausschließen konnte, wurden gnadenlose Ur-teile gefällt: Nicht geeignet, nicht befähigt, nicht prädestiniert, vor allem aber nicht berechtigt, diese Geschichte zu schreiben, kurz-um: untauglich! Wer meinte, solche Treibjagd würde bald erlah-men, irrte. Erst unlängst versuchte man in Göttingen in Gegenwart des Leiters des Bundesinstituts für Sportwissenschaften - also der obersten staatlichen Behörde - noch einmal zu bekräftigen, daß diese „Kronzeugen“ nicht zugelassen werden dürfen, als läge eine päpstliche Bannbulle vor: Ab in die Hölle!
Das mag drastisch klingen, ist aber blanke Realität, und wer diese Faktoren bei der Bewertung des Buches nicht berücksichtigt, dürf-te unweigerlich Fehler begehen. Die Bundesregierung hatte 600.000 Euro als Fördermittel zur Verfügung gestellt, um die Ge-schichte des DDR-Sports „aufzuarbeiten“. Es befaßte sich damit eine Schar seriöser, angesehener Historiker und ein Haufen von „Verbrennt-sie!“-Rufern, die zum Beispiel Politbürobeschlüsse der SED kopierten und damit zu beweisen versuchten, daß jedes Fuß-ballspiel, das in der DDR angepfiffen wurde, zuvor vom zuständi-gen Parteisekretär genehmigt werden mußte. Solche „Dokumente“ zu finden, fiel nicht schwer, denn jeder, der die DDR-Verhältnisse kannte, weiß, daß sie sich extrem von denen in der Alt-BRD unter-schieden. Die Grundthese dieser hoch dotierten Forscher könnte von Wilhelm von Humboldt stammen, der 1787 an Henriette Herz
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geschrieben hatte: „Man bildet sich immer nach dem, was man liebt.“
Der Markt an sich übernahm bei dieser Arbeit die so oft beschwo-rene Rolle der Partei: Wer kein Geld hat, kann nicht publizieren! Damit schienen die Außenseiter bereits eliminiert. Wie sie es den-noch schafften, diese Geschichte erscheinen zu lassen, ist die ers-te Glanzleistung der Publikation.
Die mit den stattlichen Fördermitteln Ausgestatteten stützten sich vornehmlich auf Akten des MfS. Das erinnerte mich daran, daß man in den USA eine ziemlich umfangreiche Geheimdienstakte über den berühmten Sänger Paul Robeson gefunden hat, die auch darüber aufklärt, daß der Künstler ein exzellenter Footballspieler war, der zwar in der USA-Elite-Auswahl aufgeboten worden war, aber auf FBI-Empfehlung nie in einer Statistik auftauchte - weil er von schwarzer Hautfarbe war. So hat jeder seine Motive...
Mit den sogenannten Stasi-Akten ist das anders: Sie werden über-all verwendet, wo und wann sie nützlich erscheinen.
Die hier besprochene Geschichte des DDR-Sports verzichtete auf solche zweifelhaften „Beweise“. Die Fakten wurden in wissen-schaftlichen Archiven und bei Zeitzeugen recherchiert. So gilt als erstes festzustellen, daß nahezu ein Maximum dessen beschrie-ben wurde, was man auf 380 Seiten über 40 Jahre so turbulenter Sportgeschichte zu Papier bringen kann. Man weiß von Mitgestal-tern des DDR-Sports, daß sie vergeblich im Personenregister nach ihren Namen suchten und danach Empörung artikulierten. Tat-sächlich sind manche Kapitel sehr knapp geraten - genauer: muß-ten knapp bleiben -, obwohl die Themen es jeweils verdient hätten, ausführlicher behandelt zu werden. So blieben nur 14 magere Zei-len, um die Hilfe der DDR für die Sportbewegungen der Dritten Welt zu würdigen. Allein über dieses Thema ließe sich ein Buch schreiben, das eine Ehrentafel der zahlreichen Trainer und Funkti-onäre enthalten müßte, die oft unter schwierigsten Bedingungen Entwicklungshilfe leisteten.
Was den Weg der DDR-Sportbewegung angeht, so ist er lückenlos nachvollzogen, vom Streit in der Partei 1948 über die zukünftigen Strukturen bis hin zum kurz darauf erlassenen Befehl des sowjeti-schen Stabschefs, der Freien Deutschen Jugend (FDJ) die Ver-antwortung für die Organisation des Sports zu übertragen.
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Und was die heutzutage pausenlos strapazierte Behauptung von der Medaillenjagd der DDR-Oberen wegen des angeblich auf an-deren Gebieten nicht zu erreichenden Ansehens der zum Sozia-lismus steuernden DDR anbetrifft, ist ein Ulbricht-Zitat aus dem Jahre 1960 zu empfehlen: „Das Auftreten und die Erfolge der deutschen Mannschaften in Rom zeigen, auf welche Weise das deutsche Volk zu Achtung und Ansehen in der Welt gelangen kann... daß es für Deutschland auf dem Schlachtfeld keine Zu-kunft, keinen Ruhm und keine Ehre, sondern nur Tod und Unter-gang gibt. Die glückliche Zukunft des deutschen Volkes... sind nur zu sichern auf dem Felde der Arbeit, der Wissenschaft und der Kultur, zu der auch der Sport gehört.“ Was den Dopingkreuzzug nach 1990 betrifft, so sei aus der Geschichte auch diese Erklärung erwähnt: „Das Doping-Thema bot sich da an und die Justiz griff zu. ‘Wir wurden jahrelang von Bonner Seite daran gehindert, Nazima-terialien auszuwerten... Für die Gauck-Behörde sind plötzlich mas-senhaft finanzielle Mittel und Planstellen vorhanden’, berichtete Oberstaatsanwalt Alfred Streim, Chefermittler der Zentralstelle zur Aufklärung von Nazi-Verbrechen.“ Das Thema DDR-Doping war Bonn damals also wichtiger als die Aufklärung von Naziverbre-chen, was man aus den geförderten Publikationen nicht erfahren kann.
Fazit: Es ist ein Segen, daß diese Geschichte erscheinen konnte, geschrieben von Wissenschaftlern, die sie auch erlebt haben, es wäre schön gewesen, wenn man vier Bände statt eines Bandes hätte präsentieren können, was zugleich alle Fragen nach diesem oder jenem Thema beantwortet. Und sicher darf man sein, daß spätestens in ein oder zwei Jahrzehnten Forscher, die sich für die DDR-Sportgeschichte interessieren, nach diesem Buch greifen werden, weil man von ihm sagen wird, daß es das verläßlichste ist.
Günther Wonneberger, Helmuth Westphal, Gerhard Oehmigen, Joachim Fiebelkorn, Hans Simon, Lothar Skorning, Geschichte des DDR-Sports, Spotless-Verlag 2002
Werner Riebel
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Jubiläumsbuch 75 Jahre VDS
Sportjournalisten widersetzen sich jeder nationalistischen, chauvi-nistischen, rassistischen, religiösen und politischen Verleumdung und Ausgrenzung. (Aus der Präambel der Satzung des Verbandes Deutscher Sportjournalisten)
Der Verband Deutscher Sportjournalisten (VDS) legt zum 75. Jah-res-Tag seiner Gründung ein „Lesebuch“ vor, so jedenfalls nennt es der Verantwortliche für diese Edition, VDS-Ehrenpräsident Karl-Heinz Cammann, und verspricht, daß „das Historische weder in Beiträgen noch in einer umfassenden, wenngleich für manchen Altgedienten vielleicht nicht ausreichenden Chronik außer acht ge-lassen wurde“. Diese Einschränkung macht mißtrauisch. Wir müs-sen darauf zurückkommen.
Ein „Lesebuch“ aber ist es und ein interessantes dazu. Sportjour-nalisten schreiben über ihren Beruf, seine Geschichte, seine Wandlungen, seine Gegenwart und versuchen, auch seine Zukunft zu ergründen. „Es fällt immer schwerer, den Sportjournalisten-Nachwuchs für Themen zu interessieren, die nichts mit Fußball oder Formel eins zu tun haben. Junge Kollegen, selbsternannte Spezialisten der Spaßgesellschaft wählen in zunehmenden Maße den einfachen Weg...“, schreibt der Sportchef der „Süddeutschen Zeitung“, Michael Gernand. „Zeitgeist höhlt das Fundament des Fairplay, provoziert Verstöße gegen das Berufsethos“, über-schreibt Hans-Reinhard Scheu, Reporter der ARD, seinen Beitrag und zählt solche Verstöße in beklemmender Deutlichkeit auf, nennt u.a. „Falschaussagen, Fehldarstellung und Manipulation“, „Effekt-hascherei auf Kosten Dritter“, „Populismus und Chauvinismus“. Der Glanz vergangener Entwicklungen und journalistischer Taten, im Buch zum Teil eindrucksvoll geschildert, verblaßt wohl doch an-gesichts düsterer Zustandsbeschreibungen und Prognosen.
Die kritische Sicht auf Gegenwart und eigenes Tun also kommt nicht zu kurz. Und wie steht es mit dem Blick auf die Geschichte des Verbandes? Cammann, der oben zitierte Satz aus seinem Vorwort läßt einen anderen Schluß kaum zu, hat wohl gewußt, daß hier viel verschwiegen und, schlimmer noch, gefälscht wird, auch
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wenn er seinem Kollegen Alexander Rost die Mahnung gestattet: „...verloren geht Stück für Stück, was unverzichtbar ist: das Be-wußtsein für die eigene Geschichte...“ Die in das Buch aufgenom-mene Chronik, auf 25 Druckseiten ausgebreitet, beginnt mit dem 23. Mai 1886 („dieser Tag gilt als die Geburt des Sportjournalismus in Deutschland“) und endet mit dem 22. April 2002, dem Tag, an dem der Verband sein 75jähriges Jubiläum feierte. Der gewiß auch für den Sportjournalismus nicht ereignislosen Zeit der Naziherr-schaft sind dabei ganze 23 Zeilen gewidmet: Dem Jahr 1934, in dem der VDS vom Nazi-Reichsverband der Deutschen Presse vereinnahmt wurde, und dem Jahr 1936, in dem anläßlich der Olympischen Spiele in Berlin dort ein Kongreß der internationalen Organisation der Sportjournalisten (AIPS) durchgeführt wurde.
So wie die Sportorganisationen und -leitungen der BRD es ver-säumten, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen und beispielsweise die altgedienten faschistischen Sportführer wie Halt, Diem und von Mengden freudig in ihre Dienste nahmen, so verfuhr auch der VDS und versäumt es bis heute, sich mit diesem Teil seiner Geschichte zu befassen. Der (West)Berliner Sportjour-nalist Günter Weise, Ehrenpräsident des VDS, schreibt über den Fußball-Journalisten Ernst Werner, der von 1957 bis 1961 Präsi-dent des Verbandes war und danach zum Ehrenmitglied gewählt wurde: „Dieses Amt trug er mit der ihm eigenen Toleranz fünf Jah-re.“ Solcher Umgang mit der Geschichte empörte den Sporthistori-ker Erik Eggers, der in einem Leserbrief an die Redaktion des Ver-bandsorgans SPORTJournalist nachwies, daß Werner schon 1927, lange vor der Machteroberung der Nazis, als übler Rassist und Antisemit in Erscheinung trat. Weise muß das nicht unbedingt gewußt haben, aber sollte er, als gern über Geschichte und Ge-schichtchen des Sports schreibender Fußballjournalist, der doch die Berliner „Fußball-Woche“ sicher schon vor 1945 las, nicht wis-sen, daß E.W. (unter diesem Kürzel schrieb der Mann) ein eifriger Parteigänger seines „Führers“ war, dem er in dieser Zeitung immer wieder einmal höchst unterwürfig huldigte? Und wußte das keines der Verbandsmitglieder, die Werner 1957 wählten und 1961 Ehre erwiesen? E.W. war ein ausgezeichneter Fußballjournalist. Er konnte ein Spiel „lesen“ und anschaulich beschreiben. Aber durfte man ihm deswegen solch ein Amt anvertrauen? Tat man es guten
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Gewissens oder folgte man einfach einer Praxis, die im eigenen Staate längst Wirklichkeit geworden war? Wer sich so seiner eige-nen Vergangenheit stellt, wird sich zu einer ihm fremden nicht ehr-licher verhalten, schon gar nicht, wenn er in dem Bewußtsein lebt, zu den Siegern der Geschichte zu gehören und damit auch die Deutungshoheit über die Geschichte der Besiegten zu besitzen.
Der VDS zählt seit 1990 eine bedeutende Zahl Mitglieder, die er aus dem Bestand des DDR-Sportjournalistenverbandes übernahm, darunter nicht wenige renommierte, die über viele Jahre und Jahr-zehnte hinweg berufliche Meisterschaft bewiesen hatten. Cam-mann jedoch suchte sich einen früheren DDR-Journalisten als „Zeitzeugen“, der bis 1990 ganze vier Jahre in seinem Beruf tätig war. Winfried Wächter von der „Leipziger Volkszeitung“ wußte, was von ihm erwartet wurde. So schreibt er: „Dem alten Sportsys-tem (der DDR, Anm. d. Verf.) mit seinen Auswüchsen weinte nie-mand eine Träne nach.“ Das sahen zum Beispiel damals Daume und später auch Digel ganz anders. Ganz abgesehen von den nicht gezählten DDR-Sportlern, die im Frühjahr 1990 für den Erhalt ihrer Sportorganisation auf die Straße gingen. Wächter berichtet auch über die „Regeln“, denen die Sportjournalisten in der DDR unterworfen waren: „Sie bestanden für uns... im wesentlichen da-rin, die Erfolge der DDR-Sportler zu feiern... entsprechend gleich-förmig sahen die Sportseiten in den Tageszeitungen aus.“ Auf sol-che Deutung muß man erst einmal kommen. Aber wenigstens, Wächter sei Dank, weiß man nun, warum die Sportseiten jetzt oft so reißerisch aufgemacht sind.
Ganz nebenbei wäre zu den Regeln, denen Journalisten unterwor-fen sind, noch eine kleine Bemerkung zu machen. In der Bundes-republik lebte ein fähiger Sportjournalist namens Karl Seeger, der sich große Verdienste auch um die Verbandsarbeit erwarb. So ge-noß er 27 Jahre lang als Schatzmeister das Vertrauen der Mitglie-der (diese Funktion hatte er auch zeitweise im europäischen Sport-journalisten-Verband, UEPS, inne), erwarb sich große Verdienste um die Zusammenarbeit mit den DDR-Kollegen (er organisierte gemeinsam mit dem damaligen VDS-Präsidenten Cammann und dem Präsidenten der DDR-Vereinigung, Dr. Klaus Huhn, zwei Tref-fen beider Verbandsleitungen) und redigierte 24 Jahre lang das damalige Mitteilungsblatt des VDS, den Vorgänger des heutigen
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Verbandsorgans. Der genannten Chronik ist zu entnehmen, daß Seeger seiner Funktion als Redakteur enthoben wurde, weil er sich nicht an die Regeln hielt. In der Chronik heißt es, „...wegen völlig einseitiger Darstellung und Kommentierung sportpolitischer Vor-gänge in der Bundesrepublik.“ Seeger hatte sich mit Vehemenz für die Teilnahme der BRD-Sportler an den Olympischen Spielen in Moskau eingesetzt. Seine Kollegen dankten ihm seinen Einsatz für ihren Verband und ihre Interessen auf ihre Weise. Sein Hinweis auf die so gern beschworene Meinungsfreiheit blieb ungehört. Wir erwähnten die internationale Organisation der Sportjournalisten AIPS und ihre europäische Unterabteilung UEPS. Letztere wird im „Lesebuch“ stiefmütterlich behandelt. Das hat seinen Grund. Im Präsidium dieser Organisation war 15 Jahre lang ein Sportjourna-list der DDR aktiv, vier Jahre davon als Vizepräsident. Für seine Verdienste wurde er bei seinem Rücktritt Mitte der neunziger Jahre mit einem Pokal geehrt und 2002 zum Ehrenmitglied ernannt. Sei-ne Aktivitäten haben demnach im internationalen Kollegenkreis große Anerkennung gefunden. Doch während die Wahl verdienter BRD-Kollegen in die Leitungsgremien der internationalen Verbän-de akribisch aufgezählt wird, bleiben seine Aktivitäten unerwähnt. Im Gegenteil, es wird auch noch versucht, ihn zu diskreditieren. In der Chronik wird unter dem Datum des 11.-16. Mai 1989 mitgeteilt: „Dr. Klaus Huhn (Ost-Berlin) erhält kein Vorstandsamt.“ Das konn-te Klaus Huhn auch nicht. Er hatte sich um solch ein Amt nicht be-worben. Wenn es um durchgefallene Kandidaten des VDS geht, ist man weniger mitteilsam. Auf dem AIPS-Kongreß 1962 in Madrid beispielsweise geschah das dem Delegierten des VDS. Damals übrigens ging der Vertreter des DDR-Verbandes mit seinem BRD-Kollegen toleranter um. Auf dessen Bitte sprach er auf dem Kon-greß nicht gegen diese Kandidatur.
Nach dem Lesen des „Lesebuches“ bleibt die bittere Erkenntnis, daß auch im VDS mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn es um die „Aufarbeitung der deutschen Geschichte“ geht. Der Soziologe Wolfgang Engler stellte fest, daß unsere Sprache nicht mehr als Mittel der Verständigung dient, sondern als Mittel der Distanzie-rung. VDS-Verbandspräsident Erich Laaser überschreibt seinen Beitrag mit den Worten: „Kommunikation statt Konfrontation“. Sein Wort in Gottes Ohr.
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Jubiläumsbuch 75 Jahre VDS; Karl-Heinz Camman
Joachim Fiebelkorn
Zeittafel Versehrtensport der DDR
Der Autor dieser beeindruckenden Zeittafel ist Zeitzeuge im Wort-sinne. Er hat die Entwicklung des Sports der Versehrten in der DDR als körperbehinderter Athlet und als Sportfunktionär von der ersten Stunde an miterlebt und mitgestaltet. Er war aktiver Leicht-athlet, nahm an vielen Wettkämpfen in Ost und West teil und ist selbst Weltspielsieger. Er war Gründungsmitglied der Zentralen Sektion Versehrtensport der DDR am 11.7.1953 in Leipzig, leitete die Fachkommission Leichtathletik der Sektion und des 1959 ge-gründeten Deutschen Verbandes für Versehrtensport (DVfV) von 1955 bis 1974 und gehörte dem Präsidium des DVfV an. Von 1959 bis 1991 - mehr als dreißig Jahre - war er Vorsitzender des Be-zirksfachausschusses Dresden und gründete 1969 in Dresden die erste eigenständige Sportgemeinschaft ohne Trägerbetrieb.
Die insgesamt 176 Textseiten umfassen mehr als 2000 Ereignisse, vom 1.11.1945, als körperbehinderte Schwerkriegsbeschädigte in Leipzig mit dem regelmäßigen Üben im Schwimmen begannen, bis zum 1.12.1990, als der Präsident des DVfV die Auflösung des Verbandes bekannt gab. Sie zeichnet das Wirken eines Verbandes im Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) nach, der sich von der Erkenntnis leiten ließ, „daß physische Leistungsfähigkeit sich nicht speichern läßt, ...immer wieder neu erworben werden muß, soll Bewegungsmangel sich nicht nachteilig auf Gesundheit und Wohl-befinden auswirken“. Dieses umfassende Kompendium erweist sich als ein überzeugender Beleg für die Vielfalt des Versehrten-sports im Osten und seine ständig erweiterten Angebote, für die breite Kinder- und Jugendsportbewegung, für das Bemühen, re-gelmäßiges Üben und Trainieren zu ermöglichen und dazu die notwendige fachkundige Begleitung durch Trainer und Übungslei-ter, Betreuer, Helfer und Organisatoren, Schieds- und Kampfrichter zu gewährleisten. Und diese Zeittafel gibt Auskunft über die Akti-ven im Breiten-, Wettkampf- und Leistungssport, die der ersten, der 40er und 50er Jahre, des schweren Anfangs, und die der letz-ten, der 80er Jahre. Und sie nennt viele, viele der großartigen Leis-tungen, die immer wieder Respekt abnötigen. Nachvollziehbar
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werden die vielfältigen gemeinsamen Bemühungen von Ost und West um die Entwicklung des Sports der Versehrten und Behinder-ten bis hin zur Bildung gemeinsamer deutscher Mannschaften, zum Beispiel für die VII. Internationalen Gehörlosen-Weltspiele 1953 in Brüssel oder den Abschluß einer „Gesamtdeutschen Ver-einbarung“ zwischen den Vertretern der Zentralen Sektion Ver-sehrtensport der DDR und des Allgemeinen Deutschen Versehr-tensportverbandes der BRD 1955 in Leipzig, aber auch die Kon-frontationspolitik Adenauers und den „alltäglichen Grabenkrieg ... um jede Sportveranstaltung, bei der ein DDR-Team auftreten woll-te“ (Kilian), auch im Sport der Versehrten und Behinderten. Bei-spielsweise - das ist ebenfalls dieser Zeittafel zu entnehmen - ver-weigerten die dänischen Behörden 1962 der DDR-Mannschaft die Einreise zu den Weltmeisterschaften im Mannschaftsschach für Gehörlose, infolgedessen sah sich die internationale Föderation (ICSC) nach erfolglosen Verhandlungen gezwungen, die Vorberei-tungen zu diesen Weltmeisterschaften abzubrechen. Schon allein dieses Beispiel offenbart und belegt wie viele andere, daß die Ent-wicklung des Sports in der DDR weder von ihrem Ende her noch unabhängig von den Entwicklungsbedingungen, vor allem auch von den internationalen Entwicklungen, wie der Entstehung und dem Wirken der internationalen Föderationen, gesehen, analysiert und dargestellt werden kann. Das ist sicher in keinem anderen Sportverband - aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen im Sport der Hör- und Sehgeschädigten, der Körperbehinderten und Querschnittsgelähmten oder der geistig Behinderten beziehungs-weise der Entwicklung einzelner Sportarten - so offensichtlich. Auch wenn eine chronologische Darstellung von Geschichte ihre Grenzen hat, ist Hermann Dörwald und allen, die ihm halfen, zu danken. Die Fülle der Ereignisse und realisierten Vorhaben erin-nert an das außerordentliche Engagement, an Gelungenes, an Möglichkeiten und Chancen, ohne weniger Gelungenes oder Kriti-sches auszusparen.
Zeittafel Versehrtensport der DDR, Hermann Dörwald
Margot Budzisch
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Drüben
Das Buch mit dem Sechsbuchstabentitel aus dem renommierten Deutschen Taschenbuch Verlag ist schon einige Zeit auf dem Markt. Autor Maus - Peter sorgte für die Fotos - befragte zu ver-schiedenen Themen Deutsche aus West und Ost. Viel Neues ver-mittelt die Lektüre an sich nicht. Vornehmlich waren die Deut-schen-Ost unterdrückt, die Deutschen-West frei. Das Eingangska-pitel „Laufen“ ist eine extreme Ausnahme, weil beide Befragten landesweit bekannte Persönlichkeiten sind, sozusagen „kontrollier-bar“ in ihren Auskünften. Dem zum Sport weisenden Stichwort folgt die Zeile „Wir gaben immer unser Bestes - Die letzte gemeinsame deutsch-deutsche Olympiamannschaft“ und die Namen der beiden Athletinnen: Christine Nestler und Rita Czech-Blasel. Der Autor mag selbst gespürt haben, daß ihm mit diesem Duo ein besonde-rer Wurf gelungen ist, deshalb rückte er es an die Spitze.
Beide Skilangläuferinnen redeten frei von der Leber weg, und man wünschte sich trotz ihrer extrem unterschiedlichen Ansichten, daß sie je einem emsigen „Aufarbeiter“ der deutschen Sportgeschichte über den Weg gelaufen wären.
Der Rezensent kommt in diesem Fall nicht umhin, großzügig mit Zitaten umzugehen, weil es mehr Zeilen kosten würde, sie zu ana-lysieren, als sie wiederzugeben.
Nestler: „‘Die Westdeutschen’, schoß es mir durch den Kopf, als ich Rita Czech-Blasel sah, ‘sind doch was Besseres als wir’. Sie war elegant gekleidet und wirkte selbstbewußt, während ich nichts anderes vorzuweisen hatte als mein Leistungsvermögen... Die Schule hatte mich gelehrt, daß es zwei deutsche Staaten gibt... Ich war neunzehn Jahre alt, eine junge, vom Sozialismus überzeugte DDR-Bürgerin und hatte allen Grund, stolz zu sein. Doch wie sehr litt ich unter Minderwertigkeitskomplexen... Bin ich Kommunistin? Ich identifizierte mich mit dem politischen System und den herr-schenden Verhältnissen in der DDR. Ich glaubte an die DDR und den Sozialismus. Ich war überzeugt, der Sozialismus ist eine Alter-native zum Kapitalismus. Ich war der Meinung, daß in der DDR ein menschenwürdigeres Dasein möglich ist als in der BRD, auch wenn sich ab 1960 die ökonomische Situation ständig verschlech-terte. Planwirtschaft versus Sozialismus: Nur weil das eine man-
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gelhaft war, mußte ich das andere doch nicht verurteilen?... Ich stamme aus der Arbeiterklasse. Das klingt schön, klang es auch damals in der DDR. Mein Vater war in einer Strumpffirma beschäf-tigt, arbeitete viel und verdiente wenig. Wen wundert es, daß wir ein positives und besonders anfangs mit vielen Hoffnungen ver-bundenes Verhältnis zur DDR hatten? Wir waren froh, in einem Staat zu leben, der versprach, für alle Menschen etwas zu tun, nicht nur für die Reichen... Skilanglauf war mein Lebensinhalt. Der Staat gab mir die Möglichkeit, zu zeigen, was in mir steckte. Und mit guten Leistungen wollte ich dem Staat etwas zurückgeben, der es mir ermöglichte, meine Leidenschaft zum Beruf zu machen... Damals wurden die Sieger auch in der DDR noch ‘Deutsche Meis-ter’ genannt. Nach der Wiedervereinigung aber passierte eine himmelschreiende Ungerechtigkeit: In den gesamtdeutschen Sta-tistiken werden die DDR-Meister nicht mehr aufgeführt. Genannt wird die BRD-Meisterin, über Jahre Rita Czech-Blasel, während ich als DDR-Meisterin in keiner Chronik auftauche. Ich traf sie zum ersten Mal 1959 bei einem Damen-Skirennen im schweizerischen Grindelwald... Wir wechselten kein Wort miteinander... Eine der ersten Auslandsreisen führte mich in ein Trainingslager nach Finn-land. Dort beobachtete ich eine Reinemachefrau, die versteckt auf der Außentreppe eines Hauses saß und ihr Mittagessen zu sich nahm. Bei ihrem Anblick dachte ich: So etwas gibt es bei uns nicht! Bei uns säße die Reinigungskraft mit in der Kantine oder Gaststät-te. Das war etwas, das mir äußerst mißfiel. Natürlich wurde uns permanent eingehämmert: Drüben sitzt der Klassenfeind, der alles unternimmt, um die Entwicklung der DDR zu hemmen! Doch un-abhängig von der Propaganda konnte ich mir jetzt ein eigenes Bild von den ‘gelobten Ländern’ machen. Aber der ‘Kampf der Syste-me’, besser zu sein als die Mädchen aus dem Westen, motivierte mich nicht. Mein Hauptantrieb für den Wettkampfsport war, neben der sportlichen Seite, die Neugier, ich wollte andere Menschen kennenlernen... Fünfjahrespläne, wie in der Produktion, gab es für uns Läuferinnen nicht. Aber wir hatten einen jährlichen Leistungs-auftrag. Das waren keine Phantasienormen, um etwa die Partei zu-friedenzustellen, sondern reale Leistungsansprüche. Unter die bes-ten sechs der Weit zu laufen, das war mein Ziel... Für mich war das Gesellschaftssystem der DDR ein ‘Glücksfall’, zumal in der
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Zeit, als ich zum jugendlichen und Erwachsenen heranreifte. Unter kapitalistischen Bedingungen hätte ich sicherlich nicht die gleiche Entwicklung genommen. Angesichts meiner persönlichen Lebens-situation lag mir in den sechziger und siebziger Jahren sicherlich nichts ferner, als Gedanken an eine deutsch-deutsche Vereinigung zu verschwenden... 1972 wurde ich Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. ‘Wenn du nicht selber in der Partei bist’, sagte ich mir, ‘dann kannst du auch nicht verlangen, daß ein, junger Sportler für diesen Staat eine gute Leistung erzielt.’ - ‘Was willst du denn’, hätten die mir geantwortet, ‘du bekennst dich ja selber nicht!’... Alles, was ich in meinem Leben tat, geschah freiwil-lig und aus Überzeugung. Vielleicht klingt das heute seltsam ge-schwollen, doch es stimmt nach wie vor für mich... Um so ent-täuschter bin ich heute. Dabei stoße ich mich nicht so sehr am ‘sü-ßen Leben der Genossen’ in Wandlitz, das mit großem Brimborium nach der Wende aufgedeckt wurde. Wenn ich die Häuser betrach-te, denke ich: Das bißchen Wandlitz - so skandalös luxuriös haben unsere Parteiherrschaften nun auch wieder nicht gelebt... Nein, nicht die Privilegien haben die SED diskreditiert, sondern die Tat-sache, daß sie die gesellschaftlichen und ökonomischen Probleme überhaupt nicht anging, während sie uns weismachte, alles ent-wickle sich beständig zum Besseren. Daß sie leugnete, verfälschte und schönte. Drei Pfund Brot kosteten nur achtundsiebzig Pfenni-ge, Brötchen keine fünf, und Miete für eine Wohnung selten mehr als fünfzig Mark monatlich, die dann von etlichen nicht einmal be-zahlt wurde. All diese staatlichen Wohltaten sollten die soziale Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem unbarmherzigen, ausbeuterischen Kapitalismus untermauern, führten aber ohne Umweg in den wirtschaftlichen Selbstmord. Und das bei klarem Verstand!...
Rita Czech-Blasls Aussage: „Sonne und Kälte. Schneekristalle wir-belten in der Luft, in denen sich das Sonnenlicht brach. Meine Au-gen brannten und tränten. Ich mußte höllisch aufpassen... Noch lag eine steile Anhöhe vor mir. Dahinter wartete Renate Dannhau-er, die als Schlußläuferin unserer Staffel ins Ziel sollte. Ich rang mit der zweiten finnischen Läuferin um den dritten Platz, die hinter mir herangeflogen kam. Ich lief nicht, ich stampfte den Hügel hinauf, meine Lungen schmerzten. Oben auf der Anhöhe hatte ich den
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Zweikampf verloren. Renate Dannhauer konnte nicht mehr aufho-len und erreichte nach ihr das Ziel. Die deutsche Skilanglauf-Damenstaffel als Vierte bei einer Olympiade, der Winterolympiade 1964 in Innsbruck, das war eine Sensation. Im Zielraum drang eine Stimme an mein Ohr. Ich drehte mich um. Manfred Ewald, der oberste DDR-Funktionär, raunzte hämisch. ‘Na Mädchen, biste schlecht gelaufen?’ war sein einziger Kommentar. ‘Blödmann’, hämmerte es in meinem Hirn. Wer war nur auf diese bekloppte Idee gekommen? Eine ‘gesamtdeutsche Mannschaft’! Die Kom-munisten zogen eine Mauer hoch, bauten Deutschland endgültig in zwei Hälften, aber wir Sportler sollten immer noch Friede, Freude, Eierkuchen spielen, uns an den Händen fassen, patriotisch die Brust rausstrecken und Freudentränen abdrücken, ‘wie schön es doch ist, für Deutschland zu starten’. So etwas konnten sich nur Verbandsfunktionäre ausgedacht haben. Was waren wir denn noch für eine Nation? Eine verkrüppelte! Das sah man schon an der Fahne. Die DDR-Sportler wollten natürlich unter Hammer und Sichel einmarschieren, unsere unter nacktem Schwarz-Rot-Gold, als Kompromiß setzte man die olympischen Ringe auf die Flagge...
Ich sollte darüber hinwegsehen, daß Menschen in der DDR ver-folgt, unterdrückt und gefoltert wurden? Nein, sagte ich mir, das Spiel spielst du nicht mit. Wundert es da, daß die ach so propa-gierte gesamtdeutsche Mannschaft auch 1964 in Innsbruck eine Schimäre blieb? (Und Gott sei Dank die letzte gemeinsame war.) Ich wechselte nur wenige Worte mit meinen DDR-Staffelkolleginnen Renate Dannhauer und Christine Nestler. Wenn wir uns trafen, dann nur auf der Piste... Ich hatte nichts gegen die Mädchen, aber ich hatte etwas gegen das kommunistische Sys-tem, und die Mädchen waren ein Teil davon. Wahrscheinlich wäre auch ich ein Teil des Systems gewesen, wenn ich in der DDR ge-lebt hätte... Noch aus einem weiteren Grund legte ich keinen Wert auf Kontakt zu den Mädchen. Überall wimmelte es in Innsbruck von sogenannten Polittruks - eine russische Abkürzung für ‘politi-sche Wachhunde’. In jeder Annäherung, jedem Wortwechsel zwi-schen Ost und West witterten diese Menschen Landesverrat. Ich sagte mir: Schweig lieber, sonst bringst du die DDR-Mädchen in Schwierigkeiten. Sie sind ja keine Zivilistinnen, sondern Armeean-gehörige und stehen als ‘Staatsamateure’ auf der Gehaltsliste der
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Partei. Ich war das glatte Gegenteil: ein freier Mensch und nie-mandem zu Dank oder Gehorsam verpflichtet, außer meinem Mann und Trainer Hans Czech... Menschen, die sagen, der Kom-munismus sei gar nicht so schlimm gewesen, verschließen die Au-gen vor der Wirklichkeit. In Wahrheit ist er verabscheuenswürdig. Der Mauerbau erzeugte in mir eine ohnmächtige Wut. Ich fragte mich, warum Menschen das mit sich machen ließen? Warum wehrten sie sich nicht? Und fast gegen meinen Willen drängte sich mir das Sprichwort auf: ‘Jedes Volk hat die Regierung, die es ver-dient.’ Ich konnte einfach kein Mitleid aufbringen für die Menschen in der DDR... Einmal, es muß zwei oder drei Jahre nach dem Mau-erbau gewesen sein, war ich gezwungen, zu einem Wettkampf in der Tschechoslowakei durch die DDR zu reisen. In Dresden mußte ich umsteigen. Der Geruch auf dem Bahnhof war ein Schock, es stank nach Desinfektionsmitteln. Wieder zu Hause, erzählte ich Freunden davon. ‘Nein’, antworteten diese, ‘nicht die Bahnhöfe, die ganze DDR stinkt nach Desinfektionsmitteln. Und es ist dreckig.’... Manchmal erwache ich mit ketzerischen Gedanken. Dann geht mir durch den Kopf: Ich hasse diesen tödlichen Wohlstand, hasse das Profitstreben. Beides hat zu einer Verrohung unserer Gesellschaft geführt, deren Fortschreiten zu beobachten ich über zwanzig Jahre das traurige Vergnügen hatte, seit ich als Sportlehrerin 1966 in den Schuldienst trat...“
Angesichts dieser Auskünfte bedauert man, daß danach Kapitel um Kapitel dürftiger und vor allem schablonierter wird. Man hat den Eindruck, die meisten der anderen Befragten antworteten, was man von ihnen erwartete. Die beiden Skilangläuferinnen, denen in Innsbruck 63,48 s gefehlt, hatten, um zu einer Medaille zu gelan-gen, lieferten mit ihren Antworten „Wiedervereinigung pur“. Das Bild hat scharfe Konturen und wenn die „Vereinigung“ je verwirk-licht werden soll, wird es nur die Beschreibung solcher Realitäten möglich machen. Das Buch sollte schon wegen dieses einen Kapi-tels zur Pflichtliteratur für Historiker erklärt werden. Zumindest für die, die an der Front der „Aufarbeitung“ tätig sind.
Drüben; Andreas Maus/Burkhard Peter, Deutscher Taschenbuch-Verlag 1999
Klaus Huhn
GEDENKEN
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Herbert Vollstädt
(4. August 1920 - 16. Juni 2002)
Herbert Vollstädt, lange Jahre Vorsitzender der Zentralen Revisi-onskommission des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), starb am 16. Juni diesen Jahres infolge eines Herzinfarkts. In Dresden geboren, lernte er Armut und Not kennen. Der Vater war früh verstorben und seine oft arbeitslose Mutter hatte es nicht leicht. Dennoch ermöglichte sie ihm eine solide Schul- und Berufs-ausbildung. Er erlernte den Beruf eines kaufmännischen Angestell-ten. Zur Wehrmacht eingezogen erlebte er die Schrecken des fa-schistischen Raubkrieges als Sanitätssoldat. Nach der Rückkehr aus dem Krieg engagierte er sich in der FDJ und danach im Sport. Gemeinsam mit Gleichgesinnten gründete Herbert Vollstädt die erste Sportgruppe in Genthin. Bald übernahm er Funktionen im Deutschen Sportausschuß (DS) und später im DTSB. Beim 1970 stattgefundenen Turn- und Sporttag wurde er das erste Mal zum Vorsitzenden der Revisionskommission des DTSB gewählt. Deren Aufgabe bestand vor allem darin die sparsame und effektive Ver-wendung der finanziellen Mittel zu kontrollieren. Seine Sachkompe-tenz und das enge freundschaftliche Zusammenwirken mit den Revisionskommissionen der verschiedenen Sportverbände und denen in den Bezirksvorständen des DTSB ermöglichten eine er-folgreiche Arbeit. Erst 1987 schied er aus Altersgründen aus. Selbstverständlich blieb er dem Sport weiter treu, als ehrenamtli-cher Vorsitzender der Sportgemeinschaft „Einheit Berlin-Köpenick“. Dort half er vor allem, den Breitensport zu fördern und möglichst viele Kinder und Jugendliche für eine regelmäßige sportliche Tä-tigkeit zu interessieren. Sein unermüdliches Wirken dafür, daß alle regelmäßig ihren Sport - fachmännisch beraten und ärztlich um-sorgt - betreiben können, niemand ausgegrenzt wird, bleibt unver-gessen.
Erhard Richter
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Heinz Seiler
(23. April 1920 - 15 September 2002)
Mit Heinz Seiler starb eine der verdienstvollsten Persönlichkeiten des DDR-Handballsports. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrie-ges und seiner Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft spielte Heinz Seiler zunächst bei der BSG Motor Fraureuth. Er wurde in die Thüringer Landesauswahl berufen und gehörte von 1950 bis 1952 der DDR-Nationalmannschaft an. 1953 wurde er zum Trainer der Nationalmannschaft berufen. Er qualifizierte sich - wie viele seiner Generation - im Fernstudium für diese Tätigkeit. Das tat er an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig und verließ sie als Diplom-Sportlehrer. Während seiner Tä-tigkeit als Trainer der Nationalmannschaft, errang er 1959 mit einer gesamtdeutschen Mannschaft den Weltmeister-Titel im Feldhand-ball, 1963 mit der DDR-Nationalmannschaft den Titel im Hallen-handball und WM-Silbermedaillen 1966 im Feldhandball sowie 1970 und 1974 im Hallenhandball. 1976 löste ihn einer der Spieler aus der Weltmeistermannschaft von 1963 im Amt des National-mannschafts-Trainers, nämlich Paul Tiedemann, ab und Heinz Sei-ler wurde zum Cheftrainer des Deutschen Handball-Verbandes be-rufen. Damit war er nun für die Entwicklung des Handballsports insgesamt, der Männer und Frauen, des männlichen und des weib-lichen Nachwuchses verantwortlich und trug in dieser Funktion maßgeblich zur erfolgreichen Nachwuchs- und Leistungsentwick-lung im Handballsport der DDR bei. 1975 war er - aufgrund seiner Leistungsfähigkeit und Kompetenz und insbesondere seines Ver-ständnisses für die Komplexität sportlicher Leistungsentwicklung - bereits Mitglied des Rates der Internationalen Handball-Föderation (IHF) geworden, in der er von 1980 bis 1988 als Präsident der Entwicklungskommission vorstand. Vor allem aber das im Hand-ballsport der DDR Erreichte wäre ohne Heinz Seiler, sein Können aber auch seine Gradlinigkeit und Konsequenz undenkbar. Lange traf man ihn noch in der Runde der „Veteranen“ zusammen, darun-ter das Fußballidol Gödicke und anderen Mitbegründern des DDR-
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Sports. In dieser Runde nannte man ihn „Gentleman“, sein Auftre-ten war immer von Seriösität geprägt.
Hans Pechmann
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 16 / 2003
INHALT
4 Editorial: Frieden und Foulspiel
Auszug aus der Unterzeichnerliste des Friedensappells
6 Gunhild Hoffmeister an das ND
8 Gustav-Adolf Schur an das ND
DOKUMENTATION / DISKUSSION
11 Über olympische „Aktivitäten“ altbundesdeutscher Diplomaten
Klaus Huhn
16 Olympiadebatte im Deutschen Reichstag 1914
Dokumentation
21 Wer war Doug Gilbert?
Heinz Schliffke
29 III. Arbeiter-Olympiade Antwerpen 1937
Klaus Huhn
32 Das Fest in Dortmund
Dokumentation
36 Dialog zum DDR-Sport im Internet
Horst Röder
47 Die „Rettung“ eines Instituts
Sebastian Drost
52 Gedanken zur Kritik an der „Geschichte des DDR-Sports“
Helmut Westphal
57 Diskussion zur „Geschichte des DDR-Sports“
Hans Simon
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JAHRESTAGE
64 Gründung der Sektion Versehrtensport der DDR vor 50 Jahren
Hermann Dörwald
71 40 Jahre Berliner TSC
Wolfgang Helfritsch
ZITATE
76 Leipzig gewann deutschen Vorlauf
Olympischer Frieden
Springsteins Erfolg
Sportmedizin der DDR als Präventivmedizin
Tunnelblick auf das Thema Doping
Die Thematik Nationalsozialismus und historische For-
schung
Springen verkommt
„Putzi“ und die Vierschanzentournee
Gescheiterter Dopingprozeß
Westberlin adé!
REZENSIONEN
88 1927-2002, Jubiläumsbuch. 75 Jahre VDS
Joachim Fiebelkorn
90 Reiner Buhl et al.: Kanusport in der DDR (Teil 1)
Thomas Bruhn
92 Gerd Falkner: Chronik des Skisports der DDR
Jan Knapp
93 Kurt Franke: Chirurg am linken Ufer der Panke
Margot Budzisch
95 Peter Thomas: Botschafter des Amateur-Box-Sports auf fünf
Kontinenten
Karl-Heinz Wehr
97 Helmut Lenz: Pferdesport bei den olympischen Spielen
Peter Fischer
GEDENKEN
99 Manfred Ewald
Klaus Huhn
101 Manfred von Brauchitsch
Knut Holm
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DIE AUTOREN
THOMAS BRUHN, geboren 1952, Weltmeister im Kanu-Marathon.
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theorie der Körperkultur an der Humboldt-Universität Berlin 1977 bis 1994.
HERMANN DÖRWALD, geboren 1925, Vorsitzender des Bezirks-fachausschusses (BFA) Versehrtensport Dresden 1957 bis 1990, Lei-ter der Fachkommission Leichtathletik im Deutschen Versehrtensport-Verband (DVfV) 1955 bis 1978, zweifacher Sieger der 2. Weltspiele der Versehrten 1975 in Saint Etienne (Frankreich).
SEBASTIAN DROST, geboren 1975, Mediengestalter für Digital und Printmedien, von 1996 bis 1998 Student Sozialwissenschaf-ten, Sport in Göttingen.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
PETER FISCHER, geboren 1937, Journalist.
WOLFGANG HELFRITSCH, Dr. paed., geboren 1935, Lehrer und Sportwissenschaftler.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
JAN KNAPP, geboren 1948, Schäfergehilfe, Fachlehrer für Staatsbürgerkunde und Geschichte, Leiter der Thüringer Winter-sportausstellung Oberhof.
HORST RÖDER, Dr. paed., geboren 1933, Prof. für Theorie und Praxis des Trainings an der Deutschen Hochschule für Körperkul-tur (DHfK) Leipzig 1971 bis 1989, Vizepräsident des DTSB 1974 bis 1988, 1. Vizepräsident des DTSB 1988 bis 1989.
HEINZ SCHLIFFKE; geboren 1923, Journalist
HANS SIMON, Dr. sc. paed., geboren 1928, Hochschullehrer für Sportgeschichte an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1951 bis 1990, Mitglied der dvs.
KARL-HEINZ WEHR, geboren 1930, Generalsekretär der Interna-tionalen Amateur-Box-Assoziation (AIBA) 1986 bis 1998.
GUSTAV-ADOLF SCHUR, geboren 1931, Diplomsportlehrer, Mit-glied des Deutschen Bundestages 1998 bis 2002.
HELMUTH WESTPHAL, Dr. paed. habil., geboren 1928, Prof. für Theorie der Körperkultur und Sportgeschichte an der Pädagogi-schen Hochschule Potsdam 1958 bis 1988.
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EDITORIAL
Frieden und Foulspiel
Wir mühen uns, dem Titel unserer Zeitschrift Rechnung zu tragen und Beiträge zur Sportgeschichte zu publizieren. Der renommierte Aphorismenschreiber Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) schrieb einmal: „Es war vor einiger Zeit Mode... auf den Titel der Romane zu setzen: ’Eine wahre Geschichte’. Das ist nun eine kleine unschuldige Betrügerei, aber dass man auf manche neueren Geschichtsbücher die Worte ’Ein Roman’ weglässt, das ist keine so unschuldige.“
Diese Feststellung hat zwei Jahrhunderte überlebt und gilt wie eh und je. Sie gilt auch für die Ergebnisse der von der heutigen Obrig-keit so stattlich dotierten „Aufarbeitung“ des DDR-Sports. Ein Bei-spiel von Hunderten: Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender mdr spielte für seine Zuschauer unlängst schon zum zweiten Mal eine im dürftigsten Romanstil produzierte Zweiteile-Folge über die DDR-Turn- und Sportfeste. Da enthüllte ein Ex-Polizeischüler, dass man ihm befohlen hatte, betrunkene Randalierer von einer Tribüne zu weisen und der an der Universität Potsdam für die DDR-Geschichte zuständige Professor Teichler versuchte mit Hüpfbil-dern aus dem Berliner Olympiastadion nachzuweisen, dass es im Westen auch bei den Turnfesten immer viel freier und gemütlicher zuging als in Leipzig. Um mit Lichtenberg zu reden: So unschuldig ist das natürlich alles nicht.
Das gilt auch für den Kriminaloberkommissar Klaus Riegert, Mit-glied der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag dem „Neues Deutschland“ unlängst eine halbe Seite eingeräumt hatte, damit er unter der Überschrift „Eine gebrochene Moral ist keine Moral“ drei angesehene Sportler wegen ihres Engagements für den Frieden der Morallosigkeit bezichtigte.
Um den dabei auf jegliche Fairness verzichtenden Ankläger vorzu-stellen, soll einer seiner Leitsprüche – von ihm selbst im Internet präsentiert – zitiert werden. Er stammt vom heiligen Franz von As-sisi und lautet: „Tu erst das Notwendige, dann das Mögliche, und plötzlich schaffst Du das Unmögliche.“ Diesen Worten folgend, schaffte er tatsächlich fast Unmögliches, als er seinen recht un-
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christlichen Standpunkt mit vehementen Worten im „Neues Deutschland“ gedruckt lesen konnte.
Kriminalistisch knapp formuliert, verfolgte er ein aus seiner Sicht längst überführtes gefährliches Täter-Trio: Gustav-Adolf Schur, Klaus Köste und Gunhild Hoffmeister. Alle drei waren während ih-rer sportlichen Laufbahn mit olympischen Medaillen geehrt worden. Oberkommissar Riegert sah eine verfolgenswerte Straftat darin, dass sie deutsche Sportler in Nord, Süd, West und Ost aufgerufen hatten, einen Appell gegen den lange drohenden und dann mit Tausenden Bomben geführten Irak-Krieg zu unterschreiben. Rie-gert, der nebenbei auch sportpolitischer Sprecher der CDU-Bun-destagsfraktion ist, hatte zwar eingeräumt, dass solch Friedensap-pell unter „Meinungs- und Demonstrationsfreiheit“ einzuordnen sei, dem Trio aber das Recht abgesprochen „...für den deutschen Sport zu sprechen.“ Der Kriminaloberkommissar ignorierte in diesem Fall sogar den Heiligen aus Assisi, der seinen Anhängern einst gepre-digt hatte: „Höflichkeit ist die Schwester der Liebe.“ Das gilt nicht, wenn es sich um DDR-Sportler handelt, befand Riegert: „Der Sport... lässt sich für politische Zielsetzungen nicht instrumentali-sieren. Genau dies scheint die Absicht der Initiatoren zu sein... sie können nicht für sich in Anspruch nehmen, Sehnsucht nach Frie-den zum Maßstab ihres Handelns gemacht zu haben. Sie haben geschwiegen und schweigen immer noch, wenn es ideologisch op-portun erscheint. Wo war die Stimme der Initiatoren..., als russi-sche Panzer in Prag und Warschau niedermachten?... Die Initiato-ren waren in der ehemaligen DDR privilegiert. Sie haben ge-schwiegen, um Privilegien nicht zu verlieren.“ Und dann – könnte man bildlich versichern – griff er gar zur Dienstwaffe: „Die Initiato-ren haben sich früher dem Frieden nicht verpflichtet gefühlt, weder dem äußeren noch dem inneren. Den Frieden erst zu entdecken, wenn die ideologischen Koordinaten stimmen, entlarvt die Initiato-ren und muss sie beschämen.“ Entschied Riegert. Andere waren da anderer Meinung.
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Gunhild Hoffmeisters Brief an das ND:
(Geringfügige Kürzungen sind durch Punkte ersetzt.)
Der sportpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Vizepräsident des Schwäbischen Turnerbundes, Klaus Rie-gert, ist nicht erst seit heute als politischer Scharfmacher bekannt. In seinem Beitrag „Eine gebrochene Moral ist keine Moral“erneuert der Absolvent der Polizeifachhochschule... diesen Ruf... und ver-sucht, den Initiatoren, zu denen ich gehöre, das Recht abzuspre-chen, dazu aufzurufen. Da er aber dennoch Sportlern (und viel-leicht auch Sportlerinnen, die er nicht ausdrücklich erwähnt) zuge-steht, „sie können und sollen sich zu politischen Ereignissen äu-ßern, ohne Wenn und Aber“, ergreife ich die Gelegenheit, meinen schwäbischenTurnbruder beim Wort zu nehmen.
Ich beginne mit meiner Geburt im Sommer 1944. Wenig später wurde Hauptmann Günther Hoffmeister bei der Schlacht an, der Theiss für vermisst erklärt, Ich konnte bedauerlicherweise meinen Vater nie kennenlernen. Ich wuchs auch ohne Großvater auf Mein Opa, Mathes Koitschka, fiel als Soldat im 1. Weltkrieg - vier Wo-chen, nachdem dieser begonnen hatte. Ich hatte auch keine Onkel. Beide, Heinz und Kurt Ronatschk, fielen im 2. Weltkrieg. Letzterer wurde an seinem 20. Geburtstag beigesetzt.
Als ich mit 20 Jahren in Forst Klassenlehrerin wurde, war es stets mein Anliegen, meine Schülerinnen und Schüler zur Friedensliebe und zur Freundschaft zu anderen Völkern zu erziehen. Mir ist kein Beispiel bekannt, wonach meine Bemühungen nicht auf fruchtba-ren Boden gefallen wären.
Die Leichtathletik-EM 1969 in Athen wurden mein erster inter-nationaler Höhepunkt. Diese Meisterschaften wurden von der bun-desdeutschen Mannschaft boykottiert, weil sie mit einer Entschei-dung des europäischen Verbandes nicht einverstanden war. Ich habe damals diese Athletinnen und Athleten sehr bedauert. Ihre Teilnahme wurde auf dem Altar der Politik geopfert
Bei den EM 1971 zählte ich zusammen mit der bundesdeutschen 800-m-Weltrekordlerin Hildegard Falck zu den Favoritinnen des Rennens, das für uns leider schon nach 180 in endete, weil wir mit-einander kollidierten. Danach erhielt ich aus der Bundesrepublik Schmähbriefe, in denen ich als „Kommunistensau“ tituliert wurde. Ich besitze noch heute das Schreiben, in dem mir gedroht wurde, ich solle es nicht wagen, 1972 zu den Olympischen Spielen nach
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München zu kommen, was ich dennoch getan habe. Im 800-m-Lauf gewann ich Bronze, und Hildegard Falck wurde Olympia-siegerin. Bis heute bin ich mit ihr freundschaftlich verbunden.
1980 wurde ich stellvertretende Direktorin der KJS Cottbus, die heute als „Eliteschule des Sports“ bezeichnet wird. Zu meinen päd-agogischen Grundsätzen zählte immer die Devise des Gründers der Olympischen Bewegung, Pierre de Coubertin: „Den,Frieden lie-ben, des Leben achten“. Ich, habe versucht, sie auch unseren Schülerinnen und Schülern nahezubringen.
1983 nahm ich im Auftrag des Friedensrates der DDR am Frie-densmarsch Marathon-Athen teil. Man bat mich, in Athen zu 5000 Menschen zu sprechen, ein Wunsch, dem ich gern nachkam. 1985, vierzig Jahre nach Kriegsende, beteiligte ich mich am Berliner Friedenslauf. Es war IOC-Präsident Samaranch, der dafür das Startsignal gab. 1989 war ich Teilnehmerin der Friedensstafette Paris-Moskau, deren Initiator der heutige Chef der Hamburger Olympia-Bewerbung, Dr. Horst Meyer, war. Mit Freude vernahmen wir damals die Grußbotschaften von NOK-Präsident Willi Daume und DSB- Präsident Hans Hansen. Unsere Strecke führte auch durch Schwaben. Klaus Riegert ist mir dabei allerdings nicht be-gegnet. 1991 zählte ich zu den Mituntereichnern des Friedensap-pells „Die Zeit der Kreuzzüge ist vorbei“. Mit mir unterschrieben u.a. Horst Meyer, das heutige IOC-Mitglied Roland Baar, die heuti-gen NOK-Mitglieder Wolfgang Behrendt und Waldemar Cierpinski sowie der heutige ARD-Sportkoordinator Hagen Boßdorf. 1995 ge-dachte ich mit vielen Tausenden des 50. Jahrestages der Befrei-ung vom Faschismus.
Im Jahre 2003 gehörte ich zu den Initiatoren des Appells „Sport-lerinnen und Sportler für den Friedens“, unter dem bis heute 2379 Unterschriften stehen, u.a. von 115 deutschen Olympiasiegern. Für Klaus Riegert sind das „einzelne“, und er behauptet: „Die Initiatoren haben sich früher dem Frieden nicht verpflichtet gefühlt, weder dem äußeren noch dem inneren.“ Da das wahrheitswidrig ist, wäre es doch bestimmt nicht unbillig, wenn der Bundestagsabgeordnete Riegert in seinem Wahlkreis seinen Einfluss geltend machen wür-de, damit ich in der „Schwäbischen Zeitung“ genauso viel Platz er-halte wie er im „ND“, um meine Position zum Frieden darzulegen.
Gunhild Hoffmeister, Berlin
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Gustav-Adolf Schur an das ND
(Die willkürlichen Kürzungen sind in dem Brief in Klammern gesetzt)
(ich habe in Euren Spalten einen langen Artikel des CDU-Bundestagsabgeordneten und Sprecher seiner Fraktion in Sport-fragen, Klaus Riegert gelesen, der sich mit dem Irakkkrieg und mir befasst.) Ich entnahm dem Text, das Herr Riegert den von Gunhild Hoffmeister, Klaus Köste und mir empfohlenen Appell gegen den Irakkrieg nicht zu unterschreiben gedenkt. Kann ich nur sagen: Wer nicht dafür ist, dass dieser Krieg möglichst in der nächsten halben Stunde beendet wird, unterschreibt unseren Appell nicht, gerät aber in Verdacht zu denen zu gehören, die dafür sind, dass er fort-gesetzt wird.
Herr Riegert warf uns vor, wir hätten 1968 nicht gegen die sowjeti-schen Panzer in Prag protestiert und deshalb kein Recht gegen den Mord an Kindern 2003 in Bagdad und Basra zu protestieren. Und: Wir hätten nicht gegen Saddam Hussein protestiert, als er Iraker umbrachte, versäumte allerdings zu erwähnen, dass er es mit grausamen Waffen tat, die ihm aus den USA geliefert worden waren. Wir hätten auch nicht gegen den Krieg in Tschetschenien protestiert – meint Herr Riegert.
(Ich hoffe, dass mir niemand verübelt, wenn ich darauf ver-zichte, im Riegertschen Stil zum Beispiel zu fragen, wo und wann seine Partei gegen den von der in der USA beheimate-ten CIA arrangierten Putsch in Chile protestierte, der bekannt-lich mit dem Mord an dem frei gewählten Präsidenten Salva-dor Allende und Tausenden Chilenen endete.) Übrigens: Gestern haben 189 Schüler des Leipziger Sportgymnasiums unseren Appell unterschrieben.
Gustav Adolf Schur, Heyrothsberge
9
Bis Redaktionsschluß der „Beiträge“ (Nr. 16) waren 2365 Unterzeichner des Friedensappells gezählt worden
(Die Liste wird nach der letzten Eintragung vervielfältigt und gegen eine Kopiergebühr durch die „Beiträge“ vertrieben. Die folgende Liste registrierte jede 50. Eintragung. Abkürzungen: OS – Olympiasieger, OM – Olympiamedaillengewinner, WM – Weltmeister, EM – Europa-meister DM – Deutsche Meisterin, LM – Landesmeister, JM - Jugendmeisterin.)
Lfd. Nr.
Vorname, Name
Sportart oder andere An-gaben
1
Gunhild Hoffmeister
Mittelstrecklerin, OM
50
Rudi Altig
Profi-Radweltmeister
100
Alexander Leipold
Ringen, WM, EM
150
Hennes Junkermann
Radsport
200
Dr. Günther Heinze
Ehrenmitglied des IOC
250
Heinz-Florian Oertel
Sportjournalist
300
Torsten Wustlich
Rodeln, WM
350
Waltraut Kretzschmar
Handball, WM
400
Birgit Fischer
Kanu, OS, WM
450
Sven Ottke
Boxen, Profi-WM
500
Hans-Jürgen Zacharias
Turnen, Vizepräsident DTB
550
Heinrich Henning
Hockey, Trainer BSC
600
Rainer Tscharke
Volleyball, WM
650
Martin Tschurer
American Football, EM
700
Jörg Berger
Fußball Trainer Al. Aachen
750
Jutta Müller
Eiskunstlauf. Trainerin
800
Chritine Wedler
Softball, LM
850
Marianne Braun
Triathlon, DM
900
Katarina Witt
Eiskunstlauf, OS, WM
950
Manja Kowalski
Rudern, OS, WM
1000
Irina Marzok
Judo, Funktionär
1050
Manfred Wolke
Boxen, OS, Profitrainer
1100
Holger Perlt + 181 Schüler
Sportgymnasium.Leipzig
1150
Bernd Wiesner
Fallschirmspringen, WM
1200
Ingo Weißenborn
Fechten, OS
1250
Gisela Grass-Schöbel
Schwimmen, DM, WM
1300
Jens Weißflog
Skisport, OS, WM
1350
Hans-Georg Moldenhauer
Fußball, DFB-Vizepr.
1400
Armin Magino
Tischtennis
1450
Jan Ullrich
Radsport. OS, WM
10
1500
Jürgen Leirich
Sportwissenschaftler
1550
Karl-Heinz Haase
Flugmodellsport, DM
1600
Jochen Schümann
Segeln, OS,WM
1650
Frank-Dieter Lemke
Segelflieger
1700
Harald Czudaj
Bob, OS
1750
Annette Schwarz
Beach-Volleyball
1800
Ray Schlüter
Taekwondo
1850
Renate Stecher
Leichtathletik, OS,
1900
Helmuth Westphal
Sportwissenschaftler
1950
Uwe Kätzel
Motor-Flugsport, DM
2000
Klaus Eichler
Sport-Sponsor
2050
Ramona Portwich
Kanu, OS, WM
2100
Karin Enke-Kania
Eisschnellauf, OS,WM
2150
Heinz-Jürgen Bothe
Rudern, OS
2200
Sabine Bischoff
Fechten, OS, WM
2250
Simone Poschen
Rhönrad, JM
2300
Hannes Weinhold
Karate
2350
Bernhard Eckstein
Radsport, WM
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DOKUMENTATION/DISKUSSION
Über olympische „Aktivitäten“
alt-bundesdeutscher Diplomaten
Von KLAUS HUHN
Die XVIII. Olympischen Sommerspiele fanden vom 10. bis 24. Ok-tober 1964 in Tokio statt. Dank der zahlenmäßigen Überlegenheit ihrer Athleten in der sogenannten gesamtdeutschen Mannschaft, stellte die DDR mit Manfred Ewald den Chef de Mission des Teams. Das DDR-Aufgebot verbesserte sich im Vergleich zu den Spielen in Rom 1960 vom zwölften auf den elften Rang in der Me-daillen-Länderwertung, das BRD-Aufgebot geriet vom vierten auf den sechsten Platz. Die Atmosphäre zwischen beiden Mann-schaftsteilen war vom ersten Tag an gespannt, weil sich die DDR-Seite betrogen sah, als der BRD-Segler Kuhweide - nach langen Verhandlungen nur als Ersatzmann in die Mannschaft aufgenom-men, weil er die Ausscheidungen nicht beendet hatte - durch die in-ternationalen Beziehungen des BRD-NOK-Präsidenten vom inter-nationalen Segelverband zur olympischen Regatta zugelassen wurde, während der Sieger der unter internationaler Aufsicht aus-getragenen Ausscheidungen aus der DDR - Bernd Dehmel - Zu-schauer blieb. Typisch für die Atmosphäre: Daume erschien zu ei-ner Ost-West-Beratung mit untergeschnallter Pistole, die bei einer ungeschickten Bewegung sichtbar wurde.
Aufschlußreich sind inzwischen vom Auswärtigen Amt der Bundes-republik freigegebene Dokumente (Registriernummer IV 5 - 88 - 12022/11), in denen die Botschaft der BRD in Tokio ausführlich über ihre Aktivitäten gegenüber den in der gesamtdeutschen Mannschaft vertretenen DDR-Bürgern und über die zahllosen In-terventionen der BRD-Botschaft bei der japanischen Regierung be-richtete.
Anzumerken wäre zum besseren Verständnis, daß das NOK der DDR einige nicht direkt mit den Spielen befaßte Persön-lichkeiten mit Hilfe der Olympischen Identitätskarten (im Text „ID“) in das Team aufgenommen hatte. Dazu gehörten die DDR-Minister Erich Markowitsch (1. stellvertretender Vorsit-zender des Volkswirtschaftsrats) und Hans Bentzien (Minister
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für Kultur). Da Persönlichkeiten wie Markowitsch auf Betrei-ben der BRD-Regierung Visa-Anträge zur Einreise nach Ja-pan verweigert worden waren, empfahlen japanische Indust-rielle diese Variante, weil sie an Verhandlungen zu bestimm-ten Themen sehr interessiert waren. So kam es zu einem Treffen mit dem Aufsichtsrat des größten japanischen Stahl-konzerns, der sich für die Erfahrungen der DDR mit der Ver-hüttung von Braunkohle zu hüttenfähigem Koks interessierte, nachdem japanische Versuche in dieser Richtung geschei-tert waren. Da der Autor diese Unterhaltung als „über Nacht“ berufener Markowitsch-Sekretär damals dolmetschte, kann er guten Gewissens bezeugen, daß einflußreiche Japaner die Möglichkeit begrüßten, durch die Olympischen Spiele Mög-lichkeiten der Begegnung zu schaffen.
Die jetzt freigegebenen Dokumente offenbaren, daß nicht nur jeder Schritt der DDR-Repräsentanten überwacht wurde - die BRD-Botschaft muß sich nach diesen Berichten einer größeren Anzahl ausgebildeter „Beobachter“ bedient haben, deren Tätigkeit kaum mit denen von Diplomaten identifiziert werden könnte -, sondern auch ständig bei japanischen Instanzen interveniert wurde.
Just in der Stunde, da im Olympiastadion der US-Amerikaner Hen-ry Carr die 200-m-Strecke in neuer olympischer Rekordzeit von 20,36 s gewann und der legendäre Belgier Gaston Roelants die Weltelite der 3000-m-Hindernisläufer hinter sich ließ, wurde in der BRD-Botschaft eine Eilinformation verschlüsselt und nach Bonn abgesandt, in der mitgeteilt wurde, welche Aktivitäten die Bonner Diplomaten unternommen hatten, um Aktivitäten der DDR in Japan zu unterbinden:
„a) alle japanischen ministerien angeschrieben, sowjetzonenfunkti-onaere nicht zu empfangen
b) ueber olympisches organisationskomitee olympiadeteilnehmer aus sowjetzone vor politischer betaetigung in japan gewarnt.
dennoch brachten gestern westjapanische tageszeitungen notiz, dass gouverneur von osaka, sato, und oberbuergermeister von osaka, tshuma, sowjetzonalen kultusminister bentzien, prof. meh-nert und sowjetzonaLe olympiasportler empfangen haetten. ge-spraech sei - so heisst es - in angenehmer atmosphaere verlaufen.
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auf hinweis sato’s, dass er demnaechst in bundesrepublik wegen 4. ausgabe osaka-anleihe reisen werde, habe bentzien ihn einge-laden, bei dieser gelegenheit auch sowjetzone zu besuchen.
botschaft ist... umgehend im aussenministerium vorstellig gewor-den und hat mit nachdruck auf fuer bundesregierung unertraegliche politische aktivitaet sowjetzonaler funktionaere und auf rueckwir-kungen hingewiesen, die das fuer deutsche oeffentlicnkeit unver-staendliche verhalten gouverneurs sato auf weitere osaka-anleihen haben koenne. gouverneur sato hat sich inzwischen... mit ausdruck des bedauerns entschuldigt, er sei - so sagte - er getaeuscht wor-den, weil sowjetzonenfunktionaere sich bei besuchsankuendigung als deutsche sportler ausgegeben haetten. japanisches aussenmi-nisterium teilte botschaft mit, es habe sich erneut an innenministe-rium mit der bitte gewandt, innerjapanische behoerden noch einmal anzuweisen, sowjetzonenfunktionaere nicht zu empfangen und ver-fassungsschutz zur ueberwachung sowjetzonaler aktivitaet einzu-schalten. ausserdem sei vertreter aussenministeriums in osaka an-gewiesen, angelegenheit seine ganze aufmerksamkeit zu wid-men... dittmann + “1)
Damit war klar, daß die Bundesrepublik Deutschland in Tokio in der Öffentlichkeit die gesamtdeutsche Mannschaft zwar rühmte, hinter deren Rücken aber
- den Japanern ständig Demarchen (Interventionen, frei übersetzt auch Drohungen) gegen Mitglieder der DDR-Mannschaft (im offizi-ellen Amtsdeutsch der BRD: Sowjetzone) zukommen ließ und so-gar mit finanziellen Konsequenzen drohte (Ankündigung der Ver-weigerung einer bereits vereinbarten Anleihe),
- die Japaner aufforderte, Begegnungen zwischen Japanern und DDR-Bürgern durch Staatsschutzbehörden überwachsen zu las-sen.
Am 22. Oktober - es war der Tag, an dem Jürgen Eschert die Goldmedaille im Einer-Kanadier offiziell für „Deutschland“, tatsäch-lich für die DDR gewann - brachte der Botschafter einen weiteren 10-seitigen Brief inklusive drei Anlagen auf den Weg. Die sportli-chen Ereignisse der Spiele wurden darin mit keiner Silbe erwähnt. Dafür: „Bereits am Vorabend des Jahrestages“ (gemeint war der 15. Gründungstag der DDR A.d.A.) „hatte der Präsident des sow-jetzonalen NOK, Dr. Heinz Schöbel, in dem von ihm bezogenen, zur Spitzenklasse gehörenden Tokyo Prince Hotel einen Cocktail-
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Empfang gegeben, der in einer etwa 80 Personen fassenden Ho-telsuite stattfand. Außer Offiziellen der Ostblockmannschaften nahmen der Vizepräsident des Österreichischen NOK, Dr. Ne-metschke, das finnische IOG-Mitglied Baron von Frenckell mit Tochter (die Intendantin eines bedeutenden finnischen Theaters sein soll), der Präsident des Internationalen Box-Verbandes (AIBA), Russell, aus Großbritannien und der Präsident des Interna-tionalen Schwimmverbandes (FINA), Ritter aus USA teil. Von japa-nischer Seite waren lediglich der bekannte linksorientierte Brecht-Regisseur Koreya Senda, der Inhaber des Verlages Kyokuto Sho-ten (spezialisiert auf kommunistische Literatur), Ichijo, einige ande-re weniger bekannte Personen anwesend... In dem großen Hotel wurde davon keine besondere Notiz genommen... Von einem Teil-nehmer erfuhr die Botschaft, die SBZ-Sportler hätten steif und ge-langweilt abseits gestanden. Eine rechte Stimmung sei nicht auf-gekommen. Es habe eine lahme und zugeknöpfte Atmosphäre ge-herrscht.“2)
Anzumerken wäre, daß dies nicht der Bericht eines Boulevardjour-nalisten war, sondern der Report des Botschafters. Weiter wurde ausgeforscht, daß zu gleicher Stunde eine Feier für die gesamte Mannschaft stattfand. Wo? „...in dem als Stammquartier der japa-nischen Kommunistischen Partei und durchreisender rotchinesi-scher Delegationen bekannten Diamond-Hotel.“ Der Informant hat-te noch mitgeteilt: „Von japanischer Seite waren nur zwei Dolmet-scherinnen anwesend. Auch diese Veranstaltung fand kein öffentli-ches Interesse. Die Kosten der Veranstaltung in Höhe von 70.000 Yen wurden von dem vorgenannten Verlag Kyokuto Shoten begli-chen.
Eine Ausstellung von etwa 80 Sportfotografien, die die Japanisch-Sowjetzonale Freundschaftsgesellschaft zusammen mit der Freundschaftsgesellschaft Japan-Sowjetunion vom l0.-24.l0. in ei-nem Nebengang des zweiten Stockwerks des Shinjuku-Bahnhofgebäudes veranstaltete, wurde in stümperhafter und auf-dringlicher Weise, die den gebildeten Japaner nur abstoßen konn-te, für Propagandazwecke benutzt. Eine mit politischen Aussagen durchsetzte Broschüre in japanischer Sprache ‘Die DDR stellt sich vor’, herausgegeben von der ‘Liga für Völkerfreundschaft der DDR’, Abzeichen in Kleinformat und Wimpel mit den Spalteremblemen wurden von Studenten feilgeboten, die sich ein Nebenverdienst
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verschaffen, mit Politik aber angeblich nichts zu tun haben wollten. Auf die verschiedenen Vorstellungen der Botschaft hat das japani-sche Außenministerium leider nicht durchgreifend einschreiten können, da das Bahnhofsgebäude in Shinjuku sich in privater Hand befindet und die Ausstellung durch eine Sperre von den öffentli-chen Räumlichkeiten des Bahnhofsgebäudes abgesetzt war.“3)
Nach diesem mißglückten Versuch, „durchgreifend einzuscheiten“ wandte man sich der schon erwähnten Anwesenheit von DDR-Wirtschaftsexperten in Tokio zu: „Auf die Intervention der Botschaft schaltete sich die japanische Regierung ein und wies alle Ministe-rien und nachgeordneten Behörden an, Besuche der sowjetzona-len Funktionäre abzulehnen.“4) Angekündigt wurde von der Bot-schaft im Kriminaljargon: „...besonderer Bericht folgt nach Ab-schluß weiterer Ermittlungen.“5) Mehrere Informanten müssen der vom damaligen DDR-Kulturminister Bentzien geleiteten Gruppe ge-folgt sein, denn auch wenn die sich, wie in Osaka aufteilte, wurde jedes einzelne Mitglied überwacht.
„In Hiroshima wurde Bentzien mit seinen Begleitern vom Oberbür-germeister (unabhängig) empfangen und legte am Denkmal für die Opfer des Atombombenangriffs einen Kranz nieder.“ Eilig wurde nach Bonn berichtet: „...hat die Botschaft sofort nach Bekanntwer-den des Empfangs der sowjetzonalen Funktionäre durch Vertreter der Lokalbehörden im japanischen Außenministerium Verwahrung eingelegt... In mehreren Fällen wurden Spalterflaggen... auf Inter-vention der Botschaft bzw. des Generalkonsulats Osaka/Kobe un-verzüglich entfernt...“6)
In dem politische Bilanz ziehenden Abschlußbericht 1559/64 laute-te eine Schlußfolgerung, es sei an der Zeit, „daß dem NOK eine sportlich interessierte Persönlichkeit zugeteilt wird, die ausreichen-de politische und möglichst diplomatische Erfahrungen hat und die... genügend Zeit findet, um sich der politischen und diplomati-schen Aspekte der Olympischen Beziehungen anzunehmen.“7)
1) Fernschreiben der Botschaft Nr. 418, S. 1
2) Bericht der Botschaft Nr. 1447, S. 1 ff
3) Ebenda
4) Ebenda
5) Ebenda
6) Ebenda
7) Bericht der Botschaft 1559/64 S. 6f
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Die Olympia-Debatte im
Deutschen Reichstag 1914
Aus dem Stenographischen Bericht
Reichstag. 214. Sitzung, Sonnabend, den 14. Februar 1914
v. Graefe (Güstrow), Abgeordneter, Berichterstatter: „Tit. 40: Bei-trag des Reichs zu den Kosten der Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele in Berlin! In der Kommission war eine er-freuliche Einmütigkeit vorhanden in der Anerkennung der Bedeu-tung der Pflege des Sports in der Bevölkerung. Es war auch voll-kommen Einmütigkeit darüber vorhanden, daß die Pflege des Sports durch Veranstaltung von Spielen, an denen die Gesamtbe-völkerung beteiligt sei, ...wie es die Olympischen Spiele sein sollen, anzuerkennen sei. Trotzdem hat die Kommission in ihrer Mehrheit den Titel ablehnen zu sollen geglaubt...“
Rühle, Abgeordneter: „Meine Herren, wenn es sich bei der Unter-stützung der Olympischen Spiele darum handelte, turnerische und sportliche Bestrebungen zu fördern, also um Aufwendungen, die den Zwecken der Körperkultur, der Gesundheitspflege, des Ju-gend- und Volkswohles dienen, dann würden wir Sozialdemokraten ohne weiteres für die Bewilligung der von der Regierung geforder-ten und von der Budgetkommission gestrichenen Summe zu haben sein. Ja, wir würden vielleicht noch eine Erhöhung der betreffenden Summe wünschen... Die Regierung ist in der Budgetkommission ersucht worden, Aufschluß darüber zu geben, wer als Empfänger der Summe von 200.000 Mark, die man bis zum Jahre 1916 vom Reichstag bewilligt zu erhalten hofft, in Betracht kommt. Da hat die Regierung eine ganze Anzahl von Sportvereinen und Korporatio-nen angeführt, die zusammengeschlossen sind in dem Reichsaus-schuß zur Vorbereitung der Olympischen Spiele. An der Spitze dieser Vereine und Körperschaften stehen die nationalen deut-schen Turner, für die 50.000 Mark in Aussicht gestellt worden sind. Daß es neben diesen nationalen Turnern noch Arbeiterturner gibt, die zu vielen Tausenden von Mitgliedern in den Arbeiterturnverei-nen organisiert und im Arbeiterturnerbund zusammengeschlossen sind, und daß neben den von der Regierung angegebenen Sport-vereinen eine Unmenge von Arbeitersportvereinen besteht, davon
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hat die Regierung gar keine Notiz genommen... Gerade aber die Mitglieder der Arbeiterturn- und Arbeitersportvereine kommen aus den wirtschaftlich und sozial schlechtest gestellten Kreisen des Volkes, sie sind wohl auch gesundheitlich, körperlich mehr als an-dere Berufsschichten und Berufskreise des Volkes benachteiligt und geschädigt... Gerade aber diese turnenden und sporttreiben-den Kreise der Bevölkerung sollen von einer Unterstützung aus öf-fentlichen Mitteln, die angeblich für turnerische, für sportliche Zwe-cke, für Zwecke der Körperkultur und Gesundheitspflege bestimmt sind, ausgeschlossen sein! ...Die Regierung hat die Frage, weshalb das geschieht, nicht beantwortet, und sie wird das wahrscheinlich auch heute nicht tun. Aber wir wissen, weshalb die Arbeiterturn- und Arbeitersportvereine ausgeschlossen sein und beim Empfang der Gelder keine Berücksichtigung finden sollen. Deshalb nämlich, weil der Regierung die Gesinnung und die Überzeugung, die sie in den Arbeiterturn- und Sportvereinen anzutreffen meint, nicht gefällt, weil sie an der Weltanschauung, die dort vertreten wird, Anstoß nimmt, weil ihr die ’janze Richtung nicht gefällt‘. Dadurch wird die Unterstützung der Olympischen Spiele für uns zu einer politischen Angelegenheit... Nicht bloß, daß die Arbeiterturn- und Sportvereine von dem Empfang der Gelder ausgeschlossen werden sollen, nein, sie sehen sich auch tagtäglich von den herrschenden Gewalten, von der Polizei, den Behörden, den Gerichten auf das ärgste und schlimmste bedrängt und verfolgt, ...sie sehen sich vielfach in ihrer Existenz gefährdet und teilweise ruiniert. Es wird mit den erdenk-lichsten Mitteln und auf alle erdenkliche Weise gegen die Arbeiter-turn- und Sportvereine gearbeitet. Es wird alles aufgeboten, um ihnen die Existenz so schwer wie irgendmöglich zu machen. Ein wahres Kesseltreiben... wird seit Jahr und Tag gegen sie veranstal-tet... Es wird dem deutschen Namen ein schlechter Dienst damit geleistet, daß Volksangehörige und Landessöhne behandelt wer-den wie Hochverräter, Landesfeinde und Verbrecher. Wenn man darauf hingewiesen hat, daß die im Jahre 1916 in Berlin zusam-menkommenden Turner und Sportleute der ganzen Welt einen gu-ten Eindruck vom deutschen Wesen und deutschen Geiste gewin-nen und mit fortnehmen möchten, so erklären wir: das wird viel besser... möglich sein, wenn man die verstaubten und verblaßten Zwangs- und Knebelgesetze aus der Zeit von vor 100 und mehr Jahren endlich beseitigen wollte, ...wenn man endlich aufhören
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wollte mit den Plackereien und Bütteleien, denen die Arbeiterklasse und die Arbeiterturn- und Sportvereine ausgesetzt sind.
Wir werden aus den Gründen, die ich dargelegt habe, an dem Be-schlusse der Budgetkommission festhalten und die gestellten An-träge ablehnen. Wir können uns nicht entschließen, Geld für ein Fest zu bewilligen, bei dem die Teilnahme mit dem Verzicht auf selbständige freiheitliche Gesinnung erkauft werden muß.“...
Dr. Lewald, Direktor im Reichsamt des Innern, stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrat: „...Es ist ein Nachteil für Deutsch-land gewesen, und es hat mit dazu beigetragen, daß Deutschland bei den früheren Spielen nicht so besonders günstig abgeschnitten hat, daß immer das einladende Land im wesentlichen seine Spiel-regeln zu Grunde legt. Es soll nun im Juni dieses Jahres das In-ternationale Olympische Komitee in Paris zusammentreten, ver-stärkt durch sportliche Vertreter, und es sollen dort Spielregeln aufgestellt werden. Wenn wir die Gastgeber sind, die einladen, dann können wir natürlich einen ganz anderen Einfluß darauf aus-üben, daß diese Spielregeln in einem Sine abgefaßt werden, die unseren Anschauungen über Turnen, unseren Anschauungen über Sport entspricht, als wenn wir wieder nur die Eingeladenen sind und dabeistehen...“
Mertin, Abgeordneter: „...Die Gründe, die gegen die Bewilligung des Zuschusses vorgebracht worden sind, stammen eigentlich nur vom ersten Herrn Redner; es sind Gründe politischer Art. Der deut-schen Turnerei und der deutschen Turnerschaft ist es sonderbar ergangen: als sie im Entstehen war, da nahm man an, sie wäre ei-ne demokratische Bewegung und verfolgte sie; darüber lächeln wir heute. Jetzt wird sie von der äußersten Linken als eine reaktionäre Bewegung verdächtigt; darüber lächeln wir auch... Es ist daher aus den Gründen, die ich angeführt habe, auch die Einsetzung des Zu-schusses in den Etat keine politische Maßregel, gerichtet gegen die Arbeiterklasse, ...und sie kann es nicht sein, weil die Arbeiter-klasse in hohem Grade, soweit sie national ist, in der Deutschen Turnerschaft und anderen Sportverbänden vertreten ist... Von den Zwecken der Olympischen Spiele sagt Plato: Die Gymnastik der Hellenen ist ein nationales Element ihres Lebens, mit diesem durchaus verschmolzen und verwachsen. Das ist es ja gerade, was uns an den Olympischen Spielen anzieht, und was sie uns so sym-pathisch macht: daß die Nation als solche in den friedlichen Kampf
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tritt mit den anderen Nationen, daß die deutschen Kämpfer stolz sind als Deutsche... Daß also eine ganz bewußte Gegenüberstel-lung der Nationen im friedlichen Wettkampf miteinander unter star-ker Betonung des nationalen Wesens, der nationalen Eigenart, des nationalen Gefühls stattfindet, mag vielleicht der tiefere Grund sein, warum die Herren von der äußersten Linken für Olympia nichts üb-rig haben...“
Bruhn, Abgeordneter: „...Der Reichstag hat im vorigen Jahre die Wehrvorlage verabschiedet, die eine erhebliche Belastung für das deutsche Volk bedeutet. Zu dieser Belastung steht aber in keinem Verhältnis die geringe Summe, die hier gefordert wird, und die zweifellos auch der Wehrhaftmachung unseres Volkes dient. In den Turnvereinen – ich sehe von der Tendenz der Arbeiterturnvereine ganz ab – schweigt der politische Streit. Deshalb sollte auch in die-sem Falle der Parteistreit von den bürgerlichen, vaterländischen Parteien zurückgestellt werden, wir sollten einmütig die Forderung bewilligen...“
Hanssen, Abgeordneter: „...Das Plenarerkenntnis der vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts vom 12. Dezember 1912 hat den preußischen Verwaltungsbehörden Veranlassung gegeben, gegen die nordschleswigschen Turnvereine sehr scharf vorzugehen. Fast alle unsere Turnvereine sind demzufolge in den letzten Monaten lahmgelegt worden... und das Turnen überhaupt wird unter Bezug-nahme auf die von dem Abgeordneten Rühle erwähnten Schulan-ordnungen aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts un-ter Androhung hoher Geldstrafen verboten... Die Turnvereine sind somit der nackten Polizeiwillkür ausgeliefert. Jugendliche Personen können ungehindert Kneipen, Ballhäuser selbst niedrigsten Ranges besuchen; sie können, wenn sie 18 Jahre alt geworden sind, auch Mitglieder politischer Vereine sein, auch politische Versammlungen besuchen, - Turnen dürfen sie aber nicht. Das ist ihnen in dem Jah-re, wo in allen preußischen Schulen offiziell die Arbeit eines Turn-vaters Jahn verherrlicht worden ist, unter hohen Geldstrafen poli-zeilich verboten... Sind das nicht kulturwidrige Zustände? Sind das Zustände, die die Regierung ohne Schamröte aufrecht erhalten kann in einem Jahre, wo sie sich rüstet, die gesamte Kulturwelt zu den Olympischen Spielen in Berlin einzuladen?“
Heine, Abgeordneter: „...Das Turnen war in der Zeit, als es ent-stand,... allerdings durchaus eine politische Angelegenheit, eine
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Sache der Kreise, welche die politische Freiheit wollten. In unseren Augen ehrt das die Turner von damals... Damals wurden auch die bürgerlichen Turner genau so verfolgt und gehetzt wie heute die Arbeiterturnvereine. Heute haben nun alle Kreise für den Wert kör-perlicher Ausbildung Verständnis gewonnen, nicht mehr bloß die freiheitlichen. Das Turnen könnte also heute in der Tat eine allge-meine und gleiche Kultursache aller Parteien sein. Wenn es dazu nicht wird,... Lassen Sie mich aus Berlin zu diesem Kapitel noch einen Beitrag liefern! Der Arbeiterturnverein ‚Fichte‘ ist in derselben Lage. Auch ihm wird nicht gestattet, Personen unter 18 Jahren in seinen Turnveranstaltungen turnen zu lassen. Den Vorturnern des Arbeiterturnvereins ‚Fichte‘ wird nämlich nicht der Turnunterrichts-erlaubnisschein erteilt, während er den Vorturnern der Deutschen Turnerschaft ohne weitere Prüfung erteilt wird. Damit ist es noch lange nicht genug! Jetzt engagiert der Turnverein ‚Fichte‘, um dem Rechnung zu tragen, im Interesse des Turnens eine Anzahl staat-lich geprüfter Turnlehrer, die bereits im Besitz des Turnunterrichts-erlaubnisscheins sind. Als die Behörde das erfährt, verbietet sie ihnen trotzdem, den Turnunterricht im Turnverein ‚Fichte‘ zu ertei-len, mit der Behauptung, in diesem Verein dürften sie überhaupt keinen Unterricht geben.... Nun heißt es, die Arbeiterturnvereine wären ‚nicht national‘ und Ihre wären national. Mit keinem Wort wird ein nichtswürdigerer Unfug getrieben als mit dem Wort ‚natio-nal‘... Freilich was Sie ‚national‘ nennen: Völkerhetzung, Kriegstrei-berei, Servilismus nach oben Treten nach unten und Antisemitis-mus, das lehnen wir als nicht national ab. 1
Reichstag. – 215 Sitzung. Dienstag, den 17. Februar 1914
Präsident: „...Abstimmung über Kap. 3 Tit. 40 der einmaligen Aus-gaben (Olympische Spiele)... Beitrag des Reichs zu den Kosten der Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele in Ber-lin 1916, 1. Rate 46.000 Mark... Das ist die Mehrheit;“ (Beifall rechts und links) „der Antrag ist angenommen.“2
ANMERKUNGEN
1) Stenographische Berichte des Reichstages, Band 293, 1914, S. 7333-7349
2) Ebenda, S. 7386
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Wer war Doug Gilbert?
Von HEINZ SCHLIFFKE
Von Zeit zu Zeit liest man in der internationalen Sportpresse oder hört auch auf Historiker-Kongressen den Namen des kanadischen Journalisten Doug Gilbert. Meine Recherchen ergaben, dass sein mysteriöser Tod während der Panamerikanischen Spiele 1979 im puertoricanischen San Juan und sein Buch über den DDR-Sport „Die Wundermaschine“ (PTL Consultants Ltd New York, 1980 New York) den Hintergrund für zahllose Veröffentlichungen lieferten, mit denen man vor allem nachzuweisen trachtete, dass das MfS der DDR eine verhängnisvolle Rolle im Leben dieses legendären ka-nadischen Journalisten spielte, der 1977 in Kanada mit dem Natio-nalen Zeitungspreis – vergleichbar dem US-amerikanischen Pulit-zer-Preis – ausgezeichnet worden war.
Der fast zwei Meter große ehemalige Langstreckler schrieb nie oberflächliche Wettkampfberichte und war auch nie unter denen, die nach indiskreten persönlichen Details von Athleten forschten. Er war ein Sportjournalist der alten Schule, weit eher ein Literat des Sports als etwa ein Klatschjournalist.
Man hat ihm nach seinem Tod viel vorgeworfen, auch, dass er den kanadischen Kommunisten nahe gestanden hatte. Diese These wurde übrigens auch von seiner Frau Gail in einem ganzseitigen Report der Bostoner „Globe and Mail“ vom 12. Februar 2000 ver-treten, und zwar in der Gemeinschaftsarbeit eines Alan Freeman, der von 1996 bis 1998 in Berlin als Korrespondent tätig war, und einer Karin Helmstaedt, die von „Globe and Mail“ als in Berlin le-bende Journalistin ausgegeben wurde. Danach gehörte sie früher zum kanadischen Schwimmteam und „schrieb vorrangig über Do-ping“.
Beide Autoren lieferten zunächst einen ausführlichen Bericht über die Umstände des bis heute nicht geklärten Tod Gilberts. Er sei, weil er fürchtete, den Sieg der kanadischen Fünfkämpferin Diane Jones-Konihowski bei den Panamerikanischen Spielen zu verpas-sen, zu Fuß über die Dos-Hermanos-Brücke gelaufen, um rechtzei-tig im Sixto-Escobar-Stadion zu sein. Etwa 100 Meter von seinem Hotel entfernt, sei plötzlich ein alter Volkswagen um eine Ecke ge-rast und habe ihn überfahren. Der Schwerverletzte war nicht mehr
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zu retten. Zwei Stunden später stellten die Ärzte mit Einwilligung der kanadischen Mannschaftsärzte im Presbyterian-Hospital die Beatmungsmaschine ab. Gilbert war mit 41 Jahren gestorben und – so die „Globe and Mail“ - „eine Legende geboren“.
Die „Legende“: Gilbert habe in jenen Tagen gerade sein Buch über den DDR-Sport beendet und sei gerade dabei gewesen, ein wohl-gehütetes Geheimnis preiszugeben... Die sonst für ihre Seriösität gerühmte „Globe“ stapelte in ihren Spalten die angeblichen Bewei-se für diese These:
Ein verdeckter Polizeiermittler in Toronto hätte Gilberts älterem Bruder verraten, dass Gilbert „von osteuropäischen Sportpraktiken stark beeindruckt“ gewesen sei.
Ein für die kanadische Geheimpolizei Tätiger habe eingeräumt, dass sich der Sicherheitsdienst für seine Reisen in die DDR inte-ressierte.
Ein Unbekannter habe Dougs Tochter Jennifer Jahre nach dem Unfall in einer Bar in Edmonton versichert, es habe sich um ein At-tentat gehandelt. Und zwar in die Wege geleitet von der ostdeut-schen Geheimpolizei.
Neben solchen Groschenromangeschichten wurden auch andere verbreitet: Doug Gilbert sei bei der Arbeit an seinem Buch auf das Doping-Geheimnis der DDR gestoßen! Der Gilbert-Freund Larry Eldridge versicherte: „Ich bin mir völlig sicher, dass er mehr wuss-te.“
Und um diese Legende zu erhärten versicherte „Globe and Mail“, dass man im Besitz von Stasi-Akten sei, wonach die ostdeutsche Sportführung, unterstützt von der Geheimpolizei das Manuskript „durchleuchtet und zensuriert“ habe. Um diese Behauptung zu stützen, fügte das Blatt hinzu: „Die Stasi-Unterlagen über Mr. Gil-bert sind spurlos verschwunden.“
Im weiteren Verlauf der „Enthüllung“ tauchte der Namen von Klaus Huhn auf, den ich aus jahrelanger gemeinsamer Arbeit kannte und von dem ich auch sicher war, dass er mir die Wahrheit sagen wür-de. Wie sich später herausstellte, hat die Ex-Schwimmerin ihn bei der Arbeit an diesem Artikel zwar aufgesucht, aber nur ein kurzes Gespräch geführt, als sich herausstellte, dass Huhn ihre „Ermitt-lungen“ nicht bekräftigen würde.
Hier die Aussage von Klaus Huhn, aufgeschrieben Ende März 2003: „Ja, ich kannte Doug Gilbert sehr gut, man hielt uns in Kolle-
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genkreisen für gute Freunde und wir waren es auch. Einmal habe ich sogar einen Deal mit ihm geschlossen, der nicht unbeträchtli-che Folgen hatte. Als wir 1976 nach Montreal gekommen waren, staunten einige der DTSB-Oberen über die vielen DDR-unfreundlichen Kommentare in den Zeitungen. Es war nicht zu überlesen, dass uns viele nicht mochten. Ich mache mal einen Sprung zum Finaltag und zitiere zwei bundesdeutsche Zeitungen, die deutlich machten, welche politischen Folgen eine olympisch er-folgreiche DDR zeitigte. Die ‚Welt’: ‚Die Sieger-Typen, so hatten die Kanadier bisher immer geglaubt, kämen aus jenem Teil Deutsch-lands, mit dem sie, die Nordamerikaner, befreundet sind’, und die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung’ meldete ihren Lesern aus der Olympiastadt: ‚Die Zahl der Menschen, die in diesen Tagen erfah-ren, wer das überhaupt ist und wo das liegt, Allemagne d’Est, German Democratic Republic, ist überhaupt nicht abzuschätzen. Die Tage von Montreal sind die Tage, an denen die DDR für Millio-nen auf die Landkarte gelangt.’ Vor dem Auftakt der Spiele aber war die Atmosphäre jedoch extrem unfreundlich gewesen. Aus meiner Sicht konnte uns nur mein Freund Doug aus der Patsche helfen, aber warum sollte der es tun? Doug wurde von uns zum Abendessen eingeladen und ihm dort ein Deal vorgeschlagen, der davon ausging, dass man mit einigen DDR-Siegern rechnen dürfe. Die wären erfahrungsgemäß in den offiziellen Pressekonferenzen umlagert, was wenig Gelegenheiten ließ, ausführliche Interviews mit ihnen zu machen. ‚Eine Stunde Vorsprung für dich’ lautete un-ser Angebot. Die DDR-Mannschaft würde ihm die Chance bieten, vor allen anderen Journalisten die Sieger irgendwo in aller Ruhe befragen zu können. Die Gegenleistung: Verzicht auf weitere ext-reme Anti-DDR-Beiträge.
Doug erbat sich Bedenkzeit, willigte dann ein und startete mit ei-nem fast ganzseitigen Beilagenartikel, in dem das Leben der DDR-Mittelstrecklerin Gunhild Hoffmeister mit dem der kanadischen Mit-telstrecklerin Abby Hoffmann verglichen wurde, wobei auch das soziale Frauen-Umfeld in beiden Ländern zur Sprache kam.
Die DDR-Sieger fanden sich fortan ständig in der ‚Gazette’ ausgie-big zitiert und Doug eroberte endgültig den Ruf ein DDR-Experte zu sein. Das wurde umso aktueller, als die DDR den zweiten Rang in der Länderwertung belegte und die USA hinter sich ließ.
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Konkret zur Haltung Doug Gilberts. Beginnen wir mit seiner angeb-lichen Sympathie für den Kommunismus. Die Erklärung ist knapp: Gilbert war zu intelligent, um ein Antikommunist zu sein. Ich erinne-re mich eines Nachmittags in einer Universität in Montreal, als wäre es gestern gewesen. Wir bestritten gemeinsam ein Seminar mit Studenten. Er sprach über den DDR-Sport und ein unter den Zuhö-rern sitzender ungarischer Emigrant – wenn ich mich richtig erinne-re, ein früherer Trainer, der dann an der Universität lehrte – atta-ckierte ihn mit heftigen antikommunistischen Losungen und ver-wies vor allem darauf, dass er als Ungar schließlich den Kommu-nismus, am eigenen Leib’ kennengelernt habe.
Gilbert blieb völlig ruhig und antwortete: ‚Ich habe in der DDR Kin-derwettkämpfe gesehen und würde solche Wettkämpfe gern auch in Kanada sehen. Ich muss nicht Kommunist werden oder mich für den Kommunismus engagieren, wenn ich diesen Wunsch äußere.’
Der Ungar daraufhin: ‚Sie tun es aber dort nur nur, wegen der Me-daillen, die die Kinder eines Tages vielleicht gewinnen.’
Darauf Gilbert: ‚Was interessiert mich als Kanadier, warum die Ostdeutschen etwas tun? Wenn ich diese Kinderwettkämpfe für nützlich und nachahmenswert halte, plädiere ich dafür, sie in Ka-nada nachzuahmen. Bringe ich damit Kommunismus nach Kana-da?’ Das beendete den unfruchtbaren Disput. Seine gelassene Sachlichkeit war seine größte Stärke, die auch seine Artikel so überzeugend werden ließ.
Noch ein Fakt, der die Legende vom ‚Kommunisten Gilbert’ erhär-ten könnte: Er schrieb eine kleine Broschüre für die Freundschafts-gesellschaft Kanada-DDR, die unbestrítten von kanadischen Kommunisten dominiert war. Aber der Zusammenhang war leicht aufzuklären: Der Präsident dieser Gesellschaft, ein gewisser Horst Döhler, der Ende der zwanziger Jahre nach Kanada ausgewandert war und sowohl ein Sportfan als auch ein Verehrer Gilberts war, wandte sich eines Tages an ihn, ob er einige seiner Artikel über den DDR-Sport in einer Broschüre zusammenfassen dürfe. Doug sah keinen Grund, die Bitte abzulehnen. So erschien ‚The little Gi-ant’ (Der kleine Riese) und erlebte zahlreiche Auflagen. Ich stand dabei, als ihn eines Tages ein Kanadier deswegen ansprach und hörte Doug antworten: ‚Ist es eine Frage der Gesinnung, wenn du deine Artikel veröffentlichen lässt. Für viele vielleicht, für mich nicht.’
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Übrigens war dem New Yorker Verleger der ‚Giant’ in die Hände geraten, als er sich entschloss, Doug einen Vertrag für das Buch ‚Die Wundermaschine’ anzubieten. Doug fragte mich, ob er da wohl eine Chance hätte, alle nötigen Genehmigungen in der DDR zu bekommen. Ich mache kein Hehl daraus, ihm einen Tip gege-ben zu haben: ‚Warte bis zu dem Sonntagmorgen an dem die Spie-le zu Ende gehen. Liegt die DDR dann vor den USA in der Medail-lenwertung, geh zu Manfred Ewald und erzähle ihm, was du vor-hast. Er dürfte in dieser Situation in einer Stimmung sein, alles zu genehmigen.’
Der Tip erwies sich als richtig. Ewald war glückstrunken, lud Doug ein, mit ihm Kaffee zu trinken und genehmigte alles.
Als Gilbert das erste Mal in die DDR kam, um das Buch in Angriff zu nehmen, überfiel ihn eine Gallenkolik. Man brachte ihn ins Krankenhaus in Dresden, fuhr ihn von dort nach Berlin, damit er nach Hause fliegen konnte. Allerdings hatten die Ärzte entschie-den, ihn vor dem langen Flug, im Krankenhaus noch zu beobach-ten. Das geschah in der chirurgischen Klinik des Krankenhauses Weißensee. Der Chefarzt dort war Dr. Wuschech und diese Ein-weisung hatte garantiert kein MfS-Offizier ausgefüllt. Doug freute sich, einen Bekannten zu treffen, beide waren sich bereits bei Olympischen Winterspielen begegnet, Doug als Journalist und Wu-schech als Mannschaftsarzt. Heute lässt sich daraus natürlich eine herrliche Story stricken: Stasi-Arzt behandelte Gilbert. Die Phanta-sie trieb Blüten: In stillen Krankenhausnächten soll Wuschech dem Kanadier die Dopinggeheimnisse der DDR verraten haben! Die kannte Doug nun und – siehe oben – geriet damit ins Visier von At-tentätern.
Im Grunde ist diese Gilbert-Story typisch für die ‚Aufarbeitung des SED-Unrechts’: Alles was passt, wird verwendet!
Und damit auch Klaus Huhn noch in dem Thriller eine Rolle be-kommt, folgten nun meine Auftritte. Den ersten hatte ich in Wei-ßensee, als ich Doug besuchte. In dem für heutige Verhältnisse wirklich genügsamen Krankenhaus erschien einmal in der Woche ein Trio, das den Patienten auf dem Flur ein musikalisches Ständ-chen brachte. Doug hatte schon in Superkliniken gelegen, aber ein solches Gastspiel noch nie erlebt und so begrüßte er mich mit den Worten: ‚Klaus, ich kann zwar kein Buch über den DDR-Sport schreiben, aber eines über die Krankenhäuser der DDR.“
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Später kam er wieder und schrieb sein Buch. Da wir uns mehrmals im Jahr bei großen Sportveranstaltungen trafen, führten wir auch öfter mal Gespräche darüber, wie er vorankam. Als die Eishockey-Weltmeisterschaft 1979 in Moskau ausgetragen wurde, brachte er das Manuskript mit und bat mich um seinen Rat. Er hatte zum Bei-spiel eine Liste der namhaftesten Sportler, die die DDR verlassen hatten dabei und ich empfahl ihm, sie wegzulassen. Dafür gab es viele Gründe, auch den, dass der Leser in den USA gar nicht beur-teilen konnte, wer von denen welche Lücke hinterlassen hatte. Ich telefonierte weder mit dem MfS noch mit Ewald deswegen, zumal Doug mir erzählt hatte, dass der Verleger das Buch nur heraus-bringen würde, wenn Ewald es zuvor akzeptierte. Dass er die Liste rauswarf, erfuhr ich erst, als ich das Buch sah. Allerdings fragte mich ein gewisser Wolfgang Gitter nach meiner Rückkehr aus Moskau danach, wie es mit dem Buch vorangehe, und bat mich, ihm einen Brief über meine Gespräche mit Gilbert zu schreiben. Gitter war im DTSB für die internationalen Publikationen zuständig und Pressechef des NOK. Ich schrieb den Brief und eines Tages fand ihn jemand im Stasi-Archiv. Gitter hatte nach der Rückwende durch Daumes Protektion Karriere beim neuen gesamtdeutschen NOK gemacht, wurde dort aber gefeuert, als seine MfS-Karriere ruchbar wurde. Schwamm drüber.
Wenn aber schon von Doug Gilbert die Rede ist, darf nicht unter-schlagen werden, dass die kanadische Regierung 1988 bei den Winterspielen in Calgary mit dem DTSB einen Vertrag schloß, künftig jedes Jahr abwechselnd einem Journalisten aus Kanada und aus der DDR einen Doug-Gilbert-Preis zu verleihen. 1990 ent-schieden sich die Kanadier für mich. Ich habe die kuriose Ge-schichte dieses Preises schon in meinen Memoiren ‚Spurt durchs Leben’ geschildert. Als die Kanadier ihre Entscheidung gefällt hat-ten, erreichte mich der Brief einer Frau Schubert auf dem Kopfbo-gen ‚Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik - Ministe-rium für Jugend und Sport -: ‚Sehr geehrter Herr Huhn, von seiten des DTSB wurde dem Ministerium für Jugend und Sport mitgeteilt, daß Sie dieses Jahr als Preisträger für den deutschkanadischen Doug-Gilbert-Journalistenpreis vorgesehen sind. Ich kann meine Zustimmung zu dieser Preisverleihung nicht geben, da ich der Mei-nung bin, daß Ihr bisheriges journalistisches Schaffen nicht dem Statut des Doug-Gilbert-Preises gerecht wird. Das Statut sieht eine
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‘Würdigung beispielhafter Leistungen in der publizistischen Tätig-keit zur Veranschaulichung der Rolle des Sports als Faktor des Friedens und der Verständigung zwischen den Völkern’ vor. Da Sie mit Ihren Beiträgen über Jahrzehnte die SED-Sportpolitik öffentlich vertraten und damit der Ideologisierung des Leistungssports, der Schaffung von Feindbildern und der Abgrenzungspolitik Vorschub leisteten, halte ich eine Würdigung Ihrer journalistischen Tätigkeit als Beitrag zur internationalen Völkerverständigung für unange-messen. Hochachtungsvoll - C. Schubert.’... Sie behielt ihre Mei-nung nicht für sich, sondern gab dem noch in Ottawa tätigen DDR-Botschafter Order, die kanadische Regierung davon in Kenntnis zu setzen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass der Brief auch deshalb so interessant war, weil er ein gut belegbares Beispiel für die Tätigkeit eines Zensors einer DDR-Ministerin liefer-te. Die Dame hatte juristisch gar kein Recht, die Auszeichnung zu vereiteln: Partner der kanadischen Regierung war in diesem Fall der DTSB, und dem hatte die Ministerin nichts vorzuschreiben. (Es sei denn, sie verhielt sich haargenau so, wie behauptet wurde, dass sich die früheren DDR-Regierungen verhalten hätten.)
Ich hatte den Preis und die Ministerin längst vergessen, als mich ein Brief des Executive Direktors der kanadischen Regierung - Ab-teilung für Fitness und Amateursport -, John Scott, erreichte. Ge-schrieben worden war er am 21. Januar 1991: ‚Lieber Herr Huhn: Mit der Vereinigung der beiden Deutschlands erloschen die offiziel-len Vereinbarungen zwischen der früheren DDR und anderen Län-dern. Zu den Vertragspunkten der Vereinbarungen zwischen dem DTSB und Canada gehörte auch die Verleihung eines jährlichen Preises für herausragende journalistische Leistungen, die die Ver-ständigung zwischen unseren beiden Ländern förderten, bekannt als der Doug-Gilbert-Preis. Sie waren als erster ostdeutscher Ge-winner ausgewählt worden. Unglücklicherweise konnten wir diese Nominierung weder offiziell verkünden noch Sie hier in Kanada als Gast begrüßen. Aber wir legen nach wie vor Wert darauf, Ihnen die Medaille zukommen zu lassen. Wir hoffen, dass das auch eine Er-innerung an jene ist, die Sie als persönlichen Freund betrachten und die Ihre Wahl als erster ostdeutscher Gewinner enthusiastisch unterstützt haben. Alles Gute für Ihre Zukunft und viel Glück in Ih-rer Arbeit, Ihr John Scott.’
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Tags darauf brachte der Päckchenbote eine Schatulle, in der sich der Preis befand.“
Nach dieser Unterhaltung war ich hinreichend im Bilde, was Doug Gilbert betraf. Aber nachdem ich aus der „Globe“ erfahren hatte, dass die kanadische Ex-Schwimmerin Heinz Wuschech, in einer „kleinen privaten Klinik in der Personalküche“ wiedergefunden hat-te und der sich dort nur „vage“ an Doug erinnern konnte, war mir auch klar, dass die Doug-Gilbert-Story noch längst nicht zu Ende geschrieben worden ist. Eines Tages wird man in einer Bar neue Erzähler finden, die beschwören, dass das MfS ihn auf der Dos-Hermanos-Brücke in San Juan über den Haufen hatte fahren las-sen, damit er nie ausplaudern kann, was ihm Dr. Wuschech alles erzählt hatte. Und es könnte sogar sein, dass man eines Tages ei-nen Film über den Kanadier dreht und dann könnte ich mir gut vor-stellen, dass das Trio auf dem Krankenhausflur das „Lied vom drit-ten Mann“ spielt.
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III. Arbeiter-Olympiade Antwerpen 1937
Von KLAUS HUHN
1987 besuchte der Autor die damals 80jährige Anne Devlie-ger im belgischen Liege. Die Tochter des Sekretärs des Or-ganisationskomitees der III. Arbeiter-Olympiade, Jules Dev-lieger betreute die Dokumente der III. Arbeiter-Olympiade, die vom 25. Juli bis 1. August in Antwerpen stattgefunden hatte. In der Sportgeschichte wurde dieses Treffen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs bislang nur am Rande behandelt. Teichler - heute Professor in Potsdam -, hatte 1988 (1.3.88, S. 10) in der „Frankfurter Rundschau“ über die erstmalige Teilnahme sowjetischer Athleten in Antwerpen vermerkt: „So reagierte der niederländische Arbeitersportverband mit einer starken Verringerung seiner Teilnehmerzahl.“
Über den festlichen Empfang des Antwerpener Bürgermeisters zum Auftakt der Olympiade schrieb die kommunistische belgische Zeitung „La Voix du Peuple“ am 26. Juli 1937: „Es ist viertel nach elf, als im Leys-Saal, dessen Wände - wie Bürgermeister Huys-mans später den Gästen erklären wird - mit Gemälden geschmückt sind, die die von den Bürgern vor Jahr und Tag erkämpften Freihei-ten symbolisieren, der Empfang des Stadtrats für das Büro der ISOS und des belgischen olympischen Arbeiterkomitees begann. Der Bürgermeister gab der Hoffnung Ausdruck, daß die Arbeiter-sportbewegung einer besseren Zukunft entgegengehen möge. Die Jugend, die nach Antwerpen gekommen sei, will Arbeit und Frie-den. Die Bevölkerung Antwerpens werde alles tun, damit sich die Arbeitersportler aus der ganzen Welt wohlfühlen.“
Nach Arbeiter-Olympiaden 1925 in Frankfurt/M. und 1931 in Wien, erlebte Antwerpen die dritte. Nachdem der Faschismus in Deutsch-land die Organisationen des Arbeitersports aufgelöst, Anlagen, Klubhäuser und Stadien konfisziert, das Vermögen beschlagnahmt und viele Arbeitersportler in Zuchthäuser und Konzentrationslager gesperrt hatte, entschlossen sich die beiden bis dahin getrennt agierenden Arbeitersportverbände SASI und RSI zu gemeinsamem
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Widerstand. So nahmen 1937 in Antwerpen zum ersten Mal Arbei-tersportler aller Länder und aller Organisationen teil.
Den Höhepunkt der Eröffnung beschrieb „La Voix du Peuple“ mit den Worten: „Dann geleitete Muller einen mittelgroßen, hellgrau gekleideten Mann mit sonnengebräuntem Gesicht ans Rednerpult: Ich stelle Ihnen den Kameraden Deutsch vor, den Präsidenten der Sozialistischen Arbeitersportinternationale, zur Zeit General der spanischen republikanischen Armee. Ein Beifallssturm brach los und als der sich gelegt hatte, ertönte die warme, erregte Stimme Julian Deutschs: ‘Ich weile hier nicht nur im Namen der Spanien-kämpfer, sondern auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Ich wende mich insbesondere an die sowjetischen Werktätigen, die die glei-chen Auffassungen vom Leben und von der Welt haben wie wir. Ich richte meine Grüße unterschiedslos an alle. Der Kampf; der in Spanien ausgetragen wird, ist nicht der Kampf einer Partei, nicht der Kampf eines Landes, sondern der Kampf für die Zivilisation.’“
Der spanische Fußballtorwart Martorell - seine Elf unterlag im Halb-finale des Turniers gegen die UdSSR 1:2, erkämpfte sich aber ge-gen die CSR mit 1:0 die Bronzemedaille - hatte bei seiner Ankunft gegenüber Journalisten erklärt, daß er nicht in allerbester Form sei, weil die Schützengräben von Aragon wenig Gelegenheit zum Trai-ning ließen. Der Sieger des Turniers, der Schwergewichtsboxer Ni-kolai Koroljow, feierte einen überzeugenden Sieg. Als vier Jahre später die Faschisten über die UdSSR herfielen, kämpfte er in ei-ner Partisaneneinheit und konnte sich in dem wohl dramatischsten Augenblick seines Lebens waffenlos gegen zwei Faschisten be-haupten, als er sie mit schnellen Hieben kampfunfähig machte.
Die deutschen Arbeitersportler hatten eine Botschaft an das Fest geschickt, in der sie aufführten, was aus ihren Besten im faschisti-schen Deutschland geworden war: Der Sprinter Hans Mickinn war zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, der 400-m-Läufer Willi Mey-er zu 13 Jahren Gefängnis, die Fußballer Gottfried Franzen und Heinrich Bohne und die Hockeyspieler Walter Harnecke und Spiro Berlin waren ermordet worden. Die Sieger von Antwerpen kamen aus vielen Ländern. Den 5000-m-Lauf gewann der später gefallene Sowjetrusse Serafin Snamenski, den 800-m-Lauf der Frauen die Französin Robigou, das 100-m-Rückenschwimmen der Spanier Martinez. Für Schlagzeilen sorgte der sowjetische Schwimmer Boi-tschenko der die 100 m Schmetterling in der Weltrekordzeit von
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1:07,9 min für sich entschied. Schon wenige Wochen nach der Ar-beiter-Olympiade erschien in Brüssel eine Illustrierte, die das Er-eignis gebührend würdigte. Daß der deutsche Text nicht in literari-sches Deutsch übersetzt werden konnte, charakterisiert die Situati-on jener Tage: „Seit den groszartigen und unvergeszlichen Tagen zu Wien in 1931, Tage, die mit goldenen Buchstaben in der Ge-schichte des Arbeitersportes geschrieben sind, ziehen graue Wol-ken über Europa... Viele Legionen Turner und Athleten von Deutschland und Osterreich sind feigherzig angegriffen worden. Sie sind vernichtet um die Missetat zu begehen, die Lebensbedin-gungen der Volksklasse zu verbinden mit ihrer Körpererziehung. Trotzdem, widerstand der Sozialistische Internationale Arbeiter-sport den harten Schlägen und beschlosz Belgien die Organisation der Ill. Arbeiter-Olympiade anzuvertrauen. Die internationale Atmo-sphäre ist noch mehr verwickelt; der Bürgerkrieg, geführt durch die rebellischen Generalen gegen die Republik, bringt Spanien in Auf-regung. Die Staaten belauern einander mit Misztrauen... Die Olym-pischen Spiele sollen stattfinden, trotz alledem. Nun können wir schreiben, dasz, trotz der tausenden Schwierigkeiten, all die Grup-pen des S.A.S.l. auf bewundernswerte Weise ihre Pflicht getan ha-ben und so beigetragen haben um die Ill. Arbeiter-Olympiada in vollen Glanz zu setzen. In Ermangelung der groszen Masse - ab-wesend durch finanzielle und ökonomische Gründe - wurde der sportliche Wert der Olympiada gröszer durch die Anwesenheit Tur-ner und Athleten aus Spanien und Sowjet-Union, die eine wirkliche Offenbarung waren. Fünftausend Arbeitersportler aus vierzehn Staaten waren am Start.
An die nationalen Bünde des Arbeitersportes der Vereinigten Staa-ten von Amerika, von England, Holland, Dänemark, Palästina, Tschecoslowakei D.T.J. und A.T.U.S., Ungarn, Polen, Finnland. An die Freunde der alten Bünde von Osterreich, Deutschland und Lett-land, die heimlich nach Antwerpen kamen um den Festen bei zu wohnen. An die Freunde von Sowjet-Union, von der spanischen Republik, von Frankreich, Norwegen. An unsere Freunde der bel-gischen Gruppen, sagen wir herzlich Dank. Sie haben dem Arbei-tersport mit Uberzeugung gedient und dieses Erinnerung-Album wird ihnen gewidmet.“
Insgesamt waren 46 Frauen und 190 Männer aus 13 Ländern am Start. In sieben Disziplinen wurden insgesamt 65 Sieger ermittelt.
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Das Fest in Dortmund
Bislang wenig zu hören war von einem Versuch deutscher Sporthistoriker, die Friedensbewegung im bundesdeutschen Sport Anfang der achtziger Jahre zu erforschen. Wir steuern eine dokumentarische Erinnerung an die Ereignisse vor zwanzig Jahren bei.
AUS DEM VORWORT DER VON DER INITIATIVE „SPORTLER FÜR DEN FRIEDEN - SPORTLER GEGEN ATOMRAKETEN“ IM MAI 1984 HERAUSGEGEBENEN DOKUMENTATION:
Im Mai 1981 beschlossen einige junge Leistungssportler, mit einem eigenen Aufruf auch innerhalb des Sports um Zustimmung und Un-terstützung für die Ziele des Krefelder Appells zu werben. Der Kre-felder Appell, getragen von einem breiten Bündnis verantwortungs-bewußter Bürger unseres Landes, war im November 1980 an die Öf-fentlichkeit getreten mit der Aufforderung an die Bundesregierung, ihre Zustimmung zur Stationierung neuer US-amerikanischer atoma-rer Mittelstreckenwaffen auf bundesdeutschem Boden zurückzuzie-hen. Damit war der Anstoß gegeben zur Mobilisierung einer von Mil-lionen von Menschen getragenen Friedensbewegung und damit zu einer der größten Protestbewegungen in der Geschichte der Bun-desrepublik überhaupt. Als Andreas Geiger, Michael Kohl und Peter Langkopf ihren Aufruf „Sportler gegen Atomraketen“ veröffentlichten, war dies das Startsignal für eine Friedensinitiative von Leistungs- und Breitensportlern, Sportwissenschaftlern, Sportfunktionären und Sportpädagogen, für die es in der bundesdeutschen Sportgeschichte ebenfalls kein Beispiel gibt... Den vorläufigen Höhepunkt bildete ein Internationales Sport- und Spielfest für den Frieden, das die Sport-ler-Friedensinitiative am 11. Dezember 1983 in der Dortmunder Westfalenhalle durchgeführt hat.
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (31.8.1983):
oss. FRANKFURT. Zu den Sport-Bewegungen, die wachsenden Zuspruch melden können, gehört seit ihrer Gründung im Jahre 1981 die Initiative „Sportler gegen Atomraketen - Sportler für den Frieden“... Aushängeschilder dieser Sport-Bewegung sind inzwi-schen 39 Olympiasieger, Welt- und Europameister, von denen die
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meisten am 11. Dezember in Dortmund auftreten wollen - bei ei-nem internationalen Sport- und Spielfest... Sie versucht zur Zeit..., von dem Vorurteil loszukommen, politisch einseitig orientiert zu sein... Man hofft auch, den Präsidenten des Deutschen Sportbun-des (DSB), Willi Weyer, zu deutlicheren Aussagen über das Enga-gement des DSB für den Frieden bewegen zu können. Die vier-zehn Thesen von Weyer, die er vor kurzem dem Hauptausschuß des DSB vorgelegt hat, werden von Dr. Franz-Josef Kemper, ehe-mals Weltrekordläufer und heute ein Sprecher der Initiative (wie auch Ruder-Olympiasieger Dr. Horst Meyer oder Stabhochspringer Günter Lohre), als „wachsweich und unentschieden“ kritisiert.
HAMBURGER MORGENPOST (1.12.1983):
Im Hamburger Sport kracht es. Einzelne Vereine und Verbände fah-ren schwere Geschütze auf, weil sich einzelne Sportler und Mann-schaften in der Initiative „Sportler gegen Atomraketen - Sportler für den Frieden“ engagieren und dies auch offen zur Schau stellen. Fall Nummer eins: Mehrere Rock’n Roll-Paare wollen beim Sport- und Spielfest der Initiative am 11. Dezember in der Dortmunder Westfa-lenhalle auftreten. Ihr Verband droht jetzt, diese Paare zu sperren, falls sie teilnehmen. Fall Nummer zwei: Handball-Frauen des Rellin-ger TV trugen in zwei Punktspielen Trikots mit dem Aufdruck für Frieden, gegen Raketen. Der Vorstand des Vereins hat den Frauen im Wiederholungsfall mit Vereinsausschluß gedroht. Fall Nummer drei: Gymnastik-Mädchen in Halstenbek zogen eben jenes Frie-denstrikot im Training an. Der Vorstand verbot diese Kleidung. Aber die Sportlerinnen wehrten sich mit Erfolg, tragen ihr Trikot weiterhin.“ ... Claude von Gemünden, Luxemburger Meister (5000 m), z. Zt. in Hamburg: „Wir Sportler werden oft als Handlanger der Politik be-nutzt, spätestens seit dem Olympiaboykott ist das jedem offenkun-dig. Da wird man doch wohl seine Meinung sagen dürfen.“
WETZLARER NEUE ZEITUNG (23.11.1983):
Empört zeigten sich gestern die Organisatoren von „Sportler gegen Atomraketen“ über eine Anordnung von Landrat Dr. Demmer, nach der ein Plakat mit der weißen Friedenstaube als Symbol nicht in der Turnhalle der Eichendorffschule aufgehängt werden darf... Landrat Dr. Demmer begründete sein Verbot damit, daß es sich bei dieser Veranstaltung eindeutig um ein Vorhaben für eine „einseitige
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Politische Richtung handelt“. Der Landrat. „Dazu geben wir unsere Schulen in keinem Fall her. Wir sind der Meinung, daß man hier den Anfängen wehren sollte.“
DIE WELT (1.12.1983):
Nach dem 11. November wird es Sportler geben, die für Frieden sind, andere weit hinter sich lassend, die beim Kampf um diesen Ölzweig nicht genug Bewegung zeigen... „Friedens-Sport“ diesen Titel gab es bisher nur im Ostblock: die „Friedensfahrt“, die Ama-teur-Radrennfahrt, die 1948 zwischen Warschau und Prag erstmals ausgetragen wurde. Elfmeter für den Frieden, Einstand, Vorteil, Spiel, Satz dafür? Es steht zu erwarten, daß sich dieser Freistil nicht durchsetzen wird. Die Sportler, die man... in der Westfalen-halle zusammenrufen möchte, sollen mit ihrem Erscheinen gegen einen, wie es bei den Veranstaltern heißt, „menschenverachtenden Beschluß der Bundesregierung zur Nachrüstung“ demonstrieren. Niemand hindert Willi Daume und andere, sich für alles, was sie für richtig halten, zu engagieren... Aber vielleicht kann den Sport in Frieden lassen. Denn: „Friede ist Freiheit in Ruhe“ (Cicero).
BONNER GENERALANZEIGER (11.11.1983):
Michael Pappert, Basketball-Nationalspieler des BSC Köln, stattete im Rahmen der Initiative „Sportler gegen Atomraketen - Sportler für den Frieden“ den Studenten des Sportwissenschaftlichen Instituts der Bonner Universität einen Besuch ab. Pappert berichtete über seine Erfahrungen auf der internationalen Sportbühne und konsta-tierte in der Abrüstungsfrage einen Konsens zwischen Sportlern aus West und Ost. „Sport ist nie unpolitisch gewesen“, so Pappert. Deshalb gelte es diesmal im Gegensatz zum Olympia-Boykott, bei dem bekanntlich die Sportfunktionäre die politische Entscheidung trafen, von den Aktiven selbst und hörbar Stellung zu beziehen.
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (8.12.1983):
Der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutsch-land (NOK), Willi Daume, wird am Wochenende an einer Veranstal-tung Sportler für den Frieden in Dortmund teilnehmen. Daume sag-te, so die Deutsche Presse-Agentur, am Mittwoch in Berchtesga-den, er werde kommen, aber keine Rede halten.
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K. GIESELER, DSB-GENERALSEKRETÄR, IM NOVEMBER 1982:
Das mitverantwortliche politische Bewußtsein sollte den Sport da-vor bewahren, seine tägliche Demonstration für den Frieden, Freundschaft und Fairneß selbst zu stören, in dem er sich in fal-sche Fronten einreiht, seine Freunde rund um die Welt durch un-bedachtes Handeln desavouiert und die Einheit von Frieden und Freiheit aufhebt.
DER LANDESSPORTBUND BERLIN E.V. IN EINEM BRIEF VOM 8. DEZEMBER 1983 AN DAS DORTMUNDER FESTKOMITEE:
Sehr geehrter Herr Langkopf, beiliegend sende ich Ihnen die Eh-renkarten für Ihre Veranstaltung am 11. Dezember 1983 in der Westfalenhalle zurück. Ich werde daran nicht teilnehmen. Der Grund dafür ist der, daß sich diese Veranstaltung nicht an alle wendet, die für Aufrüstung Verantwortung tragen, wie ich es auch Ihrem Brief entnehme. Somit ist die Veranstaltung in ihrem Grund-satz einseitig geprägt, und es werden Grenzen der Parteilichkeit tangiert. Überparteilichkeit zu wahren ist für den Sport nicht nur Satzungstreue, sondern auch eine Frage des Selbstverständnis-ses. Der Sport muß allen politischen Richtungen Heimstatt sein können. Sie bewirken mit diesen Veranstaltungen nur das Gegen-teil. Im übrigen empfehle ich Ihnen dringend, sich mit der Resoluti-on des DSB „Sport und Frieden“ vom 3.12.1983 auseinanderzuset-zen, die von der überwiegenden Mehrheit des deutschen Sports getragen wird. Reinhard Krieg
SPD-VORSITZENDER WILLY BRANDT AM 11.12.1983 AN DAS
FESTKOMITEE:
Zu Ihrem Internationalen Sport- und Spielfest für den Frieden übermittele ich Ihnen, Ihren Freunden und Gästen die besten Grü-ße und Wünsche. Ich freue mich mit Ihnen, daß Ihre Idee soviel Resonanz gefunden hat. Und ich empfinde es als eine wichtige Geste, daß der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, Willi Daume, dem ich mich verbunden weiß, Ihr Ehrengast ist. Mein Wunsch ist, daß es mit dieser Veranstaltung gelingt, ein Beispiel dafür zu geben, wie Sportler und sportinteres-sierte Bürger über sonst Trennendes hinweg friedlich und freund-schaftlich einander begegnen und miteinander diskutieren.
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Dialog zum DDR-Sport im Internet
Von HORST RÖDER
Wenn ich zurück blicke, so waren es vor allem die gegen Trainer, Sportärzte und Sportfunktionäre der DDR geführten Prozesse - ihre Ergebnisse und ihr Verlauf - die mich zum Schreiben veranlaßten. Die dort über den DDR-Leistungssport verbreiteten Behauptungen und Unterstellungen durften in der Öffentlichkeit nicht unwiderspro-chen bleiben. Die ambivalenten Ergebnisse der deutschen Sportler zu den Olympischen Spielen 2000 und 2002, bei denen die Mehr-zahl der Medaillen durch Athleten erkämpft wurde, die aus der „Schule“ des DDR-Sports hervorgegangen sind, bestärkten mich. Als Zeitzeuge und Mitgestalter dieses Sports war es mir wichtig, meine Sicht zu den Gründen für den Aufstieg und für den langjäh-rigen Erfolg des Leistungssports in der DDR darzustellen. Das In-ternet schien mir dafür die geeignetste Form.
- Es ist ein globales Medium, das weit über Deutschland hinaus sportinteressierte Menschen anspricht.
- Es bietet die Möglichkeit, unabhängig von Verlagen und Redakti-onen und deren Einfluß, eigene Auffassungen darzustellen.
- Es ermöglicht, außerordentlich flexibel neue Textteile einzubauen und auf Zuschriften, Hinweise und Fragen zu reagieren.
Bei der Wahl der Internetadresse stellte ich mit Erstaunen fest, daß die Anschrift www.sport-ddr.de im weltweiten Netz noch frei ver-fügbar war. Ich entschied mich dafür, meinen Namen anzufügen, so daß künftig auch andere unter dieser Bezeichnung und ihrem Namen eine Webseite einrichten können.
Im April 2001 eröffnete ich meine Homepage unter www.sport-ddr-roeder.de mit einem Kapitel über den Hochleistungssport in der DDR, das ich „Von Olympiade zu Olympiade“ nannte. Aufbauend auf Beschlüssen, Fachartikeln und eigenen Erfahrungen beschrieb ich darin die Entwicklung unseres Leistungssports über sieben Olympiaden (von 1960 bis 1988), vorrangig unter wissenschaftlich-trainingsmethodischen Aspekten. Ein zweites Kapitel zum Nach-wuchssport mit dem Titel „Von der ersten zur dritten Förderstufe“ folgte 2002. Als nächstes ist ein Abschnitt über die Funktionen und Ziele, die gesellschaftlichen Grundlagen und spezifischen Wirkfak-toren des Leistungssports in der DDR vorgesehen. Der gesamte
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Textumfang beträgt ca. 120 Seiten. Er wird durch zahlreiche Über-sichten, Tabellen und Fotos ergänzt.
Besonders freut mich die Reaktion derjenigen, die mir per E-Mail Kommentare oder Anfragen zusandten. Sie kommen nicht nur aus Deutschland, sondern aus den USA, der Schweiz, Österreich und Polen. Überwiegend handelt es sich dabei um sachliche Mei-nungsäußerungen, um Anfragen oder Bitten nach zusätzlichen Li-teratur- und Quellenhinweisen. Auch mit dem Abstand von über 10 Jahren erreichten mich anerkennende Worte zum Leistungssport der DDR und zu den von mir dargestellten Fakten und Erfahrun-gen. So schreibt zum Beispiel ein Schweizer Sportfunktionär:
„Sehr geehrter Herr Röder, besten Dank für die Einsicht in ihre sehr interessante Arbeit. Ich selber war an 7 OS-Spielen als Funk-tionär im Spitzenhandball tätig... Ich war auch mehrere Male in Leipzig und habe das Sportgeschehen in der damaligen DDR mit großer Aufmerksamkeit, auch mit Neid, verfolgt. Eigentlich wollte ich in der DDR Handballtrainer sein, in meiner Vorstellung konnten sich die Trainer auf ihre fachspezifische Arbeit konzentrieren und hatten weniger ‘außersportliche’, erzieherische und gesellschaftli-che Probleme zu lösen. Darum bin ich an ihrer Arbeit sehr interes-siert... Mit freundlichen Grüßen...“
Von einem aus dem Saarland stammenden Leser meiner Home-page erhielt ich die folgende E-Mail: „aufgrund meines studienbe-dingten interesses am ddr-sport bin ich über die suchmaschine ‘google’ auf ihre seite aufmerksam geworden. erfreut war ich, end-lich mit fakten über den spitzensport der ddr konfrontiert zu wer-den, als immer nur die altabgedroschenen ‘war-ja-alles-gedopt’-verdächtigungen, die man leider viel zu häufig in der presse lesen musste. ihre sicht der dinge, quasi aus erster hand, finde ich eine rundum gelungene sache und ich möchte mich bei ihnen bedan-ken, dass sie sich die mühe gemacht haben, all ihre eindrücke und erfahrungen mit der ddr-olympia-mannschaft im internet für jeder-mann bereitzustellen. mit freundlichen grüßen...“
Der Kreis derjenigen, die mir per E-Mail antworteten, reicht von Sportwissenschaftlern und -funktionären, ehemaligen Leistungs-sportlern und Trainern bis hin zu Schülern und Studenten, die sich aus unterschiedlichsten Gründen für den Sport in der DDR interes-sieren. Es war und ist für mich sehr bemerkenswert, wie viele junge Menschen zum Sport der DDR Fragen stellen. Manche wollen offen-
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sichtlich von Zeitzeugen authentisch informiert werden. Andere wie-derum wählen das Thema DDR-Sport als Gegenstand von wissen-schaftlichen Beleg-, Zulassungs- oder gar Doktorarbeiten. Mit ein-zelnen von ihnen entwickelte sich ein zum Teil reger Gedankenaus-tausch. Zwei Beispiele, die für sich sprechen und deshalb keines Kommentars bedürfen, sollen das veranschaulichen:
„Tag Herr Röder! Ich habe die Abschnitte Ihrer Arbeit im Internet gelesen und fand Ihre Schilderungen über die Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele und natürlich auch über die Nachwuchs-förderung des damaligen DDR-Sportsystems sehr interessant. Mich würde Ihre Meinung zu den folgenden Fragen interessieren.
1) Hätte es keinen Wettstreit gegeben zwischen den zwei Gesell-schaftsordnungen, Ost-West, meinen Sie, dass die DDR ein solch effizientes Sportprogramm aufgebaut hätte?
2) Die Regierung hat sicherlich einen Einfluss auf das sportliche Geschehen gehabt und hat stets behauptet, dass die sportlichen Erfolge aufgrund der sozialistischen Staatsform möglich waren. Die Sportler sollten auch für den sozialistischen Staat gewinnen, um dem Westen zu zeigen, dass im sozialistischen Staat, Sport und Gesundheit auf einer höheren Ebene waren. Was halten Sie davon und meinen Sie, dass die Sportler wirklich den Erfolg nur für den Staat erringen wollten, oder hat auch noch der eigene Ruhm eine Rolle gespielt? ...Frank F... 29. Januar 2002“
Meine Antwort: „...In gebotener Kürze einige Gedanken...:
Zu 1. Hierzu antworte ich Ihnen mit einem... Ja und Nein! Natürlich wirkte die damalige Systemauseinandersetzung auf die Entwick-lung des Leistungssports in der DDR ein. Das galt aber auch für andere im Sport führende Länder, wie sich an Programmen und praktischen Maßnahmen des Sports in den USA, der alten BRD und vielen weiteren Ländern belegen läßt. Zugleich erfaßt jede Überbetonung dieses Faktors völlig ungenügend das weitaus kom-plexere Einflußgefüge, das objektiv zu den langjährigen Erfolgen des DDR-Leistungssports führte.
- Der (auch) in der DDR zu verzeichnende Widerspruch zwi-schen Ideal und Wirklichkeit vermag nach meinem Ermessen nichts daran zu ändern, daß sie in vieler Hinsicht eine ‘Leistungs-gesellschaft’ war und auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technologischem und geistig-kulturellem Gebiet nach Spitzenleis-tungen strebte. Der Sport empfing daraus vielfältige Impulse und
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wirkte mit seinen Erfolgen nach innen leistungsstimulierend zurück. Auch aus solchen Funktionen erklärt sich maßgeblich das Gewicht des Sports im Leben der DDR und das gesellschaftliche Interesse an hohen sportlichen Leistungen.
- Völlig unabhängig von allen aktuellen internationalen Einflüssen leitete sich vor allem aus den von Karl Marx vorgezeichneten Men-schenbild einer allseitig entwickelten, sozialistischen Persönlichkeit in ihrer Einheit von Körper und Geist der in allen sozialistischen Staaten zu verzeichnende hohe gesellschaftliche Stellenwert von körperlicher Bildung, Sport und Körperkultur ab. Sie galten als wichtige Prämissen für die allseitige Vervollkommnung, für eine gesunde Lebensweise und eine sinnvolle Freizeitgestaltung der Menschen. (Der Dichter und Kultusminister Johannes R. Becher trieb diesen Anspruch auf die Spitze, in dem er in der ‘Lebensweise des Sportlers’ ‘weitgehend den Lebensstil einer neuen Generation’ zu sehen glaubte. Viele von uns, die wir für den Sport und Leis-tungsport in der DDR wirkten, waren von derartigen Visionen faszi-niert.)
- In diesem kultur- und sportpolitischen Konzept nahm die Anerken-nung und Förderung individueller Begabungen und des sportlichen Talents einen festen Platz ein. Unabhängig von der sozialen Stel-lung der Eltern sollten alle Talente des Volkes gefördert werden. Schon außergewöhnlich früh (1952, also lange bevor der ‘Wettstreit zwischen den zwei Gesellschaftsordnungen’ seinen Höhepunkt er-reichte) entstanden in der DDR mit den Kinder- und Jugendsport-schulen Spezialschulen des sportlichen Nachwuchses aus denen Generationen hervorragend ausgebildeter Athleten hervorgingen.
- Schließlich erscheint es mir berechtigt, auf den Einfluß subjektiver Faktoren hinzuweisen. Die Männer, die an der Spitze der DDR standen (besonders W. Ulbricht und auch W. Pieck), waren von Kindheit an selbst mit dem Sport eng verbunden und schenkten seiner Entwicklung sowohl in der Breite als auch in der Spitze per-sönlich größte Aufmerksamkeit. Erst aus einer derartigen, hier nur angedeuteten, komplexen Sicht lassen sich nach meinem Ermes-sen die Ursachen für die breite gesellschaftlich-staatliche Förde-rung des Sports und für den Aufstieg des DDR-Sports in die Welt-spitze erklären.
Zu 2. Hier möchte ich Sie auf die im Abschnitt ‘Olympiade 1968-72’ dargestellten Überlegungen zur Erziehung und zur Ausprägung
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von individuellen, kollektiven und gesellschaftlichen Motiven bei Sportlern hinweisen. Dabei wird von mir selbstverständlich aner-kannt, daß diese Motivierung beim einzelnen Sportler sehr unter-schiedlich gewichtet sein konnte und individuelle Beweggründe zum Teil sehr dominant gewesen sein mögen. Wir haben nie die Il-lusion von einem Erfolgsstreben ‘nur für den Staat’ vertreten, son-dern stets auf eine vielseitige Motivierung der Athleten hingewirkt. In ihr hatten starke persönliche (ideelle und materielle) Motive ei-nen außerordentlich wichtigen Platz... 5. Februar 2000“
Frank F. bedankte sich „herzlich“ und fügte hinzu: „Ihre Bemerkun-gen fand ich schon recht interessant und ich finde es lobenswert, wie Sie sich die Mühe machen na ja den Westen ‘aufzuklären’ wie es damals tatsächlich war. Ich werde sicherlich wieder einige Ge-danken äußern und vielleicht die eine oder andere Fragen stellen wollen... hoffentlich bis bald.
Aus Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern erreichte mich folgen-der Text: „...ich bin Schüler einer 12. Klasse eines Gymnasiums... Traditionell muss jeder unserer Schüler im 12. Jahrgang eine Jah-resarbeit zu einem Thema seiner Wahl schreiben. Da ich mich per-sönlich sehr stark in meiner Freizeit für das Thema Sport begeiste-re und darüber hinaus noch Interesse an der Geschichte unseres Landes habe, fiel es mir nicht schwer, für meine Arbeit das Thema DDR-Sport zu wählen. Durch die Recherchen für dieses Thema fand ich auch sehr schnell Ihre Internetseite. Durch die Informatio-nen, die ich darin fand, wurde es mir sehr erleichtert mir ein größe-res Wissen zu dem Thema DDR-Sport anzueignen, mir meine Meinung zu einigen Teilbereichen zu bilden und meine Arbeit mit interessantem und anschaulichem Material zu erweitern. Dafür möchte ich Ihnen danken und... anfragen, ob ich Zitate von Ihnen, natürlich mit entsprechenden Querverweisen zu Ihrer Person und zu Ihrer Internetseite, in meiner Arbeit mitverwenden darf. Auch sind mir bei meiner Arbeit noch einige Fragen gekommen, die ich mir selbst noch nicht beantworten kann und die ich gern einer Fachperson, wie Sie es ohne Zweifel sind, stellen würde. Ich möch-te deshalb gerne anfragen, ob es unter gewissen Umständen mög-lich wäre, mit Ihnen in Verbindung zu treten und Ihnen meine noch offenen Fragen zu stellen... 30. Juli 2000“
Ich antwortete umgehend: „...Natürlich können Sie die entsprechen-den Verweise, Textaussagen oder Abbildungen aus meiner Websei-
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te verwenden. Da sich meine Darlegungen ausschließlich auf den Hochleistungssport und den Nachwuchssport in der DDR beziehen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß kürzlich im SPOTLESS-Verlag Berlin ein Buch zur ‘Geschichte des DDR-Sports’ erschienen ist (ISBN 3-933544-62-9). Das Buch gibt einen Gesamt-überblick über die Entwicklung des DDR-Sports vom Kinder- und Jugendsport über den Leistungssport bis hin zum Sport der Erwach-senen. Gewiß finden Sie dabei noch mehr Anregungen für Ihre Jah-resarbeit, für die ich Ihnen viel Erfolg wünsche... Umgekehrt interes-siert mich das Resultat Ihrer Arbeit.“
Bereits am 12 August 2002 erreichte mich eine umfangreiche An-frage: „...ich freue mich sehr darüber, dass Sie mir auf meine Nach-richt geantwortet haben. Ich hatte nicht unbedingt damit gerechnet. Natürlich werde ich Ihnen ein Exemplar meiner Arbeit zusenden, sobald Sie fertig ist. ...Das Thema DDR-Sport ist natürlich ein sehr weites Gebiet. Im Grunde könnte und müsste man zu jedem Teil-gebiet eine eigene Jahresarbeit schreiben. Da ich das aber nicht kann, habe ich es mir in meiner Arbeit zum Ziel gesetzt, die einzel-nen Bereiche so anzureißen, dass ein allgemeiner Überblick über den DDR-Sport entsteht. Der Rezipient soll sich bei dem Studium meiner Arbeit in das Thema hineinlesen können und möglichst In-teresse dafür finden, um sich dann mit den einzelnen Teilbereichen näher befassen zu können und vor allen Dingen näher befassen zu wollen. Ich glaube, der Grundstein für die großen Erfolge des DDR-Sport lag in der Nachwuchsförderung. Im besonderen finde ich die Idee der Kinder- und Jugendspartakiaden äußerst beachtlich. Hier wurde eine Synthese zwischen Breitensport und Leistungssport er-reicht. Mich würde interessieren, welche Bedeutung der Spartakia-de ursprünglich zugedacht war. Sollte eher das Volk für den Sport begeistert werden oder basierte in erster Linie die Talentsichtung für den späteren Leistungssport als Grundidee für die Spartakiade? Und inwieweit stand dabei die sowjetische Spartakiade als Vorbild Pate? Neben den Spartakiaden war ja ebenfalls die direkte Athle-tenförderung in den Kinder- und Jugendsportschulen in solcher Form einzigartig auf der Welt. Die Sportler berichten häufig von der Disziplin, die dort geherrscht hat und genau diese Disziplin braucht (zumindest meiner Meinung nach) ein Sportler um entsprechende Erfolge bringen zu können. Doch in unserer heutigen Zeit erfährt die gesamte Gesellschaft eine Art Wertewandel. Das gilt beson-
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ders für die junge Generation, der ich ja auch angehöre. Ich habe das Gefühl, dass sich die Menschen heute nicht mehr so quälen können und vor allen Dingen wollen, wie vor einem oder zwei Jahr-zehnten. Hier sehe ich auch die Gründe für die nachlassenden Er-folge der Deutschen im Sport. Glauben Sie, dass eine solche Ju-gendförderung, wie es sie in der DDR gab, heute auf den Typus des (deutschen) Menschen umsetzbar ist? Oder anders gefragt: Fehlt den Jugendlichen von heute die Entschlossenheit und die Dis-ziplin um sich heute sportlich so in Szene zu setzen, wie es vor 1989 in fast allen Sportarten der Fall war? Davon abgesehen finde ich es äußerst bemerkenswert, dass von einem sportlich so erfolgreichen System, wie dem DDR-Sport, so wenig ‘herübergerettet’ wurde. Wa-rum gab es diese ideologische Ablehnung jeglicher Prinzipien dieses erfolgreichen Systems? Haben dies einzelne Persönlichkeiten, wie Feldhoff, von Richthofen... zu verantworten oder gab es eine breite Ablehnung gegen alles „Neue aus dem Osten“? Immerhin mussten ja alle Leute erkennen, dass auch noch 12 Jahre nach der Wende das Gros der Medaillen (siehe Salt Lake City u.a.) von Athleten ge-holt wurde, die in der DDR geboren wurden. Doch langsam bröckelt das DDR-Sporterbe dahin. Glauben Sie das es in den nächsten Jah-ren zu einer weiteren Abwertung des bundesdeutschen Sportes auf internationaler Ebene kommen wird und zukünftig bei Olympischen Spielen nur noch Plätze zwischen 5 und 10 in der Medaillenwertung erreicht werden können? Ich befürchte es leider zumindest für die Sommersportarten. Um so erstaunlicher sind für mich die Erfolge im Wintersport. Ist es hier vielleicht besser gelungen als im Sommer-sport das DDR-Erbe zu nutzen? Ich glaube zumindest in den wich-tigsten Disziplinen ostdeutsche Trainer (Frank Ullrich, Reinhard Hess, Franke/Gneupel) zu erkennen und viele Athleten kommen auch aus den selben Trainingszentren wie zu DDR-Zeiten (z.B. Oberhof, Erfurt).
Nun zu einem anderen Thema, welches mich besonders interes-siert. Ihre Arbeit als Chef de Mission... Die Leistungen welches Ath-leten haben Ihnen in dieser Zeit sportlich und charakterlich am meisten imponiert? ...Zum Abschluss hätte ich noch eine Frage, welche für mich aber fast die wichtigste ist, die ich Ihnen stellen möchte. Ich habe vor einigen Wochen das Buch „Doping - von der Forschung bis zum Betrug“ von Brigitte Berendonk, der Frau vom selbsternannten Dopingexperten Werner Franke durchgelesen,
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oder besser angelesen. Ich bin absoluter Sportliebhaber und ich möchte einfach nicht alles glauben, was in diesem Buch niederge-schrieben wurde. Was kann man jedoch dieser Frau Berendonk entgegenhalten, wenn man davon ausgeht, dass die von ihr ange-fügten wissenschaftlichen Berichte, die eindeutig das systemati-sche Doping beweisen (sollen), echt sind? Natürlich gibt es logi-sche Gründe, die man Ihr entgegenhalten könnte, wie zum Beispiel der Fakt das DDR-Athleten auch noch nach dem Zusammenbruch der DDR den sauberen (?) bundesdeutschen Sport dominieren o-der, dass sich von den vielen tausend ‘Dopingopfern’ nur ein Dut-zend weniger erfolgreicher daran gemacht haben, eine Prozessla-wine ins Rollen zu bringen. Auch andere Gründe sprechen gegen das systematische Doping... Damit möchte ich meinen ‘Fragenka-talog’ beenden. Nachdem ich alles nochmals durchgelesen habe, merke ich erst, wie viel ich geschrieben habe... Ich erwarte keines-falls, dass Sie jede meiner Frage beantworten. Vielmehr hoffe ich auf eine neuerliche Antwort von Ihnen...“
Solch ein Interesse verlangte auch eine möglichst umfassende Antwort: „...Zur Nachwuchsförderung: Hierzu habe ich alles Wesent-liche in meiner Homepage ausgeführt, so daß meines Erachtens... lediglich Deine Fragen zur Spartakiade noch offen bleiben. An den Orginalbeschlüssen des DTSB als auch der SED ist eindeutig nach-zuweisen, daß mit den Spartakiadewettkämpfen von Beginn an zwei Aufgaben - die Gewinnung möglichst aller Kinder und Jugendlichen für eine regelmäßige Beteiligung an Wettkämpfen und Training so-wie die Förderung der sportlichen Talente - gestellt und gelöst wer-den sollten. Die Idee, derartige Spartakiaden für Kinder und Jugend-liche einzuführen, baute meines Wissens... weniger auf in der Sow-jetunion bestehenden Unionsspartakiaden für erwachsene Sportler... auf. Auslöser waren weitaus stärker die in der DDR von 1954 bis 1965 mit den Pionierspartakiaden gewonnenen Erfahrungen.
Zum Thema Wertewandel und Sportinteresse: Natürlich führte die politische Wende zu einem starken Wandel der Werte in den neuen Bundesländern. Manche verloren gesellschaftlich, manche individu-ell an Bedeutsamkeit, andere, neue gewannen an Stellenwert. Des-halb darf man eine derartige vielschichtige Problematik nicht verein-fachen. In dieser auf Geld und Gewinn gerichteten Gesellschaft ver-suchen nicht wenige Jugendliche, den erfolgreichen Profisportlern (von Schumacher über Kahn bis zu van Almsick) nachzueifern. Au-
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ßerdem gibt es ‘den Jugendlichen von heute’ nicht an sich. Die Inte-ressenvielfalt ist heute sicher größer geworden. Dennoch ist das In-teresse vieler Kinder und Jugendlichen... am Sport und am Leis-tungssport groß. Schwächen und Reserven sehe ich vor allem darin, wie man dieses Interesse fördert und in richtige Bahnen lenkt.
Zum Umgang mit dem Erbe des DDR-Sports: Hier bitte ich Dich, mein Vorwort und das in der Homepage zitierte Interview zu lesen. Wenn die (nicht geringe materielle) Förderung des Leistungssports durch Staat, Wirtschaft und Medien in Deutschland fortgeführt, zu-nehmend erfolgreiche Trainer aus der Schule des DDR-Leistungssports Einfluß gewinnen und vorhandene wie auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der erforderlichen Breite in den Sportverbänden durchgesetzt werden, vermag der Spitzensport der BRD durchaus einen vorderen Platz unter den leistungsstärksten Sportländern der Welt zu behaupten. Die Leistungen zu den Olym-pischen Winterspielen 2002 sind ein Beleg dafür...
Zum Doping: Doping ist ein Attribut des internationalen Sports und hat um keines der im Leistungssport führenden Länder einen Bo-gen gemacht. Berendonk spricht in ihrem Buch auf Seite 45 offen auch vom Doping-System in der alten BRD. Ich zitiere: ‘Im Grunde war als Folge der heftigen Doping-Diskussion von 1977 nur der Vertuschungsaufwand erhöht worden. Die für den Sport Verant-wortlichen hatten in kurzer Zeit ein komplexes, neues System des illegalen Anabolikadopings geschaffen, an dem auch wieder Sportmediziner diskret rezeptierend mitwirkten...’ Es wurde nach-gewiesen, daß die Anwendung von Hormonen im Leistungssport in den 50er Jahren im Sport der USA begann, dann auf die westeuro-päischen Staaten übergriff und erst Ende der 60er Jahre auch im Sport der sozialistischen Länder Eingang fand. Ich erinnere mich, daß es damals in einer Reihe von Sportarten um die erforderliche Chancengleichheit der Sportler im Wettbewerb mit den Athleten an-derer Länder ging. Hinzu kam, daß die Anwendung von Anabolika bis 1974/75 durch das IOC und die Internationalen Sportverbände nicht verboten war. Eine interne Befragung von Teilnehmern an den Olympischen Spielen in München in der Leichtathletik ergab meines Erachtens das Resultat, daß 68 % der Befragten Anabolika genommen hatten. Dabei muß man davon ausgehen, daß zu die-ser Zeit die Nebenwirkungen dieser Hormone noch relativ uner-forscht und im Sport auch weitgehend unbekannt waren. Der medi-
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zinisch-wissenschaftliche Erkenntnisstand von heute ist mit dem von damals in keiner Weise vergleichbar! (Heute ist beispielsweise bekannt, daß Viagra insgesamt 108 Nebenwirkungen aufweist). Die vom Anabolika-Hersteller VEB Jenapharm 1974 in der DDR of-fiziell herausgegebene Ärzte- und Apothekerinformation wies da-gegen kaum auf Nebenwirkungen hin und ließ den Einsatz dieser Mittel unter ärztlicher Kontrolle als vertretbar erscheinen. Dabei ist es falsch, zu unterstellen, daß Anabolika in nahezu allen Diszipli-nen eingesetzt wurde und einen vermeintlich ausschlaggebenden Einfluß auf die Leistungssteigerung hatte. Für den Leistungssport der DDR war stets der wissenschaftlich fundierte Trainingsprozeß das entscheidende Mittel. Nur auf diesem Weg wurde es möglich, daß mehrere Generationen von jungen talentierten Sportlern sys-tematisch zu sportlichen Höchstleistungen geführt werden konnten. Das darzustellen, ist vor allem das Anliegen meiner Homepage.
Vom heutigen Wissens- und Erfahrungsstand ausgehend, muß man sich gegen den Einsatz von leistungssteigernden Medikamen-ten und allen anderen Mitteln, die nachweislich die Gesundheit von Sportlern gefährden können, aussprechen... Bei allen Fortschritten in der Kontrolle sind im Spitzensport die ermittelten Dopingfälle be-kanntlich nur die Spitze eines Eisberges. Noch bedenklicher ist die Situation im Fitneßbereich. Man schätzt die Zahl von Jugendlichen, die in diesem Bereich in Deutschland Anabolika zu sich nehmen, auf 150.000 bis 200.000. Wiederum von den USA ausgehend, fin-det der Einsatz von Hormonen in sogenannten ‘anti-aging’-Programmen auch in Europa und in Deutschland zunehmende Verbreitung. Und auf der am 14. Juni im Bundestag geführten De-batte über ein ‘Dopingopfer-Entschädigungs-Gesetz’ wies Täve Schur darauf hin, daß die Pharmaindustrie in Deutschland jährlich 6 Tonnen an Anabolika produziert, obwohl davon nur 500 bis 600 Kilogramm für medizinische Zwecke benötigt werden. Berechtigt stellte er die Frage, wo der Rest bleibt!
Es wäre zu wünschen, daß der in Deutschland weit verbreiteten Heuchelei und Doppelmoral in Sachen Doping endlich ein Ende gesetzt wird. Nicht die DDR und der DDR-Sport haben das Doping eingeführt, sondern Gewinnstreben, Kommerz und Professionali-sierung sind in der heutigen Gesellschaft die Ursachen dafür... Lie-ber Mathias, obwohl es für mich leichter gewesen wäre, wenn ich die Beantwortung des letzten Fragekomplexes mit irgendwelchen
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Argumenten umgangen hätte, habe ich versucht, Dir auch dazu meine Auffassung mitzuteilen. Mir scheint es eine Pflicht von uns Älteren zu sein, die wir über Jahre hinweg die Verantwortung für den Sport in der DDR trugen, Euch - den Jüngeren - auf Eure Fra-gen eine Anwort zu geben. Du mußt für Dich entscheiden, wie Du meine Antworten bewertest und ob Du damit einverstanden sein kannst. Deshalb bitte ich Dich auch, daß Du meine Darlegungen, die ich unter Zeitdruck und ohne die nochmalige Prüfung einzelner Fakten in den PC geschrieben habe, nicht als Zitate für Deine Be-legarbeit verwendest. Betrachte und verwende sie vor allem, um Dir eigene Standpunkte zu erarbeiten, die sich mit eigenen Worten in Deiner Arbeit widerspiegeln. Nochmals viel Erfolg für Deine Ar-beit. Die Rückantwort traf nur Stunden später ein: „...ich möchte Ihnen für Ihre ausführlichen Darlegungen danken. Insbesondere die Offenheit und Ehrlichkeit... haben mich beeindruckt, da ich das in dieser Form nicht erwartet hatte. Gerade Ihre Ausführungen zum Doping-Problem sind für mich überzeugend. Ich teile... überwie-gend Ihre Meinung. Herr Prof. Franke, den ich ebenfalls zu diesem Thema um eine Stellungnahme gebeten hatte, hielt es leider... nicht für nötig mir zu antworten. Nur durch Menschen wie Sie, ist es möglich, die DDR-Geschichte (nicht nur zum Thema Sport) auf-zuarbeiten, so dass sich ein wahres Bild entwickelt und ein Mensch, der in 50 Jahren in ein Geschichtsbuch sieht, nicht etwas von einer diktatorischen Gewaltherrschaft darin liest, sondern et-was über die Geschichte eines Staates erfährt, der einige schlech-te Aspekte, aber auch sehr viele gute hatte. Nochmals vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit xyz 25. August 2002“
Bleibt am Ende ein erstes Fazit: Seit eineinhalb Jahren im Internet, habe ich mit der Veröffentlichung über den Leistungssport der DDR viele interessante Erfahrungen gemacht. Sie bestärken mich darin, meine Webseite weiter ausbauen und auch andere - Wissenschaft-ler, Trainer, Sportmediziner und Funktionäre des Sports - zu ermu-tigen, ihre Erkenntnisse und Erfahrungen zu publizieren. Neben den bekannten Medien bietet sich das Internet als modernes Kommunikationsmittel an, mit dem weltweit vor allem junge am Sport interessierte Menschen erreicht werden können. Es stellt ei-ne sehr geeignete Plattform dar, um Kontakte zu knüpfen, Fragen zum Sport der DDR zu beantworten und unsere Auffassungen und Erfahrungen selbstbewußt zu vertreten.
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Die „Rettung“ eines Instituts
Von SEBASTIAN DROST
Das Deutsche Olympische Institut sei „gerettet“ worden, verlautete unlängst Solche Mitteilungen geraten derzeit, noch dazu in Berlin, schnell in die Rubrik der Kurznachrichten, weil ständig ranghohe kulturelle Einrichtungen bis zum Rand des Abgrunds abgespart werden und in diesem konkreten Fall die Frage aufkommen könn-te, warum ausgerechnet diese letztlich nicht allzu belangvolle Insti-tution (ein Hauptstadtblatt degradierte es 2001 in fetter Schlagzeile zum „Palaver-Tempel.“) durch Gelder des Nationalen Olympischen Komitees saniert wurde. Schwerer fällt noch ins Gewicht, dass die Geschichte dieses Instituts von allen Zuständigen kontinuierlich verschleiert wird, um seine faschistische Vergangenheit möglichst nicht ruchbar werden zu lassen. In der Internet- Selbstdarstellung der in einer Nobelvilla am Wannsee beheimateten Einrichtung wird die Historie so dargestellt: „Das... Institut wurde am 24. Mai 1993, anläßlich des 80. Geburtstages von Prof. Dr. Willi Daume, offiziell eröffnet... Die ursprüngliche Idee, ein derartiges Institut zu grün-den, ist älter und geht, wie sollte es anders sein, auf Coubertin zu-rück... 1937 regte Coubertin... in einem an die ‘Deutsche Reichsre-gierung (da im Original die Abführung fehlt, bleibt offen, was da exakt zitiert wurde) gerichteten Brief an, ein Internationales Zent-rum für Olympische Studien zu gründen. 1938 im April konnte dann das ‘Internationale Olympische Institut’ unter der Leitung des geschäftsführenden Direktors Carl Diem seine Aufgaben in Berlin aufnehmen. Finanziert wurde das Unternehmen aus den Über-schüssen der Olympischen Spiele 1936, die in eine Stiftung einge-bracht wurden.“
Dem gewissenhaften Leser kann nicht entgehen, dass die Frage offen bleibt, wann das Institut denn nun tatsächlich seine Arbeit aufnahm - 1938 oder 1993? Der Unterschied wäre nicht unwichtig.
Belegt ist: Die für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin Zuständi-gen - darunter der damalige Generalsekretär des Organisations-komitees der Spiele, Carl Diem - hatten der damals weltweiten Aversion gegen den Missbrauch des olympischen Anliegens durch Hitler-Deutschland mit dem Schachzug zu begegnen versucht, den 1925 von allen Ämtern zurückgetretenen Begründer der modernen
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Spiele, Baron Pierre de Coubertin (Frankreich), dafür zu gewinnen bei der Eröffnung der Spiele an der Seite Hitlers mitzuwirken. Dem Anliegen kam entgegen, dass der Baron in beunruhigender Armut in Genf lebte und vergeblich versucht hatte, sich im achten Lebens-jahrzehnt noch um einen Arbeitsplatz zu bewerben. Coubertin igno-rierte zwar die Offerte aus Berlin, ließ sich aber von Diem überre-den, in einer Vortragsfolge im deutschen Reichsrundfunk eine dis-krete Zustimmung zu den Spielen unterm Hakenkreuz zu bekun-den. Die ihm vor allem von dem emigrierten deutschen jüdischen Journalisten Curt Rieß eindringlich gestellte Frage nach der Höhe des Honorars, beantwortete er nie, aber man ist ziemlich sicher, dass es sich um eine fünfstellige Summe handelte.
Als die Spiele 1936 in den Augen der rechten Weltmeinung mit ei-nem unbestrittenen Erfolg geendet hatten, wurden in Berlin so-gleich handfeste Pläne geschmiedet, wie man die olympische Be-wegung im Zuge der „Neuordnung“ Europas fest in deutsche Hän-de bringen könnte. Die erste Etappe dieses Planes war die Einrich-tung eines „Olympischen Instituts“ in Berlin, das von Hitlers Innen-minister Frick durch Dekret „gegründet“ wurde. Zum Chef wurde - auch das zeugt für das enorme Interesse an diesem Plan - der Ex-Organisationskomiteechef Diem bestellt. Der wurde noch vor einer wenigstens formal nötigen Billigung des Internationalen Olympi-schen Komitees aktiv, in dem er - obwohl von niemandem eingela-den - nach Ägypten reiste, um an der dort am 13. März 1938 auf einem Nildampfer beginnenden Tagung des Internationalen Olym-pischen Komitees teilzunehmen.
Diem in seinen Memoiren: „Auf seiner 37. Session im März 1938 hatte das IOC den auf Anregung Coubertins zurückgehenden Plan zur Gründung eines Intemationalen Olympischen Instituts geneh-migt.“1) Diese Feststellung widerlegt faktisch die Behauptung, Cou-bertin habe einen Brief an die „Reichsregierung“ geschrieben, denn den zu erwähnen, hätte Diem sicher nicht versäumt. Der damalige IOC-Kanzler Otto Mayer beschrieb die Komitee-Gründung ein we-nig anders: „Ein Internationales Olympisches Institut wurde in Deutschland gegründet. Dr. Lewald informierte darüber das IOC schriftlich...“2)
Mayer widerlegte damit, dass das IOC den Beschluss gefasst hatte und schilderte die Reaktionen am Sitz des IOC: „Dr. Messerli äu-ßerte in Lausanne die Absicht, das Internationale Institut für Sport-
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pädagogik (BIPS) und das Olympische Institut in Lausanne, zwei von Baron de Coubertin nach dessen Rücktritt von der Funktion des IOC-Präsidenten gegründete Institutionen, zusammenzu-schließen. Das IOC beschloß, sich aus den zwischen beiden Insti-tutionen eventuell entstehenden Diskussionen herauszuhalten ...“3) Diem beließ es auf dem Nil nicht dabei, die Legalisierung seines Instituts zu betreiben, sondern drängte sich - obwohl nie Mitglied des IOC - sofort in die Funktion des IOC-Sekretärs, als klar wurde, dass der diese Funktion bekleidende Schweizer Oberst Berdez wegen einer schweren Krankheit nicht erscheinen würde. Um zu il-lustrieren, welche Rolle die Deutschen schon 1938 auch im IOC bereits spielten, soll nicht unerwähnt bleiben, dass Dr. Theodor Lewald, der seit 1924 IOC-Mitglied für Deutschland war, aber als „Halbjude“ eingestuft worden war, auf dem Nilschiff seinen „Rück-tritt“ einreichen musste und selbst seinen Nachfolger vorschlug: Walter von Reichenau. Dieser General war von Hitler schon 1934 zum Chef des Wehrmachtsamtes im Reichswehrministerium be-stellt worden und gehörte fortan zu seinen engsten militärischen Vertrauten. Das wurde den IOC-Mitgliedern auf ungewöhnliche Weise demonstriert. Der spätere US-amerikanische IOC-Präsident Brundage erinnerte sich in seinen Memoiren: „Ein Vorfall verriet..., woher der Wind wehte... Ein Regierungsarchäologe befand sich an Bord, und wann immer eine bedeutende Sehenswürdigkeit... er-reicht wurde, ging das Schiff vor Anker... Bei einer dieser Unterbre-chungen stieß ein deutsches Militärflugzeug auf die Wüste herab, um eines der IOC-Mitglieder aufzunehmen, den deutschen General von Reichenau, der zu Hause gebraucht wurde.“4)
Brundage, der alles andere als ein Antifaschist war, hatte sich rich-tig erinnert: Der General war bei der Annektion Österreichs ge-braucht worden. Zwei Jahre später stand er an der Spitze der Ar-mee, die Belgien überfiel, und damit das Land, in dem der IOC-Präsident Comte Baillet-Latour lebte. Diem folgte dem General und setzte den IOC-Präsidenten von der veränderten Lage ins Bild: „In Sachen des Olympischen Komitees fand ich ihn durchaus be-reit, der neuen Lage Rechnung zu tragen...“5) Die Funktion des Mannes, der dem IOC-Präsidenten die Forderungen Hitler-Deutschlands diktierte: Direktor des Internationalen Olympischen Instituts. In dieser Eigenschaft publizierte er auch 1942 in Berlin ein Buch mit dem Titel: „Der olympische Gedanke im neuen Europa...“
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„Die neue Zeit nach dem Krieg wird auch einen neuen olympischen Aufbau fordern.“6)
Wie Olympia dann aussehen würde, daran arbeitete sein Institut.
Am 6. Januar 1942 starb der IOC-Präsident. Er hatte den Schmerz über den Tod seines Sohnes, der sich belgischen Freiwilligen im Kampf gegen die Faschisten angeschlossen hatte, nicht verwun-den. Die Nachricht von seinem Tod löste bei den deutschen Olympiaokkupanten hektische Betriebsamkeit aus. Ein Dietrich Bartens, Chefredakteur der deutschsprachigen Brüsseler Zeitung, schickte am späten Abend des 8. Januar 1942 dem aus Berlin in die belgische Hauptstadt geeilten Ritter von Halt einen Brief ins Ho-tel, in dem folgendes zu lesen war: „Gestern ... rief mich der Leiter des hiesigen Deutschen Nachrichtenbüros, Herr Körber, an, um mir mitzuteilen, er habe... ein Fernschreiben... für mich erhalten mit dem Auftrag, ich möchte mich um die Sicherstellung des Nachlas-ses des Grafen Baillet-Latour bemühen...“7) Größer als Halts Trauer war die Sorge, wie man nun endlich das Sekretariat des IOC in die Hand bekommen könnte. IOC-Mitglied Ritter von Halt hoffte, das Büro des Präsidenten „übernehmen“ zu können, doch hatte der Belgier die Unterlagen längst zu seinem schwedischen Stellvertre-ter Sigfrid Edström bringen lassen und Ritter von Halt schäumte über den: „... dieser schlaue alte Fuchs versucht, auch die Ge-schäftsstelle des IOC in die Hand zu bekommen.Hier heißt es nun scharf aufpassen“8)*
Edström sorgte dafür, dass die Deutschen nicht an die olympi-schen Schalthebel gelangten. Der Direktor des „Internationalen Olympischen Instituts“ aber befasste sich gegen Ende des Krieges mit anderen Aufgaben: „Er stand ... im Rang eines SA-Oberführers... und nun war ihm angetragen worden, ein Bataillon des Volkssturms zu übernehmen. In Erkner entdeckte Diem „daß wir auf beiden Seiten vom Russen weit umflügelt“9) waren und empfahl den Rückzug. So kam es, dass beide nach Kriegsende der bundesdeutschen Regierung und dem bundesdeutschen Sport zur Verfügung standen: Diem wurde von Adenauer ins Bonner Innen-ministerium geholt und war danach Rektor der Kölner Sporthoch-schule. Ritter von Halt fungierte als NOK-Präsident. Auch das Olympische Institut überlebte und wurde jetzt vom NOK vor dem Untergang bewahrt. Vielleicht wegen seiner ungewöhnlichen Ge-
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schichte? Es beruft sich jedenfalls darauf: Gegründet 1938 auf Grund einer Anregung Coubertins.
1) Diem: Ausgewählte Schriften, 3. Reiseberichte. St. Augustin, o.J., S. 160
2) O. Mayer: A Travers le anneaux..., Lausanne, S. 31
3) Ebenda
4) A. Brundage: Die Herausforderung. München 1972, S. 129
5) ZPA R.v.H. I Bl. o. N.
6) C. Diem: Der olympische Gedanke im neuen Europa, Berlin 1942. S. 5 ff
7) Ullrich: Olympia geliebt und gehasst, Berlin 1987, S. 113
8) Ebenda
9) L. Diem: Fliehen oder bleiben?, Freiburg 1982, S. 47f
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Gedanken zur Kritik an der
„Geschichte des DDR-Sports“
Von HELMUTH WESTPHAL
Ende November 2002 fand in Berlin die Jahreshauptver-sammlung des Vereins „Sport und Gesellschaft“ statt, der ei-ne Diskussion über die vom SPOTLESS-Verlag herausgege-bene „Geschichte des DDR-Sports“ auf die Tagesordnung gesetzt und dazu auch Gäste wie den Historiker Prof. Dr. Siegfried Prokop (Berlin) und den Olympiahistoriker Prof. Dr. Sven Güldenpfennig (Hamburg) eingeladen hatte. Anschlie-ßend ziehen Prof. Dr. Helmuth Westphal und Dr. Hannes Si-mon ein Fazit dieser Diskussion. Wie in solchen Situationen oft nicht zu vermeiden, gerieten beide etwas lang. Wir kürz-ten sie geringfügig und publizieren sie, ohne damit einen Präzedenzfall zu schaffen.
Ausgehend von den unterschiedlichsten Erwartungen, die an eine geschichtswissenschaftliche Darstellung des DDR-Sportes gestellt werden, kam es nach dem vom Spotless-Verlag zu der genannten Materie herausgegebenen Buch neben vielen Anerkennungen und Zustimmungen zwangsläufig auch zu kritischen Anmerkungen. Manchen fehlte das Eine oder andere. Sehr umfassende Kritiken liegen von den Professoren Dr. Erbach und Dr. Güldenpfennig vor, die sich aber in ihrer Diktion wesentlich unterscheiden. Mit Akribie -belegt Erbach in seiner Ausarbeitung, daß zahlreiche Gebiete lü-ckenhaft, teilweise fragmentarisch und zu unproblematisch darge-stellt worden sind, womit er einen wertvollen Beitrag zur weiteren Bearbeitung der einzelnen Stoffgebiete geleistet hat. Güldenpfen-nig hingegen beläßt es bei einer allgemeinen Kritik und bedauert den Verzicht der Autoren auf eine prinzipielle Auseinandersetzung, mit dem Charakter des DDR-Sportes. Den Autoren sind die Gren-zen ihres Buches durchaus bewußt gewesen. Sie wollten erst ein-mal auf den Grundlagen ihres derzeitigen Wissensstandes, den Ansprüchen einer möglichst breiten Schicht von ehemaligen DDR-Sportlern und, der personellen sowie finanziellen Rahmenbe-dingungen, die Sportliteratur bereichern. Nunmehr können durch ergänzende Untersuchungen Lücken geschlossen, Stoffe ergänzt, Sichten vertieft, präzisiert und korrigiert werden. Gerade in dieser
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Hinsicht lassen sich berechtigte Erwartungen um so besser befrie-digen, sofern sich dafür die Voraussetzungen für Wissenschaftler, deren Werdegang in der DDR verlief, schrittweise normalisieren. Die kritische Auseinandersetzung mit dem DDR-Sport, die beson-ders prononciert von Güldenpfennig verlangt wird, hat ihre Berech-tigung, sofern es darum geht, Lehren für die Zukunft zu ziehen, nicht aber einem paranoiden Antikommunismus einen Dienst zu erweisen. Vielmehr muß herausgefunden werden, ob der DDR-Sport mit seinen verschiedenen Segmenten an humanisti-schen Zielen orientiert war und sich in der Praxis daran halten konnte. Das Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit läßt sich aber nur bedingt und somit kaum mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch klären, wenn nur die Hintergrunddokumente der gesell-schaftlichen und staatlichen Führungsgremien der DDR eingese-hen nicht aber die entsprechenden der BRD und gegebenenfalls auch anderer Länder genutzt werden können, weil deren Freigabe durch Zeitsperren oder andere gesetzliche Grundlagen einge-schränkt oder verboten ist. Diese Einsichtnahme ist aber dringend erforderlich, um annähernd die sportpolitische Spezifik des Kalten Krieges erfassen und ihre Auswirkungen auf den DDR-Sport nachweisen zu können, denn es gibt keine Kunst eindimensionaler Wahrheitsfindung. Erst das Wissen um politische Kausalitäten er-laubt dann auch eine Einordnung von Praktiken der Staatssicher-heit im DDR-Sport und des Umgangs mit Dopingverfahren. Wer Zusammenhänge außer acht läßt und mit vorgefaßter Meinung im Stile suggestiver Mantras sogenannte kritische Wertungen ver-langt, opfert das Investigationsprinzip der Wissenschaft einem nur zu durchsichtigen politischen Pragmatismus. Damit wird auch die Frage aufgeworfen, mit welchem Werteinhalt eine kritische Unter-suchung des DDR-Sportes wie auch anderer Sportbewegungen vorgenommen werden soll. Güldenpfennig verlangt, sich auf die ureigensten Anliegen des Sportes zu besinnen, indem er meint: "Der kulturelle Eigensinn und Eigenwert des Sportes ist die maß-gebliche Referenzebene für einen verantwortungsbewußten Um-gang mit dem Sport und seinen spezifischen Aufgaben in der Ge-sellschaft." Den Inhalt eines solchen Imperativs bestimmt er nicht näher, denn er unterläßt es, sowohl den Eigensinn als auch den Eigenwert des Sportes zu definieren. Die Autoren der "Geschichte des DDR-Sportes" gehen nur pauschal und deklarativ auf die Rea-
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lisierung solcher Werte ein und es wäre wünschenswert und ver-dienstvoll, wenn weitergehende Untersuchungen die allgemeinen Aussagen über das Streben nach Freude an der Bewegung, sport-lichen Leistungen, Unterhaltung, Geselligkeit, Gesundheit, körperli-cher Schönheit, Anmut der Motorik, Befriedigung des Wagemutes, Repräsentation einer Interessengemeinschaft, der Pflege morali-scher Normen sowie Sitten und Bräuche konkretisieren und daraus kulturpolitische Wertungen der Praxis des DDR-Sportes abgeleitet werden könnten. Aber auch solche Untersuchungen können die sportpolitischen Rahmenbedingungen nicht ausblenden. Der soge-nannte unpolitische Sport ist eben nur eine Chimäre. Die Struktu-ren des Sportes existieren im Prozeß der Verwirklichung ihrer spe-zifischen Zielstellungen, die sich aus dem Eigensinn und dem Ei-genwert des Sportes ergeben, nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Ihre Existenz und Wirksamkeit hängt vor allem von der Politik des jeweiligen Staates und anderer gesellschaftlicher Struk-turen ab", wozu besonders die Wirtschaft zählt. Sie fördern den Sport nicht selbstlos, sondern beziehen die Resultate des Sport-treibens in ihr Kalkül ein. Einer solchen politischen Korrespondenz ist nicht nur der Sport unserer Tage ausgeliefert: auch das Altertum kannte bereits diese Gesetzmäßigkeit. Der gesellschaftliche Nut-zen des Sporttreibens ist vielfältig. Besonders offenkundig ist die Verwertbarkeit der Ergebnisse des Sporttreibens im Arbeitsprozeß und in militärischen Operationen. Der Mensch spielt im Prozeß der Kapitalverwertung auch mit den durch den Sport erworbenen Ei-genschaften nach wie vor eine große Rolle, woraus sich unter an-derem auch die verschiedenen Anstrengungen zur Förderung des Sportes erklären. Dennoch findet sich in den kapitalistischen Län-dern keine ernstzunehmende sportpolitische Orientierung, die sich gegen die Nutzung des Sportes zur Ausbeutung des Menschen durch das Kapital richtet. Das wird besonders an der Existenz des Profisportes sichtbar. Nicht einmal dubiose Praktiken führen zu sportpolitisch relevanten Protestaktionen. Der kulturpolitische Ma-nipulierungsmechanismus einerseits und die Fortschritte im Kampf um die Verbesserung der Möglichkeiten des Sporttreibens für die Interessenten andererseits lassen trotz vielfältiger Unzulänglichkei-ten und offener Wünsche zwar begrenzte sportpolitische Forderun-gen zu, nicht aber solche, die von der Warte eines humanistischen Sportes aus das Kardinalprinzip der kapitalistischen Gesellschaft in
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Frage stellen. Solche würden mit dem sogenannten Eigensinn des Sportes unvereinbar sein. Diese Realität können auch jene nicht ignorieren, die von einer alternativen Weltanschauung aus den Verwertungsprozeß des Sportes in einem kapitalistischen System an den Pranger stellen.
Anders verhält es sich mit der Nutzung des Sportes für die Zwecke des Krieges. Es sind ja nicht nur die sportlichen Leistungseigen-schaften, die von einem Individuum für den Kriegseinsatz verlangt werden. Der Sport eignet sich auch zur chauvinistischen Manipulie-rung der Sporttreibenden und darüber hinaus ganzer Volksgrup-pen. Die deutschen Faschisten nutzten große Sportveranstaltun-gen und internationale Sporterfolge, um den ideologisch anfälligen Volksmassen des Dritten Reiches ein Sendungsbewußtsein zu vermitteln, das ein wichtiger Bestandteil der geistigen Kriegsvorbe-reitung war. Der bürgerliche deutsche Sport war für beide Weltkrie-ge des Zwanzigsten Jahrhunderts ein Kräftepotential, mit dem die jeweilige deutsche Kriegspartei strategisch regelrecht kalkulierte und deshalb Konzepte zur Integration des Sportes in die Vorberei-tung und Durchführung von Kriegen umgesetzt hat. Die Resultate der Einbeziehung des Sportes in die Vorbereitung und Durchfüh-rung der Weltkriege sind dokumentiert und können heute noch von Zeitzeugen erhärtet werden. Das Wissen um den Mißbrauch für Eroberungskriege hat das Bekenntnis zur Olympischen Idee ge-stärkt, nicht zuletzt deshalb, weil neue kriegerische Auseinander-setzungen spezifischer Kapitalinteressen wegen vorbereitet wer-den. Aber unabhängig davon, mit welcher Begründung das Be-kenntnis zu Frieden und Völkerverständigung als Werteorientierung des Sportes anerkannt oder vielleicht auch abgelehnt wird, ist nicht damit zu rechnen, daß die Autoren der "Geschichte des DDR-Sportes" zu dieser sportpolitischen Zielstellung des DDR-Sportes auf Distanz gehen. So plakativ diese in der Praxis des DDR-Sportes jeweils auch wahrgenommen wurde, so verläß-lich war sie jedoch für die prinzipielle Wirksamkeit des DDR-Sportes im nationalen wie internationalen Maßstab. In der Sportbewegung der DDR gab es keine Ideologie der Völkerverach-tung, der Großmachtsucht, Kriegsverherrlichung und des Antisemi-tismus, es sei denn, solche politischen Verirrungen geisterten in il-legalen Nischengruppen. Und wenn in der Gegenwart gemäß den Umfragen einiger Meinungsforschungsinstitute die Antikriegsstim-
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mung in den ostdeutschen Bundesländern stärker als in den west-deutschen ist, dann findet sich darin auch ein ideologisches Aus-laufpotential des DDR-Sportes wieder. Die Auseinandersetzung um das Friedensbekenntnis im deutschen Sport kann und muß weiter-geführt werde, zumal auch das deutsche Kapital gegenwärtig nicht mehr einheitlich und bedenkenlos auf Kriege setzt, wodurch dem deutschen Sport die Kollision mit seiner sozialökonomischen Basis weitgehend erspart bleibt. Nicht zuletzt deshalb erklärt sich, wes-halb in der deutschen Sportbewegung unserer Tage die Friedens-idee dominiert. Aber um sie muß auch künftig gerungen werden. Und wer den Inhalt der Olympischen Idee als politische Zielstellung des Sportes in Frage stellt, weil der Sport zur Verhinderung von Kriegen untauglich ist, der läßt außer Acht, daß die Chancen zur Sicherung des Friedens schlechter stünden, wenn die Volksmas-sen darauf verzichteten, gegen ungerechte Kriege zu kämpfen. Wenn fünfundzwanzig. Millionen deutsche Sportler und annähernd ebensoviel Sympathisanten sich gegen die Teilnahme der Bundes-republik an militärischen Abenteuern wenden würden, worum ge-rungen werden müßte, bekäme die Friedensbewegung einen im-mensen Kräftezuwachs mit moralischer Legitimation. Die Ge-schichte lehrt, daß ein mächtiger Widerstand gegen den Krieg nicht vergebens ist, aber auch nicht immer zum Erfolg führt, sofern ag-gressive Regierungen sich darüber hinwegsetzen.
Wenn der Sport mit seiner Olympischen Idee auch allein keine Kriege verhindern kann, so ist er doch mit seiner olympischen Wer-teorientierung eine friedensfördernde Kraft, auf die gerade in der Gegenwart nicht verzichtet werden sollte. Eine Absage an die Olympische Idee wäre nicht nur ein Kollateralschaden des interna-tionalen Sportes, sondern eine Art Kapitulationsreflex vor den Kräf-ten des Krieges. Deshalb werden sich die Autoren der "Geschichte des DDR-Sportes" zwar der Diskussion um die Eigenwerte und den Eigensinn des Sportes stellen, nicht aber in ihrem Bekenntnis zur Olympischen Idee mutieren.
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Diskussion zur
„Geschichte des DDR-Sports“
Von HANS SIMON
Der Verein Sport und Gesellschaft hatte Mitglieder und Interessenten für den 25.11.2002 in die Räume des SV Bau-Union Berlin eingela-den. Im Mittelpunkt einer anregenden Diskussion stand die im Spot-less-Verlag Berlin erschienene „Geschichte des DDR-Sports“1.
Einleitend erhielt Günther Wonneberger als Vertreter der an der Textfassung direkt oder indirekt Beteiligten (Helmuth Westphal, Gerhard Oehmigen, Joachim Fiebelkorn, Hans Simon, Lothar Skorning) das Wort. Er dankte allen, die das Zustandekommen des Buches gefördert und ermöglicht hatten, obwohl die Bedingungen alles andere als ermutigend gewesen seien. Entscheidend für die Arbeit der Autoren seien die Unterstützung des Vereins als ideeller und organisatorischer Förderer und die Herausgabe durch den Spotless-Verlag gewesen. Alle Beteiligten seien froh, daß es ge-lungen ist, das Buch zu veröffentlichen, wenn auch der DDR-Sport - wie Mitte der achtziger Jahre vorgeschlagen - eine mehrbändige illustrierte Fassung verdient hätte - nicht nur, um allen mehr histori-sche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die den DDR-Sport als Aktive und als Organisatoren aller Ebenen und Arten sowie aller Betriebsweisen in seiner großen Vielfalt gestalteten, sondern auch, um die Konzeptionen und Erfahrungen festzuhalten, die Körperkul-tur und Sport als Ganzes prägten und im Leistungssport das inter-national effektivste Sportsystem hervorbrachten - wie sachkundige Besucher aus USA-Universitäten feststellten und in einem Fall auch folgerten, daß jene Kritiker, die den DDR-Sport unrealistisch auf „Stasi und Doping“ zu reduzieren versuchen, offensichtlich ei-nem politischen Auftrag folgen und außerdem persönlich wohl leis-tungssportfeindlich eingestellt seien.
Auf das sehr kurz gehaltene Vorwort des Buches bezugnehmend, erläuterte der Referent, daß ein Fachbuch angestrebt worden sei, welches Einzelbeiträge von Autoren in Absprache und gegenseiti-ger Unterstützung, aber in voller persönlicher Verantwortung ent-hält. Als Darstellungsform wurde auf eine ältere, nämlich die be-schreibend-pragmatisch Methode zurückgegriffen, die Ereignisse, Prozesse, Personen und Fakten aus ihrer Zeit heraus möglichst
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exakt zu beschreiben sich bemüht, auch was die Terminologie be-trifft. Es sollte nicht der Versuch unternommen werden, grundle-gende Fragen der allgemeinpolitischen Entwicklung und ihrer Peri-odisierung oder gar der umstrittenen Sozialismustheorie zu klären. Dementsprechend wurde auch die Gesamtgliederung des Textes in „Zehnjahresscheiben“ aufgegriffen, die in Vorarbeiten benutzt worden war.
Die Proportionen innerhalb des Textes ergaben sich aus dem un-terschiedlichen Stand von Vorarbeiten und den Intentionen der Au-toren. Eine Disproportion sei bewußt gesetzt worden: die relativ ausführliche Darstellung der grenzüberschreitenden Sportbezie-hungen und die Bemühungen um die internationale Anerkennung des DDR-Sports, da sie erkennen ließen, daß die entsprechenden Bemühungen des DDR-Sports dem Streben des internationalen Sports nach Universalität und Leistungsvergleich entsprachen und dementsprechend international anerkannt wurden, während die BRD-Sportpolitik auf Diskriminierung andersdenkender Sportler und auf Bevormundung internationaler Sportgremien zielte und auf die Dauer international nicht durchsetzbar war, da sie dem „Eigen-sinn“ des Sports widersprach.
Der Gegenstand der Beiträge sei der Sport im weiteren Sinne, also nicht nur der Wettkampfsport oder gar nur der Hochleistungssport. Allerdings mußte aus Platzgründen auch davon abgegangen wer-den, das Ganze von Körperkultur und Sport im vollen Sinne der DDR-Wirklichkeit adäquat zu erfassen. Verschiedene Seiten dieser Wirklichkeit konnten nur angerissen werden, so der außerordentlich wichtige und vielfältige Sport in allen Stufen des Bildungswesens, aber auch der Gesundheitssport und die Körperertüchtigung bei den bewaffneten Organen sowie die wichtige Rolle der Sportverbände und das Zusammenwirken vieler Kräfte bei der Entwicklung des Breitensports. Andere Seiten wiederum sind in den Abschnitten un-terschiedlich stark behandelt worden, beispielsweise die Sportwis-senschaft, die Rolle der Staatsorgane sowie die geistig-kulturellen Aktivitäten im Sport und dessen Beziehung zu anderen Formen der Kultur. Abschließend deuteten die Autoren an, daß keine Überarbei-tung geplant ist, wohl aber sollen alle inhaltlichen Ergänzungen und Hinweise auf Fehler festgehalten und in geeigneter Form zugänglich gemacht werden.
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Siegfried Prokop würdigte das Buch als erste veröffentlichte Fach-geschichte eines Spezialgebietes. Bemerkenswert sei die quellen-bezogene, historisch-kritische Darstellung, in der Problemfelder wie Doping eingeschlossen seien. Allerdings seien andere Fragen zu kurz gekommen, beispielsweise die Zusammenhänge der Leis-tungssportorientierung in den siebziger Jahren oder auch Probleme der materiell-technischen Basis des Sports, besonders aber die Reformansätze des DTSB 1988/89, die erkennen ließen, welche Möglichkeiten es in einer erneuerten DDR für die Entfaltung des Sports gegeben hätte, und auch die Dimensionen des Bewahrens-werten vom DDR-Sport.
Sven Güldenpfennig übergab ein schriftliches Manuskript mit grund-sätzlichen Hinweisen und kritischen Wertungen zur weiteren Auswer-tung. Einige seiner Auffassungen trug er mündlich vor - darunter Hin-weise auf zu beachtende unterschiedliche Positionen der gegenwärtig mit DDR-Sport beruflich befaßten Historiker und auf die fehlende Auf-arbeitung der deutsch-deutschen Sportbeziehungen. Besonders kri-tisch bewertete er die nach seiner Auffassung im Buch nur Ansatz-weise sichtbar gemachte kulturelle Dimension des Sports und die be-wußte Parteinahme der Autoren für die DDR. Auch werde die allge-meine Politik, die hinter der Sportpolitik gestanden habe, nicht genü-gend erhellt und nicht grundsätzlich kritisiert. Er verwies besonders auf seine theoretischen Positionen zum „Eigensinn des Sports“, der sich gegen alle Vereinnahmungen durch Politik durchsetze, was im Buch nicht deutlich werde. Auch dürfe neuere deutsche Sportge-schichte nicht mehr als Geschichte eines deutschen Staates ge-schrieben und noch dazu der Eindruck erweckt werden, „die bessere Hälfte“ zu sein.
Die Diskussion war insgesamt lebhaft und konstruktiv. Neben den drei Referenten und dem Moderator sprachen acht Teilnehmer. Horst Schubert. bezeichnete es als ein „Wunder“, daß es gelungen ist, ein solches Buch doch noch herauszubringen. Er bezog sich dabei auf seine Erfahrungen als Leiter des Sportverlags, in dem das Erscheinen einer DDR-Sportgeschichte 1988/89 durch politi-sche Einwände „von oben“ mehrmals verzögert wurde und das dann entstandene reich illustrierte druckfertige Manuskript im Zu-sammenhang mit dem „treuhänderischen“ Verkauf des Verlags 1990 aus entgegengesetzten politischen Erwägungen „aus der Planung genommen“ werden mußte.
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Alle Diskussionsbeiträge enthielten konstruktive Ergänzungsvor-schläge und kritische Hinweise, die nachfolgend kurz wiedergege-ben werden. Kurt Franke hielt mehr Einzelheiten zum Sportmedizi-nischen Dienst, zur sportmedizinischen Betreuung aller Sportler und zur allgemeinen Gesundheitserziehung für erforderlich. Werner Riebel, Jena, forderte generell mehr analytische Vergleiche der sportlichen Wirklichkeit von vor und nach 1945, bezogen auf beide deutsche Staaten und im Überkreuzvergleich. Georg Wieczisk vermißte eine genaue Darstellung des Gesamtsystems der Leis-tungsförderung im Sport der DDR und der konstruktiven Mitarbeit von DDR-Vertretern in den Internationalen Gremien sowie der sich Ende der 80er Jahre anbahnenden Entspannung der Beziehungen zum BRD-Sport. Werner Fritzsche, Dresden, verwies auf interes-sante Einzelheiten aus den Anfangszeiten des Nachkriegssports. Helmut Horatschke wünschte genauere Angaben über die Finan-zierung des Sports einschließlich der Eigenfinanzierung der Turn- und Sportfeste und mehr Einzelheiten über die Arbeit der gewerk-schaftlichen Sportvereinigungen, wozu Zeitzeugen befragt werden sollten. Günter Erbach, der dem Vereinsvorstand eine umfangrei-che schriftliche Stellungnahme zur Auswertung für die Autoren übergab, erläuterte einige seiner Hinweise und Einwände: Es fehle zum Beispiel ein solider Überblick über die vielschichtige Finanzie-rung des Sports durch seine verschiedenen Träger, eine Erläute-rung der verschiedenen Fußballbeschlüsse, ein durchgängige und vertiefte Erfassung der Dopingproblematik, die konkrete Darstel-lung der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit im Sport und auch die Rolle der staatlichen Organe und ihr Verhältnis zur Sport-organisation sowie wertende theoretische Verallgemeinerungen zum jeweils erreichten Stand der Entwicklung, denn schließlich ha-be in der DDR das bisher erfolgreichste deutsche Sportsystem be-standen. Aus den Unterschieden der Kapitel des Buches bezüglich Darstellung und Quellendichte hätte sich seines Erachtens erge-ben, als Titel des Buches besser „Beiträge zur Sportgeschichte der DDR“ zu wählen. Rudi Hellmann stimmte Erbach bezüglich des Ti-tels zu und berichtete Einzelheiten über die Diskussionen zur Olympiateilnahme der DDR-Mannschaften 1984 und 1988 auf höchster politischer Ebene, wobei Erich Honecker 1988 konse-quent für die Teilnahme in Soul eintrat und dazu Telegramme mit Fidel Castro austauschte. Horst Hecker, Leipzig, plädierte in einem
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schriftlich eingereichten Beitrag dafür, die vielfältigen Maßnahmen aufzunehmen, die sowohl die leistungssportliche als auch die be-rufliche Ausbildung der DDR-Athleten sicherten.
Verleger und Autorensprecher brachten im Verlauf der Diskussion zum Ausdruck, daß alle Ergänzungsvorschläge akzeptabel seien - Kraft, Zeit und Mittel hätten aber leider enge Grenzen gesetzt. So sei wohl das Bonmot zutreffend: Ihr habt Recht und wir haben nicht Unrecht. Sinnvoll sei jedoch die Diskussion einer Reihe von Fra-gen. Zur Information könnten eventuell die „Beiträge zur Sportge-schichte“ genutzt werden.
In zusammenfassenden Bemerkungen äußerte sich Günther Wonne-berger zu einigen der aufgeworfenen Fragen: Eine überarbeitete Fas-sung des Buches zu veröffentlichen, erscheine den Autoren unter den gegenwärtig gegebenen Bedingungen unmöglich. Die im Vorwort verwendete Formulierung vom „letzten Versuch“ sei ernst gemeint, auch wenn sie selbstverständlich dem Einzelnen nicht vorschreibe wie er sich in Vorhaben ähnlicher Art einbringe.
Was die kritisierte grundsätzlich positive Einstellung zur DDR ange-he, so sei sie gewollt, denn die Autoren stünden nach wie vor dazu, ausgehend von ihren schlimmen Kriegserfahrungen, aktiv den Ver-such unterstützt zu haben, einen völlig neuen, einen nichtkapitalisti-schen Weg zu gehen. Ihre Kritik an der DDR-Entwicklung trage im-manenten Charakter, auch deshalb, weil die Position, die tiefgreifen-den Erneuerungsversuche von 1945 grundsätzlich in Frage zu stel-len und abzulehnen, nach ihren Erfahrungen letztlich in eifernde an-tikommunistische Tiraden münde, die sie als junge Leute in den NS-Schulungen für den „weltanschaulich-rassischen Vernichtungskrieg“ gegen die „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“ kennenge-lernt hätten. Zugleich sei diese Parteinahme eine Art Notwehr gegen Verunglimpfungen, die ihnen in den ersten Jahren nach dem An-schluß der DDR an die BRD von einigen „Spezialisten“ zugemutet worden seien, was im Gefolge entsprechender Veröffentlichungen dazu geführt habe, daß selbst international anerkannte wissen-schaftliche Arbeiten rundweg als ungeeignet, zum Beispiel für die Lehre der Sportgeschichte in unterschiedlichen Studiengängen, er-klärt werden und in Bibliographien und in Präsentbeständen wissen-schaftlicher Bibliotheken kaum noch ein Standardwerk von DDR-Autoren zum DDR-Sport, wohl aber viele reißerisch aufgemachte Streitschriften gegen ihn zu finden seien.
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Die von Güldenpfennig angemahnte „kulturelle Dimension des Sports“ wie auch sein „Eigensinn“ stünden nicht im grundsätzlichen Wider-spruch zu den Auffassungen der DDR-Sporthistoriker, auch wenn sie im vorliegenden Buch nicht zusammengefaßt herausgehoben worden seien. Es sei von einer kulturellen Funktion des Sports und davon ausgegangen worden, daß die Kultur des Umgangs mit dem mensch-lichen Körper und die geistigen wie materiellen Bedingungen seiner Pflege und Entfaltung Bestandteile jeder Kultur sind. Es wurde auch eine Eigengesetzlichkeit des Sports konstatiert, allerdings unter Be-rücksichtigung seiner unlösbaren Verflochtenheit mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, die eine sterile Autonomie des Sports nicht zuließen.
Wenn der Verein sich weiter mit der Geschichte des DDR-Sports be-fassen wolle, so müsse beachtet werden, daß die „Geschichte des DDR-Sports“ zwar die erste veröffentlichte Textfassung sei, die den DDR-Sport als Ganzes und über die gesamte Zeit seiner Existenz be-handele, es aber eine ganze Reihe von Veröffentlichungen gäbe, die aus der Innensicht Wesentliches zum Thema beitragen - so bei-spielsweise die „Chronik des DDR-Sports“2, der Protokollband zur 50. Wiederkehr der DS-Gründung3, die Chronik und die Wortmeldungen „50 Jahre DHfK“4, die Übersicht „Die DDR bei Olympia“5, zahlreiche Veröffentlichungen in der Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“, und zwar solche zu historischen Einzelfragen aber auch Überblicks-darstellungen wie die Dokumentation in Heft 11 und 12 von Ulrich Wil-le6, zu den Kinder- und Jugendsportschulen von Rudi Ledig (Heft 13)7, zu „Sport II“ von Siegfried Geilsdorf8 und zu Kunst und Sport von Gün-ter Witt (Heft 15)9. Nicht zu vergessen auch die große Zahl von sport-orientierten Taschenbüchern und Einzelveröffentlichungen des Spot-less-Verlags, vor allem solche von Klaus Huhn. Zu nennen sind weiter Veröffentlichungen von Volker Kluge, insbesondere „Das große Lexi-kon der DDR-Sportler“10, der Teil I von „Kanusport in der DDR - Ka-nutouristik“, die „Chronik des Skisports in der DDR“ (Rezensionen in diesem Heft) oder die im Eigenverlag erschienenen Schriften „Chronik des Eisenbahnersport der DDR“ (Kurt Zach)11 und „Chronik des Ver-sehrtensports der DDR“ (Hermann Dörwald)12. Nicht unbeachtet dürfe bleiben, daß nach einer Flut einseitiger Kampfschriften zur Delegiti-mierung des DDR-Sports, die in den 90er Jahren herauskamen, nunmehr auch Publikationen erschienen sind, die sich ernsthaft be-mühten, zum Teil unter Mitwirkung von DDR-Spezialisten, den Ge-
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genstand DDR-Sport wirklich selbst zu untersuchen und dabei zu be-merkenswerten Erkenntnissen kämen, auch wenn manche, meist „einleitende“ Einschätzung überraschend lebensfremd erscheine, weil sie nicht vom Untersuchungsgegenstand und von den Ergebnissen der Untersuchung abgeleitet, sondern aus gerade gängiger politologi-scher oder soziologischer Literatur dem DDR-Sport nachträglich auf-oktroyiert werde. Zu nennen seien Sammelbände der in Aachen er-scheinenden Reihe „Sportentwicklungen in Deutschland“ von Jochen Hinsching als Herausgeber13 oder Titel aus staatlich geförderten For-schungsvorhaben, darunter von Buss, W./Becker. C. (Hrsg.): „Der Sport in der SBZ und der frühen DDR“ und „Aktionsfelder des DDR-Sports in der Frühzeit 1945-1965“14 oder von Teichler, H.J.: „Die Sportbeschlüsse des Politbüros“15 sowie von Pfister, G.: „Frauen und Sport in der DDR“16. Die Diskussion zu diesen und anderen Veröffent-lichungen solle vom Verein angestrebt werden.
Die vorliegende „Geschichte des DDR-Sports“ sei nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Diskussionsbeitrag der Autoren, der helfen solle, sich der historischen Wahrheit über den DDR-Sport als Ganzes weiter anzunähern - was sicher noch eine Zeit brauche und nicht von selbst, im Selbstlauf geschehe, sondern den Beitrag vieler nötig habe.
ANMERKUNGEN
1 WONNEBERGER, G. et al.: Geschichte des DDR-Sports. Berlin 2002, 415 S.
2 Chronik des DDR-Sports. Berlin 2000, 317 S.
3 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Sportausschusses. Berlin 1998
4 SCHUMANN, K.: 50 Jahre DHfK. Eine Chronik. Berlin 2000, 95 S.; SCHUMANN, K./
LEUBUSCHER, R. (Hg.): Wortmeldungen. 50 Jahre DHfK. Leipzig 2000, 88 S.
5 HUHN, K.U.: Die DDR bei Olympia. Berlin 2001, 272 S.
6 WILLE, U.: Der Sport in der DDR. Beiträge zur Sportgeschichte 11/2000, S.
47-77; 12/2001, S. 23-50
7 LEDIG, R.: Die Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR, Beiträge... 13/2001, S. 4-20
8 GEILSDORF, S.: Die Wahrheit über „Sport II“. Beiträge... 15/2002, S. 32-38
9 WITT, G.: Bewundert, geschmäht - auch vergessen? Malerei, Grafik und Pla-
stik der DDR zum Thema Sport. Beiträge... 15/2002, S. 18-31
10 KLUGE, V. Das große Lexikon der DDR-Sportler. Berlin 2000, 445 S.
11 ZACH, K.: Chronik des Eisenbahnersports in der DDR. Berlin 2002, 126 S.
12 DÖRWALD, H.: Zeittafel Versehrtensport der DDR 1945-1990. Dresden 2002, 178 S.
13 HINSCHING, J./HUMMEL, A. (Hrsg.): Schulsport... in Ostdeutschland 1945-1990. Aachen
1997, 286 S.; HINSCHING, J. (Hrsg.): Alltagssport in der DDR. Aachen 1998, 313 S.
14 BUSS, W./BECKER, C. (Hrsg.): Der Sport in der SBZ und frühen DDR. Schorndorf
2001, 868 S.; Aktionsfelder des DDR-Sports in der Frühzeit.... Köln 2001, 605 S.
15 TEICHLER, H.-J.: Die Sportbeschlüsse des Politbüros. Köln 2002, 848 S.
16 PFISTER, G.: Frauen und Sport in der DDR. Köln 2002, 314 S.
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JAHRESTAGE
Vor 50 Jahren - Gründung der Sektion
Versehrtensport der DDR
Von HERMANN DÖRWALD
Am 11. Juli 1953 wurde in Berlin die Sektion Versehrtensport der DDR gegründet, aus der 1959 der Deutsche Verband für Versehr-tensport (DVfV) hervorging, in dem bis zu seiner Auflösung 1990 alle Behinderten gemeinsam ihren Sport organisierten.
Am Beginn der Entwicklung des Versehrtensports in der sowjeti-schen Besatzungszone hatten vor allem die Gehörgeschädigten in Berlin, Cottbus, Dresden, Erfurt, Halle, Leipzig, Magdeburg, Mer-seburg, Meiningen, Rostock, Stralsund, Waren-Müritz, Weißenfels, Zeitz und Zwickau Sportgruppen auf kommunaler Ebene oder in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) gegründet. Im Juli 1947 war zum Beispiel der Gehörlosensportverein der FDJ in Quedlinburg und am 26. September 1948 die Gehörlosensportgemeinschaft in Leipzig gegründet worden. Diese schloß sich noch im gleichen Jahr der Sportgemeinschaft Leipzig-Leutzsch an, der seit August 1948 bereits die kommunale Sportgruppe körperbehinderter und sehgeschädigter Schwimmer angehörte, die bereits seit 1945 be-stand und unter der Leitung von Alfred Backofen und Josef Schopp als Übungsleiter auf 80 Mitglieder angewachsen war. Vielerorts fanden sich in den Jahren 1948 und 1949 dann auch Versehrten-sportgruppen für Sehgeschädigte und Körperbehinderte zusam-men, die in eine Sektion der Nichtversehrten der jeweiligen örtli-chen Sportgemeinschaft integriert wurden.
Am 19. Februar 1949 bildete sich die Arbeitsgemeinschaft (AG) der Gehörlosensportgruppen, die das Sporttreiben insgesamt, den Sportverkehr zwischen den verschiedenen Sportgruppen und den Wettkampfsport fördern sollte. An der Gründungsversammlung nahmen 50 Vertreter aus 32 Gehörlosensportgruppen teil. Zum Lei-ter der AG wurde Walter Wollny aus Berlin gewählt. Am 20. Okto-ber 1949 bestätigte der Deutsche Sportausschuß (DS) den Gehör-losensport als 19. Sparte im DS. Im Ergebnis der damit notwendig gewordenen Neuwahlen wurde Kurt Klaus, Leipzig, Hauptsparten-leiter und Heinz Walter, Dresden, sein Stellvertreter. Bereits die dritte Arbeitstagung der AG bestätigte, daß sich sowohl der Sport
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der Hörgeschädigten als auch der Sport der Sehgeschädigten und Körperbehinderten sichtlich entwickelten. Es bildeten sich zum Bei-spiel in den Jahren 1949 bis 1952 in Berlin, Dresden, Halle, Leipzig und Magdeburg leistungsstarke Sportgruppen der Körperbehinder-ten in den Sportarten Schwimmen und Wasserball, Tischtennis, Kegeln und Leichtathletik. In Chemnitz, Leipzig, Halle, Halberstadt und Königs Wusterhausen entstanden Sportgruppen und Mann-schaften der Sehgeschädigten und Blinden in den Sportarten Ke-geln, Schach, Rollball und Leichtathletik. Diese Entwicklungen führ-ten schließlich mit dazu, daß das Internationale Gehörlosen Sport-komitee, das Comité International des Sports Silencieux (CISS), im April 1951 in Lausanne (Schweiz) beschloß, deutsche Athletinnen und Athleten wieder zu den Wettkämpfen der CISS zuzulassen. Zugleich vergab die CISS die nächsten Weltspiele der Hörgeschä-digten an Brüssel (Belgien), an denen also nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals wieder deutsche Athleten in einer gemeinsamen Mannschaft an den Start gehen konnten. Infolgedessen wurden im Januar 1952 in der DDR Kernmannschaften der Gehörlosen im Schwimmen, Fußball und in der Leichtathletik gebildet, wodurch es ermöglicht werden sollte, sich zielgerichtet auf die 1953 stattfin-denden Weltspiele vorzubereiten.
Die nahezu rasanten Entwicklungen veranlaßten die Verantwortli-chen des Sports der Hörgeschädigten, Sehgeschädigten und Kör-perbehinderten, anläßlich eines Städtewettkampfes der Körperbe-hinderten im Schwimmen und Wasserball am 21. und 22. März 1953 in Leipzig über die weitere Entwicklung und Organisation des Versehrtensports und seine Anerkennung in der DDR zu beraten und die diesbezüglichen Vorschläge in einer Denkschrift dem Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR zu übermitteln. Beschleunigt durch ein Schreiben vom 1. Mai 1953 an den Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Walter Ulbricht, wurden die Inhalte der Denk-schrift am 9. Mai 1953 in Berlin diskutiert und sowohl die Gründung der Sektion Versehrtensport eingeleitet als auch die Schaffung des Referats Versehrtensport beim Staatlichen Komitee für Körperkul-tur und Sport durchgesetzt. Bereits am 20. Juni 1953 trafen sich die nun in diesem Referat tätigen Funktionäre mit Verantwortlichen der Sportgruppen des Hörgeschädigten-, Sehgeschädigten- und Körperbehindertensports in „Fröhlichs Hotel“ am Leipziger Haupt-
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bahnhof, um die künftige Struktur und Organisation des Versehr-tensports, die Wahl des Präsidiums und dessen Aufgaben sowie das System der Sportveranstaltungen, besonders auf Landesebe-ne, zu erörtern. Es wurde vor allem um die Frage gestritten, ob künftig nur allgemeine Sportfeste oder Meisterschaften durchge-führt werden sollen, und darüber, welche Bedeutung dem Wett-kampfsport bei Versehrten und Behinderten überhaupt zukommt. Insbesondere die bereits in der Internationalen Föderation organi-sierten Hörgeschädigten plädierten dafür, künftig - wie in allen an-deren Sportsektionen des DS - Meisterschaften auszutragen. Am 11. Juli 1953 wurde dann die Zentrale Sektion Versehrtensport der DDR in Berlin gegründet und als Präsident einstimmig Josef Schopp, Leipzig, aufgrund seiner Verdienste um dem Körperbehin-derten- und Sehgeschädigtensport in den ersten Nachkriegsjahren gewählt. Vizepräsidenten wurden Heinz Walter, Dresden, für die Hörgeschädigten und Walter Henze aus Altlandsberg für die Seh-geschädigten.
Unmittelbar nach der Gründung der Zentralen Sektion Versehrten-sport nahmen erstmals hörgeschädigte Athletinnen und Athleten an internationalen Meisterschaften teil. In einer gemeinsamen deut-schen Mannschaft starteten bei den VII. internationalen Gehörlo-sen-Weltspielen vom 15. bis 19. August 1953 in Brüssel insgesamt dreizehn Athletinnen und Athleten, die durch 7 Gold-, 4 Silber- und 5 Bronzemedaillen zum Gesamtsieg der deutschen Mannschaft beitrugen. Bei der 23. Schachweltmeisterschaft (Einzel) der Gehör-losen im Februar 1956 in Zakopane starteten Roland Walter aus Karlsruhe (BRD), der die Bronzemedaille errang und Kurt Geyer aus Oelsnitz (DDR). Am 23. Juni 1956 nahm das Internationale Gehörlosen Sportkomitee (CISS) die Zentrale Sektion Versehrten-sport der DDR als Mitglied auf. Bei den VIII. internationalen Gehör-losen-Weltspielen im August 1957 in Mailand (Italien) errangen die Gehörlosen der DDR in der gemeinsamen deutschen Mannschaft 11 Gold-, 6 Silber- und 7 Bronzemedaillen. Bei der Gehörlosen-Schachweltmeisterschaft der Männer im Mai 1958 in London wurde die gemeinsame Mannschaft mit Roland Walter (BRD), Kurt Geyer, Willi Müller, Kurt Pötzsch (alle DDR) Weltmeister. In London nahm auch das Internationale Komitee für Gehörlosenschach (ICSC) die Zentrale Sektion Versehrtensport der DDR als gleichberechtigtes Mitglied auf. Anläßlich des VII. Kongresses dieser Internationalen
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Föderation im Ostseebad Kühlungsborn (DDR) im April 1964 wur-de Heinz Meurer zum Präsidenten der ICSC gewählt und erstmals ein Sportverantwortlicher aus der DDR mit solch einer Aufgabe be-traut.
Die blinden und sehgeschädigten Sportlerinnen und Sportler richte-ten Anfang September 1955 in Halle (Saale) ein gesamtdeutsches Blindensportfest aus, nahmen gemeinsam mit den Hörgeschädig-ten und Körperbehinderten an den Wettkämpfen anläßlich des II. Deutschen Turn- und Sportfestes 1956 in Leipzig teil und ermittel-ten 1956 ihre DDR-Meister in der Leichtathletik, im Kegeln, Roll-ball, Schach und Schwimmen. 1955 hatte die Internationale Blin-denschach-Assoziation (IBCA) während ihrer Gründungskonferenz den DDR-Verband als gleichberechtigtes Mitglied aufgenommen, wodurch den blinden und sehschwachen Schachsportlern ermög-licht wurde, von Anbeginn an den internationalen Meisterschaften teilzunehmen. Bei der ersten Blindenschach-Olympiade 1961 in Meschede (BRD) belegte die DDR-Mannschaft punktgleich mit Ös-terreich den 3. Platz ebenso wie bei der II. Blindenschach-Olympiade 1964 in Kühlungsborn (DDR) und bei späteren Olympi-aden. An der 1. Europa-Einzelmeisterschaft der IBCA in Timmen-dorf (BRD) nahm Klaus Mickeleit teil und bei der II. Blindenfern-schacholympiade (1976-1980), um nur einige Beispiele zu nennen, wurde die DDR-Mannschaft (Klaus-Peter Wünsche, Werner Kranz, Reinhard Kehl, Erhard Hoffmann) Olympiasieger. 1958 bei den I. Europäischen Sportspielen für Blinde in Poznan (Polen) belegte die DDR-Mannschaft in der Gesamtmannschaftswertung Rang 3. Die 16 Athletinnen und Athleten hatten im Schwimmen und in der Leichtathletik 7 Gold-, 3 Silber- und 4 Bronzemedaillen errungen. Viele Meisterschaften, Ländervergleiche europäische und andere Meisterschaften sollten folgen. Im April 1981 wurde dann in Paris der Internationale Blindensportverband (IBSV) gegründet und der Vizepräsident des deutschen Versehrtensport-Verbandes der DDR, Dr. Dr. Helmut Pielasch, zum Präsidenten des IBSV gewählt. Diese Funktion und Aufgabe war Anlaß, Dr. Dr. Pielasch als Ehrengast zu den Internationalen Spielen der Behinderten vom 18. bis 30. Juni 1984 und eine Sportlerdelegation nach New York einzuladen. Da das NOK der DDR beschlossen hatte, nicht an den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles teilzunehmen, lehnte es der DTSB auch ab, eine Mannschaft zu den Internationalen Spielen der Be-
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hinderten zu entsenden. Daraufhin wandte sich Dr. Dr. Pielasch an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) mit der Bitte, blinden Leichtathleten einen Start in New York zu ermöglichen. Dem wurde durch die besondere Fürsprache des damaligen Sekretärs für Jugendfragen und Sport im Politbüro, Egon Krenz, stattgegeben. Die Einkleidung übernahm der Zentral-vorstand des Deutschen Blinden- und Sehschwachen-Verbandes (DBSV), weil der DTSB seine ursprüngliche Zusage zwei Tage vor der Abreise zurückgenommen hatte. Und so marschierte eine DDR-Delegation, der vier Athleten, eine sportliche Betreuerin und der Mannschaftsleiter angehörten, mit den insgesamt 1800 Teil-nehmern aus 50 Ländern zur feierlichen Eröffnung der Internatio-nalen Spiele der Behinderten - begleitet vom Beifall der 3000 Zu-schauer - in den Mitchelpark ein. Über die Leistungen der Aktiven schrieb Siegmund Turteltaube damals 1984 in der Zeitschrift des DBSV: Rita Gerstenbergers „Weitsprungkonkurrenz der blinden Frauen war die erste Entscheidung, an der wir beteiligt waren. Rita wurde Vierte. Hingegen überraschte sie dann mit einer Bronzeme-daille im Speerwerfen und der Silbermedaille im Diskuswerfen.“ (1984, 223) Siegmund Hegeholz „mußte zwar auf die Siegerehrung für den Weitsprung der sehschwachen Männer in der Klasse B 3 sechs Tage warten, doch die Freude über die 6,27 m und den zweiten Platz nur knapp hinter dem 6,35 weit springenden US-Amerikaner, war nicht verflogen.“ (223) Ralf Fox blieb über 800 m mit 2:03,77 min unter dem bestehenden Weltrekord und belegte Rang vier, über 400 m mit neuem DDR-Rekord von 52,76 s Rang fünf. Siegmund Turteltaube selbst wurde im Dreisprungwettbewerb der blinden Männer mit 8,23 m ebenfalls Vierter. (vgl. 223 f) Der Zeitzeuge Prof. Dr. Horst Kosel, von 1966 bis 1989 als Bun-dessportwart und Bundeslehrwart Mitglied des Präsidiums im Deutschen Behinderten-Sportverband (DBS), erinnert sich: „Die wenigen Teilnehmer/-innen aus der DDR konnten bei den leichtath-letischen Wettkämpfen sehr gute Leistungen erzielen. ...Über die Freude auf den eigenen Erfolg hinaus beglückwünschte man sich gegenseitig, ein Beweis dafür, wie die Sportler und Sportlerinnen aus ‘Ost und West’ im fernen New York umgingen. Man wohnte in der gleichen Unterkunft und begegnete sich täglich mit Respekt und Interesse füreinander.“ So klein diese Mannschaft aus der DDR war, so bemerkenswert war ihre Teilnahme und so außerordentlich
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die sportliche Leistungsentwicklung der Aktiven. Siegmund Turtel-taube wurde bei den Europameisterschaften (EM) 1985 in Rom Eu-ropameister im Diskuswerfen mit neuem Weltrekord. Diese Disziplin gewann er auch 1987 bei den EM in Moskau und 1989 in Zürich - also dreimal in Folge. Bei den Weltmeisterschaften und Weltspielen der Behinderten 1990 in Assen (Niederlande) errang er den WM-Titel im Diskuswerfen erneut mit Weltrekord und 1992 während der Paralympics in Barcelona die Silbermedaille sowie Rang acht im Kugelstoßen, 2000 in Sydney belegte er im Diskuswerfen Rang sechs. Siegmund Hegeholz wurde 1985 und 1987 Europameister im Fünfkampf jeweils mit Weltrekord, 1990 in Assen gewann er zwei Goldmedaillen (Speerwerfen mit Weltrekord, Fünfkampf) und eine Silbermedaille (Kugelstoßen), bei den Paralympics 1992 die Gold-medaille im Speerwerfen (mit Weltrekord) und 2000 in Sydney - nun schon 40-jährig - wieder die Goldmedaille im Speerwerfen.
Die körperbehinderten Sportlerinnen und Sportler führten am 8. November 1953 das 1. Nationale Schwimmfest in Leipzig durch, beteiligten sich mit Wasserball-, Sitzball- oder Faustballmannschaf-ten an unterschiedlichen nationalen und Städteturnieren, zum Bei-spiel in Hamburg oder Gelsenkirchen, organisierten 1955 ein Nati-onales Tischtennisturnier und absolvierten 1961 den 1. Länder-kampf im Schwimmen und Wasserball in Dresden, in dem Öster-reich mit 64:33 Punkten bezwungen werden konnte. DDR-Meister ermittelten die Körperbehinderten in diesen Sportarten und natür-lich in der Leichtathletik, im Waldlauf, Kegeln und Schach. Sie fan-den sich in Gymnastikgruppen zusammen, starteten in unter-schiedlichen Wintersportdisziplinen, im Rudern und Kanusport. Sie beteiligten sich später hoch motiviert an den Intercup-Wettbewerben der sozialistischen Länder und gewannen zum Beispiel den Intercup 1976 und 1977 im Tischtennis, immer wieder im Schwimmen 1977, 1978, 1982, und, und... 1989 schließlich wurde der DVfV in den in-ternationalen Versehrtensportverband, die International Sport Orga-nisation for the Disabled (ISOD), aufgenommen.
Besondere Impulse erhielt der Sport der querschnittsgelähmten Sportlerinnen und Sportler durch zwei Kliniken, die Universitätskli-nik Leipzig und insbesondere durch die Klinik für Rehabilitation des Städtischen Krankenhauses in Berlin-Buch mit dem Rehabilitati-onszentrum für Querschnittsgelähmte und deren ambulante Be-treuung. Nach dem Neubau dieser Klinik (Einweihung 1965) wurde
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sie gewissermaßen zur Heimstatt des Sports der Querschnittsge-lähmten. Hier wurde Rollstuhl-Basketball durch Hans Jähne und Walter Schacherl entwickelt und besonders gefördert, hier fanden die 1. Zentralen Sportspiele der körperbehinderten Kinder und Ju-gendlichen (1966) statt, einschließlich der Wettbewerbe für Er-wachsene im Schwimmen, an denen erstmals Querschnittsgelähm-te teilnahmen. Und hier wurden die Zentralen Sportspiele der Querschnittsgelähmten vor allem durchgeführt. Selbstverständlich trugen sie auch ihren 1. Länderkampf 1969 in Berlin-Buch aus, den sie gegen die Mannschaft aus der VR Polen mit 83:53 Punkten gewannen. Ab 1975 nahmen sie mit außerordentlichen Erfolgen am jährlich stattfindenden Internationalen Sportfest der Quer-schnittsgelähmten in Wien teil. Gewissermaßen als Einstand siegte damals Dr. Reiner Pilz (Versehrtenklasse 1b) in drei Disziplinen im Schwimmen (25 m Brust-, Rücken- und Freistilschwimmen). Im September 1981 wurde das 1. Rehabilitationssportfest für geistig Behinderte der ostsächsischen Rehabilitationszentren in Löbau durchgeführt, 1982 das 1. Zentrale Sportfest für geistig Behinderte des Diakonischen Werkes - IMHW - in Neustadt für Fußballmann-schaften organisiert und am 9. Dezember 1982 in Löbau die erste Rehabilitationssportgemeinschaft (RSG) für geistig Behinderte mit 82 Mitgliedern in fünf Sportgruppen gegründet.
Blickt man heute zurück, erweist sich die Gründung der Sektion Versehrtensport der DDR im Deutschen Sportausschuß (DS) 1953 als ein wesentlicher Meilenstein im Prozeß der Entwicklung des Sports der Versehrten und auf dem Weg zum 1959 gebildeten Deutschen Verband für Versehrtensport (DVfV). Überschaut man die Aktivitäten und Bemühungen, von denen hier nur jeweils die Anfänge knapp umrissen wurden (Vgl. Dörwald, Zeittafel..., 2002), dann fällt vor allem das gemeinsame Wirken, der gegenseitige Respekt und Ansporn auf, um allen Behinderten eine regelmäßige sportliche Betätigung zu ermöglichen.
LITERATUR
DÖRWALD, H. Zeittafel Versehrtensports der DDR 1945-1990. Dresden 2001
TURTELTAUBE, S.: Internationale Spiele der Behinderten 1984. Die Gegenwart (Monats-schrift des DBSV) 1984, Heft 10, S. 223-224
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40 Jahre Berliner Turn- und Sportclub (TSC)
Von WOLFGANG HELFRITSCH
Der Autor hielt diesen Vortrag bei der Festveranstaltung des
renommierten Berliner Sportklubs
Als Direktor der mit dem TSC Berlin eng verbundenen Kinder- und Jugendsportschule „Ernst Grube“ von 1964 bis 1988 habe ich den Werdegang meines Vereins von Anbeginn verfolgt. Die Erfolge von Jacqueline Börner und Monique Gabrecht-Enfeld, Conny Schmal-fuß und Anke Pieper, Erik Zabel, Jens Voigt und Jan Schaffrath haben mich ebenso begeistert wie die Leistungen weniger bekann-ter Vereinsmitglieder. Natürlich erfüllt es mich mit besonderer Be-friedigung, daß sich der Berliner TSC in der bundesdeutschen Sportlandschaft behaupten konnte und nicht, wie so manche ande-re kulturelle Einrichtung, in den neunziger Jahren im märkischen Sand verschwand. Das ist vor allem dem Können und der Treue der Aktiven und dem Engagement vieler ehrenamtlicher Trainer ebenso zu danken, wie dem diplomatischen Geschick des Präsidi-ums und der Geschäftsführung.
Der Gründungstag des TSC, jener 18. Februar 1963 war ein un-wirtlicher Tag. Und doch war er für diejenigen, die mit dem Berliner Sport zu tun hatten, ein Ereignis, das Weichen für die Sportentwick-lung der damaligen Hauptstadt der DDR und auch für manchen per-sönlichen Lebenslauf stellte. Zwei Jahre zuvor war in den „zuständi-gen Gremien“ der Beschluß gefaßt worden, die Berliner Sportclubs Einheit, Rotation und TSC Oberschöneweide zum „Turn- und Sport-club Berlin“ zu vereinen... Es ging bei der TSC-Gründung auch da-rum, eine zivile Ergänzung und ein ziviles Gegengewicht zu dem damals gleichfalls in Berlin beheimateten Armeesportclub „Vor-wärts“ und zum Polizeisportclub Sportclub Dynamo zu schaffen. Nicht wenige Berliner Eltern, aufgrund der sportlichen Talente und Fähigkeiten ihrer Kinder angesprochen, begrüßten die ihnen und vor allem ihren Kindern angebotenen Ausbildungs- und Förder-möglichkeiten im Sport, aber sie wünschten sich dafür einen zivilen Rahmen, und der bot sich mit der Gründung des TSC.
Im Festsaal des Hauses Unter den Linden 38, damals Sitz des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend (FDJ), schlug in Anwe-senheit von 400 Sportlern, Trainern, Übungsleitern, Vertretern öf-
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fentlicher Einrichtungen und Gästen die Geburtsstunde. Als dama-liger stellvertretender Direktor der KJS „Werner Seelenbinder“ ge-hörte ich zu denen, die den Gründungsvorsitzenden Gerhard Mi-chael zur neu übernommenen, anspruchsvollen Aufgabe beglück-wünschten. Einen geeigneterer als er wäre kaum in Frage gekom-men. Noch vor und wieder nach dem Krieg Allroundathlet in der Leichtathletik und im Handball, kannte er die Probleme. Er hatte Großveranstaltungen organisiert, sich auf dem internationalen Par-kett als Verhandlungspartner bewährt. Er war Sportler, Pädagoge und Manager in einer Person. In der Gründungsphase waren im TSC 21 Sportarten versammelt: Turnen, Leichtathletik, Schwim-men, Wasserspringen und Wasserball, Radsport, Basketball, Fuß-ball, Handball und Volleyball, Eiskunstlauf, Eisschnellauf und Eis-hockey, Boxen, Gewichtheben, Kanurennsport, Rudern und Se-geln, Tennis, Tischtennis und Schach. Damit war der TSC Berlin der größte zivile Sportclub Europas.
Erfahrene Trainer der ersten und engagierte Sportfachleute der nachfolgenden Jahre, ob Horst Ihlenfeld in der Leichtathletik, Olga Jensch-Jordan - einst selbst olympische Medaillengewinnerin - im Wasserspringen, Werner Malitz im Radsport, Günter Debert im Bo-xen, Kurt Lauckner und Kristina Richter - eine der erfolgreichsten Nationalspielerinnen - im Handball und nicht zuletzt Fernschach-weltmeister Dr. Horst Rittner und alle anderen - hier nicht genann-ten - waren Trainer, zu denen die Athleten aufblickten, weil sie nicht nur sportliches Können und taktisches Geschick vermittelten, sondern Ansprüche an die Persönlichkeitsentwicklung stellten.
Es waren jedoch nicht nur die Trainer und die Leitungsverantwortli-chen, die das Profil und die Atmosphäre im TSC bestimmten, son-dern unverzichtbare und zuverlässige Mitstreiter der unterschied-lichsten Bereiche, der Koch und die Küchenfach- und -Hilfskräfte, der Fahrdienstleiter, die Bus- und LKW-Fahrer, die Foto-, Film- und Video-Experten, die Physiotherapeuten und Schwestern, eng mit dem Sport verbundene Verwaltungsmitarbeiter, von denen manche und mancher zunächst selbst Leistungssport betrieben hatte. Sie alle - und nicht zuletzt die Lehrer und Internatserzieher der KJS - haben an der nunmehr 40jährigen Geschichte des Berliner TSC mitgeschrieben. Dasselbe gilt für die ehrenamtlichen, zumeist lang-jährigen Sektionsleitungen...
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Ende der 60er Jahre erwies es sich mehr und mehr als notwendig, den Standort Friesenstadion mit Ausnahme der dort beheimateten Sportarten zu verlagern und ein neues Sportgelände zu schaffen. Der Betrieb lief aus den verfügbaren räumlichen Dimensionen und die Wegezeiten zwischen den Sportstätten und der KJS verlangten zu viel Kraft und Zeit. Manch einer wird sich vielleicht daran erin-nern können, daß zwischen dem Friesenstadion und der KJS in der Schönfließer Straße ein fahrplanmäßiger Busbetrieb eingerichtet worden war. Zum Teil wurde der Schulunterricht für die Schwimmer und Wasserspringer auch im Stadion erteilt, um die Wegezeiten möglichst minimal zu halten. Das war zwar zweckmäßig aber auf die Dauer nicht vertretbar... Die Wahl fiel schließlich auf das Klein-gartengelände zwischen der Werner-Seelenbinder-Halle, dem alten Straßenbahnhof und dem S-Bahn-Trakt. Und ich erinnere mich noch daran, daß Gerhard Michael, der zuständige Stadtrat und an-dere Bittgänger des Sports erbitterte Debatten mit den Schreber-gärtnern führten, denen - verständlicherweise - die eigenen Salat-beete näher lagen als fremde Spielflächen. Aber schließlich war es soweit. Zwischen 1972 und 1974 wurde nicht nur der Gebäudetrakt mit den Hallen eingeweiht. Es entstanden gleichzeitig zwei gut ausgestattete Schulgebäude, eine Schulturnhalle und das Inter-natshochhaus. Die Schule hatte übrigens 1967 in einer feierlichen Veranstaltung in der Kongreßhalle am Alexanderplatz den Namen „Ernst Grube“ erhalten.
Für die verblüffende Entwicklung der kleinen DDR zu einem der großen Länder des Weltleistungssports waren die Sportclubs, die Kinder- und Jugendsportschulen, die zentralen Leistungsvergleiche der KJS, die dann durch die Kinder- und Jugendspartakiaden ab-gelöst wurden, wichtige Fundamente. Daran hat auch der Berliner TSC, wenngleich er nicht zu den Spitzenclubs gehörte, seinen An-teil. Ein fast perfekt funktionierendes Sichtungs- und Auswahlsys-tem trug dazu bei, Talente frühzeitig zu erfassen und - so die Eltern zustimmten - zu einem optimalen Zeitpunkt mit dem Grundlagen-training zu beginnen, an das sich das Aufbau- und Nachwuchstrai-ning anschloß. Auf dieser Basis gediehen Olympiasieger, Welt- und Europameister und Rekordhalter....
Die Freude über sportliche Erfolge der Schüler, das Mitfiebern am Spielfeld- oder Beckenrand gehörten für die Lehrer und Internats-erzieher und natürlich auch für die Direktoren der KJS zur norma-
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len Praxis. Ich will nicht behaupten, daß das bei allen so war, aber es gehörte bei vielen zum selbstverständlichen pädagogisch-sportlichen Alltag. Lehrer arbeiteten in den Sektionsleitungen des Sportclubs mit, waren am Wochenende Wettkampfbetreuer, beglei-teten ihre Schüler in Wintertrainingslager.
Die KJS-Meisterschaften und später die Kinder- und Jugend-Spartakiaden dienten vor allem, aber nicht nur dem rein sportlichen Kräftemessen. Sie waren Feste, die stets auch mit kulturellen An-geboten einhergingen. Ich kann mich daran erinnern, mit Berliner Spartakiadeteilnehmern Konzerte der Leipziger Thomaner besucht und mit Sportlern vor dem Alten Rathaus in Leipzig gehockt zu ha-ben, als die Kabarettisten der Pfeffermühle auftraten.
Aber auch im Sportclub und in der Schule ereigneten sich nicht nur harte und verbissene Wettkämpfe und intensive Abitur- und Ab-schlußprüfungen, sondern auch jährliche Frühlings- und Sommer-feste, Abiturbälle in der Kongreßhalle am Alexanderplatz und Lite-raturabende in der Schulbibliothek, Gespräche mit Schriftstellern, Sängern und Schauspielern. Und freudbetontes Skitraining in den Winterlagern - wenn denn Schnee lag -, Nachtwanderungen, bei denen Sigmar Schöne den Berggeist gab, Rodelpartien sowie Abende und Disko-Veranstaltungen im romantischen Ambiente der Jugendherbergen und Skihütten vereinten Sportler und Schüler, Trainer und Lehrer. Jahrelang reiste beispielsweise der KJS-Lehrer Gerhard Merkel mit seinem klapprigen, mit einer Disko-Anlage vollgestopften Trabant von Winterlager zu Winterlager, um sich vor den Sportlern als Diskjockey zu präsentieren. Ich hielt es auch nicht für verfehlt, daß der Tag des Lehrers - einige werden sich er-innern, es war der 12. Juni - Lehrer, Trainer, Club- und Schullei-tung zu gemeinsamen Exkursionen mit eingeschlossener oder nachfolgender Fete ins Berliner Umland zusammenführte...
Die Chronologie der Medaillengewinner unseres Clubs und späte-ren Vereins wird angeführt von Jörg Lucke/Heinz-Jürgen Bothe, die im Zweier ohne Steuermann 1968 in Mexiko olympisches Gold er-rangen. 1972 holten die Radsportler Jürgen „Tutti“ Geschke, Thomas Huschke und Uwe Unterwalder, der Schwimmer Hartmut Flöckner und die Volleyballer Rainer Tscharke und Jürgen Maune das begehrte silberne Edelmetall, und die Schwimmer Hartmut Flöckner und Wilfried Hartung, die Wasserspringerin Marina Jani-cke und die Radsportler Thomas Huschke und Jürgen Geschke be-
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reicherten ihre persönliche und die Clubbilanz durch Bronzemedail-len. In Montreal folgten 1976 das Gold von Klaus Grünke im Rad-sport, das Handballsilber des Damenquartetts Richter, Krause, Tietz, Matz-Hübscher und die Silbermedaille der Schwimmerin Claudia Hempel, die Bronzemedaille von Thomas Huschke. 1980 versilberten Angela Mattke und Annette Schultz die Clubbilanz im Volleyball, Uwe Unterwalder im Radsport, Frank Paschek im Weit-sprung und Rainer Strohbach in der 4x200-m-Freistilstaffel. Die Handballerinnen legten Bronze nach und befanden sich dabei in guter Gemeinschaft mit der Turnerin Katharina Rentsch, der Kunstspringerin Karin Guthke und dem Boxer Herbert Bauch. Rene Schöfisch eröffnete die erfolgreiche und bis in die Gegenwart an-haltende Bilanz der TSC-Eisschnelläufer 1984 in Sarajewo mit olympischen Bronze. Ulf Timmermann schließlich erkämpfte 1988 in Seoul im Kugelstoßen mit Bravour olympisches Gold. Hervorhe-ben möchte ich noch den erfolgreichen Volleyballer René Hecht, der zum Kapitän der DDR-Nationalmannschaft und danach der Deutschen Nationalmannschaft avancierte.
Stellvertretend für andere möchte ich zwei Sportlerinnen erwähnen, die eine sehr erfolgreiche, aber sehr eigenwillige Karriere erlebten. Roswitha Krause gewann bei den Olympischen Spielen 1968 Sil-ber im Schwimmen, 1976 mit Kristina Richter, Marion Tietz und Evelyn Matz in Montreal Silber im Handball und nochmals Bronze im Handball 1980 in Moskau. Später arbeitete sie als Handballtrai-nerin.
Anläßlich des 25jährigen Bestehens des TSC konnte am 6. Okto-ber 1988 konnte folgende Bilanz gezogen werden: „41 Medaillen erkämpften unsere Athleten bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften. 3 Olympiasiege, 16 Welt- und Europa-meistertitel, 17 Welt- und 22 Europarekorde sind die schöne Bilanz eines großen Kollektivs.“
Zur Bilanz gehören selbstverständlich auch die vom TSC initiierten Sportwettkämpfe. Das gilt für das 1969 begründete Internationale TSC-Boxturnier, das bis 1990 über 20 Auflagen erlebte. Zu nennen ist auch das „für dich“-Turnier im Frauenhandball, das - in Koopera-tion zwischen unserem Club und der Frauenzeitschrift „für dich“ or-ganisiert und international besetzt - mehrere Jahre zu den Höhe-punkten des Berliner Sportlebens zählte.
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ZITATE
Leipzig gewann „deutschen Vorlauf“
Leipzig hat eine Fahrkarte nach Singapur gewonnen, was ihm viele Glückwünsche eintrug. Das Organisationskomitee, das am 6. Juli 2005 dort seine Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2012 einbringen wird, gewann am Sonnabend den in München ausgetragenen deutschen Vorlauf, was eine stattliche Menge auf dem Marktplatz versammelter Leipziger zu Freudentaumel hinriß und manchen vielleicht glauben ließ, die Fahne mit den fünf Ringen könne morgen schon über dem Völkerschlachtdenkmal gehißt werden. Während die Entscheidung manche Kommentatoren im Hilton-Hotel an der Isar noch grübeln ließ, wie der Außenseitersieg am Klügsten zu kommentieren wäre, bekannten diejenigen, die die Stimmen abgegeben hatten, verblüffend schnell: Eine politische Entscheidung. Das kann în der Zukunft noch für Ärger sorgen, weil die übrigen Bewerber mit einer Entscheidung gerechnet haben dürften, die Wettkampfstätten und Unterkünfte zum Maßstab nah-men und keine Rubrik „Politik“ in den Bewerbungsunterlagen ent-deckt hatten. DSB-Präsident Manfred von Richthofen bestätigte vor der Öffentlichkeit: „Die Entscheidung zeigt, wie hoch politisch die Wahl war.“ Dieses Bekenntnis ebnet nicht gerade den Weg zu Olympia, denn in Singapur wird nach den Erklärungen eines Alt-Bundespräsidenten ebensowenig gefragt, wie nach denen eines Dirigenten, der kaum ein Wort über Musik verlor. Verlangt werden dort ausschließlich Nachweise für die Eignung zur Austragung Olympischer Spiele. Und ausgerechnet zu diesem Thema kamen schon am Sonnabendabend Argumente, die neuen Ärger besche-ren könnten. Es waren nämlich vor allem in der DDR entstandene Traditionen, wie die legendäre DHfK, die die Bürgerrechtler besei-tigt hatten und Mühe haben werden, zu erklären, warum man sich jetzt auf die weltweit agierenden Absolventen beruft. Dann wurden die ständig verteufelten Turn-und Sportfeste plötzlich über den grünen Klee gerühmt. Glücklicherweise kam niemand auf die Idee, den Namen des Staatsmanns zu erwähnen, der als erster auf die Idee gekommen war, Leipzig als Olympiastadt vorzuschlagen, denn der hieß Erich Honecker. Die Sonntags-FAZ wußte übrigens: „Schon am Abend vor der Wahl war deutlich geworden, dass die Politiker... das Ganze längst nicht mehr als eine sportliche Ausei-
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nandersetzung auffassten.“ Diese Einschätzung wird durch die Stimmenverteilung bekräftigt: In allen vier Durchgängen lag Leipzig eindeutig vorn und schon im ersten Wahlgang hatte es fast 41 Pro-zent errreicht. Die positiven Aspekte der Entscheidung: Die Zahl der Arbeitslosen könnte rund um Leipzig in den nächsten zwei Jah-ren sinken und die Demonstranten, auf die man sich so vehement berufen hatte, waren nicht nur 1989 auf die Straße gegangen, son-dern auch 2003 als es gegen den Irak-Krieg ging.
Nun kann Leipzig also für die Singapur-Reise rüsten. Dort warten die Schwergewichte wie New York, Toronto, Rio de Janeiro. Mad-rid, Paris, London und vielleicht sogar Moskau. Sie alle sind nur in einem Punkt Leipzig gegenüber im Nachteil: Sie haben keine Cou-bertin-Büste aufzuweisen. Aber auch die stammt aus der DDR.
(Klaus Huhn in junge Welt, 14.4.03)
Olympischer Frieden
Wenn Worte Flügel hätten. dann könnten Jacques Rogge und Juan Antionio Samaranch mit einer Stimme vom Aufstieg der Friedenstaube schwärmen. die das Internationale Olym-pische Komitee (IOC) so gerne ins Blaue steigen läßt: Wie schön wäre die Welt, wenn alle Menschen die olympischen Ideale hochhielten und sich in der Praxis darauf festnageln ließen - auch die IOC-Präsidenten. Doch in Sachen Sonn-tagsreden steht der Belgier Rogge dem Spanier Samaranch nicht viel nach. Was der alte IOC-Führer als fundamentale Prinzipien der olympischen Bewegung deklamierte, die „Ein-richtung einer friedlichen Gesellschaft. verbunden mit der Er-haltung der menschlichen Würde“ und der „Aufbau einer bes-seren und friedvollen Welt“, das repetiert der jüngere IOC-Primus aus aktuellem Anlaß: daß das IOC „im Grunde eine Friedensbewegung“ sei.
Und was macht eine Friedensbewegung wie das IOC im Kriegsfall? Sie diskutiert, taktiert, laviert - aber sagt nicht dezidiert. daß sie ge-gen Raketen, Bomben, Schüsse. gegen Tod und Elend ist, weil man daraus ja den Schluß ziehen könnte, all das richteten in die-sen Tagen Briten und Amerikaner an. Auch Rogge weicht aus, ge-wissermaßen auf einen Nebenkriegsschauplatz. wenn er auf Udai
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Hussein, den Sohn des irakischen Diktators Saddam Hussein und Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) des Iraks angesprochen wird. Man erwäge einen Ausschluß des NOK, falls sich Beweise für jene Mißhandlungen, Folterungen Morde fänden. die Udai im Namen des Sports angeordnet haben soll (F.A.Z. vom 28. Februar). Gerne mische sich das IOC zwar nicht in die Angelegenheiten eines NOK ein: „Wenn allerdings das Verhal-ten eines Nationalen Olympischen Komitees nicht mit den olympi-schen Werten vereinbar ist, dann handeln wir natürlich.“ Selbstver-ständlich, wenn es um den sportlich unbedeutenden Irak geht; oder Afghanistan, wo sich die Taliban durch das Sportverbot für Frauen ins Abseits stellten: oder Südafrika, wo die weiße Regierung sich durch ihre Apartheidpolitik versündigte.
Aber was wird, wenn, sagen wir-. das Verhalten der Vereinigten Staaten von Amerika oder von, England nicht mit den olympischen Werten einer selbsternannten Friedensbewegung vereinbar wäre? Dann müßten auch ihre NOK ausgeschlossen werden - falls je-mand die olympische Charta streng auslegt. Das Regelwerk des IOC legen die Amerikaner ganz sicher anders aus, weil sie sich selbst als der Welt größte Friedensbewegung sehen.
Auf die Abwägung pro oder kontra Krieg läßt sich Rogge nicht ein. Das ist ihm zu „politisch“. Und es könnte die Preise verderben. Im Sommer wollen sich die olympischen Unterhändler in New York mit den Sportchefs der großen amerikanischen Sender an den Ver-handlungstisch setzen, um das große Feilschen über die Ferns-ehrechte für 2010 und 2012 zu eröffnen. Ein Milliardendeal, der das beredte Schweigen der IOC-Spitze erläutert und konterkariert: Interessenspolitik und Geschäftspolitik sind schließlich auch Politik.
(Hans-Joachim Waldbröl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.4. 2003)
Springsteins Erfahrungen
Die Bedienung im Magdeburger Hotel Ratswaage erkennt Thomas Springstein sofort... In vier Jahren Arbeitslosigket. und nach einem mühsamen Aufstieg zurück in den Spitzen-sport, hat der 44 Jahre alte Leichtathletiktrainer sein Geschick im Umgang mit den Medien erhöht... und ist selbstsicherer
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geworden. Aber an seinen Grundhaltungen hat er nichts ver-ändert... „Das ist so: Fehler haben andere gemacht. Das Huhn, das goldene Eier legt,haben sie geschlachtet.“
In solchen Worten redet Springstein oft von der Vergangenheit, vom „Abschlachten“ oder von einer „Hexenjagd“. Denn er glaubt: „Katrin Krabbe wäre heute ein Superstar wie Franziska van Almsick oder Marion Jones.“ Nur ist etwas dazwischengekommen, 1992... Das reichte noch nicht für eine Strafe, machte aber die Do-pingfahnder erst recht auf sie aufmerksam. Wenig später wurde bei ihnen der Wirkstoff Clenbuterol gefunden. Der stand zwar nicht auf der Dopingliste, wirkte aber wie ein Anabolikum. Wegen Medi-kamentenmißbrauchs sperrte der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) sie für ein Jahr, der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) legte zwei Jahre drauf. Springstein war ihr Trainer. Das Ge-fecht zwischen Springstein und seinen Läuferinnen auf der einen Seite und westdeutschen Funktionären und Dopingfahndern auf der anderen spiegelt vor allem innerdeutsche Spannungen...Der schönen Welt des Sports reißt Springstein die Maske herunter. „Der Sport ist unfair, und ich muß damit leben“ sagt er und fügt hin-zu: „Ich sehe keinen Ausweg aus der Dopingproblematik.- Mit sol-chen Aussagen hat er sich bei Funktionären und Medien unbeliebt gemacht... „Der Erfolg der DDR-Sportler lag darin. alle Möglichkei-ten auszunutzen, von der Trainingsmethodik bis zu medizinischen Mitteln.“
(Friedhard Teufel in Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.12.2002)
Sportmedizin der DDR als Präventivmedizin
Bei der Betrachtung der Sportmedizin in der DDR sollte man der beispielhaften Bedeutsamkeit wegen von einer gesamtgesellschaft-lichen Errungenschaft sprechen und nicht etwa von Errungenschaft der Sportmedizin im Sinne von Teilergebnissen bzw. einzelnen In-stitutionen. Die Gesellschaft der DDR hatte sich aus Einsicht in be-stimmte Entwicklungen der Produktionsweise und der Lebensweise im westlichen Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem schrittweisen Aufbau der Sportmedizin als Präventivmedi-zin ein System mit eigenen Organisationsstrukturen geschaffen, das in staatlicher Verantwortung stand. Dies, in welcher Form auch immer, ab 1990 in den deutschen Einigungsprozeß einzubringen,
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wäre ein gesamtgesellschaftlicher Gewinn von historischem Wert gewesen. Diese Chance wurde jedoch, wie viele andere auch, ver-tan; sie fand in dem gesundheitspolitischen Denken der westdeut-schen Politik und in dem Geschäftsgebaren der Ärzteschaft keinen Platz. Auch die Sportärzteschaft nutzte die Gunst der Stunde nicht und verharrte in Schweigen. Dem ärztlichen Berufsstandsdenken wurden moderne Entwicklungen geopfert mit dem Ergebnis, dass die international einst als beispielgebend angesehene Sportmedi-zin in der DDR schnell in der Bedeutungslosigkeit versank... Für den Aufbau und die Entwicklung einer Sportmedizin in der DDR existierten in der Welt keine Vorlagen bzw. Vorbilder; Die Ausge-staltung der Sportmedizin folgte gesellschaftlichen Notwendigkei-ten und aktuellen Erfordernissen bei sorgfältiger Prüfung realisti-scher Umsetzungsmöglichkeiten. Für die Väter der Sportmedizin in der DDR galt der Grundsatz, dass für alle Sporttreibenden die Möglichkeit geschaffen werden muss, sich von sportmedizinisch speziell weitergebildeten Ärzten unentgeltlich untersuchen, beraten und betreuen zu lassen. Hervorhebenswert ist dabei der zielstrebi-ge Auf- und Ausbau von inhaltlichen Gegenständen, Wissen-schaftsstrategien und Strukturen in einem gewachsenen Betreu-ungssystem für alle Ebenen des Sports. Die Betonung liegt hier auf „alle Ebenen“. Dies darzustellen bzw. zuzugeben fällt einer gewis-sen deutschen Journaille bis heute schwer, die diese Sportmedizin verunglimpfend einzig auf Leistungssport und Doping trimmt, um ihre große Bedeutung für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung in den Hintergrund treten zu lassen.
(Prof. Dr. med. habil. KLAUS GOTTSCHALCK, Schriftenreihe „Sport.Leistung.Persönlichkeit“, Heft 2/2002)
Tunnelblick auf das Thema Doping
Andreas Singler beschäftigt sich in seinem Artikel (SZ 7.11.2002 - Beiträge...) auch mit den von Christian Becker und von mir heraus-gegebenen zwei Bänden zur Frühgeschichte des DDR-Sports (2001). Dass der Gesamtartikel und sein Grundtenor „Beim Thema Doping schaut die Sportwissenschaft gern weg...“ wegen der ins-gesamt festzustellenden Undifferenziertheit und Pauschalierungen kommentierungsbedürftig ist, versteht sich von selbst.
Es ist das gute Recht Singlers, unsere Publikationen sehr kritisch und mit abweichender Meinung zu beurteilen. Gerade in einem
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meinungsfreudigen Artikel eines Journalisten sollten dann jedoch die faktischen Aussagen korrekt sein... Dies ist Singler in allen ent-scheidenden Passagen nicht gelungen. Er konnte und musste wis-sen, dass a) wir den Auftrag hatten über eine Periode zu forschen und zu publizieren (die Frühgeschichte des DDR-Sports 1945 bis 1965), in der die Doping-Problematik nun wahrlich nicht im Vorder-grund stand, b) der Mitautor Prof. Dr. Edelfrid Buggel für die Phase, über die er das Kapitel „Volkssport“ geschrieben hat und c) wir un-sere Argumentation nicht mit einem Zitat des ehemaligen Leiters des „Sportmedizinischen Dienstes“ der DDR, dem nun wirklich do-pingbelasteten Dr. Manfred Höppner, sondern des renommierten Regimegegners Dr. Reinhard Höppner (SPD), dem langjährigen Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, unterstützt haben. Allein dieser peinliche Fehler zeigt, dass Singler, wenn es um den DDR-Sport geht, offensichtlich reflexhaft mit einem auf das Thema „Do-ping“ ausgestatteten „Tunnelblick“ versehen ist. Dass man mit solch einseitiger Fokussierung in der Aufarbeitung der Probleme der deutsch-deutschen Geschichte weder eine angemessene Sachbewältigung noch eine weiterbringende politische Entwicklung befördert, das haben ja inzwischen sogar die „Kalten Krieger“ aus vergangenen Zeiten akzeptiert. Von einem Journalisten sollte solch ein Erkenntnisstand ebenfalls erwartet werden...
(Dr. Wolfgang Buss, Süddeutsche Zeitung, Nr. 285, S. 32)
Nationalsozialismus in historischer Forschung
...Die Entwicklungsphasen der Sportbewegung nach 1933 stehen in einem Beziehungszusammenhang zu Entwicklungen im NS-Regime. Sowohl im Innenverhältnis des DRL/NSRL als auch im Außenverhältnis zu anderen Organisationen erscheinen die unter-schiedlichen Entwicklungsphasen des Regimes. Machtkonstellatio-nen und Machtverlagerungen bleiben dabei nicht auf sportorgani-satorisches und -politisches Gebiet beschränkt, sie dringen in die Ausübungszusammenhänge des Sports ein...
In einer prozessgeschichtlichen und die unterschiedlichen Beteili-gungen von Organisationen und Personen betonenden Sicht wer-den Interpretationen, wie Missbrauch, Entartung, Instrumentalisie-rung oder Benutzung des Sports durch die Nazis problematisch (vgl. DWERTMANN 2001). Und das werden sie gerade deshalb, weil sie zentraler Bestandteil von Selbstrechtfertigungen und Lügen,
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mithin von Legendenbildung der NS-Sportfunktionäre nach 1945 waren. Sicherlich nicht intendiert von Sporthistorikern - Bernetts vehemente und auch moralische Kritik am NS-Sport wäre wohl auch heutigen Arbeiten zum Thema häufiger zu wünschen - liegt in der Polarisierung von Nationalsozialismus und Sport eine Verharm-losung der mörderischen Konsequenzen des NS-Regime sowie der gesellschaftlichen Bedeutung und Beteiligung des Sports im NS-Regime. Die Kritik kann dabei als gleichsam ‘normale’ Wissen-schaftsentwicklung verstanden werden: Mit dem Anwachsen der Forschungsergebnisse zum Thema Nationalsozialismus werden Sichtweisen - wie die Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Sport - ebenso wie die zugehörenden Begrifflichkeiten - wie der Begriff „Verstrickung“ - problematisch.
Von anderer Bedeutung ist die Betonung einer „Eigenwelt“ des Sports. Dabei ist zunächst einmal gegen die Deutung einer Eigen-logik der sportlichen Entwicklung nichts einzuwenden, in soziologi-scher Sicht ist sie auch selbstverständlich. Wenn allerdings Eisen-berg die „Versportlichung der Nazis (EISENBERG 1999, 411) als An-zeichen einer „Eigenwelt des Sports“ (ebd., 415) deutet, blendet sie sowohl den Transformationsprozess der Sportbewegung im NS-Regime und dessen entsprechend der Entwicklung des Regimes verlaufenden phasenspezifischen Wandlungen als auch das damit verbundene Beziehungsverhältnis zu anderen NS-Organisationen aus. Im Polarisierungsdenken von „Missbrauch“ und „Eigenwelt“ verhaftet, gerät die Kritik an der „These vom Missbrauch des Sports“ (ebd., 410) zur positivistischen Verklärung der „Eigenwelt“ des Sports und wird übergangen, dass gerade noch im Eigensinn des Sports die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme sicht-bar werden. In der Ausblendung der Alltagsdurchdringung des NS-Terrors, des kontextuellen Verhältnisses und des Transformations-prozesses des Sports, des organisatorischen und personellen Be-ziehungsgeflechtes und damit einhergehenden Machtpositionen sowie der Interdependenz von Ideologie und Praxis wird mit einem positivistischen Sportverständnis direkt in die Entschuldigungspro-grammatik der NS-Sportfunktionäre nach 1945 eingetaucht. Und im Anknüpfen an die Aussagen der Protagonisten des NS-Sports er-fährt die „Amnesie“ im „Blick der Täter“ (SACHSSE 2000, 281) ihre Erneuerung. Eine solche „Eigenwelt“-Deutung ist zusammenfas-
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send auch als Entsorgung deutscher (Sport)Geschichte zu be-zeichnen.
(Hubert Dwertmann SportZeiten 2 (2003) 3, 59 ff)
Springen verkommt...
Das Skispringen verkommt zur TV-Sportart. Man feiert die Stars und ihre Siege, aber hat keine Konzepte, wie der Boom für den Nachwuchs genutzt werden kann. Das Geld wird nur in der Spitze investiert. Es hätten schon längst Nachwuchs-Programme gestartet werden müssen... es müssen Bedingungen geschaffen werden, dass die Kinder springen können und es nicht an fehlenden Schu-hen und Anzügen scheitert. Dort, wo der Sport beginnt, fehlt es an Geld...
(Jens Weißflog 23.2.03 WM Skisport, Val di Fiemme)
„Putzi“ und die Schanzentournee-Vergangenheit
Ich bin mir ziemlich sicher: Er wird sich im Grabe gedreht haben! Ich kannte ihn gut genug, um mir ein Urteil leisten zu können. Em-merich Pepeunig, den wir alle nur „Putzi“ nannten und der zu den Mitbegründern der deutsch-österreichischen Vierschanzentournee gehörte, fragte ich vor einem Vierteljahrhundert am Fuße der Oberstdorfer Schattenbergschanze: „Was würde geschehen, wenn jetzt einer käme und Dich fragen würde, wieviel Startgeld Du zu zahlen bereit bist, wenn er den Schanzenturm hinaufsteigt?“ Er sah mich groß an und antwortete: „Ich würde ihn fragen, ob er weiß, wie er auf kürzestem Wege zum Bahnhof käme.“
Das war in den letzten Dezembertagen des Jahres 1977 und die ersten Symptome der Kommerzialisierung wurden an den Schan-zen erkennbar. Die Springer wurden zwar noch nicht von Mana-gern „geführt“ und die Fernsehmanager hatten sich noch hinter den Absperrungen aufzuhalten, aber es war schon die Rede davon, dass es Zeit würde, das Skispringen zu „modernisieren.“ Mit „Putzi“ und den Männern des Sprungkomitees der Internationalen Skiföde-ration war das nicht zu machen. Aber das ist 25 Jahre her und vor drei Jahren haben sie „Putzi“ auf dem Friedhof an der Berg-Isel-Schanze, von der er selbst noch hinuntergesprungen war, begra-ben und mit ihm eine Schanzen-Epoche. Wenn er von dort auch nicht die Springer landen sehen kann, hätte er doch einen Blick hinauf zum gewaltigen Turm der neuen Schanze, wo die Springer
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ihre Fahrt in die Tiefe beginnen. Und wenn er auch in den Jahren nach unserem Gespräch in Oberstdorf schon viel an Tournee-Neuigkeiten und Wandel erlebt hat, dürfte ihn die jüngste Entwick-lung dazu treiben, sich im Grabe zu drehen. Vor allem, wegen dem, was für die Zukunft geplant ist.
Bei all den angekündigten Reformen und Neuerungen habe ich al-lerdings nie eine Erklärung des Schweizers Gian-Franco Kasper zu diesem Thema gehört. Der wäre nämlich zuständig, weil er seit September 2000 Präsident der Internationalen Skiföderation ist. Zuständig, wenn die FIS in Tourneeanglegenheiten noch etwas zu sagen hätte. Wir hatten so manche feuchte Nacht zusammen ge-sessen und über die Tournee diskutiert, der „Putzi“, der Gian-Franco und neben vielen anderen auch ich. Alles, was da so zur Sprache kam, galt der Frage der der Attraktivität des Springens, das ja eine lange Entwicklung hinter sich hatte. Es ist kein halbes Jahrhundert her, dass die Springer drei Durchgänge absolvierten und sich jeder seine beiden besten Sprünge anrechnen lassen konnte.
Heute haben die Männer, die an den Schanzen groß geworden sind nichts mehr zu sagen. Wer wer ist im Springen hat seine homepage und wie wann und wo gesprungen wird, befindet ein Mann, dessen Name in keinem Skijahrbuch zu finden ist. Er ist nämlich Direktor bei einem Fernsehsender, vielleicht bei RTL. Er verweist ständig und gern darauf, dass allein der Deutsche Skiver-band jährlich 14 Millionen Euro von diesem Sender kassiert und läßt durchblicken, dass er sich demzufolge dementsprechend zu verhalten habe.
Zu „Putzis“ Zeiten kostete die Tournee nur eine knappe Million und bescherte dennoch großartiges Skispringen. In der Liste der Tour-nee-Sieger findet man legendäre Namen.
Wenn ich daran nur erinnere, wird man anderen und mir natürlich heftig widersprechen und auch einen Teufel darum scheren, ob „Putzi“ sich vielleicht in seinem Grabe unterhalb des Berg Isel dreht. Es gilt: Die Zeiten haben sich geändert und die Fernsehdi-rektoren führen das Kommando. Einschaltquoten bestimmen wo es lang geht und es fällt nicht schwer, sich auszumalen, wohin die Reise geht. Zum Beispiel: Wozu die die aufwändige Fahrerei von einer Schanze zur nächsten? Wozu viermal Quartiere buchen, vor allem in Bischofshofen, wo die Betten knapp sind? Wozu ständig
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am Himmel nach Regenwolken Ausschau halten und den Wind beobachten lassen? Das läßt sich billiger arrangieren und vor allem so, dass keine Schneeflocke das Fernsehprogramm und vor allem die Werbespots durcheinanderbringt.
Man könnte für eine Woche ein riesiges Zelt über der Berg-Isel-Schanze ausbreiten und käme damit zu einem konstanten Fern-sehprogramm. Kein Schneetreiben, kein Regen, kein Wind, kein mühsam die Pausen vollplappernder Jauch. Kurzum: TV pur. Wenn mich jemand wegen dieser Ideen belächeln sollte, muss ich ihn daran erinnern, wie „Putzi“ vor 25 Jahren bei meiner Frage ge-lächelt hat.
Natürlich sind noch Stimmen der Vernunft zu hören, aber die wer-den gern leise gestellt. Reinhard Heß, der die deutschen Skisprin-ger trainiert - es war allerdings schon die Rede davon, dass man den Thüringer in die Rente schicken sollte - ließ wissen, dass er kein Freund des „Nachgebens in der Vermarktung des Skisprin-gens“ ist. Das läßt zumindest darauf schließen, dass schon ir-gendwo im Hintergrund die Kapitulationsurkunde diktiert wird.
Gescheiterter Dopingprozeß
Francesco Concon kommt im Dopingprozeß von Ferrara so gut wie ungeschoren davon. Richterin Silvia Migliori brach den Prozeß am Dienstag wegen formaljuristischer Gründe ab Sie sprach Conconi in sechs Anklagepunkten frei und verwies die Anklage wegen Sportbetrugs zurück an die Staatsanwaltschaft. Selbst bei einer Neuauflage de Prozesses muß der Rektor der Universität Ferrara wegen der anstehenden Verjährung wohl keine Verurteilung mehr befürchten. Für Italiens Dopingbekämpfer ist der Rückschlag im Conconi-Prozeß ein Skandal. Auch die „La Gazzeita dello Sport“ haderte mit dem Ergebnis des Prozesses: „Die Justiz ist unfähig, den skandalösesten Dopingfall in der Geschichte de italienischen Sports zu verurteilen.“
Drei Richter hatten den Conconi-Prozeß in Ferrara seit Mai 2002 verhandelt und immer wieder wegen juristische Formfehler abge-geben. Mit den konkreten Vorwürfen gegen den Arzt beschäftigten sich die Richter weniger. Dabei soll Conconi jahrelang Spitzen-sportler syste matisch mit dem Blutdopingmittel Erythropoietin (Epo) behandelt haben. Darunter waren angeblich neben der ehe-maligen italienischen Skilangläuferin Manuela Di Centa vor allem
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Radprofis wie Marco Pantani, Sieger der Tour de France und des Giro d'Italia, sowie Weltmeister Gianni Bugno, Claudio Chiappucci und Maurizio Fondriest. Der Fall Conconi sorgte nicht nur wegen der bekannten Sportler für Aufsehen. Besonders brisant ist die Tat-sache, daß Conconi jahrelang vom Nationalen Olympischen Komi-tee Italiens (Coni) mitfinanziert wurde und sogar in der Antidoping-kommission des Coni saß. In Anspielung r auf die Verhältnisse im DDR-Sport sprachen italienische Medien deshalb auch von „Staatsdoping all’italiana“.
Unter dem Deckmantel der Antidopingforschung soll der Biomedi-ziner als Chef des Sportmedizinischen Instituts Ferrara in Wirklich-keit Ausdauersportler gezielt gedopt haben. Das Coni wies jede Mitwisserschaft weit von sich. Auch die Staatsanwaltschaft fand dafür keine Beweise. Conconi selbst hatte alle Vorwürfe stets zu-rückgewiesen - genauso wie sein Schü ler Michele Ferrari. Der Sportmediziner, der neben vielen anderen Radprofis auch-Tour-de-France-Gewinner Lance Armstrong behandelte, steht der-zeit in Bologna wegen Dopings vor Gericht.
(dpa, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.3.2003)
Westberlin ade?
BERLIN. Es hat lange gedauert, bis Tennis Borussia Berlin in die-sem Jahr das erste Heimspiel austragen konnte. Der Frost war dem Rasen zuviel. Drei Spiele fielen aus, bis die Rückrunde eröff-net werden konnte. Tennis Borussia verlor gegen den MSV Neu-ruppin vor 300 Zuschauern im Mommsenstadion 2:3... Vor drei Jahren noch hatte Tennis Borussia an das Tor zur Fuß-ball-Bundesliga geklopft. Vielleicht war dies das letzte Aufbäumen des alten West-Berlin.
Das alte West-Berlin hat seine sportlichen Markenzeichen verloren. Tradition ist nur die Hülle und kann nicht verbergen, daß Tennis Borussia zum Beispiel gerade noch ein Stadtteilverein aus Charlot-tenburg ist. So wie hinter der rotweißen Markise des Cafés Kranz-ler am Ku'damm auch keine Sahnetortenschlachten mehr stattfin-den. Aus dem Café ist im Obergeschoß eine Bar geworden, im Erdgeschoß ist ein Bekleidungsgeschäft eingezogen. Es wäre noch harmlos, wenn der West-Berliner Sport nur Symbole verlieren wür-de. Er verliert seine Substanz.
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Erst kürzlich hat der viermalige deutsche Badmintonmeister und Europapokalsieger BC Eintracht Südring angekündigt, seine Bun-desligamannschaft zurückzuziehen. In der denkmalgeschützten Deutschlandhalle neben der Messe sind die Berlin Capitals zu Hause. Unter dem Namen Berliner Schlittschuhclub waren sie 1974 und 1976 deutscher Eishockey-Meister, unter dem Namen BSC Preußen hatten sie von 1991 an sechsmal hintereinander das Halbfinale erreicht. Jetzt spielen sie noch in der Regionalliga...
Die Besitzstände aus den Zeiten der Teilung konnte der West-Ber-liner Sport noch in die geeinte Stadt retten und sie lange halten, während an Universitäten Lehrstühle reihenweise geräumt, Institu-te geschlossen und Landesbeteiligungen verkauft wurden. … Als die Mauer noch stand, war er ein Mittel, die Zugehörigkeit West-Berlins zur Bundesrepublik auszudrücken, genauso wie der Sport auf der anderen Seite der Mauer eine politische Aussage hatte. Dafür standen auch das DFB-Pokalendspiel und das Finale des Schulwettbewerbs „Jugend trainiert für Olympia“. Die politische Klasse West-Berlins, allen voran der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus Landowsky, nutzte ebenfalls den Einfluß des Sports. Kam einer der für sie wichtigen Vereine in wirt-schaftliche Schwierigkeiten, waren sie zur Stelle. Das öffentliche Förderungssystem, möglich geworden durch die Berlin-Hilfen des Bundes, bestand aus Zuschüssen, Ausfallbürgschaften für Groß-veranstaltungen und Investitionen. Zwanzig Millionen Mark bei-spielsweise gewährte der Lotto-Stiftungsrat, dessen Mitglied Landowsky war, dem LTTC Rot-Weiß für den Bau eines monu-mentalen Tennisstadions für die German Open der Damen... Nun, da das "System Landowsky" nicht mehr existiert, sucht der Sport vergeblich seine Verbündeten. Weil zur West-Berliner Mentalität auch gehört, sich nur mit dem Besten zufriedenzugeben und Ver-luste zu bejammern, aber nicht dagegen zu kämpfen, verschwindet der alte West-Berliner Sport ohne große Solidarität... Das Abge-ordnetenhaus hat der Führungsakademie des Deutschen Sport-bundes die Zuschüsse gestrichen. Deshalb zieht sie nun nach Köln, obwohl Berlin nach der Wende sogar darauf gehofft hatte, die Sportverbände mit ihren Geschäftsstellen in die Hauptstadt zu ho-len.
(Friedhard Teufel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.3.2003)
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REZENSIONEN
75 Jahre VDS
In Heft 14 hatte ich eine Rezension zum „Jubiläumsbuch 75 Jahre VDS“ publiziert. Kollegen des Autors, wie er selbst Mitglied des VDS, mochten nicht so recht an die antisemitische, profaschisti-sche Haltung des ehemaligen VDS-Präsidenten Ernst Werner glauben. Bestärkt wurden sie durch die Äußerung des Verantwort-lichen für die Herausgabe des Buches, Karl-Heinz Camman, eben-falls früherer Präsident des Verbandes, der die Kritik des Journalis-ten und Historikers Erik Eggers als Polemik abqualifizierte (Sport-journalist Nr. 9/2002). Kommen wir noch einmal zurück zum Jubi-läumsbuch. Da ist auf Seite 27 zu lesen: „Der Reichsausschuss der Sportschriftleiter im Reichsverband der Deutschen Presse über-nimmt die Funktionen des VDS. Im Rahmen der ‘Gleichschaltung’ werden viele Vereine und Verbände aufgelöst, so auch die Berufs-organisationen der Sportjournalisten, als ‘mögliche Keimzellen des Widerstands’.“
Ähnliches war schon früher zu lesen. Carl Diem schrieb 1960: „Na-türlich erhielten auch diese Zeitungen vom Propagandaministerium ihre Auflagen zu politischer Propaganda, der sie sich nicht entzie-hen konnten. Aber was das Sportliche anbelangt, so hat es nie Besseres und Klügeres gegeben, und es war für die Wissenden nicht ohne Galgenhumor, zu verfolgen, wie sie die politischen Pflichtaufsätze zweideutig zu machen suchten.“1) 1962 wurde Diem Ehrenmitglied des VDS. Er ist das bis heute, obwohl kein Zweifel daran besteht, daß er nach Kräften und mit beklagenswertem Er-folg bemüht war, die deutsche Sportjugend in Hitlers Kasernen zu treiben.
Schauen wir uns eine dieser „Pflichtübungen“ näher an und be-merken dazu, daß die Sammlung solcher und ähnlicher Zitate ein Druckwerk beachtlichen Umfanges ergeben würde.
In der Fußball-Woche vom 22. März 1938, erschienen kurz nach dem Einmarsch der Nazi-Wehrmacht in Österreich, druckte der in der Zeitung als Verantwortlicher Redakteur ausgewiesene Ernst Werner einen ganzseitigen Artikel unter der Überschrift: „Deutsch-österreichs Fußballer jubeln“. Darin heißt es: „...die jüdischen Funk-tionäre, welche den Sport dem Ruin entgegenführten...“ - „Die jüdi-
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schen Manager und Vereinsfunktionäre, denen die Höhe des Bankkontos wichtiger war, als ehrliche sportliche Arbeit, die ... nie den Sport als Ertüchtigungsmittel für die gesamte Jugend werte-ten...“
Hier geht es nicht um Polemik, hier geht es um deutsche Sportge-schichte, speziell um ein Stück Geschichte der deutschen Sport-journalistik, das der VDS offenbar nicht zur Kenntnis nehmen will.
Suchen wir weiter in dieser „Pflichtübung“ der Fußball-Woche. „Der Jubel, der in allen (österreichischen - A.d.A.) Sportkreisen herrscht, ist unbeschreiblich. Es gibt nur einen Gruß mehr, den deutschen Gruß ‘Heil Hitler’, nur mehr eine Parole: ein Volk, ein Reich, ein Führer! Und über alles der nicht einzudämmende Jubel: Sieg Heil!“
In jenen Tagen geisterte durch viele Sportspalten der deutschen Presse die Geschichte des SA-Mannes Hans Mock (Austria Wien), 13facher österreichischer Nationalspieler (später in fünf Länderspie-len für Deutschland tätig), der sich nun tatsächlich „heim ins Reich“ gesehnt hatte und dafür entsprechend gefeiert wurde. Über das Schicksal des Mathias Sindelar, ebenfalls Austria Wien, in 44 Spie-len für Österreich eingesetzt und international geschätztes Mitglied des „Wunderteams“, wurde weniger ausführlich berichtet. Sein Frei-tod kurz nach der Besetzung seines Heimatlandes konnte nicht ver-schwiegen werden, wohl aber der Grund, der ihn dazu trieb. Sindelar war mit einer Jüdin verheiratet und wußte um den Schrecken, der seine Frau und auch ihn selbst erwartete. Damit sind wir wieder bei Eggers und seinem „polemischen“ Zitat, den rüden, antisemitischen Sätzen Werners, die auf den jüdischen Sportjournalisten Willy Meisl zielten. Er war ein Bruder des Hugo Meisl, der über lange Jahre hinweg Generalsekretär des österreichischen Fußballverbandes wie auch dessen Verbandskapitän war und damit wesentlich beteiligt an der Formung jener „Wundermannschaft“. Allein seine Wahl in die wichtigste Funktion des nationalen Verbandes gibt Auskunft über das Verhältnis der Fußballspieler seines Landes zum deutschen Verband. Noch eindeutiger ist die Aussage der amtlichen Länder-spielstatistik. Zwischen Österreich und Deutschland fanden insge-samt 10 Länderspiele statt, drei vor 1914, sechs nach Ende der Habsburger Monarchie, nur eines nach 1933, und auch das war kei-ne zwischen den Verbänden vereinbarte Begegnung, sondern das Spiel um den dritten Platz der Fußball-Weltmeisterschaft 1934. Zum Vergleich die Zahl der Spiele Österreichs gegen einige andere Län-
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der: Gegen Ungarn 802) (davon elf nach 1933), gegen Italien 17 (4), gegen die Schweiz 17 (3), gegen die Tschechoslowakei 16 (6). Sportstatistiken können durchaus politische Situationen charakteri-sieren. Es darf hier nicht verschwiegen werden, daß es nicht wenige deutsche Sportjournalisten gab, die der mißlichen Situation mit An-stand begegneten. So zum Beispiel der Sportjournalist und Feuille-tonist Richard Kirn, der Anfang der 50er Jahre bei einem Treffen in seiner Frankfurter Wohnung dem Autor über seine Haltung und sei-ne Arbeit in jenen Jahren erzählte.
Im von Camman früher verantworteten Verbandsorgan des VDS wurde in nicht wenigen Beiträgen immer wieder einmal nach Schattenseiten des DDR-Sportjournalismus gesucht. So sei an die biblische Erkenntnis erinnert, daß vor der Suche nach Splittern in fremden Augen erst einmal die Balken vor den eigenen beseitigt werden sollten. Aber, zugegeben, diese Weisheit entspricht nicht dem herrschenden Zeitgeist.
Man mag den Autor einen Utopisten nennen, aber er lebt in der Hoffnung auf eine Zeit, in der sich die Historiker (und die Journalis-ten) aus Ost und West gemeinsam um die Bewältigung deutscher Vergangenheiten bemühen. Die Erfahrungen, die er bisher dazu machen mußte, waren in ihrer Mehrzahl deprimierend.
ANMERKUNGEN
1) Diem: Weltgeschichte des Sports und der Leibeserziehung, Stuttgart, S. 1008.
2) In den Jahren zwischen 1902 und 1908 gab es zehn Begegnungen zwischen Wien und Budapest. Sie wurden später als Länderspiele anerkannt und in die offi-ziellen Statistiken beider Verbände aufgenommen.
Joachim Fiebelkorn
Kanusport in der DDR - Kanutouristik
Im Herbst des vergangenen Jahres erschien die Geschichte der Kanutouristik der DDR. Diese Veröffentlichung ist zweifellos ein weiterer Mosaikstein, um ein reales Bild vom Sport der DDR zu er-halten. Die Autoren haben als sachkundige Kenner, da sie selbst im Deutschen Kanu-Sport-Verband der DDR (DKSV) oder in den Sportclubs und den Sportvereinen tätig waren, alles zusammenge-tragen, was sich in privaten und öffentlichen Archiven finden ließ.
Daß diese Schrift zustande kam, ist sowohl den Autoren als auch dem Deutschen Kanu-Verband (DKV) zu verdanken, der die Kos-
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ten für den Druck vorgeschossen hat. Da die Autoren auf jedes Honorar verzichteten, konnte auch der Preis erträglich gestaltet werden. Das ist mehr als sich andere Sportverbände leisten kön-nen und leisten wollen. Im DKV ist offenbar einiges anders, wenn auch lange nicht befriedigend oder gar gut. Die Vereinigung der beiden Kanuverbände verlief pragmatisch und vor allem mit mehr Fingerspitzengefühl als anderswo. Das Wissen und Können der DDR-Trainer konnte bis zu einem gewissen Grade eingebracht werden, was auch eine Ursache dafür ist, daß der DKV bislang wohl der international erfolgreichste Sportverband bei den Olympi-schen Spielen im Nachkehrtwende-Deutschland sein dürfte!
Was zunächst an der Geschichte der Kanutouristik auffällt, das ist die sachliche Darstellung. Es sitzt sozusagen jeder Satz. Aufgebla-senheit und Klappern, das angeblich zum Geschäft gehört, haben die Autoren nicht nötig. Es überzeugt allein die Kraft des Fakti-schen. Die Autoren haben aufgrund ihrer Sachkompetenz einfach die besseren Karten, und man merkt ihren Texten die Freude an, es kräftig zu geben und auf den Tisch zu packen, was es an Brei-tensport in der DDR gegeben hat. Ein kleiner Bildteil und ein aus-führlicher, gut handhabbarer Anhang mit dem Strukturschema des DKSV, einer Sammlung ausgewählter Daten (Chronologie), den Ordnungen für den Erwerb verschiedener Abzeichen sowie ein Fahrtenkalender ergänzen die Texte.
Die Anfänge waren in allen Besatzungszonen ähnlich: Die Sport-verbände waren verboten, die Organisation nur auf kommunaler Ebene möglich. Mit der staatlichen Entwicklung bildeten sich ge-trennte Sportvereinigungen in Ost und West heraus. Die vorliegen-de Analyse von 1945 bis 1991 (Vereinigungsjahr der beiden deut-schen Kanuverbände) zeigte aber unter anderem, daß es Entwick-lungen und Erscheinungen gab, die in beiden Verbänden gleich oder ähnlich abliefen. Nur das Kind hatte aus politischen oder ideo-logischen Gründen einen anderen Namen zu haben. Das ist ein Umstand, den man vielerorts antreffen kann und der nicht wenige selbstgerechte Historiker und Apologeten der jetzigen immerwäh-renden Glückseligkeit in die Falle tapsen läßt. Nebenbei offenbart der Text „Erfolgsgeheimnisse“ des DDR-Sports: breite Basis und gemeinsames Handeln! Tugenden, die heute noch in vielen Verei-nen im Osten lebendig sind. Um nicht falsch verstanden zu wer-den, solche Haltungen und ähnliche Möglichkeiten finden sich auch
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in den alten Bundesländern, aber eben nicht als weit verbreitete und durchgängig geförderte und geforderte Tugenden. Wo man um finanzielle Mittel und um Sponsoren streiten muß, ist Tauziehen und Intrigieren eher an der Tagesordnung als einvernehmliche Ko-operation. Besonders deutlich wird das gemeinsame Wollen und der gesellschaftliche Wert des Sports in der DDR - nach meinem Empfinden - wenn die Rolle der Betriebssportgemeinschaften be-leuchtet wird. Welche wunderbaren Voraussetzungen für das nicht wettkampforientierte Sporttreiben, die durch gesellschaftlichen Konsens geschaffen worden waren. Das läßt noch im Nachhinein den Hut vor den gesellschaftlichen Akteuren ziehen. Und es wird deutlich, daß nicht nur nach Vater Staats Pfeife getanzt werden mußte. Sicher, „ohne ein gewisses Quantum Mumpitz ging es nicht“ - wo geht das schon? - aber die Freiräume, die sich dahinter auftaten, waren wirklich Frei-Räume und von jedem bezahlbar. So wird insgesamt das Bild einer lebendigen, gut entwickelten und breiten Basis gezeichnet, die Raum für individuelles und kollektives Erleben bot. Insofern reiht sich diese Schrift, der hoffentlich noch die Geschichte des Kanu-Slalom und des Leistungssports im DKSV folgen werden, in die Phalanx der Streiter gegen Ignoranz und Dummheit ein, wie sie sich zuhauf in dieser großspurigen, je-doch kleingeldlosen Republik breitmacht.
R. Buhl, U. Juschkus, W. Lempert, W. Tuch Kanusport in der DDR, Teil 1... DKV-Wirtschafts- und Verlags-GmbH, Duisburg 2002
Thomas Bruhn
Chronik des Skisports in der DDR
Der Leiter des Deutschen Skimuseums in München Planegg, Dr. Gerd Falkner, hat im Eigenverlag eine Chronik herausgebracht, die sich als ein bedeutsamer Schritt auf dem Weg zu einer Geschichte des Wintersports der DDR erweist. Beim Studium dieser Chronik spürt man den Insider, der mit dem Skisport der DDR groß gewor-den ist. So hat denn Gerd Falkner auch in dem von ihm eingerich-teten Museum die Leistungen des Skisports der DDR gewürdigt.
Die Chronik umfaßt den Zeitraum vom 10. Oktober 1945 bis zur Auf-lösung der Geschäftsstelle des Deutschen Skiläufer-Verbandes der DDR (DSLV) am 31. Dezember 1990. Die Riesenprobleme des schweren Anfangs, aber auch die ständige umfangreiche staatliche
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Förderung treten ebenso hervor wie das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich der Skisport der DDR entwickelte. Die Stärke der Chronik liegt darin, daß versucht wird, die Ereignisse vielseitig und umfassend darzustellen. Auch wenn die Chronik natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ist es wichtig, daß der Kinder-, Jugend- und Volkssport seinen Platz hat, wodurch sich eindeutig zeigt, daß es nicht nur um Anerkennung und Medaillen bei herausragenden internationa-len Wettkämpfen ging, sondern darum, allen das Sporttreiben zu er-möglichen und die in der Verfassung der DDR verankerten Rechte und gegebenen Förderzusagen zu verwirklichen. Ich hätte mir noch gewünscht, daß sich in dieser verdienstvollen Arbeit die Jahrzehnte währende sportpolitische Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik Deutschland stärker widerspiegelt. Hier bietet auch die Skigeschichte viele prägnante Beispiele und macht deutlich, wie hartnäckig die DDR-Sportlerinnen und -sportler um eine gleichberechtigte Teilnahme am internationalen Sport kämpfen mußten. Die Chronik enthüllt uns insgesamt die bunte interessante Welt des Skisports in einem kleinen alternativen Deutschland, von dessen Leistungen und Strukturele-menten wir heute noch zehren und das weit mehr als nur eine Fußno-te der Weltgeschichte ist.
Dr. Gerd Falkner c/o DSV Geschäftsstelle, Hubertusstr. 1, 82152 Planegg
Jan Knapp
Chirurg am linken Ufer der Panke
Nachdem der Chirurg und Sportmediziner Heinz Wuschech die ge-gen ihn erhobene Anklage und die stillschweigende Einstellung des eingeleiteten Verfahrens - also vor allem diesen Einzelfall - in dem Report „...beschuldigt des mehrfachen Mordes...“ (SPOTLESS-Verlag 2000) einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, stellt nun Kurt Franke als erster Sportmediziner aus den neuen Bundesländern sein Leben - gewissermaßen mit Blick in den Rückspiegel - vor. Er schildert in seinen Erinnerungen eines Berli-ner Mediziners mit dem Titel „Chirurg am linken Ufer der Panke“ nahezu chronologisch Kindheit und Jugend in Berlin, die Zeit als Soldat der faschistischen Wehrmacht, die Ausbildung und Entwick-lung zum Facharzt für Chirurgie und zum Facharzt für Sportmedi-zin, die weitere Graduierung, sein Wirken als Chefarzt seit 1964 im Krankenhaus Pankow und in der Akademie für Ärztliche Fortbil-
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dung als Professor für Chirurgie/Unfallchirurgie seit 1977 und na-türlich würdigt er Lehrer, Kollegen, Freunde oder läßt sie selbst zu Wort kommen. Der besondere Wert dieses Zeitzeugenberichtes erschließt sich im Kontext der Analyse von Arno Hecht zur „Wis-senschaftselite Ostdeutschlands. Feindliche Übernahme oder In-tegration?“ (Leipzig 2002) und der persönlichen Anmerkungen von Klaus Gottschalck zum „abgewickelten“ Funktionsmodell der Sportmedizin in der DDR (Aspekte der Biowissenschaften..., Sch-keuditz 2002). Belegen Hecht und Gottschalck die Abwicklungen in der Sportwissenschaft, vor allem der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, der Sportmedizin als Präventivme-dizin mit eigenen Funktionsstrukturen und der Akademie für Ärztli-che Fortbildung, die in Einheit mit den Reduktionen an den Institu-ten für Sportwissenschaft der Universitäten und Hochschulen zur weitgehend irreversiblen Beseitigung (Abwicklung) der Sportwis-senschaft der DDR führten, offenbaren die Erfahrungen von Kurt Franke sowohl die einstigen Ansprüche und Leistungen als auch den Kahlschlag, die Vorgehensweisen in diesem Prozeß und die Verluste am Beispiel eines anerkannten Chirurgen. Aber nicht nur deshalb erweist sich dieser Zeitzeugenbericht als unverzichtbar. Sondern Kurt Franke, 1926 in Berlin-Wedding geboren und 1952 von da an das „linke Ufer der Panke“ übergesiedelt, „emigriert“ wie er schreibt, schildert seinen Lebensweg und das Leben seiner Fa-milie, ohne jene Bedingungen zu vernachlässigen, die Möglichkei-ten eröffneten oder das Leben, die Existenz, nicht nur erschwerten, sondern bedrohten. So wird nachvollziehbar, welche nachhaltigen Lehren bleiben, wenn man als Sechzehnjähriger am 15. Februar 1943 mit allen deutschen Oberschülern der Jahrgänge 1926 und 1927 Luftwaffenhelfer - eigentlich Kindersoldat - zu werden hatte und Erwachsene, militärisch Ausgebildete in den Flakbatterien er-setzen mußte, die nun - als eines der letzten Aufgebote - für die Front bestimmt waren. Die Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg und das unbedingte Wollen werden spürbar, Kriege ebenso zu verhindern wie ein erneutes Aufkeimen faschistischer Tendenzen oder gar des Faschismus, der Lern- und Leistungswille und das Ethos der Ärztegeneration wird deutlich, die Kurt Franke repräsentiert. Und natürlich wird auch einmal mehr sichtbar, warum höchst kompetente, international geachtete, natürlich politisch gebilde-te und sensible Wissenschaftler 1990 - unter welchem Vorwand auch
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immer - schnellstmöglich zu gehen hatten und zu diesem Vorgang, in dem „abgesehen von den rassisch und politisch Verfolgten der Jahre 1933-1945, noch nie eine so große Gruppe von deutschen Hoch-schullehrern auf dermaßen schäbige Weise, ohne jede gerechte Wür-digung ihres wissenschaftlichen Lebenswerkes, aus dem Amt gejagt wurde“ (Hecht, 2002, 210), die Hochschullehrer aus den alten Bun-desländern - von rühmlichen Ausnahmen abgesehen - schwiegen und insbesondere in der Sportwissenschaft und der Sportmedizin noch immer schweigen. Zumindest war und ist bisher keine kritische Stim-me wirklich vernehmbar. All das reflektiert Kurt Franke distanziert und mit wenigen Worten, keineswegs bedeutungsschwer, vielmehr kennt-nisreich, geschichtssicher, ja heiter und gelassen, gewürzt mit Bemer-kenswertem und Kuriosem aber stets seinen Ansprüchen getreu. Al-les in allem ein unterhaltsamer und informativer Zeitzeugenbericht gegen die per Gesetz verordnete und per Enquetekommission instal-lierte „selektive Erinnerung“ (Markovits 2002) über Leben und Wirken in der DDR, in dem anderen deutschen Staat.
Kurt Franke, Chirururg am linken Ufer der Panke, Das Neue Berlin 2002,
Margot Budzisch
Box-Botschafter auf 5 Kontinenten
Der Autor von „Botschafter des Amateur-Box-Sports auf fünf Konti-nenten“ war von 1959 bis 1964 Trainer beim SC Magdeburg, an-schließend von 1965 bis 1978 Verbandstrainer Boxen für den Nachwuchs und die Nationalmannschaft der DDR und von 1978 bis 1986 Cheftrainer beim TSC Berlin. Von 1986 bis 1996 war er als Trainer in unterschiedlichen Ländern tätig. Seine Erfahrungen hat er in „einem Album“, wie er es nennt, das 640 Seiten umfaßt, vorgestellt und vorbehaltlos zur Verallgemeinerung preisgegeben.
Im Vorwort dieser umfangreichen Arbeit schreibt Peter Thomas: „Es mag sein, daß er (P. Thomas) die Details dieser Chronologie als persönliche Bilanz seiner Tätigkeit im Sport auflistete. Wer sich mit dem Dargelegten aber im Einzelnen befaßt, wird bald feststel-len, daß es sich auch um eine Chronik der erfolgreichen Geschich-te des Boxsports der DDR handelt.“ In heutiger Zeit gerät leider all-zuleicht in Vergessenheit, daß der Amateurboxsport der DDR Weltspitze verkörperte. Den Weg dahin bereiteten viele - meist un-genannte - Übungsleiter und Trainer in den Sportgemeinschaften
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und -clubs. Sie wurden angeleitet von Spezialisten wie Charly Lüdtke, Erich Sonnenberg, Kurt Rosentritt, Günther Debert und eben auch Peter Thomas, um nur einige zu nennen.
In der nun vorliegenden Chronologie zeichnet Peter Thomas sei-nen Weg als Klubtrainer, Auswahltrainer der Nationalmannschaften der DDR und als Auslandstrainer nach. Er hat im Zeitraum von 1964 bis 1996 insgesamt 161 Auswahlboxer auf Höhepunkte wie Kontinentale Meisterschaften, Welttitelkämpfe und Olympische Spiele vorbereitet. Seine Schützlinge erkämpften 15 Gold-, 25 Sil-ber- und 40 Bronzemedaillen. Dazu gehörten zum Beispiel Jochen Bachfeld (Olympiasieger 1976), Richard Nowakowski (Olympia-zweiter 1976, Olympiadritter 1980, zweifacher Europameister), Ste-fan Förster (Europameister) und Jörg Teiche, der erste Junioren-Weltmeister der DDR, die Sieger der Afrikaspiele aus Sambia Anthony Mwamba und Keith Mwila, der 1988 Olympiazweiter wur-de, oder der Asienmeister Prassad Nagegoda (Sri Lanka).
In einem ersten Teil der Chronik listet der Autor akribisch die Er-gebnisse der Junioren- und Senioren-Nationalmannschaften der DDR von 1965 bis 1978 auf, ergänzt durch Zeitungsausschnitte und Fotos. Dann widmet sich Peter Thomas vor allem seinen Aus-landseinsätzen. Er wirkte an 56 Lehrgängen in 27 verschiedenen Ländern auf fünf Kontinenten verantwortlich mit und legt nun die Grundkonzeptionen und die Trainingspläne für die internationalen Lehrgänge vor und fügt, was von besonderem Interesse ist, von je-dem Lehrgang den Abschlußbericht bei. Presseberichte aus den Zeitungen und Zeitschriften der verschiedenen Länder, in denen er tätig war, umrahmen die Darlegungen in seinem „Album“. Dank-schreiben von Sportverbänden, Sportleitungen und zuständigen Regierungsstellen der Länder, denen er bei der Entwicklung des Boxsports behilflich war, zeugen von der großen Achtung, die man ihm, den von ihm erbrachten Leistungen und dem Engagement des Boxverbandes der DDR, vor allem in den Ländern Afrikas und Asi-ens, entgegenbrachte. Hier muß erwähnt werden, daß Peter Thomas Wirken stets auf die Komplexität sportlicher Leistungsent-wicklung gerichtet war und die praktische Ausbildung durch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse gestützt wurde. Die Einheit von Theorie und Praxis zu sichern, war für ihn selbstver-ständlich und durchgängiges Arbeitsprinzip. Das belegt unter ande-rem ein Lehrvideo. Er hatte es speziell für die Lehrgänge aber auch
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für die Nutzung in den Nationalen Verbänden, vor allem Afrikas, Asiens, Ozeaniens, Mittel- oder Südamerikas mit Unterstützung des damaligen AIBA-Büros in Berlin hergestellt. Es wurde inzwi-schen von mehr als 75 Nationalen Verbänden genutzt und ist heute noch höchst aktuell.
Die von Peter Thomas vorgelegte Chronik ist zwar als eine persön-liche Bilanz angelegt, erweist sich aber als Nachweis und Beleg für das Wirken des Boxsportverbandes der DDR, dessen Ansprüche, Leistungen und Ergebnisse im Amateur-Boxsport. Insofern ist es sehr zu bedauern, daß diese Chronik - wegen ihres Umfangs, der Fülle der Belege und Dokumente - nur in sehr kleiner Auflage er-schienen ist und nur wenigen vorbehalten und zugänglich sein kann.
Peter Thomas, Botschafter des Amateurboxsports auf fünf Kontinenten
Karl-Heinz Wehr
Pferdesport bei Olympia
„Pferdesport war und ist historisch und aktuell den Brennpunkten gesellschaftlicher Probleme und Entwicklungen näher als jeder an-dere Sport.“ Mit dieser Prämisse hat der Berliner Journalist und Pferdesportkenner Helmut Lenz ein Buch über den „Pferdesport bei den Olympischen Spielen“ geschrieben. Das Buch ist unter dem Titel „Auf olympischem Parcours“ in vier Auflagen in den Jah-ren zwischen 1976 und 1989 in der DDR erschienen. Die jetzt ver-legte 5. Auflage wurde überarbeitet und textlich bis zu den Spielen 2000 in Sydney erweitert. Der Autor macht - wie er selbst bekennt - „um heiße Themen und brennende Probleme des Pferdesports in der Vergangenheit und Gegenwart weiter keinen Bogen“, so daß er zu kontroverser Diskussion und gegebenenfalls auch unterschiedli-cher Meinungsbildung beim Leser geradezu einlädt.
Das Buch beginnt mit einer Betrachtung zu den Reit- und Fahr-wettbewerben der antiken Olympischen Spiele und endet mit ei-nem Kapitel zu den Pferdesport-Wettbewerben der Paralympics 1996 und 2000 in Atlanta und Sydney. Dazwischen berichtet der Autor kenntnisreich und recht gut lesbar sowie mit unzähligen Fak-ten und Tabellen über all jene Sportarten, die mit dem Pferd und unter dem Motto von Olympia stattfanden. Das reicht von Polo und Voltigieren bis zu den olympisch etablierten Disziplinen Military,
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Dressur und Springreiten. Dabei berichtigt Lenz teilweise Daten, weist auf Lücken und Diskrepanzen in der Überlieferung hin und versucht einen komplexen Überblick über die Geschehnisse zu ge-ben. Was sein Buch auszeichnet, ist jedoch vor allem das in jedem der 25 Kapitel spürbare Bemühen, Pferdesport bei den Olympi-schen Spielen einzuordnen in die jeweilige gesellschaftliche Ent-wicklung, in die Zeitgeschichte. Besonders aufschlußreich, wie er sich mit der Sportpolitik zur Zeit des Faschismus, in der Periode des kalten Krieges und unter den heutigen internationalen Verhält-nissen auseinandersetzt.
Typisch für den Autor ist, daß er kein Blatt vor den Mund nimmt, kein Tabu kennt und eine immer durchaus dezidierte Meinung ver-tritt, die Kritik nach vielen Seiten übt - nach Möglichkeit aber immer auf Fakten gestützt. Das deutsch-deutsche Verhältnis in Sachen Pferdesport zu Zeiten der Existenz zweier deutscher Staaten steht dabei ebenso erkennbar im Zentrum seines Darstellungsinteresses wie die besonders seit 1972 mangelnde Förderung des Pferde-sports in der DDR oder etwa die von Lenz als „bitterböse“ empfun-dene Tendenz zur Kommerzialisierung von Olympia und Pferde-sport. Persönlichkeiten und Organisationen des nationalen wie in-ternationalen Pferdesports werden im Buch in Meinungen und Entwicklungen dargestellt und charakterisiert.
Daß vor der Drucklegung des computergefertigten Manuskripts nicht immer gut Korrektur gelesen worden ist, beeinträchtigt mit ei-nigen Druckfehlern das ansonsten insgesamt gute äußere Ganze. Und freilich: Die Illustrationen der DDR-Auflagen des Buches, die vermutlich aus Kostengründen eingespart worden sind, vermißt schon, wer in heutiger so bilderreicher Zeit auflockernde Abwechs-lung und dokumentarische Untermauerung zum Text gewohnt ist, wird jedoch durch den Faktenreichtum des Sachbuches voll ver-söhnt.
Helmut Lenz, Pferdesport bei den Olympischen Spielen, 320 Seiten, Ber-lin 2002, NORA-Verlagsgemeinschaft.
Peter Fischer
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GEDENKEN
Manfred Ewald
(17.5.1926 - 21.10.2002)
Die Geschichte des DDR-Sports ist ohne Manfred Ewald nicht denkbar. Sein Lebensweg wurde denn auch von vielen gebührend gewürdigt, löste aber auch eine Medien-Kampagne aus, die an die frostigsten Jahre des Kalten Krieges erinnerte. Es entbehrte nicht einer gewissen Tragik, daß ausgerechnet am Grabe eines der pro-filiertesten DDR-Sportfunktionäre noch einmal deutlich gemacht wurde, zu welcher Dimension die alt-bundesdeutsche Wut über die vielen sportlichen Niederlagen gegen die DDR im Laufe der Jahre eskaliert war. Ewald selbst hatte wohl in dieser Hinsicht nie Illusio-nen aber andererseits ein solides Verhältnis zu vielen internationa-len Sportfunktionären, die ihm politisch überhaupt nicht nahe stan-den. So bat ihn der Präsident des Organisationskomitees von 1984 in Los Angeles, Peter Ueberroth, mehr als einmal um Rat. Ich erin-nere mich eines stimmungsvollen Konzertabends lange vor den Spielen, zu dem Ueberroth Ewald nach Los Angeles eingeladen hatte, nur um ihm am Ende die Frage zu stellen, ob er ihm eine solche Veranstaltung zum Ausklang der Spiele empfehlen würde? Und Ueberroth besuchte Ewald, ließ sich die Hauptstadt der DDR bei einer Dampferfahrt auf Berlins Gewässern zeigen und erwähnte dies sogar in seinen Memoiren, obwohl die DDR diese Spiele im-merhin boykottiert hatte.
Doug Gilbert widmete in seinem in New York erschienenen Er-folgsbuch „The miracle mashine“ („Die Wundermaschine“) Ewald ein umfängliches Kapitel mit dem Titel „The Boss“. Die eher rheto-rische Frage: „Wer ist dieser Mann? beantwortete er darin mit der lakonischen Auskunft: „Die Talente, die Ewald hat, sind Dinge, die manche Leute haben und manche nicht.“ Dieser Charakterisierung fügte er noch ein persönliches Erlebnis hinzu: „Als ich 1972 zu den Spielen nach München kam, wollte es der Zufall, daß ich gemein-sam mit der DDR-Handballmannschaft dort landete. Wer holte die Frauen im Trainingsanzug am Flughafen ab, redete mit allen ein
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paar freundliche Worte, kontrollierte, wie ihr Gepäck verladen wurde und stieg dann in den Bus, der ins Dorf rollte? Manfred Ewald.“ Ei-nem Kanadier schien es unvorstellbar, daß sich der Chef, der Präsi-dent des Nationalen Olympischen Komitees und Mannschaftsleiter, um das Gepäck von Handballspielerinnen kümmerte. Dennoch läßt sich Ewald nicht in die Kategorie der Beliebtesten einordnen. Er for-derte von sich viel, aber auch von allen, mit denen er zusammenar-beitete. Seine Entscheidungen konnten schon deshalb nie sonder-lich populär sein, aber der Erfolg sprach immer für ihn. Den kome-tenhaften Aufstieg des DDR-Sports Doping zuzuschreiben, wie es nach dem Untergang der DDR mit einem von Ignoranten gesteuer-ten Feldzug versucht wurde, ließ sich auch nur mit dem schon er-wähnten Unmut gegenüber den DDR-Erfolgen erklären. Man erin-nert sich, daß die Ewald-„Mannschaft“ bereits 1956 vorgeschlagen hatte, den vorhersehbaren Wettlauf um den Chef de Mission der gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft mit einem für alle akzeptablen Kompromiß zu vermeiden, in dem die DDR als das kleinere deutsche Land den „Chef“ für die Winterspiele stellen soll-te und die BRD den für die Sommerspiele. Die BRD-Seite lehnte den Vorschlag kategorisch ab. Der vorausgesagte Wettlauf begann und endete bei den Spielen 1964 in Tokio mit dem DDR-Triumph: Das ZK-Mitglied Manfred Ewald war der Chef de Mission der „ge-samtdeutschen“ Mannschaft. In Bonn jagten sich die Krisensitzun-gen und die Hamburger „Zeit“ verglich die Situation mit „Stalin-grad“. Er avancierte zu einer der erfolgreichsten Persönlichkeiten des Landes, was ihm nicht nur Freundschaften eintrug. Zuweilen mißbrauchte er auch seine Stellung, aber wer ihn gut kannte, wuß-te, daß er selten jemanden „fallen“ ließ. Obwohl im Lande DDR ei-ne Entlassung nie in hoffnungslose Arbeitslosigkeit führte, kümmer-te er sich immer darum, daß niemand in Not geriet.
Vielleicht wäre es auch korrekt, am Rande zu vermerken, daß er wohl den Augenblick seines Rücktritts verpaßte - aber wem gelingt das schon im Sport? Am Ende seines Lebens räumte er - schon schwerkrank - ein, einen Fehler begangen zu haben, als er einen charakterlosen Ghostwriter seine Memoiren hatte schreiben las-sen. Die an Geschmacklosigkeit kaum zu überbietende Kampagne gegen ihn, wurde bis ans Grab ausgedehnt.
Klaus Huhn
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Manfred von Brauchitsch
15.8.1905 – 5.2.2003
Unweit Schleiz trugen sie ihn zu Grabe, 97jährig. Der Abschied beendete ein Kapitel deutscher Geschichte des vorigen Jahrhun-derts: Manfred von Brauchitsch. Aufgewachsen war er in einer Of-fiziersfamilie, die dem Kaiser bis zur letzten Stunde die Treue be-wahrte. Sein Vater drohte allen in der Familie, die sich etwa da-nach von den „Roten“ nur befördern ließen mit „ewiger Schande.“
Sein Vater hatte ihm auch geraten, in eines der Freikorps einzutre-ten, weil die vielleicht „den Grundstock zur neuen Wehrmacht ohne die Fesseln eines Versailler Vertrages bilden.“ Bald gehörte er zur Brigade des Kapitänleutnants zur See Ehrhardt, zog in die Span-dauer Zitadelle und übte das Soldatenhandwerk im Berliner Grune-wald. Er war fortan auf die Parole eingeschworen: „Pardon wird nicht gegeben!“
Dann kam der bittere Tag, an dem er seine Uniform abgeben musste, die Freikorps wurden aufgelöst. 1925 starb sein Vater und bei der Beerdigung auf dem Militärinvalidenfriedhof stand Manfred von Brauchitsch in Uniform, den Stahlhelm auf dem Kopf, neben Walter von Brauchitsch, später Generalfeldmarschall unter Hitler und Oberbefehlshaber des Heeres, das Europa überfiel.
Aber eines Tage mochte Manfred sie nicht mehr, die Welt der Schulterstücke, des dumpfen Denkens und den Händen an der Hosennaht. Als er in der Garage seines Cousins im Schloß Nischwitz bei Wurzen zwei Autos entdeckte, mit denen man Ren-nen fahren konnte, meldete er zum Gaisbergrennen raste fortan von Sieg zu Sieg, bald in den Mercedes-Silberpfeilen. Es dauerte nicht lange, bis man den forschen jungen Mann nicht am Volant sondern als Parlamentär brauchte: Er sollte bei dem zunehmend Anhang gewinnenden Hitler die Möglichkeiten für die Zukunft der deutschen Autoindustrie ausloten. Man traf sich in der Parterre-wohnung von Hitlers Schwester in der Münchner Prinz-Regenten-Straße 16. Hitler versprach ihm dem Rennfahrer, dafür zu sorgen, daß die deutsche Automobilindustrie in die Lage versetzt würde, in-ternational wieder konkurrenzfähig zu werden.
Als der Krieg begann, waren Rennfahrer nicht mehr gefragt. Brauchitsch sah sich nach einem Job in der Schwerindustrie um,
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viele wollten ihn haben, aber Hitler gab die Kommandos: Er wurde Fahrlehrer für Panzer, dann holte ihn Udet ins Luftfahrtministerium für „Sonderaufgaben“. Der Krieg hatte bald keine Sonderaufgaben mehr. Sein erstes Rennen nach dem Krieg war ein Seifenkisten-rennen, das er gegen Caracciola gewann. Er hoffte auf ein Leben ohne Nazis in Argentinien und geriet vom Regen in die Traufe. Wieder zurück am Starnberger See, klingelte eines Morgens je-mand und bat ihn um seine Unterschrift unter den Stockholmer Ap-pell. Er unterschrieb und seine Nachbarn ließen es ihn spüren. Er reiste zu Skimeisterschaften in die DDR, fand es merkwürdig, dass er sich anstellen musste, um einen „Quartierschein“ zu holen, wur-de ins FDGB-Ferienheim „Stachanow“ eingewiesen, und erzählte allen, er wohne im „Strouganoff“.
Dann fand das „Gesamtdeutsche Gespräch“ mit Walter Ulbricht statt. Nicht alles, was dort geredet wurde, gefiel ihm, aber die Paro-le „Deutsche an einen Tisch“ hielt er für richtig und auch, dass man ein Komitee gründen solle, damit auch Westdeutsche an den Welt-festpielen in Berlin teilnehmen würden. Am 8. Mai 1953 erschien die Münchner „Abendzeitung“ mit der Schlagzeile: „Rennfahrer von Brauchitsch als Hochverräter verhaftet“. Man sperrte ihn im Zucht-haus Stadelheim mit Kriegsverbrechern zusammen, ließ ihn wieder frei und wollte ihn gerade wieder hinter Gitter bringen, als er, von Freunden gewarnt, bei Nacht und Nebel in die DDR verschwand.
Dort blieb er bis zu seinem Ende. Er führte die Branche der Sponsoren in der DDR ein, in dem er Woche für Woche als Präsi-dent der Gesellschaft zur Förderung des olympischen Gedankens in der DDR durch die Lande zog und Geld für die Finanzierung der DDR-Olympiamannschaft sammelte. Mindestens alle vier Jahre überreichte er siebenstellige Schecks und es wäre an der Zeit auf-zurechnen, wieviel Millionen er im vorletzten Abschnitt seines Le-bens „zusammenfuhr“. Aber die so effektive Gesellschaft wurde na-türlich 1990 mit Schimpf und Schande aufgelöst. Manfred von Brauchitsch nahm es gelassen, schrieb eine würdevolle Rücktritts-erklärung und kehrte ins Dorf Gräfenwarth zurück, wo er einen gu-ten Namen hatte, seitdem er als Mittsiebziger eines Nachts nach Berlin gerast war, um ein Medikament für einen Todkranken zu ho-len. Er kam rechtzeitig zurück. Es war sein letztes großes Rennen, das er gefahren und gewonnen hatte.
Knut Holm
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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 17 / 2003
INHALT
DOKUMENTE/KOMMENTARE/DISKUSSION
4 Gymnastik für die Jugend (Auszug)
Johann Friedrich Christoph GutsMuths
7 Der DSV 1910 – ein bedeutender Dresdner Sportverein
Rainer Funk und Steffen Grimm
16 Gretel Bergmann und die Wahrheit
Horst Forchel
23 Inspirierte ein Landarzt Coubertin?
Klaus Huhn
28 Nachwort 1972 zu 1936
Gerhard Zwerenz
33 Gedanken zu einem vergessenen Buch
Joachim Fiebelkorn
38 Salchow lebt in seinem Sprung
Ake Jönsson
43 Ein „sportlicher“ Konsul in Bilbao
Klaus Huhn
46 Die Wahrheit über Kienbaum
Gert Barthelmes
51 Jan Ullrich und sein Comeback
Gustav-Adolf Schur
54 Eine Lektion „Aufarbeitung“
Hans-Joachim Benthin
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59 Die Misere des Amateurboxsports
Karl-Heinz Wehr
63 Erfolgreiche „Betreuung“ 1904
64 Das Doping-Opfer-Hilfegesetz (Merkbl. und Reaktionen)
74 Zur Sportsoziologie bis zum Beginn der 70er Jahre
Klaus Rohrberg
85 ZITATE
104 REZENSIONEN
Erhard Richter (Hrsg.): Erlebte Sportgeschichte
Klaus Huhn
105 Günter Witt: Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist
Günther Wonneberger
106 Der Langstreckler und die Diktatur des Proletariats
Horst Forchel
107 Gerd Falkner: DDR-Kinder- und Jugendsportschulen
Wolfhard Frost
110 Klaus Ullrich Huhn: Spurt durchs Leben
Margot Budzisch
112 Steuerung und Regelung des Betriebs der Skelettmuskeln
Klaus Gottschalk
113 Gertrud Pfister: Frauen und Sport in der DDR
Annemarie Weigt
116 Thorald Meisel Chronik des Skisports Klingenthal
Margot Budzisch
GEDENKEN
119 Gerhard Michael
Klaus Huhn
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DIE AUTOREN
GERT BARTHELMES, geboren 1928, Direktor der Sportschule des Deutschen Turn- und Sportbundes in Kienbaum 1977 bis 1990.
HANS-JOACHIM BENTHIN, geboren 1926, Sportlehrer, Mitglied des Präsidiums des Bundes Deutscher Segler (BDS) 1969 bis 1990, stell-vertretender Generalsekretär des BDS 1979 bis 1990.
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theorie der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
HORST FORCHEL, Dr. paed., geboren 1931, Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1978 bis 1990.
WOLFHARD FROST, Dr. phil. habil., geboren 1931, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1985 bis 1991.
RAINER FUNK, geboren 1950, Vorsitzender Dresdner Sportverein (DSV) 1910 e.V.
STEFFEN GRIMM, Journalist.
KLAUS GOTTSCHALK, Dr. med. habil., geboren 1937, Prof. für Sportmedizin an der DHfK Leipzig 1981bis 1986 und an der Mar-tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1987 bis 1992.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
AKE JÖNSSON, schwedischer Journalist.
KLAUS ROHRBERG, Dr. sc. paed., geboren 1932, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der PH Zwickau und der Universität Chemnitz/Zwickau 1985 bis 1994.
GUSTAV-ADOLF SCHUR, geboren 1931, Diplomsportlehrer, Mit-glied des Deutschen Bundestages 1998 bis 2002.
KARL-HEINZ WEHR, geboren 1930, Generalsekretär der Interna-tionalen Amateur-Box-Assoziation (AIBA) 1986 bis 1998.
ANNEMARIE WEIGT, geboren 1930, Diplom-Pädagogin, Studien-rätin.
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972.
GERHARD ZWERENZ, geboren 1925, Schriftsteller.
DOKUMENTE/KOMMENTARE/DISKUSSION
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DOKUMENTATION/DISKUSSION
Gymnastik für die Jugend
Von GUTSMUTHS
Im Hinblick auf die aktuellen Diskussionen über die mangelhafte Förderung des Jugendsports in der BRD, erinnern wir an das 1793 erschienene Buch von Johann Christoph Friedrich GutsMuths (9.8.1759 – 21.5.1839) und publizieren es auszugsweise.
„Sr. Herzoglichen Durchlaucht ERNST Regierendem Herzoge zu Sachsen Gotha-Altenburg etc. dem Freunde der Jugend und dem Beförderer aller vernünftigen Erziehung gewidmet. Durch-lauchtigster Herzog!..
Unter EwR. DURCHLAUCHT sanfter Regierung und thätiger Un-terstützung gedieh die Anstalt, in der ich seit acht Jahren lebe; ge-dieh die Kunst, welche die Wangen unserer Jugend mit Gesundheit färbt. Durch die gnädigsten Äußerungen des Beifalls, womit Ewr. Durchlaucht oft die hiesigen jugendlichen Übungen belebten, wur-de ich bei meinem Unternehmen angefeuert. Mit dem innigsten Ge-fühle des Dankes übergebe ich Ewr. Durchlaucht meine Arbeit und bin mit tiefster Ehrfurcht und landeskindlicher Ergebenheit
Ewr. Durchlaucht
Unterthänigster,
der Verfasser
VORREDE.
Die Hauptabsicht der Erziehung ist schon seit Jahrhunderten, dass eine gesunde Seele im starken, gesunden Körper sei. Wie kommts denn aber, dass wir die Ausbildung des letzteren gemeiniglich vergessen, ungeachtet wir mit unwidersprechlicher Gewissheit wissen, dass den Schwachen, Kränklichen und Siechen, dass den Weichling und Verzärtelten nichts, gar nichts, weder Geld noch Ordensband, weder Gelehrsamkeit noch Tugend, vor den bejammernswürdigen Folgen schütze, die aus seinem Zustande für ihn entstehen? - Dein Sohn erbe von dir nichts, bilde sogar seinen Geist nur spärlich, aber verschaffe ihm einen gesunden, starken, behenden Körper: er wird dich einst segnen, wenn er, sei es auch am Pfluge oder durch den schweren Karst, am Amboße oder durch den Hobel ermüdet, sein einfaches Mahl genießt; bilde seinen
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Geist bis zur höchsten Staffel, aber vernachlässige seine körperliche Gesundheit, Kraft und Behendigkeit: und er, ein verzärteltes, leidendes, elendes, unbehilfliches Geschöpf wird sich einst, - und wenn du ihm Friedrichs Schatz hinterließest beim Glanze seiner Kenntnisse, beim Schimmer des Ordensbandes und im Weihrauche des Thrones selbst, deiner mit schmerzlichem Gefühle erinnern und deiner Erziehung fluchen. Gelehrsamkeit und die feinste Verfeinerung verhält sich gegen Gesundheit und Körpervollkommenheit wie Luxus gegen - Bedürfnis.
Ist denn folglich unsere Erziehung wohl nicht ein verkehrtes Ding, wenn sie auf Luxus losarbeitet und darüber des wahren, großen Bedürfnisses vergisst? - Dieser Gedanke - 0, möchte er doch endlich einmal nicht bloß ganz gefasst und beherziget, sondern auch überall in der Erziehung praktisch gemacht werden! - liegt meiner Arbeit zugrunde. Ihr Gang ist einfach und aus der am Ende gegebenen Übersicht leicht zu erkennen.
Es ist mir wohl bekannt, dass eine echte Theorie der Gymnastik auf physiologische Gründe gebaut und so die Praxis jeder einzel-nen Übung derselben nach den individuellen Körperbeschaffenhei-ten abgewogen werden sollte. Diese Vollkommenheit suche man in meiner Arbeit nicht; denn sie ist nur auf getreue Erfahrung einer achtjährigen Praxis gebaut, die mich überzeugte, dass Gymnastik zur Erziehung nothwendig, und dass sie so, wie ich sie hier gebe, in ihren einzelnen Übungen für Körper und Geist der Jugend... äu-ßerst nützlich sei...
Gesetzt, der gelehrteste Arzt in Europa wäre zugleich Erzieher, übte seine Zöglinge nach den besten medicinischen Einsichten und schriebe eine vollkommen physiologische Gymnastik, wer sollte sie denn gebrauchen? Ist es denn nicht höchst einleuch-tend, dass sie nur von solchen Erziehern auf die Jugend im all-gemeinen und ganz besonders auf jedes Individuum derselben angewendet werden könnte, welche jene medicinischen Ein-sichten ganz besäßen? Wäre sie denn brauchbar, solange un-sere Erzieher statt der gründlichsten Medicin Theologie studie-ren? - Was will den folglich die Forderung einer auf Physiologie und Anatomie gebauten Gymnastik sagen? Ist sie denn nach Ort und Zeit berechnet?
Ich kann nicht entscheiden, wie weit sich die physiologischen Kenntnisse der alten Griechen erstreckten; aber soviel ist sehr be-
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kannt, dass sie überhaupt erst später medicinische Kenntnisse hinein trugen, nachdem sie schon durch eine lange Praxis von dem Vortheile und Nutzen gymnastischer Übungen für die Ju-gend und die ganze Nation überzeugt worden waren...
Mit warmen und von dem Gegenstande innig durchdrungenem Herzen schrieb ich diesen Versuch, mit willigem nutze ich in der Folge jede Bemerkung, die mir freundschaftlich darüber er-theilt wird. - Schnepfenthal bei Gotha, Sept. 25. 1793.
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Der DSV 1910 - ein bedeutender
Dresdner Sportverein
Von RAINER FUNK und STEFFEN GRIMM
Das zu seiner Zeit beste deutschsprachige Fachlexikon (Beckmanns Sportlexikon, Wien - Leipzig, 1933) bezeichnete den „Dresdener Sportverein (DSV) 1910“ als einen „der be-deutendsten Arbeiterfußballvereine Deutschlands“ der „Kreis-, Verbands- und Bundesmeisterschaft“ gewann und „demnach der erfolgreichste deutsche Fußballklub“ sei. Diese Aussage, die vor allem auf die Fußballabteilung des Vereins zielt, findet sich - mit Ausnahme von „Lexikon Fußball“ (Leipzig 1987) - in der DDR-Fachliteratur sachgerecht wieder, in neuerer Litera-tur zur Geschichte des Dresdner Fußballsports wird sie eben-falls sachlich aufgegriffen. In aktueller allgemeiner Literatur zur Fußballgeschichte taucht der Verein nur in Ergebnislisten auf, wenn überhaupt. Im „Stadtlexikon Dresden“ (1994) wird der Verein erwähnt, in einer Nummer der „Dresdner Hefte“, die ausschließlich der örtlichen Sportentwicklung gewidmet ist, fand der Verein keinen Platz. Seine Entwicklung, Bedeu-tung und Wirkung, die weit über den Fußballsport hinaus ging, ist bisher nur in einer Broschüre enthalten, die im Zu-sammenhang mit der Erinnerung an den vom Verein 1925 begonnenen deutsch-sowjetischen Sportverkehr 1985 er-schien. Der folgende Text gibt Teile dieser Broschüre gekürzt und aktualisiert wieder. Den Autoren der Broschüre, die dazu ihre Zustimmung gaben, sei ausdrücklich gedankt!
1910 — das Gründungsjahr
Um die Jahrhundertwende entstanden in ganz Deutschland viele Arbeitersportvereine. Bereits 1894 hatten sich Arbeiter im „Ring- und Kraftsportverein Herkula“ zusammengeschlossen. Im Dresdner Osten gab es damals genauso begeisterte Sportler wie Jahrzehnte später, obwohl die Bedingungen für den Sportbetrieb nicht ver-gleichbar waren. Es wurde auf Höfen, Straßen oder wenig geeigne-ten Freiflächen Sport getrieben. Ein aus Lumpen zusammenge-bundener Ball musste die braune Lederkugel ersetzen. Die Begeis-terung kannte aber bei den jungen Arbeitersportlern keine Gren-
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zen, und es fanden zünftige Vergleichskämpfe zwischen einzelnen Straßenmannschaften statt. Sogenannte „wilde“ Vereine aus den damaligen Dresdner Bezirken Striesen, Blasewitz, Tolkewitz und Laubegast traten auf Bau- und Sandplätzen in sportlichen Wett-streit. Bald entstand das Bedürfnis, sich auch organisatorisch zu-sammenzuschließen. Am 1. Juni 1910 waren die Vorbereitungen so weit gediehen, daß der Zusammenschluß von vier „wilden“ Ver-einen zum Dresdner Sportverein 1910 erfolgte.
Vor der Eintragung in das Vereinsregister wurde ein Statut aufge-stellt. Der Charakter des Vereins geht deutlich aus Paragraph 2 hervor: „Der Verein bezweckt die Förderung der Volksgesundheit auf rein volkstümlicher proletarischer Grundlage zur Kräftigung des arbeitenden Volkes durch a) Pflege aller Leibesübungen, b) He-bung des geistigen Wissens durch Vorträge und Versammlungen.“
Die Sportfreunde der Vereinsleitung um den Mitbegründer und langjährigen Vorsitzenden Otto Nagel erkannten, daß es nicht al-lein genügt Sport zu treiben, sondern auch der Bildung der Mitglie-der große Beachtung geschenkt werden muß. Die Mitglieder des DSV 1910 traten nicht nur auf dem Sportplatz, sondern auch bei Demonstrationen und Feiern der Arbeiterbewegung aktiv in Er-scheinung. Der DSV fehlte bei keinem Maifest.
Der DSV wollte durch den Fußball bekannt werden und damit für den Arbeitersport werben. Deshalb wurde als erstes eine Fuß-ballabteilung gebildet. Bereits 1911 konnte der DSV den Bezirks-meistertitel von Dresden erringen, wodurch die Mannschaft auch über Sachsens Grenzen hinaus bekannt wurde. Für die Heimspiele stand in den ersten zwei Jahren ein Bauplatz in Tolkewitz zur Ver-fügung. Ab 1912 war ein Sandplatz in Laubegast, die „Sandwüste von Laubegast“, Heimstatt der Arbeitersportler im Dresdner Osten.
Der friedliche Wettstreit mit anderen Vereinen und der weitere Aufbau des DSV wurden jäh durch den ersten Weltkrieg unterbro-chen.
Der erste Weltkrieg und die Jahre danach
Die Arbeitersportler des DSV mußten zu der bitteren Erkenntnis gelangen, daß die Arbeiterklasse weder im nationalen noch im in-ternationalen Rahmen die Kraft hatte, dieses Völkermorden zu ver-hindern und den Frieden zu erzwingen. Wenige waren es, die in den schweren Kriegsjahren neben den Sorgen des Alltags auch noch Zeit fanden, die Belange des Sports zu vertreten. Nicht selten
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war die Vereinskasse leer. Trotz alledem wurde weiterhin politische Arbeit geleistet und der Sportbetrieb aufrecht erhalten. In vielen Karten und Briefen aus dem Felde kam zum Ausdruck, daß die in der Heimat verbliebenen Sportler die Farben des Vereins hoch hal-ten sollen, damit nach dem schrecklichen Krieg der DSV wieder neu erblühen könne. 22 Sportler mußten ihr Leben für die Interes-sen der reaktionären Bourgeoisie lassen, die nicht die ihren waren. Mit Begeisterung nahm deshalb 1917 der klassenbewußte Teiİ des deutschen Proletariats die Nachricht vom Sieg der Oktoberrevoluti-on in Russland unter Führung Lenins auf.
Ganze 33 Sportfreunde setzten das angefangene Werk der DSVer fort. Trotz vieler Schwierigkeiten in den Nachkriegsjahren gelang es der 1. Fußballmannschaft, bereits im Jahre 1920 Mitteldeut-scher Meister zu werden. In den Jahren 1921 bis 1924 unterlag der DSV stets im Kampf um den Meistertitel gegen den Arbeitersport-verein Leipzig-Stötteritz.
Der Bau des ,,Stadions Dresden-Ost“
Der Zuspruch der Dresdner Bevölkerung war durch die Erfolge ge-stiegen, und die „Laubegaster Sandwüste“ war - wollte man vor-wärts kommen - nicht mehr diskutabel. Die Frage nach einem neu-en Sportplatz wurde immer dringender. Der Vorstand beschloß, vorerst einen B-Platz zu bauen. Dieser B-Platz wurde durch die Mitglieder und Freunde des Vereins in ca. 6 000 Arbeitsstunden im Jahre 1923 gebaut. 1924 erfolgte dann der erste Spatenstich für das „Stadion Dresden-Ost“. Jeder Sportfreund des Vereins ver-pflichtete sich zu einer wöchentlichen Arbeitsleistung von 5 Stun-den. Der Aufruf an die Dresdner Arbeiter zur Mithilfe fand ein be-geistertes Echo. Unter den Hunderten freiwilligen Helfern befanden sich häufig kommunistische und sozialdemokratische Landtagsab-geordnete und Stadtverordnete, so Willibald Krauß, Rudolf Renner und Otto Gäbel. Der Rote Frontkämpferbund kam an manchen Abenden zügeweise zur Arbeit. Die Rote Sport-Internationale spendete 5 000 Reichsmark. Insgesamt wurden 72 000 freiwillige unbezahlte Arbeitsstunden geleistet. Im Sommer 1925 war es dann endlich geschafft. Die Dresdner Arbeitersportler hatten sich eine eigene Heimstatt geschaffen. Vom 12. bis 19. Juli 1925 wurde das Stadion feierlich eingeweiht.
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Die Meisterjahre - ein Aufschwung im DSV
Der Trainingsfleiß der Fußballer des DSV wurde 1924 im Spiel um den Kreismeistertitel Sachsens mit einem 6:0-Sieg über Leipzig-Stötteritz belohnt. Der Weg zum Bundesmeister im Arbeiter-Turn- und Sportbund war geebnet. Dem DSV gelang es, auch im ent-scheidenden Spiel gegen „Stern Breslau“ siegreich vom Platz zu gehen. Der Bann war gebrochen, und es gelang, in den folgenden drei Jahren diesen Titel zu verteidigen. Damit war das Ziel erreicht, das sich die Mitglieder gestellt hatten.
Nach der erstmaligen Erringung des Titels eines ATSB-Bundesmeisters wuchs der Zuspruch zum Verein immer mehr. Das sportliche Interesse der Arbeiter des Dresdner Ostens führte zur Bildung von Raffballmannschaften, Schießabteilungen, Leichtathle-tengruppen, Billard-, Schach- und Gesangsabteilungen. Die Mit-gliederzahl erhöhte sich auf 250.
Internationale Vergleiche als Beitrag zur Völkerverständigung
Von 1924 bis 1928 spielten die Dresdner u. a. gegen Mannschaf-ten aus Frankreich, England, Finnland, Belgien, Österreich, der Schweiz und der Tschechoslowakei. Im Vordergrund dieser Spiele stand der Gedanke, durch den Sport freundschaftliche Kontakte zu Arbeitern in anderen Ländern herzustellen.
1925 begann eine besondere Sportfreundschaft. Rund 18.000 be-geisterte Fußballanhänger strömten am 25. August 1925 in das Stadion an der Hepkestraße, um das Spiel ihres DSV 1910 gegen eine Auswahlmannschaft aus Charkow miterleben zu können. Sie trat unter dem Namen „Kommando Charkow“ an - was nicht ande-res als „Mannschaft Charkow“ bedeutete. Es glich einer Sensation: Erstmals waren in Dresden Sportler aus der Sowjetunion zu Gast. Wie war diese Begegnung möglich geworden? In den 20er Jahren reifte mit den wachsenden Erfolgen des DSV 1910 bei dessen Spielern der Wunsch, mit einer Mannschaft aus der Sowjetunion zusammenzutreffen. Deshalb wandten sich die Dresdner an die Rote Sport-Internationale, die einen Spielabschluß mit Charkow ermöglichte. Die sozialdemokratisch gebundene Mehrheit im Vor-stand des Arbeiter-Turn- und Sportbundes (ATSB) verbot jedoch die Begegnung mit der Begründung, daß laut Luzerner Sport-Internationale, der der DSV 1910 als Verein des ATSB unterstand, Vergleiche mit Mannschaften anderer Sportorganisationen nicht gestattet seien. Bei Zuwiderhandlungen wurde dem DSV mit dem
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Ausschluß aus dem ATSB gedroht, wodurch eine weitere Teilnah-me an den Meisterschaften nicht möglich gewesen wäre. Trotz die-ser Drohungen ergab eine geheime Abstimmung beim DSV 1910 mit überwältigender Mehrheit: Das Spiel findet statt! Lange erhiel-ten die Charkower Fußballer keine Einreisegenehmigung durch die deutschen Behörden. Und auch als die sowjetische Mannschaft das Visum endlich in den Händen hatte, versuchten lettische und deutsche Grenzbehörden, die Einreise noch zu verhindern. Mit zwei Tagen Verspätung traf die Mannschaft deshalb erst am 23. August 1925 in Dresden ein.
Am 25. August brausten Beifallsstürme auf, als die sowjetischen Arbeitersportler den Rasen im Stadion an der Hepkestraße betra-ten und neben dem DSV Aufstellung nahmen. Von den Rängen er-klang die ,,Internationale“. Begeisterung herrschte im weiten Rund als Nikolai Krotow, der Mannschaftskapitän der Charkower, an die Dresdner Sportler eine rote Fahne übergab, auf der in goldgestick-ten Lettern stand „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“. Mit großer Mühe war es gelungen, dieses Banner über die Grenzen zu schleusen. Vor der Zollkontrolle hatte es sich der Delegationsleiter Iwan Scholdak um den Leib gewickelt und darüber ein weites Hemd gestreift, das ihm der Mannschaftskapitän geliehen hatte. Der DSV 1910 gewann mit 3:1. Von acht Vergleichen konnten die Charkower während ihres dreiwöchigen Deutschlandaufenthaltes jedoch noch sieben erfolgreich gestalten, darunter auch das Rück-spiel gegen den DSV. Es endete 1:0. Das Ignorieren deş Spielver-botes des ATSB sollte für die Dresdner noch Folgen haben. Der DSV wurde aus dem ATSB ausgeschlossen. Doch aus Solidarität mit dem DSV vereinbarten mehrere Vereine des ATSB mit ihren unteren Mannschaften Freundschaftsspiele. Die Folge war der Ausschluß dieser Vereine aus dem ATSB, da der Spielverkehr mit einer ausgeschlossenen Gemeinschaft die gleiche Strafe nach sich zog. Lawinenartig lichteten sich die Reihen des ATSB, und so sah sich dieser gezwungen, das Urteil gegen den DSV rückgängig zu machen und Spiele mit Mannschaften anderer Verbände zu gestat-ten. Dem Dresdner Beispiel folgend, schlossen nun weitere deut-sche Arbeitersportvereine Spielverträge mit Mannschaften der Sowjetunion ab. Es folgten mehrere Spiele in Hamburg, Leipzig und Dresden. Schließlich wurde ein deutsch-russisches Sportab-kommen unterzeichnet. Eine Sachsenauswahl des ATSB reiste auf
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Einladung in die Sowjetunion und trug dort mehrere Spiele aus. 1927 weilte eine sowjetische Auswahl in Deutschland und spielte erfolgreich gegen eine Auswahl des ATSB und gegen mehrere Spitzenvereine des Bundes. Diese Spiele wurden von der Presse als „Russenspiele“ bezeichnet und von nationalistischen und anti-kommunistischen Kreisen scharf verurteilt. Die Funktionäre des ATSB, die diesen Spielen zugestimmt hatten, wurden als „Russen-knechte“ beschimpft.
Der Verein wird gespalten
Die Auseinandersetzung um die „Russenspiele“ innerhalb des ATSB war eine Widerspiegelung der Zersplitterung der deutschen Arbeiterklasse, die auch im Arbeitersport zur Spaltung führte. Die wegen der Nähe zur Kommunistischen Partei oder ihrer Politik von dessen Vorstand aus dem ATSB ausgeschlossenen Vereine grün-deten die „Interessengemeinschaft zur Wiederherstellung der Ein-heit im Arbeitersport“ und schließlich unter dem Einfluß führender Kräfte der KPD die „Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit“ (KG), die den Status einer selbständigen Sportorganisation annahm und für ihre ca. 250.000 Mitglieder einen deutschlandweiten Sportbe-trieb organisierte. Sie wurde als „Rot Sport“ bezeichnet und ver-stand sich als „Opposition“ gegen die „Bundestreuen“ im ATSB. Diese Widersprüche schlugen sich auch im DSV 1910 nieder. Es kam zu einer Teilung des DSV in zwei Vereine. Die „bundestreuen“ Fußballer spielten fortan auf dem B-Platz, während die Mannschaft der ,,Roten Sporteinheit“ im Stadion ihre Spiele austrug und 1931 und 1932 die Deutsche Meisterschaft der KG gegen „Sparta Berlin“ gewann. Der langjährige Streit zwischen beiden Vereinen wurde 1933 mit der Machtergreifung der Faschisten jäh beendet... Mit Hit-lers Machtergreifung begann am 30. Januar 1933 die dunkelste Zeit in der Geschichte des deutschen Volkes. Der Reichspräsident erließ am 28. Februar 1933 ein Gesetz zum ,,Schutze von Volk und Staat“, das sämtliche Verbände und Organisationen außer der NSDAP verbot. Die Mitglieder der ,,Roten Sporteinheit“ setzten je-doch die politische Arbeit auf illegalem Weg fort. Es war kein Zufall, daß gerade diese Sportler den Kampf weiterführten. Die langjähri-gen Verbindungen zu Arbeitersportlern aus vielen Ländern, insbe-sondere der Sowjetunion, hatten ihnen auch politische Klarheit über den Faschismus vermittelt. Mangelnde Erfahrungen im illega-
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len Kampf führten zur Festnahme von 22 Vereinsmitgliedern am 16. Januar 1934. Davon wurden 20 mit einer Gesamtstrafe von 19 Jahren und 4 Monaten vom Naziregime eingekerkert. Doch trotz Repressalien und intensiver Nachforschungen blieb das Banner aus Charkow für die Nazis unauffindbar. Zunächst befand es sich beim Vereinsvorsitzenden, dem Kommunisten Otto Hempel, den die Faschisten später umbrachten. Dann verbarg es der stellvertre-tende Vereinsvorsitzende Georg Dinner. Ihn steckte man in ein Konzentrationslager. Die Fahne gelangte zu Horst Stier, der sie gut versteckte. Und nach der Befreiung nahm das Banner seinen Weg als Symbol deutsch-sowjetischer Freundschaft in das Museum für Geschichte in Berlin, Unter den Linden.
Die Befreiung vom Hitlerfaschismus —
ein Neubeginn für den Sport im Dresdner Osten
Im Mai 1945, am Ende des durch den deutschen Faschismus vom Zaune gebrochenen zweiten Weltkrieges, eröffnete sich die Chan-ce, den Weg zu Frieden, Demokratie und Sozialismus zu beschrei-ten. Wie fast überall bot sich auch im Dresdner Osten ein Bild der Zerstörung und des Elends. Die Not war groß, stark aber auch der Wille zum Neubeginn. Im Sport fehlte es buchstäblich an allem. Überall herrschte Mangel an Übungsstätten, Geräten, Bekleidung und ausreichender Nahrung. Und nicht zuletzt herrschte Chaos in vielen Köpfen. Die Hauptaufgabe bestand darin, das Erbe des Fa-schismus zu überwinden, Imperialismus und Militarismus mit der Wurzel auszurotten, die antifaschistisch-demokratische Umwäl-zung zum Sieg zu führen und die Menschen umzuerziehen; auch viele Sportler.
Entsprechend den Grundsätzen des Potsdamer Abkommens ord-nete 1945 der damalige Alliierte Kontrollrat in seiner Direktive Nr. 23 unter anderem an: „Allen vor der Kapitulation in Deutschland bestehenden sportlichen, militärischen oder paramilitärischen ath-letischen Organisationen wird jede Betätigung untersagt, und sie sind bis zum 1. Januar 1946 spätestens aufzulösen.“ Gestattet wurde „das Bestehen nichtmilitärischer Sportorganisationen örtli-chen Charakters“, die aber „das Niveau eines Kreises nicht über-steigen“ durften.
Aktivisten der ersten Stunde wie Arthur und Otto Nagel, sowie weitere ehemalige Arbeitersportler des DSV 1910 stellten schon
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Ende Mai 1945 beim sowjetischen Kommandanten des V. Verwaltungsbezirkes Dresden einen Antrag auf Genehmigung des Sportbetriebes im Dresdner Osten. Am 22. Juni 1945 fanden sich ca. 100 Sportfreunde unter Leitung deş ehemaligen DSV Funktio-närs Arthur Nagel im Sportheim ,,Stadion Ost“ an der Hepkestraße zur Gründung der SG Striesen zusammen. Das nachträglich ange-fertigte Protokoll ist vom Staatlichen Notariat Dresden mit einem Siegel versehen und bestätigt worden.
Die SG Striesen entwickelte den Sportbetrieb zunächst auf kom-munaler Ebene. Es entstanden die Sektion Fußball mit 4 Mann-schaften, die Sektion Handball mit 2 Mannschaften sowie eine Sek-tion Boxen. Bereits Anfang Juli 1945 fand das erste Fußballspiel im „Stadion Ost“ statt. Das Endspiel im Fußball-„Aufbauturnier“ ent-schied am 6. Juli 1946 im Ostragehege die SG Striesen mit 4:1 Toren gegen die SG Löbtau zu ihren Gunsten. Damit wurden die Striesener Stadtmeister und begannen, die Traditionen des DSV 1910 würdig fortzusetzen... Nach Gründung des Deutschen Sport-ausschusses... im Oktober 1948 wurde der kommunale Sportbe-trieb aufgelöst und der Betriebssport gefördert. Viele Sportgemein-schaften schlossen sich Trägerbetrieben an, Großbetrieben, die mittlerweile Volkseigentum waren. So entstand aus der SG Strie-sen die Zentralsportgemeinschaft (ZSG) Nagema. Zwar konnte sich die 1. Mannschaft der ZSG nicht für die neugeschaffene Ost-zonenliga im Fußball qualifizieren, doch spielte sie in der zweit-höchsten Spielklasse, der Landesliga, eine führende Rolle.
Aufschwung des Sportbetriebs
1949, im Gründungsjahr der DDR, übernahmen die Dresdner Ziga-rettenfabriken als Trägerbetrieb die Sportgemeinschaft. Unter dem neuen Namen BSG VVB Tabak vollzog die Sportgemeinschaft ei-nen großen Aufschwung. Sportfreund Rudi Rätzer, damaliger Hauptdirektor der Vereinigung Volkseigener Betriebe der Tabakin-dustrie (VVB Tabak), hatte wesentlichen Anteil an der Verbesse-rung der materiellen Bedingungen für den Sportbetrieb. Ein Auto-bus für 18 Personen, ein Boxring und Tischtennisplatten konnten aus Mitteln des Betriebes angeschafft werden. Die Sportfreunde der BSG VVB Tabak bedankten sich mit ausgezeichneten sportlichen Erfolgen. So konnten im Tischtennis der Sportfreund Heinz Reschke und die Jugendmannschaft im Landtennis den
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Sachsenmeistertitel erkämpfen. Auch die Kegler machten von sich reden. Das sportliche Leben in Striesen pulsierte wieder. Und die Erinnerung an die „Russenspiele“ lebte weiter und wurde später als Tradition sportfreundschaftlicher Verbindung nach Charkow ge-pflegt.
Am 27.6.1990 ging aus der BSG Empor Tabak der Dresdner Sportverein 1910 als eingetragener Verein hervor, wobei sich die Fußballsparte als Sportgemeinschaft Striesen verselbständigte. Der DSV 1910 hat im Jahre 2003 über 500 Mitglieder, wobei Gym-nastik und Kegeln die mitgliederstärksten Abteilungen sind.
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Gretel Bergmann und die Wahrheit
Von HORST FORCHEL
Ursprünglich wollte ich diesen Beitrag für die Rubrik „Rezensionen” schreiben, aber je länger ich in dem Buch „Ich war die grosse jüdische Hoffnung” las, desto ergriffener war ich und meine Überzeugung wuchs, dass man es nicht bei einer „Rezension” belassen sollte. Zugegeben, wir wußten auch bislang schon einiges über Gretel Bergmann, jene jüdische Hochspringerin, die 1936 in die deutsche Olympiamannschaft berufen worden war, um der Welt vorzugaukeln, Juden würden nicht benachteiligt, und dann aber am Tag nachdem die USA-Mannschaft an Bord der „Man-attan” in New York abgelegt hatte, aus der Mannschaft gefeuert wurde. Ihr spätes Buch belehrt uns: Wir wußten zu vieles noch nicht. Deshalb gilt der erste Dank Anna-Ruth Löwenbrück, die die inzwischen 89Jährige überredete, ihre Memoiren in Deutschland zu veröffentlichen. Dank gilt auch dem Haus der Geschichte Baden-Württembergs in Stuttgart, das dieses Buch in der Reihe „Südwestdeutsche Persönlichkeiten” herausbrachte. Die Reaktion in der deutschen Buchlandschaft hielt sich in Grenzen, es gab sogar nachdenklich stimmende Kommentare.
In ihrem Vorwort vermerkt Anna-Ruth Löwenbrück: „Der deutsche Sport entschied sich erst in den 1980er Jahren auf Initiative von Burkhard Volkholz zu einer späten Ehrung der von den Nazis vertriebenen Spitzensportlerin. Das Deutsche Olympische Komitee brauchte noch länger, um sich bei Margaret Lambert für das Unrecht zu entschuldigen, das ihr im Namen des deutschen Sports angetan worden war...”Burkhard Volkholz, Bürger der Gretel-Bergmann-Heimatstadt Laupheim, dürfte also der eigentlich Initiator des Bergmann-“Comebacks” sein.
Das deutsche NOK hatte zwar bei seiner Anerkennung durch das IOC 1950 eine Erklärung abgegeben, in der es hieß: „Die deutsche Sportjugend mißbilligt zutiefst die von den Verbrechern des Nazi-Regimes begangenen Grausamkeiten...”, aber konkrete Schritte folgten diesem Papier nie. Weder gegenüber den Angehörigen des in Brandenburg hingerichteten Olympiavierten von 1936, Werner Seelenbinder, noch gegenüber Gretel Bergmann, die in die USA hatte entkommen können.
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In ihren Memoiren erinnert sie sich an den Beginn ihrer sportlichen Laufbahn: „Ich trat im 100- und 200-Meter-Lauf, beim Speer- und Diskuswerfen, beim Kugelstoßen mit der elf Pfund schweren Kugel und im Weitsprung an. Einmal machte ich sogar beim Geländelauf mit. Ich weiß nicht mehr, wie viele Kilometer wir liefen, vielleicht drei oder fünf. Da ich vorher nie einen Langstreckenlauf absolviert hatte, ging ich davon aus, noch vor dem Ziel zusammenzubrechen. Als ich die Ziellinie schließlich dennoch erreichte, war mir schlecht vor Erschöpfung, schwindelig vom Sauerstoffmangel, und meine Lungen waren am Ende ihrer Leistung angelangt. Ich sah in diesem Ereignis eine grausame und ungewöhnliche Strafe und schwor, mich ihr nie mehr auszusetzen... Meine Eltern akzeptierten allmählich, dass ich anders war, als sie es gerne gehabt hätten, und waren schließlich sogar richtig stolz auf meine Leistungen. Mein Vater sammelte Zeitungsartikel, Photos und sonstige Informationen über meine steile sportliche Karriere. Heutige Spitzensportler können ausgezeichnet von der Leichtathletik le-ben... Da ich (dank Adolf Hitler) nicht die Chance bekam, eine national bekannte Spitzensportlerin zu werden, weiß ich nicht, ob Spitzensportler auch damals schon bezahlt wurden. Aber ich weiß, dass ich schnell die Lust verloren hätte, wenn ich so hart für den Erfolg hätte arbeiten müssen, wie es heute üblich ist. Für mich war Sport etwas, das Freude machte, und keine Schinderei. Sport war meine Leidenschaft...”
Vor den Nazis das erste Mal nach England geflohen, startete sie am 30. Juni 1934 bei den britischen Meisterschaften. Sie hatte für das Kugelstoßen und den Hochsprung gemeldet und weil sich das Kugelstoßen verzögerte, ließ sie sich von der Startliste streichen, kam aber dennoch zu spät zum Hochsprung. „Als ich... antrat, lag die Latte bereits bei 1,35 m. Wahrscheinlich hätten die Schiedsrichter nichts dagegen gehabt, die Latte für meinen ersten Sprung niedriger zu legen, aber ich hielt es für psychologisch geschickter, meinen Gegnerinnen mein überragendes Selbstbe-wusstsein vorzuführen. Also bestimmte ich rasch die Distanz für den Anlauf, holte tief Luft und segelte mit weitem Abstand über die Latte. Als dann die anderen an der Reihe waren, nahm ich noch einmal sorgfältig Maß für den Anlauf und markierte fünf Schritte vor dem Absprung einen Punkt für meinen linken Fuß. Die letzten Schritte vor dem Sprung waren entscheidend: wie bei einem
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Flugzeug, dessen Motoren vor dem Abheben auf voller Kraft laufen müssen, sorgten sie dafür, dass die explosive psychische und physische Energie freigesetzt wurde, die nötig war, um den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen... Eine nach der anderen schied aus, bis nur noch Milne und ich übrig waren.... Die Latte liegt jetzt bei 1,50 Metern; das schaffen wir beide beim ersten Versuch. Die Latte wird höher gelegt. Kein Problem. Noch mal höher. Bei 1,55 Metern verpatzt erst Milne den ersten Versuch, dann ich. Auch beim zweiten Versuch schaffen wir es beide nicht. Jetzt der dritte und letzte Versuch. ... Ich gehe auf und ab, versuche, mich zu fassen, schüttele Arme und Beine, um die Muskeln zu lockern. Ich spreche mit mir selbst, sage mir alles vor, was ich zu tun habe. Ich ziehe die langen Trainingshosen aus, starre wie hypnotisiert auf die Latte und sage meinem Körper: Jetzt schaffst du's... aber während ich in der Sägemehlgrube sitze und die Latte ohne das geringste Zittern ruhig da oben liegen sehe, trifft mich das Ungeheuerliche mit voller Wucht. ICH BIN BRITISCHE MEISTERIN, der Traum ist wahr geworden...” Bald darauf holte man Gretel Bergman als jüdische “Quotenathletin” nach Deutschland zurück. Sie tat es ihrer Familie zu Liebe.
„Im Herbst 1934, kurz nachdem ich mit der Schule begonnen hatte, bekam ich einen Brief - mit „Heil Hitler‟ unterschrieben - von den deutschen Sportbehörden. Es war ein Formbrief, wie ihn alle Olympiakandidaten erhielten, mit der Anweisung, mich zu einem viertägigen Olympia-Trainingskurs in Hannover einzufinden. Ich las ihn mit gemischten Gefühlen. Vielleicht kann ja nur ein anderer Sportler den fast zwanghaften Wunsch nachvollziehen, an einer Olympiade teilzunehmen, und mit diesem Brief war ich, wie ich glaubte, diesem Ziel ein wenig näher gekommen. Dazu kam noch der tiefere Beweggrund - zu zeigen, was eine Jüdin leisten konnte... Die Nazis spielten ihr Spiel sehr geschickt. Im Frühjahr und Herbst 1935 und dann wieder im Vorfrühling 1936 wurde ich erneut zum Training eingeladen, diesmal nach Ettlingen im Schwarzwald, wo ich unter den wachsamen Augen des Trainers Brechenmacher trainierte...”
Anfang Juni 1936 wurde Gretel Bergmann aufgefordert, an einem Sportfest in Stuttgart teilzunehmen. Sie startete im Hochsprung: „Als die Beste bei ausgesprochen mittelmäßigen 1,40 Metern ausschied, sprang ich immer noch im Trainingsanzug und hatte
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keinen Sprung verpatzt. Ich sprang wie nie zuvor, wie eine Verrückte, besessen von dem Gedanken, die Zuschauer, die ganze Nazipartei zu demütigen. Wie anders war es bei der britischen Meisterschaft gewesen. Damals war ich bewusst vorge-gangen, nutzte die Zeit zwischen den Sprüngen. Jetzt war ich ungeduldig und zum Sprung bereit, sobald gemessen und die Latte höher gelegt worden war. Schließlich lag die Latte bei 1,60 Metern, dem deutschen Rekord. Bis jetzt hatte ich keinen Sprung verpatzt, und ich war entschlossen, das auch diesmal nicht zu tun. Und wieder zögerte ich nicht. Ich biss die Zähne zusammen, lief an, sprang. Und schon war ich drüber, mit einem Abstand von mehreren Zentimetem. Der Abschaum der Erde - wie Adolf Hitler meinte -, die unwürdige Jüdin, hatte den deutschen Rekord erreicht. Unter normalen Umständen wäre das Stadion in Aufruhr geraten, aber ich hörte nur sehr vereinzelten Beifall. Es überraschte mich auch gar nicht, dass keiner... mir gratulierte. Wie konnte diese minderwertige Jüdin die Unverschämtheit, die Chuzpe, besitzen, sich auf die Ebene der „arischen‟ Superfrauen zu begeben? Ich hatte ja nicht nur den deutschen Rekord erreicht, sondern auch eine Höhe übersprungen, die weltweit nur drei Frauen geschafft hatten... Ich konnte es mir nicht leisten, offen zu zeigen, wie schadenfroh ich war... „Na, ihr widerlichen Scheißkerle, wie findet ihr meine Leistung? Wie findet ihr es, dass diese elende Jüdin den deutschen Rekord erreicht hat, dass diese elende Jüdin eure Besten um zwanzig Zentimeter geschlagen hat, dass diese elende Jüdin eurem Bild von der arischen Überlegenheit einen Riss verliehen hat und es nicht das Geringste gibt, was ihr dagegen tun könnt?‟ Wie ich es bedauerte, dass ich das nicht laut sagen konnte...
Und jetzt blieb nichts mehr zu tun außer zu warten. Jeden Tag saß ich auf den Stufen vor dem Haus und wartete auf den Briefträger... Zwei Wochen später hatte das Warten ein Ende. Es war alles so sachlich fast schon steril. Ein Formbrief, datiert vom 16. Juli 1936, informierte mich, ich sei nicht beständig genug gewesen und sei aufgrund meiner ungenügenden Leistungen nicht in die Olympiamannschaft aufgenommen worden. Für meine Mühe in den vergangenen zwei Jahren stünde mir auf Anfrage eine Stehplatzkarte für die Leichtathletikwettkämpfe zu. HEIL HITLER.
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...Es war geradezu unheimlich, wie präzise der Plan der Nazis funktioniert hatte, den sie zweifellos schon hatten, als sie mich aus England zurückbefahlen. Um absolut sicherzugehen, dass nichts schief gehen würde, wurde der Ablehnungsbescheid erst abgeschickt, als das amerikanische Olympiateam die Vereinigten Staaten per Schiff bereits verlassen hatte - am 15. Juli. Die Annahme der Nazis, dass das US-Team, sobald es unterwegs war, nicht mehr umkehren würde, erwies sich als zutreffend.”
Auch das deutsche NOK nahm vom Erscheinen des Buches Kenntnis und kommentierte es in seinem monatlichen „Report“, monierte aber, dass die Bergmann versäumt habe, einen „kennt-nisreichen Historiker“ zu Rate zu ziehen. Der hätte sie vor mancher „Übertreibung“ bewahren können, „wie z. B. die Behauptung, die Nazis hätten den Brief mit ihrer Nichtnominierung erst deshalb am 16. Juli 1936 abgesandt, nachdem am Tag zuvor die ‟Manhattan‟ mit dem US-Team an Bord in New York abgelegt hatte... Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Amerikaner willens waren, die Spiele noch in letzter Minute zu boykottieren.“ Und weil jenes NOK, dass sich nie dazu aufraffen konnte, sich bei Gretel Bergmann zu ent-schuldigen und sie als Gipfel seiner Goodwill-Gesten zu den Spie-len nach Atlanta einlud, 2003 „keinen Beleg“ für eine denkbare Ab-sage der USA in letzter Minute hat, nennt es die Feststellung der Jüdin Bergmann rügend eine „Übertreibung“. Das darf man doch wohl bedenklich nennen.
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, liest auch abseits aller sportlichen Erlebnisse erschüttert Gretel Bergmanns Lebensbericht: „Ich weiß nicht, ob große Sorgen tatsächlich eine Fehlgeburt auslösen können, aber sechs Wochen nach Brunos Abreise (gemeint ist die Einberufung ihres Mannes A. d. Hrg) verlor ich unser Kind. Körperlich erholte ich mich ziemlich schnell, aber psychisch ging es mir sehr schlecht. Bruno hatte mir zwar das Wissen ersparen wollen, dass er bereits an der Front war, aber aus einem Artikel in der „New York Times‟ erfuhr ich, dass die 103. Division in den Vogesen kämpfte. Deshalb dauerte es lange, bis Bruno meine Briefe erhielt, und so bekam ich im Gegenzug wochenlang Briefe von ihm, die vor Glück und Freude über unser Kind überströmten. Dadurch wurde die Wunde über den Verlust immer wieder aufgerissen.
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Dann bekam ich Gewissensbisse, weil ich so unbedacht und egoistisch gewesen war, Bruno über die Fehlgeburt zu informieren, wo er sich doch eigentlich ausschließlich auf sein eigenes Überleben hätte konzentrieren sollen. Die traurigen Briefe, die ich bekam, als ihn die Neuigkeit schließlich erreicht hatte, verstärkten mein Unbehagen. Es mag selbstsüchtig gewesen sein, aber als wir dann beide gelernt hatten, das Geschehene zu akzeptieren, war ich sehr erleichtert, diese Last nicht allein tragen zu müssen.
Es wurde August, bis die Armee es für richtig hielt, Brunos Division heimzuschicken. Dazu kam eine sehr traurige Nachricht. Bruno hatte sich ein Paar Tage Urlaub genommen und war nach Andernach gefahren, um zu erfahren, was mit seiner Familie geschehen war. Unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich: Man hatte die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt in Viehwagen getrieben und an einen unbekannten Ort deportiert. Seine Eltern waren spurlos verschwunden. Wir haben nie erfahren, in welchem Lager sie umgekommen sind. Aber eigentlich machte das nichts, vielleicht war es sogar besser, nicht die ganze grausame Wahrheit zu kennen.
Ein einziger Jude lebte noch in der Stadt, Brunos Cousin, der mit einer katholischen Frau verheiratet war. Ihm hatte nur das Kriegsende das Leben gerettet, denn Juden, die in gemischten Ehen lebten, sollten aus irgendeinem unerklärlichem Grund zuletzt deportiert werden. So war den Nazis nicht genügend Zeit geblieben, die Stadt zu hundert Prozent „judenrein‟ zu machen... Sanitätsoffiziere sind normalerweise unbewaffnet, aber Bruno trug trotzdem eine Waffe, die er allerdings nicht benutzte. Die Ver-suchung war zweifellos groß, aber er wollte sich nicht auf dieselbe Ebene begeben wie diese feigen Hunde, die ihm jetzt schworen, nie Nazis gewesen zu sein. In Andernach hatte es anscheinend keinen einzigen Nazi gegeben! Brunos schmerzliche Mission war zu Ende, er wollte nichts weiter, als den ganzen verderbten Ort für immer hinter sich lassen...
Wir waren noch immer im Krieg mit Japan, und dieses Schreckgespenst trieb mir immer wieder den Angstschweiß auf die Stirn, aber ich beschloss wie Scarlet O'Hara in „Vom Winde verweht‟, mir darüber erst morgen Gedanken zu machen. Der „V-Day‟ verdient einen Ehrenplatz in den Geschichtsbüchern, aber für mich war der wichtigste Tag des 20. Jahrhunderts der „A-Day‟, der
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Tag von Brunos Ankunft. Es fiel mir schwer, mich zu beherrschen, ich hätte am liebsten abwechselnd gelacht und geweint. Erst nachdem ich mir vorgestellt hatte, wie es aussehen würde, wenn ich, eine scheinbar reife Dreißigjährige, durch die Straßen hüpfte und meine Freudensprünge absolvierte, gelang es mir, mich zusammenzureißen. Mein Chef, der wusste, wie mir zu Mute war, hatte in der Praxis ein scharfes Auge auf mich und verhinderte katastrophale Fehler. Sobald ich das genaue Datum von Brunos Ankunft kannte, kündigte ich, und mein Chef freute sich mit mir.
Nach Brunos Abreise nach Übersee waren meine Eltern und ich in eine größere Wohnung im selben Haus gezogen, in dem auch Rudolph mit seiner Familie wohnte. Die Nähe meiner Angehörigen war ein großer Trost für mich, aber am Tag unseres Wiedersehens sehnte ich mich verzweifelt nach etwas mehr Privatsphäre, als sie die Wohnzimmercouch bot, auf der wir schlafen mussten. Aber ich hätte mehr Zutrauen zu meinen Eltern haben sollen; sie verbrachten den ganzen Nachmittag in Rudolphs Wohnung und blieben den ganzen Abend diskret in ihrem Zimmer. Wir müssen uns wohl ziemlich angestrengt haben, denn ich war in Rekordzeit wieder schwanger, hatte aber auch fast sofort wieder eine Fehlgeburt...
Ich kann bis heute nicht rational über Präsident Trumans Entscheidung nachdenken, die Atombombe auf Japan zu werfen. Wäre der Krieg in Japan nicht beendet worden, hätte man Bruno mit Sicherheit in den Pazifik geschickt. Das rückte die Katastrophe in ein ganz anderes, sehr selbstsüchtiges Licht. Ich hätte die ungeheure Zerstörung, die unzähligen Toten und die möglichen Folgen der massiven radioaktiven Verseuchung für künftige Generationen am liebsten ignoriert.”
1947 wurde Gretel Mutter. Ihr Sohn Glenn, begleitete sie 1996 auf ihre Reise in ihre Geburtsstadt Laupheim.
Noch einmal: Ein in vielfacher Hinsicht lesenswertes Buch – ganz besonders in unserer Zeit.
Gretel Bergmann; Ich war die große jüdische Hoffnung; G. Braun, Karlsruhe; 264 S. 16.80 €; ISBN 3-7650-9056-3
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Inspirierte ein Landarzt Coubertin? Von KLAUS HUHN
Noch immer gilt die 1972 erschienene Coubertin-Biographie der Französin Marie Thérèse Eyquem als Standardwerk zum Lebens-werk des französischen Humanisten. Dass heute nur noch ein rela-tiv geringes Interesse an seinen Idealen und Zielen zu konstatieren ist, könnte damit zu erklären sein, dass die in der Gegenwart mit der Geschichte der modernen Olympischen Spiele Befassten der Konfrontation mit dem Vermächtnis des Begründers der modernen Spiele gern aus dem Weg gehen. Er „passt“ nicht mehr in die Ge-genwart. (Schon die Tatsache, dass er sein ganzes Vermögen den Spielen opferte, während man heute vor allem danach strebt, die Spiele als Gewinnquelle zu betrachten, könnte diese Zurückhaltung erklären.) Marie Thérèse Eyquem hatte ihr Buch vor über dreißig Jahren mit den Worten begonnen: „In einer Zeit, in der sich einige junge Leute das Leben und Streben so leicht machen, dass sie schlichtweg al-les, was von Opa stammt – Opa Marx vielleicht ausgenommen – für tot erklären, wundert es nicht, zu hören, dass auch Opas Olym-pische Spiele längst tot sind.“1) Die Autorin zitierte im Vorwort zahl-reiche gravierende Sätze Coubertins, manchen darunter, dessen Forderungen damals noch Gemüter erhitzte, inzwischen aber längst der Vergessenheit anheimfielen, seitdem die Kommerziali-sierung des Sports viele von Coubertin aufgeworfene Fragen unwi-derruflich beantwortet hat. Zum Beispiel diese: „In welcher moder-nen und den Gegenwartsbedürfnissen entsprechenden Denkord-nung finden wir das ethische Gegengewicht, das den modernen Athletismus davor bewahren könnte, in die Geschäftemacherei hineingezogen zu werden und so schließlich im Schmutz zusam-menzubrechen?“2) Die Antwort kennt jeder: Es gab keine „Denkordnung“, die das verhinderte. Aber sollte deshalb darauf verzichtet werden, seinen Spuren zu folgen? Es finden sich interessante Hinweise – durchaus nicht erst eben entdeckte, aber in der Vergangenheit eben nicht gebührend beachtete. Das gilt in starkem Maße für die Anregungen eines briti-schen Landarztes, der von der Eyquem gar nicht erwähnt worden war. Dabei hatte sie den Englandreisen Coubertins in den frühen
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achtziger Jahren ein ganzes Biographie-Kapitel gewidmet, kon-zentrierte sich dabei aber auf dessen Besuche in den Eliteschulen Eton, Harrow, Oxford, Cambridge und vor allem Rugby, dessen bedeutendster Rektor Thomas Arnold schon 45 Jahre zuvor ver-storben war, mit seinen Schriften über die körperliche Erziehung aber großen Eindruck bei Coubertin hinterlassen und ihn bereits 1888 bewogen hatte, das Buch „Erziehung in England“ zu schrei-ben. Tatsache aber ist, dass eine weitere England-Reise Coubertin weit mehr beeinflusst haben dürfte und demzufolge auch gravie-rende Spuren in seinem Werk hinterlassen hat. Das Ziel der 1890 angetretenen Reise war Much Wenlock. Coubertin hatte erfahren, dass dort ein Dr. William Penny Brookes seit Jahren Olympische Spiele veranstaltete. Brookes war 1809 in Wenlock als Sohn des dortigen Stadtarztes geboren worden, studierte in London, Paris und Padua Medizin und übernahm 1831 die Praxis seines Vaters, nachdem der Opfer einer Typhus-Epidemie geworden war. Dem britischen NOK, das sich bekanntlich in den frühen achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Birmingham für die Olympi-schen Sommerspiele 1996 beworben hatte, gebührt das Verdienst, damals nicht nur die üblichen Werbekampagnen gestartet, sondern auch Samuel Mullins dabei unterstützt zu haben, die Geschichte dieser Wenlock-Spiele zu untersuchen und sie in einer kleinen aber sehr fundierten Broschüre zu publizieren. Die erschien 1986 unter dem Titel „Britische Olympier“, wurde aber nur wenig beachtet. Sehr zu Unrecht, denn tatsächlich ist Brookes zu den Pionieren der olympischen Bewegung zu zählen. Coubertin war einer Einladung des Arztes nach Wenlock gefolgt und berichtete hinterher ausführlich darüber in der Dezember-Ausgabe der Zeitschrift „L‟Athletique“3): „Wo finden Sie Much Wen-lock? Ich spüre ihre Hemmung, eine Verbindung zwischen dem fast barbarisch klingenden Namen und Erinnerungen an antike Olympische Spiele zu entdecken. Much Wenlock ist ein Marktfle-cken in der Grafschaft Shropshire an der Grenze zu Wales.“4) Nach dieser Schauplatzbeschreibung kam Coubertin zur Sache: „Wenn die Olympischen Spiele, von denen das moderne Griechenland nicht weiß, wie man sie wiederauferstehen lassen könnte, ausge-rechnet dort wieder aufblühen, ist das nicht das Verdienst eines Griechen, sondern Brookes, der sie vor 40 Jahren ins Leben rief
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und sie heute – obwohl schon 82-jährig – noch immer mit Energie organisiert.“ 5)
Sam Mullins, lange Jahre Kurator des Wenlock-Museums, hatte sich gründlich mit der Rolle Brookes‟ und vor allem auch dessen Motiven für die Einführung moderner Olympischer Spiele befasst. Mullins über Brookes: „Es gibt wenig verbürgte Anhaltspunkte da-für, was diesen Landarzt eigentlich bewogen hat, einen lebenslan-gen Kreuzzug für die Förderung körperlicher Übungen zu führen, einem Kreuzzug, der ihn auch bewog, die olympische Bewegung in Großbritannien zu gründen, und zwar 1865 den ‟Nationalen Olym-pischen Verband‟. Außerdem war er Mitglied zahlreicher einfluss-reicher Ausschüsse, die sich der physischen Ausbildung widmeten und wurde von Coubertin zum Ehrenmitglied jenes Kongresses in der Sorbonne 1894 berufen, auf dem er den ersten Schritt zur Wiederbelebung der olympischen Spiele beschließen ließ. Es wird angenommen, daß Brookes‟ Ausbildung das Studium klassischer Literatur einschloß und er auf diesem Wege eines Tages zu den antiken olympischen Spiele gelangte.“6) Mullins fand noch eine an-dere wichtige Spur durch die Brookes‟ Begeisterung für den Sport und seine alljährlichen Spiele beflügelt wurden: „Eine Rede Brookes‟ vor der Versammlung des Hadley Sport-Clubs 1882 ver-riet, daß sein Interesse an der physischen Ausbildung schon um 1830 geweckt worden war. Auf dem Weg nach Paris hatte er in ei-nem kleinen Gasthaus ein Buch gefunden, das sich mit den Le-bensbedingungen der Arbeiter in England befasste und eine Unter-suchung vorwies, nach der zum Beispiel die Weberfamilien in der Regel in der dritten Generation ausstarben. Der Autor hatte her-ausgefunden, daß dies auf den Bewegungsmangel in dem Beruf zurückzuführen war. Brookes bekannte, dass dieses Buch einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte und er sich von da an, in-tensiv mit den Möglichkeiten der Erholung für die Arbeiterklasse befasste.“6)
Mullins hatte aus dem „Shrewsbury Chronicle“ vom 17. Oktober 1882 zitiert, in dem Brookes Rede ausführlich wiedergegeben wor-den war. Der Kernsatz: „Wenn da eine Klasse ist, die Anspruch auf körperliche Erholung hat, dann ist es die Arbeiterklasse.“7) Der erste Schritt zu diesen ländlichen Olympischen Spielen dürfte im Jahr 1841 erfolgt sein. Da hatte Brookes – als Arzt auch ständig um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Landbevölke-
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rung bemüht – eine „Landwirtschaftliche Lesegesellschaft“ gegrün-det, zu der neben einer Musikklasse auch eine für die Förderung der Leichtathletik gehörte. Es dürfte sich um einen Vorläufer der Volkshochschulen für Bauern gehandelt haben, die dann seit dem 25. Februar 1850 sogar den Namen „Olympische Klasse“ trug. Ein-stimmig waren ihre von dem zum Sekretär gewählten Brookes konzipierten Statuten gebilligt worden, in denen hervorgehoben wurde, dass die neue Einrichtung speziell für die Arbeiterklasse gedacht war. Zum Statut gehörte auch, dass künftig alljährlich Wettkämpfe stattfinden würden, bei denen Preise vergeben werden sollten. Dieser Punkt der Satzung ist besonders wichtig, weil er ei-gentlich gar nicht in die sportliche Szene der damals so konse-quenten Amateurlandschaft passte und auch die allerdings erst viel später aufkommende Arbeitersportbewegung Preise ablehnte, noch dazu blanke Geldpreise. Am 22. Oktober 1850 fanden die ersten Spiele statt. Auf dem Pro-gramm standen Hoch- und Weitsprung, ein Wurfscheibenwettbe-werb, ein Hüpfrennen und ein Wettrennen für Unter-Siebenjährige. Die Preise reichten von zwei Schillingen für einen Sieg bis zu 22 Schillingen. Das mag der Grund dafür gewesen sein, dass die Spiele schnell wuchsen und Athleten aus vielen Gegenden Eng-lands anlockten. Ein ebenfalls in jener Birmingham-Broschüre ab-gedruckter Zeitungsbericht der Spiele von 1867 erwähnt eine statt-liche Zuschauerzahl. 1890 wurde dann also Coubertin eingeladen, dessen Bemühungen um internationale Olympische Spiele Brookes bekannt geworden sein dürften. Wie sehr man seinen Be-such schätzte, verrät die Tatsache, dass man ihn einlud, eine Ei-che zu pflanzen und mit einer Bronzetafel an dieses Ereignis lange erinnerte. Den Franzosen schien Brookes‟ Betonung des Arbeiter-sports nicht im geringsten gestört zu haben. Sein Interesse im Vor-feld des Pariser Kongresses 1894, möglichst einflussreiche Per-sönlichkeiten als Delegierte zu gewinnen, um einen „goldenen Rahmen“ für sein Vorhaben zu gewinnen, hinderte ihn nicht daran, Brookes als Ehrendelegierten zu nominieren, ohne darauf zu hof-fen, dass der 85-jährige die Mühen der Reise aus Much Wenlock nach Paris auf sich nehmen würde. Coubertin war offensichtlich 1890 von der imponierenden Organisation der Spiele beeindruckt gewesen und hatte Brookes deshalb nominiert. Er selbst hatte be-kanntlich keine klaren Vorstellungen, wie künftige Spiele organisiert
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werden könnten, aber Brookes hatte ihm seine gezeigt und konnte obendrein darauf verweisen, dass er mit dem griechischen Königs-haus in Verbindung stand. Coubertin schwärmte in seinem Bericht über dieses Erlebnis in „L‟Athleti-que“: „Man wundert sich über Brookes, welche Bedeu-tung er der körperlichen Erziehung beimaß, und fragte sich auch, welchen Einfluß er wohl mit seinen Ansichten jenseits der Grenzen seines Distrikts gewänne. Um den Bericht über meine persönlichen Erlebnisse zu beenden, will ich noch erwähnen, daß die Spiele durch ein Bankett mit unge-fähr 60 Gästen und einem Ball beendet wurde... Dr. Brookes schrieb auch an den König der Hellenen und gewann die Sympa-thie seiner Majestät für die Absicht Wenlocks, die olympischen Spie-le wiederzuleben. Aber das Patronat Athens war nicht alles, die Griechen kamen nach Wenlock und wirkten mit. Ich habe die Na-men griechischer Preisträger gelesen...“8) Coubertin hob die Schluss-Rede Brookes‟ am Ende der Spiele 1866 hervor, in der er den besonderen Wert der Spiele für ein friedvolles Leben gewürdigt hatte. Diese Bemühungen und der Nutzen des Sports für die gesunde Entwicklung der Jugend dürften ihn in Wenlock am meisten beeindruckt haben. Die Spiele in Wen-lock werden ihn also auch maßgeblich beeinflusst haben, als er 1894 die Welt mit dem Vorschlag überraschte, moderne Olympi-sche Spiele zu feiern. ANMERKUNGEN 1) Eyquem, Pierre de Coubertin, Dortmund 1972, S. 11 2) Ebenda, S. 13 3) Coubertin, Gesammelte Werke Coubertins, Lausanne Band 2, S. 78 – 84. 4) Ebenda S. 78 5) Ebenda 6) Mullins, „British Olympians“. London 1986, S. 10f 7) Mullins, „British Olympians“. London 1986, S. 12 8) Ebenda
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Nachwort 1972 zu 1936
Von GERHARD ZWERENZ
Die Bundesregierung hat – so war zu hören – trotz allen Geldmangels erneut eine stattliche Fördersumme für die Er-forschung der DDR-Sportgeschichte ausgegeben. Man mun-kelt, es solle aufgeklärt werden, wie sich die DDR auf die Spiele 1972 „ideologisch“ vorbereitete. Da dabei die Vor-bereitung der Gastgeber übersehen werden könnte, baten wir den Schriftsteller Gerhard Zwerenz aus seinem Nachwort zitieren zu dürfen, das er 1972 dem Reprintdruck des Zigarettenbilderalbums von 1936 anfügte. Es war einer der wenigen Beiträge zur Aufarbeitung der 1972 noch aktuellen Vergangenheit.
Wie gesundheitsfördernd und unpolitisch Sport und sportlicher Wettkampf sind, demonstrieren diese Bilder und Texte über Olympia 1936 - angeführt vom obersten Sportsmann A. H., dem nichts gelegener kommt als die Orgie der Muskelmanifestation, die völkerverbindend genannt wird, obwohl sie die Völker in Hysterien stürzt und trennt. Alle Nationen entsenden also ihre besten Söhne und Töchter, und ein Politiker tritt als Schirmherr auf, als ob es immer regnete, nimmt „regen Anteil“, obwohl er meist sitzen bleibt und höchstens mal die komische Armbewegung übt, den symbo-lischen Kugelstoß, jedoch disziplinierter, auch Linkshänder haben die rechte Hand in die Luft zu stoßen: dann gibt der Schirmherr Autogramme wie ein erfolgreicher Sportsmann, und die erfolgreichen Sportsmänner strahlen animiert, während die erfolgreichen Sportsfrauen in Ekstase geraten.
Der Schirmherr ist der wirklich erfolgreichste Sportler der Olympischen Spiele in Winter und Sommer 1936. Sein Markenzeichen sitzt auf allen Zigarettenbildern, prangt Christl Cranz wie Bruder Rudi am Oberarm, heimst als Fahne internationale Nachbarschaft ein, marschiert mit Generaloberst v. Blomberg reichswehrhaft auf, leuchtet Reichsminister Rust als Bonbon von der Jacke, stempelt den Zehnkämpfer Sievert, die liebe Mauermayer und manch anderes Unschuldslamm ab,
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kennzeichnet als Riesenkrake mit sieben Hakenkreuzen die Boxer, züngelt dem Brandenburger Tor heraus, winkt tausendkreuzig aus Häusern: „Berlin im Flaggenschmuck“, schreit vierzigfach von einer Lustgartenseite, kennzeichnet zwei Hammerwerfer dort, wo ihr Herz sitzt, hockt der Speerwurf-siegerin Tilly Fleischer unterm Pulloverreißverschluß, springt über auf Gisela Mauermayer und Paula Mollenhauer, die erfolgreichen Diskuswerferinnen, markiert die deutsche Staffel und den unvergessenen Rekordler Harbig, der dann an den Folgen mit draufging; so unpolitisch (die Reihe läßt sich fortsetzen) ist Sport-Olympia in Wirklichkeit. Die hier wieder vorliegenden Zigarettenbilder wurden gesammelt. Dazu gab‟s Alben mit schönen dummen Texten und freigelassenen Stellen zum Einkleben der Bilder.
Wie lehrreich Bilderbücher sein können. Die süße Silbermedaille Helene Mayer, den rechten Arm hebend, eigentlich nicht so recht ras-serein arisch, davor zwei bockige Österreicherinnen, Gold und Bronze, die das Armheben erst später beim Einmarsch lernten. Oder die „erfolgreichen deutschen Boxer“, tüchtige Kerle mit hart-geprügelten Gesichtern... Sie wollen alle nur die Gesundheit des Volkes. Wer mag widersprechen, wenn er weiß, daß Sport gesund ist. Zwar bleiben Kranke und Verletzte zurück, zwar kann Sport den Krieg ersetzen oder auch einüben, wenn der Sport aber ein Fest feiert, wollen die Massen begeistert dabei sein; die Trauer der Nieder-lage ist fast so schön wie der Jubel beim Sieg... Der Sport überwindet das eigene Minus, das herrliche nationale Triumphgefühl mag A. H. bestärkt haben, den großen Gang zu wagen. Die Willenskraft der Olympiasieger von Berlin 1936 läßt A. H. zum größten Amokläufer aller Zeiten werden: Keine Grenze, über die er nicht hinwegsetzt, die er mindestens anvisiert...
Der Führer weiß, was er will. Die Nazi-Olympiade ist als größtes Olympia-Fest in die Sport- und Weltgeschichte eingegangen. Die organisatorische Großzügigkeit und rituelle Eindringlichkeit ihrer Manifestationen machen Eindruck in aller Welt. Zwar hat das Inter-nationale Olympia-Komitee die Repräsentations- und Redelust des A. H. gebändigt, ihm die Eröffnungsworte einzeln vorgeschrieben und gewisse Verhaltensweisen erzwungen, der Restbestand aber reicht dem Veranstalter.
Er erscheint in beinahe würdevoller Zurückhaltung vor dem Publi-kum in aller Welt; man sieht auf Berlin und erblickt A. H. als Sym-
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bol. Kein Kino kann daran vorbei. A. H. und Berlin und Olympiade und Nazi-Deutschland verschmelzen zur Einheit... Die Olympiade von 1936 ist das Exempel der Vereinbarkeit von Sport und Wahn. Die nichts als Sportler zu sein glauben, sind schon die Opfer derer, die System in den Wahnsinn bringen. Im „Angriff“ steht bei Eröff-nung der Olympiade die Regieanweisung: „In den nächsten Wo-chen müssen wir charmanter sein als die Pariser, gemütlicher als die Wiener, liebenswürdiger als die Römer, weltmännischer als die Londoner und praktischer als die New Yorker.“
So wird den Völkern der Welt Sand in die Augen gekübelt.
Mit dem Jahre 1936 verliert die Olympiade ihre zivilistische Un-schuld. Ein Regime, das sich befestigen will, legt sich die Zurück-haltung auf, die notwendig ist, eine Welt zu täuschen...
Die Athleten, die im Stadion kämpfen, wissen nicht, wofür sie benutzt werden. Ihre Arglosigkeit entspricht genau dem Zustand der dumpfen Treue, die die Führer von den Angeführten erwarten und verlangen. Sie sollen ein gutes Gewissen haben und trainierte Körper. Dafür gibt der Staat Geld aus, obwohl er sonst keins hat. Olympia als seelische Aufrüstung, die olympischen Organisatoren haben in den Nationalsozialisten ihre Meister gefunden. Zwar glauben sie, die Deutschen formen aus dem Massenspektakel die olympische Idee. Hinter den fünf Ringen leuchtet jedoch un-übersehbar das blutige Zeichen auf. Nichts liegt den begeisterten Massen in den Stadien und Arenen von 1936 ferner als der Gedanke, daß sie den Vorbereitungen des Todes von 50 Millionen zujubeln. Wer das Fest stört, ist ein schlechter Charakter...
Das Fest umgibt verführerischer Zauber. Man braucht ihn, denn dem Volk muß plausibel gemacht werden, die Milliarden, die die Spiele kosten, sind nicht zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Das Volk darf nicht insgeheim denken, man hätte statt der Olympiade für die Riesensummen besser Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten errichten sollen...
Auf Sportfesten führen Puppen ihre Künste vor. Wer ganz ohne je-de Sportbegeisterung ist, der werfe den ersten Stein. Wen reißt die große Leistung nicht vom Stuhl.
Olympia mit seiner alten Idee aus Griechenland, die sich vorzüglich ausbeuten läßt. Überlassen die Massen den Politikern die Drama-turgie ihres Lebens, Kriege und Untergänge eingeschlossen, wird Olympia zum Drama, dem die Einheit von Ort und Zeit zukommt...
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Die Militärs lassen vielsagend schweigend die ordensgeschmückten Brüste glitzern. Staatsmänner treten auf und ab und verleihen staat-liche Auszeichnungen, als habe ein Speerwurf das Problem ver-stopfter Straßen gelöst. Die, Oympia zu ermöglichen, seit Jahren mit Steuern, erhöhten Mieten, Bodenpreisen und allgemeiner vorolympi-scher Zusatzsteuerung zahlten, zahlen begeistert noch horrende Eintrittspreise. Die Ausgebeuteten und Geschröpften wollen dem Schröpfungsakt wenigstens zujubeln können...
Denn dies ist die unabwendhare Dialektik provokatorisch irrealer Veranstaltungen, es muß gezahlt werden für Unverstand und Hybris. Es zahlen alle, die teilhaben wollen. Ein Jahr vor Spielbeginn 72 haben beim Stadionbau erst fünf Menschen ihr Bauarbeiterleben gelassen. Wie viele nachfolgen müssen... steht nicht in den Sternen...
Die Massen, denen das Brot verteuert wird, sollen ihre Spiele haben. Die Sklaven werden schon drauf trainiert. Im „Bundesleistungszentrum“ zu Frankfurt am Main etwa. „Zehn Mädchen im Alter von 13 bis 19 Jahren leben hier und turnen für nationale und internationale Lorbeeren.“ („Frankfurter Rundschau“) Doch was soll die BRD mit ihren Mädchen Erbarmen haben, hat die DDR mit ihren auch keins. Von den Sowjets und Amerikanern weiß man, daß sie ihre Sportler mit eisernem Fleiß trainieren.
Wer zu Ruhm und Ehren kommen will, muß die Sklaverei brav ver-innerlichen. Bei den Westdeutschen haperts damit. „Manchmal ha-be ich einfach keine Lust mehr. Dann möchte ich alles hinschmei-ßen und irgendwo hingehen zum Tanzen.“ So das vierzehnjährige Turnermädchen Jasmin Vetter laut „Frankfurter Rundschau“, doch: „Der Staat hat die gesundheitliche, erzieherische und soziale Be-deutung des Sports erkannt“, erklärt Bundesinnenminister Gen-scher.
Wie klug der Staat ist und was er nicht alles erkennt, nachdem er es als deutscher Staat schon einmal 1936 erkannt hat. Was der Staat eben weiß, das weiß er oder erkennt es wieder. Die Namen der Minister wechseln, die Erkenntnisse bleiben bestehen...
„Wir fördern nur solche Talente, die sich aus freiem Willen einem harten Training unterwerfen. Und wer das tut, um dessen Persönlichkeitsbildung braucht einem nicht bange zu sein, denn schon sein Entschluß zur Askese weist ihn als Persönlichkeit aus.“ So laut „Frankfurter Rundschau“ ein Dr. Göhler, „Koordinator des
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Leistungssports im Deutschen Turnerbund“, denn die Sprüche sind auswechselbar wie die Askese, die 1936 ebenso gefragt war wie sie es 1972 ist...
Die falschen Begriffe und Kategorien schießen ins Kraut: Leistung, Askese, Persönlichkeitsbildung, Volksgesundheit... An Möglichkei-ten, in der Freizeit Sport zu treiben, fehlt es überall im Lande.
Die Spitzenveranstaltungen des Sports ändern daran überhaupt nichts, sie vermindern eher noch die Chancen der anderen, weil sie das Geld kosten, das notwendig wäre für den Bau von Anlagen für diejenigen, die etwas Sport als Ausgleich für die Berufssklaverei und das stundenlange Hocken im Kraftwagen benötigten... Olympia ist das größte sinnliche Theater der Moderne. Nur eine Fußballweltmeisterschaft erreicht noch gleichen Rang an Kolossalem. Von jeder Olympiade bleiben die Bilder und Filme, die immer äußerst wertvoll und künstlerisch sind, wie ein jeder Staat konstatiert. So wurde Leni Riefenstahl zur Hohen Filmpriesterin von 1936 und 1972 wird darin nicht zurückstehen. Haben wir doch wieder eine wahrhaft patriotische Presse, deren Cäsaren gewiß für bewegliche Bild-Dokumente sorgen werden. In den Verlagen herrscht längst Bewegung Rekorde an Umsatz sollen denen des Sports folgen. Wozu sonst Olympia?...
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Gedanken zu einem vergessenen Buch
Von JOACHIM FIEBELKORN
Es lag versteckt hinter anderen Büchern, 400 Seiten in blauen Kar-ton gepresst, schwarz aufgedruckt der anspruchsvolle Titel: Olym-pisches Lesebuch.1) Noch anspruchsvoller der Vermerk im Impres-sum: Für den Unterrichtsgebrauch in den Schulen. Das Buch er-schien 1971 und sollte BRD-deutsche Schülerinnen und Schüler auf die Olympischen Spiele 1972 vorbereiten. Verantwortlich zeichnete ein Verein, der sich der Verbreitung olympischen Ge-dankengutes verpflichtet hat.2) Das Buch erregte Aufsehen, kein gutes. Es mußte überarbeitet werden, erschien in einer zweiten, „bereinigten“ Auflage, die dann auch nicht mit Lob überhäuft wurde. Lohnt es denn, sich heute noch mit dem längst in die Jahre ge-kommenen Druckwerk zu beschäftigen? In den Tagen, da diese Zeilen zu Papier gebracht werden, rollt eine (N)Ostalgiewelle durch deutsche Massenmedien. Warum, im uns hier gegebenen themati-schen Rahmen, nicht auch ein kleiner Wellenschlag in Westalgie?
Das Geleitwort jenes Werkes schrieb der damalige Präsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG), Fritz Dietz, beruflich als Präsident der Industrie- und Handelskammer Frankfurt tätig. Die Münchner Spiele, meinte er, „...fordern einen Akt deutscher Selbstdarstellung heraus, die das Bild unseres Volkes und Landes in der Welt nachhaltig beeinflussen wird“ und wünscht dem Buch, es möge dazu dienen, „die Gegenwart aus der Vergangenheit bes-ser zu verstehen...“
Schauen wir also hinein in diese Vergangenheit, wie sie die Füh-rung des bundesdeutschen Sportes damals sah. Da finden wir auf Seite 182 die Rede des Präsidenten des NOK der BRD, Willi Daume, die er am 25. April 1966 vor dem IOC hielt, als es um die Vergabe der Spiele 1972 ging. Da heißt es u.a.: „Man sagt, daß Städte sich in gewissen Menschen personifizieren. Wenn ich für München nach einer Personifikation suche, dann tritt vor uns unser Freund Karl Ritter von Halt. Er war Münchner und verkörperte die besten Eigenschaften dieser liebenswerten Stadt.“
Walter Umminger, Chef der DOG-Zeitschrift Olympisches Feuer, Redakteur und Hauptautor dieses „Lesebuches“, greift auf Carl Di-em zurück: „In Carl Diem hatte eigentlich Pierre de Coubertin einen
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schöpferischen Nachfolger seiner geistigen Konzeption des mo-dernen Olympismus gefunden.“3) Zwei Jahre zuvor hatte er Diem den „bedeutendsten Vorkämpfer des olympischen Gedankens in Deutschland“ genannt.4) Diem, der Militarist, Verherrlicher des Krieges, ein geistiger Nachfolger des Friedensfreundes Coubertin? Für den deutschen Mitstreiter des französischen Humanisten, Dr. Willibald Gebhardt, der den olympischen Gedanken in seinem Heimatland gegen starke Widerstände durchsetzte, fand der sich in der olympischen Geschichte auskennende Umminger einen einzi-gen müden Satz: „Der Berliner Arzt Dr. Willibald Gebhardt konnte erst nach vielen Mühen eine deutsche Olympiateilnahme durchset-zen.“5)
Wir verzichten hier darauf, die „Verdienste“ der beiden im Buch so gelobten Herren bei der Belegung von Soldatenfriedhöfen zu wür-digen. Erschreckend aber ist es schon, was bundesdeutscher Ju-gend damals als Vorbild angeboten wurde. Da ist es wohl kein Wunder, wenn der damalige Polizeipräsident von Düsseldorf und spätere Präsident des Deutschen Sportbundes, Willi Weyer, in Ab-wandlung eines bekannten, dem Krieg gewidmeten Gneisenau-Zitates, den Sport als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ sah.6) Eine für dümmliche Schlagzeilen bekannte Zeitung konsta-tierte: „Jetzt sind die Deutschen Nr. 1 in Europa“.7)
Verwundern konnte es freilich auch nicht, daß ausländische Medi-en empört reagierten: „München, das einst die Wiege des Nazis-mus war... ist ein Besorgnis erregendes Milieu.“8) Das war den Münchnern des Jahres 1972 zwar kaum noch vorzuwerfen, aber als erinnernde Warnung vor exzessiven nationalistischen Phrasen zu akzeptieren. Schließlich war es die beste Zeit der Halt und Di-em, als München noch „Hauptstadt der (Nazi)Bewegung“ genannt wurde, was wenig „liebenswert“ erscheint.
Natürlich bekam auch die DDR ihr Fett. Das wäre nicht weiter er-wähnens- wert, wenn da nicht immer wieder eine bemerkenswerte Kontinuität in der bundesdeutschen Sportgeschichtsschreibung festzustellen wäre. Ohne den Anspruch zu erheben, die gesamte vor 1990 in der alten und danach für die nun komplettierte BRD er-schienenen Literatur über den DDR-Sport zu kennen, läßt sich da Wesentliches kaum übersehen: Viel wurde und wird geschrieben über die Suche nach einer effektiven Organisationsform des Sports (die in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR erst 1957
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mit der Gründung des DTSB endete), aber welcher Autor beschäf-tigt sich schon in gebotener Ausführlichkeit mit der 1945 gegebe-nen rechtlichen Situation des deutschen Sports. Auch nicht der Le-sebuch-Autor Habbe.9) Dabei war die Lage eindeutig: In dem nicht nur für die Siegermächte bindenden Potsdamer Abkommen war unmißverständlich das Verbot der im Nazideutschland existieren-den Sportorganisationen beschlossen worden, eine Festlegung, die – wie alle im Abkommen fixierten Bestimmungen – für die Zukunft eines ungeteilten Deutschland gelten sollte. Doch schon 1946 wa-ren in den drei westlichen Zonen die ersten der alten Vereine wie-der gegründet. Mit ihnen tauchten vielfach die alten Funktionäre mit ihrer braun gefärbten Vergangenheit auf. Der Vorwurf an die Ver-antwortlichen im Osten – Sowjetische Militäradministration bzw. die von ihr berufenen deutschen Politiker -, Vertragstreue bewiesen zu haben, weist auf ein gekrümmtes Rechtsbewußtsein hin. Aber Recht und Geschichtsschreibung werden nun einmal von der Poli-tik bestimmt. Das war, nicht nur nebenbei bemerkt, in der SBZ bzw. der DDR nicht anders.
Wir wollen nicht mißverstanden werden: Die große Mehrheit der Deutschen war Hitler und seiner Kriegspolitik gefolgt. Ein Wieder-aufbau Deutschlands wäre ohne Beteiligung, das heißt ohne Be-währungschance dieser Menschen nicht möglich gewesen. Die Frage war nur, welche Chancen ihnen eingeräumt, welche Verant-wortlichkeiten ihnen anvertraut wurden. Da aber fand sich einer der Unterschiede, an denen die erwähnte Vertragstreue der vier Be-satzungsmächte in Deutschland meßbar wurde.
Wie sehr dieser Unterschied manchen Historiker bis heute schmerzt, machte ein aus der alten BRD nach Potsdam geratener blindwütiger Fanatiker und Kommunistenfresser deutlich, dessen Namen in den PC zu tippen, sich die Finger des Autors weigern.10) Der brachte es fertig, einen ehemaligen HJ-Führer, der in der DDR DTSB- und NOK-Präsident wurde, in Vergleich mit dem Kommen-tator der Nürnberger-Rassegesetze zu bringen. Gleichgültig, ob Ewald im Auftrage einer Widerstandsgruppe in der Hitler-Jugend tätig war oder nicht, er war am Tage der deutschen Kapitulation 18 Jahre alt, in Kindheit und Jugend demnach einer rigorosen Erzie-hung durch die Nazis unterworfen, Globke lief als gestandener Mann mit wehenden Fahnen zu denen über und identifizierte sich mit ihrem Programm des Massenmordes, den er mit seinem Kom-
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mentar der Nürnberger Rassegesetze vorbereiten half. Der Hitler-junge und Hitlers Jurist - wer zwischen zwei Menschen so unter-schiedlichen Entwicklungsweges ein Gleichheitszeichen setzt, dis-qualifiziert sich als Historiker selbst.
Eine zweite Frage, die gern umgangen wird, ist die nach der Legi-timität der Gründung und der Existenz der DDR. Sehen wir einmal davon ab, daß diese Anfang der siebziger Jahre von der UNO oh-ne Einschränkung bestätigt wurde, stellen wir nur die ganz simple Frage, weshalb drei der vier Besatzungsmächte die rechtliche Legi-timation besaßen, die Bildung zweier deutscher Staaten anzuord-nen, die vierte aber nicht (obgleich sie doch die Hauptlast des Krieges zu tragen hatte), und schon wird die Unredlichkeit der Hall-stein-Doktrin offensichtlich. Warum also kämpften die Bundesregie-rung und auch, in deren Auftrag, die BRD-Sportführung so verbis-sen, die internationale Anerkennung des DDR-Sports zu verhin-dern, wo sie doch gegen die Entsendung einer Mannschaft des Saarlandes zu den Olympischen Spielen 1952 nichts einzuwenden hatten wie auch nicht gegen offizielle Länderkämpfe zwischen der BRD und dem Saarland? Der Grund ist wohl allein in der Tatsache zu suchen, daß in der DDR mit dem Versuch begonnen wurde, ei-ne neue Art von Gesellschaft zu errichten, in der nicht der Profit, sondern der gerechte Anteil aller Bürger am gesellschaftlichen Ge-samtprodukt Ziel der Politik sein sollte. Wir haben lernen müssen, daß dieses Ziel mit den (nicht nur) in der DDR angewandten Me-thoden nicht erreichbar ist. Über den Wert des Zieles gibt die Nie-derlage allerdings kaum gültige Antwort.
Was das alles mit dem Olympischen Lesebuch zu tun hat? Weil von Hallstein über München bis zur rechtlich mehr als zweifelhaften Aufforderung des damaligen Justizministers Kinkel an die deut-schen Richter, die DDR zu delegitimieren (1991) eine gerade Linie zu verfolgen ist, die nach 1990 nicht nur vielfach zum Bruch des „Einigungsvertrages“, sondern auch dazu führte, daß die Bürger der neuen Bundesländer 13 Jahre nach dem Anschluß an die BRD in vielerlei Hinsicht immer noch Bürger zweiter Klasse sind. Ge-schichte fälschende Passagen in dem Lesebuch lassen diese Linie deutlich werden.
Diese Zeilen wurden nicht mit leichter Hand geschrieben. Sie sind auch nicht als Anklage gedacht. Alte Geschichten mit neuen Erfah-rungen im Kopf zu lesen, macht nun einmal nachdenklich. Zum
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Beispiel über die uns arrogant scheinende Bemerkung Teichlers: “Die gedruckten Veröffentlichungen der DDR-Sportgeschichtsschreibung über diese Phase (1946-1957, Anm. d. Verf.) müssen – wenn auch mit unterschiedlichen Abstufungsgra-den – sämtlich in die Kategorie `Geschichtspropaganda´ eingestuft werden und sind für die Lehre unbrauchbar.“11) Abgesehen von der Frage, wie sich „sämtlich“ mit den „unterschiedlichen Abstufungs-graden“ verträgt, wäre wohl, nicht nur angesichts des Olympischen Lesebuches, die Frage erlaubt, ob er sich nicht gelegentlich über die BRD-Sportgeschichtsschreibung Gedanken machen und diese dann veröffentlichen sollte. Und auch, ob die in den neuen Bundes-ländern erschienenen Veröffentlichungen zur deutschen Sportge-schichte mit ihren darin vielfach enthaltenen Dialogangeboten (zum Beispiel in Beiträge zur Sportgeschichte) nicht ernst genommen werden sollten. Vielen Ostdeutschen wird der Vorwurf gemacht, sie seien in der BRD nicht angekommen. Kann man ankommen, wenn man nicht aufgenommen wird?
Aber das sind eben nur so Gedanken zu einem vergessenen Buch. ANMERKUNGEN
1 DOG (Hrsg.): Olympisches Lesebuch. Dortmund 1971
2 Deutsche Olympische Gesellschaft
3 Olympisches Lesebuch. A.a.O., S. 93
4 NOK der BRD (Hrsg.): Die Olympischen Spiele der Neuzeit – Von Athen bis
München. Dortmund 1969, S. 104
5 Olympisches Lesebuch. A.a.O., S. 104
6 RIAS 21.2.1971
7 BILD 23.11.1968
8 La Tribune de nations, Paris 6.6.1971
9 Olympisches Lesebuch. A.a.O., S. 65-69
10 Beiträge zur Sportgeschichte, Heft 15/2002, S. 10-11
11 Teichler, H.-J.: Die Sportbeschlüsse des Politbüros. Schorndorf 2002, S. 23
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Salchow lebt in seinem Sprung
Von AKE JÖNSSON
Der freundlichen Kooperation mit schwedischen Kollegen verdanken wir dieses Porträt des weltberühmten schwedi-schen Eiskunstläufers Ulrich Salchow. Der Beitrag war im vollen Wortlaut im Jahrbuch 2003 des Sveriges Centralföre-ning för Idrottens Främjande abgedruckt. Die Übersetzung besorgte Gabriele Gumprecht.
Dieser Artikel basiert auf Material, das Ulrichs Frau, Anna Salchow (1899 - 1998), hinterlassen hat. Lars Wass brachte mich 2002 mit Annas Tochter, Annelise Gormsen, zusammen, die mir großzügig Zugang zu Zeitungsausschnitten, Briefen, Schriftstücken, Tele-grammen usw. gewährte, die die Familie über „Papa Ulrich“ ge-sammelt hatte.
Sportsterne haben oft nur kurze Leuchtkraft: Sie strahlen, verlö-schen und sind vergessen. Nicht so der Eiskunstläufer Ulrich Sal-chow, der in „seinem“ Sprung auch 80 Jahre nach dem Ende sei-ner fast märchenhaften Karriere weiterlebt. Dieser „unsterbliche“ Sprung ist selbst dem nur zuweilen Eiskunstlauf verfolgenden Fernsehzuschauer ein Begriff. Simpel beschrieben, geht es um fol-gendes: Salchow lief auf einem Schlittschuh rückwärts, sprang, vollzog in der Luft eine volle Umdrehung und landete auf dem an-deren Schlittschuh.
Generationen von Eiskunstläufern haben den Sprung weiterentwi-ckelt: Aus dem einfachen Salchow wurde ein doppelter, ein dreifa-cher und schließlich ein vierfacher – aber es blieb immer ein „Sal-chow“....
Karl Emil Julius Salchow war am 7. August 1877 in Köppenhamn geboren worden. Die Familie seines Vaters, eines Regimentszahl-meisters, stammte aus Böhmen. Die Familie lebte in Österbro. Die Mutter ward zuweilen eine „Eisprinzessin“ genannt und so nahm es nicht wunder, dass Ullrich schon als Achtjähriger als Eisläufer auf sich aufmerksam machte... Als 13-Jähriger wurde Ulrich Salchow nach dem Umzug der Familie nach Stockholm 1891 Mitglied im dortigen Allgemeinen Schlittschuhklub (SASK) und schon am 19.
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Februar desselben Jahres debütierte er bei einem Schulwettkampf. Ulrich erinnerte sich: ,,...Wir wurden zu Hause sehr streng erzogen. Z.B bekamen wir Kinder niemals Kaffee.“ Vater Salchow hielt Kaf-fee für ungesund für Kinder... Als sich Ulrich für den Wettkampf anmeldete, erklärte er: „Wenn ich Kaffe bekomme, garantiere ich, daß ich in meiner Altersklasse gewinne.“ Der Vater gab nach und Ulrich triumphierte mit einem Paar uralter Halifax-Schlittschuhe. Ivar Hult übernahm Salchows Training und wie sich damals seine Einstellung zum Kunstlaufen veränderte, beschrieb Salchow später mit den Worten: „Erst glaubte ich nicht daran, dass das Eiskunst-laufen in meinem Leben eine Rolle spielen würde, aber plötzlich wurde es eine Leidenschaft.“ Sobald der Nybroviken fror und der SASK seine Eisbahn anlegte, war Salchow da. Er trainierte vor al-lem die Pflichtfiguren - wieder und wieder.
1895 fand die erste schwedische Meisterschaft statt. Salchow war zwar der Beste, musste sich aber mit der Silbermedaille begnügen, weil der Wettkampf als unentschieden erklärt wurde: Keiner hatte in Pflicht und Kür gewonnen. 1897 gab es das erste Mal Gold für Salchow bei einer schwedischen Meisterschaft. Die Differenz zum Zweiten, Thiolf Borg, betrug jedoch nur 0,25 Punkte. Die beiden Ersten der schwedischen Meisterschaft vertraten Schweden bei der Weltmeisterschaft in Stockholm am folgenden Wochenende. Der 29-jährige Österreicher Gustav Hügel siegte vor dem 19-jährigen Salchow.
Der Weltmeister trat bei der EM in Drontheim drei Wochen später nicht an. Salchow gewann gegen zwei Norweger, obwohl alle fünf Preisrichter Norweger waren. Dieser erste internationale Titel hatte eine bemerkenswerte Konsequenz für Salchow: Er trat nie wieder bei schwedischen Meisterschaften an und erklärte das mit den Worten: „Wer einmal eine internationale Meisterschaft gewonnen hat, konzentriert sich auf die nächste!“
Die ersten Nordischen Spiele – man kann sie durchaus Vorläufer Olympischer Winterspiele nennen – 1901 in Stockholm hatten auch die Eiskunstlauf-Weltmeisterschaften im Programm. An der Eis-bahn auf der Nybroviken hatten sich Tausende Zuschauer ver-sammelt, um Salchows Duell mit dem Deutschen Gilbert Fuchs zu erleben. Der Deutsche war der erste Weltmeister im Eiskunstlauf (1896) gewesen und hatte sich einen Monat zuvor bei der EM vor Salchow platziert. Salchow schaffte die Revanche. Es war sein ers-
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ter von zehn WM-Titeln, ein Rekord, der das 20. Jahrhundert über-stand: Sonja Henie, und die sowjetische Paarläuferin Irina Rodni-na, brachten es ebenfalls auf 10 WM-Titel, aber bei den Herren rangiert der Österreicher Karl Schäfer mit sieben Titeln auf Rang zwei.
Einige von Salchows Titeln haben eine besondere Geschichte. Bei der WM in London 1902 wurde die Britin Madge Syers Zweite und ließ zwei Herren hinter sich. 1903 beschloss der ISU-Kongress, dass Frauen nicht mehr bei Herren-Wettkämpfen antreten dürfen. 1906 wurde eine WM für Damen eingeführt, die Madge Syers (1881 - 1917) in den ersten beiden Jahren gewann.
1903 war Salchow in St. Petersburg gefeiert worden und errang nicht weniger als drei Titel. Außerdem schenkte ihm der russische Zar eine riesige Silberkopie des gewaltigen Reiterstandbildes Pe-ters des Großen. Über die Probleme bei der Heimkehr berichtete Salchow lange Zeit später: „Es war nicht leicht, den Pokal durch den schwedischen Zoll zu bringen. Er wog mit Sockel 60 kg und man verlangte Silberzoll fürs ganze Gewicht. Der Direktor einer Stockholmer Zeitung löste das Problem, indem er den Pokal als Ausstellungsstück für sein Redaktionsschaufenster übernahm.“
1906 fehlte Salchow bei der WM 1906 in München. Seine Begrün-dung: „Dort kann ich nicht mit einer fairen Behandlung durch die Preisrichter gegen meinen schwersten Konkurrenten Gilbert Fuchs rechnen.“
Über die Turbulenzen jener Jahre berichtete Salchow nach der WM 1907 in Wien: „Die Temperatur betrug morgens minus 26 Grad. Die Organisatoren gestatteten dem Publikum, näher an die Eisbahn zu kommen. Die Zuschauer stellten sich an der Windseite auf, wenn einer ihrer Landsleute auf dem Eis erschien. Sie boten damit einen idealen Windschutz, auf den wir Ausländer verzichten mussten. Als ich aufgerufen wurde, liefen die Zuschauer zur windabgelegenen Seite. Ich wurde ärgerlich und beschwerte mich bei den Preisrich-tern. Ohne Erfolg. Da kam mir eine Idee und ich fragte sie: „Wür-den Sie mir eine Bitte erfüllen?“
„Natürlich.“
„Dann fordern sie das Publikum auf, dort stehen zu bleiben, wo es sich im Augenblick befinden.“
Das geschah und Salchow wechselte die Seite. Auch die windab-gelegene Fläche bot durch die dichten Zuschauerreihen Wind-
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schutz, in dem Salchow seine Figuren lief. So wurde er Weltmeis-ter.
Als erste Wintersportdisziplin kam das Eiskunstlaufen 1908 in Lon-don ins olympische Programm. Und Salchow wurde erster Olympi-asieger. Die 10. WM-Goldmedaille errang er 1911 in Berlin. Ein Journalist konstatierte: „Er hat genug Lorbeer errungen, um sich darauf auszuruhen.“ Salchow trat zweimal zu einem Comeback an. 1913 kam er zur EM in Kristiania (Oslo). Die Konkurrenten waren schockiert. Salchow war nicht in Hochform, aber allein sein Er-scheinen lähmte die Konkurrenten derart, dass er seinen neunten EM-Titel errang. Das zweite Comeback fand 1920 statt, als sich der 42-jährige Salchow in den Kopf gesetzt hatte, den Olympiasieg von 1908 zu verteidigen. Er hatte so hart trainiert, daß er im April mit geschwollenen Knie antrat. Er musste sich mit dem vierten Platz bei seinem letzten Start begnügen. Betrachtet man die Liste der Sportarten, die Salchow betrieb und die der Funktionen, die er bekleidete, bleibt nur Staunen. Er startete als Radrennfahrer bei Bahn- und Straßenrennen, segelte, ruderte und beteiligte sich so-gar an Bobrennen.
Beruflich war er als Generalagent von „The Marconis Wireless Te-legraph Co.“ erfolgreich. Mit 21 Jahren hatte er sein erstes eigenes Unternehmen in der Elektrobranche gestartet. Obendrein konstru-ierte er einen eigenen Kunstlauf-Schlittschuh, den er unter seinem Namen vermarktete und schrieb ein Handbuch für den Eiskunstlauf (1906), das in vier Sprachen erschien. 1904 wurde er unter dem Pseudonym Ten Sportjournalist bei Dagens Nyheter und später Mitglied des schwedischen Schriftsteller-Klubs. Fast unübersehbar waren seine Funktionen im Sport: Gründer und lange Jahre füh-render Funktionär des Schwedischen Eislaufverbandes, Sekretär des Schwedischen Radsportverbandes, Funktionär bei Automobil-rennen, Mitglied des Vorstands des Reichssportbundes, Funktionär der Leichtathletikwettbewerbe der Olympischen Spiele 1912, Vor-sitzender des Schwedischen Boxverbandes (1919-32). Und dann vor allem Präsident des Internationalen Eislaufverbandes (ISU) 1925-37.
Mit 50 Jahren war er noch Junggeselle. Dann lernte er plötzlich eine verheiratete Frau kennen, in die er sich Hals über Kopf verliebte. 1931 heiratete er die dänische Ärztin Anna Gormsen, Mutter dreier Töchter.
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Dann folgte die bitterste Phase seines Lebens: 12 Jahre hatte Salchow als ISU-Präsident die Eislaufwelt geführt. Auf dem Kongress 1937 bekam er einen Fußtritt. Sein großer Gegenspieler, der Niederländer Gerrit W.A. van Laer trat seine Nachfolge an, was Salchow besonders erboste.
In einem Brief Salchows in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Schwedischen Eislaufverbandes fielen harte Worte. Der Niederländer schickte Salchows angeblich „außerordentlich kränkenden“ Briefe an August Anderberg, den stellvertretenden Vorsitzenden des Schwedischen Eislaufverbandes. Die Situation wurde unhaltbar und im November 1938 verließ Salchow den Schwedischen Eislaufverband. Seine ehemaligen Vorstandskollegen sahen die Angelegenheit damit als erledigt an.
Salchow lud im April 1939 die Sportchefs der führenden Stockholmer Zeitungen zu einem Essen und übergab ihnen einen Bericht, der in Angriffen gegen van Laer und Mitglieder des Schwedischen Eislaufverbandes gipfelte.
Danach landete die Angelegenheit beim Reichsverband (RF) und am 4. September 1939 wurde Salchow für drei Jahre für alle Funk-tionen disqualifiziert. Das verkraftete er nicht. Zu seinem 70. Ge-burtstag 1947 schrieb der Sportchef von Dagens Nyheter, David Jonason: „Es bleibt eine dunkle Episode in der Rechtsgeschichte des schwedischen Sports, daß gerade der furchtloseste und ehr-lichste Führer, der immer offen voranging und wohl niemals in sei-nem Leben eine Intrige angezettelt hat, von einer dreijährigen Dis-qualifikation getroffen werden sollte. Er hatte vor einem internatio-nalen Funktionär gewarnt, der als Schieber entlarvt wurde, wäh-rend des Krieges sein Land verriet und sich dann das Leben nahm. Aber Salchows Rechnung bleibt offen.“ Ulrich Salchows landete in der Nervenheilanstalt Beckomaerga und starb am 18.4.1949.
Geblieben ist nur sein Sprung...
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Ein „sportlicher“ Konsul in Bilbao
Von KLAUS HUHN
Jedes Paperback-Lexikon gibt Auskunft über die Aufgaben eines Konsuls: „Vom Staat bestellter Vertreter i.e. anderen Staat; Aufga-ben: Ausübung einzelner behördl. Befugnisse (z.B. Ausstellung v. Visa) u. Wahrung d. Rechte eign. Staatsbürger.“1) Beck‟s Staats-bürger-Taschenbuch erhärtet diese Feststellung: „Konsuln sind be-vollmächtigte Vertreter eines Staates ohne diplomatischen Status; ihnen obliegt in einem anderen Staat die Wahrnehmung vor allem wissenschaftlicher Belange und der Interessen von Angehörigen des Entsendestaates.“2)
Im internationalen Sport spielen Konsuln de facto überhaupt keine Rolle. Zuweilen treten sie als Gastgeber von Empfängen in Er-scheinung, die sie namens ihres Entsendestaates an dem Ort ge-ben, in dem sie stationiert sind, wenn dieser Ort Schauplatz eines sportlichen Höhepunkts sein sollte. Ihr Aufgabenfeld beschränkt sich in solchen Fall darauf, die Mannschaft des Entsendestaates oder auch die Vertreter eines internationalen Sportverbandes zu empfangen und mit einer kurzen Ansprache willkommen zu heißen.
Jetzt im Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland freigegebene und danach ausgewertete vertrauliche Dokumente belegen, dass die Bundesregierung ihren Konsuln in den sechziger Jahren strikte Aufträge erteilt hatte, ihren ohnehin beschränkten diplomatischen Status zu missbrauchen und sich hemmungslos in den internationalen Sportverkehr einzumischen, um den Alleinvertretungsstandpunkt ihrer Regierung durchzuset-zen. Es ist inzwischen hundertfach bewiesen, dass in solchen Situ-ationen internationales Recht ignoriert wurde.
Unser Fall belegt, dass solche Eingriffe keineswegs nur bei bedeu-tenden sportlichen Ereignissen praktiziert wurden, sondern aus-nahmslos in jedem Fall, wenn die DDR in Erscheinung trat.
Am 19. September 1964 hatte der Konsul der BRD in Bilbao (Spa-nien) – Sitz der Vertretung: Calle Buenos Aires 1 – einen Bericht an das Ministerium in Bonn geschickt, in dem er auf acht Schreib-maschinenseiten präzise seine Aktivitäten im Hinblick auf die an den III. Internationalen Kunstflugweltmeisterschaften teilnehmende DDR-Mannschaft schilderte: „Über den äusseren Ablauf der III. In-
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ternationalen Kunstflugweltmeisterschaft 1964 habe ich bereits am 14. d.M. berichtet und dabei u.a. auch auf die peinliche Lage hin-gewiesen, in die das Ansehen Deutschlands geraten ist, weil die BRD lediglich mit einem einzigen Bewerber vertreten war, während - mit Ausnahme der Südafrikanischen Union - alle übrigen 9 Teil-nehmerländer mit zahlenmässig grossen Mannschaften, - die SBZ sogar mit 6 Kunstfliegern - in Erscheinung traten... Bereits Wochen vor Beginn der Weltmeisterschaft hatte ich mit den spanischen Veranstaltern Vorbesprechungen mit dem Ziel aufgenommen, bei der Austragung der Weltmeisterschaft das Hissen der SBZ-Spalterflagge und das Abspielen der sogenannten Becher-Hymne zu verhindern. Ich wurde bei diesen meinen Bemühungen von der Botschaft Madrid nachhaltig unterstützt und konnte schliesslich er-reichen, dass meinem Wunsche Rechnung getragen wurde. Die Veranstalter zeigten schliesslich bei der zwei Wochen währenden Meisterschaft neben der Flagge der internationalen FAI nur die spanischen Nationalfarben. Das Hissen anderer Nationalflaggen unterblieb... Ferner hatte ich bei der verantwortlichen Leitung der Weltmeisterschaft erreicht, dass in den gedruckten Programmen die ursprünglich (siehe Anlage A) vorgesehenen Bezeichnungen „Alemania Oriental‟ (für die SBZ) und „Alemania Occidental‟ (für die BRD) ersetzt wurden durch die blosse Nennung der beiden deut-schen Clubs, also (für die SBZ) „Deutscher Aero-Club Neuenha-gen‟ und „Deutscher Aero-Club Frankfurt‟ (für die BRD) (siehe An-lage B). Damit war auch hier die von der SBZ gewünschte Be-zeichnung „DDR‟ vermieden worden. Den gleichen Erfolg konnte ich bei der hiesigen Presse erreichen. Sie berücksichtigte meinen Wunsch und vermied bei ihren zahlreichen Tagesveröffentlichun-gen geflissentlich die Verwendung der Bezeichnung „DDR‟ für die Sowjetzone...
Bei der offiziellen Eröffnung der Weltmeisterschaft am darauffol-genden Tag, an der ich gemeinsam mit dem deutschen Militäratta-che in Madrid, Herrn Oberst Schwarz, teilnahm, marschierten die einzelnen Mannschaften nach Teilnehmerländern gruppiert auf dem Flugplatz Sondica auf. Dabei wurde durch den Lautsprecher der einzige Bewerber der Bundesrepublik, Herr Greb, mit der Be-zeichnung „Aero-Club Frankfurt, Alemania‟ und sodann die SBZ-Mannschaft mit der Bezeichnung „Aero-Club Neuenhagen, Alema-nia‟ aufgerufen. Jeder aufgerufenen und sodann aufmarschie-
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renden Mannschaftsgruppe trug ein in baskische Volkstracht ge-kleidetes Mädchen ein Schild mit der entsprechenden Landesbe-zeichnung voran. Auf dem Schild des Frankfurter Teilnehmers Greb stand „Deutscher Aero-Club, DAC, Frankfurt‟, das Schild der SBZ-Equipe war mit der Bezeichnung „Deutscher Aero-Club Neu-enhagen‟ versehen. Die SBZ-Mannschaft hatte jedoch - zuvor un-bemerkt - zwischen den Worten Aero-Club und Neuenhagen die 3 Buchstaben DDR einfügen lassen. Als ich dies sah, legte ich beim verantwortlichen spanischen Leiter der Veranstaltung, dem Luft-waffenoberst Serrano, gegen diese Bezeichnung sofort Protest ein und zog mich in den Hintergrund zurück. Da jedoch auf dem Schild des Frankfurter Aero-Clubs die Abkürzungsbuchstaben „DAC‟ hin-zugefügt waren, entstand nach aussen hin der Eindruck, als wären sowohl die Buchstaben „DDR‟ (auf dem Schild der SBZ-Mannschaft) nur eine Abkürzung der jeweiligen Clubbezeichnung. Trotzdem zog ich meinen Protest nicht zurück und nahm während der weiteren Veranstaltung nicht mehr auf der Ehrentribüne Platz, sondern bewegte mich als privater Besucher nur noch auf dem Flugfeld selbst.“3)
Selbst einem auch amüsante Situationen gewohnten Historiker fällt es schwer, sich das Bild auszumalen: Der Konsul, der die Tribüne meidet und über das Flugfeld spaziert, um so namens seiner Re-gierung Protest gegen das Franco-Regime kundzutun, weil es die Buchstaben „DDR“ übersah. Und man fragt sich: War das jemanden wenigstens aufgefallen war?
Als nächstes signalisierte der Konsul nach Bonn, dass die DDR-Kunstflieger – zum großen Teil sicher NVA-Angehörige – politisch ir-reführend informiert worden waren: „In den zahlreichen Einzelge-sprächen, die sich an diesem Abend zwischen den SBZ-Fliegern und den übrigen Gästen entwickelten, stellte sich heraus, dass den Fliegern vor ihrer Abreise aus Mitteldeutschland Spanien wie folgt beschrieben worden sei: Ein Land mit allen Merkmalen einer fa-schistischen Diktatur... Der Alltag des spanischen Arbeiters gestaltet sich unter dem faschistischen Terror freudlos grau in grau.“4)
Das sah der Konsul – muss man dieser kritischen Bemerkung ent-nehmen – völlig anders. Was die Frage aufwirft: Existierte für die Bundesregierung damals keine faschistische Diktatur in Spanien?
Der Konsul hatte sich auch gezielt um die Freizeit der DDR-Piloten gekümmert: „Auf meine Anregung hin hatte ein Mitglied der hiesi-
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gen deutschen Kolonie die gesamte SBZ-Mannschaft zusammen mit dem Frankfurter Flieger Greb auf seine Segeljacht zu einem Ausflug auf hohe See eingeladen. Andere Kolonieangehörige hat-ten einzelne mitteldeutsche Flieger zu sich in's Haus gebeten oder ihnen in Autorundfahrten die Umgebung von Bilbao vorgeführt... Ich hatte den Eindruck... der eine oder andere der SBZ-Flieger hät-te sich gern dazu entschlossen, nicht mehr hinter die Demarkati-onslinie zurückzukehren, wenn es eine Lösung der Kernfrage ge-geben hätte: ‟Was geschieht dann mit der in der SBZ zurückge-bliebenen Familie?‟
Meines Erachtens wurde das eigentliche Ziel all meiner Bemühun-gen erreicht: den nach Bilbao gekommenen Brüdern ‟von drüben‟ ein wirklichkeitsgetreues Bild des freien Westens zu vermitteln...“5)
ANMERKUNGEN
1) Knaurs Lexikon, München 1991, S. 734
2) Model/Creifelds – Staatsbürger-Taschenbuch, München 1981, S. 904
3) Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, B 92 , IV-5-86/64 – Ber. Nr. 853
4) Ebenda
5) Ebenda
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Die Wahrheit über Kienbaum
Von GERT BARTHELMES
Als der langjährige finnische Staatspräsident Urho Kekkonen, von dem man weiß, dass er in seiner Jugend ein erfolgreicher Hoch-springer und 1924 sogar finnischer Meister war, im September 1977 der DDR einen Staatsbesuch abstattete, hatte er zuvor einen Wunsch geäußert, der zuvor und danach nie wieder auf dem Be-suchsplan eines Staatsgastes zu finden war: Er wollte die Sport-schule Kienbaum besuchen. Er nahm sie denn auch gewissenhaft in Augenschein und nannte sie nach einem Saunabesuch – die war übrigens ein Geschenk des finnischen Arbeitersportbundes - „her-vorragend“. Ich erwähne das nicht, weil ich meinen Bericht etwa mit einer illustren Gästeliste beginnen will, sondern um den un-übersehbaren Unterschied zu jener aus dem Jahr 1990 stammen-den und die „Verteufelung“ der Sportschule einleitenden Bemer-kung des westberliner Leistungssportchefs Baumert transparent zu machen: „Unsere Sportler trainieren nicht, wo sich die Füchse Gute Nacht sagen!“
Die Wahrheit über Kienbaum ist leicht zu beschreiben. Auf dem einstigen Mühlengelände hatte man nach dem ersten Weltkrieg das Armenhaus der Gemeinde Kienbaum eingerichtet. Die Nazis nutzten das Gebäude als Munitionsfabrik und nach 1949 richtete die Regierung der DDR dort ein Gästehaus ein, weshalb man ne-ben Kekkonen noch viele andere berühmte Namen nennen könnte: Anna Seghers, Martin Andersen-Nexö, Johannes R. Becher, Hanns Eisler. Die beiden letzteren darf man wohl heute nur mit Zu-rückhaltung erwähnen – was allerdings nicht für die „Beiträge“ gilt -, weil sie unter dem Dach dieses Hauses und auf dem See vor der Haustür die Nationalhymne der DDR dichteten und komponierten.
Als die DDR 1951 die Weltfestspiele ausrichtete, suchte man ver-zweifelt nach einem Quartier für die ausländischen Athleten. Die Regierung half aus – und zum Dank „okkupierte“ der Sport das Gästeheim. Eines Tages zog Heimleiter Wacker aus und der un-vergessene „Wastel“ Wenzel übernahm das zur Sportschule mu-tierte Objekt. Ihm folgte Günter Harzdorf und am 1. Juli 1977 über-nahm ich die Leitung. Verabschiedet wurde ich am 31.12.1990 und dem halbwegs Eingeweihten muss ich diesen Termin nicht weiter
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ausdeuten. Vielleicht gehört auch noch zur Geschichte, dass der damalige DTSB-Präsident, der ehemalige Bobfahrer Martin Kilian und seine rechte Hand Jochen Grünwald bereits am 16. Oktober entschieden hatten, die Schule zu verkaufen. Was ausgerechnet den Mitautor des Einigungsvertrages Schäuble bewog, elf Tage später anzurufen und alle Verkaufsverhandlungen zu stoppen, ist nie bekannt geworden. Am 12. Dezember 1990 begann das „Not-programm“ mit der Entlassung von 200 der 240 Mitarbeiter.
Einige Zahlen, die die Dimension der Anlage in der „Füchse-Gute-Nacht“- Gegend deutlich machen: Das Gelände umfasst knapp 56 Hektar und bot 330 Athleten Unterkunftsmöglichkeiten. Es gab seit 1963 eine große Spielhalle (54 x 24 m) und seit 1971 eine kleine Spielhalle (30 x 15 m). Im gleichen Jahr wurden in Betrieb genom-men: eine Turnhalle (48 x 24 m), eine Schwimmhalle (36,70 x 30,75 m), der Kraftraum B (12 x 12 m), die Laufhalle (180 x 24 m) mit einer Rundbahn und sieben Geraden und ein Bootshaus. Be-reits seit 1952 wurde ein Sportplatz genutzt, dessen Anlagen 1968 modernisiert wurden (Kunststoffbahn usw.) und – einigen Histori-kern wird es die Sprache verschlagen – ein Tennisplatz, der 1989 ebenfalls mit Kunststoff belegt wurde. Der Kraftraum A maß 18 x 24 m und war 1963 in Betrieb genommen worden. Die 7 Meter ho-he Werferhalle (30 x 10 m) bot den Speerwerfern Trainingsmög-lichkeiten mit einem 28 m langen Anlauf und verfügte über drei Auswürfe Diskus- oder Hammerwerfer. In den Hochzeiten der Sportschule kam 1986 Kienbaum II hinzu: Ballspielhalle, Athletik-halle, zwei Krafträume, Leichtathletikanlage mit vier Tartanrund-bahnen. Dass seit langem auch ein Hockeyplatz zur Anlage gehör-te, verdient angesichts der angeblich unterdrückten Sportarten be-achtet zu werden. Die Unterbringung der Athleten geschah vor al-lem in Pavillons, deren Baujahre zusätzliche Auskünfte über die Geschichte geben: Pavillon 1 stammte aus dem Jahr 1926 und ver-fügte über 21 Betten, Pavillon 2 (1949) bot 10 Athleten Platz, Pavil-lon 3 (1949) verfügte über 11 Betten, Pavillon 4 (1932) über 8, Pa-villon 5 (1963) über 22 und Pavillon 6 (1963) über 24, 1985 war ein Internat II errichtet worden, mit 200 Schlafplätzen, 6 Fernsehräu-men, 4 Klubräumen und einen Freizeitspielraum.
Hinzu kam der Kultur- und Schulungsbereich, der zwei Asphalt-kegelbahnen zu bieten hatte, einen Tanzsaal für 180 Gäste und ei-nen Kultursaal für 300 Personen. Seit 1970 bot das erste Gebäude
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für die Sportmediziner von der Unterwassermassage bis zum Zahnröntgengerät viele Voraussetzungen.
Zu zahllosen Gruselstorys animierte die Unterdruckkammer. Im Vorfeld der Olympischen Spiele im 3000 m hoch gelegenen Mexiko-Stadt, kam das Höhentraining endgültig in Mode. Simpel erklärt, ist in dieser Höhe die Luft dünner und die den Sauerstoff durch die menschliche Blutbahn transportierenden roten Blutkörperchen, demzufolge nicht zahlreich genug. Bei längerem Aufenthalt in sol-cher Höhe vermehrt sie der Organismus und sorgt dafür, dass die Athleten nach ihrer Rückkehr in die „Tiefe“ über mehr „Sauer-stofftransporter“ in ihrem Körper verfügen, als der ständig auf nor-maler Meereshöhe Trainierende. Diese Erkenntnis ließ zahlreiche Höhentrainingslager entstehen, in Frankreich, Bulgarien und in den USA. Dazu gesellte sich Kienbaum, als die Idee entstand, eine „komfortable“ Unterdruckkammer zu konstruieren, in der bis zu 30 Athleten trainieren konnten. Die Baupläne stammten vom Präsi-denten der DDR-Bauakademie Werner Heinisch – von Haus aus ein erfolgreicher Wasserballer – und als Bauleiter fungierte der frühere Spitzenschwimmer Horst Fritsche. Diese unterirdische Hal-le wurde vor dem Training „angefahren“, die Druckverhältnisse also wie in einer Höhe von 2500 bis 3000 m reduziert. Das dauerte so um 30 Minuten. Danach begaben sich die Athleten in eine Schleu-se, in der sie sich dem „Unterdruck“ anpassen konnten. Das dauer-te etwa 10 Minuten. Dann begannen sie mit dem Training. Die Leichtathleten und Skilangläufer benutzten die installierten Lauf-bänder, die Radrennfahrer die Ergometer und die Kanuten das Trainingsbecken in der untersten Etage der mehrstöckigen Anlage. In der Regel war ein Arzt in der Halle, der allerdings in all den Jah-ren nicht allzu viel zu tun hatte.
Um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, es handelte sich bei Kienbaum um eine bessere Kaserne, sei darauf verwiesen, dass das „gesellschaftliche“ Leben völlig normal war. Abends sah man die Athleten beim Kartenspiel oder anderem Zeitvertreib. Kinovor-stellungen waren ständig auf dem Programm, Schriftsteller lasen aus ihren neuen Büchern, Schauspieler, Maler, Wissenschaftler diskutierten mit den Athleten. Die Theke war von keiner Videoka-mera überwacht. Wer Alkohol trinken durfte, entschieden die Trai-ner und nicht der Zapfer. Im Frühjahr 1991 erschien in der längst eingegangenen „Super“-Zeitung der Beitrag eines DDR-Sport-
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journalisten mit dem reißerischen Titel „Kienbaum – Tempel der Lüste“. Ich habe zwar nie kontrolliert, wer in welchem Bett lag, aber die Geschichte war wirklich schlecht erfunden und sollte der Öffent-lichkeit weismachen, dass die Sportschule ein Sündenbabel war. Es lohnt nicht, darauf einzugehen. Die „Super-Illu“ aber erinnerte sich ein Dutzend Jahre später dieser Story und brühte sie wieder auf.
Was sich heute in Kienbaum tut, weiß ich nur vom Hörensagen. Ungeachtet der ablehnenden Haltung der Offiziellen des DSB ha-ben Verbände zum Beispiel die Leichtathleten, Turner, Kanuten und Hallenspielarten mit Erfolg auf Weiternutzung bestanden. Inzwischen wird Kienbaum als einzige zentrale Bundesleistungssportschule wei-tergeführt und ausgebaut.
Zuweilen allerdings muss es auch dafür herhalten, als unselige „Erblast“ geschmäht zu werden. Als in Paris unlängst die bundes-deutschen Medaillenbäume nicht in den Himmel wuchsen, stieß man in der ersten Treibjagd nach „Schuldigen“ auf – Kienbaum. Das abschließende Trainingslager dort habe vielen Athleten miss-fallen und ihre Form lädiert. Wie immer in solchen Fällen, waren Begründungen nicht gefragt.
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Jan Ullrich und sein Comeback
Von GUSTAV-ADOLF SCHUR
Es ist hinlänglich bekannt, dass ich jetzt Rentner mit gelegentlichen Nebenbeschäftigungen bin. Da sind „Aufträge“ der Kinder zu erle-digen und da ich in der DDR mehrere seriöse Berufe gelernt habe, bin ich in dieser Hinsicht gefragt. Dann wäre da noch der jährliche Ausflug mit Radsportfans zur Tour de France, der auch für mich seine Reize hat. In diesem Jahr ging es vor allem um Jan Ullrich und sein Comeback. Der Ex-Rostocker, der bekanntlich jetzt in der Schweiz lebt, hatte einiges hinter sich und nun also einiges vor sich. Hinter sich einen bewundernswerten Aufstieg, dessen Krö-nung der erste deutsche Toursieg 1997 war. Dann kamen Versu-che, diesen Sieg zu wiederholen und dann ein Dopingvorfall, den ich persönlich heute noch zumindest mysteriös nennen möchte. Ullrich besucht eine Discothek, fremde „Freunde“ überreden ihn, zwei Pillen zu nehmen und am nächsten Tag kommen UCI Doping-fahnder des Weges und diagnostizieren einen positiven Befund. Es folgte die obligatorische Sperre und die Trennung von dem Renn-stall, der ihn lange als Galionsfigur genutzt hatte. Und nun versuch-te Ullrich in die Weltspitze zurückzukehren. Die Prognosen reichten von „aussichtslos“ bis „siegesgewiss.“ Die Autoren dieser Progno-sen hatten meist nie eine Stunde im Rennsattel verbracht und ga-ben sich auch nicht allzu viel Mühe, die Situation gewissenhaft zu analysieren. Da war mit Lance Armstrong immerhin ein Favorit, der nicht nur die Tour viermal in Folge gewonnen hatte, sondern sich auch auf eine sorgfältig ausgesuchte Mannschaft stützen konnte, während Jan Ullrich in einem Team fuhr, das erst in letzter Minute zugelassen worden war, weil es lange durch eine unsichere wirt-schaftliche Lage belastet war.
Man kennt meine Meinung zu Profirennen und ich habe – wenn auch nur als Zuschauer – oft genug erlebt, dass Sponsoreninteres-sen sportliche Ambitionen in den Schatten stellten. Das Duell Arm-strong-Ullrich des Jahres 2003 war eine Sternstunde des Rad-sports, wenn man von vielen Kommentaren absieht, die es beglei-teten. Ich staune immer, was Reporter in welchen Situationen für Entdeckungen machen. Es wird den Rennfahrern empfohlen, als nächstes dies oder jenes zu tun und kaum jemand bedenkt, wie
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viel Faktoren ein Etappenrennen prägen. Zum Beispiel: Niemand kann jeden Tag in der gleichen Verfassung sein. Wer das voraus-setzt, sollte über ein Roboterrennen berichten. Das tägliche menschliche Leistungsvermögen ist sowohl von physischen als auch von psychischen Voraussetzungen abhängig. Kein Rennfah-rer wird am Start erscheinen und den Journalisten mitteilen: „Ich habe beschissen geschlafen“, aber es kann durchaus sein, dass er schlecht geschlafen hat und er ständig grübelt, wie es dazu ge-kommen sein mag. Misslingt ihm dann noch eine Aktion, wird sein Seelenzustand noch negativer. Kurzum: Auch bei der Tour de France steigt niemand aufs Rad und fährt den anderen davon, wenn er per Kopfhörer dazu aufgefordert wird – schon weil die an-deren auch noch da sind und auch Hörmuscheln im Ohr haben.
Das alles bedacht, blieben zwei großartige Rennfahrer, die sich un-terschiedlich aber gründlich vorbereitet hatten. Der eine wollte sei-nen fünften Sieg und der andere der Welt beweisen, dass er wie-der „da“ war. Dass sie sich nicht aus den Augen ließen, lag auf der Hand. Dass Armstrong nach vier Etappen 38 s Rückstand hatte, war dem Mannschaftszeitfahren zuzuschreiben. Ullrich konnte mit seinem Team mehr als zufrieden sein. Auf dem Weg nach L‟Alpe d‟Huez litt Ullrich unter Magenproblemen – was nichts „entschuldi-gen“, sondern nur meine These erhärten soll, dass der Rennfahrer täglich von seiner Psyche und seiner Physis abhängig ist – und verlor 92 s. Der so entstandene Rückstand maß 2:10 min und beim 47-km-Einzelzeitfahren nach Cap‟Découverte reduzierte Ullrich sie mit einer Glanzleistung um 96 s auf 34 s. Die Schreihälse an den Mikrofonen prophezeien ihm den Gesamtsieg mit folgender Milch-mädchenrechnung: Das zweite Zeitfahren führt über 49 km und beschert demzufolge nach Adam Riese mindestens 100 s, womit alles klar wäre. Aber Adam Riese fuhr nicht mit. Ullrich riskierte bei dem Einzelzeitfahren alles, stürzte und der Abstand betrug wieder 116 s. Dass die Straße vom Regen nass war, wurde ins Feld ge-führt, aber schließlich fuhren alle auf nasser Straße. Wieder erfuhr man, was alles hätte geschehen können, wenn Ullrich nicht ge-stürzt wäre, nur interessierte das eigentlich niemanden. Wenn Ull-richs Mannschaft beim Mannschaftszeitfahren schlechter abge-schnitten hätte, hätte eine Differenz von drei, vier oder sechs Minu-ten entstehen können und alle weiteren Spekulationen wären oh-nehin müßig gewesen.
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Zusammen mit einer stattlichen Schar von Radsportfans aus den neuen Ländern erlebte ich einige der entscheidenden Etappen und wiederhole mein Urteil: Armstrong und Ullrich sind zwei großartige Rennfahrer und ihr Duell wird in die Geschichte des Radsports ein-gehen.
Es könnte allerdings geschehen, dass es nicht lange dauert und das Duell gerät in Vergessenheit. Bei 90 Austragungen der Tour de France hat es schon viele Duelle gegeben, von denen man glaub-te, dass sie nie in Vergessenheit geraten würden...
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Eine Lektion „Aufarbeitung“
Von HANS-JOACHIM BENTHIN
Ich hatte an dieser Stelle in Heft 14 (2001) über das Brettsegeln in der DDR geschrieben, auch über die vor allem wirtschaftlichen Probleme mit dieser neuen Trendsportart in der DDR und wie wir sie zu lösen versuchten, indem volkseigene Kombinate ermuntert wurden, die nötigen „Bretter“ herzustellen. Es wäre verständlicher-weise undenkbar gewesen, dass jemand die DDR-Regierung hätte bewegen können, aus den schmalen Devisenvorräten Mittel für den Kauf von Surfbrettern zur Verfügung zu stellen. Ein Umstand, der sich heutzutage natürlich glänzend eignet, beliebig Vorwände für die angeblichen Ressentiments des DDR-Sports gegen das Brettsegeln zu erfinden.
Wenn ich mich zum gleichen Thema noch einmal zu Wort melde, hat das triftige Gründe, die damals nur nebenbei in einer redaktio-nellen Vorbemerkung erwähnt worden waren: Am Institut für Sportwissenschaft/Zeitgeschichte des Sports der Universität Pots-dam arbeitete man an einem Forschungsprojekt „Konfliktlinien im DDR-Sport – zwischen Herrschaft und Eigensinn“.
Eines der Themen dieses Vorhabens, dessen Absichten und Ziele ohne Erläuterung zu erahnen sind, galt dem Forschungsvohaben „Brettsegeln in der DDR“ und war von René Wiese und Ronald Huster erarbeitet worden. Sie hatten ihre Arbeit der Jahrestagung der Sporthistoriker 2001 in Potsdam vorgestellt und waren in der anschließenden Diskussion von Klaus Huhn ermuntert worden, vor der Beendigung des Projekts vielleicht doch noch Zeitzeugen zu befragen, die fundierte Auskünfte geben könnten. Dabei nannte er auch mich als das im Bund Deutscher Segler für Brettsegeln zu-ständige Präsidiumsmitglied. Nach dem Erscheinen meines Arti-kels in den „Beiträgen“ kam es zu einer mehrstündigen Ausspra-che, an der außer den beiden Autoren und mir auch der frühere Vorsitzende der Zentralen Prüfungskommission des Bundes Deut-scher Segler, Joachim Nolte, teilnahm. Wir hielten den Wortlaut der Unterhaltung auf Tonband fest, was sich im Nachhinein als nützlich erwies.
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Diese relativ lange Vorbemerkung war vonnöten, weil sie die Di-mension des Projekts „Aufarbeitung des DDR-Sports“ transparen-ter macht.
Gegenstand der Debatte war also die bereits in Potsdam vorge-stellte Arbeit von Wieser/Huster. Schon deren sechster Satz laute-te: „Brettsegeln – wie das Windsurfen in der DDR offiziell bezeich-net wurde – steht exemplarisch für den Umgang mit einer Trend-sportart westlicher Herkunft durch das etablierte DDR-Sportsystem. Hieran lässt sich einerseits die Differenziertheit und Vielschichtig-keit des Alltagssports in der DDR erkennen. Andererseits wird aber auch die Problematik der Integration in ein starr vorgezeichnetes Sportsystem deutlich.“ Selbst der Laie dürfte erkennen: Damit wa-ren bereits Segel gesetzt und die Kompasszahl vorgegeben. Er-bracht werden sollte der Beweis, dass die DDR aus „ideologischen“ und „politischen“ Motiven das Brettsegeln ablehnte. Tatsächlich spürten wir denn auch während der Unterhaltung, dass die Autoren letztlich nur Zeugen suchten, die „Stoff“ für ihre Schablonen liefern konnten.
Das von den „Aufarbeitern“ so gern strapazierte DDR-System, die Sportarten in zwei Gruppen einzuteilen, die – nach den gegebenen ökonomischen Möglichkeiten der DDR - unterschiedlich gefördert wurden, erwies sich natürlich auch bei der Einordnung des Brett-segelns als „nützlich“: „Trotz der schon vorhandenen gut funktionie-renden Infrastruktur für das Segeln, wurde das Brettsegeln nicht in die leistungssportliche Förderung einbezogen. Die Beeinträchti-gung des Kräftepotentials des DDR-Leistungssports stand auf dem Spiel. Die Schaffung eines Systems aus Sichtung/Auswahl, TZ, KJS, Sektionen in SC und die Ausbildung von Trainern an der DHfK erschien für diese Sportdisziplin zu kostspielig.“
Diesem Satz folgte ein Quellenhinweis auf unser Gespräch. Wir hatten nie eine Silbe darüber verloren, dass eine „Beeinträchtigung des DDR-Leistungssports auf dem Spiel stand“, aber bei dem Le-ser der Arbeit wird nun dieser Eindruck vermittelt. Das erwähnte System schuf bekanntlich die Voraussetzungen für den Aufstieg des DDR-Sports und konnte nur funktionieren, wenn es konse-quent praktiziert wurde. Studienplätze an der DHfK waren trotz der imponierenden Kapazität – auch im Vergleich zu den heute existie-renden Einrichtungen – knapp und sie um des Brettsegelns willen zu erhöhen, hätte als absurde Forderung erscheinen müssen.
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Im Absatz „Misere Nachwuchsleistungssport“ wurde ich zitiert: „‚Wo bleiben die jungen Talente?‟ Diese Frage beschäftigte den Ver-band nach den DDR-Meisterschaften 1986. Offensichtlich hatte dieser die Entwicklung in diesem Bereich vernachlässigt. Nach Einschätzung des stellvertretenden Generalsekretärs des BDS, Hans Benthin, war der Kinder- und Jugendsports allgemein im BDS verbesserungswürdig: ‚Auf diesem Gebiet ist noch längst nicht al-les Gold, was glänzt... Dabei kennt der Verband seine von der Füh-rungsspitze des DDR-Sports angetragene Hauptaufgabe. Denn auch unser Verband muss dem Gesamtanliegen des DTSB, mehr Bürger – und ganz besonders Kinder und Jugendliche – für eine aktive Sportbetätigung zu gewinnen, nachkommen.“
Wer aus dieser sachlichen selbstkritischen Analyse – wohlgemerkt ein Zitat aus dem Jahre 1986 – eine Ignoranz gegenüber dem Brettsegeln ableiten will, muss viel Phantasie in Spiel bringen, wie der Leser mühelos selbst feststellen kann.
In der Urfassung fand sich folgende These: „Das Interesse vieler Freizeitsurfer an dieser Sportart entsprang auch einem besonderen Charakterbild, das den Sportpolitikern aus ideologischer, sicher-heitspolitischer und sozioökonomischer Sicht ein Dorn im Auge war... Bei den Einbindungsbestrebungen des DTSB... kamen des-halb neben sportorganisatorischen Maßnahmen wie der Mitglied-schaft in den Segelsportsektionen der Betriebssportgemeinschaf-ten (BSG) und dem Aufbau von Verbands- und Wettkampfstruktu-ren, auch verwaltungstechnische Maßnahmen des Staates zum Tragen, wie die Registrierung im DDR-Yachtregister und dem Ab-legen der Zusatzprüfung ‚Brettsegeln.‟“
Wir machten die beiden Wissenschaftler zum Beispiel darauf auf-merksam, dass die „Zusatzprüfung“ allein dem Ziel diente, den Brettseglern die nötigen Kenntnisse über das Verhalten auf Ge-wässern zu vermitteln und die Registrierung dem internationalen Reglement entsprach.
In der endgültigen Fassung der Arbeit las man: „Da der DTSB kei-ne direkte Eingriffsmöglichkeit zur Durchsetzung seiner Ziele hatte, sollten diese mit administrativen Mitteln durchgesetzt werden. Bei den Einbindungsbestrebungen des DTSB wurden deshalb neben sportorganisatorischen Maßnahmen, wie der Mitgliedschaft in den Segelsportsektionen der Betriebssportgemeinschaften (BSG) und dem Aufbau von Verbands- und Wettkampfstrukturen, auch verwal-
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tungstechnische Maßnahmen ergriffen, wie die Registrierung im DDR-Yachtregister und das Ablegen der Zusatzprüfung ‚Brettse-geln‟.“
Man blieb also bei seinen Behauptungen, deren Dürftigkeit auch an Kleinigkeiten sichtbar wird. Der Sport wurde in der DDR bekannt-lich in Betriebssportgemeinschaften (BSG) und Sportgemeinschaf-ten (SG) betrieben. Die Brettsegel-Forscher verzichteten kurzer-hand auf die Sportgemeinschaften, weil sich der Begriff „Betriebs-sportgemeinschaft“ für ihre Absichten besser eignete.
Schwierig erschien den beiden Autoren, die Legende von der Bootsregistrierpflicht als DDR-Erfindung darzustellen, schon weil die Regeln des Internationalen Segelverbandes IYRU (International Yacht Racing Union) diese Registrierung vorschrieben. Um dem Vorwurf der Tatsachenmanipulation zu entgehen, vermerkten sie zur DDR-Sportbootanordnung und jener schon erwähnten Prüfung in einem Nebensatz: „Dies ist ein Aspekt, der durch verschiedene Staaten ähnlich gehandhabt wird, um die Ordnung und Sicherheit aller Wasserverkehrsteilnehmer zu gewährleisten.“ Auf Ordnung und Sicherheit auf den Wasserstraßen legen meines Wissens alle Länder Wert...
Auf zahllose andere Behauptungen einzugehen, würde diesen Bei-trag extrem verlängern. Zwei Kostproben noch. Im Surfen „kam die ungezwungene amerikanische Lebensweise (American way of life) verstärkt zum Ausdruck, welche von den DDR-Ideologen abgelehnt wurde... Die freiheitsvermittelnden Werte dieser Sportart waren mit den sozialistischen Ideen nicht vereinbar...“
Möglicherweise spekulierten die Autoren darauf, dass der Leser dieser Zeilen sie schon vergessen hatte, als sie einen Brief des Staatssekretärs für Sport, Günter Erbach, aus dem Jahre 1986 zi-tierten, in dem der sich zu den entstandenen „Surfschulen“ äußer-te: „In einigen Bezirken der DDR sind in Folge des praktischen Be-dürfnisses sogenannte ‚Surfschulen‟ entstanden... Die Gewerbe-genehmigungen... wurden erteilt... Ein Einfluß durch Organe des Sports... ist nicht ausgeübt worden.“
Und schließlich wurde noch das ND zitiert: „Brettsegeln ist eine Sportart, die sich nur durch kapitalistische Profitgier entwickeln konnte.“ Wann das wo gestanden hatte? Die Fußnote verzichtet auf die in solchen Fällen übliche Quellenangabe und nennt den Beitrag eines gewissen Fabritius, den dieser im altbundesdeut-
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schen Magazin „Surf“ veröffentlicht hatte. Nicht einmal die Jahres-zahl der Quelle anzugeben, hielten die Autoren für nötig. Es illus-triert die Methodik ihrer Arbeit.
Die Eppelmann-Kommission, die noch immer den „Unrechtsstaat-DDR“ und die „SED-Diktatur“ erforschen lässt, dürfte neue Förder-mittel ausreichen...
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Die Misere des Amateurboxsports
Von KARL-HEINZ WEHR
Nach jahrelangen internen Auseinandersetzungen hat die Leitung des Deutschen Boxverbandes (DBV) mit dem Hamburger Profi-Boxstall „Universum“ einen Vertrag über eine künftige Zusammen-arbeit abgeschlossen. Damit wurde Deutschlands Olympia-Boxern der Weg zu den Profis geöffnet. Der Vertrag fand die Billigung durch den Kongress des DBV in Berlin, was Verbandspräsident Paul Forschbach zu der Äußerung veranlasste: „Das ist ein Mei-lenstein in der Geschichte unseres Verbandes. Nur so können wir unser olympisches Boxen wieder stärker in die Medien bringen und für Sponsoren attraktiver machen als bisher.“
Beim Lesen der Artikel in der Augustausgabe des „Boxsport“ über das Verhältnis Profis - Amateure wurde ich an diese Worte erin-nert. Schon in einem in der November-/Dezemberausgabe 2000 von „Boxing spezial“ (http:www.boxingspecial.org) veröffentlichten Artikel wurde zu besagtem Problem Stellung genommen: „Es häu-fen sich die Meldungen, dass nationale Verbände die Nähe zu den Profis suchen, um mit ihnen gemeinsame Veranstaltungen zu or-ganisieren. Das geschieht zumeist mit dem Ziel der finanziellen Absicherung. Doch begeben sich diese Verbände sehr schnell in die Gefahr, der weiteren Entwicklung des Amateurboxens zu scha-den, denn bei diesen Veranstaltungen kommen verständlicher-weise nur die besten Amateure zum Einsatz. Ihnen wird damit der Übergang ins Profilager erleichtert. Die große Masse unserer Ama-teurboxer aber wird weiter vor leeren Hallen und unbeachtet von der Öffentlichkeit und den Medien boxen. Sie werden die Lust an unserem Sport verlieren. Auch das teilweise schon praktizierte ge-meinsame Training und Sparring dient zwar auf den ersten Blick der Leistungssteigerung der besten olympischen Boxer, doch schafft es unter den angestrebten Bedingungen gleichzeitig die Vo-raussetzung für einen nahtlosen Übergang vom Amateur zum Profi und dient somit in allererster Linie der Profiorganisation. All das birgt die große Gefahr in sich, dass das Amateurboxen in zuneh-mendem Maße zur Nachwuchsbasis des Profisports verkommt.“
Dass dem so ist, hat Vizepräsident Kienast in einem Interview, das er dem „Boxsport“ nach den Weltmeisterschaften in Bangkok ge-
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währte, freimütig zugegeben. Auf die Feststellung „Das Traurige an der Sache ist: je mehr gute Boxer ihr habt, desto mehr werden nach Olympia Profis“, antwortete Kienast: „Ja, nach Olympia wird sicherlich der eine oder andere wieder wechseln, was meiner Mei-nung nach aber auch gar nicht so schlimm ist. Das ist normal(!), daher müssen wir uns nach dieser Olympiade neu orientieren und neue Leute zu uns holen.“ Das bedeutet also, dass dieser Wechsel der Amateure zu den Profis billigend in Kauf genommen wird. Mehr noch, dies ist wohl Teil der vertraglichen Festlegungen.
Wenn wir also die Worte von Peter Kienast richtig deuten, wird der Verband die neuen Leute aus dem Nachwuchsbereich holen. Die leistungsstärksten Jugendlichen trainieren zum größten Teil an den Kinder- und Jugendsportschulen. Die jungen Boxer werden dann vier Jahre bei den Amateuren weiterentwickelt und nach den Olympischen Spielen an die Profis „abgegeben”. Da aber den Profis vorerst eine Teilnahme an den Olympischen Spielen verwehrt ist, werden die Kinder- und Jugendsportschulen praktisch zur Ausbildungsbasis für den ProfiBoxsport! Möglicherweise läuft die Entwicklung aber auch darauf hinaus, dass - wie schon seit geraumer Zeit angedeutet - den Profis die Teilnahme an den Olympischen Spielen ermöglicht wird, was ja durch vielfältige Kontakte zwischen den Amateuren und den Profis - auch auf höchster Ebene - vorbereitet wird.
Einen ersten ernstzunehmenden Versuch in diese Richtung gab es beim AIBA-Kongress 2002 in Kairo. Das Exekutivkomitee der AIBA hatte bereits vorher, auf seiner Sitzung im Juni 2002 in Kasachstan, der Neufassung von Artikel XVIII (Zulassungsbestim-mung) zugestimmt.
Der Kongress nahm diesen neuen Artikel an - angeblich ohne Gegenstimme. Die Neufassung des Artikels hätte praktisch die Teilnahme von Profis an Amateurboxkämpfen und damit auch an den Olympischen Spielen ermöglicht. Der entschiedene Protest des Präsidenten des Boxverbandes der USA veranlasste allerdings das Büro der Vizepräsidenten der AIBA im Juli 2003 in Bangkok, den neugefassten Artikel sofort wieder zurückzuziehen.
Fast zeitgleich mit den enthusiastischen Äußerungen des DBV-Präsidenten Paul Forschbach zur Zusammenarbeit mit den Profis meldete sich AIBA-Präsident Anwar Chowdhry aus Pakistan zu Wort. Von ihm muss man wissen, dass er jahrelang alle Vorschlä-
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ge zur Modernisierung des Amateurboxens systematisch blockiert hat, was dazu führte, dass das olympische Boxen seine Populari-tät verlor. Er und sein augenblicklicher Generalsekretär verhandel-ten auf „hoher Ebene“ mit den Profis, vertreten durch Herrn Sulei-man. Das Ergebnis war eine Vereinbarung zwischen der AIBA und dem WBC, die außer der Festlegung über eine Zusammenarbeit auf medizinischem Gebiet wenig Konkretes, dafür aber eine ganze Reihe mehrdeutiger Formulierungen enthält. Natürlich gab es seit längerem in Kreisen der Amateurboxer auch das Bestreben nach einem Dialog mit den Profis. Dabei sollten Themen von gegenseiti-gem Interesse diskutiert werden (siehe ROM-Deklaration 1995). Derartige Interessen bestanden zum Beispiel an Ausgleichzahlun-gen der Profis für Amateure, die ins Profilager wechseln, an der Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes, am Austausch von Erfahrungen der Trainer, der Ausbildung und der Weiterbildung der Kampfrichter und an Problemen der Verteidigung des Boxsports gegen alle Angriffe. Es war die Forderung erhoben worden, nicht nur mit einer der fünf ernstzunehmenden Profi-Organisationen, sondern mit allen zu verhandeln. Vor allem sollte eine mögliche Zusammenarbeit nicht auf der Basis einzelner „Profi-Boxställe“ organisiert und in jedem Fall die Selbständigkeit der Amateurboxorganisation gewahrt werden. Chowdhry und sein Exe-kutivkomitee gingen in ihren Überlegungen wohl davon aus, dass sich die von ihnen zu verantwortenden Probleme im Amateurlager durch eine Zusammenarbeit mit den Profis automatisch lösen wür-den. Dieser gleiche Herr Chowdhry wandte sich anlässlich der Weltmeisterschaften in Bangkok, die sich zu einer reinen Chaos-Veranstaltung entwickelten, an seine Getreuen im Büro der Vize-präsidenten und verkündete folgende bemerkenswerte Botschaft: Das Amateurboxen gehöre weiter zum Olympischen Programm, doch habe ihn das IOC wissen lassen, dass alle vier Jahre über-prüft werde, ob diese Zugehörigkeit noch ihre Berechtigung hat. Hier nun wurde Herr Chowdhry noch deutlicher und erklärte, IOC-Würdenträger hätten ihn wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass es für das Überleben im Olympischen Programm entschei-dend sei, dass sich die AIBA von den Profis fernhält.
Die sich für die nationalen Verbände daraus ergebenden Konsequenzen wurden allerdings von der AIBA bisher nicht publik gemacht! Wie notwendig ein Machtwort der AIBA in dieser Hinsicht
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ist, mögen die folgenden zwei Auszüge aus Vertragsentwürfen zwischen Profis und Amateurverbänden verdeutlichen: “...der (Amateurboxverband) wird dem (Vertreter der Profi-Organisation) im Bereich der Nachwuchsgewinnung durch ständige Informationen über die sportliche Entwicklung nationaler Boxer mit internationaler Perspektive sowie durch Informationen über die eigene Beurteilung der Fähigkeiten bei der Herstellung von Kontaken zwischen der (Profiorganisation) und Amateurboxern, die mittel- oder langfristig Berufssportler werden wollen, behilflich sein.”
“Im Rahmen der Möglichkeiten wird der (Amateurboxverband) des weiteren im Rahmen seiner internationalen Aktivitäten bestrebt sein, die Tätigkeit des (Profiorganisation), insbesondere in den Bereichen der Nachwuchsgewinnung bzw. -sichtung, zu unterstützen und zu fördern.”
Bedarf es nach diesen Formulierungen weiterer Beweise dafür, dass der Amateurboxsport zur Nachwuchsbasis für den bezahlten Sport degradiert worden ist? Mit dem zunehmenden Verwischen der Organisationsformen wächst die Gefahr, dass die Profis, die im Augenblick das Geld haben, den gesamten Boxsport unter ihre Führung bringen. Das aber könnte für den Boxsport das „Aus” als olympische Disziplin bedeuten.
Erfolgreiche “Betreuung” 1904
Auszug aus einem bei einem wissenschaftlichen Kongress 1905 vorgetragenen Bericht des Trainers des Olympiasiegers im Marathon Thomas Hicks bei den Olympischen Spielen 1904 in St. Louis..
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„Der Marathonlauf zeigte vom medizinischen Standpunkt deutlich, daß Drogen für die Athleten bei einem Straßenlauf von großem Nutzen sind. Zehn Meilen vor dem Ziel waren bei Thomas Hicks Anzeichen eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs zu bemerken. Als er um ein Glas Wasser bat, verweigerte ich es ihm; ich gestattete ihm lediglich, den Mund mit destilliertem Wasser auszuspülen. Er schien sich zu erholen bis sieben Meilen vor dem Stadion. In diesem Augenblick sah ich mich gezwungen, ihm ein tausendstel Gran Strychnin mit einem Eiweiß einzuflößen. Vier Meilen vor dem Ziel bat Hicks darum, sich hinlegen und ausruhen zu dürfen. Weil wir aus Erfahrung genau wußten, was passieren würde, wenn Thomas sich jetzt niederlegen würde, gaben wir dazu nicht die Zustimmung und empfahlen ihm vielmehr, im langsamen Schritt weiterzugehen. Als Hicks die 20-Meilen-Marke passierte, war sein Gesicht aschfahl, so daß wir ihm noch einmal ein tausendstel Gran Strychnin, zwei Eier und einen Schluck Brandy gaben. Außerdem rieben wir seinen ganzen Körper mit warmem Wasser ab, das wir in einem Boiler in unserem Automobil hatten. Nach diesem Bad erholte sich Hicks noch einmal. Die letzten beiden Meilen lief Hicks nur noch mechanisch - wie eine gut geölte Maschine. Seine Augen verloren jeden Glanz, das Gesicht war völlig blutleer, die Arme hingen schlaff herab, und Hicks vermochte kaum noch die Beine zu heben, die Knie wirkten völlig steif. Er war bei Bewußtsein, doch plagten ihn Halluzinationen. So wurde die letzte Meile zu einer einzigen Qual. Nachdem er noch zwei Eier zu sich genommen hatte, erneut gebadet worden war und einen zusätzlichen Schluck Brandy erhalten hatte, ging er mühsam die letzten beiden Hügel vor dem Ziel hinauf und schaffte es. Hicks verlor während des Rennens acht Pfund, aber nach einem ausgedehnten Nachtschlaf und einer guten Mahlzeit fand man zur großen Überraschung heraus, daß er die Hälfte der verlorenge-gangenen Pfunde bereits wieder zurückgewonnen hatte.“
Das Dopingopfer-Hilfegesetz
Das sogenannte Dopingopfer-Hilfe-Gesetz ist im Juni 2003 in Kraft getreten. Wir dokumentieren Vorgeschichte, Stationen des Ablaufs und ein erstes Fazit und haben diesen Zitaten
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nur den Hinweis hinzuzufügen, dass öffentlich-rechtliche BRD-Medien am Tage, da die Anmeldefrist ablief, in ihren Abendsendungen dazu aufriefen, die Ablieferung der Anträge nicht zu versäumen.
1) Merkblatt des Bundesverwaltungsamtes (August 2002)
Projektgruppe Hilfeleistungen für Dopingopfer
Hinweisblatt für das fachärztliche Gutachten
Die Antragsteller erhalten eine Hilfe nach dem Dopingopfer-Hilfegesetz (DOHG), wenn sie (neben anderen Voraussetzungen) durch eine ihnen bzw. ihrer Mutter verabreichte Dopingsubstanz einen erheblichen Gesundheitsschaden erlitten haben.
Die Gewährung einer Hilfe kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn die Antragsteller ihrem Antrag ein fachärztliches Gutachten beifügen, in dem Art und Ursache des erheblichen Gesundheitsschadens an-gegeben und begründet werden - sofern bekannt oder für den Fach-arzt anderweitig erkennbar - unter Angabe der verabreichten Do-pingsubstanz (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1 DOHG).
Zur Erstellung dieses Gutachtens möchten wir folgende ergänzende Hinweise geben:
Dopingsubstanzen im Sinne des DOHG (vgl. § 3 Nr. 1 des Ge-setzes) sind Wirkstoffe, die zur unphysiologischen manipulativen Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit den Stoffwechsel aktivieren sollten, das Muskelwachstum fördern sollten, die Her-ausbildung bestimmter Koordinationsfähigkeiten fördern oder die Wiederherstellungsvorgänge nach hohen Belastungen im Training und Wettkampf unterstützen sollten. Insbesondere gehören dazu anabole Steroide.
Erhebliche Gesundheitsschäden sind nach § 3 Nr. 2 DQHG solche, die zu schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen führen oder geführt haben.
Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere folgende Kriterien:
- Schwere der Schädigung
- Dauer der Schädigung
- eventuell notwendige Operationen
- Rückbildungsfähigkeit der Schädigung
- Auswirkungen auf die Lebensführung
- Arbeitsfähigkeit, Ausfallzeiten
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Das zu erstellende Gutachten sollte daher - wenn möglich - Ausfüh-rungen hierzu enthalten, wobei darauf hinzuweisen ist, dass die oben genannten Kriterien nicht abschließend sind.
Unerheblich ist es bei der Beurteilung des Gesundheitsschadens, ob dieser direkt auf der Dopingmittelverabreichung beruht(e) oder indi-rekt hervorgerufen wurde, z.B. aufgrund einer nur durch Dopingmit-tel ermöglichten Überanstrengung des Körpers - beispielsweise Wir-belsäulenschäden bei gedopten Gewichtheberinnen.
Ebenso ist es ohne Relevanz, ob der Gesundheitsschaden gegen-wärtig noch vorliegt oder Folgen hinterlassen hat. Ausreichend ist insoweit, wenn in der Vergangenheit ein erheblicher Gesundheits-schaden vorlag, so dass es einem Anspruch nicht entgegensteht, wenn z.B. der Schaden durch eine Operation behoben wurde oder anderweitig ausgeheilt ist.
Es können bzw. sollen mithin auch solche erheblichen Gesundheits-schäden im Gutachten aufgeführt werden, die nur indirekt auf der Dopingmittelverabreichung beruhen oder/und aktuell nicht mehr vorliegen.
Hinsichtlich der erforderlichen Ursächlichkeit der Verabreichung der Dopingsubstanz mit dem erheblichen Gesundheitsschaden ist § 6 Abs. 2 DOHG zu beachten: Danach genügt zur
Anerkennung eines erheblichen Gesundheitsschadens die Wahr-scheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs mit der Verab-reichung von Dopingsubstanzen. Die Wahrscheinlichkeit ist dabei dann gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursäch-lichen Zusammenhang spricht.
Beigefügt war dem Hinweisblatt das Formular eines „Fachärztli-chen Gutachtens“, dass an Herrn ORR Wöllgens PERSÖNLICH zu schicken war.
REAKTIONEN
1) Deutschland Archiv 4/2003
Ein Beitrag von Willi Knecht im „Deutschland-Archiv” mit dem Titel „Seltsame Suche nach Nutznießern des Do-pingopfer-Hilfegesetzes” dürfte als die fundierteste Kommentierung des Geschehens zu betrachten sein.
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Jahrelang vor und auch noch etliche Monate nach seiner Verab-schiedung durch den Deutschen Bundestag am 14. Juni 2002 gab das „Dopingopfer-Hilfegesetz” (DOHG) Anlass zu lautstarken öf-fentlichen Disputen; nunmehr umgibt seit dem Ablauf der Anmelde-frist von Ansprüchen am 31. März 2003 verwunderliche Schweig-samkeit das heikle Thema. Die neuerliche Redescheu vormaliger Wortführer einer Entschädigungszahlung an mit „unterstützenden Mitteln” (UM) versorgte Spitzenathletinnen und -athleten der DDR erwuchs aus den Erkenntnissen der wahrlich seltsamen Suche nach Nutznießern des bereitstehenden Zwei-Millionen-Euro-Fonds: Nachdrückliche Akquisition war erforderlich, um aus dem Heer von angeblich 8000 bis 10 000 mit Dopingmitteln traktierten DDR-Kadern ein quantitativ wie qualitativ den gleichermaßen politischen wie humanistischen Argumenten entsprechendes Klientel zu akti-vieren. Schließlich lagen dem mit der Abwicklung des DOHG be-trauten Bundesverwaltungsamt in Köln 303 Anträge auf Entschädi-gungszahlungen vor. Bis zum 1. Juni 2003 wurden davon 37 (12 Prozent) bearbeitet und erledigt. Dabei erfolgten 21 positive Be-scheide und 14 Ablehnungen; zwei Anträge erübrigten sich durch Zurücknahme. Bis Ende Juni war nach Auskunft des Bundesin-nenministeriums „über etwa 20 Prozent entschieden” worden. So-weit Einverständniserklärungen zu den BVA-Entscheidungen ab-gegeben wurden, erfolgten á-Konto-Zahlungen von jeweils 6.000 Euro. Vormalige Spitzenathletinnen und -athleten internationalen Niveaus befinden sich nicht unter den Zahlungsanwärtern. Die Ein-richtung eines aus Steuermitteln gespeisten Entschädigungsfonds quasi als Erbschaftssteuer für staatlich motiviertes DDR-Medaillenstreben provozierte von Beginn an die Bildung von zwei sich frontal gegenüberstehenden Lagern: auf der einen Seite die Befürworter einer generösen bis oberflächlichen Prüfung der Scha-densansprüche, auf der anderen Seite die Gegner von Abfindungs-zahlungen ohne exakte Prüfung jeden Einzelfalls. (vgl. DA 1/2002, S. 104-111) Der am 5. August 1999 in das Vereinsregister Wein-heim eingetragene „Doping Opfer-Hilfe-Verein” fand schnell die öf-fentlichkeitswirksame Unterstützung von auf Doping- und Stasi-Enthüllungen spezialisierten Medien. Im Zusammenwirken mit den in wissenschaftlichen Fachkreisen umstrittenen und als Selbstdar-steller verpönten Privat-Fahndern Prof. Dr. Werner Franke, Zellbio-loge in Heidelberg, und Dr. Giselher Spitzer, Privatdozent in Pots-
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dam, startete eine oftmals polemische Kampagne insbesondere auch zur parteilichen Einvernahme sportpolitischer Entscheidungs-träger... So waren die Weichen längst gestellt, als der Sportaus-schuss des Deutschen Bundestages zur Meinungsbildung über ein Dopingopfer-Hilfegesetz für den 17. Oktober 2001 eine öffentliche Anhörung ansetzte: Sieben der insgesamt 16 geladenen Sachver-ständigen gehörten zur Kernmannschaft kompromissloser Verfech-ter tunlichst großzügiger Zuteilung von Wiedergutmachungs-zahlungen;... mit dem Vorsitzenden des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, Dr. Klaus Zöllig, Prof. Dr. Werner Franke und Gattin Brigit-te Franke-Berendonk, Dr. Giselher Spitzer, den Entschädigungsan-wärterinnen Birgit Boese und Brigitte Michel sowie dem Fernseh-journalisten Hans-Joachim Seppelt sieben „Sachverständige”, de-ren Einlassungen von vornherein kalkulierbar waren. Bereits vier Wochen vor der Anhörung hatte der damalige Präsident des Natio-nalen Olympischen Komitees, Prof. Walther Tröger, in einem Schreiben an den Sportausschuss namens seines Präsidiums dar-gelegt, „dass wir erhebliche Bedenken haben, ob die Vorbereitung dieser Anhörung auch in Kenntnis anhängender Gerichtsverfahren zu den für das genannte Ziel notwendigen Erkenntnissen führen kann. Das gilt um so mehr, als wir die Auswahl der Experten für nicht sehr glücklich halten. Aus den genannten Gründen haben wir auch darauf verzichtet, eine Stellungnahme zu dem Fragenkatalog abzugeben.” Noch deutlicher äußerte sich im Schreiben an den Sportausschussvorsitzenden Friedhelm Julius Beucher vom 13. September 2001 die Gemeinschaft Deutscher Olympiateilnehiner, Ehrenvorsitzender Friedel Schirmer, Fahnenträger der deutschen Olympiamannschaft 1952 in Helsinki und langjähriger Bundes-tagsabgeordneter: „Voraussetzung (sollte) sein, dass der Kreis der Sachverständigen ausgewogen zusammengesetzt ist. Derzeit be-steht Anlass daran zu zweifeln, weil die Mehrheit der uns bekannt gewordenen „Sachverständigen‟ den DDR-Leistungssport nicht aus eigenem Erleben kennt oder als befangen angesehen werden muss. Wir meinen, dass als „Sachverständige‟ nicht vorrangig sol-che Personen gehört werden sollten, die subjektive Zielstellungen verfolgen. Zur Erforschung der Wahrheiten gehört vielmehr, dass auch solche. frühere Spitzensportlerinnen und -sportler der DDR zu Wort kommen, die den Rückblick auf ihre Karriere nicht mit nach-träglichen Ansprüchen verbinden und vor allem der Sachverstand
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solcher Persönlichkeiten, die nach ihrer früheren Tätigkeit im DDR-Sport nach dem Zusammenschluss in das vereinigte Nationale Olympische Komitee für Deutschland gewählt wurden.” Es kam, wie es kommen sollte. Als unter Einbeziehung der Mehrheitsmei-nung der öffentlichen Anhörung das „Dopingopfer-Hilfegesetz” for-muliert wurde, blieben gegenteilige Bedenken wie die des Leiters des Instituts für Dopinganalytik und Sportbiochemie in Kreischa, Prof. Dr. R. Klaus Müller unberücksichtigt. Als Richtschnur diente vielmehr die Kommentierung der Anhörung durch den sportpoliti-schen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Klaus Riegert. Er postu-lierte in einer Presseerklärung vom 17. Oktober 2001, bei der Prü-fung von Entschädigungsanträgen „sollte in der Regel ein Plausibi-litätsnachweis genügen. Die Hilfeleistung sollte nicht durch medizi-nische und Rechtsgutachten zerrieben werden. Für viele Opfer wä-re ein solches Verfahren entwürdigend ...”
So besagt denn § 6, Absatz 2, des am 14. Juni 2002 vom Deut-schen Bundestag mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen drei Stimmen der PDS bei Enthaltung der übrigen Abgeordneten der PDS verabschiedeten „Gesetzes über eine finanzielle Hilfe für Do-pingopfer der DDR - Dopingopfer-Hilfegesetz (DOHG)” über die Anspruchsberechtigung wegen erheblicher Gesundheitsschäden: „Zur Anerkennung eines erheblichen Gesundheitsschadens genügt die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs mit der Verabreichung von Dopingsubstanzen.”...
Sechs Monate nach Inkrafttreten des DOHG, Anfang Januar 2003, lagen dem Bundesverwaltungsamt sechs Entschädigungsanträge vor. Mitte Februar 2003, gut sechs Wochen vor Anmeldeschluss, waren 31 Anträge eingegangen. Diese mindere Zahl weckte erneut Zweifel an Argumenten und Postulaten, die im Vorfeld der Geset-zesinitiative vorgebracht worden waren. Selbst Friedhelm Julius Beucher, am Tag der Verabschiedung des DOHG Vorsitzender des Sportausschusses des Deutschen Bundestages, ging auf Distanz und machte in einem Interview des „Neuen Deutschland” seiner är-gerlichen Enttäuschung Luft: „Die Frage, ob es ein flächendeckendes DDR-Doping gegeben hat, muss neu gestellt werden. Denn wenn es dies in der DDR gegeben hätte, dann wären, wegen der Gefähr-lichkeit der Substanzen, mehr als 31 geschädigt.... Ich erwarte, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen, die Anhörungen und Befragungen, im Interesse von Klarheit und Wahrheit überprüft
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werden.” Auch der Präsident des Deutschen Sportbundes, Manfred von Richthofen, vorher Sympathisant des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, revidierte frühere Ansichten und plädierte nunmehr für ei-ne Änderung der vom Bundestag beschlossenen Regelung, den Zwei-Millionen-Euro-Fonds unter den Entschädigungsberechtigten aufzuteilen. Stattdessen forderte er die Festlegung einer Ent-schädigungshöchstgrenze, denn, so in einem Zeitungsinterview, „es kann nicht sein, dass die Entschädigung wie ein Lottogewinn ausfällt”. Was sich dann von Mitte Februar bis Ende März 2003 in Sachen DDR-Doping abspielte, summierte sich zu einer Anhäufung von Merkwürdigkeiten. In Abkehr von den ansonsten im Sozialwe-sen üblichen Normen und Vorschriften bei der Antragstellung auf finanzielle Zuwendungen und der auch noch bis heute oftmals schleppend bürokratischen Behandlungsweise von Anträgen auf „Opferrente” für Leidtragende des 17. Juni 1953 wurde geradezu händeringend nach Klienten zur Inanspruchnahme von Zuwendun-gen aus dem Dopingopfer-Hilfefonds gesucht. Gleichlautend ver-wiesen der Doping-Opfer-Hilfe-Verein und das Bundesministerium des Innern in wiederholten Bekanntmachungen darauf, dass als Nachweis der Kausalität zwischen der Einnahme von Dopingmit-teln und den nachfolgenden Gesundheitsschäden die Wahr-scheinlichkeit eines Zusammenhangs ausreiche. Ebenfalls wieder-holt wurde versichert, dass die Anonymität aller Antragsteller abso-lut gewahrt bleibe und zur Nachreichung von Dokumenten und sonstigen Belegen zur Anspruchsberechtigung eine Frist von wei-teren drei Monaten eingeräumt werde. Doch trotz aller Bemühun-gen blieb die Zahl der Entschädigungsanträge mit 303 weit unter-halb der in der Kampagne für die Wiedergutmachung an DDR-Dopingopfern genannten Erwartungen. Den höchst unterschiedli-chen Begründungen dieser eklatanten Differenz steht die mit vielen Beispielen belegte These Friedrich Julius Beuchers gegenüber, dass es im Osten wie im Westen nur ganz wenige Menschen gibt, „die Geld nicht in Anspruch nehmen, wenn sie es in Anspruch nehmen können”. So unbewiesen die Behauptungen von 8.000 bis 10.000 Betroffenen des DDR-Dopings sind, so unwahrscheinlich muss es andererseits erscheinen, dass exakt die 303 Antragstel-ler/innen des Doping-Opfer-Hilfe-Gesetzes das Kollektiv der Leid-tragenden des Programms „Unterstützende Mittel” bilden... Das Thema Doping im DDR-Sport wird nach wie vor viel stärker durch
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Mutmaßungen als durch belegbar Fakten geprägt - nicht nur als Folge der Verhaltensweisen der angeblich oder tatsächlich Doping-Betroffenen, sondern vor allem auch durch fremdbestimmte Ein-schränkungen...
Während politische und sportpolitische Leitstellen die für sie ver-fügbaren Informationsquellen zum Thema DDR-Doping noch längst nicht ausgeschöpft haben, bemühen sich private Rechercheure um ihre Fortschreibung und zwar mutmaßlich nach erprobter Praxis unüberpüfter Informationen aus Stasi-Protokollen und pauschalie-render Folgerungen. Aktuelles Vorhaben dieser Art ist das For-schungsprojekt „Biomedizinisch-epidemiologische Erhebung der Doping-Opfer-Problematik in der ehemaligen DDR”. Schon im Ja-nuar 2002 versuchte das Autorentrio Prof. Dr. Dr. H. Michna, Insti-tut für Gesundheitsforschung der Technischen Universität Mün-chen, und die erfahrenen Doping-Kombattanten Dr. Klaus Zöllig und Privatdozent Dr. Giselher Spitzer via Bundestags-Sportausschuss, das Bundesinstitut für Sportwissenschaften zur Finanzierung ihres Vorhabens zu animieren. Weil Institutsleiter Dr. Martin-Peter Büch aufgrund von Begutachtungen durch namhafte Wissenschaftler und eines Beschlusses seines Direktoriums die Entscheidung immer wieder hinauszögerte, erntete er jetzt den Zorn des Bundesinnenministeriums. Nach Intervention der BMI-Staatssekretärin Ute Vogt (SPD) ersuchte der Sportausschuss-Vor-sitzende Peter Rauen (CDU/CSU) neben dem Bundesinstitut für Sportwissenschaften jetzt auch die Nationale Anti-Doping Agentur (NADA), sich baldigst des Projekts anzunehmen. Der von den An-tragstellern vorgelegte Finanzplan beläuft sich auf 181 000 Euro. In zwei unabhängig voneinander formulierten wissenschaftlichen Be-urteilungen des Vorhabens heißt es u. a.: „Wie eine solch bedeu-tende Thematik mit soviel Wissenschaftsignoranz, Dilettantismus und Subjektivität bearbeitet werden kann, ist völlig unverständlich. Wissenschaftsethische Grundsätze werden negiert. Vor allem der der Objektivität, nämlich der Wahrheit zu dienen und möglichst na-he zu kommen.” Und: „Bei den Namensangaben für die Leitung des Projektes überwiegen durch Spitzer und Zöllig zwei Personen, die eine objektive Ergebnisfindung fragwürdig erscheinen lassen. Eine wissenschaftlich objektive Bewertung ist aufgrund bisheriger Veröffentlichungen bzw. Meinungsbekundungen zum Thema nicht zu erwarten, daher ist auch aus diesem Grund der Antrag abzu-
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lehnen.” Dennoch ist keineswegs sicher, ob sich das Bundesinstitut für Sportwissenschaften und dessen Leiter Dr. Martin-Peter Büch auf Dauer dem Druck der politischen Lobby widersetzen können.
... Die Vorstellungen der zweiten gegenwärtigen Klägerin gegen das NOK bewegen sich in weit höheren Regionen. Cornelia Jeske geb. Reichhelm, Jahrgang 1963, gehörte von 1976 bis 1982 zur Sektion Rudern des SC Dynamo. Während ihrer aktiven Laufbahn erreichte sie, 13- bis 19-jährig, zu keinem Zeitpunkt ein Leistungs-niveau, das sie in das Blickfeld des auf Talentsuche und -förderung ausgerichteten Juniorenverbandstrainers gerückt hätte. Cornelia Reichhelm beendete ihre Ruderaktivitäten wegen eines Wirbelsäu-lenschadens. Er soll der Klagebegründung zufolge auf die Einnah-me von Dopingmittel zurückzuführen sein, eine Kausalität, die NOK-Präsident Dr. Klaus Steinbach, renommierter Orthopäde und Ärztlicher Direktor der Hochwaldklinik in Weiskirchen (Saar), für nahezu absurd hält. Des ungeachtet wartet auf das NOK beim an-stehenden Prozess die Forderung von einmalig 33 000 Euro Scha-densersatz und 990 Euro monatliche Rente.
Insider werten die Klagen... als den möglichen Beginn einer Pro-zesslawine mit 100 oder noch mehr Privatklagen gegen das Natio-nale Olympische Komitee, sobald die staatliche Doping-Opfer-Hilfe abgewickelt ist...
2) Kölner Stadt-Anzeiger 1.4. 2003
10 000 Euro für jedes Dopingopfer
Jedes Dopingopfer des DDR-Sports darf mit einer Entschädigung von rund 10.000 Euro rechnen... Per Gesetz hatte die Bundes-regierung zwei Millionen Euro zur Dopingopfer-Entschädigung zur Verfügung gestellt. Weiterhin werden 25.000 Euro der Arzneimittelfirma Schering den Opfern zur Verfügung stehen. Schering hatte nach der Wende Jenapharm übernommen, jene Firma, die maßgeblich die Anabolika für den DDR-Sport produzierte. Birgit Boese führte als Leiterin der Beratungsstelle des Dopingopfer-Hilfevereins in Berlin in den vergangenen sieben Monaten rund 450 Beratungen geschädigter DDR-Sportler durch und erklärt, warum sich einige nicht und andere nur zögernd zur Antragstellung entschlossen. „Viele schweigen aus Scham. Man muss Hemmungen überwinden, um sich einzugestehen, was damals passiert ist. Andere fürchten Probleme, wollen ihre berufliche
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Karriere nicht aufs Spiel setzen“, sagte die Ex-Kugelstoßerin. (dpa)
3) Süddeutsche Zeitung 1.4.2003
Der Professor klagt an
...Franke, als Dopingaufklärer bekannt, kommt immer noch nicht zur Ruhe... Die Bearbeitung braucht Zeit und Franke fordert die Frist der Schadensanfragestellungen von Dopingopfer über den 31. März hinaus zu verlängern... er fordert mindestens fünf weitere Monate... Meist kämen die Opfer nicht an ihre eigenen medizinischen Akten heran. In Kreischa versanken im vorigen Sommer zu allem Unglück auch noch die Zentralen Akten des Sportmedizinischen Dienstes im Hochwasser...
4) Die Welt, 2.4.2003
Der mühsame Weg zur Gerechtigkeit
In Köln gibt man sich bedeckt. Vom öffentlichen Interesse an seiner neuen Projektgruppe scheint das Bundesverwaltungsamt über-rascht. Der Sonderabteilung obliegt, die bis zum Stichtag 31. März eingegangenen 263 Anträge von DDR-Spitzensportlern - plus eini-ger fristgemäß abgestempelter, aber später eintrudelnder - auf Schlüssigkeit zu prüfen. Die Antragsteller reklamieren, Gesund-heitsschäden erlitten zu haben, weil sie vom Staat ohne ihr Wissen gedopt worden waren... Ob „die Voraussetzungen für die Gewäh-rung der Hilfe zweifelhaft“ ist, wie das Gesetz es verlangt, ent-scheiden auf Grund der komplizierten Krankenakten Sachbearbei-ter, nicht Mediziner. Nur die Fälle, in denen die Kölner Aktenzei-chenhüter unsicher sind, werden einem sachverständigen Beirat beim Bundesministerium des Innern vorgelegt... Als zunächst nur wenige Geschädigte Anträge stellten, weil viele sich schämten oder erst die Akten auftreiben mussten, verleugnete der auf Sport spe-zialisierte SPD-Politiker Friedhelm Julius Beucher gleich den Grundsatz: „Bei 31 Anträgen muss die Frage gestellt werden, ob es in der DDR überhaupt flächendeckendes Doping gab.“
Schätzungen zufolge wurden 8.000 bis 10.000 Athleten in der DDR zwischen 1970 und 1989 im wesentlichen mit Anabolika dazu ge-züchtet, dem Staat Medaillen und Renommee zu verschaffen... Vor allem der medizinische Nachweis einer Verbindung zwischen Do-ping und Gesundheitsschaden erwies sich als schwierig. Daher
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hatte der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke... vorge-schlagen, die Antragsfrist um fünf Monate zu verlängern. „Wir werden auf keinen Fall die Frist verlängern“, sagt der Sportaus-schussvorsitzende des Bundestags, Peter Rauen, „doch wir wer-den großzügig verfahren, wenn Antragsteller Unterlagen nach-reichen.“
Zur Sportsoziologie in der DDR bis zum Beginn der 70er Jahre
Von KLAUS ROHRBERG
Der folgende Beitrag beschäftigt sich speziell mit den An-fangsjahren der Entwicklung der Sportsoziologie und bildet den ersten Teil einer vorliegenden Gesamtdarstellung vom
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Anfang der 60er Jahre bis zum Ende der DDR. In dieser Dar-stellung wird besonders ihr Beitrag zur Theorieentwicklung kritisch analysiert, da ihr heute zu Unrecht von mancher Seite Leistungen dazu abgesprochen werden
Zur Situation der Soziologie zu Beginn der 60er Jahre und zu den Anfängen sportsoziologischer Arbeit
Die erste Periode sportsoziologischer Arbeit umfaßt etwa jenen Zeitraum vom Ende der 50er bis zum Anfang der 70er Jahre, den WEIDIG1) als eine Phase des „soziologischen Aufbruchs“ in der DDR bezeichnet. Jene Periode war charakterisiert durch den - aus dem Erleben des Grauens der Naziherrschaft und des Krieges und der Not der Nachkriegszeit erwachsenden - Anspruch der damali-gen Soziologengeneration, „die sich entwickelnde neue Gesell-schaft mit den Mitteln soziologischer Erkenntnis aktiv mit zu gestal-ten“2), ein Anspruch, der auch für die sportsoziologische Arbeit kennzeichnend war. Zudem waren nach dem 22. Parteitag der KPdSU und der Abrechnung mit dem Stalinismus die politischen Bedingungen für undogmatische Wirklichkeitsanalysen relativ günstig.
In diese Phase fällt auch der Beginn sportsoziologischer Arbeit. Be-reits 1960/1961 konstituierte sich an der zu diesem Zeitpunkt be-reits seit zehn Jahren existierenden Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig (DHfK) ein Arbeitskreis für Sportsoziologie3). Im Jahre 1961 erschien in der sportwissenschaftlichen Zeitschrift „Theorie und Praxis der Körperkultur“ ein Aufsatz des zu den Wie-derbegründern der Soziologie im Osten Deutschlands gehörenden Soziologen R. SCHULZ mit dem Titel „Über Wesen und Methoden wissenschaftlicher Soziologie“4). Auf dem Warschauer Seminar zum Thema „Philosophische und soziologische Probleme der Kör-perkultur“ hielt ERBACH einen Vortrag mit dem Titel „Gedanken zur Einordnung der Theorie der Körperkultur als Lehr- und For-schungsdisziplin in das System der Sportwissenschaft“, in welchem er unter der Klammer „Theorie der Körperkultur“ drei Teilgebiete nannte und näher umriß: „Philosophische Probleme des Sports“, Organisationswissenschaft der Körperkultur“ und „Sportsoziolo-gie“5). Diese aus meiner Sicht logische Aufteilung, die etwa der auch heute praktizierten Unterscheidung von Sportphilosophie, Sportsoziologie und Sportmanagement entsprach, wurde später
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aufgegeben, indem sich die „Theorie der Körperkultur“ als eine sportwissenschaftliche Disziplin neben der Sportsoziologie und der „Leitung der Körperkultur“ verstand. Das hatte zur Folge, daß sie nie aus dem Dilemma zwischen philosophischem Anspruch und soziologischer Praxis herauskam und die eigenständige Theorie-bildung in der Sportsoziologie bis in die 80er Jahre hinein beein-trächtigte. Im Jahre 1965 veröffentlichte ERBACH in der o.g. Fach-zeitschrift seinen Aufsatz „Sportwissenschaft und Sportsoziologie“, der für die Konstituierung der Sportsoziologie eine grundlegende Bedeutung hatte6,7). An der DHfK entstand 1966 ein „Institut für Theorie, Soziologie und Organisation der Körperkultur“, das bis zur Hochschulreform von 1968/69 existierte8). Und schließlich konstitu-ierte sich, wie erwähnt, 1968 die Fachgruppe „Sportsoziologie“ im Wissenschaftlichen Rat.
Diesen mit den genannten Marksteinen skizzierten Abschnitt bis zum Ende der 70er Jahre fasse ich daher als die „Konstituierungs-phase“ der Sportsoziologie auf. Am Ende dieser Periode gab es außer den genannten Fakten sportsoziologische Lehrveranstaltun-gen an der DHfK, dazu entsprechende Lehrhefte9). Es existierten Hochschullehrerstellen für Sportsoziologie (ERBACH und GRAS in Leipzig, WIECZISK in Berlin). Sportsoziologen aus der DDR waren in internationalen wissenschaftlichen Gremien vertreten und hatten sich auf internationalen Konferenzen mit Beiträgen ausgewiesen und es konnten unter leitender Verantwortung von Sportsoziologen eine Reihe umfassender sowie begrenzter empirische Untersu-chungen abgeschlossen werden. Zu der Frage, welche Bedingun-gen zu der in Relation zur BRD frühzeitigen Institutionalisierung der Sportsoziologie in der DDR geführt haben, möchte ich folgende Hypothesen formulieren:
Erstens: Die Herausbildung der Sportsoziologie wurde begünstigt durch die in jener Zeit von der SED wiederholt erhobene Forderung nach sozialwissenschaftlichen Analysen und darauf aufbauenden Leitungsempfehlungen und Prognosen in einer Phase der gesell-schaftlichen Entwicklung in den sozialistischen Ländern, die durch die Überzeugung von der Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Zustän-de auf der Basis der „Marxistisch-leninistischen Wissenschaft und Weltanschauung“ gekennzeichnet war. Auch für den Bereich des Sports wurden entsprechende Analysen, Prognosen und Leitungs-
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empfehlungen gefordert, die eine planmäßige Entwicklung der „Körperkultur und des Sports“ ermöglichen sollten10).
Zweitens: Eine weitere Bedingung sehe ich in der Wiederbelebung der Soziologie in den sozialistischen Ländern nach dem Tode Sta-lins 1953 und nach dem 22. Parteitag der KPdSU 1956, nachdem bis dahin die Soziologie als „bürgerliche Wissenschaft“ abgetan und als allein wissenschaftliche Lehre von der Gesellschaft der Historische Materialismus anerkannt wurde11,12,13,14). So faßte das Politbüro der SED 1964 einen Beschluß zur Institutionalisierung der Soziologie, der auf Anregung von J. KUCZYNSKI15) zur Bildung einer Abteilung für Soziologie an der Akademie der Wissenschaf-ten und zur Einrichtung von Lehrstühlen für Soziologie an den Uni-versitäten Leipzig und Halle führte. Damit begann an diesen Uni-versitäten auch die Ausbildung von Soziologen, zunächst als Zweit-fachausbildung, später auch als Hauptfachausbildung. Im Jahre 1969 fand dann auch der 1. Soziologenkongreß in der DDR zum Thema „Soziologie im Sozialismus“ statt.
Drittens muß in diesem Zusammenhang auch die starke Förderung des Sports in der DDR erwähnt werden, die sich unter anderem auch im Staatsratsbeschluß von 1968 widerspiegelte16), und zwar nicht nur des Leistungssports, wie heute manchmal wenig sach-kundig behauptet wird, sondern auch des Kinder- und Jugend-sports und des Freizeit- und Erholungssports. Die Förderung des Sports und die gestellten Ziele verlangten nach sozialwissenschaft-lichen Analysen und Prognosen sowie Empfehlungen zur effektiven Leitung des Sports.
Viertens müssen auch das Interesse und das Engagement junger Sportwissenschaftler und Sportpädagogen an bzw. für sozialwis-senschaftliche Untersuchungen im Sport als eine fördernde Bedin-gung erwähnt werden. Von diesen Wegbereitern der Sportsoziolo-gie (ERBACH, BUGGEL, FLORL, GRAS, TROGSCH) hatte an-fangs niemand eine akademische soziologische Ausbildung abge-schlossen, was zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht der Fall sein konnte, da in der DDR erst ab 1964 eine universitäre soziologische Ausbildung möglich war17). Allerdings verfügten die Betreffenden über eine Ausbildung mit entsprechenden Abschlüssen auf dem Gebiet des „Historischen Materialismus“, der nach damaliger Auf-fassung als die „Allgemeine soziologische Theorie“ galt18,19).
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Als eine fünfte Bedingung muß schließlich die sich damals vollzie-hende internationale Institutionalisierung der Sportsoziologie er-wähnt werden, an der auch Sportwissenschaftler aus der DDR be-teiligt waren. Sportwissenschaftler aus der DDR wirkten im Interna-tional Council of Sports Sociology (ICSS) mit, traten auf internatio-nalen Kongressen auf und publizierten in der Zeitschrift „Internatio-nal Review of Sports Sociology“.
Bemerkenswerter Weise benennen LÜSCHEN/WEISS20) ähnliche Bedingungen für die Entwicklung der Sportsoziologie in der BRD.
Zu den damaligen Auffassungen zu Gegenstand und Aufgaben einer Sportsoziologie
In dem erwähnten Aufsatz von 1965 begründete ERBACH die Notwendigkeit einer eigenständigen Sportsoziologie mit der wach-senden Nachfrage nach sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen für die effektive Leitung und Planung des sich erfolgreich entwickeln-den Bereichs Körperkultur und Sport unter gleichzeitigem Hinweis auf die wachsende Bedeutung der Soziologie in der sozialistischen Gesellschaft. Dabei stützte sich ERBACH auf Arbeiten jener Sozio-logen, die wie BRAUNREUTHER, BRAUNREUTHER/STEINER, SCHUL, KALLABIS und RITTERHAUS/ TAUBERT nach MEYER21) zu den Wiederbegründern der Soziologie im Osten Deutschlands gehörten. ERBACH definierte damals Gegenstand und Aufgaben einer Sportsoziologie wie folgt: „Die Sportsoziologie erforscht die Dialektik der allgemeinen und spezifischen sozialen Entwicklung im Bereich der Körperkultur und des Sports, die Wechselbeziehungen zu anderen sozialen Erscheinungen, die durch Körperkultur und Sport beeinflußten Verhaltensweisen der Menschen, die in Sport-gruppen, -verbänden und -vereinigungen organisiert sind und die sich individuell regelmäßig sportlich betätigen, sowie die konkrete Verhaltensweise von sozialen Gruppen und Einheiten in ihrer Be-ziehung zu Körperkultur und Sport, um damit Gesetzmäßigkeiten aus dem Bereich der Körperkultur aufzudecken, die das soziale Gesamtverhalten von Menschen unter gesellschaftlich relevanten Bedingungen im Prozeß ihrer Entwicklung mitbestimmen. Durch die Sammlung umfangreichen empirischen Materials und durch entsprechende Verallgemeinerungen schafft sie die Voraussetzun-gen für die gesellschaftliche Leitung aller Prozesse der Körperkul-tur.“22). Indem hier sinngemäß die Erforschung des Sports als sozi-ales System und als soziales Handlungsfeld als Gegenstand einer
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Sportsoziologie definiert wurde, lag diese Gegenstandsauffassung durchaus auf einer Ebene mit noch heute existierenden Gegen-standsbestimmungen23,24,25). Der von ERBACH erhobene Anspruch allerdings, Gesetzmäßigkeiten aus dem Bereich der Körperkultur aufzudecken, war überhöht und konnte nie eingelöst werden und wurde in späteren Definitionen aufgegeben26, 27). Der Definition von ERBACH zufolge wurde Sportsoziologie als eine angewandte und vorrangig empirisch arbeitende Wissenschaft aufgefaßt, indem sie durch die Sammlung empirischen Materials und durch theoretische Verallgemeinerung die Voraussetzungen für die Planung und Lei-tung des Sports schaffen sollte 28). Eine solche methodologische Auffassung über den wissenschaftlichen Erkenntnisweg entsprach weitgehend dem klassischen Konzept der Soziologie zur Untersu-chung der sozialen Wirklichkeit seit COMTE: Beobachten - be-schreiben - erklären - aufklären - gestalten, wie es auch bei RIGAUER29) beschrieben wird. Die Funktionsbestimmung von ERBACH orientierte sich erkennbar auch an der 11. These von MARX über Feuerbach. „Die Philosophen haben die Welt nur ver-schieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu verän-dern.“30) Die damals in den Gesellschaftswissenschaften in der DDR allgemein akzeptierte Auffassung, wonach diese bei der Be-stimmung ihrer Forschungsziele grundsätzlich von den Erfordernis-sen der Praxis auszugehen und mit ihren Resultaten der Praxis zu dienen hätte, war aus meiner Sicht eine durchaus zu bejahende, aber in der Praxis oft vereinfachend aufgefaßte und gehandhabte Prämisse, die sich auch in der Sportsoziologie hemmend auf die Wissenschaftsentwicklung auswirkte. Dieser Orientierung auf die Praxis als Kriterium der Wissenschaft lag außerdem ein naturwis-senschaftliches Denkmuster zugrunde, wonach man nur die Ge-setzmäßigkeiten im Sport auffinden müsse, um dann den Schlüssel für dessen „planmäßige Gestaltung“ in der Hand zu haben. Dabei wurde verkannt, daß soziale Phänomene sich nicht mit naturwis-senschaftlichen Denkweisen im Sinne von Kausalitätszusammen-hängen begreifen lassen, weil soziale Phänomene nach ELIAS komplexe „Figurationen“ bilden31) und nicht kalkulierbare Einflüsse dabei oftmals eine Rolle spielen. In diesem Zusammenhang sei auf BONNS (1990) verwiesen, der mit Bezug auf OFFE (1982) schreibt, daß der Ausbau der Forschung zu sehr in Analogie zu den Naturwissenschaften betrieben worden sei, nämlich unter der
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Perspektive, daß wissenschaftliche Beratung zu eindeutigen Prob-lemlösungen führen könne - eine Einschätzung, die wissenschaft-lich kaum haltbar sei und das „aufklärerisch-problemdeutende“ Po-tential der Sozialwissenschaften verschenke32). Die Orientierung auf „Praxiswirksamkeit“ war also offensichtlich nicht nur eine Be-sonderheit der Sportsoziologie in der DDR. Vielmehr versuchten Sportwissenschaft und Sportsoziologie in beiden Teilen Deutsch-lands ihre Anerkennung und Institutionalisierung mit dem Nachweis ihrer Praxisrelevanz voran zubringen, wie BONNS bestätigt: „Ge-rade in den Sportwissenschaften wird das Bemühen um Praxisre-levanz seit jeher groß geschrieben. Die Bedürfnisse der Praxis, was immer man hierunter verstehen mag, galten ursprünglich so-gar als entscheidende Legitimationsinstanz für die Existenz der neuen Disziplin, und hierauf bezogene Diskussionen bildeten lange Zeit eine wichtige Klammer zwischen den verschiedenen Teilberei-chen von der Sportmedizin bis zur Sportsoziologie.“33) Die Orientie-rung der Sportsoziologie auf die Bereitstellung von Erkenntnissen für die Planung und Leitung des Sports bei ERBACH finden wir auch bei HEINEMANN wieder: „Sportwissenschaft wird künftig in dem Maße einen bedeutenden Rang erhalten, in dem es ihr ge-lingt, sich von einer eigenständigen (interdisziplinären) Disziplin zu einer offen innovativen Planungswissenschaft zu entwickeln.“34) Angesichts dieser und anderer Parallelitäten wirkt es um so be-fremdlicher, wenn mit Blick auf die Sportsoziologie in der DDR und deren Ausrichtung auf Praxiswirksamkeit dagegen das ideologisch motivierte Klischee der „Instrumentalisierung“ bedient wird.
Die Frage nach dem Beitrag zur wissenschaftlichen Profilie-rung der Sportsoziologie
Der Versuch, retroperspektivisch die Frage nach möglichen Beiträ-gen der Sportsoziologie in der DDR zur Theorieentwicklung in jener Periode zu beantworten, setzt zunächst eine Positionierung zu den Begriffen Theoriebildung und Wissenschaftsentwicklung voraus, zu denen es unterschiedliche Auffassungen gibt35,36,37,38), die umfas-send zu diskutieren hier nicht der Ort sein kann. Bei meinen Arbei-ten ging ich damals von der Theorieauffassung von KLAUS/BUHR aus, die mir auch heute noch als tragfähig für die Beantwortung der Frage nach den „theoretischen“ Beiträgen der Sportsoziologie er-
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scheint und mit anderen, neueren Auffassungen, wie bei FUCHS und ELIAS, durchaus als kompatibel angesehen werden kann: „Theorie - systematisch geordnete Menge von Aussagen bzw. Aussagesätzen über einen Bereich der objektiven Realität oder des Bewußtseins. Die wichtigsten Bestandteile einer Theorie sind die in ihr formulierten Gesetzesaussagen über einen Bereich, auf den sie sich bezieht. Daneben enthält jede Theorie auch Aussagen, die sich auf einzelne empirische Sachverhalte beziehen. Der Begriff der Theorie darf nicht mit dem der Wissenschaft identifiziert wer-den. Die Mehrzahl der Wissenschaften besteht nicht nur aus sys-tematischen Bestandteilen, die den Namen einer Theorie zu Recht tragen, sondern auch aus prätheoretischem Wissen; sie enthält darüber hinaus Bestandteile der Methodologie, Anleitungen zur praktischen Tätigkeit, Algorithmen über die Durchführung von Ex-perimenten und Beobachtungen usw.“39) ELIAS bezeichnet Theo-rien als „Modelle beobachtbarer Zusammenhänge“40), eine Theo-rieauffassung die den Besonderheiten einer angewandten Wissen-schaft wie der Sportsoziologie entgegenkommt und zugleich den Zusammenhang von deduktivem und induktivem Erkenntnisgewinn ausdrückt. ELIAS sieht es als eine zentrale Aufgabe wissenschaft-licher Forschung an, „Zusammenhänge dort aufzudecken, wo sie vorher nicht bekannt waren“41). Er betont, daß es für eine Wissen-schaft notwendig ist, eigenständige Begriffe zu entwickeln, die ge-eignet sind, die ermittelten Zusammenhänge bzw. „Figurationen“ angemessen abzubilden42). ELIAS schreibt auch, daß der Soziolo-gie eine Rolle als „Mythenjäger“ zukäme und sich Wissenschaft „im Kampf gegen ungeprüfte, vorwissenschaftliche Gedankensysteme“ entwickle43). Das sind Auffassungen, die mir als höchst relevant auch für die Sportsoziologie erscheinen. Als Kriterium der Wissen-schaftsentwicklung sieht ELIAS den jeweils erreichten wissen-schaftlichen Fortschritt an: „Im Rahmen der wissenschaftlichen Ar-beit bildet das Kriterium für den Wert von Forschungsresultaten, sei es auf der empirischen, sei es auf der theoretischen Ebene oder auf beiden zugleich, der Fortschritt, den diese Forschungsergeb-nisse, gemessen am bestehenden gesellschaftlichen, vor allem auch wissenschaftlichen Wissensfundus darstellen. Dieser Fort-schritt hat viele Facetten. Er kann darin bestehen, daß die For-schungsergebnisse den Wissensvorrat vergrößern. Er kann darin bestehen, daß einem Wissen, das noch auf verhältnismäßig unsi-
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cheren Füßen stand, größere Gewißheit gegeben wird. Er kann da-rin bestehen, eine theoretische Zusammenfassung von Ereignis-sen, deren Zusammenhang zuvor unbekannt war oder die das Mo-dell eines im Vergleich zu vorangegangenen Theorien umfassen-deren Geschehenszusammenhang darstellt, zu ermöglichen. Er kann ganz einfach darin bestehen, Theorie und Empirie besser aufeinander abzustimmen.“44)
Resümierend können auf der Basis der bisherigen Ausführungen also folgende Arbeitsresultate als Beiträge zur Wissenschaftsent-wicklung der Sportsoziologie gewertet werden:
- Die Vergrößerung unseres vorhandenen Wissensvorrats über das soziale System und das Handlungsfeld Sport
- Eine größere Gewißheit zu einem noch unsicheren Wissen über den Gegenstand „Sport“
- Das Aufdecken von bisher noch unzureichend bekannten Zu-sammenhängen im Bereich des Sports oder zwischen dem Sport und anderen Bereichen der Gesellschaft
- Die Einordnung von Zusammenhängen im Bereich des Sports in umfassendere gesellschaftliche Zusammenhänge
- Die Spezifizierung und Operationalisierung soziologischer Begrif-fe für sportsoziologische Untersuchungen
- Beiträge zur Methodologie und Methodik empirischer sportsozio-logischer Untersuchungen.
Nach diesen Kriterien der Frage nach dem Beitrag zur Wissen-schaftsentwicklung der Sportsoziologie und zur Theoriebildung im engeren Sinne am Beispiel der beiden großen sportsoziologischen Erhebungen von 1965 und 196845,46) nachgegangen, ohne die Er-gebnisse hier darstellen und erörtern zu wollen, ergibt sich folgen-des Resümee:
Auf der Grundlage der an KLAUS/BUHR und ELIAS angelehnten Kriterien für die Wissenschaftsentwicklung und Theoriebildung lie-ße sich resümierend für diese erste Periode sportsoziologischer Arbeit festhalten:
Die sportsoziologischen Arbeiten jener Periode trugen zur Vergrö-ßerung des vorhandenen Wissensvorrats und zu größerer Gewiß-heit über Sachverhalte im sozialen System und sozialen Hand-lungsfeld Sport bei. Im Detail betraf das Wissen über das Sporten-gagement unterschiedlicher sozialer Gruppierungen, über die vor-handenen materiellen und personellen Bedingungen für das Sport-
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treiben und über effektive Formen der Planung und Leitung des Sports.
Die sportsoziologischen Arbeiten trugen zum Aufdecken von Zu-sammenhängen im Bereich des Sports selbst und zwischen dem Sport und anderen gesellschaftlichen Bereichen bei. Das betraf im Detail den Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen und Ein-stellungen der Menschen und ihrem Sportengagement, den zwi-schen der Sportbeteiligung und den vorhandenen materiellen und personellen Bedingungen sowie die Zusammenhänge zwischen Arbeit, Freizeit, Erholung und Sport.
Die sportsoziologischen Arbeiten jener Periode griffen historisch-materialistische und allgemeinsoziologische Begriffe und Aussagen auf und spezifizierten sie für fachspezifische Fragestellungen. Das betraf im Konkreten den Begriff der Gesellschaftsformation, Aus-sagen über die Rolle der ökonomischen gesellschaftlichen Verhält-nisse, Aussagen über die Wechselbeziehung zwischen Verhalten und Verhältnissen und über die bestimmende Rolle der Arbeit im menschlichen Lebensprozeß.
Trotz der genannten Beiträge zur Wissenschaftsentwicklung und der Ansätze zur Theoriebildung kann man für die Sportsoziologie in der DDR in den 60er Jahren von einem relativen Zurückbleiben der expliziten Arbeiten zur Theoriebildung im Verhältnis zu den um-fangreichen empirischen Untersuchungen und der Fülle des bereit-gestellten Materials sprechen. Konkret fehlte es an einer Zusam-menführung des vorhandenen Fundus in Form einer geschlosse-nen Abhandlung zur Sportsoziologie. Die vorliegenden umfangrei-chen Forschungsberichte und Dissertationen boten hierfür eine durchaus hinreichende Basis. Einen Ansatz in dieser Richtung bil-deten die von TROGSCH u.a. 197047) erarbeiteten Studienmateria-lien zur Sportsoziologie (insgesamt acht Hefte), die allerdings infol-ge der Zuordnung der Sportsoziologie zum Ausbildungskomplex „Planung und Leitung der sozialistischen Körperkultur“ nach der Hochschulreform von 1968/1969 unter dem letztgenannten Titel erschienen. Für die Erarbeitung einer Monographie zur Sportsozio-logie fehlte es meiner Ansicht nach damals nicht an wissenschaftli-cher Substanz, sondern an institutionellem Interesse und mangeln-der Unterstützung sowie an personeller Kapazität infolge der Be-anspruchung der wenigen Sportsoziologen durch die Lehre und die aufwendigen empirischen Untersuchungen.
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Die Ursachen für das konstatierte Zurückbleiben expliziter Wissen-schaftsentwicklung und Theoriebildung in der Sportsoziologie jener Periode (und auch in den folgenden) sehe ich erstens in der bereits mehrfach erwähnten überbetonten Praxisorientierung der Sportso-ziologie, zweitens in der daraus resultierenden Konzentration der geringen personellen Kapazität auf die aufwendige Durchführung empirischer Untersuchungen, drittens in der Vernachlässigung der einzelwissenschaftlichen Profilierung zugunsten der in empirischen Untersuchung erfolgreich praktizierten Interdisziplinarität, nicht zu-letzt auch viertens in der administrierten Strukturierung der Sport-wissenschaft, in der Einordnung der Sportsoziologie in den Kom-plex „Planung und Leitung“ und dem damit verbundenen Verlust an disziplinärer Eigenständigkeit und schließlich in dem Nebeneinan-der einer lange Zeit bevorzugten „Theorie der Körperkultur“ (mit ih-rem Anspruch auf die Bearbeitung übergreifender gesellschafts-wissenschaftlicher Themen des Sports), einer „Planung und Lei-tung der Körperkultur“ (mit ihrem Anspruch auf Praxiswirksamkeit) und einer „Sportsoziologie“ (der nach dieser Version schließlich nur noch die Rolle des „Datenbeschaffers“ übrig geblieben wäre). Erst in den 80er Jahren konnte die Sportsoziologie, wenn auch gegen Widerstände, ihren legitimen Anspruch als kompetente Disziplin für die Bearbeitung gesellschafts- und sozialwissenschaftlicher Frage-stellungen des Sports und auf einen dementsprechenden Platz in Lehre und Forschung schrittweise durchsetzen, wie in nachfolgen-den Veröffentlichungen dargestellt werden könnte48).
Anmerkungen
1) WEIDIG, R.: Soziologische Forschung in der DDR. In: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 1997, FS III , S. 97-407
2) Ebenda, 11
3) TROGSCH, F.: Studienmaterial zum Ausbildungskomplex Planung und Leitung der so-zialistischen Körperkultur. Heft 1: Soziolog. Forschung als Bestandteil der Planungs- und Leitungstätigkeit im Bereich von Körperkultur und Sport. DHfK Leipzig (Manuskript-druck) 1970, 17
4) SCHULZ, R.: Über Wesen und Methoden wissenschaftlicher Soziologie. In: Theorie und Praxis der Körperkultur 1961, 1o8-114
5) ERBACH, G.: Gedanken zur Einordnung der Theorie der Körperkultur als Lehr- und Forschungsdisziplin in das System der Sportwissenschaft. In: Theorie und Praxis der Kör-perkultur 1964 (Sonderheft), 74-82
6) ERBACH, G.: Sportwissenschaft und Sportsoziologie (I). In: Theorie und Praxis der Körperkultur 14. (1965) 10, 877-883
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7) ERBACH, G.: Sportwissenschaft und Sportsoziologie (II). In: Theorie und Praxis der Körperkultur 14. (1965), 11, 950-963
8) TROGSCH, F.: A. a. O., 18
9) TROGSCH, F. u.a.: Studienmaterial zur Ausbildung im Lehrkomplex Planung und Leitung der sozialistischen Körperkultur Heft 1 bis 7
10) ERBACH, G.: A. a. O.
11) KUCZYNSKI, J.: Bemühungen um die Soziologie. Berlin 1986
12) STEINER, H.: Soziologie in Leipzig - Erbe und Tradition. In: Informationen zur so-ziologischen Forschung in der DDR 25 (1989) 4, 3-63
13) MEYER, H.: Die Soziologie in der DDR im Prozeß der Vereinigung der beiden deut-schen Staaten. In: Zapf, W. (Hrsg.): Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Frank-furt a. M./ New York 1991, 69-86
14) WEIDIG, R.: A. a. O.
15) MEYER, H.: A. a. O., 73
16) Beschluß des Staatsrates der DDR über die Aufgaben der Körperkultur und des Sports in der DDR vom 20. September 1968. In: Kleine Enzyklopädie Körperkultur und Sport. Leipzig 1972, 50-59
17) MEYER, H.: A. a. O.
18) SCHULZ, R.: A. a. O., 12
19) KUCZYNSKI, J.: A. a. O., 54 ff.
20) VOIGT, D. u.a.: Sportsoziologie. Soziologie des Sports. Verlag M. Diesterweg Frank-furt a. M./ Verlag Sauerländer Aarau/ Frankfurt a. M./ Salzburg 1992, 75
21) MEYER, H.: A. a. O.
22) ERBACH, G.: A. a. O., 960
23) RIGAUER, B.: Sportsoziologie. Reinbek b. Hamburg 1982
24) HEINEMANN, K.: Einführung in die Soziologie des Sports. Schorndorf 1980
25) ANDERS, G.: Sportsoziologie. In: Carl, K. u.a. (Hrsg.): Handbuch des Sports. Düssel-dorf 1984, 193-231
26)GRAS, F.-W.: Zum Stichwort „Sportsoziologie“ für das neue Wörterbuch der marxis-tisch-leninistischen Soziologie. DHfK Leipzig 1987 (Manuskript)
27) GRAS, F.-W./ROHRBERG, K.: Zur Kompetenz der Sportsoziologie als Lehrdisziplin in der Ausbildung der Sportlehrer. In: Das Hochschulwesen 1989, 10, 337-340
28) ERBACH, G.: A. a. O., 960
29) RIGAUER, B.: A. a. O., 56-57
30) MARX, K.: Thesen über Feuerbach. In: K. Marx/ F. Engels, Ausgewählte Werke Bd. 1. Berlin 1981, 200
31) ELIAS, N.: Was ist Soziologie? Weinheim/ München 1993.
32) BONNS, W.: Beratung durch Wissenschaft? Zur Praxisdebatte in den Sportwissen-schaften. In: Anders, G./Chachey, K./Fritsch, W.: A. a. O., 9
33) Ebenda, 7
34) Ebenda, 10
35) ASSMANN, G. u. a. (Hrsg.): Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie. Berlin 1977, 665
36) FUCHS, W. u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Opladen 1988, 783
37) WIEMEYER, J.: Überlegungen zur Integration in der sportwissenschaftlichen For-schung. In: Sportwissenschaft 22(1992) 2, 189
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38) RIGAUER, B.: Sportsoziologie. In: Eberspächer, H. (Hrsg.), Handlexikon Sportwis-senschaft. Reinbek b. Hamburg 1992, 415
39) KLAUS, G./ BUHR, M. (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch Bd. 2. Leipzig 1969, 1083
40) ELIAS, N.: A. a. O., 39 und 54
41) Ebenda, 177
42) Ebenda, 15
43) Ebenda, 53
44) Ebenda, 54
45) GRAS, F.-W.: Bericht über die sportsoziologische DDR-Erhebung 1965 Teil 1: Die Planung, Leitung und Organisation der Erhebung. Staatl. Komitee f. Körperkultur u. Sport Berlin 1967 (Manuskriptdruck)
46) STEGLICH, W. u.a.: Körperkultur und Sport im Freizeitverhalten der DDR-Bevölkerung. Bericht über die sportsoziologische DDR-Erhebung 1965. Teil 2: For-schungsmethoden und Verfahrensweisen. Staatl. Komitee f. Körperkultur u. Sport Berlin 1967 (Manuskriptdruck)
47) TROGSCH, F. u.a. 1970 a. a. O.
48) Bereits ausgearbeitet liegen vor: „Die Konsolidierungsphase Anfang der 70er bis Mitte der 80er Jahre“ und „Die Aufschwung- und Endphase Mitte bis Ende der 80er Jahre“.
ZITATE
Wem gehört der Sport?
Ostalgie mag ja in der Fernsehunterhaltung neu sein. Wir im Sport haben sie schon länger. Wenn das ,.Neue Deutschland“, früher
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einmal das Zentralorgan der Einheitspartei, nach der gerade vergangenen Leichtathletik-Weltmeisterschaft einen Funktionär zitiert mit der Bemerkung, 1990 sei zwar der richtige Staat, aber das falsche Sportsystem abgewickelt worden, müssen wir antworten: Kalter Kaffee! Kennen wir schon, diese Sehnsucht nach der DDR - und zwar aus einer Zeit, in der sie nicht nur auf verblichenen Fotos, sondern noch in Wirklichkeit grau und ausgelaugt war...
Das weiß die Jugend von heute natürlich nicht, wenn sie auf Berliner Trödelmärkten ihr Taschengeld für Laufschuhe von Germina mit hauchdünnen Sohlen - die mit den zwei Streifen -, für die guten alten braunen Trainingsjacken des Armeesportklubs Vorwärts oder Medaillen von der Spartakiade aus Aluminium ausgibt. Ach Kinders, waren das Zeiten!...
DDR-Sport funktioniert nicht ohne DDR. Zwar stehen nun chromblitzende Kraftmaschinen, wo früher rostige Gewichte lagen. Doch Südfrüchte und Auslandsreisen locken kein Talent mehr hinter dem Ofen vor...
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.9.2003
Ballkultur
...Die Manager des deutschen Profifußballs können sich ungestraft wie wirtschaftliche Hasardeure aufführen, weil die Bundesliga ein zentraler Bestandteil der Unterhaltungsindustrie ist. Ihre Funktion erfüllt sie jedoch nur, wenn sie via Fernsehen zum Alltagsleben der Menschen gehört. Der durch den Kirch-Konkurs bedingte kritische Zustand der Unterhaltungsindustrie hat denn auch prompt die Poli-tik auf den Plan gerufen. Diese weiß, was sie an ihr hat: Unterhal-tung ermöglicht Zuflucht angesichts zunehmend schlechter wer-dender Lebensverhältnisse und vernebelt den letzten Gedanken an Widerstand.
Während die Programmentscheidungen in ARD und ZDF gewöhn-lich auf den unteren und mittleren Ebenen getroffen werden, bildet König Fußball die Ausnahme: Hier entscheiden die Intendanten und damit die Politik. Während der Weltmeisterschaft 2002 hatte man durch horrende Nachzahlungen noch gemeinsam versucht, die angeschlagene Kirch-Gruppe zu retten – wie sich zeigte, ver-geblich. Nun soll wenigstens die Bundesliga gerettet werden. Kos-tenpunkt: 65 Millionen Euro. WDR-Intendant Fritz Pleitgen machte
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im Kölner Stadtanzeiger am Samstag nicht einmal einen Hehl dar-aus, daß all dies im Auftrag und zum Nutzen der Politik geschieht: „Wir haben uns um die Liga ja nicht gerissen. Im vergangenen Jahr drängte uns die NRW-Landesregierung geradezu zum Kauf der Übertragungsrechte. Sie war ja sogar bekanntlich bereit, den Bundesligavereinen notfalls mit Bürgschaften beizuspringen.“ ...Insgesamt werden die öffentlich-rechtlichen Anstalten in den kommenden vier Jahren mehr als eine Milliarde Euro für Fußball hinblättern. Das bedeutet zwangsläufig, daß in allen anderen Pro-grammbereichen der Rotstift angesetzt werden muß und der mas-sive Personalabbau durch outsourcing und Stellenstopp weiterge-hen wird. Doch das allein wird nicht ausreichen. Die Subventionie-rung der Fußballmillionäre ist ohne Gebührenerhöhung nicht mög-lich. Ob die Politik dem beantragten Aufschlag von 1,50 Euro im Monat zustimmen wird, ist noch ungewiß. Die Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und Bayern, Kurt Beck (SPD) und Edmund Stoiber (CSU), haben aber schon deutlich gemacht: Eine Gebüh-renerhöhung allein wegen der erworbenen Bundesligarechte dürfe auf keinen Fall kommen. Es werden sich bestimmt noch andere Gründe finden.
junge Welt 4.7.2003, S. 16
NOK will nach Berlin
...Für das Nationale Olympische Komitee (NOK) ist die Hauptstadt wichtiger als bislang angenommen ...nach Informationen des Tagesspiegel möchte das NOK..., seinen Amtssitz verlegen. Von Frankfurt am Main nach Berlin... Aus NOK-Kreisen heißt es, dass insbesondere Steinbach einen Umzug favorisiere. Er ist seit seiner Wahl zum NOK-Chef im November 2002 um eine enge Kooperation mit der Bundesregierung bemüht... Innerhalb des Verbandes gibt es allerdings, so heißt es in Funktionärskreisen, noch Vorbehalte. Auf einer Präsidiumssitzung des NOK sei gefragt worden, wie die Organisation den Umzug bezahlen wolle... Um dem Sportverband den Standortwechsel zu erleichtern hat Berlin bereits konkrete Hilfsangebote gemacht... darunter ein repräsentatives Gebäude im Stadtzentrum. Das Angebot wurde schon im Senat abgestimmt. Zudem haben die Vertreter Berlins den Sportfunktionären eine finanzielle Förderung des Deutschen Olympischen Instituts (DOI) angeboten. Dieses Institut... muss seit
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Ende 2002 ohne öffentliche Förderung auskommen und ist deshalb auf höhere Zuschüsse vom NOK... angewiesen. Im vergangenen Jahr hatte das DOI noch 110.000 Euro von Berlin bekommen. Nun will das Land die Immobilie am Wannsee verkaufen, dessen Wert auf mindestens sechs Millionen Euro geschätzt wird. Falls das NOK nach Berlin umziehen sollte, könnte das Institut wieder mit Finanzhilfen rechnen. Zudem wird seit Monaten darüber diskutiert, dem DOI einen Ersatzstandort auf dem Olympiagelände anzubieten. Auf dem 130 Hektar großen Areal am Olympiastadion sollen in Zukunft auch andere Sportorganisationen angesiedelt werden, etwa das Büro des Boxstalls Sauerland... In Berlin residieren bisher nur kleine Verbände, etwa der Schachverband, der Anglerverband und der Keglerbund. Der Umzug des NOK wäre dagegen ein Durchbruch. Erst wenn große Sportverbände ihren Sitz hier haben, kann die Stadt wirklich behaupten: Berlin spielt mit.
Der Tagesspiegel 5.9.2003
Staatszielbestimmungen
...Durch die sportbezogenen Staatszielbestimmungen in den Lan-desverfassungen wurden keine Versprechungen gemacht, die die Länder und Gemeinden nicht einhalten könnten. Zum einen wurde und sollte auch nicht eine bestimmte Art und Höhe der staatlichen Sportförderung festgelegt werden, sondern es sollte lediglich ver-hindert werden, daß der Sport in Zeiten knapper Mittel als erster und möglicherweise als einziger Bereich Kürzungen oder Strei-chungen von Haushaltsmitteln hinnehmen muß... Die zum Teil laut werdenden Rufe nach staatlicher Reglementierung, nach einem Ausbau des ohnehin ständig wachsenden Sportrechts bringen aus verfassungsrechtlicher Sicht erhebliche Gefahren für die bestehen-den Freiheitsrechte mit sich. Es ist deshalb auch auf seiten des Sports überlegenswert, ob nicht bestimmte Auswüchse eines selbstherrlichen Vereins- und Verbandswesens im Interesse einer weithin staatsfreien Sphäre der Selbstverwaltung und –bestimmung vor einem notwendig werdenden Eingriff des Staates durch Selbstregulierungsmechanismen abgestellt werden können... Auch wenn seit dem sogenannten „Bundesligaskandal“ in vielen Bereichen des Vereins- und Verbandsrechts rechtsstaatliche Grundsätze Einzug gehalten haben und die Organisationen auch hinsichtlich der Grundrechte ihrer Mitglieder sensibilisiert sind, gilt
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auch heute noch die 1983 von Udo Steiner getroffene Feststellung, daß die wirklich drängenden Gefahren für die Freiheit des Sports in erster Linie aus dem Bereich des Sports selbst erwachsen.
Kultur und Sport im Bundesverfassungsrecht. Frankfurt a.M. 1999, S. 355 ff
Deutsche sind die Exoten in der Bundesliga
...Durften bis 1992 pro Spiel nur zwei Ausländer eingesetzt werden, kann jetzt eine komplette Elf ohne Deutsche auflaufen, was Ener-gie Cottbus am 6. April 2001 erstmals fertig brachte. Eine Wieder-holung scheint nur eine Frage der Zeit, bei Mannschaften wie Han-nover 96 oder Schalke 04 hat nur noch ein Deutscher einen Stammplatz: der Torwart.
Durften bis 1992 pro Spiel nur zwei Ausländer auflaufen, kann jetzt eine komplette Elf ohne Deutsche auflaufen, was Energie Cottbus am 6. April 2001 erstmals fertig brachte...Begünstigt wurde die Entwicklung durch das Bosman-Urteil im Dezember 1995, das den unbeschränkten Einsatz von EU-Ausländern erlaubte. Seit 2001 wurde auch der Einsatz von fünf Ausländern aus Nicht-EU-Staaten (vorher drei) erlaubt. Die Folgen... sind dramatisch: Noch nie ka-men so wenige Deutsche zum Einsatz. An den ersten beiden Spiel-tagen waren es 97 von 248 Spielern (39 Prozent). Zieht man davon noch die eingesetzten 14 Torhüter und jene Spieler ab, die zurück-getreten oder zu unerfahren sind, reduziert sich Völlers Kandida-tenliste auf gerade 40 Namen. Völler beurteilt die Situation als „ganz extrem“...
Welt am Sonntag 17.08.2003
Zwölf Tausendstel...
Zwölf Tausendstel Punkte machten den Unterschied. Weil beim Team aus Weißrussland ein Turner verletzt ausfiel, wurde der Ti-telverteidiger bei der WM in Anaheim nur 13. Mit zwölf Tausends-tel Punkten Rückstand auf Deutschland. Die deutschen Turner haben sich damit gerade noch für Olympia 2004 in Athen qualifi-ziert - die Weißrussen müssen zuschauen... Als das Unerwartete doch geschafft war, kamen die Emotionen. Wolfgang Willam, der Sportdirektor des Deutschen Turnerbundes (DTB), umarmte den Chefbundestrainer Andreas Hirsch. Hirsch umarmte jeden Sportler einzeln. „Dieses Ergebnis ist genauso unglaublich wie unser Wett-
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kampf“, sagte der Stuttgarter Turner Thomas Andergassen... Das „Wunder von Anheim“ glich einem Spielfilm, bei dem es nur zwei Möglichkeiten gab: Happyend oder Katastrophe. Die Protagonisten mussten einiges aushalten: den Wettkampf, bei dem sie fast bei al-len Reckübungen gepatzt hatten. Eine Pressekonferenz, bei der über den Niedergang des deutschen Turnens räsoniert wurde, über Stellenstreichungen und die Kürzung von Fördergeldern. Eine un-ruhige Nacht... „Ich habe schon überlegt, wie mein Leben ausse-hen wird“, sagte Sportsoldat Ronny Ziesmer, „zum Beispiel, woher ich meine Kohle bekommen soll.“
HANDELSBLATT 19.8.2003
Ende mit Tränen
Die Sonne war schon untergegangen in Anaheim, als sich vor dem Arrowhead Pond eine rührende Szene abspielte: Lisa Brügge-mann, die knapp 1,50 Meter große Turnerin, stürmte schluchzend aus der Halle - so tief saß die Enttäuschung über die verpasste Olympiaqualifikation der deutschen Riege. Da kam der größere Fabian Hambüchen daher und nahm sie in den Arm. Das Bild hatte Symbolcharakter... Mit winzigen vier Hundertstel Punkten Rück-stand belegten sie im Mannschaftswettbewerb nur den 13. Platz... Die deutschen Frauen, im Durchschnitt 18 Jahre alt, wurden aus-gerechnet von Nordkorea abgefangen, das erneut eine Riege an den Start geschickt hatte, bei der nicht zu erkennen war, dass alle Turnerinnen in diesem Jahr noch 16 Jahre alt werden - wie es der Weltverband in seinen Statuten fordert. Dabei hatten sich die Kampfrichterinnen, was auch nicht besonders fair war, alle Mühe gegeben, die Nordkoreanerinnen hinauszuwerten... Den deutschen Turnerinnen half das alles gar nicht. Zum dritten Mal nach Atlanta 1996 und Sydney 2000 dürfen sie kein Team bei den Olympischen Spielen stellen....
Süddeutsche Zeitung 20.08.2003
Ringer-Bundesliga ist todkrank
Wenn der Vizemeister KSV Aalen... in die neue Runde der Ringer-Bundesliga startet, könnte es für den Klub die letzte Saison wer-den. „Es ist fünf vor zwölf“, sagt Aalens Präsident Karl Maier im Gespräch mit Tobias Schall...
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Die Finanzprobleme der Vereine ziehen sich wie ein roter Faden durch die vergangenen Jahre...
... das ist kein Faden, das ist ein handfester Strick, an dem sich die Liga im übertragenen Sinn bald aufknüpfen kann. So macht es im Grunde keinen Sinn mehr. Die Liga ist krank, todkrank, und es dauert nicht mehr lange, dann wird der große Knall kommen und einige Vereine von der Bildfläche verschwinden. Unser größter Feind ist derzeit nicht der Gegner auf der Matte, sondern die Wirt-schaftskrise...
Und was spricht gegen die Ausländerbeschränkung?...
Das ist reiner Populismus. Denn wo sind denn die jungen Athleten, die wir einsetzen könnten? Ich sehe sie nicht. Und wenn ich mich zwischen einem ausländischen Spitzenringer und einem Deut-schen entscheiden muss, dann ist eines sicher: Der Ausländer kos-tet mich weniger und ist sportlich besser...
Stuttgarter Zeitung 15.08.2003
„Wir betteln um Almosen beim örtlichen Bäcker
Im Kreis Rems-Murr ist das Geld noch knapper als anderswo. Die Schorndorfer Ringer mussten sich aus der ersten Liga abmelden, die Fellbacher Volleyballer kämpfen ums Überleben, und auch der Tischtennis-Bundesligist Plüderhausen ist knapp bei Kasse... Die-ser Mann hätte einem Eskimo Kühlschränke verkauft... So ist er zumindest aufgetreten, dieser Manfred Landgraf. Eloquent, selbst-sicher, charmant, überzeugend. So ist der Inhaber der Sanitärkette „Oase Bäderdesign“ bei den Ringern des ASV Bauknecht Schorn-dorf erschienen, hat mit Geldscheinen gewedelt und nach dem Aufstieg in die erste Bundesliga verkündet... Ein Märchen sollte geschrieben werden. Drei Jahre ist das nun her. Als die Verant-wortlichen am 14. November des vergangenen Jahres vor die Presse traten, war alles Makulatur: Der Hauptsponsor „Oase Bä-derdesign“ hatte Insolvenz angemeldet, Landgraf sich ins Ausland abgesetzt... und das Kapitel Ringer-Bundesliga Geschichte... Und das, obwohl es im Remstal „unendlich viele Firmen gibt, die ohne Probleme in der Lage wären, ein paar Euro in den Sport zu ste-cken“, wie der Funktionär eines Spitzenvereins aus der Region sagt: „Aber nichts passiert und wir betteln beim örtlichen Bäcker um Almosen.“...
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Als der SV Fellbach im Jahr 2001 wieder in die Volleyball-Bundesliga aufgestiegen war, da wollte der Trainer Karl-Heinz Striegel seine Schützlinge per Anhalter zu Spielen fahren lassen, um den Etat zu entlasten. Das ist eigentlich nur ein Scherz gewe-sen, doch viel hätte nicht gefehlt, und die Truppe hätte sich tat-sächlich an den Straßenrand gestellt
und den Daumen rausgestreckt... Am Ende stieg man ab. Der Traum... war ausgeträumt. Der SV Fellbach ist früher mal eine gro-ße Nummer im deutschen Volleyball gewesen... Beim SV Plüder-hausen... ist das mit den Finanzen seit jeher relativ einfach gere-gelt gewesen: Geritt Albrecht zahlt. Der Immobilienmakler ist mit Herz und Seele - und damit auch seinem Geldbeutel - dem Tisch-tennissport verfallen. Und ebenso regelmäßig, wie er die Löcher beim Europapokalsieger stopft, droht er auch, alles hinzuwerfen, „wenn wir nicht endlich einen großen Sponsor finden“. Mittlerweile hat sich die Firma Weru bei dem Klub eingekauft, der Weltstar Jan-Ove Waldner wurde angeheuert... Und doch: verliert der Mäzen die Lust, droht das Aus. Albrecht: „Die Resonanz bei anderen Firmen ist gleich null.“
Drei Vereine, drei Schicksale, ein Landkreis - ein Problem: das Geld. „Von der Schönheit des Remstals können wir die Bundesliga nicht bezahlen“, sagt Geritt Albrecht.
Stuttgarter Zeitung 14.8.2003
Sport tut Deutschland gut
Freitagnachmittag hielt der Bundespräsident im Schloß Bellevue Hof und wie geladene Gäste – nach offiziellen Verlautbarungen über 7000 – versicherten, war es abgesehen von den nervenden und nässenden Wetterlaunen eine strahlende Party. Offizieller Ti-tel: „Sommerfest“, offizielle Losung „Sport tut Deutschland gut“, of-fizielle Kosten: nicht zu erfahren. Obwohl gerade die Summe sicher viele interessiert hätte, schon weil in Berlin erst vor wenigen Tagen wieder Zuschüsse für den Sport radikal gestrichen worden waren. In Lichtenberg schloss man ein weiteres Schwimmbad, die Jugend-Schwimmabteilung mindestens eines Vereins musste aufgelöst und die Kinder nach Hause geschickt werden. Ob man sie zum Trost ins Bellevue geladen hatte, war nicht in Erfahrung zu brin-gen... Befragte tendierten eher zu „nein“. „Sport tut Deutschland gut“? Wer den Slogan formuliert hatte, verdiente sich kein Bundes-
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verdienstkreuz. Denn: Wo tut Sport Deutschland exakt wem auf welche Weise gut? Niemand wusste Genaueres.
Vielleicht in Leipzig... „Der Spiegel“ hatte bereits Ende April (22.4.) gemeldet: „Die Luftballons, die nach der überraschenden Kür Leipzigs zum deutschen Olympiakandidaten in den Himmel aufge-stiegen waren, hatten das Stadtzentrum kaum verlassen, da erklär-te Richard von Weizsäcker...: ‟Man muss nicht erwarten, dass die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees jeden Mor-gen und jeden Abend an die Montagsdemonstrationen denken.‟“ Und dann verriet das Magazin auch noch, dass sich die ersten Leipziger Planungen auf „Blaupausen aus der Spätphase der DDR“ stützten: “Der jetzt geplante Olympiapark im Herzen der Stadt war bereits ‟Kernpunkt‟ aus SED-Plänen, die Spiele an die Neiße zu holen.“ Experten, die damals die DDR-Olympiapläne konzipierten bestätigten jW diese Fakten.
Obendrein setzte „Der Spiegel“ bei seiner Chancenprüfung auch noch auf „eine Liste aus alten Tagen. Auf dieser stehen rund 3700 Absolventen aus 105 Ländern, die an der Deutschen Hochschule studiert oder dort ihre Trainerscheine bestanden haben.“ Viele von ihnen gelangten dank der DHfK-Diplome in wichtige Funktionen ih-rer Länder und könnten aus dem Hintergrund die Wahl durchaus beeinflussen. Allerdings würde das voraussetzen, dass Leipzig auf DDR-Traditionen und nicht so sehr auf die Montagsdemos setzt und nebenbei der Welt auch mal erklärt, warum die legendäre DHfK eigentlich abgeschafft und ihre Professoren davongejagt wurden?
junge Welt 25. Juni 2003
Kraulen im Speckmantel
„Mount Everest der Schwimmer“..., so nennt der beste deutsche Langstreckenschwimmer und Weltcupzweite des vorigen Jahres die Durchquerung des Ärmelkanals, die ihm am Mittwoch von Do-ver zum Cap Gris-Nez bei Calais gelang... Sie spülte ihn nicht an einen sanften Sandstrand, sondern an eine Geröllwüste am felsi-gen Kap. Dort mußte Wandratsch noch einige Felsen erklettern..., ehe er komplett auf französischem Boden stand und damit die Durchquerung vollendete. In diesem Moment wurden die Uhren angehalten - bei 7:19,48 Stunden. Damit hatte Wandratsch sein großes Ziel, den „Weltrekord“ im Kanal, so knapp verpaßt wie nie-
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mand zuvor. Er verfehlte die Bestmarke des Amerikaners Chad Hunderby aus dem Jahr 1994 um die Winzigkeit von zwei Minu-ten... „Da haben wir wenigstens nächstes Jahr noch was zu tun“, sagte Trainer Stefan Hetzer, fügte aber gleich hinzu: „War nur ein Scherz.“ Hetzer, in der DDR als Trainer von Kristin Otto ein Star, wurde später wegen Verabreichung von Dopingmitteln an Minder-jährige verurteilt und bekam keinen Job als Schwimmtrainer mehr. Seitdem hat er als Hobby-Trainer Erfolge mit Langstrecken-schwimmern und Triathleten, sein Geld verdient er als Sportlehrer an einer Schauspielschule. Er macht kein Hehl daraus, daß er sei-nen „rund fünfzig Europa- und Weltrekorden in der DDR“ gern noch den einen im Kanal hinzugefügt hätte, als Werbung in eigener Sa-che. „Ich habe gezeigt, daß ich auch ohne unterstützende Mittel gute Arbeit leiste“, sagt Hetzer. „Nach zwölf Jahren sollte man mal eine zweite Chance bekommen.“...
Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.8.2003
142 Millionen für Beckham
Sportartikel-Hersteller Adidas-Salomon soll David Beckham einen „Rentenvertrag“ angeboten haben. Die englische Zeitung Sunday Mirror berichtete, der Konzern biete dem Kapitän der englischen Fußball-Nationalmannschaft umgerechnet 142 Millionen Euro, falls der sich im Gegenzug verpflichte, die Firma aus Herzogenaurach auch über sein Karriereende hinaus zu vertreten. Es wäre der bis-lang lukrativste Werbevertrag für einen einzelnen Sportler. Noch führt Golfstar Tiger Woods die Liste der Sport-Werbemillionäre an, der für einen Acht-Jahres-Vertrag von Nike knapp 91 Millionen Eu-ro erhielt. Dem Mirror zufolge hatte Nike zuletzt seine Fühler auch nach Beckham ausgestreckt, der noch drei Jahre an Adidas ge-bunden ist. Frankfurter Rundschau 13.8.2003
Disput über Leipzig
Die Nachrichten jagen sich – wenn es um den olympischen Traum geht. Zum Beispiel: Am 6. Mai meldete der Berliner „Tagesspiegel“: „Leipzig und Rostock können bei ihrer Bewerbung auf die Unter-stützung der Bundesregierung zählen. 3,65 Milliarden Euro werden ab diesem Jahr für Straßenbauprojekte nach Leipzig (2,78 Milliar-den) und Rostock (0,87 Milliarden) fließen.Das sagte Bundesver-
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kehrsminister Stolpe bei einem Treffen bei Oberbürgermeister Tie-fensee.“
Schon das Wort „fließen“ erregt den Kreislauf. Überall im Land wird eisern gespart werden, Eltern besetzen Schulen, damit ihre Kinder nicht nach den großen Ferien zweimal am Tag 45 Kilometer mit dem Bus fahren müssen, aber in Leipzig „fließt“ das Geld...
Am 9. Mai meldete die „Stuttgarter Zeitung“ „‟Unsere olympische Vorfreude ist getrübt‟, sagt Sachsens Wirtschaftsminister Martin Gillo (CDU) verärgert. ‟Das ist kein neues Geld, sondern nur altes, das verspätet kommt‟ blafft er in Richtung Berlin. ... Es fehle rund ein Milliarde Euro so Gillo.“
Ist eine Milliarde ein peanut? Die Frage bleibt offen.
Aber damit erschöpfen sich die olympischen Fragen nicht. Die „Leipziger Volkszeitung“, geographisch betrachtet mittendrin zwi-schen Berlin und Stuttgart, gab sich mit schnödem Geld nicht ab, als sie den Kanzler um vorolympische Auskünfte bat und stieß da-bei in Regionen vor, die wahrlich keine peanuts mehr sind.
Zum Beispiel die Frage der LVZ-Herren Wonka und Wächter: „Wird es international ein Nachteil sein, dass sich Deutschland im Irak-Fall als Nicht-Kriegspartei präsentiert hat?“ Man liest es zweimal, dann ein drittes Mal. Sollte in der auf Olympia hoffenden Stadt tat-sächlich eine Zeitung erscheinen, die diese Frage druckt. Die Frage, ob es für Leipzig bei der olympischen Bewerbung ein Nachteil sein könnte, dass die Deutschen auf den Irak-Krieg ver-zichtet hatten. In irgendeiner Ecke steht in der ehemaligen DHfK noch die Coubertin-Büste, die zu DDR-Seiten geschaffen und fi-nanziert worden war. Coubertin hatte bei seiner Idee, die antiken Olympischen Spiele zu modernisieren, vor allem den Frieden im Sinn. Er hoffte, dass die Spiele dazu beitragen könnten, den da-mals wie heute täglich gefährdeten Frieden zu sichern. Die Deut-schen wollten bekanntlich wegen eben dieser Absicht damals gar nicht teilnehmen und versammelten sich – am Rande bemerkt in Leipzig – um ein „nationales Olympia“ aus der Taufe zu heben, das die Begegnung mit dem Erzfeind vermeiden sollte. Man wagt es nicht zu glauben: 108 Jahre später wird dem deutschen Bundes-kanzler aus einer Leipziger Redaktion die Frage gestellt, ob es ein Nachteil sein könne, dass man die Teilnahme an einem Krieg ver-weigerte? Zu Schröders Ehre sei gesagt, dass er fast konsterniert aber immer noch höflich antwortete: „Das kann ich mir überhaupt
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nicht vorstellen.“ Wir – sei betont – könnten uns das ebensowenig vorstellen.
In Leipzig leben zahlreiche Wissenschaftler, die über die Werte des Olympismus exzellent Auskunft geben könnten, auch wenn die Heldenstadt sie einst davonjagte oder – um es akademisch auszu-drücken – evaluierte. Ihr Wissen ging dabei nicht drauf. Und sie wären glänzend geeignet, in Volkshochschulkursen den Inhalt des Olympismus zu vermitteln. Damit recht bald in Leipzig möglichst viele erfahren, worum es bei Olympischen Spielen eigentlich geht. Und das wäre auch dringliche Olympiavorbereitung, denn Bewer-ber sollten auch nachweisen, dass sie über den olympischen Geist im Bilde sind.
Leipzigs Neue 14.6.2003
Das große Schweigen
In Österreich produzieren positive Proben und negative Nachrich-ten politische Schlagzeilen: Der Hürdensprinter und FPÖ-Abgeordnete Elmar Lichtenegger durfte nicht nach Paris reisen, weil er vor der WM durch eine Dopingkontrolle gefallen ist, und wird nun von der SPÖ aufgefordert, sein Mandat niederzulegen. Im Gegenzug verlangt die FPÖ von der SPÖ-Kandidatin Stephanie Graf auf der Stelle freiwillige Dopingkontrollen, weil sie der musku-lösen Läuferin nicht einmal die blutige Schnittwunde vor dem 800-m-Finale abnimmt, sondern die Fußverletzung als Ausweichmanö-ver vor den Endlaufkontrollen auslegt. Was ist das nur für eine Welt, in der man niemandem mehr vertrauen will oder kann?
Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.8.2003
Gejagter Olympiasieger
Über Nacht ist die Goldmedaille, die Jerome Young überra-schend über 400 m gewonnen hat, verblaßt und hat einen lan-gen Schatten auf die olympische Goldmedaille geworfen, mit der die amerikanische Staffel 2000 in Sydney entlohnt wurde. Denn der 27jährige Sprinter ist, wie die „Los Angeles Times“... berichtet, der „most wanted athlete“ (gesuchteste Athlet), von dem es drei Jahre lang nicht einmal einen Steckbrief, geschweige denn einen Namen gegeben hatte. Die Zeitung enttarnte... Young als denjenigen, der ein Jahr vor den Jahrtausendspielen positiv auf Nandrolon getestet worden war... Der Fall weist eine Parallele zu den Vorkommnissen
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um einen positiven Test vor den Sommerspielen 1988 in Seoul auf. Auch der achtfache Olympiasieger war posotiv getestet, suspen-diert und dann vom verbandsinternen Schiedsgericht freigespro-chen worden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.8.2003
Heikes Kritik
Olympiasiegerin Heike Drechsler geht mit den deutschen Leicht-athleten bei den Weltmeisterschaften in Paris hart ins Gericht. „Manche Athleten sind sich zu schade, sich richtig zu schinden und zu quälen, da sind viele Softies dabei... Das musste irgendwann mal so kommen.“
General-Anzeiger Bonn 29.8.2003
Leichtfertig über Bord geworfen?
Der stellvertretende Vorsitzende des Bundestags-Sportausschus-ses, Peter Danckert (SPD), hat nach dem schwachen Abschneiden der deutschen Leichtathleten bei der WM in Paris eine ehrliche Bestandsaufnahme von Sportlern, Funktionären und Politikern verlangt. Dabei müsse kritisch eingeräumt werden, dass die Erfahrungen des DDR-Leistungssports zu leichtfertig über Bord geworfen worden seien, sagte Danckert der Chemnitzer Freien Presse.
Es sei noch nicht zu spät für einen Kurswechsel. Dabei müsse stärker auf die Trainingserfahrungen der früheren DDR zurückgegriffen werden. Danckert nannte es ein „trauriges Zeichen“ für die Leichtathletik im vereinten Deutschland, wenn die Medaillenhoffnungen fast nur auf Athleten lägen, die schon für die DDR siegreich waren. Danckert forderte mehr Kinder- und Jugendsportschulen, in denen früh nach Talenten gesucht wurde. Zugleich plädierte der SPD-Sportpolitiker dafür, die Trainingsarbeit künftig in den großen Leistungszentren zu konzentrieren. Wer sich weigere, „muss auf die Fördergelder verzichten“ (sid).
Süddeutsche Zeitung 13.9.2003
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Aus Chemnitz? Ungeeignet!
Günter Netzer ist sein Geld wert - aber er setzt seinen Ruf aufs Spiel. Fragt sich nur, ob dies bei klarem Bewußtsein geschieht oder ob er zum Opfer der Themensteuerung und der Marketingstrategie jenes Medienhauses zu werden droht, von dem der ARD-Mitarbeiter einen weiteren Teil seiner Einkünfte als Fußball-Kritiker bezieht... Nahm er sich zunächst Völler zur Brust. so bekommt diesmal Nationalspieler Michael Ballack sein Fett weg. In beiden Fällen ist, von außen betrachtet, ein ähnlicher Mecha-nismus zu erkennen: Netzer (oder sein Ghostwriter?) formuliert in der angestammten Mittwochskolumne einer Sportzeitschrift provokante Thesen, die tags darauf das täglich erscheinende Schwesterblatt aufgreift und mit neuen. weiter gehenden Ideen ausbaut... Ob nun ein Friedensgipfel zwischen Netzer und Ballack fällig ist? Und ob Ballack überhaupt mitmachen würde? Der Münchner Profi sei „charakterlich nicht geeignet“, „nicht prädestiniert“ für die typische Rolle eines Führungsspielers. so die waghalsige These in der Netzer-Kolumne. Die Begründung ist hanebüchen bis herabsetzend: „Dieses Sich-aus-der-Verantwortung-Nehmen“ in schwieriger Lage könnte eine Frage der Herkunft sein. Ballack ist in Chemnitz geboren. Das DDR-System habe Genies im Kollektiv den Weg verstellt. Hat Netzer den gesamtdeutschen Meistermacher Matthias Sammer glatt übersehen? Sein Trost: Er halte Ballack noch für entwicklungsfä-hig. Einziger Haken: Der Mittelfeldspieler soll sich, ausgerechnet, an Oliver Kahn ein Beispiel nehmen - „auch außerhalb des Platzes, denn Kahn sagt mittlerweile sehr kluge Sachen“. Leider macht er auch dumme Sachen, man frage nur mal Kahns Frau. Höchstwahr-scheinlich hat Netzer den Lebenswandel gar nicht gemeint. Aber die Befindlichkeiten früherer DDR-Bürger hätte er besser nicht außer acht gelassen.
Genau hier fängt die persönliche Rufschädigung an...
Interview mit Ballack in der gleichen Ausgabe der gleichen Zeitung. „Haben Sie eigentlich schon einmal bedauert, in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, geboren zu sein - und nicht in Mönchengladbach, der Heimatstadt von Günter Netzer?
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Ich? Nee. Warum? Ich nehme an, Sie spielen auf Netzers „Sport-bild“-Kolumne an, in der mir meine DDR-Herkunft quasi zum Vor-wurf gemacht worden ist.
So ist es. Haben Sie sich Netzers Kritik, im Kollektiv aufgewachsen und deshalb vielleicht „charakterlich nicht dazu geeignet“ zu sein, eine Mannschaft zu führen, zu Herzen genommen?
Über solche Aussagen muß ich gar nicht erst diskutieren. Das er-ledigt sich von selber. Dennoch: Es ist ein Wahnsinn, was da drin-stand.
Haben Autoren aus dem Westen Deutschlands wie eben Netzer eine falsche Vorstellung darüber, wie Kindern in der DDR das Fußballspielen beigebracht wurde?
Ich war mal gerade zwölf Jahre alt, als die Wende kam. Ich habe Fußball gespielt, weil es mir Spaß gemacht hat. Da kam kein Trai-ner zu mir, der mir gesagt hätte, mein lieber Michael, du darfst dich persönlich nicht weiterentwickeln und keinerlei Führungsaufgaben übernehmen. Im Ernst: Die DDR ist auch heute noch für ihre teils hervorragenden Sportler bekannt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2003
Die letzten Schritte des Dieter B. Im Rampenlicht
...Die Inszenierung stimmt. Statt heimlich, still und leise von der in-ternationalen Leichtathletikbühne abzutreten, hat sich Dieter Baumann für den großen, lauten Abgang entschieden... Man kann die rechtzeitige Ankündigung aber auch anders deuten. Wohlwol-lender. Der Olympiasieger von 1992 wollte dem Lauf in seiner Heimatstadt noch ein letztes Mal zu großer Aufmerksamkeit verhel-fen... Dabei liefs für den provokanten Läufer im Herbst seiner Lauf-bahn nicht mehr so rund wie zu Beginn. Plötzlich, nach den beiden positiven Dopingproben im Herbst 1999, saß der früher so kom-promisslose Anti-Doping-Kämpfer Baumann, der gnadenlose Ich-kann-nichts-dafür-Verspotter, selbst auf der Anklagebank. Die Ur-sache, eine mit Nandrolon verunreinigte Zahnpastatube, wurde zwar gefunden, ein Täter jedoch nie. Deshalb wird immer ein Gschmäckle an Baumann hängen bleiben...Zudem fehlte zuletzt die Geradlinigkeit in Baumanns Karriere. Der Wechsel des Bahn-läufers zum Marathon - natürlich wäre der möglich gewesen. Doch dann mit letzter Konsequenz. Das hätte beim täglichen Training beginnen müssen. Statt 170 bis 190 Kilometer die Woche hätten's
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ruhig 230 bis 250 Kilometer sein dürfen. Über einen längeren Zeit-raum. So wie dies der mehrfache Weltrekordler Haile Gebrselassie auch getan hat. Der 5000-Meter-Olympiasieger von 1992 schaffte den Absprung von der Kunststoffbahn auf den Asphalt jedoch nie richtig. Oder wollte ihn nicht schaffen. Denn eines war dem ge-schäftstüchtigen Baumann immer klar: „Die Veranstalter wollen, nicht, dass ich nach zweieinhalb Stunden ins Ziel komme.“ Dass er bei seinem ersten Versuch in Hamburg über die klassische Strecke nach 37 Kilometern deshalb ausstieg - für Experten keine wirklich Überraschung. Fortan war dem cleveren Schwaben klar: Nur auf der Bahn kann der Europameister von 1998 sicher seinen Lebensunterhalt erlaufen.
Dieses Verhalten ist an sich ganz legitim. Schließlich ist der 38-Jährige Profi und hat Frau und zwei Kinder zu ernähren. Außerdem hat ihn sein letztlich erfolgloser Lauf durch die juristischen Instanzen eine ordentliche Stange Geld gekostet. Und aus nationaler Sicht war dieser Wechsel ja auch nicht so furchtbar dringend angesagt. Denn noch immer lief „der alte Mann“ (Baumann über Baumann) allen davon. Doch bei Rennen mit internationaler Beteiligung fehlte ihm die alte Klasse. Dabei hatte er in seinem ersten Buch getitelt: „Ich laufe keinem hinterher“.
Irgendwie passt es zur Karriere von Dieter Baumann, dass nun ein Film über ihn gedreht werden wird. Der Sieger“ soll der Streifen heißen. Die letzte Inszenierung des Dieter Baumann?
Stuttgarter Zeitung 14.09.2003
Hockey klagt
Weltmeister sind sie schon, Europameister wollen sie bleiben und den Olympiasieg haben sie für 2004 im Visier: Die deutschen Hockey-Herren eilen von Erfolg zu Erfolg, doch in Folge der Ignoranz der öffentlich-rechtlichen Sender und der dadurch fehlenden Unterstützung durch Sponsoren sieht Christoph Wüterich die Zukunft der erfolgreichsten olympischen Spielsportart in Deutschland stark in Gefahr. „Wenn ich mit den Top-Nationen mithalten will, brauche ich mehr TV-Präsenz, sonst bin ich eines Tages zweitklassig“, sagte der Präsident des Deutschen Hockey-Bundes (DHB) bei der EM in Barcelona und attackierte die ARD und das ZDF: „Sie stecken alles in den Fußball und leisten einen wesentlichen Beitrag, den Sport in Deutschland zu zerstören.“
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Der Rechtsanwalt aus Stuttgart ist verstimmt darüber, dass ARD und ZDF beim Saison-Höhepunkt der Europameisterschaft nicht vertreten sind und nur zugespielte Sekunden-Berichte in Frühmagazinen fahren. Er vermisst Strategien und Visionen. „Der Olympia-Berichterstatter ist ein Jahr vor Athen nicht vor Ort. Die müssten sich um ihr Produkt kümmern, stattdessen sägen sie den Ast, auf dem sie sitzen, mit Inbrunst ab“, klagte Wüterich. Schon im März 2002, als die DHB-Herren in Malaysia erstmals den WM-Titel nach Deutschland holten, hatte er ARD und ZDF („Totengräber der Sportvielfalt“) heftig angegriffen, da sie erst in der Endphase berichteten. Nach dem Final-Einzug der Herren gegen Spanien läuft es diesmal ähnlich: Im ZDF-Sportstudio am Samstag und bei N 3 im Regionalprogramm am Sonntag sind Berichte geplant.
„Nur wir haben uns geändert. Wir haben Events nach Deutschland geholt, dann sind sie gerne dabei“, moniert Wüterich. Der Ärger ist nachvollziehbar. Zwar schreibt der 1999 bei seiner Amtsübernahme am Rande des Ruins wandelnde DHB (damals knapp 500 000 Mark minus) mittlerweile wieder deutlich schwarze Zahlen, doch er hat derzeit keinen Hauptsponsor und kann seine Top-Akteure nicht gebührend unterstützen. „Wir müssen dahin kommen, dass wir die Top-Leistungen der Spieler angemessen honorieren können. Um das Spitzen-Niveau zu halten, muss ich 40 Spieler versorgen können“, so der DHB-Chef. Immerhin sieht er sich beim Werben von Hauptsponsor-Kandidaten „auf einem guten Weg“ und sagt: „Wir wollen uns nicht zu billig verkaufen.“
Ihren Beitrag wollen wieder die Spieler leisten. Im Finale gegen Spanien peilt das Team von Bundestrainer Bernhard Peters den vierten EM-Titel in Serie und damit das Olympia-Ticket an, das nur der Champion direkt erhält...(dpa)
General-Anzeiger Bonn 13.09.2003
2004 mehr Medaillen als 2000 für Deutschland !
...sagt DSB-Chef von Richthofen. Hinterherlaufende, - springende und -werfende Leichtathleten, abgepaddelte Kanu-Frauen, rausgeflogene Basket- und Volleyballer - in den letzten Wochen ereilte den deutschen Sportfan ein Tiefschlag nach dem anderen. Aber ein Jahr vor Olympia in Athen sagt Manfred von Richthofen, Präsident des Deutschen Sportbundes: „Deutschland steht im Vergleich zu den letzten Olympischen Spielen in Sydney besser
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da.“ Was? Die Reaktion bringt dem Boss das Lachen ins Gesicht. Denn er hat sich vor dem Gespräch mit dem KURIER vorbereitet. Von Richthofen ist sehr gut vorbereitet.
„Man darf nicht alles über einen Kamm scheren. Die Leichtathletik ist ein Problemfall. Aber das gilt nicht gleich für alle anderen Sportarten mit.“ Die Leistungssportreferenten haben für von Richthofen die aktuelle Lage analysiert. Daraus zieht er seine Argumente. Und die hören sich gut an. „Eine Auswertung der jeweiligen Saisonhöhepunkte ergab: Deutschland ist die Nummer vier der Welt. Hinter den USA, Russland und China.“
Das ist besser als in Sydney. Damals war Deutschland Fünfter mit 13 Gold-, Silber- und 26 Bronze-Medaillen. „Wir wollen die Num-mer 3 werden“, sagt von Richthofen und führt Beweise an. In den Spielsportarten gewannen 2000 nur die Fußball-Damen Bronze. „Das können sie mindestens wieder schaffen. Dazu kommen die Hockey-Männer als Weltmeister. Die Frauen sind ebenfalls im Fa-voritenkreis, wie die Handball-Männer als Vize-Weltmeister.“
Im Schwimmen gab es vor drei Jahren zweimal Bronze. „Wir sind aus dem Tief heraus, haben mit Hannah Stockbauer, Antje Buschschulte und Thomas Rupprath aktuelle Weltmeister, starke Staffeln und natürlich Weltrekordlerin Franziska van Almsick.“
Stärker sind zudem die Schützen (sechs Medaillen bei der WM), die Modernen Fünfkämpfer (Berlins Weltmeister Eric Walther), die Ruderer (acht WM-Medaillen), die Slalom-Ka-nuten (drei WM-Medaillen). Von Richthofen nennt Erfolge. Aber die vernebeln ihm nicht den Blick für den Ernst der La-ge. „Wir haben in der olympischen Kernsportart Leichtathletik ein großes Problem, in fast allen Bereichen zudem Defizite im Nachwuchs.“ Deshalb steht für den Boss fest: „Nach Athen kommt alles auf den Prüfstand. Wir müssen über die Anzahl der geförderten Sportler, über deren Trainer und über die Stützpunkte reden.“ Wie tief die Einschnitte sein werden, das haben die Sportler noch selbst in der Hand. Von Richthofen: „Bis Athen wird an der Förderung nicht gerüttelt. Danach steht und fällt alles mit einer starken Olympialeistung. Sie wäre mein bestes Argument gegenüber dem Bundesministerium des Inneren, dass es Geld geben muss.“
Berliner Kurier 21.9.2003
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Leichtathleten über die Zukunft
...der Deutsche Leichtathletik-Verband... traf sich nach dem mise-rablen Abschneiden bei der Pariser Weltmeisterschaft..., um die... Sparten Lauf, Sprung, Wurf und Stoß aus der Krise zu führen... Ei-ne Hundertschaft Trainer war anwesend... Aber von den größten Kritikern in den Reihen der Sportler kam keiner, was in DLV-Präsident Clemens Prokop „tiefe Verärgerung“ sowie „völliges Un-verständnis“ hervorrief... Nachdem Prokop seine „persönliche Ent-täuschung“ aufgearbeitet hatte, stellte er die Ergebnisse vor. In Kurzform: Keiner der Verantwortlichen fliegt raus, niemand demis-sioniert wegen Platz 28 in der WM-Medaillenwertung, in der Deutschland neben Schwellenländern steht. Conclusio der Ge-spräche: Im Grunde bleibt alles beim Alten... Das Kernstück der konservativen Systemveränderung ist das sogenannte „Aktions-programm Athen 2004“, wonach die Athleten fortan individueller als bisher betreut werden. Ein Junktim zwischen Heim- und Bundes-trainer soll die Erfolge zurückbringen... Das Verhältnis von Bundes-trainer zu den Athleten sorgte in Paris für viel Gesprächsstoff. Eine Reihe von Sportlern kritisierte deren Arbeit. Bernd Schubert sagte in Kienbaum, er wolle „das Beeinflussbare beeinflussen.“
Berliner Zeitung 22. 9. 2003
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REZENSIONEN
Erlebte Sportgeschichte
Schon die Entstehungsgeschichte dieses Büchleins könnte den Stoff für ein neues liefern: Der rührige Vorsitzende der DTSB-Sportsenioren, Erhard Richter hatte sich die Mühe gemacht, Stati-onen dieser „Kampfgemeinschaft“ – die, um Irrtümern vorzubeu-gen, auch engagiert feiern kann – in einem kleinen Taschenbuch zusammenzutragen. Spotless-Verleger Klaus Huhn half ihm, es herauszubringen, aber als es in die Druckerei geliefert werden soll-ten, fehlten einige Seiten. Klaus Huhn beschrieb sie und schlug den Mitgliedern vor, der von Historikern geschriebenen „DDR-Sportgeschichte“ eines Tages eine Sammlung von zu Papier ge-brachten Erlebnissen folgen zu lassen. Das Echo war unglaublich. Bereits vier Monate später war das Manuskript für die „Erlebte Sportgeschichte“ fertig. Ohne eine Spur von Übertreibung ließe es sich als Pflichtlektüre für alle empfehlen, die heute die Geschichte des DDR-Sports aufzuarbeiten vorgeben. Ein Beispiel von vielen. Ungeachtet der Tatsache, dass heutzutage Fußballspieler im Ex-presshandel vom Amazonas an die Isar „versetzt“ werden, wird der Umzug der BSG Empor Lauter nach Rostock von den „Aufarbei-tern“ mit Vorliebe als Super-Beweis für die unmenschliche Kom-mandowirtschaft des DDR-Sports zitiert. Keiner von denen, die darüber parlieren, weiß, was damals wie wirklich geschah, aber al-le klagen an. Seitdem die „Erlebte Sportgeschichte“ erschienen ist, sind alle Geheimnisse enthüllt: Willy Langheinrich hat die Erzge-birgsmannschaft an die Ostsee transferiert und beschreibt alle De-tails dieses Wandels. Man kann nicht damit rechnen, dass dieser Wechsel nun künftig nur noch korrekt nach den Langheinrich-Angaben dargestellt, wird, aber immerhin ließe sich jetzt eine ver-lässliche Quelle angeben. Imponierend die Liste der über 50 Auto-ren, in der man Täve Schur ebenso findet, wie Dr. Ramm, Kreis-schulrat von Seelow/Mark, den Olympiasieger und späteren DTSB-Vizepräsidenten Thomas Köhler und Claudia Laube, Turnerin von Lok Schöneweide, Generalsekretäre, den früheren Chef der Trai-ningsstätte Kienbaum, Gerd Barthelmes. Fast ein „who is who“ des DDR-Sports. Wie zu hören war, hat das Büchlein auch andere Se-niorengruppen motiviert, ihre Erlebnisse zusammenzutragen. Viel-
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leicht entsteht daraus eines Tages eine „zweite“ Geschichte des DDR-Sports.
Erhard Richter (Hrg) – Erlebte Sportgeschichte
Klaus Systol
Harmonie von Geist und Körper
„Harmonie von Geist und Körper - Wirklichkeit und Dichtung bei Goethe” - Im Epilog folgert der Autor, dass die gewonnenen Aus-künfte über Goethes Verhältnis und Verhalten zur Harmonie von Geist und Körper „in einem... hohen Maße zeitgemäß sind“ und verweist auf die im Text ausführlich, quellengestützt und reich illus-triert dargestellten Sachverhalte: Goethes „körperliche Leistungs-fähigkeit in einer erstaunlichen Vielseitigkeit“, die er zum Erleben der Natur, zu Geselligkeit und zur Unterhaltung nutzte. Körperliche Aktivitäten waren ihm Quelle für Gesundheit und Wohlbefinden und nicht zuletzt auch für die geistige Produktivität. Er unterstützte die pädagogischen Reformer seiner Zeit (Pestalozzi, Hegel, Salzmann, GutsMuths, Jahn), die sich um eine harmonische Erziehung der Jugend bemühten. Und schließlich machte er im Alter die Erfah-rung, dass körperliche Aktivitäten „keine Depotwirkung im Alter ha-ben, sondern der altersgerechten Weiterführung bedürfen“, was er vernachlässigte und mit Korpulenz und häufigen Erkrankungen zu spüren bekam. Der Autor wendet sich ausdrücklich gegen Ideali-sierungen Goethes („der erste Bergsteiger im Deutschen Reiche“, „Bahnbrecher des Schwimmens“ u, a.) in Carl Diems „Körpererzie-hung bei Goethe“ (1949). Teil I ist der Jugendzeit gewidmet (Frankfurt, Leipzig, Straßburg, Frankfurt). Teil lI behandelt das Mannesalter („Doppelexistenz“ als Dichter und Amtsinhaber; Wandern, Fechten, Reiten, Jagen, Schießen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Bergsteigen; Reisen in die Bergwelt der Schweiz und des Harzes und nach Italien) und schließt ab mit Altersproblemen und Kuren in böhmischen und an-deren Bädern.Teil III verallgemeinert und ergänzt die aus dem Le-benslauf abgeleiteten Aussagen mit Ausführungen zu Schaffens-problemen, zur Wiederentdeckung antiker Körperkultur (u. a. Wör-litzer Drehbergspiele), zur deutschen „Turnerei“ und zum Men-schenbild, wozu der Autor sich kritisch zur gegenwärtigen Bil-dungssituation äussert: Goethes geistiges Erbe, wäre „zur Wieder-
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belebung ... eines humanistischen Welt- und Menschenbildes Quelle und Ratgeber“. Es wird deutlich, dass der Autor nicht nur als Historiker schrieb, sondern auch als Pädagoge, kann er doch auf Erfahrungen erfolgreicher Jahre als Hochschullehrer für Sportäs-thetik an der DHfK zurückgreifen, wo er die Beziehungen zwischen Sport und Kunst wissenschaftlich und pädagogisch erschloss – nicht zuletzt in einer einzigartigen Sammlung bildkünstlerischer Zeugnisse zu diesem Thema.
Günter Witt - hain verlag - 12,80 € - Weimar, 2003 Günter Wonneberger
Der Langstreckler und
die Diktatur des Proletariats
Um nicht in falschen Jargon zu geraten und die abgenutzten Voka-bel „Ossi“ und „Wessi“ zu strapazieren, sei behutsam angedeutet: Dieses Taschenbuch aus dem Spotless-Verlag fand bislang kein Echo in den westlichen Gefilden unseres Landes. Das kann nie-manden verblüffen, denn es befasst sich mit einem Kapitel bun-desdeutscher Rechtsgeschichte, die heutzutage gern ignoriert wird. Vor Jahr und Tag ritt die Polizei auf, wenn Gefahr drohte, dass die Flagge der DDR zu Ehren eines Siegers gehisst werden würde und der DTSB galt nach höchstrichterlichem Entscheid als „verfas-sungsfeindlich“. Knut Holm hat zu dieser obskuren Situation, die bislang von keinem der in DDR-Angelegenheiten oft so eifrigen Historiker untersucht wurde, eine „Einzelfallprüfung“ vorgelegt, die faktisch unantastbar ist. Ein bundesdeutscher Langstreckenläufer hatte die Einladung zu einem Wettbewerb in Altenburg angenom-men und war dort gestartet. Als man am 16. April 1964 das Verfah-ren gegen ihn vor dem Landgericht Dortmund eröffnete, lag eine 227 Seiten starke Anklageschrift auf dem Tisch und unter den vie-len Gesetzesverletzungen, die man ihm vorwarf, war zum Beispiel auch das Delikt des Landesverrats! Knut Holm saß von der Eröff-nung des Verfahrens bis zur Urteilsverkündung im Gerichtssaal, seine Schilderung ist faktisch unantastbar. Klar wird: 1963 mochte die Bundesregierung wegen des Mauerbaus nicht die Handelsbe-ziehungen zur DDR abbrechen und suchte nach einem „Neben-feld“, auf dem man laut protestieren konnte, ohne weitreichende Konsequenz demonstrieren zu müssen. Dieses „Nebenfeld“ war
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der Sport und die bundesdeutsche Sportführung spielte willig mit. Der Sportverkehr wurde offiziell abgebrochen und unter den Ankla-gepunkten des Langstreckenläufers fand sich auch der Vorwurf, er habe mit seinem Besuch in Altenburg dazu beitragen wollen „die Diktatur des Proletariats“ in der BRD aufrichten zu wollen. Richter und Staatsanwalt litten sichtlich unter der Nötigung, die sie zu voll-ziehen hatten. Aber sie fällten ein Urteil! Heute möchte niemand daran erinnert werden oder sich gar daranmachen, aufzudecken, wie der BRD-Sport zum „Maueropfer“ wurde. Der Nachdruck einer Dokumentation aus der „Frankfurter Rundschau“ komplettiert das Taschenbuch, das sich exzellent als Geschenk für heutige Anklä-ger gegen den politisierten DDR-Sport eignet.
Knut Holm, Der Langstreckenläufer und die Diktatur des Proletariats, Spotless, Berlin
Klaus Systol
DDR-Kinder- und Jugendsportschulen
Als 2002 die „Geschichte des DDR-Sports“ von Wonneberger et al. herauskam, folgte umgehend die Kritik: „so wenig?“, verbunden mit Anmerkungen, was alles zu knapp abgehandelt oder gar nicht er-wähnt worden sei. Statt 400 hätten es 1400 Seiten sein mögen – oder mehr. Warum das nicht ging, haben Klaus Huhn und der Spotless-Verlag begründet. Und es wurde aufgefordert, eigene Bei-träge zur Ergänzung des Bildes vom DDR-Sport aus der Feder der kompetenten Kritiker zu liefern. Mit dem vorliegenden Titel bringt Gerd Falkner nun eine interessante Ergänzung.
Dem Deutschen Skiverband (DSV) ist für die Förderung eines Pro-jektes zu danken, das ursprünglich als Untersuchung über die Wir-kung der Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) auf den Skilauf in der DDR gedacht war, aber alsbald - dafür ist nun eher dem Ver-fasser zu danken – ausgeweitet wurde zu einer Darstellung von den Anfängen der KJS überhaupt, dieser so besonderen, man darf sagen in der Welt des Sports im 20. Jahrhundert einmaligen Er-scheinung.
Es ist viel geschrieben worden über Kinder- und Jugendsportschu-len schon seit ihrer Entstehung, und um so öfter, je mehr sie als ein wesentliches Mittel zu wirken begannen, dem Leistungssport der DDR international Anerkennung zu verschaffen. Und noch mehr
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wurde über sie geredet. Je nach der Position, die der jeweilige Schreiber oder Sprecher zu diesen Einrichtungen einnahm, waren ihre Aussagen entweder von der Präzisierung der Funktion von KJS im Sport der DDR und der Suche nach optimalen Lösungen bei ihrer weiteren Ausgestaltung bestimmt (darüber war vorwie-gend in den Fachzeitschriften des DDR-Sports nachzulesen) oder sie wurden als Medaillenschmieden, als Orte gnadenlosen Leis-tungszwangs für die quasi kasernierten Kinder und Jugendlichen gekennzeichnet – nachzulesen woanders, doch meist auch in deutscher Sprache.
Man erkennt, daß Gerd Falkner in der Schulsportforschung (der DDR) zuhause ist. Die Monographie „Der Aufbau der Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR und ihre Entwicklung bis 1961“ er-reicht zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt den interessierten Le-ser. In der deutschen Öffentlichkeit wird die Diskussion - zu Recht - immer intensiver geführt, welchen Weg der deutsche Sport im drit-ten Jahrtausend gehen soll, insbesondere, welche Funktion er in der heutigen Gesellschaft einnehmen müsse: primär als Zuschau-ersport Mittel zur Unterhaltung passiver Fernsehkonsumenten zu sein – oder Angebote für alle Bürger zu leisten, insonderheit der Jugend. Im Mai dieses Jahres kündigte Manfred von Richthofen bei einer Tagung im DOI an, mit der 2003/2004 laufenden „Schulsport-Studie“ die deutsche Öffentlichkeit und vor allem die Kultusminis-terkonferenz auf die kritische Situation im Schulsport in Deutsch-land aufmerksam zu machen. Ebenfalls im Mai 2003 fand in Berlin das diesjährige Finale von „Jugend trainiert für Olympia“ statt. Eine überregionale Zeitung berichtete dazu „Die Sportgymnasien aus dem Osten dominierten.“ Und hier findet der Leser von Falkners Arbeit die Anregung zum Nachdenken, welchen Nutzen die Erfah-rungen aus 40 Jahren KJS heute bringen könnten oder können. Falkner selbst kann in der Einleitung zum Buch feststellen, daß „...bereits Anfang der 90er Jahre eine sehr sachliche Beschäftigung mit dem Thema <Eliteschulen des Sports und Sportgymnasium>“ (die KJS - W.F.) im Kreis der Fachleute eingesetzt hat.
Denn zu gleicher Zeit „...schien die Angelegenheit 1990/91 so dis-kreditiert und mit so viel, zum Teil auch emotional-negativer Pole-mik überhäuft, daß eine sachlich-objektive Beschäftigung mit die-sem Thema jenseits ideologischer und parteipolitischer Diskussio-nen unterschiedlichster Art, ebenso wie ein Weiterbestehen sportli-
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cher Spezialschulen... ein für allemal... erledigt schien.“ Dieses Buch nun kann zur weiteren Versachlichung beitragen. Falkner hat dafür in ungemein aufwendiger Recherche die einschlägigen Do-kumente der für die KJS zuständigen staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen gesichtet.
Er erkennt zwei Entwicklungsphasen in der Geschichte der KJS: die Zeit ihrer Gründung bis 1961 und die Phase seit 1961 unter den bekannten politisch gewandelten Bedingungen bis 1990, die ge-prägt war „durch das später so charakteristische Erscheinungsbild als Kaderschmieden von Weltklasseathleten“, „die forciert in den 60er Jahren einsetzte und bis zum Beitritt der DDR zur Bundesre-publik im Jahre 1990 immer weiter ausgestaltet, aber zunehmend auch deformiert und diskreditiert wurde“. Sichten und Wertungen, über die weitere Diskussionen folgen werden.
Falkner wendet sich in seiner Untersuchung der ersten Phase der KJS-Entwicklung zu – eine verdienstvolle Entscheidung, denn er stellte besonders in seinen Gesprächsserien fest, daß sehr viele der in den 80er Jahren an den KJS arbeitenden Lehrer ebenso wie die zuständigen Funktionsträger im Staatssekretariat für Körperkul-tur und Sport, in den Ministerien und in den Sportorganisationen über die Gründungsphase der KJS vielfach keine exakten Kennt-nisse (mehr) besaßen; der Generationswechsel hatte seit längerem eingesetzt. So war es für ihn besonders wertvoll, das in den Explo-rationen erfaßte Wissen der Verantwortungsträger der Anfangsjah-re nutzen zu können. Damit liegt mit der Monographie eine ge-schlossene und ausführliche Darstellung vor, wohltuend sachlich auch in ihren kritischen Wertungen einer Einrichtung, die für den DDR-Sport von eminenter Bedeutung wurde. Sie fand international Beachtung, viele Länder nahmen Anregungen von ihr auf, die sich vorteilhaft auf den Sport der Jugend und ihr Leistungsstreben aus-wirkten.
Wolfgang Ahrens, von 1967 bis 1974 Direktor der KJS „Ernst Thälmann“ in Leipzig, überlegt in seinen Erinnerungen an diese Zeit, ob von den KJS etwas bleiben wird: „Konnte und kann es sie in ähnlicher Form in der BRD geben? Ich behaupte: Nein!“ (Beiträ-ge zur Sportgeschichte 11/2000). Es ist sicherlich einer Diskussion wert, ob überhaupt und was aus der Erfahrung „Kinder- und Ju-gendsportschule“ weitergetragen werden kann. Falkner hat neue Anstöße gegeben zu prüfen, ob Potenzen brach liegen.
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Für den im DDR-Sport aktiv gewesenen Leser hätte dieser flüssig geschriebene Bericht ohne Abkürzungsverzeichnis auskommen können. Da Gerd Falkner aber einen viel größeren Leserkreis an-spricht, ist es notwendig. Vollständigkeit wäre jedoch angeraten gewesen: zum Beispiel mit TuP: (Zeitschrift) Theorie und Praxis der Körperkultur; Päd.: Zeitschrift „Pädagogik“; ZfG: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft; DZfPh: Deutsche Zeitschrift für Philoso-phie; APW: Akademie der Pädagogischen Wissenschaften - usw. Die Abkürzungen der Archive hätten, vervollständigt, besser vor das Quellenverzeichnis gepaßt.
Die ausgewählten Dokumente zeigen, daß der Autor seinen Schwerpunkt auf die bestimmende Rolle der Volksbildungsorgane gelegt hat. Sie waren federführend, auch wenn die SED bei der Leitung aller Prozesse auch im Sport, hier in der Führung der KJS zu berücksichtigen ist. Über Periodisierung kann man streiten. Falkner hat seine Wahl begründet (S. 88) – wie hätte der DDR-Sport sich in anderen Entwicklungsschritten bewegen sollen, wenn nicht in Abhängigkeit von den großen politischen Zäsuren – wie 1961? Bis dahin reicht die Darstellung. Das kann kein Endpunkt sein – Kinder- und Jugendsportschulen arbeiteten bis 1990/1991 und wirken nach bis heute. Also wann kommt Teil II (1961–1990/91)?
Gerd Falkner, Hrsg.: Deutscher Skiverband, Planegg 2003,
Wolfhard Frost
Spurt durchs Leben
Nach „Leben in Fahrt“ (Sportverlag 1984) und „Als ich in Bonn meine Akte fand“ (SPOTLESS-Verlag 1997) liegt – pünktlich zum 75. Geburtstag des Autors – der Rückblick „Spurt durchs Leben“ mit dem Untertitel „Versuch einer lückenfüllenden Bilanz“ vor. Knappe Auskünfte über die Familie, die Kindheit und Jugend im Zweiten Weltkrieg leiten die Bilanz eines renommierten Journalis-ten ein, der im Juni 1945 in einem zerbombten Haus in der Berliner Zimmerstraße bei der „Deutschen Volkszeitung“ und dem damali-gen Chefredakteur Paul Wandel begonnen hatte und seit ihrer Gründung am 23. April 1946 bei der Tageszeitung „Neues Deutschland“ bis zum 14. August 1990 tätig war, vor allem als Sportjournalist und Jahrzehnte für die Sportseite zuständig. In die-
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ser Zeit wirkte er 17 Jahre im Vorstand der Europäischen Sport-journalistenunion (UEPS), davon vier Jahre als Generalsekretär der Union, die ihm 2002 die Ehrenmitgliedschaft verlieh.
Leben in der Konfrontation, keineswegs aus Prinzip, sondern Wi-derwillen. Die Verhältnisse waren so. Davon zeugt Klaus Ullrich Huhns Buch „Spurt durchs Leben“ - wie übrigens auch der von ihm 1990 gegründete und seitdem geleitete SPOTLESS-Verlag mit sei-ner inzwischen Viertelmillion verkaufter Bücher. Im nun vorliegen-den Buch berichtet der Autor vor allem über seine Tätigkeit als Journalist von „Neues Deutschland“, als Directeur der „Friedens-fahrt“, der größten Amateur-Etappenfahrt des Radsports, und als Journalist bei insgesamt 17 Olympischen Spielen in der Zeit von 1956 bis 1988 mit den und für die Athletinnen und Athleten aus der DDR. Im letzten Kapitel, „Lehrnacht bei Siqueiros“, zieht der Autor Bilanz. Der Leser – sollte es gelingen, aufgeschlossen und vorur-teilslos zu bleiben – wird feststellen, daß zumindest ein weiteres „Geheimnis“ der Leistungsfähigkeit des DDR-Sports nicht nur „ge-lüftet“, sondern glaubhaft belegt wird: die Fülle der Probleme und oft auch vorsätzlich geschaffenen Hindernisse für die Sportlerinnen und Sportler aus der DDR, war nur gemeinsam, im vorbehaltlosen Zusammenwirken aller zu überwinden. Und dafür war sich niemand zu Schade. Niemand war sich zu Schade, das Seine zu tun im Inte-resse der Athletinnen und Athleten, um ihnen die besten Bedin-gungen zu schaffen, im Prozeß der langfristigen Vorbereitung ebenso wie im Prozeß der Wettkampfvorbereitung und zu jeder Zeit am Wettkampfort. Dafür setzten sich alle vorbehaltlos mit ihren Ideen und ihrer Tatkraft ein, bis hin zu den Journalisten. Und der Leser wird bei der Lektüre dieses Buches – möglicherweise - ein-mal mehr bezweifeln, ob das seit 1990 verordnete eher abschre-ckende Bild von der DDR im allgemeinen und vom DDR-Sport im besonderen – trotz des betriebenen Aufwandes – glaubwürdig ist. Ob – und das wird in dieser Bilanz immer wieder deutlich - nicht vielmehr stets bedacht werden muß, daß in der Bundesrepublik der Adenauer-Zeit der Teil der Nazipolitik, der den Krieg gegen die Sowjetunion als Kampf gegen den Stalinismus darstellte, bald Wurzel einer Nachkriegstradition war, die als legitimatorischer Fak-tor sowohl den alten Nazis nützte als auch dem aggressiven Anti-kommunismus und einer aus der Zeit vor 1945 tradierten Aggressi-vität gegen die DDR, die auch den Sport nicht verschonte.
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Der Schriftsteller Walter Kaufmann – er stand 1956 in Melbourne als Australier den Athleten aus der DDR als Olympia-Attaché zur Verfügung - resümiert in seiner Rezension des Buches in der Zeit-schrift „Ossietzky“ (14/2003, S. 500) „...und es war dem Australier eine Genugtuung, daß nach der ‚Rückwende„ sein einstiger ‚Beglei-ter„ so besessen wie eh und je geblieben war, mitreißend auch, un-verzagt und seinen Ansichten treu. Er hat die Menschen..., die sei-ne Wege teilten nicht vergessen, seine Freunde und Genossen nicht, auf die Verlaß war. Und wie er nach dem erschütternden Ab-schnitt über Gerhard Rieges Selbstmord sehr bewußt Wolf Bier-manns zynische Verlautbarungen über den ‚Nutzen„ solcher Selbstmorde zitiert: ‚Es würden Wohnungen frei für Asylanten. Die Gesellschaft würde Milliarden an Pensionen und Renten sparen„, so schweigt er auch nicht über andere Zeitgenossen, die ihm zuwi-der waren.“ Klaus Ullrich Huhn – und das offenbart diese Bilanz immer wieder nachdrücklich - gehört zu denen, die vom Recht des Subjekts Gebrauch machen, Einspruch zu erheben, indem sie die Dinge beim Namen nennen. Aber - und das wußte schon Adorno – das ist in dieser Gesellschaft oft schon des Guten zu viel und bringt in Konfrontation.
Klaus Ulllrich Huhn, Spurt durchs Leben, Spotless-Verlag, 2003,
Margot Budzisch
Die Steuerung und Regelung des Betriebs der Skelettmuskeln
Der Autor hielt es für angemessen, nachdem er auf eine mehr als 30jährige Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Organfunktionen des Körpers unter den Bedingungen hochleistungssportlicher An-forderungen zurückblicken kann, dieses Buch zu schreiben, das er in neun Kapitel gliedert. Für mich ist, da ich den Autor jahrelang persönlich kenne und erlebe, bestens nachvollziehbar, wenn er sich wiederholt beklagt, daß bis dato im deutschsprachigen Raum für das größte menschliche Organ, das Organsystem „Skelettmus-kel“, keine fachärztliche Kompetenz gegeben ist. Bis 1989 gab es Ansätze, in denen sich die Sportmedizin der DDR mit dem Fach-arzt für Sportmedizin dieses Problems für ausgewählte inhaltlich-relevante Themenfelder anzunehmen versuchte. Von Ganzheitlich-keit konnte auch da nicht die Rede sein. Der Autor bemängelt zu
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Recht, daß die Forschungsarbeit sowie Diagnostik und Therapie im Bereich der menschlichen Skelettmuskulatur noch viele Wünsche offen läßt. Da der Autor die Ansätze, Ergebnisse und Schlußfolge-rungen seiner Forschungsarbeiten zur Betriebsweise des skelett-motorischen Systems auch immer als betreuender Arzt verschie-dener Sportarten in der Praxis selbst erproben und erleben konnte, kam er auch zu der Erkenntnis, daß dem Skelettmuskelgewebe von Tier und Mensch mit seinen Steuer- und Regeleinrichtungen eine Sonderstellung unter allen Geweben einzuräumen ist, die er ausreichend begründet. Der Verfasser stellt das funktionelle Ge-schehen im skelettmotorischen Großsystem in Form eines Modells vor. Dabei versucht er die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß unsere anatomisch-histologisch geprägte statische Betrachtungs-weise, wegen der sich ständig ändernden betrieblichen Abläufe und dem Anpassungszwang im Skelettmuskel, an der Realität vor-beigeht.
Insgesamt ist die Monographie als eine wertvolle Beschreibung der skelettmotorischen Vorgänge mit wissenschaftlich modernsten Be-trachtungsweisen und Auffassungen einzuordnen, die auch rich-tungsweisend für die Zukunft sind. Sie entspricht in ihren Textfas-sungen und Erläuterungen mit vergleichenden Beispielen aus der Tierwelt der dem Autor sehr eigenen Darstellungsart, die immer wieder Bewunderung beim Leser hervorruft. Er ist ein Meister in der verblüffend einfachen Darstellung komplizierter physiologischer Vorgänge und Zusammenhänge. Interessenten werden deshalb viele sein, die auf interdisziplinär orientierten muskelphysiologi-schen Tätigkeitsfeldern wirken.
Manfred Paerisch, Die Steuerung und Regelung...;Schkeuditz 2003,
Klaus Gottschalk
Frauen und Sport in der DDR
Als Sportlehrerin, die am 1. September 1953 - nach einem Studi-um an der Friedrich-Schiller-Universität Jena - ihre berufliche Tä-tigkeit begann und 1990 mit dem Eintritt ins Rentenalter beendete, las ich diesen „Bericht über den Alltag des Sports von Frauen in der DDR“ (Büch, S. 3) besonders erwartungsvoll und interessiert. Hatte ich doch selbst die Entwicklung des Sports in der DDR als aktive Sportlerin, Sportstudentin, Sportlehrerin an allgemeinbilden-
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den Schulen und im Hochschuldienst, als Bezirksturnrat und im Prozeß der Lehrerweiterbildung erlebt und mitgestaltet. Besonders gespannt war ich darauf, ob und inwieweit das breite Quellenstu-dium, die vielfältigen Analyse- und Rechercheergebnisse zu vorur-teilslosen Wertungen führen. Die beeindruckende thematische Breite dieses Berichts vom „Geschlechterarrangement in der DDR“ über „Frauen und Sport im Spiegel der DDR-Literatur“, „Diploma-tinnen im Trainingsanzug – Frauen im Hochleistungssport“, „Frau-en im Breiten- und Freizeitsport“ bis zu „Frauen und ihr Desinte-resse am Sport...“ untersetzt durch statistische (nicht mathema-tisch-statistische) Analysen und Befragungsergebnisse ließen viel-fältige und differenzierte Aussagen erwarten. Wenngleich die Auto-rin selbst das Vorgestellte als „Bruchstücke“ (S. 11) oder auch „Mosaiksteine“ (S. 248) bezeichnet, in ihrer Analyse die Gesell-schaft für Sport und Technik, den Schulsport und die Sportleh-rer/innen-Ausbildung, die Sportwissenschaft, die Ausbildung und berufliche Situation der Trainer/innen nicht berücksichtigt (S. 10) und ihre „Ergebnisse im Kontext der Geschlechterforschung“ (S. 11) diskutiert. Trotz all dieser Einschränkungen ist und bleibt man - als noch immer aktive Leichtathletin und Sportlehrerin mit 40jähriger Berufspraxis – gespannt auf die Ergebnisse dieser Un-tersuchung.
Auch wenn es erklärte Absicht der Autorin war, sich „nicht in eine allgemeine Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftssystem zu verstricken“ (S. 11), verblüfft doch zunächst, daß in den Kapiteln zur „historischen Entwicklung der Frauen- und Familienpolitik in der DDR“ (S. 26) und zu „Sport und Politik in der SBZ“ (S. 58) zwar die bedingungslose Kapitulation 1945 durch Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges und die Direktive 23 des Kontroll-rats in Deutschland vom 17.12.1945 genannt werden, aber die entscheidende Bedingung für das Entstehen einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung im Osten Deutschlands, das am 2.8.1945 auf der Potsdamer Konferenz unterzeichnete Potsdamer Abkommen, nicht einmal erwähnt wird. Ebensowenig ist zu verste-hen, daß eine „historische Rekonstruktion“, in diesem Fall zur Emanzipation der Frauen, den Prozeßcharakter solch eines au-ßerordentlich lange währenden und komplexen Prozesses und das dadurch bedingte Spannungsverhältnis zwischen den politischen Zielen, dem ständigen Ringen um die Realisierung dieser Ziele
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und ihrer Durchsetzung bis hin zur Verankerung in den tagtäglich gelebten Werten weitgehend unberücksichtigt bleibt. So wird be-reits eingangs (S. 10) völlig unbelegt behauptet, daß „die „Frauen-frage‟ in der DDR als gelöst galt“. Solch eine Illusion hegte im Wis-sen darum, daß das nicht nur und ausschließlich eine politisch-rechtliche Frage der Gleichstellung von Mann und Frau ist, son-dern insbesondere ein vielschichtiges ökonomisches und politisch-soziales Problem, das nur in langwierigen Entwicklungen über Ge-nerationen lösbar sein wird, wohl niemand. Diese den Prozeßcha-rakter und die Komplexität der analysierten Prozesse vernachläs-sigende Sichtweise wird auch nicht durch die Fülle der Einzelbele-ge und Einzelbeispiele gemildert und schon gar nicht durch die Er-gebnisse einer der qualitativen Forschung zuzuordnenden Befra-gung (S. 209 ff), sondern eher verschärft. Sicher ist manches Er-gebnis interessant und überdenkenswert, sofern der Leser das Einzelne im Zusammenhang mit dem Besonderen und Allgemei-nen sieht, auch Falsches, Fehldeutungen und Fehlschlüsse igno-riert. Alles in allem gilt aber für die vorgelegte Analyse die Antwort von Edelfrid Buggel auf die Frage „Wurde der Volkssport in der DDR vernachlässigt?“: „Von primärer Bedeutung ist, unter welchen gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen der aufgeworfene Sachverhalt analysiert und bewertet werden soll.“ Bei aller Hoch-achtung, zum Beispiel für die Breite der Analyse, zieht sich doch leider wie ein roter Faden durch die gesamte Arbeit die Sichtweise - salopp gesagt - „das Glas ist nicht halb voll, sondern halb leer“. Schade! Bis zu einer tatsächlich vorurteilsfreien Wertung scheint es noch ein langer, langer Weg zu sein.
Gertrud Pfister; Sport und Frauen in der DDR;- Sport und Buch Strauß;- Köln 2002
Annemarie Weigt
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Chronik des Skisports
der Wintersportregion Klingenthal
Diese bemerkenswerte Chronik des Skisports der Wintersportregi-on Klingenthal umfaßt den Zeitraum von 1886 bis 2002. Sie infor-miert über die „große Zeit der Skipioniere“ (1886 – 1945), über die Zeit, in der „der Medaillenreigen... eingeläutet“ wird (1946 – 1969), über „Klingenthaler auf der Medaillenspur“ (1970 – 1980), darüber als den „Mühen der Berge... die der Ebene“ folgen (1981 – 1990) und abschließend in einem Kapitel, das den Titel „Schwieriger Start in eine neue Zeit“ (1990 – 2002) trägt. Die Chronologie listet akri-bisch die Entwicklungen und Leistungen auf, die Anfänge und die ersten nationalen und internationalen Erfolge, die Ergebnisse aus jener Zeit als Klingenthaler Athletinnen und Athleten beständig zur Weltspitze gehörten, und die Ereignisse und Leistungen nach 1990 mit schwierigem Start, wie der Autor formuliert. Höchst sachlich wird in erster Linie das von den Athletinnen und Athleten Erreichte aufgelistet. In den Jahren zwischen 1956 und 1990 muß offenbar aus der Fülle streng ausgewählt werden. Denn so selbstverständ-lich wie die Ergebnisse der Junioren-Europa- und der Junioren-Weltmeisterschaften Platz finden, können die der Jugendwett-kämpfe der Freundschaft, der DDR-Jugendmeisterschaften oder der Zentralen Kinder- und Jugendspartakiaden nur ausnahmsweise berücksichtigt werden, wenn die Klingenthaler Starter ganz Beson-deres vollbrachten, zum Beispiel drei Goldmedaillen gewannen wie Lutz Liebig 1984, Caroline Schimmel oder Alexander Ziron 1987. In den Jahren nach 1990 ist das anders, nun zählt jede Deutsche Ju-gendmeisterschaft. Auch die 1. Vogtländischen Kinder- und Ju-gendspiele werden genannt. Der Landrat des Vogtlandkreises, Dr. Tassilo Lenk, legt allerdings bereits in seinem Vorwort Gründe da-für dar, wenn er schreibt: „Die politische Wende brachte große Schwierigkeiten bei der Umsetzung der leistungssportlichen Ent-wicklung... Finanzielle Unsicherheiten führten Anfang der 90er zur Fluktuation von Auswahlsportlern...“ Und so erfährt man in dieser Chronik auch etwas über die Ex-Klingenthaler, wie Sven Hanna-wald, Gerd Siegmund oder René Sommerfeld. Und man erfährt: „2001 Erstmals seit 1954 fehlen Sportler aus Klingenthal bei einer Ski-Weltmeisterschaft.“ (S. 61) Trotz aller Anstrengungen und der Bündelung der Kräfte, zum Beispiel durch Bildung des Vogtländi-
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schen Skiclubs Klingenthal, konnte das nicht verhindert werden. Diese Chronik ist also nicht nur aufschlußreich, sondern auch lehr-reich.
Thorald Meisel; Skisport Klingenthal; Skiclub Klingenthal e.V.; 2002
Margot Budzisch
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GEDENKEN
Gerhard Michael
(14. September 1920 - 9.August 2003)
Die Vokabel „Urgestein“ hat sich abgebraucht. Bei Gerhard Michael kommt man dennoch nicht an ihr vorbei. Wenn jemand zum „Urge-stein“ des DDR-Sports gehört, dann er. In seinem Weißenfelser „Vorleben“ brachte er es bis zum Reichsbahninspektor. Dann trieb ihn der Faschismus in die Schützengräben. Der begeisterte Anhä-nger friedvollen Sports lernte die Schrecken des Krieges kennen und kämpfte seitdem er aus den Schlachten heimkehrte, mit allen Kräften für eine friedliche Zukunft. Der Sport der DDR schien ihm das ideale Feld für dieses Anliegen. Er begann an der „Basis“, stand in der Mannschaft, die den ersten Ostzonen-Handballtitel er-rang, gehörte zur Sprintstaffel, die den ersten Rekord lief und stieg in den Zug nach Berlin, als dort Freiwillige gesucht wurden, die den neuen nazifreien Sport aufbauen sollten. Er stieg auf zum stellver-tretenden Leiter der Abteilung Sport im Deutschen Sportaus-schuss. Nie werde ich vergessen, wie wir beide 1954 zum ersten Mal die deutschen „Alleinvertreter“ hinter uns ließen und mit Hilfe italienischer Genossen der DDR-Schwimmnationalmannschaft den Weg zu ihren ersten Europameisterschaften nach Turin ebneten, wo Jutta Langenau Weltrekord schwamm und einen Titel gewann. Zum ersten Mal gelangte die DDR in die Schlagzeilen. 1956 fun-gierte er als Mannschaftsleiter bei den Olympischen Spielen in Melbourne. Er war einer der Pioniere der Gründerjahre und würde sich je jemand aufraffen können, eine „Halle des Ruhms“ des DDR-Sports einzurichten, würde sein Bild in der ersten Reihe hängen. 1963 übernahm er die Leitung des mit 21 Sportarten größten Berli-ner Sportklubs, des TSC und führte ihn zu vielen Erfolgen. Gerhard war für seine Umwelt nicht immer „bequem“, was ihm nicht nur Är-ger, sondern auch Nachteile eintrug, aber nichts konnte ihn davon abbringen, der Sache, der er sich verschrieben hatte, die Treue zu wahren. So übernahm er 1970 die Aufgabe, das Berliner Schul-schwimmen zu leiten und mit welcher Konsequenz er sich dem Auftrag widmete, verrät die Tatsache, dass er Oberlehrer und schließlich Oberstudienrat wurde. Hätte man die Prinzipien, die er für das Schulschwimmen eingeführt hatte, nach der Rückwende
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beherzigt, würde manches heute anders aussehen. Als der TSC nur Monate vor seinem Tod den 40. Jahrestag feierte, war er um-schwärmter Ehrengast an der Festtafel. Wolfgang Helfritsch, lange Jahre Leiter der Berliner KJS widmete ihm weise Worte zum Ab-schied. Worte, die auch dafür sorgen werden, dass Gerhard Mi-chael nicht in Vergessenheit gerät.
Klaus Huhn

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Beiträge zur Sportgeschichte
Heft 18/ 2004
INHALT
5 Seelenbinders „Front“-Grab
Klaus Huhn
DOKUMENTATION / DISKUSSION
10 Ein Kapitel Wintersport der Arbeitersportbewegung
Martin Lein
14 Von der Schanze in den Schützengraben
Thorald Meisel
17 Startverbot für Bundeswehrangehörige
Klaus Huhn
19 Das Erfolgssystem des DDR-Hochleistungssports – Sozia
listisches Plansystem auf der Basis kapitalistischer Prinzi
pien
Wolfgang Buss
30 Die soziale Absicherung der Leistungssportler in der DDR -
ein kaum wahrgenommes Phänomen
Christian Oppel
42 Sport für alle Kinder – ein Erfahrungsbericht
Irmgard Boywitt
46 Sportsoziologie in der BRD 1952-1990: Entwicklungen,
Schwerpunkte und Erträge
Bero Rigauer
53 Sportsoziologie in der DDR in den 80er Jahren – zwischen
Aufschwung und (W)Ende
Klaus Rohrberg
63 Delegitimierung statt Wahrheitssuche
Joachim Fiebelkorn
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JAHRESTAGE
68 Vor 40 Jahren: Wie es zur letzten gesamtdeutschen Olym-
pia-Mannschaft kam
Klaus Huhn
76 ZITATE
REZENSIONEN
96 Das Wunder von Bern
Günther Wonneberger
104 Sport meine große Liebe
Rainer Rau
105 Gipfelbücher & Bergsprüche
Günther Wonneberger
106 Fußball und Triathlon
Klaus Huhn
107 CHRONIK des Behindertensports der DDR
Annemarie Weigt
109 POST
Leserbrief an Horst Forchel
Volker Kluge
Leserbrief-Anwort
Horst Forchel
GEDENKEN
113 Hans Weckel
Hans-Georg Kremer
114 Eberhard Kunze
Hans-Joachim Bartmuß und Wolfhard Frost
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DIE AUTOREN
HANS-JOACHIM BARTMUSS, Dr. phil. habil., geboren 1929, Prof. für mittelalterliche Geschichte an der Martin-Luther-Universität Hal-le-Wittenberg 1972 bis 1993, Vorsitzender des „Fördervereins zur Traditionspflege und Erhaltung der Friedrich-Ludwig-Jahn-Gedenkstätten e.V.“ zu Freyburg an der Unstrut.
IRMGARD BOYWITT, geboren 1925, Sportlehrerin, Dipl.-Gesellschaftswissenschaftlerin, Studienrätin, Kreisturnrat Berlin-Friedrichshain 1956 bis 1985.
WOLFGANG BUSS, Dr. phil., geboren 1944, Privatdozent am Insti-tut für Sportwissenschaften der Georg-August-Universität Göttin-gen. Fellow der Europäischen Gesellschaft für Sportgeschichte (CESH).
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefre-dakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963.
HORST FORCHEL, Dr. paed., geboren 1931, Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1978 bis 1990.
WOLFHARD FROST, Dr. phil. habil., geboren 1931, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1985 bis 1991.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
VOLKER KLUGE, geboren 1944, Diplomjournalist, Mitglied des NOK für Deutschland 1990 bis 1993.
HANS-GEORG KREMER, Dr. paed., geboren 1946, Leiter des Hochschulsports der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
MARTIN LEIN, 1904 bis 1995, Skilangläufer in der Arbeitersport-bewegung im Erzgebirge bis zu seiner Verhaftung 1933.
CHRISTIAN OPPEL, Dr. paed., geboren 1934, Leiter des „Büros zur Förderung des Sports in den Betrieben“ beim Staatssekretariat für Körperkultur und Sport der DDR 1985 bis 1990.
RAINER RAU, geboren 1943, Lehrer für Sport und Geschichte.
BERO RIGAUER, Dr. der Sozialwissenschaften, geboren 1934, Prof. für Sportsoziologie an der Universität Oldenburg bis zur Eme-ritierung.
KLAUS ROHRBERG, Dr. sc. paed., geboren 1932, Prof. für Ge-schichte und Theorie der Körperkultur an der Pädagogischen Hochschule Zwickau und der Universität Chemnitz/Zwickau 1985 bis 1994.
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ANNEMARIE WEIGT, geboren 1930, Diplom-Pädagogin, Studien-rätin.
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972, Präsident des International Committee for History of Sport and Physical Education (ICOSH) 1971 bis 1983, Mitglied der dvs.
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Seelenbinders „Front“-Grab
Von KLAUS HUHN
An jenem Sonnentag hätte niemand vorauszusagen gewagt, wie viel Schatten sich eines Tages über das Geschehen breiten würde. Man schrieb den 30. Juli 1945. In Berlin wurde keine drei Monate nach der faschistischen Kapitulation im 1930 eröffneten Sportsta-dion Neukölln vor überfüllten Rängen das erste Nachkriegssport-fest veranstaltet. Der Magistrat hatte entschieden, den Tag mit ei-ner Demonstration des Antifaschismus zu krönen. Von den Nazis verfolgte Sportler trugen die Urne des Ringers Werner Seelenbin-der, die man auf dem Massenfriedhof an der Hinrichtungsstätte des Brandenburger Zuchthauses ausgegraben hatte, in die Arena und dann zu der kleinen Grube am Stadioneingang unter einem alten Baum, um ihn hier zur letzten Ruhe zu betten. Ich werde den Au-genblick nie vergessen, da man die Urne hinabtat und verkündete, demnächst würde hier ein Denkmal errichtet. In der gleichen Stun-de wurde das Stadion in „Werner-Seelenbinder-Kampfbahn“ um-benannt und die Tausende feierten die Verkündung.
Bald darauf flammte der Kalte Krieg auf und im US-amerikanischen Sektor Berlins war Werner Seelenbinder eines seiner ersten Opfer. Mit dem Denkmal ging es nicht voran und am 12. September 1949 wurde ohne Aufsehen mitgeteilt, daß das Stadion fortan wieder seinen alten Namen trüge. Das Grab des Olympioniken wurde durch eine Hecke abgegrenzt und bald darauf sogar durch ein Gít-ter eingezäunt.
Zwei Jahre später erschien in der DDR das Stephan-Hermlin-Buch „Die erste Reihe“, das ein literarisch bemerkenswertes Seelenbin-der-Porträt enthielt.
Daran zu erinnern ist eine moralische Pflicht, da sich Seelenbin-ders Geburtstag in diesem Jahr - am 2. August - zum hundertsten Mal jährt und sein Hinrichtungstag zum 60. Mal.
Zur Würdigung einige Passagen aus dem Hermlin-Text: „Werner Seelenbinders, des Ringers, Leben hätte von Anfang an ganz an-ders verlaufen können. Ein starker, gutmütiger Junge, aus der Ar-beiterschaft kommend, mühsam aufwachsend in Nachkrieg und In-flation, mit einem ausgeprägten Interesse für den Sport mit vier-zehn Jahren aktiv in einem kleinen Klub: Neuköllner Athletikklub
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Eiche. Wer denkt beim Hören solches Namens nicht an Zeichnun-gen von Heinrich Zille? Seelenbinder hätte in irgendeinem Vor-stadtklub eine Größe werden können, um später vielleicht, allmäh-lich im Alkohol verkommend, auf Jahrmärkten zu ringen. Oder er hätte auch, Entdeckung eines geschickten Managers, seine Freun-de vergessen können, um für einige Zeit ein Star im bürgerlichen Sportbetrieb zu werden, ein professionelles Fleisch- und Muskel-bündel, ein Nursportler, ein Ringer und sonst nichts, Objekt und Einfädler von tausend kleinen Intrigen und Betrügereien, ein stumpfer, wulstnackiger Gladiator.
Die ihn aus der Wirklichkeit oder von Bildern kennen, sehen einen jungen Athleten vor sich. Über dem mächtigen Brustkasten, den riesigen Schultern, erhebt sich auf einem starken Hals (den haben sie ihm mit dem Beil durchschlagen, denkt man erschaudernd) ein gut gebildeter hochstirniger Kopf mit ebenmäßigen Zügen unter dunkelgelocktem Haar. Die großen Augen leuchten freundlich, le-bendig. Das war der Deutsche Halbschwergewichtsmeister im Rin-gen Werner Seelenbinder.
Er war Page im Café Imperator. Die kokette Uniform, die er zu tra-gen hatte, damit er den Herren und Damen von der Börse ein wohlgefälliger Anblick sei, war ein Teil der Welt des Scheins, an der sich Werners Blick nicht trübte, sondern nur schärfte... Die Wahrheit war bei den Leuten seinesgleichen, zu Hause, in den Gewerkschaftsversammlungen, in den Büchern mit den Namen Marx und Lenin auf dem Einband, in denen er sich bald gut aus-kannte, auch bei seinen Kameraden im Sportverein, die mit ihm trainierten und über Armzug, Hammerlock und Doppelnelson spra-chen.
Werner wurde unter seinen Kollegen schnell eine kleine Berühmt-heit - der Junge hatte auch zu gute Anlagen, er war der Ringer par excellence... Dabei ging es mit ihm die ganze Zeit steil nach oben. Sein Verein war jetzt der Sportclub Berolina. Werner, der als Transportarbeiter bei der AEG Treptow arbeitete, war größer, schwerer, erfahrener geworden. Er fand nicht mehr viele gleichwer-tige Gegner, und man sprach überall in Deutschland von ihm, sein Ruf hatte bald auch die deutschen Grenzen überschritten. Aber er blieb Amateur und blieb beim Arbeitersport, der im kapitalisti-schen Deutschland, ohne finanzielle Mittel, im Schatten feudaler, meist von Offizieren und reaktionären Akademikern geführter
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Klubs, übergangen von den Schlagzeilen der Sensationspresse, einen schweren Stand hatte... In der ersten großen Ringerveran-staltung nach Hitlers Machtergreifung, an der Werner Seelenbinder teilnahm und bei der er, wie gewöhnlich, siegte, hoben am Schluß die versammelten Ringer den Arm zum Hitlergruß. Man sang das Horst-Wessel-Lied. Wie viele von Werners alten Anhängern befan-den sich in der Menge der Zuschauer. die sich bereitwillig oder zö-gernd erhob?
Im Ring stand mit den geschlagenen Rivalen der große, freundli-che, beliebte Werner Seelenbinder; aber er hatte die Hand nicht erhoben, und seine Lippen waren zusammengepreßt. Es gab noch eine ganze Menge, die Hitler nicht verdorben hatte; das Lied er-starb, Beifall für Seelenbinder klang auf, Zurufe, mit einemmal ma-nifestierte der ganze Saal. Werner wurde verhaftet, nach ein paar Tagen entlassen. Er war ein großer Sportler, vielleicht war er für das Regime zu gebrauchen. Aber man disqualifizierte ihn für ein Jahr... Werner Seelenbinder war kein Visionär, aber er sah ganze Armeen von Sportlern ins Massengrab ziehen. Die Kulisse der Ber-liner Olympiade wurde vor dem täglichen Mord in den Konzentrati-onslagern, der Rassenhetze und einer Armada von Panzern und Bombern ausgerichtet... Als Werner Seelenbinder in die deutsche Olympiamannschaft eingereiht wurde, erklärte er seinen besten Freunden seinen Plan: Er müsse unter allen Umständen siegen; dann, bei der Siegerehrung, vor dem Mikrophon stehend, würde er der ganzen Welt die Wahrheit über das Hitlerregime ins Gesicht schreien. Er war nicht unter den Siegern. Er konnte in seiner Klas-se nur den vierten Platz besetzen. Man sagt, daß Werner Seelen-binder, der, gerade weil er ein guter Sportsmann war, auch lä-chelnd verlieren konnte, später geweint und von seiner schwersten Niederlage gesprochen habe... Man war auf ihn aufmerksam ge-worden. In Paris, wo er auf dem Turnier während der Weltausstel-lung 1937 einen großen Erfolg errang, durchwühlten Naziagenten sein Gepäck im Hotel. Er war als Sportler und politischer Kämpfer in Italien, in Dänemark, Schweden und Finnland tätig. Auf ganz selbstverständliche Weise hatte Werner Seelenbinder sein Leben lang seine Liebe zu den Menschen und ihrer Zukunft mit der Liebe zu seinem Sport verbunden, bis er im Februar 1942 verhaftet wur-de. Fast zwei Jahre lang hat er, ein starker, blühender Mensch, der niemals jemandem ein Leid zugefügt, sondern immer den Schwa-
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chen und Getretenen geholfen hatte, Furchtbares erduldet. Bis zu-letzt zeigte er die rührende, einfache Anhänglichkeit, die er seinen Freunden und seiner Familie entgegenbrachte. Sein letzter Brief aus dem Zuchthaus Brandenburg ist an diese Nächsten gerichtet... Seiner darf gedacht werden mit den Worten des Pindar für den Ringkämpfer Epharmostos:
„Welcher Schrei erbrauste laut, als aus dem Ring er schritt!
In reifer Blüte stand er da und schön.
Das Schönste aber war die Tat.‟“
Als Hermlin seinen Text vorstellte, war keine Dutzend Kilometer entfernt Seelenbinders Grab längst verriegelt. Freunde und Genos-sen schlugen sich an seinem Geburts- oder Todestag, von Polizei eskortiert, zu seiner letzten Ruhestätte durch.
1966 hatte ich mich aufgemacht, herauszufinden, ob man es in der „freien Stadt“ schon geschafft hatte, ihn in die Vergessenheit zu stoßen. Beim Berliner Landessportbund riet man mir, die Frage nach seiner letzten Ruhestätte dem Leichtathletikverband zu stel-len. Dieses Gespräch wurde am 9. August 1966 geführt und ende-te ergebnislos.
Der „Informationspavillon des Verkehrsamtes Berlin“ vermutete das Grab in Ostberlin, dieweil dort wohl auch eine Seelenbinder-Halle stünde.
Ich machte mich auf den Weg nach Neukölln, wo ich gut zwanzig Jahre vorher dabei gewesen war, als man die Urne begraben hat-te. Ich wandte mich an den Platzwart. Er erinnerte sich, irgend-wann hinter einem von Hecken überragten Zaun einen Stein gese-hen zu haben. Ich kletterte auf einen verrosteten Fahrradständer und bog die Zweige zur Seite. Die Kante des Steins wurde sicht-bar.
Der Verwalter stürzte ans Telefon und rief eine Frau Ringwald im Bezirksamt an. Die bestätigte mir, daß das Zauntor nur bei beson-deren Anlässen geöffnet werden dürfe. 48 Stunden später suchte ich vergeblich den Platzwart. Ein anderer agierte an seiner Stelle. Er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche, sperrte die Tür auf und wartete, bis ich wieder ging. Ich schrieb über meine Spurensuche und erfuhr, daß Willy Brandt (damals Regierender Bürgermeister von Westberlin) den Artikel gelesen hatte. Man steckte mir auch, daß er mit der Faust auf den Tisch geschlagen und „Skandal!“ ge-
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schrieen hatte. Arbeitskommandos wurden in Marsch gesetzt. Die Grabstelle wurde wieder eine würdige Gedenkstätte.
Als man sich um die Olympischen Spiele des Jahres 2000 bewarb, riß man als erstes die Werner-Seelenbinder-Halle ab. Die Büste, die dort Jahrzehnte gestanden hatte, verschwand. In Neukölln be-stellte man einen neuen Grabstein, aber bei Rückfragen nach sei-nem Grab, erging es mir fast wie Mitte der sechziger Jahre. Im-merhin fand ich im Mitteilungsblatt der Berliner SPD unter dem 26. Januar 2001 einen Hinweis unter der Stichzeile „Neukölln“: „Ge-denken an den ermordeten Sportler Werner Seelenbinder mit Zeit-zeugen Wolfgang Szepanski, Redner Dr. Herman Borghorst (Prä-sident von ‚Tasmania‟) vor dem Sportstadion Neukölln am Urnen-grab von W. Seelenbinder.“ Eine e-mail an den Tasmania-Präsidenten mit der Bitte um seine Rede blieb leider unbeantwor-tet.
Als der hundertste Todestag näherrückte, machte ich mich wieder auf den Weg nach Neukölln. An das Stadion von einst erinnert nur noch die Baumreihe, die einst auf den Traversen gepflanzt worden war. Im Tasmania-Klubgebäude an den Wänden Bilder vom Be-such der Herren von Richthofen und Böger. Auch das Gesicht von Dr. Borghorst begegnet mir. Vor dem Eingang ein übermannsho-hes Denkmal, Sprinter darstellend, und dann linker Hand eine Holztafel, beschraubt mit 4 (in Worten: vier) Zentimeter hohen Buchstaben: „Gedenkstätte Werner Seelenbinder“. Dahinter He-cken und hinter den Hecken ein Stein: „Dem Gedenken der deut-schen Sportler die im Kampf gegen Krieg und Faschismus ihr Le-ben ließen. Werner Seelenbinder Sechsfacher Deutscher Meister und Olympiakämpfer Geboren 2.8.1904 Hingerichtet 24.10.1944“ Daß es sich um sein seit Jahrzehnten mühsam verstecktes Grab handelt, verrät die billige Holztafel mit den Vier-Zentimeter-Buchstaben nicht...
(Ein ausführliches Seelenbinder-Porträt findet sich im SPOT-LESS-Titel „Sie spielten gerade Carmen...“, Berlin 2000)
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DOKUMENTATION/DISKUSSION
Ein Kapitel Wintersport der
Arbeitersportbewegung
Von MARTIN LEIN
Martin Lein (1904-1995) gehörte zu den erfolgreichsten erz-gebirgischen Wintersportlern der Arbeitersportbewegung. Mit der Zerschlagung des organisierten Arbeitersports nach dem Machtantritt der Nazis in Deutschland ging auch seine sport-liche Laufbahn zu Ende. 1933 wurde er verhaftet. Im Mai 1945 war er im unbesetzten Landkreis Schwarzenberg Mit-glied des antifaschistischen Aktionsausschusses von Brei-tenbrunn und wurde zum ersten Bürgermeister seiner Hei-matgemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg berufen. Ab 1948 lebte er in Aue. In seinen Lebenserinnerungen schildert er ein Kapitel der Arbeitersportbewegung im Wintersport.
Im Volksmund sagt man, daß die Kinder im Gebirge schon mit Ski-ern an den Füßen zur Welt kommen, weil sie heute bereits im Alter von 3-4 Jahren ein paar eigene „Bretter“ besitzen und die Kunst des Skilaufens erlernen. So ist das aber nicht immer gewesen. In meiner Kindheit, vor dem ersten Weltkrieg, konnten nur finanziell bessergestellte Eltern ihren Kindern diese Freude bereiten. Arbei-terkinder fertigten sich aus den Faßdauben alter Heringstonnen „Schneeschuhe“ an. Mit solchen „Schneeschuhen“ beteiligte ich mich im Winter 1913 an einem vom damaligen Wintersportverein Breitenbrunn ausgeschriebenen, etwa 3 km langen „Faßdauben-rennen“ und gewann es in der Altersklasse bis zu 10 Jahren. Groß war meine Freude als mir, dem Neunjährigen, ein paar richtige Ski als Preis überreicht wurden. Das war der Anfang meiner sportli-chen Laufbahn, von dem an ich Jahr für Jahr an Wettkämpfen im Wintersport teilnahm, speziell im Skilanglauf.
In Breitenbrunn wurde der Arbeiter-Turn- und Sportverein „Vor-wärts“ am 18. September 1921 gegründet. Im Winter 1923/1924 bildeten dann etwa 20 Turner und Leichtathleten die Sparte Skilauf, die sich bis zum Winter 1931/1932 sowohl zahlen- als auch leis-
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tungsmäßig außerordentlich gut entwickelte. Besonders enge Ver-bindungen hielt sie zu der starken Interessengemeinschaft Winter-sport Johanngeorgenstadt. Der sportlichen Leistungsentwicklung waren natürlich dadurch Grenzen gesetzt, daß sich die Arbeiter-sportler nur einfache, primitive Ausrüstungen leisten konnten.
1930 bereiteten wir uns auf ein großes sportliches Ereignis vor. Im März 1931 sollte die erste Arbeiter-Wintersport-Olympiade in Mürz-zuschlag in Österreich stattfinden. Die Ausscheidungen dafür wur-den vom Arbeiter-Turn- und Sportbund Oberwiesenthal durchge-führt, wo ich im 18-km-Langlauf gegen starke Konkurrenz mit 2 Mi-nuten Vorsprung als Sieger das Ziel erreichte. Damit war ich zu-gleich erster Kandidat für Mürzzuschlag. Meine Freude darüber sollte aber nicht lange währen. Die Spaltung der Arbeitersportbe-wegung war auch im Wintersport nicht ohne Folgen geblieben. Aus Protest gegen die reformistischen Bestrebungen von Führern des Arbeiter-Turn- und Sportbundes hatte sich die Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit gebildet. Zur Strafe dafür, daß ich mich mit den von den reformistischen Sportführern ausgeschlossenen Sportlern solidarisch erklärt und im Januar 1931 an einem interna-tionalen Sportfest der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit in Johanngeorgenstadt teilgenommen hatte, schloß man auch mich aus und damit zugleich von der Teilnahme an der Arbeiter-Wintersport-Olympiade.
Aufgrund meiner Leistung beim Sportfest in Johanngeorgenstadt – ich hatte im 30-km-Langlauf den 2. Platz belegt – lud mich die Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit ein, an der ersten Winter-sportdelegation zu Wettkämpfen und freundschaftlichen Begeg-nungen in Moskau und Orechowo-Sujewo teilzunehmen. Jene Ta-ge vom 3. bis 25. März 1931 sollten dann für mich das schönste Wintersporterlebnis meines Lebens werden.
Der nahende Frühling kündigte sich schon an, nur in den höheren Gebirgslagen und an den Nordhängen waren noch einige Schnee-reste übriggeblieben, als ich am 2. März 1931 in voller Skiausrüs-tung in Breitenbrunn den Zug bestieg und nicht in Richtung Gebir-ge, sondern ins Flachland, Richtung Berlin, fuhr. Alles Spötteln konnte mich nicht beunruhigen.
Am nächsten Tag – am 3. März – traf ich als Delegationsleiter mit den Sportfreunden Wongel und Gregor aus Berlin und Kurt Wagner aus Zella-Mehlis zusammen. Aus den Händen des Vorsitzenden
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der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit, Ernst Grube, der spä-ter von den Faschisten ermordet wurde, erhielten wir unsere Rei-sepässe und wir stiegen dem Expreß Paris-Warschau zu. Verges-sen und überwunden waren alle Schwierigkeiten, die sich zunächst aufgetürmt hatten. Mußte doch vorerst das Fahrgeld für die Reise bis an die polnisch-sowjetische Grenze aufgebracht werden. Mit Unterstützung meiner Sportfreunde und unserer Kampfgemein-schaft für rote Sporteinheit gelang es, das nötige Geld zusammen-zubringen. Zeit für diese Reise ins Freundesland hatte ich ausrei-chend. Dafür hatten die Kapitalisten gesorgt. Ich war erwerbs- und arbeitslos wie Hunderttausende in jener Zeit.
Erleichtert atmeten wir auf, als wir am Abend des 4. März 1931 die erste sowjetische Bahnstation erreichten. Bereits hier wurde uns ein außerordentlich herzlicher Empfang bereitet. Wir wurden zu Tisch gebeten, als Freunde liebevoll bewirtet. Nach einem kurzen Aufenthalt ging es im Schlafwagen in Richtung Moskau weiter. Mit zwei Stunden Verspätung langten wir infolge starken Schneefalls in Moskau an. Mein sehnlichster Wunsch war in Erfüllung gegangen: Moskau, die Hauptstadt der großen Sowjetunion, das Zentrum der internationalen Arbeiterbewegung mit eigenen Augen sehen, ken-nenlernen, erleben. Und niemals zuvor hätte ich geglaubt, noch im März so ein winterlich verschneites Moskau anzutreffen. Nicht weit vom Roten Platz gelegen, bezogen wir Quartier im Hotel „Dom Wostock“.
Je zweimal starteten mein Sportfreund Wagner, der im Zweiten Weltkrieg sein Leben lassen mußte, und ich bei Langlaufwettbe-werben in Moskau und in der 150 km östlich von Moskau gelege-nen Textilarbeiterstadt Orechowo-Sujewo. Unsere Eisschnell-Läufer Wongel und Gregor maßen im Moskauer Dynamostadion mit sowjetischen Sportfreunden ihre Kräfte. Mit Plätzen zwischen 7 und 10 schnitten wir nicht schlecht ab. Aber für bessere Plazierun-gen reichte unser Leistungsniveau nicht aus.
Während unseres Aufenthalts besuchten wir Produktionsbetriebe und andere Institutionen, lernten viele Menschen kennen, sodaß der Kreis der Freunde, die uns nach Arbeitsschluß besuchten, uns Gesellschaft leisteten und mit uns diskutierten, immer größer wur-de. Auch als wir am 7. März in Orechowo-Sujewo anläßlich des In-ternationalen Frauentages an einer Festveranstaltung teilnahmen und ins Ehrenpräsidium gewählt wurden, stellte man uns Fragen
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über Fragen, die zugleich davon zeugten, wie umfassend die sow-jetischen Frauen über das Leben der arbeitenden Frauen in Deutschland informiert waren.
Diese Reise war für mich ein einmaliges Erlebnis und sie leitete ei-ne Wende in meinem Leben ein. Obwohl ich bis dahin an vielen Versammlungen und Demonstrationen der KPD teilgenommen hat-te, trug diese Reise wesentlich dazu bei, daß ich am 1. Mai 1931 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands wurde.
Im Winter 1931/1932 fand in Bermsgrün ein Landestreffen der Sparte Wintersport der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit statt. Dort wurde ich Sieger im 30-km-Langlauf und gewann mit der Staffel aus Breitenbrunn den Mannschaftslauf. Das waren zugleich meine letzten sportlichen Erfolge vor 1933. Nach der Machtergrei-fung durch die Faschisten führte die Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit im Februar 1933 ein letztes Wintersporttreffen in Hainsdorf im tschechischen Isergebirge durch, an dem Skisportler der erzgebirgischen Arbeitersportvereine Breitenbrunn, Bermsgrün, Grünstädtel, Rittersgrün und Lauter teilnahmen, die mit zwei Last-kraftwagen dorthin gefahren waren. Wegen Schneemangels wur-den die Wettkämpfe dann kurzfristig nach Gablonz verlegt, womit auch das letzte Kapitel des Wintersports in der Arbeitersportbewe-gung unserer Region vor 1933 endete.
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Von der Schanze in den Schützengraben
Von THORALD MEISEL
Diese in der Chemnitzer „Freien Presse“ erschienene histori-sche Untersuchung wird von uns mit freundlicher Genehmi-gung der Chefredaktion auszugsweise nachgedruckt.
„Sepp Bradl springt auf der Vogtlandschanze!“ Für Klingenthal stellte diese Nachricht im fünften Kriegswinter eine Sensation dar. Sepp Bradl aus Österreich, das zu dieser Zeit unter dem „An-schluß“begriff Ostmark geführt wurde, hatte 1936 als erster Sprin-ger in Planica die 100-Meter-Marke übersprungen und war 1939 in Zakopane Weltmeister geworden.
Martin Leonhardt, damals Schüler und heute Rentner in Mühlleit-hen, hatte vom Lehrer Hans Seubert den Auftrag erhalten, Bradl mit einem Schlitten vom Bahnhof in Jägersgrün abzuholen. „Bradl brachte vier Paar Skier mit und einen großen Rucksack. Das ha-ben wir alles auf dem Schlitten verstaut, dann ging es zu Fuß zu-rück nach Mühlleithen“, erinnerte er sich. Auf dem Weg dorthin ließ sich Bradl die Schanze zeigen. Siegmund Leonhardt, der 1950 als erster Skispringer der DDR beim Tatra-Pokal in Tatranska Lomnica wieder im Ausland am Start war, berichtete, dass die Mühlleithener Jungs damals unter Anleitung von Bradl auf einem „Schneehupper“ neben der Schanze übten.
Der Klingenthaler Herbert Gerbeth, später ein namhafter Musiker, erzählte, dass an jenem 19. März 1944 in den Schulen der Unter-richt ausfiel und die Schüler zur Vogtlandschanze wanderten. Aus den Lazaretten der Umgebung fuhr man die Verwundeten auf Pferdeschlitten heran.
Bradl gewann das Springen vor dem Aschberger Paul Schneiden-bach, Platz drei teilten sich der Schwaderbacher Rudi Köhler und Gregor Höll aus Malnitz, der vier Jahre später für Österreich bei den Olympischen Spielen in St. Moritz startete.
Im Gegensatz zum ersten Weltkrieg, als der Sportbetrieb fast voll-ständig ruhte, versuchte die nationalsozialistische Führung mit Kriegsbeginn 1939 zu Propagandazwecken mit zahlreichen Wett-kämpfen den Eindruck von Normalität zu vermitteln.
Die ersten Sachsenmeisterschaften der Skisportler im Krieg fanden am letzten Januarwochenende 1940 in Oberwiesenthal statt. Den
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Titel in der Nordischen Kombination gewann nach 1934 erneut Adolf Bleidl aus dem böhmischen1) Aschbergdorf Schwaderbach, im Spezialspringen war der Klingenthaler Kurt Körner vor Erich Le-onhardt (Mühlleithen) und Kurt Poppa (Dresden) erfolgreich. Bei den folgenden deutschen „Kriegsmeisterschaften“ in Ruhpolding spielten die Sachsen keine Rolle. Selbst internationale Veranstal-tungen fanden statt. Paul Kraus aus Johanngeorgenstadt gewann in Neusohl die Internationale Slowakische Meisterschaft im Ski-springen vor dem Oberwiesenthaler Paul Häckel. Internationaler Meister von Jugoslawien wurde Bradl vor Häckel, der Aschberger Herbert Friedel kam auf Platz vier... Auch der Winter 1940/41 brachte noch einmal ein umfangreiches Sportprogramm. Am 28. Dezember gewann Bradl in Oberhof das erste Sichtungsspringen für die Weltmeisterschaft 1941, Paul Kraus wurde Dritter. In Spind-lermühle (Riesengebirge) fanden sogenannte deutsche Kriegs-meisterschaften statt. In der Nordischen Kombination kam Kurt Poppa als bester Sachse auf Platz 6. Bei den Weltmeisterschaften in Cortina d„Ampezzo, die 1946 von der FIS annulliert wurden, be-legten im Spezialspringen Paul Kraus und Paul Häckel die Plätze 10 und 12. Zum Saisonende trafen sich die Spezialspringer traditi-onell in Planica (Jugoslawien). Am 3. März 1941 stellte Paul Kraus mit 112 Metern einen neuen Weltrekord2) auf, der aber noch im gleichen Wettkampf vom Thüringer Rudi Gehring auf 118 Meter verbessert wurde.
Auch die Wintersaison 1941/42 sollte demonstrieren, dass in Deutschland trotz des Krieges normale Verhältnisse herrschten. Im Aschberggebiet erfolgte am 7. Dezember der Wettkampfauftakt mit „Rund um den Kiel“... Am 3. Januar 1942, die Wehrmacht war vor Moskau von der Roten Armee erstmals schwer geschlagen, wur-den alle Wettkämpfe abgesagt und die Nationalmannschaft aufge-löst. Sämtliches Skimaterial sollte für die Wehrmacht gespendet werden... Im Anschluss an einen Winterlehrgang der Wehrmacht am Aschberg fand am 28. Februar in Mühlleithen noch eine Sach-senmeisterschaft statt... Auch im Winter 1943/44 wurde versucht, zu Propagandazwecken den Skisport zu aktivieren... Am ersten Februarwochenende 1944 wurde in Altenberg... wieder eine Kriegsmeisterschaft veranstaltet. Im 16-km-Lauf siegte Vincenc Demetz aus Innsbruck, der für die Gebirgsjäger startete, nachdem er 1936 in der italienischen Olympiamannschaft gestanden hatte...
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Rudi Rühle, der ebenfalls teilnehmen sollte, konnte nicht mehr an den Start gehen: Er war am 21. Februar an der Ostfront gefallen. Das Springen am 19. März in Mühlleithen war der letzte Wettkampf während des Krieges im Vogtland. Von der Vogtlandschanze ging es nach Oberwiesenthal. Das Ergebnis von dort ist nicht bekannt, aber Zeitzeugen berichten, dass sich mehrere Springer die Schnürsenkel aus den Schuhen zogen, in der Hoffnung, sich bei einem Sturz die Knochen zu brechen, um vorerst nicht wieder an die Front zu müssen... Noch in den letzten Kriegstagen wurden die bis dahin intakten Anlagen der Vogtlandschanze von auf dem Rückzug befindlichen Soldaten der Wehrmacht beschädigt und die Beleuchtungsanlage für Nachtspringen mit 5000 Glühbirnen zer-stört. Beim Skisport in Sachsen gingen für lange die Lichter aus.
1) Zu jener Zeit wurde das frühere Sudetengebiet als zum „Protek-torat Böhmen und Mähren“ gehörend betrachtet.
2) Im Skispringen duldete die Internationale Skiföderation keine „Rekorde“, doch hielten sich die nationalen Verbände nur selten daran.
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Startverbot für die Bundeswehr
Von KLAUS HUHN
Nach vorsichtigen Schätzungen wurden seit 1990 rund 4,7 Millionen Euro aus Fonds der verschiedenen Bundesregie-rungen für Untersuchungen bewilligt, die vorgaben, die „Auf-arbeitung des DDR-Sports“ zum Thema zu haben. Für Arbei-ten, deren Autoren sich altbundesdeutschen Themen zu-wandten, fehlte es ständig an Mitteln. Die von zahlreichen Autoren in den „Beiträgen zur Sportgeschichte“ publizierten Dokumentationen wurden selbst in zuständigen Einrichtun-gen wie dem Potsdamer Institut für Zeitgeschichte des Sports ignoriert. Wir setzen die Veröffentlichung dennoch fort.
Nicht erst in den sechziger Jahren schaltete sich das Auswärtige Amt in den Sportverkehr ein und koordinierte vor allem, die Eingrif-fe verschiedener Bonner Ministerien. Ein vom Archiv des Amtes uns nach Ablauf der 30jährigen Geheimhaltungsfrist jetzt freundli-cherweise zur Verfügung gestellter Briefwechsel befasst sich gene-rell mit den Möglichkeiten für Bundeswehrsportler am gesamtdeut-schen Sportverkehr teilzunehmen.
Am 22. Februar 1968 war beim Referat IV 5 des Auswärtigen Am-tes ein Brief (Aktenzeichen IV 3 – 84,10) folgenden Wortlauts ein-gegangen:
Betr.: Beurlaubung von Spitzensportlern der Bundeswehr zu Wett-kämpfen im anderen Teil Deutschlands bzw. in Ostberlin
Bezug: Dortige Zuschrift vom 15.2.1968 - IV 5-86-11-
Nach den hier verfügbaren Informationen ist die in der obenge-nannten Zuschrift, aufgeworfene Frage der Teilnahme von Spit-zensportlern der Bundeswehr an Wettkämpfen im anderen Teil Deutschlands in den vergangenen Jahren bereits mehrfach im Auswärtigen Amt geprüft worden. Sie stellte sich beispielsweise Ende 1965 bei den Europaboxmeisterschaften in Ostberlin sowie 1966 bei den Fallschirmmeisterschaften in der SBZ. Der Kontakt-ausschuss der Bundesregierung, die Bonner Vierergruppe und auch die NATO sind eingeschaltet gewesen. Die Angelegenheit ist auf der Ebene der Staatssekretäre seinerzeit erörtert worden.
Die Bundesregierung hat sich in keinem Fall imstande gesehen, der Beurlaubung von Spitzensportlern der Bundeswehr zu Wett-
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kämpfen im anderen Teil Deutschlands zuzustimmen, weil dies zur Folge gehabt hätte, dass auch Angehörige der Streitkräfte der an-deren NATO-Mitgliedsstaaten mit Sicherheit für sich das Recht in Anspruch genommen hätten, ihrerseits Militärs an Veranstaltungen in der SBZ teilnehmen zu lassen. Es bestand in der Vergangenheit weitgehend Einvernehmen zwischen den Ressorts darüber, dass das Auftreten von Angehörigen der NATO-Streitkräfte in der SBZ politisch unerwünscht sei. Referat II A 1 neigt der Auffassung zu, dass sich keine neuen Gesichtspunkte ergeben haben, die uns veranlassen könnten, von der bisherigen Praxis abzurücken.
Es darf darauf hingewiesen werden, dass eine Konsultationsgrup-pe unserer Alliierten in der Bonner Vierergruppe und eine Unter-richtung unserer NATO-Vertretung unbedingt erforderlich ist für den Fall, dass die Spitze des Hauses die bisherigen politischen Bedenken zurückstellen und der Beurlaubung von Spitzensportlern der Bundeswehr zu Wettkämpfen im anderen Teil Deutschlands zustimmen sollte.
Unterschrift unleserlich
Festzustellen wäre also: Die Teilnahme von BRD-Aktiven an inter-nationalen Meisterschaften hing letztlich von der Entscheidung mehrerer Bundesministerien ab, die faktisch die Starterlaubnis er-teilten oder verweigerten. Hinzu kommt, daß zudem Einfluß auf den Start von Athleten anderer NATO-Staaten genommen wurde. Dieser Tatbestand macht Kommentare überflüssig, sollte aber von Historikern berücksichtigt werden, die in den letzten Jahren zum Beispiel Beschlüssen der SED-Spitze ausgiebige Publikationen widmeten und danach strebten, den Eindruck zu erwecken, die Einflußnahme der Politik auf den Sport sei ein DDR-Monopol ge-wesen.
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Das Erfolgssystem des DDR-Hochleistungssports...
Von WOLFGANG BUSS, Göttingen
Der folgende Beitrag erfordert eine Vorbemerkung des Her-ausgebers. Die Redaktion dankt Wolfgang Buss von der Uni-versität Göttingen, dass er uns seinen Vortrag zur Verfügung stellte, den er im Mai 2003 vor der NASSH-Konferenz in Co-lumbus/Ohio (USA) gehalten hatte. Er offenbart die Sicht des Autors auf den DDR-Sport und bietet in den neuen Bundes-ländern beheimateten Sporthistorikern weitere Möglichkeiten, in den alten Bundesländern gängige Vorstellungen kennen-zulernen. Die Veröffentlichung erschien uns auch angeraten nachdem inzwischen vom Bundesinstitut für Sportwissen-schaften die Publikation “Zum aktuellen Forschungsstand der Geschichte von Körperkultur und Sport in der DDR” (Peif-fer/Fink, Köln 2003) herausgegeben wurde, die die Misere der DDR-Sportforschung einmal mehr deutlich machte. Das Vorwort zu dieser Bibliografie stammte von Prof. Faulenbach, von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, einer po-litischen Instanz mit eindeutigen Zielen. So erklärt sich wohl auch, dass es die Autoren für angeraten hielten, darin den “Beiträgen für Sportgeschichte” einen Absatz zu widmen, mit dem sie vermutlich dem Anliegen dieser – sie finanzierenden - Stiftung Rechnung tragen wollten: “Vor allem in der vom ehemaligen Sportredakteur des Zentralorgans der SED (rich-tig: ‟Organ des Zentralkomitees„ A.d.A.) ‟Neues Deutschland‟ Huhn herausgegebenen Zeitschrift „Beiträge zur Sportge-schichte‟ sind seit 1995 vor allem plakative und subjektiv ge-färbte Beiträge erschienen.” Wir verzichten auf jeden Kom-mentar und wiederholen unsere Feststellung von der Misere der aktuellen Darstellung des DDR-Sports, von der sich der leicht gekürzte Vortrag von Wolfgang Buss wohltuend ab-hebt.
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EINLEITUNG
„(...) selbst 12 Jahre nach dem Fundamentbruch dieser Leistungs-kurve Ende der achtziger Jahre in deutschen Olympiamannschaf-ten, wie 2002 in Salt Lake City, (sind) immer noch mehr Sportler er-folgreich (...), die aus diesem System kommen oder nach diesem System trainiert werden(...)“.1)
Das Sportsystem der ehemaligen DDR beeinflusst jedoch nicht nur weit über seine Existenz hinaus bis heute den gesamtdeutschen Sport positiv, es ist auch in Zeiten seiner Autonomie zwischen 1948 und 1990 kontinuierlich zu einem der erfolgreichsten in der Welt aufgestiegen. Bezogen auf den olympischen Hochleistungs-sport gehörte die DDR als Sportnation seit den olympischen Spie-len von Mexiko-City 1968 - ihrer erstmaligen selbständigen Teil-nahme - zur absoluten Weltspitze, kam in der Länderwertung stets unter die vier besten Mannschaften und belegte schon in Montreal 1976 erstmals den zweiten Platz hinter der UDSSR und noch vor den USA.2) Der kanadische Sportjournalist Doug Gilbert betitelte sein 1980 erschienenes Buch über dieses System „The Miracle Machine“3), womit er vor allem die frappierende Tatsache in den Zusammenhang mit einem Wunder stellte, dass diese Erfolge in und von einem Land erzielt wurden, das die geografische Größe des US-Bundesstaates Virginia hatte und nur ca. 16 Millionen Ein-wohner zählte sowie eine geringe ökonomisch Leistungsfähigkeit aufwies.
Doch Wunder gibt es nur im Märchen und Gilbert zielte mit dem Ti-tel als guter Kenner des DDR-Sports4) auch nicht auf ein mysteriö-ses Geschehen, sondern vielmehr auf die große Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu der geringen Population. Es mussten und müssen also rationale Kriterien zu Erklärung herangezogen werden. Viele Jahre haben deshalb vor allem westliche Kritiker immer wieder un-erlaubtes Doping unterstellt, andere verwiesen auf die politisch zweifelhaften Möglichkeiten in einem von Lenkung und Dirigismus bestimmten Staatssportsystem, wie es beides sicherlich in der DDR sowie wie im ganzen ehemaligen Ostblock gegeben hat. Alle diese Argumente erklären den Erfolg des DDR-Hochleistungssport jedoch nur zum Teil, wobei vor allem der Dopingvorwurf als primä-re Begründung für einen Leistungsvorsprung nicht überzeugt. Un-zweifelhaft hat es in der DDR über viele Jahre Doping gegeben und dies wurde auch systematisch und mit Kenntnis der offiziellen
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Sportführung angewandt. Das Doping - wenn auch mit unterschied-lichen Praxen - war aber nachweislich Alltagspraxis bei allen füh-renden Sportnationen (leider bis heute) und kann deshalb die be-sondere Leistungsfähigkeit des DDR-Systems nicht erklären.
Die Reduzierung der Erklärungsversuche auf eine politische bzw. ethischmoralische Argumentation bis hin zu irrationalen „Wunder“-Erklärungen ist eher ein Zeichen der mangelnden Kenntnis über die Voraussetzungen, den Aufbau und die Struktur des DDR-Hochleistungssports, was sich allerdings mit einem mangelnden Wissen insgesamt über die DDR als Staat und Gesellschaft ver-bindet [und vor allem für die Nordamerikaner galt und sicherlich zum Teil immer noch gilt]. In Bezug auf den Hochleistungssport der DDR darf die geringe Kenntnis allerdings auch nicht allzu sehr verwundern, weil zumindest in Teilgebieten, wie z.B. der Trainings-lehre, der Sportmedizin (und dabei natürlich auch der Doping-Anwendung) oder der Sportgeräteforschung es ein sehr geschlos-senes (geheimes) System war, hierüber selbst auch in der dortigen Öffentlichkeit wie z.B. bei Journalisten kein spezifisches Wissen be-stand und sogar die sog. „befreundeten“ Nationen wie die UdSSR in dem harten internationalen Konkurrenzkampf keine Einsicht in Inter-na bekamen, auch nicht auf wissenschaftlicher Basis.
Im ‟neuen‟ Deutschland nach der Wende ab 1990 setzten deshalb sehr schnell umfangreiche journalistische, vor allem aber wissen-schaftliche Untersuchungen ein, das DDR-Phänomen aufzuklären. Auf allgemeinhistorischer Basis sind seit 1990 ca. 1200 wissen-schaftliche Forschungsprojekte zu allen Lebensbereichen realisiert worden. Ich selbst bin mit einem größeren sporthistorischen Projekt speziell zur Entwicklung der Frühphase der DDR, 1945 bis 1965, beauftragt gewesen und habe dazu in jüngster Zeit zwei größere Publikationen im Umfang von mehr als 1500 Seiten herausgege-ben. Wir wissen also inzwischen sehr viel mehr über die DDR, ins-besondere auch über ihr Sportssystem und können somit auch den Erfolg des DDR-Hochleistungssports in seiner rationalen Struktur inzwischen einigermaßen sicher begründen.
Hierzu müssen
a. die allgemeinpolitische Ausgangslage beim Aufbau der DDR Ende seit der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts,
b. die Stellung des Sports in dem aufzubauenden „sozialistischen“ System,
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c. die Systematik in Bezug auf eine ideologische, politische und wissenschaftliche Besetzung des Sports und
d. die daraus resultierenden praktischen Maßnahmen betrachtet werden. Schließlich soll
e. auch noch die Frage nach der Übertragbarkeit auf andere Ge-sellschafts- und Sportsysteme gestellt werden.
Zu diesen Aspekten will ich Ihnen in dem hier nur sehr begrenzt zur Verfügung stehenden Zeitrahmen einige zentrale Erläuterungen und Thesen vorstellen.
2. ALLGEMEINPOLITISCHE AUSGANGSLAGE
Die DDR wurde infolge des 2. Weltkrieges als zweiter, ostdeut-scher Teilstaat im Jahre 1949 gegründet, abhängig von der Füh-rungsmacht UdSSR, gegen den Willen der Mehrheit der eigenen Bevölkerung und lange Zeit ohne eine breite internationale Aner-kennung. Die DDR-Machthaber standen also von Anfang an unter dem existentiellen Druck einer dreifachen Behauptung:
a. gegenüber der eigenen Bevölkerung,
b. gegenüber dem mit einem alternativen Gesellschaftsmodell ‟konkurrierenden‟ westdeutschen Teilstaat und seinem Alleinvertre-tungsanspruch
sowie
c. auf internationaler Ebene zwecks staatlicher Anerkennung.
Hierzu setzten die Machthaber auf die Ressourcen, mit denen sich ihre Ziele vermeintlich durchsetzen ließen, die gestaltbar waren und die trotz größter wirtschaftlicher Aufbauprobleme von Staat und Gesellschaft mobilisierbar erschienen; hierzu gehörte neben Bereichen wie z.B. der politisch-ideologischen Ausgestaltung und dem Sicherheitswesen auch der immer populärer werdende mo-derne Hochleistungssport. Dieser bekam damit eine dreifache Funktion:
a. Auf internationaler Ebene sollte erfolgreich die Leistungsfähigkeit desGesellschafts- und Sportsystems der DDR demonstriert und damit für die Anerkennung dieses Staates als zweiter autonomer deutscher Staat geworben werden.
b. Mit dem schon 1949 proklamierten Ziel, weitmöglichst „die ge-samtdeutschen Bestleistungen zu erreichen5) sollte im innerdeut-schen Vergleich zwischen ‚Ost' und ‚West' - zwischen der ,bürgerlichen' Bundesrepublik in Westdeutschland und der sozialis-tischen Deutschen Demokratischen Republik - die vermeintliche
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Überlegenheit des sozialistischen Systems nachgewiesen wer-den.6)
c. Im Sinne der Theorie des marxistischen Theoretikers Gramsci zur gesellschaftlichen Gewinnung von Hegemonie7) sollte über die Förderung des massenwirksamen, populären Hochleistungssports Einfluss auf die Bevölkerung genommen und damit eine innenpoli-tische Zustimmung und Stabilisierung8) erreicht werden.
3. STELLUNG IM SOZIALISTISCHEN SYSTEM
Das die Lehre des Marxismus-Leninismus grundsätzlich bestim-mende Motiv der „Egalität“ war kein Hindernis für den auf dem Prinzip des Elitarismus aufbauenden Hochleistungssport. Hier wie in anderen Bereichen der DDR-Gesellschaft kam es - nicht zuletzt infolge politpragmatischer Anforderungen - zu der dialektischen Lösung einer Integration des elitären Hochleistungssports in das Gesamtsystem der sozialistischen Körperkultur, und zwar als kom-plementäres Element des egalitären Volks- und Massensports. Der Hochleistungssport hatte im Prozess der Durchsetzung des sozia-listischen Systems dessen Überlegenheit zu demonstrieren und stand dabei natürlich (geradezu zwangsläufig) durchgängig auch in-ternational unter höchsten Leistungs- und Konkurrenzanforderun-gen. Dies galt vor allem im Kampf mit dem „kapitalistischen Klas-sengegner“, der gerade in Zeiten der „friedlichen Koexistenz“ dia-metraler Gesellschaftssysteme - wie in der Phase des ‚kalten Krie-ges‟ zwischen Ost und West seit dem Ende des 2. Weltkrieges - über solche gesellschaftlichen Teilsysteme wie den Hochleistungs-sport ausgetragen wurde. Darüber hinaus sollte der Leistungssport als Kernelement der sozialistischen Körperkultur auch einen Beitrag zur ganzheitlichen, Geist und Körper gleichermaßen berücksichti-genden Erziehung der sozialistischen Persönlichkeit leisten...
4. SYSTEMATIK
Aus dieser Positionierung heraus ergab sich in der DDR durchgän-gig ein offizielles Verständnis, dass die Entwicklung des Sports keine Privatangelegenheit von einzelnen Bürgern oder Gruppen von Bürgern sein konnte, keine Realisierung einer ‚liberalistischen' bürgerlichen Idee von Freiheit, sondern eine öffentliche Aufgabe im Sinne eines paradigmatischen Entwicklungselements der sozialisti-schen Gesellschaft. Aus dieser Logik heraus leiteten die Machtha-ber in der DDR eine hochrangige Verantwortung des Staates und
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der Staatspartei, der SED, zur systematischen Entwicklung der Körperkultur (KK) und des Sports, und hier insbesondere auch des Hochleistungssports, als Staatsaufgabe (als „Staatsplan“) ab. So wurde von Anfang an eine ‚professionelle' - nicht nur technologisch, sondern auch politisch gesehen - Entwicklung voran getrieben. Entsprechend wurde die KK und der Sport in der Staatsverfassung stets hochrangig verankert und entsprechend der Politikstruktur ei-nes autoritären Staates auch einer konsequenten Lenkung und Kontrolle durch den Staat und die Partei unterzogen. Hieraus ergab sich eine enge personelle und institutionelle Verflechtung von staatlichen und sportlichen Institutionen bzw. Organisationen, die exemplarisch in dem schon 1953 nach sowjetischem Vorbild errich-teten „Staatlichen Komitee für Körperkultur“ (Stako) (später ab 1970 das „Staatssekretariat“ - StKS) ihren Ausdruck fand... Hinzu kam letztlich auch noch das Spezifikum einer sehr förderlichen In-teressiertheit führender Politiker an der Sache des Sports, gerade-zu eine Begeisterung, die nicht opportunistisch durch politikprag-matische Motive begründet war. So hatten z.B. beide Spitzenpoliti-ker über die gesamte Zeit der Existenz der DDR, die Staats- und Parteichefs, Walter Ulbricht und Erich Honecker eine große per-sönliche Nähe zum Hochleistungssport, waren Sportfans.
5. MASSNAHMEN
Die praktische Umsetzungen zur Entwicklung eines auch auf inter-nationaler Ebene konkurrenzfähigen Hochleistungssports vollzogen sich nun kontinuierlich und weitgehend systematisch, und zwar über den gesamten Zeitraum der Existenz der DDR. Hierbei kön-nen wir grob zwischen zwei Phasen unterscheiden. Die erste Pha-se umfasste den Zeitraum zwischen 1950 und 1960 und die zweite den von 1960 bis 1985. In der ersten Phase wurden alle relevanten infrastrukturellen Grundelemente, die „organisatorisch-strukturellen Bausteine“ entwickelt10) und das spezifische Fachwissen ,produziert', das das erfolgreiche des System bestimmte. In der zweiten Phase wurde das inzwischen schon erreichte hohe Niveau (innerhalb der gemeinsamen deutsche Olympiamannschaft von Rom 1960, dann aber vor allem ab 1968 in Mexiko-City mit dem 5. Platz in der Nationenwertung für die erstmals als selbständige Mannschaft auftretende DDR-Auswahl) ausgebaut, jeweils neuen Anforderungen angepasst und optimiert wurde. Dabei gab es - be-dingt durch fachliche Fehler in der Aufbauphase, mehrfachen orga-
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nisatorischen Umbau und institutionelle Veränderung sowie zwi-schenzeitliche politische Instabilitäten - keinen linearen, bruchlosen Aufstieg, insgesamt aber stetig und progressiv Fortschritte. Es war also ein längerfristiger, systematisch geplanter Prozess, von dessen einzelnen Elementen folgende als die wichtigsten zu nennen sind:
1. Schon sehr früh in der ersten Entwicklungsphase der DDR ab 1949 erfolgte eine hochrangige staatliche Verankerung der Sportförderung und -entwicklung in der staatlichen Verfassung und Gesetzgebung; hier spielte das schon 1950 erlassene sog. „Ju-gendgesetz“ mit dem fixiertem Grundrecht auf die Entwicklung des Sports eine bedeutende Rolle.11)
2. Die staatliche Lenkung und Kontrolle wurde mit einer grundle-genden Entschließung des „Zentralkomitees“ (ZK) der Staatspartei „SED“ zu den relevanten Entwicklungsschritten im Frühjahr 195112) eingeleitet und über Beschlüsse der Partei (vor allem durch die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952) über staatliche und gesell-schaftliche Maßnahmen in die Praxis umgesetzt. Hierzu gehörten
a. der kontinuierliche Ausbau des Schulsports (mit bis zu sieben Wochenstunden Schulsport im Lehrplan ab 1959),
b. der gezielte Aufbau einer leistungsfähigen Sportlehrerausbildung und einer forschungsorientierten Sportwissenschaft (mit der 1952
gegründeten, später weltberühmten „Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig“, also einer reinen Sportuniversität' mit zu-letzt ca. 1200 Dozenten/innen bei ca. 4000 Studierenden und sie-ben universitären „Instituten für Körperkultur“ sowie dem 1955 ge-gründeten und besonders auf den Hochleistungssport ausgerichte-ten „Forschungs-Institut für Körperkultur und Sport“ (FKS) in Leipzig, zuletzt mit ca. 625 Sportwissenschaftlern aller Fachrich-tungen),
c. die Errichtung eines „Staatlichen Komitees für Körperkultur“ im Jahre 1952 (ab 1970 weitergeführt als „Staatssekretariat“), über das alle Lenkungs- und Koordinationsmaßnahmen erfolgten und womit die erfolgssichernde Zentralität bei den Entscheidungspro-zessen jeglicher Sportentwicklung gewährleistet wurde, und
d. die politische, fachliche und personelle Vernetzung mit einer ebenfalls konsequent zentralistisch strukturierten Sportorganisati-on, mit dem 1957 gegründeten „Deutschen Turn- und Sportbund“ (DTSB) der DDR.
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3. Ab ca. 1960 erfolgte dann - schon auf der Basis von inhaltlichen Ergebnissen dieses strukturellen Aufbaus - die zielgerichtete, spe-zifische Entwicklung des Hochleistungssports der DDR. Sie basier-te auf der Grundeinsicht einer direkten Erfolgsverbindung zwischen einem JugendLeistungssport und dem Hochleistungssport der Er-wachsenen. Hieraus resultierte ein spezifisches Wettkampf- und Trainingssystem der Kinder- und Jugendlichen. Ab Mitte der 60er Jahre (1965) bildete sich eine dreistufiges Fördersystem heraus, von dem Grundelemente der 2. Stufe, die „Kinder- und Jugend-sportschulen“ und die „Sportclubs“, in Anfängen schon seit 1952 und 1955 bestanden. Im einzelnen hatte das Förder- und Auswahl-system folgenden Aufbau:
a. Zur 1. Förderstufe auf lokaler Ebene gehörten:
Ca. 1700 „Schulsportarbeitsgemeinschaften“ (SSG), „Trainings-stützpunkte“ (TS) und „Trainingszentren“ (TZ). In den 80er Jahren arbeiteten in diesen Zentren ca. 1600 ausgebildete Sportlehrer und Trainer sowie ca. 100.000 Übungsleiter des DTSB
b. Zur 2. Förderstufe auf regionaler Ebene gehörten: 25 „Kinder- und Jugendsportschulen“ mit direkter Verbindung zu den 25 „Sportclubs“, in denen mit Internatsbetrieb die ausgewählten Kin-der- und Jugendsportler komplett trainiert, versorgt und ausgebildet wurden (kostenfrei sowohl fachlich, materiell, medizinisch und schulisch)13),
c. in der 3. Förderstufe auf nationaler Ebene erfolgte die Integration in die nationalen Nachwuchskader für die Nationalmannschaften der einzelnen Sportarten.
So entstand eine spezifische „Kaderpyramide“, bei der in der 1. Förderstufe der TZs jährlich zwischen 65 bis 70 Tausend Kinder und Jugendliche erfasst wurden, in der zweiten Förderstufe zwi-schen 10 und 12 Tausend verblieben und in der 3. Förderstufe 3200 bis 3500 jugendliche Leistungssportler den nationalen Nach-wuchskader bildeten. Mehr als 90% der später erfolgreichen Athle-tinnen und Athleten der DDR durchliefen die 1. Förderstufe.
Das gesamte System basierte dabei auf einem seit 1964 praktizier-ten spezifischen Trainingssystem für Kinder und Jugendliche, für das über die sportwissenschaftliche Forschung ein spezielles Trai-ningskonzept von Grundlagen-, Vielseitigkeits-, Belastungs- und Aufbautraining entwickelt worden war. Die Auswahl der Kinder wurde über das ab 1973 geltende System „ESA“ (Einheitliche Sich-
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tung und Auswahl) realisiert; hierzu wurden alle Schulkinder in der DDR dreimal im Laufe ihrer Schulkarriere auf grundsätzliche und sportartspezifische „Eignung“14) untersucht und danach entspre-chend in die Förderstufen delegiert. Hierbei bestand eine hohe Mo-tivation der Kinder und Eltern für dieses System ausgewählt zu werden, so dass hierbei keineswegs in irgendeiner Weise von Zwangsmaßnahmen gesprochen werden kann.
Letztlich wurde das System ab Mitte der 60er Jahre noch durch ein regelmäßiges Wettkampfsystem ebenfalls von der lokalen bis zur internationalen Ebene ergänzt. Alle zwei Jahre gab es flächende-ckend in der DDR sog. „Kreis- und Bezirksspartakiaden“, also Ver-gleichswettbewerbe in allen relevanten Sportarten, alle vier Jahre, also im olympischen Zyklus, „DDR-Spartakiaden“, und auch alle vier auf der Ostblockebene internationale „Jugendwettkämpfe der Freundschaft“, in denen die Nachwuchskader eine erste internatio-nale Bewährungsprobe vor den Welt- und Europameisterschaften der Junioren erhielten.
4. Über dieses auf dem Leistungssport für Kinder- und Jugendliche basierende System baute sich nun ab 1969 das Hochleistungssys-tem der Seniorensportler auf. Hierbei erfolgte letztlich mit dem sog. Leistungssportbeschluss“ des ZK der SED und des DTSB von 1969 - nicht zuletzt aus ökonomischen und rein erfolgs- und me-daillenorientierten Gründen in Bezug auf internationale Meister-schaften und Olympische Spiele - eine Konzentration in der Ent-wicklung, Förderung und Teilnahme nur noch der Sportarten, in denen die DDR-Sportler zumindest Chancen auf eine Platzierung unter den ersten sechs Plätzen in der Welt hatten. Nur diese aus-gewählten ,olympischen‟ 22 Sportarten15) wurden dann auch kon-sequenterweise in den nur über das Delegationsprinzip ‚erreichba-ren„ 25 „Sportclubs“ (FCs) und 11 „Fußballclubs“ (FCs) abgedeckt. In diesen SCs bzw. FCs gab es drei Typen von Kaderstufen:
a. ‚Reservesportler„ der Nationalmannschaft (zeitweise berufl. frei-gestellt),
b. Nachwuchssportler (wöchentl. 16 Stdn. vom Trägerbetrieb frei-gestellt),
c. Mitglieder der Nationalmannschaft (bei voller Entlohnung voll-ständig berufl. freigestellt, also staatliche „Professionals“).
Die dort auch mit den besten Methoden des Trainings und der Wettkampfvorbereitung, der besten Geräteausstattung (hierzu
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diente u.a. eine seit 1961 bestehende spezielle wissenschaftliche „Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte“ - FES) und der besten sportmedizinischen Versorgung (hierfür gab es seit 1963 einen eigenen sog. „Sportmedizinischen Dienst“) waren also die Spitze einer Leistungshierarchie, die auf keiner anderen sozia-len Ebene der DDR-Gesellschaft mit dieser Qualität bestand und mit der internationale Erfolg möglich wurde.
6. TRANSFERMÖGLICHKEIT
Natürlich stellt sich die Frage, ob man - allein unter in Bezug auf das Kriterium ,Erfolg' betrachtet - solch ein System auch in andere staatliche und
gesellschaftliche Systeme übertragen kann. Hierzu will ich nur kurz aus einer Studie des möglicherweise kompetentesten Experten hierzu, des für den Leistungssport verantwortlichen ehemaligen Vi-zepräsidenten des DTSB, Prof. Horst Röder, aus jüngster Zeit zitie-ren. Röder sagt hierzu: „Es gibt wesentliche Elemente des DDR-Leistungssports, die nicht kopierbar sind, weil sie unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen entstanden sind und vor allem auch zur Wirkung gekommen waren. Aber es gibt natürlich genau-so Felder, die durchaus übertragbar gewesen wären, wo es auch heute noch nach (mehr als) zehn Jahren lohnenswert wäre, sich die Erkenntnisse der Trainer und Wissenschaftler aus der DDR ge-nauer anzuschauen (...) Insbesondere die Trainingsmethodik, die Planung und Auswertung des Trainings, die Leistungsdiagnostik, Steuerung und Regelung des Trainings oder auch Erfahrungen und inhaltliche Ansätze der komplexen sportartspezifischen Forschung. Auch die Entwicklung von Wettkampf-, Mess- und Trainingsgeräten gehört dazu.“16)
Bleibt letztlich auch noch die Frage nach den Kosten. Auch hierzu werden viele Legenden verbreitet. Richtig ist, das die staatlichen ‚Subventionen„ für den Hochleistungssport zum Ende der Existenz der DDR ca. 0,062% des Staatshaushaltes betragen haben (Zahl von 1986)17) und dies ist eine Summe, die heute in jeder großen Na-tion erreicht bzw. auch deutlich übertroffen wird.
7. SCHLUSSBEMERKUNG
Sicherlich gibt es zu dem System der ehemaligen DDR und hier des DDR-Sports eine Reihe von kritischen Fragen zu diskutieren; und auch ich hatte und habe immer noch zahlreiche Einwände und
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Vorbehalte. Als Historiker bin ich jedoch primär der Faktensiche-rung, ihrer Genese und möglicher Verflechtungen verpflichtet. Erst dann kommt auch die Wertung. In diesem Beitrag stand nicht die moralisch-ethische oder politische Qualität dieses Systems zur Diskussion, sondern allein die Frage, welches die realen Gründe für die so überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit des Hochleis-tungssports in der DDR war.
Wenn ich hierzu bei Ihnen einen Erkenntnisgewinn erreichen konn-te, hat sich mein Engagement gelohnt.
ANMERKUNGEN
1) SCHUMANN, K./GARCIA, R.: Editorial zu „...Elite“, in: Sport, Leistung, Persönlichkeit, 1/2002, 6
2) In Mexiko City 1968 erreichte man bei den Sommerspielen in der Länderwertung den 5. Platz, in München 1972 den 3. Platz, in Montreal 1976, in Moskau 1980 und in Seoul 1988 den 2. Platz. An den Spielen in Los Angeles 1984 nahm die DDR-Mannschaft nicht teil.
3) GILBERT, Doug: The Miracle Machine
4) Gilbert kam 1976 in Montreal über den DDR-Sportjournalisten Dr. Klaus Huhn in Kontakt zur DDR-Sportführung und schrieb dann im Auftrage eines New Yorker Verle-gers „The Miracle Machine", das vor allem den Amerikanern die Überlegenheit des DDR-Teams über das USA-Team bei den 76er Spielen erklären sollte. Cf. Huhn, Klaus 2001, 4 und 2002, 198
5) „Neues Deutschland" vom 15.02.1949, zitiert nach TEICHLER, Joachim 1999, 20
6) Man ging dabei bei den DDR-Machthabern in der SED davon aus, dass das angebote-ne Gesellschaftssystem auf das andere Deutschland' im Westen übertragbar sei und setzte bei der Durchsetzung auf einen „Magneteffekt" des „besseren Systems".
7) Die Gramsci'sche Hegemonietheorie besagt...
8) Dies galt sowohl zu Beginn der DDR 1949, insbesondere aber nach dem Volksauf-stand
1953 und zum Zeitpunkt des Mauerbaus 1961.
10) Cf. Roeder, www.sport-ddr-roeder.de/index.htm
11) CF. Buss 2001, 148-153
12) Cf. Buss 2002
13) Dazu kamen 11 „Fußballklubs“ (FCs), da die Organisation und Finanzierung des Fuß-ballsports (schon seit 1955) separat vom DTSB verlief.
14) Offiziell wurde bei dem Selektionsverfahren nicht von „Talentauswahl“ gesprochen, sondern die technokratische Formulierung „Eignung“ gebraucht.
15) Im einzelnen waren dies.., womit Sportarten wie ...aus der Förderung und damit auch der internationalen Beteiligung durch Sportler/innen der DDR herausfielen.
16) ROEDER in Interview mit ND, 21.12.2000
17) 1986 betrug der DDR Staatshaushalt ca. 771 Milliarden DDR-Mark. Für den Sport insgesamt wurden ca. 1,47 Milliarden ausgegeben, davon für den Hochleistungssport 480 Millionen.
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Die Soziale Absicherung der
Leistungssportler in der DDR
Von CHRISTIAN OPPEL
Ausgehend von grundlegenden Beschlüssen, Richtlinien, Festle-gungen in den 50er Jahren1) war für die Förderung von Körperkul-tur und Sport in der DDR ein aufeinander abgestimmtes Bedin-gungsgefüge bei einer Vielzahl von Verantwortungsträgern ent-standen, das Systemcharakter hatte. Es reichte von der Aus- und Weiterbildung hoch qualifizierter Sportlehrer, Trainer und Funktio-näre2) über ein System der Sichtung, Auswahl und Förderung von talentierten Kindern und Jugendlichen3), eine an der Komplexität ih-res Gegenstandes orientierte sportwissenschaftliche Forschung und die konsequente Erprobung und Umsetzung der Erkenntnisse im Training und Wettkampf4) bis zu einer umfassenden sportmedi-zinischen Betreuung.5) Selbstverständlich schloß dieses Bedin-gungsgefüge die schulische beziehungsweise berufliche Ausbil-dung6) und soziale Absicherung der Sportlerinnen und Sportler ein, die sich langfristig darauf vorbereiteten, sportliche Höchstleistun-gen zu vollbringen.
Staatlicherseits wurden Körperkultur und Sport generell in vielfälti-ger Weise gefördert.7) Das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport (ab 1970 Staatssekretariat für Körperkultur und Sport) war in diesen Prozeß fest eingebunden. Zu den wesentlichen Aufgaben dieser zentralen staatlichen Einrichtung gehörten unter anderem die Entwicklung der Sportwissenschaft einschließlich der Sportme-dizin, die Aus- und Weiterbildung der Kader, die Vervollkommnung der materiell-technischen Bedingungen oder die Gewährleistung der sportmedizinischen Betreuung. Außerdem wurde ihr die Ver-antwortung für die schulisch-berufliche Ausbildung der Leistungs-sportlerinnen und -sportler und darin eingeschlossen für die soziale Einbindung in das Berufsleben übertragen. Eine Arbeitsgruppe im Verantwortungsbereich des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport mit der Bezeichnung „Büro zur Förderung des Sports in den Betrieben“ (BzFdS) löste diese Aufgaben gemeinsam mit den stell-vertretenden Vorsitzenden für allseitige Ausbildung der Sport- und Fußballclubs, und zwar seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre als
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1957 mit der Gründung des DTSB die Zuständigkeiten neu gere-gelt worden waren.
Staatliche Förderung der Leistungssportlerinnen und -sportler
Ziel aller Maßnahmen der staatlichen Förderung der Athleten war es, parallel zur leistungssportlichen Entwicklung eine kontinuierli-che schulisch-berufliche Ausbildung zu gewährleisten und zu si-chern, daß die Leistungssportlerinnen und -sportler arbeitsrechtlich in Schulen, Ausbildungseinrichtungen, Betrieben und anderen Insti-tutionen jederzeit sozial eingebunden wurden. Dabei galt, nur sol-che sportlich talentierten Kinder und Jugendlichen in das Förder-system aufzunehmen, deren schulische Leistungen dies rechtfer-tigten. Schülerinnen und Schüler mit unbefriedigenden Leistungen wurden mit entsprechenden Auflagen zurückgestellt oder abgewie-sen. Solch eine Zäsur in der leistungssportlichen Entwicklung einer Athletin oder eines Athleten erforderte eine sehr verantwortungs-volle Arbeit aller Beteiligten (Sportclubs, Fußballclubs, Sportver-bände, BzFdS). Ein mehrjähriges Grundlagentraining, die Aufnah-menormen in der jeweiligen Sportart, die schulischen Leistungen und die Persönlichkeitseinschätzung dienten dann der Entschei-dungsfindung.
Grundlagen für die Sportförderung waren das Arbeitsgesetzbuch der DDR, Kapitel 11, § 223 – 239 und die Anordnung über die Ar-beitsfreistellung von Sportlern und Funktionären zur Teilnahme an Sportlehrgängen und Sportveranstaltungen vom 6. August 1958 (Gesetzblatt Teil I, Nr. 56, S. 649). Gestützt auf diese Dokumente wurden im Laufe der Jahre eine Reihe interner Vereinbarungen zwischen zentralen staatlichen Dienststellen abgeschlossen, die eine umfassende Förderung der Leistungssportlerinnen und -sportler in Schule, Studium und Beruf ermöglichten.
1. „Vereinbarung des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport mit der Staatlichen Plankommission, dem Volkswirtschafts-rat, dem Landwirtschaftsrat, dem Ministerium der Finanzen, dem Ministerium für Volksbildung, dem Ministerium für Verkehrswesen und der Deutschen Notenbank zur Regelung der Einordnung von Leistungssportlern in Betrieben und staatlichen Einrichtungen“ vom 1.9.1963.
Entsprechend dieser Vereinbarung waren die beim Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport (später Staatssekretariat für Körperkultur und Sport) registrierten Fördersportler zur Teilnahme
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am Training und Wettkampf von der Arbeit freizustellen und in Be-trieben und Einrichtungen auf zusätzlichen Planstellen bezie-hungsweise Arbeitsplätzen einzuordnen. Sie waren in den Be-triebs- und Arbeitskräfteplänen nicht zu erfassen; entstandene Lohn- oder Gehaltskosten einschließlich von Nebenkosten wurden den Betrieben aus Mitteln des Staatshaushaltes zurückerstattet. Gehalts- und Lohneinstufungen der Leistungssportler waren auf der Grundlage der Qualifikation und Tätigkeit sowie des Brigade-durchschnittes vorzunehmen und setzten die Bestätigung durch den Betrieb voraus.
2. „Richtlinie zur Arbeit der Kinder- und Jugendsportschulen der DDR“ – Ministerratsbeschluß vom 17.10.1977.
Die Schüler der Kinder und Jugendsportschulen (KJS) wurden ent-sprechend der trainingsmethodischen Verbandskonzeptionen für den jeweiligen Kaderkreis differenziert gefördert. Bei Leistungs-nachweis und sportlicher Perspektive konnten sie nach der Bestä-tigung als Förderkader optimal unterstützt werden. Das heißt, es waren Gruppen- oder Einzelunterricht und eine Verlängerung der Schulzeit in der Regel um ein bis zwei Jahre bis zum Abschluß der 10. oder der 13. Klasse (Abitur) möglich.
Für Schülerinnen und Schüler der Sportarten Schwimmen, Was-serspringen, Turnen, Rhythmische Sportgymnastik und Eiskunst-lauf mit frühzeitigem Höchstleistungsalter konnte bereits eine Aus-bildungsverlängerung ab Klassenstufe 5/6 oder 7/8 beantragt und nach Bestätigung durch das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport (BzFdS) in Anspruch genommen werden.8) Während der Schulzeitverlängerung wurden Ausgleichzahlungen gewährt.
3. „Vereinbarung zwischen dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport und dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen zur Förde-rung von Leistungssportlern an den Hoch- und Fachschulen der DDR“ vom 1.1.1979.
Auf Antrag der Sport- und Fußballclubs oder anderer Verantwor-tungsträger des Sports wurden beim Staatssekretariat für Körper-kultur und Sport registrierte Fördersportler in Übereinstimmung mit dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen zum Studium an die Universitäten oder die Hoch- und Fachschulen delegiert. Das Studium erfolgte auf der Grundlage der gültigen Ausbildungsdoku-mente und einer jährlichen individuellen Studienplanung, die die Trainings- und Wettkampfgestaltung im Jahresverlauf berücksich-
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tigte. Studienverlängerungen konnten durch die Sportclubs über die Sportverbände beim Staatssekretariat für Körperkultur und Sport (BzFdS) beantragt werden und bedurften der Einzelbestäti-gung.
4. “Vereinbarung zwischen dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport und dem Staatssekretariat für Berufsbildung zur Förderung von Leistungssportlern in den Einrichtungen der Berufsbildung“ vom 1.4.1982.
Mit den beim Staatssekretariat für Körperkultur und Sport registrier-ten Fördersportlerinnen und -sportlern waren durch die Betriebe und Einrichtungen Lehrverträge abzuschließen, die nicht in den Ar-beitskräfteplänen ausgewiesen wurden. Das Lehrlingsentgelt und gesetzlich festgelegte Betriebsabgaben wurden den Ausbildungs-einrichtungen für die Fördersportler durch das Büro zur Förderung des Sports zurückerstattet. Die Ausbildung erfolgte auf der Grund-lage eines individuellen Lehrablaufplanes, der die Trainings- und Wettkampfgestaltung im Jahresverlauf berücksichtigte. Lehrzeitver-längerungen waren durch die Sport- oder Fußballclubs über die Sportverbände beim Staatssekretariat für Körperkultur und Sport zu beantragen und bedurften ebenfalls der Einzelbestätigung.
Eine Förderstelle wurde gewährt, wenn eine Sportlerin oder ein Sportler mit sportlicher Perspektive dem Kaderkreis eines Sport-verbandes angehörte, die sportmedizinische Eignung attestiert und die Förderung durch die Verantwortlichen der Sport- und Fußball-clubs beantragt worden war. Dies war in der Regel der Fall, wenn der Trainingsumfang und die Wettkampftätigkeit solch einen Zeit-umfang erreicht hatten, daß Schule, Lehre, Studium oder Beruf im Rahmen des dafür festgelegten Organisations- und Zeitbudgets nicht mehr zu bewältigen waren und zusätzliche Maßnahmen – einschließlich finanzieller Aufwendungen – erforderlich wurden.
In einigen Sportarten begann das mit einer Schulzeitstreckung an der Kinder- und Jugendsportschule (KJS), indem der Lehrstoff ei-nes Schuljahres auf zwei Jahre verteilt wurde. Bei Sportarten mit relativ niedrigem Hochleistungsalter wie Schwimmen, Turnen weib-lich, Eiskunstlauf war es erforderlich, auf Grund sehr hoher zeitli-cher Belastungen durch Training, Trainingslager und Wettkämpfe zum Teil mehrjährige Schulzeitverlängerungen einzuplanen. Dabei gelang es durch Gruppen- und teilweise Einzelunterricht – auch bei Trainingslehrgängen an den zentralen Sportschulen – die Verlän-
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gerungen in Grenzen zu halten, woran die KJS-Lehrer einen hohen Anteil hatten. Ähnlich verliefen die notwendigen Ausbildungsver-längerungen an den Berufsschulen, wobei insbesondere in den Ballungsgebieten der Städte zum Teil Sonderklassen für einzelne Berufsgruppen eingerichtet wurden oder die berufspraktische Aus-bildung in Lehrgangsform erfolgte. Im Studium waren individuelle Studienpläne mit konkret fixierten Teilabschlüssen für jedes Studi-enjahr vorherrschend. Diese wurden mit den individuellen Trai-ningsplänen oder den Gruppentrainingsplänen (zum Beispiel in den Sportspielen) abgestimmt und die jeweiligen Förderungen der wei-teren Leistungsentwicklung angepaßt.
Abhängig vom erreichten Leistungsstand im Sport und der damit verbundenen Einordnung in die jeweiligen Kaderkreise des Sport-verbandes mußten der schulischen und beruflichen Ausbildung somit längere Zeiträume eingeräumt werden, die zu Ausbildungs-verlängerungen führten.
Entsprechend den vollbrachten sportlichen Leistungen und dem sozialen Status gab es folgende Kaderkreise:
A-Kader - vorwiegend Kandidaten für Olympische Spiele, Welt-meisterschaften und Europameisterschaften, zumeist Facharbeiter oder Absolventen von Universitäten, Hoch- oder Fachschulen, nur teilweise Studenten, Schüler und Lehrlinge,
B-Kader - erweiterter Auswahlkaderkreis und weitere Leistungsträ-ger der Sportverbände, in der Regel Lehrlinge, Studenten und teil-weise Facharbeiter oder Absolventen von Universitäten, Hoch- o-der Fachschulen
C-Kader - Kandidaten für Jugendweltmeisterschaften, Jugendeu-ropameisterschaften und ähnliches, vor allem Schüler und teilweise Lehrlinge,
D-Kader - Nachwuchssportler im Aufbau- und Anschlußtraining, vor allem Schüler.
Diese Systematisierung hatte sich im Verlauf mehrerer Olympia-zyklen über verschiedene Formen von Förderstufen entwickelt und wurde jeweils den neuen Herausforderungen angepaßt.
Die Sportlerinnen und Sportler wurden individuell und differenziert gefördert. Dafür waren in den Sport- und Fußballclubs die stellver-tretenden Vorsitzenden für allseitige Ausbildung (vergleichbar mit dem Laufbahnberater heute) zuständig. Sie wurden fachlich durch die Mitarbeiter des Büros zur Förderung des Sports angeleitet und
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unterstützt. Durch ihr enges Zusammenwirken mit dem Büro, den Sportverbänden, den örtlichen Ausbildungseinrichtungen und Be-trieben koordinierten sie vor allem die schulisch-beruflichen mit den leistungssportlichen Aufgaben, sicherten die soziale Betreuung der Fördersportler einschließlich der Nachbetreuung der bereits aus-geschiedenen. Zu ihren Aufgaben gehörten zum Beispiel die Be-rufsorientierung der Schüler, deren Unterbringung in Einrichtungen der Berufsausbildung sowie an Hoch- und Fachschulen, die Bean-tragung von Ausbildungsverlängerungen und die Gewährleistung der dafür vorgesehenen Ausgleichzahlungen bis zum Ausbildungs-abschluß, die Vorbereitung und Sicherung von Arbeitsplätzen für Fördersportler mit Berufsabschluß einschließlich von Weiterbil-dungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Diese in den Sportclubs und Fußballclubs geleistete Arbeit war äußerst umfangreich und er-forderte sowohl tiefere Einsichten in die leistungssportliche Ent-wicklung der Athletinnen und Athleten als auch pädagogisch-psychologische Fähigkeiten. Rückblickend ist die Tätigkeit dieser Mitarbeiter nicht hoch genug einzuschätzen.
Aufgrund langjähriger Erfahrungen und begrenzt durch finanzielle staatliche Zuwendungen betrug die Anzahl der Förderstellen Ende der 80er Jahre etwa 4000. Darin eingeschlossen waren etwa 500 nun gewissermaßen „passive“ Athleten, die ihre leistungssportliche Laufbahn bereits beendet hatten, aber durch Studien- und Lehr-zeitverlängerungen noch Ausgleichzahlungen bis zum Abschluß ih-rer Ausbildung erhielten. Die etwa 3500 aktiven Fördersportlerin-nen und -sportler waren zu etwa 75 Prozent länger trainierende und zu etwa 25 Prozent Athletinnen und Athleten, die nur kurze Zeit bis zu ihrer Ausdelegierung gefördert und für die dann neue Leistungssportler aufgenommen wurden. Die jährliche Fluktuation umfaßte also etwa ein Viertel des bestätigten Kaderkreises. Eine hohe Fluktuationsrate war vor allem bei jüngeren Sportlern festzu-stellen, die nach einem Jahr Leistungstraining den Anforderungen des Hochleistungssports aus unterschiedlichen Gründen (wegen fehlender sportlicher Perspektive, sportmedizinischer Gründe, schulisch-beruflicher Belastung) nicht mehr gewachsen waren. Aus finanzieller Sicht ergaben sich durch solche kurzen Zeitspannen im Kreis der geförderten Athleten noch keine oder nur äußerst geringe Konsequenzen.
Zu den etwa 3500 Fördersportlerinnen und -sportlern gehörten:
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- Berufene Sportler der Nationalmannschaften, die bei bisherigen Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften bereits Medaillen gewonnen hatten (A-Kader) - bis 250 Sportlerinnen und Sportler,
- Mitglieder der National- oder Olympiamannschaften, die Medail-len bei Europameisterschaften, Weltcups, Europacups gewonnen hatten und/oder Teilnehmer an Olympischen Spielen und Welt-meisterschaften (B-Kader) waren - bis 250 Sportlerinnen und Sportler,
- Fördersportler im Hochleistungs- und Anschlußbereich mit Sieg-leistungen bei Jugendweltmeisterschaften, Jugendeuropameister-schaften sowie ausgewählte Trainingspartner zum Beispiel in den Zweikampfsportarten und den Spielsportarten (C-Kader) - bis 1000 Sportlerinnen und Sportler,
- alle weiteren Fördersportler im Aufbau- und Anschlußtraining (D-Kader) - bis 2000 Sportlerinnen und Sportler.
Die Gesamtzahl der für einen Sportverband festgelegten Stellen war strikt einzuhalten. Den verschiedenen Sportarten standen im Olympiazyklus 1984-1988 folgende aktive und passive Förderstel-len zur Verfügung:
Sportverband gesamt davon passiv
Leichathletik 705 60
Turnen 290 75
Rhythmische Sportgymn. 50 15
Schwimmen 284 80
Wasserspringen 83 25
Radsport 215 25
Rudern 243 40
Kanu 145 15
Segeln 124 10
Boxen 133 5
Ringen 125 10
Fechten 65 5
Judo 55 5
Gewichtheben 65 5
Fußball 453 15
Handball 271 25
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Volleyball 138 10
Schießen 112 10
Wintersport/Ski 88 10
Eiskunstlauf 51 5
Eisschnellauf 103 10
Schlittensport 36 5
3834 465
Finanzielle Aufwendungen
Die Bereitstellung finanzieller Mittel erfolgte nach intern festgeleg-ten Regelungen durch das Büro zur Förderung des Sports in en-gem Zusammenwirken mit den Sport- und Fußballclubs. Dabei galt der Grundsatz: Die Leistungssportler sozial so abzusichern, daß ihnen durch sportbedingte Ausbildungsverlängerungen keine Nach-teile gegenüber vergleichbaren Nichtleistungssportlern entstehen. Gezahlt wurden:
1. Verpflegungszuschüsse für Schüler, Lehrlinge und Studenten in Höhe von 60 Mark monatlich, sofern die Regelausbildungszeit noch nicht überschritten und eine Ausgleichzahlung für eventuelle Ausbildungsverlängerungen noch nicht wirksam war;
2. Löhne, Gehälter sowie Lehrlingsentgelte für Förderkader, die den Betrieben und Einrichtungen auf der Grundlage der vom jewei-ligen Betrieb und dem Büro zur Förderung des Sports bestätigten Lohnbescheinigung aus Mitteln des Staatshaushaltes zurückerstat-tet wurden;
3. Ausgleichzahlungen für Ausbildungsverlängerungen in Schule, Lehre und Studium
- an Schüler mit Ausbildungsverlängerungen zum Abschluß der 10. oder der 13. Klasse (Abitur), die bis zum Abschluß der 10. Klasse (wie an den Erweiterten Oberschulen) Ausbildungsbeihilfen in Hö-he von 110 Mark (11. Schuljahr) bzw. 150 Mark (12. Schuljahr) er-hielten; beginnend mit dem 13. Schuljahr zum Abschluß der 10. Klasse setzte eine Ausgleichzahlung (Differenz zum Jungfachar-beitergehalt oder dem Stipendium) ein.
- an Lehrlinge für den Zeitraum der Lehrzeitverlängerung in der Höhe der Differenz zwischen Lehrlingsentgelt und dem Anfangs-gehalt von Jungfacharbeitern auf der Grundlage gültiger Tarife (zum Beispiel für die ersten beiden Jahre einer Verlängerung zwi-schen 350 und 630 Mark entsprechend der jeweiligen Berufsgrup-
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pe; ab 3. Verlängerungsjahr wurden Steigerungsraten mit durch-schnittlich 50 Mark berücksichtigt),
- an Studenten in der Form eines Pauschalbetrages als Differenz zwischen dem Stipendium und den durchschnittlichen Absolven-tengehältern. Die monatlichen Ausgleichzahlungen betrugen wäh-rend der Studienverlängerungen nach den Tarifen von vor 1989 bei
Hochschülern 600 Mark
Fachschülern der Ingenieurschulen und der Institute für Lehrerbil-dung 520 Mark
Fachschülern der Pädagogischen Fachschulen für Kindergärtne-rinnen 450 Mark
Fachschülern der Medizinischen Fachschulen 350 Mark.
Die Ausgleichzahlung begann mit dem Wirksamwerden der Lehr- oder Studienzeitverlängerung (also bei Überschreiten der Re-gelausbildungszeit) und endete mit dem Ausbildungsabschluß, ge-gebenenfalls wurden Jahre einer Schulzeitverlängerung berück-sichtigt;
Für Schüler, die bis zum Abschluß der 10. Klasse als Förderkader abgemeldet wurden (Beendigung des Leistungssports), erfolgte die Ausgleichzahlung als einmalige Pauschalzahlung in der damals festgelegten Höhe von 6500 Mark pro Jahr Schulzeitverlängerung. Alle Ausgleichzahlung war generell an die Erfüllung der in den indi-viduellen Ausbildungsplänen festgelegten Aufgaben gebunden. Bei selbstverschuldeter Nichterfüllung wurden Zahlungen einge-schränkt oder versagt;
4. einmalige oder zeitlich begrenzte finanzielle Hilfen für sozial be-dürftige Fördersportler in besonderen Härtefällen;
5. Leistungszulagen:
- monatliche Leistungszulagen für Medaillengewinner bei OS, WM und EM (50 bis 500 Mark) für ein, zwei oder vier Jahre (bis zu den nächsten OS, WM und EM)
- einmalige Prämien für sportliche Spitzenleistungen bei OS, WM und EM (1.–6. Platz) und bei Weltrekorden; abgestuft zwischen 25.000 Mark (Olympiasieger in Einzeldisziplinen) und 750 Mark (6. Platz bei EM)
- Siegprämien für ausgewählte Wettkampfhöhepunkte (orientiert an Bestleistungen zum jeweiligen Wettkampfhöhepunkt);
6. Für langjährig erfolgreiche Athleten bestand die Möglichkeit auf vorzeitige Auslieferung eines Pkw (über das Ministerium für Handel
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und Versorgung). Die Bezahlung erfolgte ohne jegliche Begünsti-gung durch die jeweilige Sportlerin oder den Sportler selbst.
Die Gesamtsumme, die aus dem Staatshaushalt in den 80er Jah-ren pro Jahr zur Verfügung gestellt wurde, unterlag jährlichen Schwankungen und betrug in erfolgeichen Olympiajahren bis zu 30 Millionen Mark der DDR. Darin eingeschlossen waren
- Verpflegungszuschuß und Leistungszulagen für etwa 3500 För-dersportler ca. 5,5 Mill.
- Ausgleichzahlungen für Ausbildungsverlängerungen von Schü-lern, Lehrlingen und Studenten für etwa 1200 Sportler ca. 6,5 Mill.
- Löhne und Gehälter für etwa 800 Fördersportler und Lehrentgelte für ca. 900 Lehrlinge ca.12,0 Mill.
- Leistungsprämien für etwa 300 – 500 Fördersportler in Abhängig-keit von erreichten Ergebnissen bei festgelegten Wettkampfhöhe-punkten ca. 5,5 Mill.
Überleitung in die Sportförderung der Bundesrepublik Deutschland
Mit den Ereignissen im Herbst 1989 geriet auch der Leistungssport der DDR unter Druck. Auf der Suche nach Privilegien sogenannter regimetreuer Verantwortungsträger und Nutznießer neideten zum Teil emotional aufgebrachte Bürger den Leistungssportlern ihre Förderung, die zwangsläufig auch Auslandsaufenthalte im soge-nannten kapitalistischen Ausland einschlossen, welche dem „Nor-malbürger“ verwehrt blieben. Trotz großer Turbulenzen, zum Bei-spiel am „Runden Tisch des Sports“ Anfang 1990, bestand Einver-nehmen darin, die bewährte Sportentwicklung weiterzuführen, wenn auch mit veränderter Schwerpunktsetzung. So gab es unter anderem mehrere Vorschläge, wie die bewährte schulisch-berufliche Förderung ausgewählter Leistungssportler vom Nach-wuchs bis zur Spitze erhalten werden kann. Darin eingeschlossen war der Erhalt der Kinder- und Jugendsportschulen. Der Regierung Modrow wurden dazu Entscheidungsvorschläge unterbreitet, die aber durch die Volkskammerwahlen vom März 1990 und den bis zum 3.10.1990 erfolgten Anschluß der DDR an die BRD hinfällig wurden.
Mit der Abwicklung des Staatsapparates und der gesellschaftlichen Organisationen verlor der gesamte Sport der DDR seine Grund-strukturen. Auch das Büro zur Förderung des Sports wurde aufge-löst. Noch ausstehende Verpflichtungen für die Sportler konnten
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aber weiter bearbeitet und eingelöst werden. In dieser Situation wurde zunächst versucht, einzelne Teile des bisherigen Fördersys-tems als Übergangslösung aufrecht zu erhalten, um absehbare Umstrukturierungen vornehmen zu können. Dabei galt es, einem völligen Zusammenbruch der bewährten Förderung entgegenzu-wirken. Förderstellen und -maßnahmen wurden stufenweise redu-ziert. Aus noch vorhandenen Mitteln konnten für verbliebene Leis-tungsträger und bereits ausgeschiedene Sportler die notwendigen finanziellen Leistungen erbracht werden.
In der Übergangsphase von April bis Oktober 1990 nahm eine Ar-beitsgruppe des damaligen Ministeriums für Jugend und Sport der DDR wesentliche Aufgaben des ehemaligen Büros zur Förderung des Sports wahr. Seine Fortsetzung fand das ab 3.10.1990 unter Verantwortung des Bundesministeriums des Inneren, Außenstelle Berlin, Fachgebiet Sportförderung. So konnte unter anderem für ehemalige Fördersportler der DDR mit Ansprüchen aus Ausbil-dungsverlängerungen bis einschließlich 1989 eine einmalige finan-zielle Ausgleichzahlung vorgenommen werden.
Am 1. Januar 1991 hat die Stiftung Deutsche Sporthilfe die Förde-rung von 1.400 Athletinnen und Athleten der neuen Bundesländer übernommen. Zur Finanzierung dieser zusätzlichen Aufgaben stell-te die Bundesregierung für die Jahre 1991 und 1992 jeweils 20 Mil-lionen DM zur Verfügung. Seit 1993 erfolgt die personenbezogene Förderung ausschließlich nach den Kriterien und aus Mitteln der Stiftung Deutsche Sporthilfe.
Abschließend und resümierend
Die soziale Absicherung und schulisch-berufliche Ausbildung der Leistungssportlerinnen und -sportler der DDR war integrierter Be-standteil des gesamten Bedingungsgefüges für das Erreichen sportlicher Höchstleistungen. Von ersten Anfängen in den 50er Jahren – wie zusätzliche Lebensmittelkarten für Sportler, die in Leistungsschwerpunkten der Betriebssportgemeinschaften (den späteren Sportclubs) zusammengefaßt wurden, über die Bereitstel-lung von Trainingsbekleidung und Sportmaterial, kostenlose Nut-zung von Sportanlagen und zeitweilige Arbeitsfreistellungen – war es ein weiter Weg zum Betreuungssystem der 80er Jahre. Von grundsätzlicher Bedeutung war dabei, stets die internationalen Entwicklungen zu verfolgen und angemessen zu berücksichtigen.
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Die Kräfte, Bedingungen und Mittel waren stets darauf gerichtet, Spitzenleistungen zu ermöglichen, und entsprachen zugleich den jeweils gegebenen ökonomischen und anderen Bedingungen der Gesellschaft. Gründliche Analysen nach Wettkampfhöhepunkten, insbesondere zum Abschluß eines Olympiazyklus, waren die Grundlage für neue Leistungsziele und die Vervollkommnung des gesamten Bedingungsgefüges wie Talentauswahl, Trainingsgestal-tung, sportwissenschaftliche Forschung, sportmedizinische Betreu-ung sowie schulisch-berufliche Ausbildung und soziale Sicherstel-lung, um nur einige zu nennen.
Im Gegensatz zum Berufssport, der mit den Entgelten für sportliche Höchstleistungen unter anderem auch die finanzielle Existenzsi-cherung nach der sportlichen Laufbahn einschließt – allerdings nur bei der vergleichweise geringen Anzahl von Spitzenathleten und auch nicht in allen Sportarten – schloß die soziale Absicherung der Leistungssportler der DDR auch eine berufliche Perspektive ein.
Die Entwicklung des DDR-Leistungssports wäre ohne das verant-wortungsvolle und einheitliche Handeln aller Beteiligten nicht so er-folgreich verlaufen. Eine zentral geleitete Leistungssportkommissi-on der DDR und gleichnamige Gremien in den Bezirken koordinier-ten in den 80er Jahren das Zusammenwirken aller und trugen so dazu bei, die gegebenen Möglichkeiten sehr effektiv für die Sport-förderung zu nutzen.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. WONNEBERGER, G. u.a.: Geschichte des DDR-Sports. Berlin 2002, 112–117; 135-136 und „Geschichte des DDR-Sports“ – Protokollband 1, 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Sportausschusses (DS) 01. Oktober 1948. Berlin 1998
2) Vgl. SCHUMANN, K. (Hrsg.): DHfK Leipzig 1950–1990 - Chronologie einer weltbe-kannten Sporthochschule und das abrupte Ende ihrer Geschichte. Köln 2003
3) Vgl. BAUERSFELD, K.-H.: Erkenntnisse und praktische Erfahrungen zum langfristigen Aufbau sportlicher Höchstleistungen. In: Theorie und Methodik des Trainings in den Be-reichen der Höchstleistung. Schriftenreihe „Sport, Leistung, Persönlichkeit“ 3/2003, 33–44
4) Vgl. u.a.: Theorie und Methodik des Trainings in den Bereichen der Höchstleistung. Schriftenreihe „Sport, Leistung, Persönlichkeit“ 3/2003
5) Vgl. GOTTSCHALK, K.: Das Funktionsmodell der Sportmedizin in der DDR. Schriften-reihe „Sport, Leistung, Persönlichkeit“ 2/2002, 21–35
6) Vgl. WILLE, U.: Der Sport in der DDR (Teil 1). Beiträge zur Sportgeschichte 11/2000, 47-77
7) Vgl. ERBACH, G.: Über die Beziehungen von Gesellschaft, Staat und Sport. In: Ge-schichte des DDR-Sports – Protokollband 1, 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Sportausschusses (DS) 1. Oktober 1948. Berlin 1998, 60-70
8) Vgl. LEDIG, R.: Die Kinder- und Jugendsportschulen in der DDR. Beiträge zur Sportge-schichte 13/2001, 5–20
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Sport für alle Kinder –
ein Erfahrungsbericht
Von IRMGARD BOYWITT
Unbestritten gehören heute Bewegungsangebote und vielseitige Bewegungsanforderungen von frühester Kindheit an zu jenen Be-dingungen, die nicht nur für die motorische, sondern auch für die emotionale, die geistige, für die Entwicklung der Heranwachsenden insgesamt unverzichtbar sind. Das erfordert Bewegungsangebote, die unterschiedliche Lernformen ermöglichen, das Versuch-Irrtum-Lernen, das erkundende Signallernen, das Beobachtungs- und Nachahmungslernen bis hin zur Entäußerung (Exteriorisation) des Gelernten, also Angebote, die das spielerische Üben und Erlernen ebenso einschließen wie das spielerische Erproben und Austesten eigener Möglichkeiten möglichst in Kooperation mit anderen.1) Auch insofern - und die von GutsMuths, Pestalozzi, Fröbel und an-deren begründeten Traditionen fortführend - gehörten in den Kin-dereinrichtungen der DDR die gesamte Vielfalt von Spielen zum täglichen Angebot, auch Bewegungsspiele unterschiedlicher Art bis zu agonalen Spielen, Bewegungsspielen mit Wettbewerbscharak-ter.
Im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain organisierten wir zum Bei-spiel einmal im Jahr ein Sportfest für die Vorschulgruppen der Kin-dergärten, für die 5- bis 6-Jährigen unter dem Titel „Kleine weiße Friedenstaube“, ein Wettbewerb unter altersgemäßen Bedingun-gen. Traditionell fand dieses Sportfest auf dem Lasker-Sportplatz statt, der mit Girlanden und Luftballons geschmückt jeweils auf die Gäste wartete, die zum Teil mit Doppelstockbussen zum Sportplatz gebracht wurden. Auch die Sektion Sporttauben unterstützte die-ses Fest, in der Regel erkennbar an ihrem speziellen Kabinenex-preß. Während die Taubenzüchter den Auflaß vorbereiteten, sam-melten sich die meist mehr als 400 Kinder auf dem Rasen. Eine Fanfare eröffnete das Fest und der Bürgermeister des Stadtbezirks ließ es sich zumeist nicht nehmen, die künftigen Schulanfänger selbst zu begrüßen. Dann erklang das Lied „Kleine weiße Frieden-staube“, das dem Fest seinen Namen gegeben hatte und in dem es heißt: „Du sollst fliegen Friedenstaube, / allen sag es hier, / daß nie wieder Krieg wir wollen, / Frieden wollen wir.“ Während dieses
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Lied erklang, ließen die Züchter - zur immer wieder gelungenen Überraschung der Kinder - die mitgebrachten Sporttauben frei, die über dem Sportplatz noch eine Runde flogen und unter dem Beifall der Kinder dann den Flug in Richtung ihrer Heimat-Taubenschläge antraten. Im sich nun anschließenden Wettbewerb absolvierten alle Kinder einen Dreikampf: 40-m-Lauf, Schlagball-Weitwerfen und Weitspringen. Dabei kam es nicht darauf an, vorn zu sein oder zu gewinnen, sondern vielmehr zu erproben, wieviel Punkte man er-reichen konnte. Beim Schlagball-Weitwerfen zeigte zum Beispiel ein Fähnchen an, wie weit man werfen müßte, um die Höchstzahl von drei Punkten zu erreichen. Oder im Weitsprung war es nicht wichtig, erst einen Absprungbalken genau zu treffen, sondern allein die erreichte Weite zählte, sie wurde jeweils vom Absprung bis zur Landung gemessen. Es konnte also niemand den Absprungbalken verfehlen oder gar ein Sprung als ungültig erklärt werden. Alle Sprünge waren gültig, wurden vermessen und gewertet. Und es erhielten stets alle Kinder eine Urkunde, die sowohl die Teilnahme am Fest wie auch die jeweils erreichten Punkte bestätigte. Die spielerische Gesamtsituation wird wohl auch durch jenen Jungen ckarakterisiert, der während des 40-m-Laufes einen Schuh verloren hatte, kurz vor dem Zieleinlauf einfach umkehrte, zurücklief, seinen Schuh aufhob und dann angefeuert von den anderen erst lange nach ihnen ins Ziel kam.
Keineswegs weniger begeistert waren die Teilnehmer an dem ebenfalls jährlich stattfindenden Sportfest der Schulsportgemein-schaften (SSG) unseres Stadtbezirks in der einstigen Werner-Seelenbinder-Halle. Schulsportgemeinschaften gab es an allen 24 Schulen im Stadtbezirk Friedrichshain, die sich auch immer alle an diesem Fest beteiligten, an den Schulstaffel-Läufen, zu einer Schulstaffel gehörten jeweils Kinder aus allen Klassenstufen einer Schule, an gymnastischen und akrobatischen Vorführungen, lusti-gen Pendelstaffeln der Schüler aus der Unterstufe und an einem Mannschaftsspiel als - lange vorbereiteten - Höhepunkt. Selbstver-ständlich ließen es sich die Berliner Radsportler und deren Spit-zenathleten nicht nehmen, als krönenden Abschluß ein Winter-bahn-Rennen für die Schülerinnen und Schüler aus den Schul-sportgemeinschaften in der stets bis auf den letzten Platz besetzen Halle zu fahren, wodurch die ohnehin schon durch die Wettbewer-be Schule gegen Schule ausufernde Begeisterung der Schülerin-
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nen und Schüler und das emotionale Erleben aller nochmals be-sondere Impulse erhielten.
Selbstverständlich wurden weder Startgebühren noch Eintrittsgel-der kassiert. Spielend zu lernen und lernend zu spielen, ob durch Bewegungsangebote oder durch agonale Spiele in den Kinderein-richtungen, beim Sportfest der Vorschulkinder auf dem Lasker-Sportplatz oder in den Schulsportgemeinschaften und bei dem jährlichen Sportfest in der Werner-Seelenbinder-Halle waren eben-so gebührenfrei und damit ohne Zugangsbeschränkungen wie der Sport im Hort, den viele nach der Schule besuchten, und das Sporttreiben in den Schulsportgemeinschaften. Nicht einmal die Busfahrt der 5- und 6-Jährigen zum Sportplatz wurde den Eltern berechnet, weil in der Verfassung des Staates DDR wie auch im Jugendgesetz, zum Beispiel im § 34 des Jugendgesetzes von 1974, das Grundrecht auf Bildung wie auch Sport und Erholung als Grundrecht aller Bürgerinnen und Bürger festgeschrieben worden waren, die die allseitige Förderung der Kinder und Jugendlichen - auch im Sport - einschlossen. Für den gesamten Prozeß der kör-perlichen Bildung und Erziehung vom Vorschul- bis zum Ober-schulalter war entsprechend den für das einheitliche Bildungssys-tem geltenden Gesetzen (vom 25.2.1965 in der Fassung vom 30.6.1966, GBl II 1966 Nr. 88 S. 571) das Ministerium für Volksbil-dung verantwortlich. In Wahrnehmung dieser Verantwortung wurde davon ausgegangen, daß „nur in Einheit von Sportunterricht und außerunterrichtlichen Sport optimale Wirkungen zu erreichen sind“.2) Auch insofern waren die Schulsportgemeinschaften ein An-gebot für den außerunterrichtlichen Sport der Schülerinnen und Schüler und keine Grundeinheiten des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), wenn das heute mitunter auch anders inter-pretiert wird. Als schulische Einrichtungen waren für die SSG die Schuldirektoren verantwortlich, und es war möglich, sowohl in sportartspezifischen als auch in allgemeinen Sportgruppen zu üben und Sport zu treiben. Mitgliedsbeiträge wurden in den SSG nicht erhoben. Ihren Mitgliedern wurden auch die Startgebühren erlas-sen, wenn sie an Wettkämpfen des DTSB teilnahmen. Natürlich bedurfte das einer entsprechenden Startberechtigung und auch die notwendige ärztliche Untersuchung (in der Regel jährlich, in der Sportart Boxen halbjährlich) mußte bescheinigt werden. Aber auch diese Untersuchungen waren gebührenfrei für alle, so daß keinerlei
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Zugangsbeschränkungen bestanden. Natürlich erweisen sich unter solchen Bedingungen mitunter sehr schnell andere Voraussetzun-gen als einschränkend und als Verantwortlicher damals wie auch als Zeitzeuge heute muß man Grundsätzliches, Primäres von Se-kundärem zu unterscheiden wissen. Um so mehr wird aber einem jahrzehntelang ehrenamtlich im Berliner Sport Tätigen bewußt, welche Beschränkungen heute allein entstehen durch angewach-sene Mitgliedsbeiträge - auch für Kinder und Jugendliche -, durch eine wachsende Zahl an Schwimmhallen, die geschlossen werden, oder durch den größer gewordenen Mangel an Freiflächen auch für den Schulsport, zum Beispiel im Stadtbezirk Mitte von Berlin, sowie dafür, welche Konsequenzen das für die Kinder- und Jugendge-sundheit, vor allem der sozial Benachteiligten hat. Die Kinder- und Jugendärzte haben erst vor wenigen Tagen nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. SCHMIDT-KOLMER, E.: Frühe Kindheit. Berlin 1986
2) SCHMIDT, D.: Sportmedizinische Aufgaben im Kinder- und Jugendsport. In: Sportmedi-zinische Grundlagen der Körpererziehung und des sportlichen Trainings. Leipzig 1987, S. 416
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Die beiden folgenden Beiträge sind Vorträge, die auf der Jah-restagung des Vereins Sport und Gesellschaft 2003 in Leipzig gehalten worden waren. Sie werden hier im Wortlaut wiedergegeben. Der Verein hatte die Wissenschaftsentwick-lung der Soziologie des Sports in West und Ost als einen Punkt auf seiner Tagesordnung.
Sportsoziologie in der BRD 1952-1990: Ent-wicklungen, Schwerpunkte, Erträge
Von BERO RIGAUER
Erste Anfänge und Orientierungen
Das Interesse der Gesellschaft auf den Ebenen alltäglicher Kom-munikation, der Soziologie im Zusammenhang ihrer wissenschaftli-chen Funktion (Forschung, Lehre) sowie der Sportpraxis innerhalb ihrer organisierten Formen (Sportvereine/-verbände) an sportsozio-logischen Fragestellungen und daran anschließender Forschung hat sich in Deutschland erst nach dem 2. Weltkrieg (1945) im Zeit-raum der 1950/60er Jahre entwickelt. Zu ergänzen ist, dass diese Entwicklung unter den politischen Bedingungen zweier deutscher Staaten (DDR, BRD) stattgefunden hat. Ich beschränke mich in meinen folgenden Ausführungen ausschließlich auf die sogenannte alte Bundesrepublik Deutschland1) und beziehe mich auf ein ent-sprechendes Referat, das ich aus Anlass der Jahresversammlung des Vereins „Sport und Gesellschaft“ am 24.10.2003 in Leipzig ge-halten habe.
Erste Anstöße zur Begründung einer Sportsoziologie in der alten BRD erfolgen durch Autoren, die ihre Essays und Studien auf un-terschiedlichen Grundlagen der Soziologie, Sozialanthropologie und Sozialphilosophie durchführen. Der Vollständigkeit halber soll jedoch auf einen Vorläufer, um nicht zu sagen den Begründer der Sportsoziologie in Deutschland, hingewiesen werden: Bereits 1921 publiziert RISSE seine ursprünglich bei Alfred WEBER als Dissertati-on geplante Untersuchung zum Sport mit dem Titel Soziologie des Sports2) und eröffnet den sportsoziologischen Diskurs, der jedoch während der NS-Zeit unterbrochen und erst nach 1945 wieder auf-genommen oder genauer gesagt neu begonnen wird. Initiiert in der BRD von PLESSNER 1952 mit seinem Entwurf zu einer Soziologie
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des Sports3), fortgesetzt 1960 von LÜSCHEN mit seiner Prolegome-na zu einer Soziologie des Sports4) sowie von SPECHT mit seiner Forderung nach einer soziologischen Sichtweise auf den Sport5). Die Autoren zentrieren ihre Beobachtungen, Analysen und Per-spektiven auf soziale Verhaltens- und Systemprozesse im Sport, deren sportinternen Grundlagen, Ausdifferenzierungen und Funkti-onen. Die Sozialstrukturen des Sports werden im Spannungsfeld zwischen sportinterner Autonomie und gleichzeitiger gesellschaftli-cher Anschlüsse sowie Rückwirkungen betrachtet. Hiervon ausge-hend fordern die Autoren eine theoretische und empirische Grund-legung der Sportsoziologie ein, wie sie zum Beispiel in einem Son-derheft der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ zur sportbezogenen Kleingruppenforschung6) oder von LINDE/HEINEMANN innerhalb einer ersten größeren empirischen Un-tersuchung zum Leistungsengagement und Sportinteresse einge-löst wird7)
Das Forschungsinteresse innerhalb der dargestellten Anfänge und davon ausgehend im weiteren Entwicklungsverlauf der Sportsozio-logie (BRD) ist erst einmal originär auf eine wissenschaftliche Er-weiterung und Vertiefung der Soziologie im Rahmen einer speziel-len Soziologie fokussiert. Es geht neben einer theoretischen vor al-lem um eine ergänzende empirische Fundierung der Mutterwissen-schaft. Aus dieser Sicht wird die neue Fachrichtung programma-tisch mit der Bezeichnung Soziologie des Sports besetzt. Die pri-mär an Sportwissenschaft und Sportpraxis orientierte Fachrichtung etabliert sich dagegen unter der Bezeichnung Sportsoziologie. In den 1980er Jahren resultieren aus dieser interessenbasierten Dif-ferenzierung zwei wissenschaftsorganisatorisch getrennte aber ko-operierende Gruppenbildungen: die Sektionen „Soziologie des Sports“ (Deutsche Gesellschaft für Soziologie, DGS) und „Sportso-ziologie“ (Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft, dvs). Diese interessenbegründete Differenzierung hat für die Entwicklung der Sportsoziologie in der alten BRD (und ich sehe das heute genauso) keine Nachteile erbracht, im Gegenteil - zumal durch Doppelmit-gliedschaften, soziologische und/oder sportwissenschaftliche Qua-lifikationen der Sektionsmitglieder - zu theorie- und praxisleitenden Forschungsfragen und -projekten geführt, die beide Richtungen in-tern und in Bezügen aufeinander sportsoziologisch angeregt und weitergeführt haben.
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Von der vereins- und verbandsorganisierten Sportpraxis sind nach deren reformgeleiteten Restrukturierung in der alten BRD der 1950er und 1960er Jahre (Grundlagen: staatliche Verfassung, Or-ganisationstraditionen, „Charta des Deutschen Sports“ 1966) keine Impulse ausgegangen, die zur Nachfrage nach sportsoziologi-schem Wissen und dessen praktischen Anwendung hätten führen können. Einmal ist die Soziologie innerhalb des Sports jener Ent-wicklungsphase als eine möglicherweise nützliche Wissenschaft unbekannt, zum anderen war sie in der NS-Zeit als akademische Disziplin eliminiert worden, weil ihr gesellschaftliches Aufklärungs-wissen den damaligen Machthabern politisch entgegenwirkte. Ob-wohl die Soziologie in der Nachkriegsepoche an den Universitäten, besonders während der 1970er Jahre, wieder eingerichtet wird, bleibt ihr Einfluss auf die Sportpraxis vorerst begrenzt und erfährt von dort seit den 1980er Jahren im Rahmen der Sportwissenschaft als eine deren Fachrichtungen eine zunehmende Akzeptanz.
Sport und Gesellschaft – soziale Autonomie und Heteronomie
Bevor ich auf einzelne Forschungsschwerpunkte eingehe, unter-nehme ich den Versuch darzustellen, wie die Sportsoziologie der alten BRD Sport und Gesellschaft einerseits strukturell und funktio-nal unterscheidet, zugleich aber auf diesen Ebenen miteinander anschließt, andererseits den Sport als eine von außen gesellschaft-lich strukturierte und funktionalisierte soziale Praxis konstruiert.
Mit dem Ersten beginnend: Die Sportsoziologie untersucht und konstruiert den Sport als ein soziales System, das sich hinsichtlich seiner internen sozialen Praxis, der damit verbundenen sportspezi-fischen Bewegungsinhalte, Sinnorientierungen, Werte, Normen, Regeln und Organisationsformen, autonom und selbstbezüglich ausdifferenziert, darin ständig stabilisiert und zugleich fortlaufend verändert. Der Sport lässt sich als ein Sozialsystem verstehen und erklären, das innerhalb differenzierter gesellschaftlicher Umwelten eigenständig operiert (Eigenweltthese). Derartige Umwelten wer-den als ebenso ausdifferenzierte und eigenständige soziale Sys-teme beobachtet und gekennzeichnet, zum Beispiel Kultur, Politik, Wirtschaft. Mit ihnen kommuniziert der Sport, stellt zwischen sich und ihnen Anschlüsse nach dem Prinzip gegenseitiger Nutzens-verschränkungen her. Ausgehend vom soziologischen Struktur-funktionalismus8) in den 1970er Jahren wird dieses Theoriekonzept seit den 1980er Jahren systemtheoretisch weiterentwickelt und in
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der Sportsoziologie angewandt9). Ihm liegt ein differenztheoreti-sches Gesellschaftsmodell zugrunde: autonome soziale Systeme erzeugen das Konstrukt gesellschaftlicher Einheit auf der Basis von System-Umwelt-Differenzen.
Mit dem zweiten Ansatz fortgefahren: Hier untersucht und konstru-iert die Sportsoziologie den Sport ebenfalls als ein soziales Sys-tem, das sich jedoch hinsichtlich seiner oben bereits dargestellten internen sozialen Praxis nicht ausschließlich autonom und selbst-bezüglich ausdifferenziert, stabilisiert und verändert, sondern dies auf der Basis interdependenter gesamtgesellschaftlicher Struktur- und Funktionsbedingungen sowie deren formierenden Einwirkun-gen unternimmt. In den 1970er Jahren begründen Vertreter/-innen der soziologischen Frankfurter Schule eine neomarxistisch kon-zeptualisierte Kritische Theorie des Sports10), die partiell mit ei-nem marxistisch-leninistischen Ansatz der Sporttheorie korres-pondiert11). Innerhalb dieses paradigmatischen Rahmens werden gesellschaftliche Entwicklungen des Sports kapitalismuskritisch geleitet auf ideologisch besetzte warenstrukturelle Verdingli-chungs- und Entfremdungsfunktionen hin untersucht und erklärt. Die kritische Sportsoziologie geht davon aus, dass Sportentwick-lungen sozioökonomisch und -politisch determiniert, Eigendynami-ken des Sports folglich eingeschränkt und eher heteronom erzeugt und ausdifferenziert werden. Ihr liegt ein einheitstheoretisches Ge-sellschaftsmodell zugrunde: soziale Systeme erzeugen das Kon-strukt gesellschaftlicher Einheit auf der Basis von System-Umwelt-Interdependenzen. Das Erklärungsmodell hat zu einem sportsozio-logisch und insgesamt sportwissenschaftlich kontroversen Diskurs geführt12) der sich über den universitären Bereich hinaus bis in die Sportpraxis sowie deren massenmedialen Kommunikation hinein auswirkte.
Der Sport und seine Akteure
Zu ergänzen ist, dass neben den beiden oben beschrieben theo-retischen Hauptströmungen weitere sportsoziologische Konzepte bis in die Dekade der 1980er Jahre zur Anwendung gelangen, an dieser Stelle aber nur aufgezählt werden können: Viele Autoren/-innen arbeiten auf den Grundlagen der Handlungs-, Rollen-, So-zialisations-, Schichtungs-, Interaktions-, Kommunikations-, Devi-anz- und Organisationstheorie, die als akteurstheoretische einge-ordnet werden können. Im Zentrum der Untersuchungen stehen
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weniger Fragen zu gesellschaftlichen Systemprozessen des Sports als vielmehr zu Sportakteuren und -gruppen aus verschie-denen sozialen Funktionsfeldern (zum Beispiel Schule, Verein, Verband, Freizeit, Konsum, Massenmedien, Kommerzialisierung, Professionalisierung) und deren Praxis, einschließlich damit ver-bundener sozialer Konfliktfelder. Diese Richtungen der Theorie-entwicklung sind durch einen ständig fortschreitenden Paradig-menwechsel gekennzeichnet. Nicht eine soziologische Theorie setzt sich durch, sondern es lässt sich eine intertheoretische Diffe-renzierung, Konkurrenz und Dynamik im sportsoziologischen Dis-kurs (bis heute) beobachten, der jedoch primär innerhalb der Sportwissenschaft und weniger innerhalb der Mutterwissenschaft Soziologie geführt wird.13)
Gesellschaftliche Sportentwicklungen
Während die sportgeschichtliche Forschung in der alten BRD auf eine lange Tradition zurückgreifen kann, bleiben dagegen sozial-geschichtliche und vor allem hier interessierende entwicklungsso-ziologische Studien und Theoriebildungen zum Sport eher marginal und ohne eine kontinuierliche Fortführung. Lediglich unter dem Ein-fluss der Zivilisations- und Figurationssoziologie aus Großbritanni-en14) lassen sich einige wenige Ansätze benennen, in denen ak-teurs- und systemzentrierte sportsoziologische Konzepte integriert und auf Sportentwicklungen bezogen ausgeführt werden15). Beson-ders zivilisatorische Grundlagen und Bedingungen (zum Beispiel Demokratie, Bildungssystem, Industrialisierung) innerhalb der sozi-alen Begründungs-, Ausdifferenzierungs- und Formierungs-prozesse des Sports, ausgehend von England, fortgesetzt auf dem europäischen Kontinent, werden untersucht.
Zusammenfassung und Perspektive
Die Entwicklung der Sportsoziologie in der alten BRD bis hin zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten (1990) lässt sich aus meiner Sicht als ein Weg beschreiben, der zwischen Soziologie, Sportwissenschaft und Sportpraxis verläuft. Auf diesem Weg hat sich die Sportsoziologie in ihrer Mutterwissenschaft als eine spezi-elle Soziologie etabliert, wobei sie allerdings im akademischen Be-trieb der Soziologie disziplinär eher eine marginale Funktion über-nimmt. Dagegen hat ihre Etablierung in der Sportwissenschaft zu einer disziplinär anerkannten Funktion geführt: Einrichtung sport-soziologischer Lehrstühle, Sportsoziologie als Lehr- und Qualifika-
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tionsbereich, Forschung vorwiegend innerhalb der Sportwissen-schaft. Auf beiden Wegen hat sie wissenschaftliche Erträge er-bracht (Forschung) und sich außeruniversitär organisiert (DGS und dvs Sektionen). In der Sportpraxis wird angewandte Sportsoziolo-gie weniger betrieben, kaum wissenschaftlich kommuniziert, findet eher auf der Ebene lokaler Projekte statt, die nicht überregional publiziert werden16).
Wenn ich auf dem beschriebenen Weg in das Innere der Sportso-ziologie blicke, stelle ich fest, dass keine institutionell koordinierte, wohl aber eine auf wissenschaftlich differierenden Interessenlagen basierende vielschichtige Forschung angeregt wird. Dabei bleibt die Sportsoziologie weitgehend auf Distanz zu gesellschaftlichen Sportpraxen, übernimmt die Rolle eines Beobachters und kommu-niziert bevorzugt auf der Ebene akademischer Diskurse. Anwen-dungsmöglichkeiten gegenüber hält sie sich zurück, agiert sie skeptisch, was umgekehrt auch von der Sportpraxis gegenüber der Sportsoziologie zu konstatieren ist. Damit unterstelle ich keine praktische Unwirksamkeit, denn ihre Wissens- und Theoriebestän-de werden auf akademischer Ebene vermittelt und angewandt, be-sonders in sportpädagogischen Feldern. Nur darüber gibt es bis heute keine empirischen Studien und Befunde.
Eine perspektivische Bemerkung möchte ich abschließend vorstel-len: Ein immer noch möglicher und aus meiner Sicht notwendiger Schritt ist bislang ernsthaft noch nicht in Angriff genommen wor-den. Nämlich die Durchführung einer vergleichenden Rekonstrukti-on der DDR- und BRD-Sportsoziologie mit dem Ziel, die wissen-schaftlichen Leistungen beider Ausrichtungen im Rahmen eines Dialogs aufzuarbeiten und innerhalb sportsoziologischer For-schungsprojekte fortzuführen. Eine Voraussetzung zur Realisie-rung eines solchen Projekts besteht darin, gemeinsam eine res-pektvolle, offene und selbstkritische Arbeitsatmosphäre und Ko-operation zu erschließen. Eine Kooperation, in der beide Sport-soziologien auf der Basis ihrer Forschungen voneinander lernen und Perspektiven entwickeln könnten.
ANMERKUNGEN:
1) Klaus ROHRBERG hat bereits in Beiträge zur Sportgeschichte, Heft 17/2003, 59-68 ei-nen Beitrag zu den Anfängen der Sportsoziologie bis zum Beginn der 1970er Jahre publi-ziert.
2) RISSE, H., 1921: Soziologie des Sports. Berlin (Reprint Münster 1979: Atalas)
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3) PLESSNER, H., 1952: Soziologie des Sports. In: Deutsche Universitätszeitung, 7. Jg., H. 22, 9-11 und 23/24, 12-14
4) LÜSCHEN, G., 1960: Prolegomena zu einer Soziologie des Sports. In: Kölner Zeit-schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 12. Jg., H. 3, 501-515. Köln-Opladen: West-deutscher Verlag
5) SPECHT, K.G., 1960: Sport in soziologischer Sicht. In: Studium Generale 13, 28-37
6) LUSCHEN, G. (Hrsg.), 1966: Kleingruppenforschung und Gruppe im Sport. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 10/1966. Köln-Opladen: Westdeutscher Verlag
7) LINDE, H./HEINEMANN, K., 1968: Leistungsengagement und Sportinteresse. Eine empirische Studie zur Stellung des Sports im betrieblichen und schulischen Leistungsfeld. Schorndorf: Hofmann
8) Vgl. PARSONS, T. 1951 : The Social System. New York/London: The Free Press; in der Sportsoziologie; HEINEMANN, K., 1980: Einführung in die Soziologie des Sports. Schorndorf: Hofmann
9) Vgl. CACHAY, K., 1988: Sport und Gesellschaft. Zur Ausdifferenzierung einer Funkti-on und ihrer Folgen. Schorndorf: Hofmann; in die Gegenwart hinein fortgesetzt: BETTE, K.H., 1999: Systemtheorie und Sport.. Frankfurt/M.: Suhrkamp; CACHAY, K./THIEL, A., 2000: Soziologie des Sports. Zur Ausdifferenzierung und Entwicklungsdynamik des Sports der modernen Gesellschaft. Weinheim/München: Juventa
10) Vgl.: RIGAUER, B., 1969: Sport und Arbeit. Soziologische Zusammenhänge und ide-ologische Implikationen. Frankfurt: Suhrkamp; VINNAI, G., 1970: Fußballsport als Ideo-logie. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt; PROKOP, U., 1972: Soziologie der Olympischen Spiele. Sport und Kapitalismus. München: Hanser
11) Vgl.: BÖHME, J.-O. u.a., 1971: Sport im Spätkapitalismus. Frankfurt/M.: Limpert; GULDENPFENNIG, S. u.a., 1974: Sensumotorisches Lernen und Reproduktion der Ar-beitskraft. Köln: Pahl-Rugenstein
12) Vgl. LENK, H., 1972: Leistungssport: Ideologie oder Mythos? Stuttgart: Kohlhammer
13) Vgl. hierzu Einführungen in die Sportsoziologie: GRIESWELLE, D., 1978: Sportsozi-ologie. Stuttgart: Kohlhammer; HEINEMANN, K., 1980: Einführung in die Soziologie des Sports. Schorndorf: Hofmann; RIGAUER, B., 1982: Sportsoziologie. Grundlagen, Metho-den, Analysen. Reinbek: Rowohlt
14) Vgl. die seit den 1960er Jahren publizierten Arbeiten von ELIAS und DUNNING, die kürzlich zusammengestellt veröffentlich worden sind: ELIAS, N./DUNNING, E., 2003: Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation. Frankfurt/M.: Suhrkamp 15 Vgl. HOPF, W., 1981: Soziale Zeit und Körperkultur. Münster: Lit Verlag; PILZ, G., 1982: Wandlun-gen der Gewalt im Sport. Eine entwicklungssoziologische Analyse unter besonderer Be-rücksichtigung des Frauensports. Ahrensburg: Czwalina
16) Die erste mir bekannte Publikation zur angewandten Sportsoziologie in der BRD ist Anfang der 1990er Jahre erschienen: RüTTEN, A., 1992: Angewandte Sportsoziologie. Zwischen empirischer Forschung und Politikberatung. Stuttgart: Naglschmid
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DDR-Sportsoziologie in den 80er Jahren
zwischen Aufschwung und (W)Ende
Von KLAUS ROHRBERG
ZUR SITUATION DER SPORTSOZIOLOGIE IN DEN 80ER JAHREN
Die Sportsoziologie der DDR konnte in den 80er Jahren sowohl ihre Position innerhalb der Soziologie als auch in der Sportwissenschaft festigen. Die Einschätzung, daß die soziologische Forschung sich in dieser Zeit durch gewachsene Vielfalt, differenziertere Sichtweisen, gewachsenes Profil und gestiegene Qualität auszeichnete (WEIDIG)1), gilt auch für die Sportsoziologie.
Es wurde ihr erstens die Leitverantwortung für das umfassende in-terdisziplinäre sportwissenschaftliche Forschungsvorhaben im Be-reich des Freizeit- und Erholungssports unter dem Thema „Die weitere Ausprägung des Massencharakters der sozialistischen Körperkultur in Kreisterritorien“ übertragen und damit erstmals ein sportwissenschaftliches Thema in den „Zentralen Forschungsplan der Gesellschaftswissenschaften für die Periode 1986-1990“2) auf-genommen.
Zweitens war die Sportsoziologie maßgeblich an der Erarbeitung von sportpolitischen Prognose- und Entscheidungsmaterialien be-teiligt, zum Beispiel an der Studie „Freizeit- und Erholungssport 2000“, der Studie „Sport 2010“ und der UNESCO-Studie „Sport für alle“.
Drittens konnte 1985 nach wiederholt geforderten Überarbeitungen die von Sportsoziologen erarbeitete Publikation „Jugend und Sport“ in der Schriftenreihe „Soziologie“ erscheinen3), die ursprünglich den Titel „Die Sportsoziologie in der DDR“ und eine andere inhaltliche Akzentuierung erhalten sollte.
Viertens begannen wir mit konzeptionellen und inhaltlichen Arbeiten an einem Lehrbuch „Sportsoziologie“, in dem auch die durchaus er-kannten theoretischen Defizite des erwähnten Buches ausgeglichen werden sollten. Dieses Vorhaben wurde leider im Gefolge der „Wen-de“ abgebrochen.
Fünftens begann sich auch ein Meinungswandel zugunsten der Einführung eines Lehrgebietes Sportsoziologie in die Sportlehrer-ausbildung abzuzeichnen. Auf der Grundlage vorhandener Erfah-
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rungen wurde hierfür von mir ein Lehrprogramm ausgearbeitet, in den entsprechenden Fachgremien beraten, im Auftrag der zustän-digen Ministerien an der Pädagogischen Hochschule Zwickau er-probt und nach entsprechender Auswertung als verbindlich für die Sportlehrerausbildung an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen bestätigt.
Sechstens wurde für die Neufassung des Wörterbuches „Soziolo-gie“ von 19774), in welchem das Stichwort „Sportsoziologie“ noch nicht enthalten war, von der Sportsoziologie ein entsprechender Beitrag erbeten. Das hatte intensive Diskussionen zu einer aktuali-sierten Gegenstandsbestimmung der Sportsoziologie in der Fach-kommission zur Folge.
Siebentens konnte die Sportsoziologie auf dem 4. Soziologiekon-greß 1985 erstmals mit einem Plenarbeitrag auftreten.5) Außerdem trugen vier Sportsoziologen angekündigte Beiträge in den Arbeits-gruppen „Kultursoziologie“ und „Persönlichkeitsforschung“ und den Rundtischgesprächen zur „Methodik soziologischer Analyse“ und zum „Freizeitverhalten“ vor. Mit Erstaunen liest man dann allerdings bei VOIGT (1992), die Soziologie in der DDR hätte von der Sportso-ziologie kaum Notiz genommen.6)
Achtens kann die Beauftragung der Sportsoziologie in der DDR mit der Durchführung des VII. Internationalen Symposiums des Inter-nationalen Komitees für Sportsoziologie in Halle vom 25. bis 29. August 1981 zum Thema „Sport in der Lebensweise sozialer Grup-pen“ als eine internationale Anerkennung der bisherigen Arbeit be-wertet werden. Als wissenschaftlicher Leiter der Veranstaltung wirkte F. GRAS, Leiter der Fachkommission Sportsoziologie im Wissenschaftlichen Rat und Mitglied des Präsidiums des ICSS, der zugleich eines der drei Einführungsreferate hielt. Außerdem wur-den von den Sportsoziologen der DDR sieben Einzelbeiträge vor-getragen. R. STOLLBERG hielt im Auftrag des Nationalkomitees für soziologische Forschung eine Begrüßungsansprache.7)
Schwerpunkte sportsoziologischer Arbeit in den 80er Jahren
Als Schwerpunkte lassen sich für jene Periode folgende benennen:
1. Empirische Untersuchungen zur Rolle des Sports in der Le-bensweise von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und damit zusammenhängende untersuchungsmethodische und theoretische Arbeiten. Des weiteren empirische Untersuchungen zur Rolle sportbezogener Bedürfnisse und Wertorientierungen von Kindern,
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Jugendlichen und Erwachsenen und die Bearbeitung entsprechen-der methodologischer Voraussetzungen.
2. Konzeptionelle Arbeiten für das Forschungsvorhaben „Massen-charakter“, die Beratung der Erhebungsmaterialien, die Vorberei-tung, Koordinierung und Durchführung der vielgestaltigen empiri-schen Erhebungen sowie deren Auswertung und schließlich die Aufbereitung und Zusammenfassung der Ergebnisse in einer Reihe von Studien.
3. Bemühungen um die Installierung der Sportsoziologie als Lehr-gebiet in der Sportlehrerausbildung, dazu notwendige Abstim-mungsberatungen mit den Fachkommissionen „Theorie der Kör-perkultur“ und „Sportpsychologie“ und Erarbeitung, Diskussion und Erprobung eines Lehrprogramms.
4. Diskussionen zum Gegenstand, zum Entwicklungsstand und zur weiteren Profilierung und Institutionalisierung der Sportsoziologie.
Das sportwissenschaftliche Forschungsvorhaben „Ausprägung des Massencharakters“ (Kurzbezeichnung) ist hinsichtlich der Komplexität der erfaßten Untersuchungsgegenstände, der inter-disziplinären und der überinstitutionellen Zusammenarbeit einen für sportsoziologische Erhebungen auch heute noch beispielge-bend.8) Im Zentrum des Forschungsvorhabens standen komplexe Erhebungen im Kreis Wurzen mit dem Ziel, ein „sportliches Krei-sporträt“ anzufertigen. Der Kreis Wurzen wurde unter 235 Kreisen als repräsentativ nach den Parametern Bevölkerungsstruktur, Ver-hältnis von Industrie und Landwirtschaft, Nähe zur Großstadt Leipzig, Bedingungen des Sporttreibens, Teilnahme am Sport aus-gewählt. Koordiniert durch die DHfK waren alle Sektionen für Sportwissenschaft mit spezifischen ergänzenden Forschungsauf-gaben entsprechend ihrem Profil und ihren Interessen und spezifi-schen Untersuchungspopulationen an diesem Vorhaben beteiligt. Dadurch war es möglich, ein breites Spektrum des Breitensports zu erfassen, vom Sport im Vorschulalter, dem Sportunterricht in der Unterstufe (Universität Greifswald), in der Mittelstufe (PH Magde-burg und Zwickau), in der Oberstufe und Berufsschule (Universität Berlin und PH Potsdam), dem Studentensport (TU Dresden und IHS Zittau) bis zum Sport der Erwachsenen (DHfK Leipzig). Außer-dem waren das Zentralinstitut für Jugendforschung und der Sport-medizinische Dienst an den Untersuchungen beteiligt. Die Unter-suchungspopulation im Kreis WURZEN umfaßte Erwachsene (Ar-
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beiter, Angestellte, Intelligenz), Lehrlinge, ältere Schüler und Stu-denten. Einbezogen wurden sowohl sportlich Aktive wie Nichtsport-treibende.
Untersuchungsgegenstände waren im Einzelnen: Umfang und Art des Sporttreibens von Erwachsenen, Lehrlingen, Schülern und Studenten; die sozialen, ökonomischen und personalen Bedingun-gen für das Sporttreiben; die Zusammenarbeit des DTSB mit den anderen Verantwortungsträgern des Sports; Bedürfnisse und Wer-torientierungen in bezug auf das Sporttreiben; das Niveau der kör-perlichen Leistungsfähigkeit ausgewählter Gruppen anhand von Tests, die sportmedizinische Betreuung der Sportler, Sportmedizi-nische Parameter der körperlichen Leistungsfähigkeit (Gewicht, Blutdruck, Puls in Ruhe und nach Belastung); die Qualifikation der haupt- und ehrenamtlichen Sportkader; das geistig-kulturelle Leben in den Sportgemeinschaften; die Qualität des Übens in ausgewähl-ten Sportgruppen des Deutschen Turn- und Sportbundes.
Der Komplexität der Untersuchungsgegenstände entsprach die Methodenvielfalt (Befragung, Interview, Beobachtung, Fallstudie, Leitungsexperiment, Dokumentenanalyse, Tests, sportmedizini-sche Untersuchungen).
Die umfangreichen Ergebnisse des Forschungsvorhabens liegen in einer Gesamtstudie und 18 Teilstudien, 24 spezifischen Beiträgen der Kooperationspartner sowie in Diplomarbeiten und Dissertatio-nen vor9) und sie flossen in Materialien des Praxispartners ein.10) Infolge der gesellschaftlichen Veränderungen 1989/90 unterblieb eine Auswertung der detaillierten Ergebnisse unter verallgemei-nernden theoretischen Aspekten.
Die Gesamtstudie enthält Aussagen zu allen genannten Untersu-chungsbereichen. Aus heutiger Sicht ist der Abschnitt zur sportme-dizinischen Betreuung insofern historisch besonders relevant, als die sportmedizinischen Kreisberatungsstellen nicht mehr existieren und die umfangreichen Betreuungs- und Beratungsleistungen auf den Gebieten Schulsport, Wettkampfsport, Gesundheits- und Frei-zeitsport, die noch erfaßt und dokumentiert werden konnten, weg-gefallen sind, was im Sinne der Breitensportentwicklung vom Kin-der- und Jugendsport bis hin zum Seniorensport einen großen Rückschritt darstellt.
Unter dem Aspekt des Beitrags zur Wissenschaftsentwicklung möchte ich auf die Ergebnisse zu den sportbezogenen Wertorientierungen
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(deren begriffliche Präzisierung und Operationalisierung, die untersu-chungsmethodischen Fortschritte, die Aussagen über Zusammen-hänge zwischen Wertorientierungen, Motiven und Verhalten), die so-zialstrukturell differenzierenden Analysen und Aussagen (zur Sportak-tivität, zu den Wertorientierungen, zu den Sportarten und Sportfor-men, zum Zusammenhang von Berufsanforderungen und Sportaktivi-täten) und die Untersuchungsanlage und -methodik (die Planung, Or-ganisation und Auswertung komplexer Erhebungen) verweisen. Wenn hier die Frage nach der Wissenschaftsentwicklung im Ergebnis der empirischen Untersuchungen besonders hervorgehoben wird, so er-folgt das aus zweierlei Gründen: Erstens gehört zu einer kritischen Bi-lanz der Entwicklung der Sportsoziologie selbstverständlich und vor-dringlich die Beantwortung der Frage danach, was sie über Zustands-beschreibungen hinaus in deren Wissensbestand einbringen und auch zur Theorieentwicklung der Sportsoziologie in Deutschland bei-tragen konnte. Zweitens erscheint das als notwendig, weil manche Fachkollegen, die sich als Kenner der Sportsoziologie in der DDR verstehen, „Theorielosigkeit“ unterstellen.11) Dieses ideologisch moti-vierte Vorurteil kann insofern widerlegt werden, da vorliegende theore-tisch relevante Publikationen der Sportsoziologie des Ostens das kon-terkarieren. Als Beispiel möchte ich auf einen Komplex der Erhebun-gen, der aufgrund der soliden theoretischen Ausgangspositionen, der ausgearbeiteten Untersuchungsmethodik und der theoriegeleiteten Ergebnisinterpretation in besonderem Maße soziologisch relevantes Wissen bereitstellen konnte, detaillierter eingehen.
Zur Erfassung sportbezogener Wertorientierungen kam das von HENNIG12) entwickelte Wertorientierungsverfahren (WOV) zur An-wendung. In seinem methodologischen Konzept unterschied HENNIG zwischen Wertorientierungen als allgemeineren Verhal-tensdispositionen und deren Umsetzung in konkreten Tätigkeitsmo-tiven sowie Lebenszielen als den auf die Realisierung der Wertori-entierungen gerichteten Orientierungen. Mittels dieser Unterschei-dung wurde ein geeigneter untersuchungsmethodischer Zugang zum Verhältnis zwischen Wertorientierungen, Motiven und Verhal-ten angestrebt. Bei der Erhebung in WURZEN kam eine modifizier-te Variante des WOV zum Einsatz13), in der nach acht allgemeinen Wertorientierungen mittels jeweils dreier Indikatoren, nach konkre-ten Tätigkeitsmotiven zu den Lebensbereichen Arbeit, Partner und Freizeit (jeweils 16 Indikatoren) gefragt wurde, ergänzt durch einen
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speziellen Sportkomplex (24 Indikatoren) sowie Lebensziele (16 Indikatoren). „Mit dieser Verfahrensmodifikation liegt für die sport-wissenschaftliche Forschung ein methodenkritisch geprüftes Erfas-sungsinstrument zur Analyse der Sportbezogenheit in Verbindung mit generellen Lebensorientierungen vor.“13) Bei der Analyse wurde von der Hypothese ausgegangen, „daß die Wahrscheinlichkeit ei-ner dauerhaften Zuwendung eines Menschen zum Sporttreiben um so größer ist, je stärker sportbezogene Aktivitäten in seinen domi-nanten Orientierungen verankert sind.“ Die Zusammensetzung der Stichprobe (Lehrlinge, Arbeiter, Angestellte, Leiter, Intelligenz; n = 805) ermöglichte auch Aussagen zu sozialstrukturellen Differenzie-rungen.
Hinsichtlich der Wertorientierungen und der wertorientierungsadä-quaten Motive zeigte sich bei den regelmäßig Sporttreibenden (als „Aktive“ bezeichnet) eine insgesamt stärkere Ausprägung, als bei den selten oder nie Sporttreibenden („Inaktive“), woraus auf eine insgesamt aktivere Lebensposition der Aktiven gefolgert wurde. Am deutlichsten waren diese Differenzen zwischen den beiden Teil-gruppen bei der „daseinsgenußbezogenen“ und bei der „selbstän-digkeitsbezogenen Wertorientierung“. Sportlich Aktive zeigen in je-nen Wertorientierungen, für deren Verhaltensrealisierung eigne sportliche Betätigung eine wichtige Voraussetzung darstellt, im Durchschnitt stärkere Ausprägungen. Diese Wertorientierungen setzen sich in entsprechende Sportmotive um und über „diese Ent-sprechungsrelation ist ihre Beziehung zum Sport fest in ihrer gene-rellen Lebensführung verankert...“ (KUHNKE) In der Gesamtpopula-tion nahm allerdings unter den 16 Lebenszielen das Lebensziel „Sport treiben“ nur den 13. Rangplatz ein. Hinsichtlich der Ausprä-gung sportbezogener Lebensziele zeigten sich die stärksten Unter-schiede beim Differenzierungsmerkmal „sportliche Aktivität“. Wei-terhin wurden Unterschiede nach den Differenzierungsmerkmalen „Berufsposition“, „Zufriedenheit mit Gesundheitszustand“, „Ge-schlecht“ und „Familienstand“ ermittelt, dagegen kaum bei den Merkmalen „Territorium“ und „Arbeitsanforderungen“.
Akzeptiert man die von mir in einem vorangegangenen Aufsatz in dieser Zeitschrift benannten Kriterien für Beiträge zur Wissen-schaftsentwicklung und legt sie hier zugrunde14), so darf man spe-ziell in bezug auf diese Forschungsresultate wohl berechtigt von
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einem Beitrag zur Wissenschaftsentwicklung unseres Fachgebie-tes sprechen.
Aus den unterschiedlichen Ausprägungen der Wertorientierungen, Motive und Lebensziele wurden schließlich Folgerungen für die Gestaltung des Übungsbetriebes abgeleitet. Vor allem sollten ent-sprechend der unterschiedlichen Bedeutsamkeit der Wertorientie-rungen in den Teilpopulationen angemessene Realisierungsmög-lichkeiten geschaffen werden.15)
Damit wird neben dem Beitrag zur Wissenschaftsentwicklung als ein zweites Kriterium die Frage nach dem Beitrag der Sportsozio-logie zur Sportentwicklung angeschnitten. Mit der Frage nach der Praxiswirksamkeit der Sportsoziologie wird ein altes und ebenso aktuelles Problem der Sportsoziologie aufgegriffen. Die Forderung nach Praxiswirksamkeit der Ergebnisse bildete bekanntlich in der DDR eines der wichtigsten Kriterien für die wissenschaftliche Ar-beit, das galt unter dem Aspekt ihres speziellen Gegenstandes be-sonders auch für die sportwissenschaftliche Forschung. Eine über-triebene und einseitige Befolgung dieser Forderung konnte aller-dings zu einer Vernachlässigung der eigentlichen Wissenschafts-entwicklung und erst recht der Theoriebildung führen. Unter einer solchen Sichtweise wurden vorrangig theoretisch angelegte For-schungsanliegen manchmal als wenig nutzbringend diskreditiert. Wenn man die Entwicklung der Sportsoziologie im Westen verfolgt, wird aber deutlich, daß dieser Umstand nicht nur in der DDR zu verzeichnen war. Gerade in Anbetracht des eben Gesagten sahen wir die Rolle, die der Sportsoziologie im Forschungsprojekt „Aus-prägung des Massencharakters“ eingeräumt wurde, als ein Anzei-chen eines beginnenden Umdenkens.
Zum Ende der Sportsoziologie in der DDR
Im Januar 1989 führten wir ein Festkolloquium anläßlich des 20jährigen Bestehens der Fachkommission Sportsoziologie im Wissenschaftlichen Rat durch und im Jahresverlauf drei der tur-nusgemäßen Tagungen. Im Januar 1990 vollzog sich die Neugrün-dung als Sektion Sportsoziologie innerhalb der ebenfalls neu gebil-deten Gesellschaft für Sportwissenschaft der DDR. Einen wichtigen Tagungspunkt bildete die Beteiligung am bevorstehenden 5. Sozio-logiekongreß der DDR, der von der ebenfalls neu konstituierten „Gesellschaft für Soziologie der DDR“ vorbereitet wurde.
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Es war ein Jahr des demokratischen Aufbruchs, aber auch ein Jahr der Illusionen und Enttäuschungen. Anläßlich der 2. Tagung der Sektion gestattete die innerdeutsche Öffnung eine „deutsch-deutsche Begegnung“, bei welcher B. RIGAUER auf unsere Einla-dung hin zum Thema „Gegenstand und Aufgaben der Sportsozio-logie in Lehre und Forschung“ und K. ROHRBERG zum selben The-ma referierten. Auf ihrer 3. Tagung im November 1990 beschlos-sen die Mitglieder der Sektion dann einstimmig deren Auflösung und die Empfehlung zum individuellen Beitritt zur Sektion Sportso-ziologie der DVS oder der Sektion der DGS. Diejenigen Kollegen, die dieser Empfehlung folgten, sahen sich nunmehr mit einer ande-ren Arbeitsweise konfrontiert. Die bisherige Fachkommission hatte im Schnitt jeweils vier Tagungen jährlich durchgeführt. Es wurden Forschungsprojekte beraten, Ergebnisse verteidigt, Gedanken über inhaltliche und methodische Fragen der Lehre ausgetauscht, Pro-motions- und Habilitationsvorhaben vorgestellt, fachwissenschaftli-che Neuerscheinungen besprochen, über nationale und internatio-nale Konferenzen informiert und ähnliches mehr.16) Nach den Er-fahrungen dieser anderen Arbeitsweise wurde in den Gremien, zu denen wir nun hinzukamen, niemals gefragt.
Gedanken zur Rolle der Sportsoziologie in der Gegenwart
Im Jahre 1996 erschien eine Broschüre mit dem provozierenden Titel „Wozu heute noch Soziologie?“17) Die darin vertretenen unter-schiedlichen Positionen regen immer noch an, kritisch über die Rol-le der Sportsoziologie bei der Sportentwicklung in Deutschland nachzudenken. Die etwa ab 1990 erschienenen sportsoziologi-schen Publikationen lassen – meines Erachtens – unabhängig von ihren verschiedenartigen Themen hinsichtlich ihrer Orientierung re-lativ unterscheidbare Beiträge erkennen. Erstens Beiträge, die im Sinne der „reinen Wissenschaft“ vorwiegend beobachtenden und beschreibenden Charakter haben, etwa dem Credo von LUHMANN folgend: „Mein Anliegen als Soziologe ist nicht die Verbesserung der Gesellschaft, sondern die Verbesserung der Beschreibung der Gesellschaft.“18) Zweitens Beiträge, in denen aus den Beob-achtungen und Befunden Empfehlungen für eine Einflußnahme auf die Sportentwicklung abgeleitet werden. Die Mehrzahl dieser Emp-fehlungen läuft allerdings auf eine bessere Anpassung des Sports an „Modernisierungstrends“ hinaus. Drittens Beiträge, die sich kon-sequent kritisch mit solchen Erscheinungen und Tendenzen im
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Sport auseinandersetzen, die als den Sport gefährdend oder per-vertierend ausgemacht werden, etwa im Sinne der „Kritischen The-orie des Sports“, die von KRÜGER allerdings als „überholt“ bezeich-net wird.19) Beiträge, welche die Sportsoziologie in der Rolle eines „notorischen Störenfrieds“ sehen20), sind allerdings rar geworden.21) Der Sport und die Sportwissenschaft brauchen aber eine Sportso-ziologie, welche die Sportentwicklung in der heutigen Gesellschaft kritisch beobachtet, „Mythen“ über den Sport entzaubert, Ideolo-gien über den Sport in Vergangenheit und Gegenwart aufdeckt und, wo es notwendig erscheint, auch im Sinne von BOURDIEU „Gegenfeuer entfacht“.22)
ANMERKUNGEN
1) WEIDIG, R.: Soziologische Forschung in der DDR. In: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung FS III 1997, 5-109
2) Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR 1986-1990. Einheit 41 (1986) 8, 681-692
3) Autorenkollektiv: Jugend und Sport. Berlin 1987
4.) Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie. Berlin 1977
5) GRAS, F.-W.: Die sportliche Betätigung als Freizeitbedürfnis der Bürger der DDR - eine wesentliche Voraussetzung zur Verbesserung des Arbeitsvermögens. In: 4. Kongreß der marxistisch-leninistischen Soziologie. Berlin 1986, 209-214
6) VOIGT, D. u.a.: Sportsoziologie. Soziologie des Sports. Frankfurt a.M. 1992, 77
7) GRAS, F.-W. (Hrsg.): Körperkultur und Sport in der Lebensweise sozialer Gruppen. VII. Internationales Symposium des ICSS in Halle/Saale 1981, Protokollband I und II. Leipzig 1982
8) GRAS, F.-W. u.a.: Konzeption des zentralen Forschungsvorhabens für die Jahre 1986-1990 DHfK Leipzig (Manuskript)
9) GRAS, F.-W./SIEGER, W.: Die Entwicklung des Massensports im Kreis Wurzen. Studie `89 Teil 1. Leipzig 1989 (Manuskript)
10) Rat des Bezirkes Karl-Marx-Stadt: Beschlußvorlage für die 17. Tagung am 12.6.1985: Die Aufgaben der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Organe, der Kombinate, Betriebe, Genossenschaften, Schulen und Einrichtungen zur weiteren Gestaltung von Körperkultur und Sport im Bezirk bis 1990 (Manuskriptdruck)
11) MECK, S./TOFAHRN, K.W.: Sportsoziologie in der DDR - Bilanz einer 30jährigen Ge-schichte. In: L. MERTENS/D. VOIGT (Hrsg.): Humanistischer Sozialismus? Münster 1995, 111-166
12) HENNIG, W.: Methodische Anmerkungen zur Analyse von Wertorientierungen. In: In-formationen zur soziologischen Forschung in der DDR 23 (1987) 2, 27-30; HENNIG, W./KAFTAN, B./KUHNKE, R.: Ein Verfahren zur Analyse von Wertorientierungen. Theorie und Praxis der Körperkultur 38 (1989) 4, 240 ff
13) KUHNKE, R.: Ergebnisse zu Wertorientierungen, wertorientierungsadäquaten Sportmo-tiven und sportbezogenen Zielen in der Untersuchungspopulation der Bevölkerungsbefra-gung in Wurzen. Teilstudie DHfK Leipzig 1989 (Manuskript)
14) ROHRBERG, K.: Zur Sportsoziologie in der DDR bis zum Beginn der 70er Jahre. Bei-träge zur Sportgeschichte 17/2003, 65
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15) ROHRBERG, K.: Hypothetische Darstellung der altersspezifischen Entwicklung der Mo-tivation sportlicher Betätigung vom Vorschulalter bis zur Oberstufe. Theorie und Praxis der Körperkultur 31 (1982) 10, 758-764; ROHRBERG, K: Zum Bedürfnis nach sportlicher Betätigung als einem Hauptziel des Sportunterrichts und Motiv des Sporttreibens. VII. Wissenschaftliche Konferenz der Sektion Sportwissenschaft der PH Zwickau 20./21.11.1986. Zwickau 1987, 257-264; DICKWACH, F./ ROHRBERG, K.: Zur Motivierung Jugendlicher zum Sporttreiben. Nationale Konferenz für Gesundheitserziehung Dresden 1.-3.3.1988. Dresden 1988, 134 (Kurzfassung); ROHRBERG, K.: Soziale Bedingungen des Sporttreibens und sportbezogene Wertorientierungen von Jugendlichen. VIII. Wissen-schaftliche Konferenz der Sektion Sportwissenschaft der PH Zwickau 7./8.12.1989. Zwickau 1990, 46-57
16) Vom Autor wurde anhand der zugänglichen Protokolle eine Chronik der Tagungen der Sportsoziologie in der DDR für die Jahre 1979 bis 1990 zu folgenden Aspekten erarbeitet: Schwerpunktthemen, Wissenschaftsentwicklung, wissenschaftliche Veranstaltungen, Publi-kationen und Personalia.
17) FRITZ-VANNAHME, J. (Hrsg.): Wozu heute noch Soziologie? Opladen 1996
18) LUHMANN, N. nach A. Treibel: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Opladen 1993, 38
19) KRÜGER, M.: Besprechung zu S. Güldenpfennig: „Sport: Autonomie und Krise“. Sportwissenschaft 28 (1998) 1, 100-102
20) MÜLLER, H.-P.: Störenfried mittlerer Reichweite. In: FRITZ-VANNAHME a.a.O., 37-42; BOURDIEU, P.: Störenfried Soziologie. In: FRITZ-VANNAHME a.a.O., 65-70
21) ALKEMEYER, Th.: Sport, die Sorge um den Körper und die Suche nach Erlebnissen im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung. In: J. HINSCHING/F. BORKENHAGEN (Hrsg.): Modernisierung und Sport. St. Augustin 1995, 29-64; EICHBERG, H.: Die Lebendigkeit der Sportkritik. Sportwissenschaft 28 (1998) 3/4, 428-430; ROHRBERG, K.: Individualisierung und Sport. Oder: Die privatisierten Individuen im Sport? Beiträge zur Sportgeschichte 9/1999, 37-58
22) BOURDIEU, P.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die ne-oliberale Invasion. Konstanz 1998
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Delegitimierung statt Wahrheitssuche
Von JOACHIM FIEBELKORN
„Ich verhehle meine Furcht nicht, dass zu dem Vakuum, das durch Desorientierung entsteht, die Dämonisierung des unbekannten Wesens DDR weiter um sich greift, die teils mit Bedacht, teils aus dem Mangel an Kenntnissen in vollem Gange ist.“1)
Die Furcht der Christa WOLF wird vielfach geteilt, von einer großen Zahl früherer Bürger des „unbekannten Wesens“ und sicher auch von nicht wenigen einsichtigen Menschen in den alten Bundeslän-dern. Seit die Bundesregierung durch ihr Sprachrohr KINKEL 1991 auf dem Deutschen Richtertag ihren Willen verkündete, die DDR zu delegitimieren, ist solche Dämonisierung in vollem Gange und ein Ende ist nicht abzusehen.
Volker KLUGE beschreibt die Methode: „Wie in anderen Bereichen war der Systemaustausch auch im Sport von einer Delegitimie-rungskampagne begleitet, die sich zunehmend auf die Totschlag Argumente Stasi und Doping verengte. ...Der Westen hat die Oberhoheit über die Interpretation der DDR-Geschichte übernom-men bis hin zum Urteil über ganze Biographien:“2) So waren also vor allem die Historiker gefragt und da Klio, die Muse der Ge-schichtsschreibung, seit jeher den Herrschenden auch als Dirne dient, fanden sich ausreichend Wissenschaftler, die das nicht ge-rade saubere Werk in Angriff nahmen. Die Richtung gab ein Pro-fessor für Zeitgeschichte an der FU Berlin mit Auslassungen, die an Schamlosigkeit kaum zu überbieten sind: „Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, die Ausbildung verhunzt... Ob sich heute einer dort (in Ostdeutsch-land, Anm. d. V.) Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psycholo-ge, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar... viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwend-bar“3)
BARINGs Vorgabe fand reichlich Abnehmer, leider, wenn auch nicht unerwartet, unter Sportwissenschaftlern. Zahllose Zeitungsartikel, Broschüren, Bücher, darunter geradezu monumentale Werke, be-legen den Eifer, mit dem die „Aufarbeitung“ betrieben wurde. In diesem Zusammenhang allerdings wäre Christa WOLF zu wider-
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sprechen. Nicht „teils mit Bedacht, teils aus dem Mangel an Kennt-nissen“ gingen viele Aufklärer des verhaßten DDR-Sports ans Werk, sondern mit Bedacht und Mangel an Kenntnissen.
Nach dreizehn Jahren mühevoller Arbeit fand es Chefaufklärer Rainer EPPELMANN an der Zeit, die Ergebnisse solchen Fleißes zu bewerten. Unter dem Titel „Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung“4) resümieren zahlreiche Autoren den Stand der „Aufar-beitung“. Dem Sport wurden darin sieben Druckseiten gewidmet und die füllte Hans Joachim TEICHLER, Professor für Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam, Inhaber der einzig verblie-benen Professur für Sporthistorik in den ostdeutschen Ländern.5) Dreizehn Jahre zuvor gab es davon noch sechzehn.6) In seiner Ein-leitung bemüht er, wie das üblich geworden ist, wieder einmal „die gegen den Willen der Sportler durchgesetzte Zerschlagung bzw. Nichtwiederzulassung des freien Vereins- und Verbändesports“ und ignoriert die rechtlichen Bedingungen jener Zeit wie auch die Tatsache, daß nach langem, selbstverständlich von unterschiedli-chen Interessen bestimmtem Suchen nach geeigneten neuen For-men, in der DDR überaus lebensfähige Sportgemeinschaften ent-standen, in denen, materiell und finanziell zumeist gefördert von Betrieben, neben zielgerichteter, an den Interessen der Mitglieder orientierter sportlicher Tätigkeit, auch ein abwechslungsreiches, erholsames Gemeinschaftsleben gepflegt wurde. (Der Autor wäre gerne bereit, TEICHLER eine größere Zahl Zeitzeugen zu benennen, die ihm entsprechendes Wissen vermitteln könnten.) Aber wer nicht danach fragt beziehungsweise die unvermeidbaren Zeitzeu-gen sorgfältig nach Gesinnung auswählt, wird Mangel an Wissen nicht vermeiden können. Wenn zum Beispiel ein früherer DDR-Sportjournalist, frustriert aus sehr persönlichen Gründen, eine höchst subjektive, zu Teilen gehässige Darstellung seiner Sicht auf den DDR-Sport schreibt, dann wird für TEICHLER daraus „ein le-senswertes Bändchen“.7) Wenn allerdings erklärte „Linke“, wie bei-spielsweise FUCHS/ULLRICH8) und HUHN9), über Jahrzehnte eng mit dem DDR-Sport verbunden, über ihre Biographien berichten, dann müssen ihre Niederschriften „mit der gebotenen quellenkritischen Vorsicht gewertet werden“. TEICHLER sei gesagt, daß er aus HUHNs „Spurt durchs Leben“ mehr über den DDR-Sport erfahren kann, als aus einem Großteil der Schriften seiner Kollegen.
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Apropos Quellenkritik. Der an TEICHLERs Institut tätige Privatdozent Dr. Giselher SPITZER wird von TEICHLER in seinem Bericht über den Stand der DDR-Forschung mehrfach lobend erwähnt. Zu einem Manuskript SPITZERs, Teil der Vorgeschichte seines kürzlich er-schienenen, als Sensation gepriesenen Buches „Fußball und Tri-athlon“, berichtet der (West)Berliner Sportjournalist Willi Ph. KNECHT: „Aufgrund von Begutachtungen namhafter Wissenschaft-ler lehnte das Bundesinstitut für Sportwissenschaften die Finanzie-rung ab. Als nächster Herausgeber wurde mit einem Kostenvoran-schlag von 181.000 Euro die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) auserkoren. Auch hier erfolgte eine Absage, nachdem zwei unab-hängig voneinander formulierte wissenschaftliche Beurteilungen ein vernichtendes Urteil erbracht hatten. >Wie eine solche bedeu-tende Thematik mit so viel Wissenschaftsignoranz, Dilettantismus und Subjektivität bearbeitet werden kann, ist völlig unverständ-lich<.“10) Ergänzend sei mitgeteilt, daß die Herausgabe des Buches mit aus Steuereinnahmen finanzierten 108.000 Euro durch das Bundes-Innenministerium ermöglicht wurde. Schließlich hat Schröder Ostdeutschland zur Chefsache erklärt. Die Vermutung liegt nahe, daß sich die Ostdeutschen unter tätiger Hilfe etwas an-deres vorstellen. KNECHT kommentiert: „Denn eher als seriöse Wissenschaftler aktiviert das Thema DDR-Doping offenbar die Ab-stauber von Steuergeldern.“
Besonders interessant wird TEICHLERs Text, wenn er sich mit den Arbeiten ostdeutscher Sporthistoriker beschäftigt. Sie haben, so TEICHLER, „den Kampf um die Deutungsmacht noch längst nicht aufgegeben“. Neun Worte reichen aus, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Was KLUGE 1997 schrieb, ist noch immer und vielleicht mehr denn je nachprüfbare Wahrheit: „Der Westen hat die Ober-hoheit über die Interpretation der DDR-Geschichte übernommen...“
TEICHLER selbst war es schließlich, der wesentliche Arbeiten der DDR-Wissenschaftler als „für die Lehre unbrauchbar“11) zensierte und schon allein damit die Deutungshoheit für sich in Anspruch nahm.
Dabei ist es doch eine Binsenweisheit, daß die west- wie die ost-deutschen Historiker unterschiedliche Sozialisationen erfuhren, die zur Aufnahme divergierender Ideologien und sich aus diesen erge-benden Sichten auf geschichtliche Vorgänge und deren Ausdeu-tung führten. Die Tatsache, daß der Versuch, eine sozialistische
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Gesellschaft zu errichten, scheiterte, ist weder Nachweis für die Lauterkeit der Sieger noch für die Minderwertigkeit der Unterlege-nen. „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis notwen-diger Vernunftwahrheiten nie werden.“12)
In diesem Zusammenhang wäre eine Frage aufzuwerfen, die, zu-gegeben, von erheblicher Brisanz ist. In der DDR beziehungsweise in Ostdeutschland wurden mehrere umfassende Darstellungen des DDR-Sports veröffentlicht. Man mag darüber streiten, ob sie allen Ansprüchen genügen. Die Autoren stellen sich der Kritik. Warum aber beschäftigen sich so viele Historiker aus den alten Ländern mit Details und auch größeren Komplexen der DDR-Sportgeschichte, die sie doch nur aus Akten und den Aussagen meist von ihnen selbst zensierten Zeitzeugen kennen, und verwei-gern sich dem zwar ungeschriebenen, aber längst auf der Tages-ordnung stehenden Auftrag, endlich die Geschichte des Sports in der BRD zu schreiben? Weil das Bundesinstitut für Sportwissen-schaften zwar für die „Aufarbeitung“ der DDR-Sportgeschichte eine horrende Summe zur Verfügung stellte, aber für solches Vorhaben keinen Cent? Oder ganz einfach weil eine Fülle fataler Wahrheiten ans Licht gebracht werden müßte? So zum Beispiel die Einsetzung hoher und höchster Nazis in hohe und höchste Funktionen des BRD-Sports. Oder das Eindringen des BRD-Nachrichtendienstes in den Sport13), das politische Strafrecht („Blitzgesetze“), das den Sport stark tangierte, die verbreitete Dopingpraxis, von der auch Minderjährige erfaßt wurden und die zu Todesopfern führte, ohne je gerichtlich verfolgt zu werden, und schließlich auch die Vernich-tung und Mißachtung in der DDR erarbeiteter, weltweit anerkannter Forschungsergebnisse zu Theorie und Praxis des Leistungs- und des Massensports, was wesentlich zum Niedergang der Leistungs-fähigkeit des nun gesamtdeutschen Sports beitrug. Die Liste heik-ler Themen ließe sich erheblich verlängern.
All das, sowohl das viele Positive wie das unübersehbar Negative, wäre natürlich in Zusammenhang mit dem sportlichen Leben in der DDR zu sehen. Bundesdeutscher und DDR-Sport sind Teile einer gesamtdeutschen Geschichte. Die freilich läßt sich ohne Beteili-gung der ostdeutschen „Insider“ nicht schreiben. Das ist es, was diese wollen, weil niemandem eine Deutungsmacht zugestanden werden kann, wenn sich die deutsche Sporthistorik weiterhin Wis-senschaft nennen will. Erst die nächste Generation der Wissen-
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schaftler wäre dann zu dem Urteil berufen, welche Arbeiten „für die Lehre brauchbar“ sind.
BUSS und BECKER haben mit dem von ihnen herausgegebenen Werk über den Sport in der SBZ bzw. DDR, das unter Mitarbeit von ostdeutschen Wissenschaftlern entstand, einen mutigen Anfang gewagt.14) TEICHLER könnte den nächsten Schritt anbahnen. Im Schlußsatz seines hier besprochenen Artikels sieht er zahlreiche Gelegenheiten zu einem „versachlichten Diskurs“. Möge er dazu einladen. Bei beiderseits gutem Willen ließe sich der Mangel an Kenntnissen beheben.
ANMERKUNGEN
1) WOLF, C.: Auf dem Wege nach Tabou. Köln 1994, S. 29
2) KLUGE, V.: Die Erbschaft blieb weitgehend ungenutzt. In KNECHT, W. Ph. (Hrsg.): Mammon statt Mythos. Berlin 1997, S. 34
3) BARING, A.: Deutschland, was nun? Berlin 1991, S. 59
4) Vgl. EPPELMANN, R./FAULENBACH, B./MÄHLERT, U. (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn, München, Wien, Zürich 2003
5) Vgl. TEICHLER, H. J.: Die Kehrseite der Medaillen – Sport und Sportpolitik in der SBZ/DDR. In EPPELMANN, R. u.a.: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. A.a.O., S. 286-292
6) Vgl. BUSS, W.: Universitäre Sportgeschichte vor dem „Aus“? SportZeiten 3/2003, S. 83-91
7) TEICHLER H. J.: Die Kehrseite der Medaillen... A.a.O., S. 289
8) Vgl. FUCHS, R./ULLRICH, K.: Lorbeerkranz und Trauerflor. Berlin 1990
9) Vgl. HUHN, K. U.: Spurt durchs Leben. Berlin 2003
10) KNECHT, W. Ph.: Die Abstauber. Süddeutsche Zeitung vom 20.2.2004
11) TEICHLER, H. J.: Die Sportbeschlüsse des Politbüros. Köln 2002, S. 23
12) LESSING, G. E.: Über den Beweis des Geistes und der Kraft. In LAUBE, H. (Hrsg.): Les-sing`s Werke, 5. Band. Wien, Leipzig, Prag 1882, S. 109
13) Vgl. Aide Memoire Daumes an Innenminister Schröder vom 26.1.1956, Archiv des Auswärtigen Amtes, Register 604/472. In Beiträge zur Sportgeschichte 4/1997, S. 70
14) Vgl. BUSS, W./BECKER, C. (Hrsg.): Der Sport in der SBZ und frühen DDR. Schorndorf 2001
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JAHRESTAGE
Wie es vor 40 Jahren zur letzten
gemeinsamen Olympia-Mannschaft kam
Von KLAUS HUHN
1956 war in Cortina d‟Ampezzo zum ersten Mal eine deutsche Olympia-Mannschaft bei Winterspielen gestartet, die entsprechend der Empfehlung des Internationalen Olympischen Komitees aus Athleten beider deutscher Staaten gebildet worden war. Im Herbst erfolgte nach etwa der gleichen Prozedur der Start bei den Som-merspielen in Melbourne.
Vor den Spielen des Jahres 1960 stand das Problem wieder auf der IOC-Tagesordnung, und da sich inzwischen die Bundesregie-rung entsprechend der Hallstein-Doktrin - weltweite Anerkennung der Alleinvertretung Deutschlands durch die BRD - massiv einge-schaltet hatte, wuchsen die Probleme, die der Formierung der Mannschaft vorausgingen. 1959 versuchte IOC-Präsident Avery Brundage einen Streit der beiden deutschen NOK zu schlichten, der um die Nominierung des Chef de Mission entbrannt war. Ob-wohl der nicht mehr als - simpel formuliert - der „Bürovorsteher“ der Olympiamannschaft war, eskalierte dieser Streit, weil der aus dem französischen Regelwerk übernommene Begriff „Chef“ die BRD-Regierung auf den Plan rief, die nicht zulassen wollte, daß ein DDR-Funktionär als „Chef“ tituliert würde. Sie hatte unmißverständ-lich verkünden lassen, daß „die alleinige Führung der olympischen Belange durch die westdeutsche Seite gesichert“1) werden müsse. Die DDR-Seite versuchte den Zwist mit einem durchaus vertretba-ren Vorschlag zu schlichten: die BRD stellt den „Chef de Mission“ bei den Sommerspielen, während die DDR ihn für die Winterspiele nominiert. Der IOC-Präsident lehnte den Vorschlag nach heftigen Mahnbriefen der Herren Ritter von Halt und Daume - leicht auffind-bar im Brundage-Archiv - ab und entschied im Sinne der BRD, daß der Chef de Mission jeweils von jenem Mannschaftsteil nominiert würde, der nach den Ausscheidungen die größere Zahl der Athle-ten stellt. Die Zahlen von Melbourne - 138 Athleten aus der BRD und 37 aus der DDR - dürfte die BRD-Sportleitung bewogen ha-ben, diese Variante zu empfehlen. Damals glaubte man sich ziem-lich sicher, daß sich dieses Verhältnis kaum ändern würde. 1960
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stieg dann zwar die Zahl der DDR-Athleten in den Mannschaften (35:50 im Winter, 144:202 im Sommer), aber die „Vorherrschaft“ geriet nicht in Gefahr.
Die logische Folge dieser Entscheidung aber war, daß die Aus-scheidungen an Härte zunahmen. Behauptungen, die SED habe damals Weisung erteilt, die Mehrheit in der Mannschaft zu erkämp-fen, werden zwar heute noch beharrlich wiederholt, sind aber nicht zu beweisen. Den Kampf um die Mehrheit hatte die BRD selbst durch ihren Brundage übermittelten Vorschlag gestartet und der Ei-fer, mit dem die Ausscheidungen von nun an - von beiden Seiten - bestritten wurden, hätte nie aufkommen können, wenn man den DDR-Vorschlag akzeptiert hätte.
Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1964 kam es vor 40 Jahren zu Ereignissen, die nie restlos aufgeklärt wurden - auch weil man in der Alt-BRD kaum daran interessiert war.
1961 war die Mauer zwischen beiden deutschen Staaten errichtet worden und dem bundesdeutschen Sport fiel die Aufgabe zu, Bonns „Antwort“ zu geben: Während die bundesdeutsche Wirt-schaft nicht einen Augenblick daran dachte, ihre DDR-Verträge zu reduzieren oder gar zu annullieren - was die DDR in ernste Schwierigkeiten hätte bringen können -, verbreitete dpa am 17. August 1961 die Nachricht: „Der Präsident des Nationalen Olympi-schen Komitees für Deutschland und der geschäftsführende Vor-stand des Deutschen Sportbundes (DSB) haben am Mittwoch Abend nach fast zehnstündigen Beratungen in Düsseldorf be-schlossen, den innerdeutschen Sportverkehr mit der Sowjetzone einzustellen... Auch internationale Veranstaltungen in der Sowjet-zone werden von Seiten der Bundesrepublik nicht mehr be-schickt.“2)
Unerwähnt blieben die Olympia-Ausscheidungen. Als sich bis zum Ende des Jahres 1962 nichts tat, nominierte das IOC eine Kom-mission, die die beiden deutschen NOK für den 8. Dezember 1962 in seinen damals noch bescheidenen Sitz in der Villa Mon Repos in Lausanne einlud. An der Stirnseite des Verhandlungstisches nah-men IOC-Kanzler Otto Mayer, dessen Bruder Albert - IOC-Mitglied für die Schweiz - und der nach dem Sturz des Königs Faruks 1952 aus Ägypten geflohene, offiziell aber immer noch als IOC-Mitglied für Ägypten geführte Pascha Taher Platz.
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Wie erst später durch eine Indiskretion bekannt wurde, hatte Dau-me den Ägypter vor Tagungsbeginn auf dem Bahnhof in Lausanne abgepaßt und ihm vorgeschlagen, bei der Sitzung für die Spiele 1964 zwei deutsche Mannschaften unter einer Flagge zu empfeh-len. Mit diesem Schachzug glaubte Daume, allen weiteren Quere-len zu entgehen: Der Abbruchbeschluß wäre nicht aufgehoben worden und das NOK der BRD hätte sich darauf berufen können, einer Empfehlung des IOC zu folgen.
Albert Mayer, dem der ratlose und um seinen IOC-Sitz bangende Taher vor Sitzungsbeginn hinter verschlossenen Türen mitgeteilt hatte, was ihm Daume empfohlen hatte, hielt die Variante für ideal und war wohl auch interessiert daran, sich als derjenige feiern zu lassen, der das leidige deutsche Problem gelöst hatte. Nach einer Verständigung mit seinem Bruder formulierte er über Mittag die Vereinbarung und diktierte sie der Sekretärin des IOC, Frau Zang-ghi, die übrigens noch von Baron de Coubertin eingestellt worden war.
Der Wortlaut: „Anläßlich einer Beratung, die am 8. Dezember 1962 ... beschlossen die Vertreter des IOC, der Tagung des Exekutiv-komitees des IOC, die am 8. Februar 1963 in Lausanne zusam-mentreten wird, folgende Vorschläge zu unterbreiten: 1. Zu den Olympischen Spielen, die 1964 in Tokio und Innsbruck stattfinden, werden Westdeutschland und Ostdeutschland ihre eigenen Mann-schaften aufstellen und entsenden, die von ihren nationalen Ver-bänden ausgewählt werden und den vom IOC vorgeschriebenen Regeln unterworfen sind ... Diese Lösung ist die logische Konse-quenz der Schwierigkeiten, die gegenwärtig der Bildung einer völlig einheitlichen Mannschaft entgegenstehen. Sie wird der Sache des olympischen Geistes besser dienen.“3)
Die anwesenden BRD-Journalisten waren konsterniert, als man ihnen den Text aushändigte. Ich erlebte, wie sie als erstes fragten: „Was hat Willi Daume dazu gesagt?“ Und ich verstand ihre Überra-schung, als ihnen der Kanzler antwortete: „Zugestimmt, sofort und ohne Vorbehalt.“
Die nicht minder verblüffte DDR-Delegation hatte den Vorschlag ohne Zaudern akzeptiert. Daume hatte sich allerdings einen Not-ausgang freigehalten: Die endgültige Einwilligung hänge von der Zustimmung des NOK der BRD ab, das am 12. Dezember zusam-mentreten würde.
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Selbst drei Tage nach den Gesprächen in Lausanne bewertete er das faktische Ende der gesamtdeutschen Mannschaft in einem Gespräch mit der in Hamburg erscheinenden „Welt“ positiv und kommentierte die Variante mit den Worten: „Sie ist meines Erach-tens unter den gegebenen Umständen eine akzeptable Lösung. Sie würde uns die endlosen strapaziösen Verhandlungen und die notwendig werdenden Ausscheidungskämpfe ersparen.“5)
Da ahnte er wohl noch nicht, daß Bonn ihm heftige Vorwürfe ma-chen und augenblicklich Order erteilen würde, nach Chikago zu fliegen, um den IOC-Präsidenten Avery Brundage zu bewegen, diesen Kompromiß mit seiner Autorität abzulehnen.
Verständlicherweise finden sich zu diesen Vorgängen nirgendwo Dokumente. Selbst der so gewissenhafte Göttinger Historiker Arnd KRÜGER verzichtete in seinem Buch „Sport und Politik“ darauf, we-nigstens anzudeuten, daß Daume diesen Schritt inspiriert hatte und schrieb: „Entsetzt flog Willi Daume... nach Chicago... Noch einmal konnte der große alte Mann der olympischen Bewegung das Rad der Geschichte zurückdrehen. Er wies mit seiner Vollmacht als IOC-Präsident darauf hin, daß der Kompromiß-Vorschlag für das IOC unannehmbar sei“.3)
Vermutlich wäre der Daume-Winkelzug nie ans Licht der Öffent-lichkeit geraten, hätten sich die Mayer-Brüder nicht durch Daumes Intervention düpiert gesehen.
Am 20. Januar 1963 wandte sich die Internationale Sportagentur (ISK) an den IOC-Kanzler Mayer in Lausanne und stellte ihm die Frage, ob er die Erklärung Daumes kommentieren würde, die am 8. Dezember 1962 vereinbarte Lösung von Lausanne sei für ihn „vom ersten Augenblick an unannehmbar“ gewesen. Der Kanzler hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. ISK vereinbarte, die Meldung über das Gespräch vor der Veröffentlichung mit ihm ab-zustimmen. So geschah es auch. Am nächsten Morgen konnte man in den meisten deutschen Zeitungen lesen: „Mayer erklärte: Ich bin mehr als überrascht, daß sich Herr Daume so geändert hat. Er war damals bei der Lausanner Zusammenkunft mit dem Kom-promißvorschlag getrennter deutscher Mannschaften ganz einver-standen, und er machte nur zur Bedingung, daß sich sein NOK am 12. Januar in Frankfurt anschließt. Ja, der Vorschlag geht sogar auf Herrn Daume selbst zurück! Er unterbreitete ihn mir am 8. De-zember, während der Verhandlungspause. Daraufhin bat ich in der
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Mittagspause meinen Bruder Albert Mayer, den Schweizer IOC-Delegierten, die Kompromißlösung mit zwei deutschen Mannschaf-ten auszuarbeiten, die dann bei der Nachmittagsbesprechung be-kanntgegeben wurde. Ich komme sonst mit Herrn Daume sehr gut aus, aber diese Schwenkung kann ich nicht verstehen. Man kann doch heute nicht so und morgen so denken! Ich weiß nicht, ob auf den westdeutschen NOK-Präsidenten von irgendeiner Seite ein Druck ausgeübt worden ist.“4)
Um den Hintergrund noch aufzuhellen: Am 14. September 1962 hatte RIAS II eine Diskussion DAUMEs mit Westberliner Schülern gesendet, in deren Verlauf ihm die Frage gestellt worden war: „Würden Sie die gesamtdeutsche Mannschaft auch dann in Kauf nehmen, wenn dazu Verhandlungen notwendig sind und auch Ausscheidungskämpfe?“
DAUME antwortete: „Um eine gesamtdeutsche Mannschaft zu bil-den, muß man natürlich miteinander sprechen und muß Ausschei-dungen austragen, die auf Grund gesetzlicher Bestimmungen im Augenblick überhaupt nicht möglich sind.“5)
Am 27. März 1963 skizzierte DAUME auf einer Tagung in Mannheim die Situation, die dadurch entstanden war, daß man sich hartnäckig weigerte, an vorolympischen Ausscheidungen in der DDR teilzu-nehmen, aber ohne Ausscheidungen nicht zu den Spielen gelan-gen konnte, mit den Worten: „Wir können auf die Dauer nicht unse-ren Aktiven, zum Beispiel Hetz, erklären: Als anständiger Staats-bürger mußt du auf einen Start in Leipzig (Schauplatz der Schwimm-Europameisterschaften 1962 A.d.A.) und damit mutmaß-lich auf drei Europameistertitel verzichten; um ihm ein anderes Mal zu sagen: Als guter Staatsbürger mußt du jetzt in Leipzig zur Aus-scheidung für die gesamtdeutsche Olympiamannschaft antreten. Das versteht das Sportvolk nicht, und das macht es auch auf die Dauer nicht mit.“6)
Der einfallsreiche Daume versuchte, sich mit neuen Varianten Luft zu verschaffen. Eine für die DDR unannehmbare lautete: Alle Olympia-Ausscheidungen finden in Westberlin statt!
Selbst der sonst auch in komplizierten Situationen an seiner Seite ausharrende Avery BRUNDAGE warf da das Handtuch. Als sich am 20. August 1963 die Deutschen wieder in Lausanne trafen und mit BRUNDAGE am Tisch saßen, formulierte er unmißverständlich: „Ich werde keine Konzentration von Ausscheidungen in Westberlin zu-
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lassen.“ Daume war klug genug, um zu wissen, daß er und Bonn am Ende ihres Lateins waren.
Die Ausscheidungen ließen bald erkennen, daß die seit 1956 unan-gefochtene bundesdeutsche Mehrheit in den gesamtdeutschen Mannschaften in Gefahr geriet. Nicht nur im Fußball verlor die BRD Tokio-Tickets. Bald zeichnete sich die Gefahr ab, daß die DDR zum ersten Mal den Chef de Mission stellen könnte. Die Ahnung, daß da-für niemand anderes in Frage kam als das SED-ZK-Mitglied Manfred Ewald, löste sogar in der gemeinhin zurückhaltenden Hamburger „Zeit“ das Läuten der Alarmglocken aus: „Aufgewühlt, aufgeschreckt ist fast jeder von uns von den für das ganze Land geradezu be-schämenden Resultaten jener Wettkämpfe, die man - es klingt fast etwas unappetitlich - Ost-West-Ausscheidungen nennt und in denen sich bisher ganz deutlich die Überlegenheit der ostdeutschen Ge-sellschaftsordnung gezeigt hat.
Wir haben die Gefahr nicht erkannt, haben den Sport nicht gebüh-rend ernst genommen - jetzt bekommen wir die Quittung. Und der Katzenjammer ist groß. Zwar sind wir alle Deutsche - zur Olympia-de aber schicken wir lieber Ratzeburger als Magdeburger.
Tokio dürfte für uns gewissermaßen ein Stalingrad oder wenigs-tens ein Waterloo werden - nicht zuletzt darum, weil unsere Turne-rinnen und Segler in völliger Verkennung der politischen Hinter-gründe ohne den nötigen Kampfgeist an den Start gingen. Auf die-se Weise wurde betrüblicherweise nicht nur versäumt, dem deut-schen Namen, wie etwa beim VW Weltgeltung zu verschaffen. Man hat, was fast noch schlimmer ist, im kalten Krieg eine Schlacht ver-loren!“7)
Eine Art Schlußwort auf der Liste der Schock-Kommentare jener Monate könnte man der damals renommierten „Sport-Illustrierten“ (Erscheinungsort Stuttgart) überlassen, die am 24. August 1964 in ihrer Nummer 18 drei Druckseiten der Beantwortung der Frage widmete: „Haben unsere Sportler versagt?“
Man weiß inzwischen, daß dieser Kommentar höheren Orts inspi-riert wurde, wo man den Sportführern den Ernst der Lage deutlich machen wollte: „Der Herr Geschäftsführer sprach ins Mikrophon, die Stimme klang entschlossen: ‟Wir werden die Angelegenheit von einem unabhängigen Rechtsanwalt untersuchen lassen.‟... Die Re-de war von verleumderischer Beleidigung und übler Nachrede, die Drohung Schadenersatz marschierte im Geiste mit. Eine Schlag-
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zeile hatte gelautet: ‟Geblieben ist ein handfester Kater‟. Dr. Wolf-gang Franke sprach für die Segler und für den westdeutschen Seg-ler-Verband, und sein Zorn holte sich Nahrung aus der Zweideutig-keit der Schlagzeile und dem, was sich dahinter verbarg: Wodka und Krimsekt, Budweiser Bier und Burgunder, bezogen aus volks-eigenen Beständen des Rostocker ‟Hotels am Bahnhof‟ und der Warnemünder ‟Atlantik-Bar‟. Allerdings - auch ohne augenzwin-kernden Hinweis auf Räusche und Regatten läßt sich eins nicht verhehlen: Der Kater hat sich in den letzte Wochen, während der zahlreichen vorolympischen Planspiele zwischen Ost und West, ganz eindeutig zum Wappentier des west-deutschen Sports entwi-ckelt. Es war fast immer derselbe Vorgang, nach jeder neuen Aus-scheidung, nach jedem neuen Reinfall. Man zählte die Häupter seiner Lieben, man addierte, man verglich, hie Ost, hie West, und immer bekam man eine Rechnung präsentiert, die einfach un-glaubwürdig erschien: Seit 1956, als sich die erste gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft in Melbourne bei einer Gesamtstärke von 178 Athleten aus 141 westdeutschen und nur 37 mitteldeutschen Sport-lern rekrutierte, und seit 1960, als die 327 Olympiakämpfer für Rom nur noch in 194 Fällen aus Westdeutschland und schon in 133 Fäl-len aus der Sowjetzone stammten, hat sich das Verhältnis zuguns-ten der mitteldeutschen Athleten verschoben, bis hin zu einem deutlichen Plus von 96:66 auf halber Strecke der Ost-West-Ausscheidungen.
Dazu der Ratzeburger Ruder-Professor Karl Adam: ‟Eine beschä-mende Tatsache‟, und er verwies in diesem Zusammenhang auf die 55 Millionen Einwohner in der Bundesrepublik und auf die 17 Millionen in der Sowjetzone. Der Sommer 1964 sollte eigentlich ein olympischer Sommer wie jeder andere für die westdeutschen Sportler werden. Aber plötzlich waren in jenem Ost-West-Schauspiel, in dem sie sich - Macht der Gewohnheit - von vornhe-rein die Hauptrollen reserviert hatten, für die meisten nur noch Sta-tistenplätze frei, die nicht mehr zur Teilnahme an der Tournee nach Japan berechtigten. Im Sommer 1964 war alles anders, oder an-ders ausgedrückt: Diesmal waren die anderen besser. Der west-deutsche Sport hat - das ist getrost zu verallgemeinern - versagt, nicht nur so, sondern mit Pauken und Trompeten, und zwar aus ei-nem ganz bestimmten Grund: Er lieferte mit seinen Niederlagen der Sowjetzone begehrtes Material zu einer sicherlich fragwürdi-
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gen, aber nichtsdestoweniger eifrig verbreiteten These, die an westdeutschen Sportler-Stammtischen und in hiesigen Funktio-närs-Kanzleien gar nicht geschätzt ist und die man dementspre-chend auch nach der Art des feinen Mannes mit Verachtung straft... Der westdeutsche Sport hat sich mit einer neuen und zu-gleich für ihn unbequemen Situation abzufinden: Mit dem Plus in den gesamtdeutschen Ausscheidungen ist die Sowjetzone nach beinahe zwölfjährigem Querfeldeinrennen an ihrer sportlichen End-station Sehnsucht angekommen. Sie wird mit ihren innerdeutschen Erfolgen hausieren gehen, sie wird die von ihr propagierte Überle-genheit des sowjetzonalen kommunistischen Regimes nicht mehr länger nur mit ideologischen Spruchweisheiten untermauern, son-dern mit den Zahlen der Ost-West-Qualifikationen schwarz auf weiß dokumentieren, zum erstenmal in Tokio, und die ganze Welt wird es erfahren.“
Diese Zeilen können nicht publiziert werden, ohne einmal mehr da-ran zu erinnern, wer auf die Idee gekommen war, dieses „Quer-feldeinrennen“ zu starten! (Am Rande: Kaum ein altbundesdeut-scher Historiker konnte sich bislang dazu aufraffen, dieses Kapitel deutsch-deutscher Sportbeziehungen „aufzuarbeiten“...)
So blieb nur die „Sportillustrierte“: „Wo aber liegt der Grund? Per-fekte Versager. Es liest sich wie eine sportliche Bankrott-Erklärung: Die Fußballer enttäuschten, die Wasserballer spielten unter Niveau und die Hockeyspieler, 1963 noch zur Mannschaft des Jahres hochgelobt, sorgten für eine Sensation, als auch sie es nicht schafften; die Boxer konnten sich gegenüber den Tagen vor Rom nicht steigern, ebensowenig wie die Schützen, die Turner verloren an Boden, den Seglern erging es noch schlimmer, so schlimm, daß am Ende ein Skandal stand, und die Turnerinnen schließlich ver-sagten, wie man perfekter gar nicht versagen kann...“
ANMERKUNGEN
1) Neues Deutschland, Berlin 31.10.1956
2) Bonn hat den deutschen Sport gespalten. Berlin 1961, S. 30
3) KRÜGER, A.: Sport und Politik. Hannover 1975, S. 126
4) Auf nach Tokio. Berlin 1964, S. 4
5) Ebenda, S. 5
6) Ebenda
7) Die Zeit, Hamburg 21.8.1964
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ZITATE
DIE ABSTAUBER
Nun wird also wohl in absehbarer Zeit dem staunenden Publikum doch noch ein neues Machwerk zum Endlosthema Doping im Sport der DDR unterbreitet. Als wissenschaftliche Studie über die Folge-schäden des DDR-Dopings, so Staatssekretärin Ute Vogt als en-gagierte Befürworterin des Vorhabens, erscheint das Werk namens der Berliner Humboldt-Universität. Die Kosten wurden als „Drittmit-tel“ zur Verfügung gestellt. Sie belaufen sich auf 108.000 Euro und stammen Eingeweihten zufolge aus dem Haushalt des Bun-desministeriums des Innern.
Als Projektleiter etablierte sich der Privatdozent Dr. Giselher Spit-zer, dessen willkürliche Thesen von 10.000 Opfern des flächende-ckenden DDR-Dopings sogar durch die Zahl von nur 306 Anträgen auf Zahlungen aus dem DDR-Dopingopfer-Hilfegesetz ad absur-dum geführt wurde. Zur Betreuerin der Publikation wurde Birgit Bo-ese berufen, zuletzt für den Dopingopfer-Hilfeverein in der Berliner Beratungsstelle tätig und vorher Inhaberin eines Konfektionsge-schäftes für Übergrößen.
So darf denn nach dem wissenschaftlichen Selbstverständnis die-ser Universitätsschrift gefragt werden. Dabei ist der Verweis auf die Vorgeschichte des Projekts aufschlussreich. Schon im Januar 2002 versuchte ein Autorentrio, darunter die erfahrenen Doping-Kombattanten Spitzer und Dr. Klaus Zöllig als Vorsitzender des Dopingopfer-Hilfevereins, eine „Biomedizinisch-epidemiologische Erhebung der Doping-Opfer-Problematik in der ehemaligen DDR“ zu edieren. Aufgrund von Begutachtungen durch namhafte Wis-senschaftler lehnte das Bundesinstitut für Sportwissenschaften die Finanzierung ab. Als nächster Herausgeber wurde mit einem Kos-tenvoranschlag von 181.000 Euro die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) auserkoren. Auch hier erfolgte eine Absage, nach-dem zwei unabhängig voneinander formulierte wissenschaftliche Beurteilungen ein vernichtendes Urteil erbracht hatten: „Wie eine solch bedeutende Thematik mit so viel Wissenschaftsignoranz, Di-
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lettantismus und Subjektivität bearbeitet werden kann, ist völlig un-verständlich.“
Zweifelhaft, ob die nunmehr im dritten Anlauf mit Hilfe des Bundes-innenministeriums erzwungene Veröffentlichung eine bessere Be-urteilung verdient. Denn eher als seriöse Wissenschaftler aktiviert das Thema DDR-Doping offenbar die Abstauber von Steuergel-dern.
Willi Ph. KnechT; Sächsiche Zeitung 20.2.2004
GENSCHERS QUALIFIKATION
OLYMPIA – kein Wunder – ist wie immer Thema eins. Und Thema eins beginnt mit der Nachricht, dass Hans-Dietrich Genscher den Vorsitz des Kuratoriums in Leipzig übernommen und danach eine feurige Rede gehalten hat. Es wäre wohl angeraten, diese Nach-richt mit der Formel zu kommentieren, die man im englischen ver-wendet, wenn man am liebsten gar nichts sagen möchte: „No comment!“ Damit Sie wissen, was ich meine: Genscher mag ein ehrenwerter Mann mit Verdiensten sein, aber die liegen nicht gera-de bei Olympia. Als 1972 in München Bundes-Bodyguards den spanischen König abschirmten, aber sich kaum jemand um die is-raelische Mannschaft kümmerte, war Genscher als Bundesinnen-minister der ranghöchste Sicherheitsverantwortliche. Als 1972 in München Palästinenser einen mörderischen Überfall auf die Israe-lis verübten, leitete Genscher den unseligen Krisenstab und saß auch in einem der Hubschrauber, die die Maschine mit den Athle-ten und den Geiselnehmern nach Fürstenfeldbruck begleiteten, wo Polizei-Scharfschützen ein entsetzliches Blutbad anrichteten. Als 1972 in München nach diesem Desaster Regierungssprecher Con-rad Ahlers im ZDF mitteilte: „Man kann wohl sagen, diese Operati-on ist glücklich verlaufen“, musste Genscher Israels Botschafter Ben Horin aufsuchen und ihm die Wahrheit mitteilen. Noch einmal: Nichts gegen Genscher, aber im IOC könnte man sich dieser wohl tragischsten Augenblicke der olympischen Geschichte erinnern und auch daran, wer damals die Verantwortung trug.
Und damit niemand mich missversteht: Im Ausland sieht man oft mit sehr sensiblen Augen auf Deutschland. So erinnerte die „Neue Zürcher Zeitung“ (17.1.04) ihre Leser dieser Tage daran, dass rund um das Berliner Olympiastadion noch immer NS-Plastiken stün-den...
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Klaus Huhn; Leipzigs Neue 7.2.2004
BERLINS OLYMPIASTADION UND DIE VERGANGENHEIT
Deutschland rüstet zur Fussball-Weltmeisterschaft 2006. Das Berliner Olympiastadion aus dem Jahr 1936 - es gehört zu den wenigen komplett realisierten nationalsozialistischen Großbauten - ist als Spielstätte vorgesehen. Seit einigen Jahren wird es denk-malgerecht modernisiert. Dies bedeutet aber auch, den Doppelcha-rakter der Anlage als Sportstätte und Kriegerdenkmal zu konservie-ren. Dabei stellt sich erneut die Frage, wie mit den zahlreichen Skulpturen im Umfeld des Stadions zu verfahren sei, die von den wichtigsten Bildhauern des „Dritten Reichs“ geschaffen wurden... Im Oktober 1933 beschloss Hitler, die Olympiade in einem „natio-nalsozialistischen“ Sinne durchzuführen. Bis 1936 sollten auf dem 132 Hektaren großen Reichssportfeld und in der Umgebung ein Stadion, ein Schwimmstadion, eine Sportschule, die Deutschland-halle, das Haus des Deutschen Sports, das olympische Dorf und eine Freilichtbühne entstehen... Die Sportanlage war mit dem Kon-zept einer nationalen Weihestätte verbunden. Im Rahmen der er-weiterten Planungen für das Olympiagelände sollten (Wehr-)Sport und Kriegerehrung miteinander verbunden werden. An das Stadion schloss sich eine riesige Aufmarschfläche, das Maifeld mit der Langemarck-Gedenkhalle an... Werner March schrieb 1936 in einer offiziellen Publikation über das Ehrenmal: „Im Mittelgeschoss des Walls erhebt sich als feierlicher, von 12 kräftigen Pfeilern geglieder-ter weiter Raum die hohe Langemarckhalle, die über die Olympi-schen Spiele hinaus den Turm zum Wahrzeichen einer nationalen Gedenkstätte macht und dem RSF mit dem Gedächtnis an Lange-marck geistig seinen kostbarsten Inhalt schenkt (?) der Schmuck ist von großer, symbolhafter Einfachheit. Die Pfeiler tragen die 76 Fahnen der an der Schlacht beteiligten Regimenter. Das Massiv des mitten durch die Halle stoßenden Glockenturms trägt auf 10 Stahlschildern die Namen der Divisionen und der ihnen zugehöri-gen Truppenteile. Westlich vor dem Block des Glockenturms liegt im Fußboden, von einer Stahlplatte mit dem Langemarckkreuz be-wahrt, Erde aus dem Friedhof von Langemarck... Der Mythos
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sprach von Studenten und Schülern, die als Freiwillige im Novem-ber 1914 bei Kämpfen im belgischen Langemarck fielen, furchtlos anstürmend und das „Deutschlandlied“ singend.
Tatsächlich hatte es sich um eine Abfolge verlustreicher Gefechte gehandelt, die das Ende des herkömmlichen Bewegungskrieges und den Beginn des Stellungskrieges markierten... Die Ereignisse waren ein schreckliches Beispiel militärischer Fehlplanung und tak-tischer Hilflosigkeit - umso monumentaler wurden die Opfer heroi-siert... Sportlicher Wettbewerb und kriegerischer Opfertod waren hier deutlich verknüpft. Am Ende des Zweiten Weltkriegs trat die kriegerische Bestimmung des Reichssportfeldes noch einmal her-vor: Das Opfer von Langemarck verdoppelnd, fielen zahlreiche Hit-lerjungen bei der Verteidigung des Stadions. Waffen und Stahlhel-me, die kürzlich bei der Sanierung des Fußballrasens zum Vor-schein kamen, zeugen noch von diesen Kämpfen. Die britische Besatzungsmacht wählte zu ihrem Berliner Verwaltungssitz somit auch einen Ort, der als militärische Trophäe gelten konnte. Die bri-tische Präsenz konservierte das Areal faktisch, sie trug sogar zur Rekonstruktion bei. In diesem Zusammenhang ist wohl auch der Wiederaufbau der 1947 gesprengten Langemarckhalle zu verste-hen... Die Bundesregierung bezahlte die Rekonstruktion der Halle und den Wiederaufbau des gesprengten Glockenturms, Architekt wurde wieder Werner March. 1963 war das „Bauvorhaben Lange-marckhalle“ abgeschlossen. Die Halle war kaum verändert... Nach dem Abzug der Briten erhielt der Bund das Reichssportfeld, trat es aber bald an das Land Berlin ab, das 1998 einen Wettbewerb zur Stadionerneuerung ausschrieb... Die ursprüngliche konzeptuelle Verbindung von Sportstätte und Kriegerdenkmal wird nicht ange-tastet...
Über die Berliner Kriegerdenkmäler und NS-Plastiken wird heute mit Gelassenheit diskutiert - wenn überhaupt... Die Langemarckhal-le bedürfte einer kritischen und ausführlichen Kommentierung.
Christian Saehrendt, Neue Zürcher Zeitung 17./18.1.2004
BITTERER ABGESANG
Länger als zwei Jahrzehnte erschien in der BRD monatlich ein „Olympia-Report“ unter der Leitung des Berliner Publi-zisten Willi Ph. Knecht. Unter Insidern wußte man längst, daß von Machtstrebern im bundesdeutschen Sport der „Re-
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port“ als ungeliebt betrachtet wurde. Im Dezember 2003 wandte sich Knecht mit einem von uns ungekürzt wiederge-gebenen Brief an alle, denen diese Publikation wichtig er-schienen war.
Sehr geehrte Leserschaft,
die vorliegende Ausgabe des „NOK-Reports“ beendet das Erschei-nen dieser Publikation, die vor nunmehr 21 Jahren von Willi Daume begründet wurde. Er und das damalige Präsidium des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland reagierten damit auf die publizistische Ohnmacht der deutschen Olympischen Bewegung beim erbittert geführten Streit um Beteiligung oder Boykott der Olympischen Spiele Moskau 1980. Ohne eigenes Sprachrohr war das NOK nahezu hilflos dem öffentlichen Druck der die Regie-rungsposition stützenden Medien ausgeliefert. Das ungleiche Rin-gen mündete, wie bekannt, im fatalen Boykottbeschluss vom 15. Mai 1980.
Um ähnlicher Fremdbestimmung künftig besser widerstehen zu können und zudem die sportpolitische Meinungsbildung innerhalb der olympischen Organisationen zu beflügeln, betrieb Willi Daume die Herausgabe einer NOK-eigenen Publikation. Sie sollte den all-gemeinen Informationsfluss verbessern, Entscheidungen der Füh-rungsgremien argumentativ untermauern, ansonsten von der Ta-gespresse vernachlässigte Themen aufgreifen, Hintergründe präsi-dialer Beschlüsse ausleuchten und insbesondere auch als Regula-tiv Falschdarstellungen und Fehlinterpretationen der Medien ent-gegenwirken.
Zur praktischen Bewältigung dieses komplizierten Aufgabenkata-logs orientierte sich Willi Daume an Prinzipien liberaler Verlage. Das Nationale Olympische Komitee bestimmte als Herausgeber richtungsweisend die sportpolitische Generallinie, die Redaktion besaß innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens thematische Ent-scheidungs- und inhaltliche Meinungsfreiheit.
In Nachfolge Willi Daumes praktizierten auch Walther Tröger und dessen Präsidium dieses Prinzip der Richtlinienkompetenz bei gleichzeitig redaktioneller Unhabhängigkeit. So widmete sich der „NOK-Report“ neben seinen allgemeinen publizistischen Aufgaben häufig der Behandlung sportpolitisch konfliktbeladener Themen. Zu langzeitlichen Schwerpunkten entwickelten sich unter anderem
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Kontroversen über Reizthemen wie Stasi und Doping im DDR-Sport und bei der Abwehr von Außeneinflüssen zu Lasten der Selbstständigkeit des nunmehr vereinigten Nationalen Olympi-schen Komitees. Dabei provozierten unmissverständliche Positi-onsnahmen nicht nur extern mancherorts Missfallen, sondern auch bei mit der gewählten NOK-Führung konkurrierenden Funktionä-ren.
Folgerichtig verordnete der hauptsächlich mit deren Hilfe gewählte neue NOK-Präsident Dr. Klaus Steinbach vor Jahresfrist als eine seiner ersten Amtshandlungen Veränderungen bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Dazu gehörte insbesondere die Empfehlung eines in seiner personellen Zusammensetzung von vornherein auf dieses Ziel fixierten Arbeitskreises zur Einstellung des „NOK-Reports“. Ob es ein Nachfolgeorgan geben wird und wenn ja in welcher Diktion, steht noch nicht fest. Eine Publikation in der von Willi Daume und Walther Tröger patronierten Art und Weise wird es nicht sein, wie redaktionelle Erfahrungen der letzten zwölf Monate signalisieren. Dabei benötigt das NOK derzeit mehr als je zuvor ei-ne Publikation, die argumentativ überzeugend die sportpolitischen Positionen des Nationalen Olympischen Komitees beschreibt und begründet. Hochglanzbroschüren und Verlautbarungspostillen können diese Anforderungen nicht erfüllen, zumal, wenn sie eher die Profilierung Einzelner statt Ansehensgewinn für das Ganze an-visieren.
Dringlich bedürfen kritische Fragen plausibler Beantwortung: Wa-rum von den vor Jahresfrist lautstark angekündigten Reformen bis-her nur wenige in Gang gesetzt wurden; warum das zum Ende der Ära Tröger beklagte Spannungsverhältnis zwischen führenden Sportfunktionären trotz jüngster Beschwichtigungsversuche nicht überwunden, sondern eher noch weiter verschlechtert wurde; wa-rum das Krisenmanagement der Leipziger Olympiabewerbung von Bundesinnenminister und Repräsentanten der Wirtschaft statt von der NOK-Führung betrieben wird; wie die inzwischen in den Medi-en selbst von vormaligen Parteigängern beschriebenen personel-len Defizite und daraus erwachsende Kommunikationsprobleme überwunden werden sollen, alles in allem, warum sich das NOK in Anlehnung an ein Wortbild Steinbachs statt auf der Überholspur auf dem Standstreifen befindet.
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Egal, wie die künftige Presse- und Öffentlichkeitsarbeit aussehen wird: Wer das Ansehen des NOK wieder verbessern soll, ist unter den derzeit gegebenen Umständen nicht zu beneiden. In diesem Sinne gute Wünsche und freundliche Grüße
Willi Knecht
DIE DEUTSCHE LEICHTATHLETIK IM ABSEITS?
Die deutsche Leichtathletik hat... schonungslos offenbaren müs-sen, dass sie ihren absoluten Tiefpunkt erreicht hat. ...Der DLV ist ärmer an hochbegabten Athletinnen und Athleten, als er sich selbst bescheinigt. ...In einem 82 Millionen-Volk leben genügend junge Menschen - allerdings unentdeckt -, die die Eignung für leichtathleti-sche Weltklasseleistungen oder gar Weltrekorde mitbringen. Allein, der DLV hat keinen Zugriff auf diese Hochbegabten, weil er bisher nicht konsequent daran gearbeitet hat, diese Talente aufzuspüren und für sich zu gewinnen. Überzogene demokratische Verbandsstruktu-ren, ein ausgeuferter Individualismus, Egoismen, Selbstüberschät-zung, notwendige Hilfe und fachliche Unterstützung überhaupt zu ak-zeptieren, sowie die Fehleinschätzung, die DLV-Athletinnen und -Athleten hätten noch den Kontakt zur Weltklasse, haben dieses Leis-tungstief mitzuverantworten.... Da eine systematische, flächende-ckend organisierte Nachwuchsförderung in allen Landesverbänden nicht einmal auf dem Papier vorhanden ist, hat dieser Bereich höchste Priorität. Um das „Rad nicht zweimal zu erfinden“ - dies gilt übrigens auch für Bereiche der Trainingslehre - sollte hier das erfolgreiche Nachwuchsfördersystem des DDR-Sports gewissenhaft analysiert und, soweit möglich, in Teilstrukturen umgestaltet übernommen wer-den... Verfügt der DLV in allen Leistungsebenen über eine ausrei-chende Zahl von Trainern ausgestattet mit den genannten Attribu-ten? Mit Sicherheit nicht, zumal eine größere Anzahl älterer Trai-ner in den nächsten Jahren in den Ruhestand entlassen werden... Mit der Forcierung der A-Trainerausbildung im DLV, mit der Trai-nerakademie in Köln und eventuell mit geeigneten Hochschulinsti-tuten muss versucht werden, das Defizit zeitlich überschaubar zu beheben... Es ist wenige Minuten vor Zwölf. Dies ist ein Appell, der die Verantwortlichen zu gezielten Aktivitäten anregen soll. Nicht ir-gendwann, sondern sofort!...
Paul Schmidt, leistungssport 33 (2003) 6
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DIE ANGST VORM NÄCHSTEN SKANDAL
München - Neues von Doktor Kim - die Ankündigung hat in den Ohren vieler Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) schon immer wie eine Drohung geklungen. Seit einigen Wo-chen sitzt Un Yong Kim nun unter schwerem Korruptionsverdacht in Seoul in Untersuchungshaft. Die Ethik-Kommission des IOC un-ter dem Ehrenmitglied Keba M'Baye (Senegal) hatte sofort reagiert und dem südkoreanischen Skandalfunktionär den Titel des Vize-präsidenten vorläufig aberkannt, was ein beispielloser Vorgang ist auf der olympischen Chefetage. In seiner Not hatte Kim zunächst an viele Sportfunktionäre in aller Welt appelliert, mit denen er enge Bande gepflegt hatte. Auch Kims Tochter Helen appellierte vehe-ment an IOC-Präsident Jacques Rogge und lastete den Olympiern „Vorverurteilung" ihres Vaters an. Vergebens, die Berührungsängs-te sind zu groß. Aber Kim, einst ein mächtiger Geheimdienstler un-ter der blutigen Seouler Militärdiktatur in den siebziger/achtziger Jahren, ist nicht der Mann, der sich einfach abservieren lässt.
Also gingen Anfang Februar Dutzende Briefe aus Seoul in die Welt des Sports hinaus. Die französische Nachrichtenagentur AFP be-zifferte die Größenordnung auf 80 Schreiben (drei liegen ihr vor): Rund 30 ergingen an IOC-Kollegen, weitere 50 an Spitzenfunktio-näre internationaler Sportverbände und -stiftungen. Darin bittet Kim in höflich gesetzten Worten um Quittungen für diverse Leistungen, die er dem jeweiligen Adressaten erbracht habe. Das beginnt bei einigen tausend Dollar für Reise- und Hotelkosten und gipfelt bei einzelnen Empfängern in monströsen Summen - 233 000 Dollar, 300 000 Dollar, sogar 1,1 Millionen Dollar. In letzterem Fall erbat der Koreaner einen abgestempelten Beleg. „Das ist zu unserem beiderseitigem Nutzen und für eine korrekte Zusammenarbeit. Es wäre sehr nett, wenn sie mir die Bestätigung per Fax zukommen lassen könnten", wird Kim zitiert.
Der Vorgang zeugt von Raffinesse. Kim hatte die Auslagen, die er nun gern quittiert hätte, offenbar an bestimmte Leistungen gebun-den. Fraglich ist, ob sie dafür tatsächlich verwendet oder ander-weitig benutzt wurden - im ersten Fall hätten die Empfänger ja we-nig Probleme, die gewünschten Belege zu übersenden. Da ver-wundert, dass die Lausanner IOC-Zentrale bisher nichts von den
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Vorgängen wusste. Sprecherin Giselle Davies: „Wir wissen von Kims Briefen nur aus den Medien, wir betrachten sie vorläufig als private Korrespondenz."
Indes soll die IOC-Spitze schon länger von den Briefen gewusst haben. Richard Pound, viele Jahre IOC-Vizepräsident und Chef der Welt-Antidopingagentur Wada, sagte gestern der SZ, er habe Ende Februar bei der Athener IOC-Sitzung davon erfahren... Laut Pound kann sich die Sache zu einem Skandal auswachsen. Das IOC müsse handeln, „eine Möglichkeit wäre, alle IOC-Mitglieder und -Ehrenmitglieder anzuschreiben." Als Privatkorrespondenz, meint der Anwalt aus Montreal, könnten die Briefe ja nicht mehr betrach-tet werden - „die Sache ist in der Öffentlichkeit". Überrascht zeigt sich Pound nur „von der Höhe einzelner Beträge". Aber auch im Fall kleinerer, wohl als Spesen bezeichneter Summen müsse ge-klärt werden, „welchem Zweck diese Reisen gedient haben". Das IOC hat just die Reisetätigkeit seiner Mitglieder, vor allem in Hin-blick auf Besuche olympischer Kandidatenstädte, unter strenge Restriktion gestellt. Solange die Spesenposten nicht bekannt sind, bleibt hier vieles unklar. Immerhin ist die von Kim gepuschte Be-werbung der südkoreanischen Stadt Pyeongchang im Vorjahr nur knapp an Vancouver gescheitert.
Auch IOC-Vorständler Gerhard Heiberg betrachtet die Sache als sehr ernst und fordert, die Adressaten von Kims Briefen ausfindig zu machen... Heiberg hatte 2003 die Wahl zum Vizepräsident ge-gen Kim verloren und danach eine „von Kim gesteuerte Schmutz-kampagne gegen mich, die vom Branchendienst Sport intern be-gonnen wurde"; beklagt. Auch das deutsche Insiderblatt zählt zu denen, die in der Vergangenheit offen mit Kims Interessen in Ver-bindung gebracht wurden. Im IOC selbst hatte Kim stets auf ein stabiles Paket von Parteigängern zählen dürfen. Darunter auch hochrangige: Der deutsche IOC-Vize Thomas Bach hatte 2001 bei der Präsidentenkür per Unterschrift für den Kandidaten gebürgt.
Nun geht die Angst vor einem neuen Skandal um. Defensiv hatte das IOC zunächst auch Ende 1998 reagiert, als erstmals Beste-chungsvorwürfe gegen Mitglieder in der Salt-Lake-City-Affäre öf-fentlich wurden. Die damaligen Privatabsprachen der Winterspiele-Bewerber mit IOC-Leuten hatten später zum Rauswurf von zehn Mitgliedern sowie zu einem Reformprozess geführt - und zur Grün-dung der Ethik-Kommission. Kim selbst war auch in jenen Skandal
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verwickelt und dem Rauswurf knapp entgangen. 1999 erhielt er ei-nen strengen Verweis; mehr ging nicht, lassen hohe Funktionäre durchblicken, weil der IOC-Boss damals noch Juan Antonio Sama-ranch hieß. Pound, Chef des seinerzeitigen IOC-Untersuchungs-stabs, zur SZ auf die Frage, ob Druck zugunsten Kims ausgeübt wurde: „Das kann ich nicht kommentieren."
Der Spanier Samaranch, ein getreuer Franco-Anhänger, hatte in seiner Amtszeit (1980-2001) im Alleingang stark umstrittene Leute wie Kim ins IOC und an die Schalthebel der Macht gehievt. So durfte der Südkoreaner trotz des Verweises Anno 2001 in Moskau gegen Jacques Rogge im Kampf um die SamaranchNachfolge an-treten; Kim scheiterte... Er hatte den IOC-Mitgliedern im Fall seiner Wahl eine jährliche Apanage von rund 25.000 Dollar in Aussicht gestellt.
Thomas Kistner, Süddeutsche Zeitung 19.3.04
KÖLMEL HAT STADION DER GATTIN ÜBERSCHRIEBEN
„Investor Kölmel will Mehrkosten nicht alleine tragen" titelten wir am 12. Dezember 2003, der Stadion-Umbau werde „statt 90 Millionen Euro über 100 Millionen verschlingen". Bürgermeister Holger Tschense bestätigte am Rande der gestrigen Leutzscher Null-nummer gegen Münster das damals exklusiv publizierte Zahlen-werk. „Die Mehrkosten werden sich bei zehn Millionen bewegen"... Dass immer noch gefeilscht wird, lässt nur einen Schluss zu: Das Rathaus wird mehr als bisher zugebilligte 1,2 Millionen Euro (u. a. wegen denkmalgerechten Rückbauten an der Ostfassade) zu-schießen. Nach unseren Informationen besteht Kölmel auf brüder-liches Teilen - fifty-fifty also. Laut Vertrag gehen Mehrkosten zu Lasten des Investors. Zum Zankapfel sind die nach Vertragsab-schluss erwachsenen Anforderungen des Weltfußball-Verbandes FIFA ans WM-Stadion geworden. „Die ursprünglichen Vereinba-rungen beruhen auf dem FIFA-Pflichtenheft l", so Tschense. Auf I folgte II - und Zoff ums liebe Geld, das Kölmel nicht mehr in Hülle und Fülle hat. Das Stadion-Investment rechnet sich selbst bei freundlicher Verrechnung mit Einnahmen aus Arena und Festwiese nicht. Falls Kölmel weitere Millionen-Darlehen finanzieren muss, gestaltet sich das Ganze zur unendlichen Minus-Geschichte.
Klärungsbedürftig ist ein weiterer Aspekt. Am 14. Juli 2003 hat Kölmel „sein" Stadion auf Ehefrau Doris Apell-Kölmel, eine studier-
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te Kunsthistorikerin überschrieben (notarielle Beurkundung liegt uns vor). Tschense weiß nichts von einer Übertragung und will in dieser Angelegenheit beim beurlaubten Kämmerer Peter Kaminski vorsprechen. „Eine Übertragung
ist in jeden Fall anzeigepflichtig, die Stadt hat ein Vorkaufsrecht." Falls die Stadt nicht informiert war, hat Kölmel ein Problem. Eines von vielen. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt seit Monaten wegen Unregelmäßigkeiten im Zuge der Kinowelt-Insolvenz von 2001/2002. Zuletzt konzentrierten sich die Untersuchungen auf Geldabflüsse aus dem zusammenbrechenden Kinowelt-Imperium. Kölmels Stadion-Beauftragter Stephan Brendel sitzt in Untersu-chungshaft. Brendel und sein Firmen-Teilhaber Endres von Tucher (BVT, Erfurt) sollen von Kölmel mehrere Millionen Mark für eine nicht näher beschriebene Beratungstätigkeit erhalten haben.
gs, Leipziger Volkszeitung, 15.3.2004
JÜRGEN EMIG LEGT LEITUNG NIEDER
Jürgen Emig, bis Dienstag Sportchef des Hessischen Rundfunks (HR), hat sich gerne so gesehen: als Chef einer Sportredaktion, den Not erfinderisch macht, der Berichterstattung trotz knapper Etats nicht scheitern läßt. Man muß sich nur zu helfen wissen - und die Produktionskosten auf andere Schultern verteilen, auf Veran-stalter, Verbände, Vereine. Damit alle auf ihre Kosten kommen, der Sender, das Publikum, der Sport.
Und Herr Emig? Den Vorwurf persönlicher Vorteilsnahme weist er zurück, ja, nicht einmal Interessenkonflikte durch das Agenturge-schäft seiner Frau, der früheren HR-Mitarbeiterin Atlanta Killinger, oder durch Aktivitäten mit ihm verbandelter freier Unternehmer aus der Medienbranche habe es je gegeben. Die Leitung der Abteilung "Sport Radio-TV" des HR hat der bekannte Radsportfachmann dennoch abgegeben.
Zunächst führt Manfred Krupp, Fernseh-Chefredakteur der hessi-schen Anstalt, kommissarisch die Redaktion. Emig habe um seine Ablösung gebeten, "um angesichts der laufenden Presseveröffent-lichungen von sich selbst und vom Hessischen Rundfunk weiteren Schaden abzuwenden". Er werde innerhalb der Fernsehdirektion des HR andere Aufgaben übernehmen. Zuletzt moderierte Emig mit Olympiasiegerin Katarina Witt die ARD-Übertragung von den
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Eiskunstlauf-Weltmeisterschaften in Dortmund. Der federführende WDR berief Emig ab und schickte Claus Lufen ins Rennen.
Zu den "laufenden Presseveröffentlichungen" zählte unter anderem ein Bericht des "Focus", in dem Emig konkret vorgehalten wurde, bei einem Fußball-Privatspiel zwischen Bayern München und dem FC Liverpool anläßlich der 1200-Jahr-Feier der Stadt Fulda im Sommer 1994 nicht nur Produktions-, sondern auch Personalkos-ten fremdfinanziert haben zu lassen.
Die seltsame, aber angeblich nicht nur im Bereich des Hessischen Rundfunks geübte Praxis, kleine Veranstalter für Leistungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zahlen zu lassen, bringt Emig mehr und mehr unter Druck. Und beim Sender wird nicht nur dieser Vorgang, wie zu erfahren ist, noch überprüft. Auch beim Tischten-nisturnier "European Top 12" Anfang Februar in Frankfurt sollen Personalkosten eingefordert und bezahlt worden sein. Hans Wil-helm Gäb, der Ehrenpräsident, berichtet aus dem Vorstand des Deutschen Tischtennis-Bundes von "sehr unangenehmen" Ver-handlungen mit dem HR-Sportchef...
jöh., Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.2004, (www.faz.net)
DOPINGPROBLEM UNLÖSBAR
...Das eigentlich ungelöste Problem im Anti-Doping-Kampf stellt sich... viel gravierender dar. Der Sport verfügt heute wohl über ein intaktes Kontrollsystem, über eine intakte Gerichtsbarkeit und er kann damit einen Athleten, der mittels einer Urinprobe des Dopings überführt wurde, bis zu zwei Jahren sperren. Die Betrugshandlung des Athleten wird damit jedoch lediglich an der Oberfläche erfasst. Über die Strukturen des Sports ist es nicht möglich, in Erfahrung zu bringen, wie der Athlet gedopt hat, bei wem er sich die verbotene Substanz besorgt hat und ihn dabei unterstützt hat.
In dieser Ohnmacht befinden sich die Sportorganisationen seitdem sie Doping-Kontrollen durchführen und seitdem sie Doping mittels ihrer eigenen Sanktionen bekämpfen. Betrachtet man diese Situa-tion etwas genauer, so erkennt man, dass der Sport über seine au-tonome Organisation diesem Problem mit seinen eigenen Struktu-ren nicht gerecht werden kann, er benötigt vielmehr die Hilfe des Staates.
Dabei ist es völlig nachgeordnet, ob diese Hilfe dem Sport mittels eines bestehenden Gesetzes, eines zu verändernden Gesetzes
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oder eines neuen Gesetzes gewährleistet wird. Völlig nachgeord-net ist es auch, ob ein Gesetz zum Schutze der Sportkultur dem Sport die notwendige Hilfe gewährt oder über ein neues Anti-Doping-Gesetz oder durch das bestehende Arzneimittelgesetz oder durch ein anderes, ähnlich gelagertes Gesetz, beispielsweise das Betäubungsmittelgesetz. Sehr viel entscheidender ist es hingegen, wer dem Sport hilft und wie ihm geholfen wird, das unzweifelhaft bestehende Vollzugsdefizit zu beseitigen, um auf diese Weise den Sport als bedeutsames pädagogisches Kulturgut wirkungsvoll zu schützen. Ist dies nicht der Fall, so wird sich auch in Zukunft der Anti-Doping-Kampf vorrangig als ein unglaubwürdiges rhetorisches Spiel ereignen.
Notwendig ist vielmehr ein glaubwürdiger und engagierter Kampf gegen Doping, bei dem man bereit ist, die notwendigen finanzi-ellen, und personellen und juristischen Strukturen zu schaffen, damit die Wurzeln des Übels bekämpft werden können. Notwen-dig ist, dass der Besitz von Doping-Substanzen unter Strafe ge-stellt wird und dass in Bezug auf das Doping-Problem in gleicher Weise staatlicherseits ermittelt wird, wie dies beim Drogenmiss-brauch der Fall ist. Die Verantwortung der Sportverbände für einen engagierten Doping-Kampf würde dadurch keineswegs in Frage gestellt, die Autonomie der Verbände würde vielmehr gestärkt und das anerkannte Prinzip der Subsidiarität würde einmal mehr zei-gen, wie wirkungsvoll es für die Entwicklung des Sports in einem demokratischen Gemeinwesen sein kann. Der Sport benötigt auf diesem Weg die Unterstützung des Staates, er benötigt die Unter-stützung der Justizminister und des Bundesministers des Innern.
nicht gerecht werden kann, er benötigt vielmehr die Hilfe des Staa-tes.
Dabei ist es völlig nachgeordnet, ob diese Hilfe dem Sport mittels eines bestehenden Gesetzes, eines zu verändernden Gesetzes oder eines neuen Gesetzes gewährleistet wird. Völlig nachgeord-net ist es auch, ob ein Gesetz zum Schutze der Sportkultur dem Sport die notwendige Hilfe gewährt oder über ein neues Anti-Doping-Gesetz oder durch das bestehende Arzneimittelgesetz oder durch ein anderes, ähnlich gelagertes Gesetz, beispielsweise das Betäubungsmittelgesetz. Sehr viel entscheidender ist es hingegen, wer dem Sport hilft und wie ihm geholfen wird, das unzweifelhaft bestehende Vollzugsdefizit zu beseitigen, um auf diese Weise den
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Sport als bedeutsames pädagogisches Kulturgut wirkungsvoll zu schützen. Ist dies nicht der Fall, so wird sich auch in Zukunft der Anti-Doping-Kampf vorrangig als ein unglaubwürdiges rhetorisches Spiel ereignen...
Notwendig ist vielmehr ein glaubwürdiger und engagierter Kampf gegen Doping, bei dem man bereit ist, die notwendigen fi-nanziellen, und personellen und juristischen Strukturen zu schaf-fen, damit die Wurzeln des Übels bekämpft werden können. Not-wendig ist, dass der Besitz von Doping-Substanzen unter Strafe gestellt wird und dass in Bezug auf das Doping-Problem in gleicher Weise staatlicherseits ermittelt wird, wie dies beim Drogenmiss-brauch der Fall ist. Die Verantwortung der Sportverbände für einen engagierten Doping-Kampf würde dadurch keineswegs in trage ge-stellt, die Autonomie der Verbände würde vielmehr gestärkt und das anerkannte Prinzip der Subsidiarität würde einmal mehr zei-gen, wie wirkungsvoll es für die Entwicklung des Sports in einem demokratischen Gemeinwesen sein kann. Der Sport benötigt auf diesem Weg die Unterstützung des Staates, er benötigt die Unter-stützung der Justizminister und des Bundesministers des Innern nicht gerecht werden kann, er benötigt vielmehr die Hilfe des Staa-tes.
Dabei ist es völlig nachgeordnet, ob diese Hilfe dem Sport mittels eines bestehenden Gesetzes, eines zu verändernden Gesetzes oder eines neuen Gesetzes gewährleistet wird. Völlig nachgeord-net ist es auch, ob ein Gesetz zum Schutze der Sportkultur dem
Sport die notwendige Hilfe gewährt oder über ein neues Anti-Doping-Gesetz oder durch das bestehende Arzneimittelgesetz oder durch ein anderes, ähnlich gelagertes Gesetz, beispielsweise das Betäubungsmittelgesetz. Sehr viel entscheidender ist es hingegen, wer dem Sport hilft und wie ihm geholfen wird, das unzweifelhaft bestehende Vollzugsdefizit zu beseitigen, um auf diese Weise den Sport als bedeutsames pädagogisches Kulturgut wirkungsvoll zu schützen. Ist dies nicht der Fall, so wird sich auch in Zukunft der Anti-Doping-Kampf vorrangig als ein unglaubwürdiges rhetorisches Spiel ereignen.
Notwendig ist vielmehr ein glaubwürdiger und engagierter Kampf gegen Doping, bei dem man bereit ist, die notwendigen fi-nanziellen, und personellen und juristischen Strukturen zu schaf-fen, damit die Wurzeln des Übels bekämpft werden können. Not-
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wendig ist, dass der Besitz von Doping-Substanzen unter Strafe gestellt wird und dass in Bezug auf das Doping-Problem in gleicher Weise staatlicherseits ermittelt wird, wie dies beim Drogenmiss-brauch der Fall ist. Die Verantwortung der Sportverbände für einen engagierten Doping-Kampf würde dadurch keineswegs in Frage gestellt, die Autonomie der Verbände würde vielmehr gestärkt und das anerkannte Prinzip der Subsidiarität würde einmal mehr zei-gen, wie wirkungsvoll es für die Entwicklung des Sports in einem demokratischen Gemeinwesen sein kann. Der Sport benötigt auf diesem Weg die Unterstützung des Staates, er benötigt die Unter-stützung der Justizminister und des Bundesministers des Innern.
nicht gerecht werden kann, er benötigt vielmehr die Hilfe des Staa-tes.
Dabei ist es völlig nachgeordnet, ob diese Hilfe dem Sport mittels eines bestehenden Gesetzes, eines zu verändernden Gesetzes oder eines neuen Gesetzes gewährleistet wird.... Sehr viel ent-scheidender ist es hingegen, wer dem Sport hilft und wie ihm ge-holfen wird, das unzweifelhaft bestehende Vollzugsdefizit zu besei-tigen, um auf diese Weise den Sport als bedeutsames pädagogi-sches Kulturgut wirkungsvoll zu schützen. Ist dies nicht der Fall, so wird sich auch in Zukunft der Anti-Doping-Kampf vorrangig als ein unglaubwürdiges rhetorisches Spiel ereignen.
Notwendig ist vielmehr ein glaubwürdiger und engagierter Kampf gegen Doping, bei dem man bereit ist, die notwendigen fi-nanziellen, und personellen und juristischen Strukturen zu schaf-fen, damit die Wurzeln des Übels bekämpft werden können. Not-wendig ist, dass der Besitz von Doping-Substanzen unter Strafe gestellt wird und dass in Bezug auf das Doping-Problem in gleicher Weise staatlicherseits ermittelt wird, wie dies beim Drogenmiss-brauch der Fall ist. Die Verantwortung der Sportverbände für einen engagierten Doping-Kampf würde dadurch keineswegs in trage ge-stellt, die Autonomie der Verbände würde vielmehr gestärkt und das anerkannte Prinzip der Subsidiarität würde einmal mehr zei-gen, wie wirkungsvoll es für die Entwicklung des Sports in einem demokratischen Gemeinwesen sein kann. Der Sport benötigt auf diesem Weg die Unterstützung des Staates, er benötigt die Unter-stützung der Justizminister und des Bundesministers des Innern.
Helmut Digel, Der Tagesspiegel 15.3.2004
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VERALTETE WISSENSCHAFTSSTRATEGIE
Die wissenschaftliche Methode „Verallgemeinerung der Trainings-praxis“... findet in der Hochschulforschung kaum mehr Anerken-nung. Ursachen für eine solche Position sind einerseits in der Zu-ordnung der sportwissenschaftlichen Institute zu Fakultäten mit an-deren wissenschaftlichen Gegenständen und davon abgeleiteten wissenschaftlichen Ansprüchen zu suchen und andererseits in der totalen Abwendung der Mehrzahl universitärer sportwissenschaftli-cher Einrichtungen vom Gesamtsystem des Trainings sportlicher Disziplinen und der bloßen Hinwendung zu einzelnen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Reaktionen sowie sportlichen Techniken und Hand-lungen. Die Einordnung von wissenschaftlichen Teilergebnissen in das Gesamtsystem des Trainings wird dem Trainer überlassen, obwohl bekannt ist, dass sowohl Synergieeffekte als auch negative Wechselwirkungen bestehen können und der Zeitfond für das Trai-ning begrenzt ist. Eine so veraltete Wissenschaftsstrategie hat für die Leistungsentwicklung, besonders in solchen Sportdisziplinen wie den technisch-akrobatischen mit ihrer eminenten Vielfalt von Leistungsmerkmalen innerhalb der komplexen Wettkampfleis-tungsstruktur, erhebliche Nachteile.
Keine Universität oder Hochschule der BRD mit der Fachrichtung Sportwissenschaft hat sich auf eine hochqualifizierte Ausbildung von Trainern für Sportdisziplingruppen im Rahmen der Diplom-sportlehrerausbildung konzentriert. Da für einige benachteiligte Disziplingruppen wie die technisch-akrobatischen die Hauptthema-tik „Lernmethodik komplizierter Bewegungen“ nur unterschwellig beforscht wird und die Forschungskräfte... zahlenmäßig sehr ge-ring sind, mangelt es der gesamten Traineraus- und -fortbildung an innovativen Anregungen für die Entwicklung der Trainingssysteme und für eine höhere Qualität der sportlichen Ausbildung.
Gottfried Stark, Schriftenreihe „Sport, Leistung Persönlichkeit“ 4/2004
DOPINGMISSBRAUCH – ZU EINER EPIDEMIE GEWORDEN
Seit zehn Jahren besteht die telefonische Anti-Doping Hot-Line des Schwedischen Nationalen Gesundheitsinstituts. Zwischen Oktober 1993 und Dezember 2000 sind dort fast 26.000 Anrufe eingegan-gen... 60 Prozent der Anrufer waren männlich. 30 Prozent gehörten in die Bodybuilder-/Kraftsportszene. Am häufigsten wurde wegen
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der Verwendung von Anabolika angerufen... Die zehn häufigsten unerwünschten Nebenwirkungen der Anabolika waren Aggression (835 Fälle), Depression (829), Akne (770), Gynecomastia (Brust-vergrößerungen bei Männer) (637), Angstzustände (637), Potenz-probleme (413), schrumpfende Hoden (404), Schlafstörungen (328), Zurückhalten von Körperflüssigkeiten (318), Stimmungs-schwankungen (302). Bei Frauen wurde zusätzlich noch wegen menstruellen Störungen, Bartwachstum, tieferer Stimme, vergrö-ßerter Klitoris um Rat gefragt. Zwischen 1996 und 2000 meldeten 4339 Personen 10.800 unerwünschte Nebenwirkungen. Aklof, A.C., Thurelius, A.M., Garle, M., Rane, A. & Sjoqvist, F. (2003): The Anti-Doping Hot-Line... in: European Journal Clinical Pharma-cology, 59 (8-9), 571-577, sehen hierin vor allem eine neue wichti-ge Dienstleistung der klinischen Pharmakologie, da der Doping-missbrauch zu einer Epidemie geworden sei, für die die Gesell-schaft - ähnlich wie bei harten Drogen - eben nicht nur eine Ver-bots-/Straffunktion habe, sondern auch eine kompetente Beratung sicherstellen müsse.
Arnd Krüger, leistungssport 34 (2004) 1
BILANZ UND PERSPEKTIVEN DER DDR-FORSCHUNG
Es wäre falsch anzunehmen, vor 1989 wäre in der Bundesrepublik nichts oder nichts Ergiebiges an DDR-Forschung geleistet wor-den... Auch wäre es nicht richtig zu behaupten, die DDR sei heute überforscht oder auch nur besser erforscht als die alte Bundesre-publik, das Dritte Reich oder die Weimarer Republik. Das Gegenteil ist der Fall, zumal sich unter den 7700 Publikationen seit 1989 ne-ben viel Getreide auch einiges an Spreu befindet und sich überdies in unserem ungeplanten Forschungsbetrieb die Aufmerksamkeit auf die Themen sehr ungleichmäßig verteilt... Merkwürdig am Ran-de bleibt in dem Band (gemeint ist das Buch mit dem o.g. Titel, in dem H. J. Teichler die Bilanz der Forschung zur Sportgeschichte zieht – A.d.R.) die sozialwissenschaftlich orientierte DDR-Forschung. ...Auch das wichtige Thema der Sozialpolitik, mit der sich die DDR überhob, wird stiefmütterlich behandelt. ...Aber ich möchte drei offene Fragen hervorheben, die mir für die DDR-Forschung überhaupt kennzeichnend zu sein scheinen, und die der vorliegende Band entweder nennt oder spiegelt.
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1. In seinem aufschlussreichen Essay über Bedingungsfaktoren der friedlichen Revolution 1989/90 fordert Detlev Pollack zu Recht, dass jede gute Erklärung des Umbruchs sowohl das Scheitern des Staatssozialismus wie auch seine vierzig Jahre währende Existenz plausibel machen muss. ...Stabilität und Lebensfähigkeit der DDR folgten vielmehr auch aus Zustimmung und Akzeptanz, die sich bei Teilen der Bevölkerung fand, aus ihren Erfolgen und Leistungen, aus den vielfältigen Arrangements, die Konflikte verarbeiteten, be-vor sie ausbrachen und, wenn schon nicht Zustimmung, Tolerie-rung bewirkten. Soweit ich sehe, ist die Forschung derzeit besser in der Lage, die Krisen und das Scheitern der DDR verständlich zu machen, als ihre relative Stabilität und ihr langes Überleben zu er-klären...
2. ...Jedenfalls scheint mir in der historischen DDR-Forschung et-was besonders stark ausgeprägt zu sein, was im Ansatz für den Betrieb der modernen Geschichtsforschung generell kennzeich-nend ist: ein sehr hohes Maß an Spezialisierung. Mustert man den vorliegenden Band mit den Kurzbiographien seiner 55 Autorinnen und Autoren, dann fällt auf, dass der größte Teil der DDR-Forschung von Personen vorgelegt wird, die ausschließlich oder fast ausschließlich DDR-Forschung betreiben. So zerstritten sie un-ter sich sein mögen - heute weniger als früher -, letztlich bleiben die DDR-Forscher und -Forscherinnen im Großen und Ganzen un-ter sich. Mit Ausblicken in andere Forschungsbereiche der deut-schen, europäischen oder globalen Geschichte sind sie sparsam. ...Insgesamt ist die DDR-Forschung bei uns durch ein hohes Maß an Selbstreferenzialität und Selbstisolierung gekennzeichnet.
3. ...Es sind nicht nur wissenschaftliche Interessen, die die DDR-Forschung antreiben, vielmehr liegen sie im Gemenge mit anderen, oft mächtigeren Interessen an der DDR und ihrer >Aufarbeitung<. Es geht nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch um Abrechnung und Selbstbestätigung, um Delegitimierung und Verteidigung, um die Zurechnung von Schuld und Verdienst, um Identitätsbildung und Durchsetzung im Kampf um öffentliche Aner-kennung, oft mit praktischen Konsequenzen. Es geht... um die Klä-rung moralischer und politischer Grundsatzfragen und die Vertei-lung von Einfluss und Macht, nicht nur durch wissenschaftliche Diskurse, sondern auch in persönlicher und politischer Auseinan-dersetzung. ...die Logik der Wissenschaft ist nicht die Logik der Po-
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litik. Wo sich das Politische allzu direkt und unvermittelt in das Wis-senschaftliche eingemischt hat (und umgekehrt), ist dies jedenfalls der wissenschaftlichen Seite schlecht bekommen. Auch dafür bie-tet die DDR-Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte viele Bei-spiele.
Jürgen Kocka, Deutschland Archiv 36 (2003) 5
VERLORENE WETTE UM VERLORENE FRIEDENSFAHRT?
Ich gestehe, erbärmlich geflucht zu haben, als ich erfuhr, dass ich eine Wette gewonnen hatte. Es war eine, die ich nie gewinnen wollte. Das klingt absurd, ist aber nur bittere Wahrheit. Ein guter Freund schlug mir vor vier Jahren vor, um die Zukunft der Frie-densfahrt zu wetten, und obwohl es wohl nur wenige gibt, dieses Rennen besser kennen als ich, hielt ich dagegen, weil ich wusste, wie viel Eifer die „Nichtfreunde“ dieses Rennens aufbringen wür-den, um es eines Tages in den Abgrund zu befördern. Nun haben sie den Abgrund schon im Auge. Am 2. Februar hatte der mdr noch verbreitet: „57. Friedensfahrt rollt durchs Sendegebiet“, am 23. März lautete die Schlagzeile: „Friedensfahrt vor ungewisser Zu-kunft“. Man ließ wissen: Der Sender konzentriere sich auf die „sport-lich höherwertige ‚Deutschland-Tour‟, die auch als gesamtdeutsche Rundfahrt absolute ARD-Priorität besitze... Zu DDR-Zeiten war die Friedensfahrt das größte alljährliche Propaganda-Spektakel aus Po-litik und Sport... Nach dem Mauerfall sorgte unter anderem das En-gagement von Radidol Gustav Adolf ‚Täve‟ Schur dafür, dass die Friedensfahrt starke ostalgische Sportgefühle am Leben erhielt.“ Bliebe nur die Frage: Hat noch jemand Fragen?
Die Fahrt war gleich nach der Rückwende in Bedrängnis geraten, aber tatsächlich hatte Täves Engagement dann mit dafür gesorgt, dass die Fahrt zu altem Glanz zurückfand. Als alle Störversuche fehlschlugen, erinnerte man sich der „Deutschlandfahrt“, die in ihrer Geschichte schon öfter mal politische Kastanien aus dem Feuer geholt hatte. 1911 gegründet, geriet sie mehr als einmal in Verges-senheit: In 93 Jahren wurde sie nur 28 mal ausgetragen. Bis auf 1939 hatte man immer Probleme, Geldgeber zu finden, aber in dem Jahr als Deutschland den Zweiten Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen begann, war an Geld kein Mangel. Sie bekam sogar den
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Titel „Großdeutschlandfahrt“ und war mit 5049 Kilometern 1000 km länger als die damalige Tour de France. Nach dem Krieg holperte sich die Fahrt durch die Jahrzehnte, fand von 1962 bis 1979 über-haupt nicht statt, geriet nach 1982 wieder völlig in Vergessenheit und erst 1998 erinnerte man sich ihrer. Aufschlussreich ist, dass der Bund Deutscher Radfahrer damals schwor, damit keineswegs einem Konkurrenzunternehmen zur Friedensfahrt auf die Beine helfen zu wollen. (Was den Verdacht nur erhärtete...). Als Schirm-herr 2001 fungierte ein Mann namens Scharping, damals Bundes-minister für Verteidigung. 2004 verkündete Leipzigs Sport-bürgermeister Holger Tschense, „dass sich die Olympia-Bewerberstadt für 2012 ‟in diesem Jahre bewusst für die Deutsch-land-Tour entschieden hat und nicht für die Friedensfahrt‟“. Das klingt nicht sonderlich olympisch. Aber es überrascht nicht. Und dass man im Orgkomitee der Friedensfahrt auch noch einen „Stasi-Major“ entdeckte, konnte noch viel weniger überraschen. Zitat aus einem Medien-Beitrag zur jüngsten Entwicklung: „Frühere Leipziger Bürgerrechtler wie Uwe Schwabe zeigten sich zufrieden mit der neuen Entwicklung. Er kritisierte, dass es jedoch immer erst öffent-lichen Druck der Medien brauche, bis die Verantwortlichen der Stadt reagieren.“ So habe ich also eine Wette gewonnen, die ich nie gewinnen wollte, aber die politische Gegenwart ist nun mal so...
Klaus Huhn, Leipzigs Neue 2.4.2004
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REZENSIONEN
Das Wunder von Bern
Der Verlag nennt seine Bücher zur Fußball-WM-Geschichte „Die Reihe für Spezialisten“. Bisher lagen Bände für 1930 (1. WM in Uruguay), 1934 (in Italien), 1938 (in Frankreich), 1950 (in Brasili-en), 1958 (in Schweden) und 1962 (in Chile) vor. Der nunmehr er-schienene Band für die V. WM 1954 trägt als bisher einziger einen Untertitel: „Das Wunder von Bern“; dieser ist allerdings nur auf dem Umschlag aufgedruckt und dürfte daher in regulären, in der Regel auf den Innentitel bezogenen bibliographischen Angaben nicht auf-tauchen. Der Band nimmt eine Sonderstellung ein und ist auch um-fangreicher als alle anderen bisher erschienenen WM-Bücher die-ser Reihe.
Das hat seinen Grund nicht nur in der sportlichen Sensation des Sieges der bundesdeutschen Auswahl um Fritz Walter gegen die hochfavorisierten Ungarn um Ferenc Puskas, sondern vor allem in der unmittelbaren Reaktion deutscher Zuschauer und noch mehr darin, daß aus einem sportlichen Sieg ein Politikum ersten Ranges (gemacht) wurde und bis heute als solches aktiv, etwas angepaßt, gepflegt wird, wie Filme, Berichte und „Dokumentationen“ in allen Medien zeigen und zunehmend zeigen werden, wenn sich die 50. Wiederkehr des „Wunders von Bern“ im Juli 2004 nähert. Es wurde vom „berühmtesten Tag der Nachkriegsgeschichte“ gesprochen, nach dem das „Wir sind wieder wer!“ zum geflügelten Wort gewor-den sei; wobei heute nur noch selten erwähnt wird, daß dieser Ausspruch die zurückhaltende Ableitung des von deutschen Zu-schauern in Bern im „Original“ der ersten Strophe gesungenen „Deutschland, Deutschland über alles!“ darstellt, das prompt flä-chendeckend in der Bundesrepublik ertönte - örtlich mit dem Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen...“) komplettiert, wie es in der NS-Zeit gehalten worden war.
Aufmachung und Anlage des Buches sind eindrucksvoll. Die Auto-ren-Beiträge sind inhaltlich sachlich und kompetent - von einem Abschnitt und einigen Aussagen zum DDR-Fußball abgesehen. Die persönliche Verbundenheit der Autoren zum Fußballsport ist spür-bar und bedingt auch persönliche Schwerpunkte und Deutungen sowie einige Wiederholungen und unterschiedliche Nuancen in den
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Wertungen - was nicht unbedingt negativ zu bewerten ist, da es in-teressante Aspekte ins Buch bringt. Die Gliederung könnte über-sichtlicher sein.
Die Einleitung - überschrieben „Die Helden sterben, der Mythos lebt“ - stimmt den Leser auf die Problematik der WM von 1954 ein und berichtet über das Schicksal der deutschen Spieler, von denen nach dem Tode von Helmut Rahn bei Abschluß der Redaktionsar-beit nur noch drei Aktive am Leben waren. Der Autor der Einlei-tung, Volker Stahl, ist auch für den größten Textanteil verantwort-lich, insbesondere für übergreifende, politiknahe Themen - vom wahrscheinlich nachträglich angefügten Schlußkapitel abgesehen, für das Erik Eggers als Autor vermerkt ist. Einzelne Abschnitte, vor-rangig auf Spielberichte und die Vorstellung von Stadien und Athle-ten bezogen, stammen von Christian Jessen bzw. von Johann-Günther Schlüper
Nach der Einleitung wird das Gastgeberland als „Urlaubsparadies Schweiz“ und als „Fußballnation mit Tradition“ dargestellt. Der an-schließende lange Abschnitt „WM-Themen“ behandelt ausgewählte Einzelerscheinungen im Vorfeld der eigentlichen Wettkämpfe. Zum Beispiel: Die ungarische Wunderelf / Deutschland vs. 1. FC Saar-brücken (die Auswahl des Saarlandes, von der FIFA als selbstän-diger Landesverband anerkannt, von Helmut Schön trainiert, brach-te in den WM-Ausscheidungsspielen die bundesdeutsche Elf in Schwierigkeiten)... Im Abschnitt „Qualifikation“ werden alle Spiele beschrieben, die in einer von Mai 1953 bis April 1954 dauernden Ausscheidungsrunde in 13 Gruppen stattfand, deren Sieger das Endturnier in der Schweiz bestritten.
Der Abschnitt „Das Endturnier“ bildet ein Kernstück des Buches. Eingangs wird die von der FIFA mehrmals veränderte Entschei-dung über Ort und Jahr der ersten WM nach dem Kriege darge-stellt. Nach Impressionen aus mehreren Ländern im Vorfeld des Endturniers werden die Stadien beschrieben, in denen Spiele statt-finden sollen und schließlich wird der Modus des Endturniers erläu-tert, der in einigen Punkten umstritten war. So hatte das Torver-hältnis keinen Einfluß auf die Gruppenentscheidungen, so daß im Falle von Gleichstand ein zusätzliches Ausscheidungsspiel nötig wurde. Berichtet wird über alle Spiele, von der Vorrunde in vier Gruppen über Viertelfinale und Halbfinale bis zum großen Finale am 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion. Das Finale wird
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selbstverständlich sehr ausführlich beschrieben und analysiert, die günstigen Bedingungen für die deutsche Elf eingeschlossen (der Einsatz einer „zweiten Garnitur“ im Gruppenspiel gegen Ungarn, das 3:8 verloren wurde und die Ungarn so im unklaren über Auf-stellung und Stärke der ersten Garnitur ließ; Herbergers Entschei-dungen für verstärkte Deckung; das regnerische Wetter, das deut-schen Spielern wie Fritz Walter entgegenkam; die Verletzung von Ferenc Puskas, der im Gruppenspiel von Liebrich gefoult und dadurch 14 Tage „außer Gefecht“ gesetzt worden war). Das Spiel selbst wird fachgerecht und detailliert beschrieben. Nach einem ra-schen 2:0 für die Ungarn gelang das 2:2 durch Tore von Morlock und Rahn. Die zweite Halbzeit begann mit ungarischem Ballzauber ohne Torerfolg, dann wogte das Spiel hin und her. Turek im deut-schen Tor parierte „unhaltbare“ Bälle der ungarischen Ballkünstler, aber schließlich war es Rahn, der den regennassen Ball mit einem Gewaltschuß in der 84. Minute aus vierzehn Meter Entfernung ins Tor „drischt“. Sein Tor war der Siegtreffer, denn ein in der nächsten Spielminute erzielter Treffer von Puskas wurde wegen Abseitsstel-lung nicht anerkannt. Meinung eines Beobachters: „Die besseren Spieler haben die Ungarn, die bessere Mannschaft aber die Deut-schen“ (S. 82). Der Text des Abschnitts enthält schließlich Ein-schätzungen von ausgewählten Spielern sowie Stimmen zum Spiel. Danach werden die beiden Trainer und alle Spieler des Weltmeisters und des Vizeweltmeisters mit Bild, Lebensdaten und Sportkarriere vorgestellt.
Der Abschnitt „Deutschland“ hinterläßt einen zwiespältigen Ein-druck. Zuerst wird unter der Überschrift „Der Geist von Spiez“ aus-führlich und einfühlsam die Vorbereitung der bundesdeutschen Mannschaft beschrieben, die sich in ihrer letzten Phase in einem Hotel in Spiez am Thuner See vollzog. Dort habe das Motto: „Einer für alle - alle für einen“ gegolten, das vom Bundestrainer und sei-nen Helfern gezielt umgesetzt worden sei, wobei neben der Ge-samtatmosphäre und der geschickten Tagesgestaltung vor allem Herbergers gezielte Aktivitäten als „gewiefter Psychologe“ (S. 119) und seine Autorität gehörten - die Spieler seien ihm „wie gelehrsa-me Schulbuben“ eines „katholischen Landschulheimes“ (S. 122) gefolgt. Diesem schönen bunten Bild folgt, gewissermaßen als poli-tisches Kontrastprogramm, ein düsterer Abschnitt „DDR-Fußball im Schatten von Fritz Walter und Co“. Darin werden so obenhin all-
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gemeine Angaben zur ostdeutschen Fußballentwicklung von 1945-1976 notiert, vor allem aber Probleme (wirkliche und erfundene) beschworen und Behauptungen bezahlter Anti-DDR-“Ermittler“ wiedergegeben (S. 124) sowie „Einschätzungen“ aus „Stürmen für Deutschland“ (Frankfurt/Main 2003) zitiert (S. 124) - einem Buch, das wegen Plagiats und Oberflächlichkeit vor kurzem als „dumm-dreist“ bezeichnet wurde (SportZeiten, Göttingen 2003/3, S. 116). Die Stellungnahme einer örtlichen DDR-Fußballmannschaft gegen die westdeutsche „Legende vom unpolitischen Sport“ wird mit der Behauptung in Frage gestellt, es gäbe schließlich ein Bild, das „die DDR-Auswahl in militärischem Gleichschritt marschierend und so-zialistische Kampflieder singend“ zeige (S. 124). Mit Ausnahme ei-nes Interviews mit Wolfgang Hempel, der als Reporter in Bern weil-te und sachkundig über seine Erfahrungen berichtet, gehört der ganze Abschnitt, allein vom Thema her, nicht in dieses Buch, zu-mal die Frage, die dazu gehören würde, warum die DDR-Mannschaft nicht an Ausscheidungsspielen zu den WM teilnahm, weder gestellt noch beantwortet wird. Der Autor hätte erklären müssen, wieso die Sektion Fußball der DDR erst 1952 von der FIFA anerkannt wurde, zu einem Zeitpunkt, da bereits die Ent-scheidungen über den WM-Modus gefallen waren. Bei der mehr-mals verzögerten Aufnahme des DDR-Verbandes war DFB-Präsident Peco Bauwens aktiv gewesen, der als NOK-Vizepräsident alle Intrigen mittrug, mit denen die internationale An-erkennung des DDR-Sports verhindert werden sollte, während die Anerkennung eines „Nationalen Olympischen Komitees des Saar-landes“ akzeptiert wurde.
Den inhaltlichen Abschluß des Bandes bildet ein großer Abschnitt (S. 129-152) mit der Überschrift das „Wunder von Bern“. Dieser Abschnitt greift Fragen auf, die in der Einleitung und in verschiede-nen Abschnitten bereits angesprochen wurden, sein Umfang ent-spricht annähernd den Mehrseiten, die dieser Band gegenüber an-deren der Reihe aufweist. Außerdem sind diesem Abschnitt erfreu-licherweise Literaturbelege für die reichlich enthaltenen Zitate bei-gefügt, die man in allen anderen Buchteilen ansonsten fast ganz vermißt. Der Autor dieses Abschnittes, Erik Eggers, behandelt sein Thematik unter den Überschriften „Geschichte und Gegenwart“, „Das Wunder von Bern in Radio und Fernsehen“ und „Kurzporträt“ (von Peco Bauwens). Der Text trägt den Stempel ernsthafter Re-
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cherche und Literaturauswertung, allerdings ist keine einzige Origi-nalquelle aus der DDR herangezogen worden, obwohl über die DDR geurteilt wird. Der Autor behandelt die zeitgenössischen Re-aktionen ebenso wie spätere Bewertungen des WM-Sieges der DFB-Mannschaft und die daran geknüpften Mythen. Dabei erfaßt er die Bandbreite der Reaktionen, die von den faschistoiden Aus-lassungen des DFB-Präsidenten, über die verschiedenen Facetten der Berichterstattung bis hin zur grundsätzlichen Kritik an der politi-schen Nutzung eines sportlichen Sieges reichen. Er kommt zur Folgerung, daß der Sieg in Bern und seine Behandlung in der Öf-fentlichkeit ein bedeutendes Ereignis für die Bundesrepublik war und noch ist, auch wenn manche damalige wie heutige politische Zuspitzung subjektiven Entwicklungen und persönlichen Positionen entsprochen habe oder entspreche. Und wirklich ist die Spannweite der angezogenen Reaktionen ganz breit und enthält auch wider-sprüchliche Aussagen, den jeweiligen Personen und der Zeit ge-schuldet. Insoweit ist dem Autor zuzustimmen. Freilich wäre auch zu fragen, ob die Wiedergabe damaliger Äußerungen von Peco Bauwens in dessen sogenannter „Sieg-Heil-Rede“ vom Beistand des germanischen Donnergott (Wotan) und dem Sieg des „Führer-prinzips“ bei der Siegesfeier in München oder die Formulierungen vom „Endsieg“ des Rundfunksprechers Zimmermann mit Hinweis auf deren Vergangenheit als NSRL-Funktionär bzw. als Kriegsbe-richterstatter relativiert werden dürfen. Und auch die Tatsache, daß beim Abspielen des Deutschlandliedes nach dem Spiel im Berner Stadion die erste Strophe des Textes „Deutschland, Deutschland über alles in der Welt ... von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ damit zu entschuldigen, daß die deutschen Zuschauer nicht gewußt hätten, daß die erste Strophe nicht mehr gesungen werden sollte, bleibt zu weit an der Oberfläche, zumal im gleichen Atemzuge die Kritik von DDR-Journalisten an solchen Er-scheinungen in Bausch und Bogen als „publizistisches Nachtreten“ abgetan wird (S. 137). Die wirkliche Berichterstattung in der DDR-Presse, die den sportlichen Leistungen der DFB-Mannschaft hohe Anerkennung zollte - beispielsweise „Deutsches Sportecho“ vom 5. Juli 1954 und in zwei darauf folgenden Ausgaben -, wird übergan-gen.
Eggers zitiert mehrere Zeitzeugen, die von großer Begeisterung über das Berner Ergebnis in der DDR berichten. Diese Berichte
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entsprechen der Wahrheit. Die Realität wird aber verzerrt abgebil-det, wenn suggeriert wird, daß damit zugleich die Ablehnung der Politik und Sportpolitik der DDR verbunden gewesen sei. Die WM-Reaktion in der DDR war genauso wenig uniformiert wie die in der BRD, wenn auch anders; sie war vielgestaltig und widersprüchlich. Deshalb seien einige Ergänzungen angefügt: Ein Zeitzeuge erin-nert sich, daß er als Bergarbeiterlehrling zum Tag des Bergmanns am 4. Juli 1954 an Veranstaltungen in Erfurt teilnahm, bei denen dem Ministerpräsidenten Otto Grotewohl begeistert Beifall gezollt wurde und später von den gleichen Teilnehmern mit dem aus dem Radio übernommenen Ruf des westdeutschen Reporters: „Wir sind Weltmeister!“ der Sieg der westdeutschen Mannschaft gefeiert und begossen wurde. Für die meisten der Teilnehmer war das Mitte 1954 offensichtlich kein Widerspruch. Natürlich war Otto Grotewohl bei vielen Bürgern beliebter als Walter Ulbricht, der von Eggers auf Seite 137 an Fritz Walters Beliebtheit gemessen wird - nicht an der Adenauers, was vielleicht noch einen Sinn geben würde. Aber 1954 waren nach den Unruhen vom 17. Juni 1953 im Zuge des „neuen Kurses“ viele Probleme im Sinne der Bevölkerung gelöst worden, so daß der Beifall der Bergarbeiter für Otto Grotewohl ei-nen sehr realen Hintergrund hatte und nicht nur der Person, son-dern ebenso der Regierungspolitik galt. Andererseits war 1954 die Losung „Deutsche an einen Tisch“ populär, auch und nicht zuletzt im Sport. So war beispielsweise mit Befriedigung aufgenommen wor-den, daß der Vorsitzende des „Komitees für Einheit und Freiheit im deutschen Sport“, Manfred von Brauchitsch, nach mehrmonatiger Haft im März endlich das Gefängnis Stadelheim verlassen konnte. Auch fanden trotz einer gegenteiligen DSB-Richtlinie gesamtdeut-sche Meisterschaften in mehreren Sportarten statt - am Tage des WM-Endspiels waren es in Bad Kreuznach die im Gewichtheben. So war der Gedanke der deutschen Einheit in der DDR nicht nur ge-fühlsmäßig, sondern auch als Postulat der Politik und vor allem auch der Sportpolitik selbstverständlich. Noch war der von Adenauer an-gestrebte Eintritt der Bundesrepublik in die NATO, mit dem dann 1955 eine neue Situation gefährlicher Konfrontation herbeigeführt wurde, nicht vollzogen.
Am Rande sei noch vermerkt: viele Mitglieder der DDR-Sportbewegung hegten für Ungarn besondere Sympathien, die sich seit 1949 entwickelt hatten, als die mehr als hundertköpfige, erste
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große Auslandsdelegation der Demokratischen Sportbewegung bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Budapest (infol-ge der Einflußnahme westdeutscher Funktionäre in den internatio-nalen Sportverbänden) bei offiziellen Wettkämpfen nicht starten durften, aber dennoch reichlich Wettkampfgelegenheiten erhielt, da ungarische Leistungssportler (darunter mehrere starke Fußball-mannschaften) aus Solidarität in Auswahlmannschaften der Ge-werkschaften antraten. Die Reaktionen auf die Fußball-WM und insbesondere auf das Endspiel waren auch deshalb in der DDR durchaus abgestuft und lassen sich nicht in das polarisierende Schema „Fritz Walter oder Walter Ulbricht“ einzwängen.
Wie oben angedeutet, relativiert Eggers einige der zugespitzten po-litischen Reaktionen auf das „Wunder von Bern“. An der DHfK in Leipzig dagegen fanden neben den sportlichen Geschehnissen solche zugespitzten politischen Wertungen große Beachtung. Ein Assistent, der sich mit einer Dissertation zum Thema „Sport und Politik im 20. Jahrhundert“ befaßte und zu diesem Zweck west-deutsche Pressestimmen auswertete, fand eine Fülle von Aussa-gen zur Fußball-WM von 1954, darunter solche, die erschreckende Aussagen enthielten. Zwei Beispiele aus dieser Arbeit, die bei Eg-gers nicht erwähnt werden, seien angeführt:
Im Zentralorgan des Bundes der katholischen Jugend „Wacht“, Jg. 1954, Heft 14 war unter der Überschrift „Das große Spiel / Das Nachspiel war weniger groß“ zu lesen: „Wäre es bei der ersten Strophe des Deutschlandliedes, die peinlicherweise vor den Ohren und Augen der Welt im Berner Stadion geschmettert wurde, ge-blieben: man hätte - auch jenseits der Grenzen - vielleicht noch ein Auge zugedrückt. Leider hat sie unverzüglich jene kernigen Deut-schen auf den Plan gerufen, die sich schon lange auf eine Gele-genheit gefreut hatten, den verlorenen Krieg auszubügeln und recht saftige Ohrfeigen auszuteilen. Und leider ließen sich nicht nur die kleinen Geister dazu verleiten auf die deutsche Pauke zu schlagen und den Sieg der elf Spieler mit politischen Revanche-trompeten zu begleiten. Das Ausland hatte ausgiebige Gelegen-heit, Merkzeichen für ‟Deutschlands Erwachen‟ zu notieren. Vor norddeutschen Fernsehapparaten wurde ‟Deutschland, Deutsch-land über alles‟ samt dem dazugehörigen ‟Die Fahne hoch‟ gesun-gen.“
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In der „Passauer Neue Presse“ war am 8.7.1954 unter der Über-schrift „Ein Spiel als Beispiel“ zu lesen: „Unsere Fußballer haben sich nicht von der Propaganda beeinflussen lassen, die schon seit Wochen mit den ‟unbesiegbaren Ungarn‟ getrieben wurde. Gilt nicht dasselbe für die große Politik? Seit Jahr und Tag hören wir, von interessierten Kreisen planmäßig ausgestreut, alle möglichen Geschichten über die phantastische Stärke der Roten Armee, über die beispiellose Rüstung Rußlands, über die gewaltige U-Boot-Flotte, die Moskau besitzt, kurz über die Unüberwindlichkeit der sowjetischen Militärmacht. Die psychologischen Auswirkungen lie-gen auf der Hand. Sie lassen jene Magie entstehen, der man leicht verfallen kann, wenn man nicht das genügende Selbstvertrauen, nicht den hinreichenden Glauben an die eigene Kraft und den ei-genen Willen zum Sieg hat...“ Solche Stimmen wurden in dieser Zeit auch in den Leitungsgremien des DDR-Sports aufmerksam verfolgt und galten als Beleg für revanchistische, nationalistische Ideologie und Politik, in die führende westdeutsche Sportführer fest eingebunden waren. Sie wurden von den verantwortlichen Sportfunktionären der DDR zugleich als Bestätigung eigener Er-fahrungen empfunden, hatten sie doch als erbitterten und beleidi-gend argumentierenden Gegner einer gleichberechtigten DDR-Teilnahme an Olympischen Spielen den Präsidenten des bundes-deutschen NOK, Dr. Karl Ritter von Halt, kennengelernt - letzter Reichssportführer Hitlers und Mitglied des Freundeskreises „Reichsführer SS Heinrich Himmler“ -, der just im zeitlichen Um-feld der Fußball-WM den Diskuswurfmeister und Sportjournalisten Gustav Marktanner vom Rechtsausschuß des Leichtathletikver-bandes disqualifizieren ließ, weil dieser mit Hilfe einer Broschüre die faschistische und rassistische Politik dokumentiert hatte, die von Halt unter Hitler praktizierte.
Eingebettet in andere Analysen, zum Beispiel über das Aufblühen Dutzender Organisationen, die der Wiederherstellung des Deut-schen Reiches in den Grenzen von 1937 das Wort redeten, erhiel-ten solche Aussagen wie die der zitierten Zeitung großes Gewicht als Beleg für eine gefährliche Politik. Eine praktische Folgerung war, daß an der DHfK in Leipzig die Analyse der bundesdeutschen Sportideologie forciert wurde, um die in der BRD offiziell vertretene Theorie vom unpolitischen Sport als das anzuprangern, was sie war: die „größte Zwecklüge der modernen Sportgeschichte“ - wie
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auf einer wissenschaftlichen Konferenz in Leipzig später einmal formuliert wurde. Neben der das Buch prägenden interessanten und vielschichtigen Darstellung der Fußball-WM von 1954 spiegelt sich zugleich die politische Funktion des Sports ebenso klar wie-der, wie es bezüglich der DDR-Problematik erkennen läßt, daß der politische Auftrag zur Delegitimierung der DDR, der von einigen „Spezialisten“ auch im Sport seit Jahren mit Eifer erfüllt wird, selbst in der sportgeschichtlichen Spezialliteratur Schaden anrichtet und zumindest Spuren hinterläßt, die inhaltlich wie methodisch den Kri-terien moderner Geschichtswissenschaft nicht gerecht werden.
Christian Jessen/Volker Stahl/Erik Eggers/Johann-Günther Schlüper: Fuß-ballweltmeisterschaft 1954 (Agon WM-Geschichte Band 5). Agon-Sportverlag, Kassel 2003, 160 S., ca. 100 s/w Fotos.
Günter Wonneberger
Sport – meine große Liebe
Das unscheinbare 104-Seiten Büchlein, in dem Hasso Hettrich über 55 Jahre ehrenamtlicher Tätigkeit als Vorsitzender einer Sportgemeinschaft, einer Betriebssportgemeinschaft und später ei-nes eingetragenen Vereins berichtet, ist - ohne zu übertreiben - einzigartig. Denn hier hat ein Insider - wie man heute sagen würde - seine Erfahrungen im Breitensport zusammengefaßt und natürlich verglichen, höchst sachlich und vor allem kompetent, ohne vor-schnell zu urteilen oder gar zu verurteilen, aber immer wieder auf offene Fragen verweisend und Fragen stellend, die von den heuti-gen Aufarbeitern der Sportgeschichte der DDR nicht nur übergan-gen, sondern gar nicht gesehen werden.
Der Autor konzentriert sich dabei auf seine Erfahrungen beim Auf-bau einer Sportgemeinschaft in Sachsen-Anhalt unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, seine Tätigkeit als ehrenamtli-cher Vorsitzender der Betriebssportgemeinschaft des Wohnungs-baukombinats (WBK) Berlin und die, die er ab 1990 im Sportverein „Bau-Union Berlin“ machen konnte, deren Ehrenvorsitzender er heute noch ist. Einzigartig ist: Es berichtet ein zeitlebens ehrenamt-lich Tätiger, der Breitensport in der DDR organisiert hat - den es angeblich gar nicht gegeben haben soll - und es berichtet einer, der „seinen“ Verein gemeinsam mit dem gesamten „Kollektiv“ der Ehrenamtlichen gewissermaßen sicher in das neue Fahrwasser
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nach 1990 manövriert hat und vor allem auch die Existenzgrundla-gen sportlicher Tätigkeit weitgehend sichern konnte. Wenngleich auch das nicht ohne gravierende Verluste möglich war.
So interessant der Bericht von Hasso Hettrich über den schweren Anfang oder über den Sport der Berliner Bauarbeiter auch heute noch ist, so aufschlußreich sind die geschilderten Erfahrungen seit 1990, zum Beispiel der „Run“ auf die Sportstätten, die Liegenschaf-ten und Immobilien, oder die Sportboote und Pferde der einstigen Bauarbeiter-BSG, und natürlich die Erfahrungen über die vielfälti-gen Hürden, die zu nehmen waren, um überhaupt weiter Sport treiben zu können und später aus der Schuldenfalle beim Finanz-amt, in die der Verein unversehens und offenbar ohne eigenes Zu-tun geraten war, wieder herauszukommen. Insbesondere dafür, dieses lehrreiche Kapitel des Transformationsprozesses als einer der ersten offen gelegt zu haben, sei dem Autor gedankt.
Hasso Hettrich: Sport – meine große Liebe. In Zusammenarbeit mit SPOTLESS-Verlag, Berlin 2004, 104 S.
Rainer Rau
Gipfelbücher & Bergsprüche
Teil 1 des Buches (S. 5-102 von J. Schindler) geht von der Frage aus, ob „Gipfelbücher - geachtet oder missachtet” wurden und be-antwortet sie mit der Feststellung, daß sich im Für und Wider zu den Gipfelbüchern und den in ihnen enthaltenen Eintragungen die Geschichte des Bergsteigens widerspiegelt, ja, daß die Bücher selbst ein Teil dieser Geschichte sind. Der Beweis dafür wird mit einer großen Zahl historischer Aussagen und Dokumente erbracht. Dabei wird der Bogen weit gespannt: Zeitbezogen von 1866 bis 1990, räumlich von der Sächsischen Schweiz bis zu den Alpen, ob-jektbezogen von Fremden-, Hütten- und Boofenbüchern bis zu Gip-felzeichen und den eigentlichen Gipfelbüchern in Metallkassetten auf den Klettergipfeln, subjektbezogen von Befürwortern der Gip-felbücher bis zu deren Ablehnern, ja Gegnern, die Bücher und Zei-chen von den Gipfeln holten. Dieser weite Blick ermöglichte es dem Autor, auf die Wurzeln widersprüchlicher Positionen zu ver-weisen, die sowohl mit persönlichen Auffassungen als auch mit ganz allgemeinen jeweiligen Zeitströmungen in Verbindung stan-den, die das Verhalten zur Natur und zu deren Schutz unterschied-
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lich definierten. Die politische Aussage mancher Eintragung er-schien zu gegebener Zeit so brisant, daß sie zuständige Dienststel-len beschäftigte: nach 1933 gegen „Verschandelungen” durch „Rot-Sport-Eintragungen” und nach 1945 gegen antisowjetische und staatsfeindliche „Schmierereien”. ( S. 26 f und S. 53 f)
Der Teil 2 (S. 103-206) enthält eine Auswahl der von G. Uhlig in jahrelanger Arbeit gesammelten Gipfelbucheintragungen und über-lieferten Bergsprüche. Er konnte sich dabei nicht zuletzt auf das Gipfelbucharchiv stützen, das seit etwa 1912 innerhalb der jeweili-gen Sportstrukturen besteht. Die vom Autor ausgewählten Eintra-gungen betreffen zur Hälfte allgemeine Aussagen, die „von A bis Z” geordnet sind. Die anderen sind nach Themen sortiert; hier eine Auswahl in Stichworten: Freiheit, Antikes, Wendezeiten, Seil, Alko-hol, DDR, Frauen, Klassiker, Umwelt, Angst. Im Vordergrund der Auswahl stehen persönliche Positionen zum Klettern, zur Natur, zum Leben, nicht selten auch mit einem klassischen Zitat aus-gedrückt. Beide Teile des Buches schließen mit Quellenverzeichnis und Literatur ab. Alles in allem: Das Buch ist mehr als Bergsteiger-geschichte. Es ist allgemeine Geschichte im Spiegel von Menschen verschiedenster Herkunft und Gesinnung, die der Natur und den Ber-gen verbunden waren - geschichtliche Dokumentation im Sinne wirkli-cher Alltagsgeschichte.
Uhlig, Gerd/Schindler, Joachim: Gipfelbücher & Bergsprüche. 1. Auflage, Dresden 2003, 208 Seiten, illustriert (Eigenverlag)
Günther Wonneberger
Fußball und Triathlon
Der Satiriker Georg Lichtenberg (1742-1799) formulierte die Frage: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?“ Die Frage wird aktuell bei der Be-urteilung des Titels „Fußball und Triathlon“ von Giselher Spitzer. Dabei verheißt das Buch, von außen betrachtet, einiges: Ein Rei-henlogo „Sportentwicklungen in Deutschland“, dazu der verhei-ßungsvolle Titel und als Untertitel „Sportentwicklung in der DDR“. Aber: Trotz seiner 208 Seiten klingt auch das Buch unüberhörbar hohl. Die Aufzählung von einigen hundert Namen, von denen der Autor versichert, sie seien „IM“ gewesen, gibt gemeinhin wenig Aufschluß über die Entwicklung des Fußballs in der DDR. Es wäre
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ein Sisyphusvorhaben, dem Autor, von dem man sich erzählt, daß er in den Jahren des Kalten Krieges bei einem „Kampfsender“ der Bundeswehr tätig war und NVA-Soldaten zum Überlaufen bewegen sollte, seine Achtel-, Viertel-, Halbwahrheiten und die kompletten Lügen nachzuweisen. Ein einziges Beispiel illustriert seine Praxis hinreichend. Siehe Seite 21: „Als erster ‟DDR-Meister‟ 1949/50 ließ sich dann die Zentralsportgemeinschaft ‚Horch‟ Zwickau in die Anna-len eintragen, übrigens aus einer Fusion mit dem ‟Ostzonenmeister‟ von 1948 entstanden.“ Diese Sätze sind mit der Fußnote „19“ mar-kiert. Deren Wortlaut: „Wegen eines falschen Spielergebnisses (ent-standen durch Textverkürzung) wurden in der Jungen Welt vom 11.6.2001 sämtliche Überlegungen des Verfassers zum Fußball verworfen.“ Der Hintergrund dieser sybillinischen Botschaft: Spitzer hatte im Verlauf der DSV-Jahrestagung der Sporthistoriker 2001 in Potsdam sein Wissen über den DDR-Fußball in einem Vortrag dar-gelegt und dabei als Partner des durch den Tabellenstand zum Fi-nalspiel mutierten Dresdner Punktspiels Dresden-Friedrichstadt und Union Halle genannt. Der Autor dieser Zeilen hatte daraufhin eine entsprechende Frage an ihn gerichtet und nach hilflosem Blättern in seinem Manuskript hatte Spitzer eingeräumt, daß keine Hallenser Mannschaft beteiligt gewesen war und danach das Vortragspult ver-lassen. Die „junge Welt“ hatte die fatale Oberflächlichkeit des Privat-dozenten Spitzer amüsiert moniert: „Mancher Fan hätte ihm für ein paar Bier Nachhilfeunterricht in Sachen DDR-Fußballgeschichte ge-ben können.“ Daraus ein Verwerfen „sämtlicher Überlegungen des Verfassers zum Fußball“ abzuleiten ist schon deshalb gewagt, weil Spitzer weder in jenem Vortrag noch in seinem Buch „Überlegun-gen“ präsentiert hat.
Spitzer; G.: Fußball und Triathlon. Aachen 2004, (Gefördert durch die Alfried-von-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung)
Klaus Huhn
Chronik des Versehrtensports der DDR
Nachdem der Autor 2001 bereits eine „Zeittafel - Versehrtensport der DDR 1945-1990“ vorgelegt hatte, erschien 2003 eine „CHRONIK...“, die sich - wie die „Zeittafel...“ - auf den organisierten Sport konzentriert, die zunächst kommunalen Sportgruppen, den Weg zur Zentralen Sektion Versehrtensport im Deutschen Sport-
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ausschuß (DS) bis zum Deutschen Versehrtensportverband (DVfV) im Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) und das Wirken der Zentralen Sektion mit Verbandsstatus, später des DVfV, seit der Gründung am 7. Juli 1953, national und international. Selbstver-ständlich wurde die „CHRONIK...“ um bisher nicht genannte Ereig-nisse und Entwicklungen erweitert, zum Beispiel um den gemein-sam von Ministerium für Volksbildung, den Fachverbänden und dem Verband für Versehrtensport organisierten Sport behinderter Berufsschüler durch Ereignisse von 1958 und 1959, motorsportli-che Aktivitäten Behinderter (1968) oder um die Internationalen Spiele der Behinderten 1984 in New York und die dort erreichten Ergebnisse von DDR-Athleten, die sowohl 1984 als auch noch 2000 bei den Paralympics in Sydney erfolgreich an den Start gin-gen. Andere Ereignisse wurden vor allem ergänzt, um die Intentio-nen all derer nachzuzeichnen, die „sportpraktische und theoreti-sche Wegbereiter“ (S. 1) des Versehrtensports in der Ostzone und der DDR bis 1990 waren, und um möglichst viele zu würdigen, in-dem die Namen genannt und Leistungen dokumentiert werden. Selbstverständlich ist sich der Autor all dessen bewußt, was noch offen bleibt und bleiben mußte, zum Beispiel die Geschichte des Sports jener Behinderten, die anderen Sportverbänden angehör-ten, dem Deutschen Angler-Verband (DAV), dem Bogenschützen-Verband (DBSV), dem Motorsportverband (ADMV), dem Schach-verband (DSV) oder Sportverbänden in der Gesellschaft für Sport und Technik.
Diese „CHRONIK...“ ist wiederum in privater Initiative entstanden und der inzwischen nicht mehr zu ignorierenden „alternativen histo-rischen Kultur im Osten Deutschlands“ (Stefan Berger) zuzuord-nen. Auch deshalb ist der „CHRONIK...“ eine weite Verbreitung zu wünschen, da sie Ereignisse bewahren und Sachverhalte aufklären hilft, die in der etablierten Sportgeschichte wohl eher als weniger beachtenswert gelten.
Hermann Dörwald: CHRONIK des Versehrtensports der DDR. Dresden 2003, 198 S. Bestelladresse: Dörwald, Uhdestr. 2, 01219 Dresden
Annemarie Weigt
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LESERPOST
ZUSCHRIFT
Diese Rubrik ist neu. Besondere Umstände veranlassten uns dazu, sie einzuführen. Zu einem Beitrag im vorigen Heft war ein Leserbrief mit der Forderung eingegangen, ihn der Öffent-lichkeit kundzutun. Wir respektierten den Wunsch.
Herrn Dr. Horst Forchel
c/o Spotless-Verlag...
betrifft: Beiträge zur Sportgeschichte, Nr. 17, S. 13-18
Lieber Horst,
ich finde es großartig, daß Du das Buch von Gretel Bergmann „Ich war die große jüdische Hoffnung“ entdeckt und gewürdigt hast. Al-lerdings wäre es noch besser gewesen, wenn Du Dich diesem Thema schon zu einer Zeit gewidmet hättest, als Du noch beim FKS (Der Briefschreiber ging vermutlich davon aus, dass jeder Le-ser wisse, dass es sich bei dieser Abkürzung um das Forschungs-institut für Körperkultur und Sport der DDR handelt. A.d.R.) ange-stellt warst.
Indes ist mir auch keine Veröffentlichung Deines ehemaligen Insti-tuts mit seinen vielen Mitarbeitern bekannt, in der die Problematik „Juden und Sport“ behandelt worden wäre. Falls ich eine Publikati-on übersehen haben sollte, bitte ich um die Angabe des Titels so-wie um Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung.
Warum das so war, weiß ich genauso gut wie Du. Ich könnte stun-denlang darüber erzählen, welche Schwierigkeit es für mich bedeu-tet hat, die ermordeten jüdischen Turn-Olympiasieger von 1896, Alfred und Felix Flatow, bei der Auszeichnungsveranstaltung der „DDR-Sportler des Jahres“ 1986 ehren zu wollen und die Idee durchzusetzen, den Turnverband einen „Flatow-Pokal“ stiften zu lassen. Heute gibt es in Berlin eine Turnhalle und eine Allee, die nach den beiden heißt.
Warum die lange Vorrede?
Ich empfinde es als ziemliche Frechheit, daß Du in der Ausgabe Nr. 17 der „Beiträge zur Sportgeschichte“ behauptest, „das Deut-sche NOK nahm vom Erscheinen des Buches Kenntnis und kom-mentierte es in seinem monatlichen ‚Report„, monierte aber, dass die Bergmann versäumt habe, einen ‚kenntnisreichen Historiker„ zu Rate zu ziehen.“
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Ich möchte Dich darauf hinweisen, daß sich in jedem „NOK-Report“ - in der Ausgabe Nr. 9/2003 auf S. 19 - folgender Hinweis befindet: „Mit Namen oder Initialen gekennzeichnete Beiträge dokumentie-ren die persönliche Meinung.“ Da dieser Beitrag mit „V.K.“ gekenn-zeichnet ist, das den Lesern und damit auch Dir als mein Kürzel bekannt sein dürfte, richte ich an Dich die Frage, was Dich zu der Annahme berechtigt, ich (V.K.) wäre mit dem NOK für Deutschland identisch?
Da Du außerdem meine Kritik an Gretel Bergmanns Ansicht, die US-Mannschaft hätte am 15. Juli 1936 ihre Reise nach Deutsch-land auf der „Manhattan“ nicht angetreten, wenn diese von der Nichtnominierung „der Bergmann“ (das ist Deine Formulierung und nicht etwa meine!) informiert worden wäre, in Zweifel ziehst, bitte ich Dich um sachliche Hinweise, auf welche Quellen sich Deine Behauptungen stützen. Andernfalls müßte ich Deine Schlußfolge-rung „Das darf man doch wohl bedenklich nennen“ als Gewäsch bezeichnen.
Im übrigen darf ich Dich davon informieren, daß Margret Lambert (Bergmann) meine Kritik akzeptiert hat. Wir haben uns bei einem gemeinsamen Essen mit Elfriede Rahn-Kaun (Olympia-Dritte im Hochsprung) am 24. September 2003 im Berliner „Inter-Continental“ ausführlich über diese und andere Fragen unterhalten. Sicherlich mit beiderseitigem Gewinn. Siehe auch „NOK-Report“, Nr. 10, S. 18/19.
Du wirst mir hoffentlich den Hinweis, daß ohne mich dieses Zu-sammentreffen nicht zustande gekommen wäre, nicht als Unbe-scheidenheit auslegen.
Ich sehe Deiner Anwort auf meine Fragen mit Interesse entgegen und würde mich noch mehr freuen, wenn Du meinen Brief und Dei-ne Reaktion darauf in der nächsten Ausgabe der „Beiträge“ veröf-fentlichen würdest, um nicht auch noch den Eindruck von Joachim Fiebelkorn zu verstärken, daß die in den „Beiträgen“ „enthaltenen Dialogangebote“ (S. 30) nicht ernst genommen würden.
Mit freundlichen Grüßen
Unterschrift (Volker Kluge)
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ANTWORT
Herrn Volker Kluge...
Lieber Volker,
Dein Brief an mich enthielt eine Liste von Fragen, Bemerkungen und Vorwürfen, zuweilen in argen Tönen formuliert. Vielleicht wird es übersichtlicher, wenn ich meine Antworten nummeriere.
1. Ich hätte mich vor der Abwicklung des FKS (1990) schwerlich dem Thema eines Buches zuwenden können, das 2003 erschienen ist.
Ich habe mich allerdings bereits lange vor meiner Tätigkeit am FKS als Mitarbeiter im Bundesvorstand des DTSB auch mit dem Schicksal jüdischer Sportler in Nazi-Deutschland beschäftigt. Zum Beispiel 1972: Bekanntlich wohnte die Olympiamannschaft der DDR in München im Helene-Meyer-Ring des Olympischen Dorfes. Über das Schicksal der Fechtolympiasiegerin von 1936 und der damit verbundenen Demagogie der Nazi-Sportführung sind durch unseren Bereich im Bundesvorstand des DTSB die Athletinnen und Athleten in allen Trainingslagern der verschiedenen Mannschafts-teile informiert worden.
2. Ein beim FKS erschienener Titel zum Thema „Juden und Sport“ ist mir nicht bekannt. Das FKS fungierte aber auch nicht als Her-ausgeber von Büchern mit historischen Themen.
3. Wenn Du weißt, warum das so war, dann weißt Du mehr als ich, was niemanden überraschen wird.
4. Ich persönlich habe Dein Bemühen um die Würdigung der Fla-tow-Brüder immer bewundert.
Aber - und das muß man auch sagen - es kann nicht unterstellt werden, daß die Sporthistoriker der DDR Verdienste und Schicksal der Flatow-Brüder und vieler anderer ignoriert und verschwiegen hätten. Das belegen generell die Ausführungen zum „Aufkommen der Olympischen Spiele der Neuzeit“ (Geschichte der Körperkultur in Deutschland 1789-1917. Berlin 1965, S. 252 ff und Fußnote 81, S. 384) und zum Thema „Das faschistische Sportprogramm“ (Ge-schichte der Körperkultur in Deutschland 1917-1945. Berlin 1969, S. 214 ff) und speziell die Kapitel „Strafen für Olympiasieger“ (S. 61 ff) und zum Turnen „bei den Olympischen Spielen in Berlin“ 1936 (S. 107 f) in der Schrift von Wolfgang Pahncke „Gerätturnen einst und jetzt“ (Berlin 1983). Dort heißt es auf Seite 108: „In jenen Ta-gen, da die deutschen Turner mit dem Zeichen des Hakenkreuzes
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auf dem Turnhemd ihre Siege feierten, die zugleich als II. Welt-meisterschaften galten, mußten die deutschen Olympiasieger von 1896 im Turnen, die Brüder Alfred und Felix-Gustav Flatow, heim-lich, bei Nacht und Nebel, über die deutsche Reichsgrenze fliehen. Sie verließen Deutschland, weil sie jüdischer Abstammung waren und auf der schwarzen Liste der Gestapo standen. Diese Behand-lung deutscher Olympioniken jüdischer Abstammung zeigt das wahre Gesicht der Olympischen Spiele im NS-Staat.“
5. Was Du als Frechheit empfindest ist logischerweise allein Deine Angelegenheit.
6. Dein Hinweis, daß das Kürzel „V.K.“ „von den Lesern und damit auch von Dir als mein Kürzel bekannt sein dürfte“, ist irrig. Kürzel bieten bekanntlich zahllose Möglichkeiten der Namensdeutung. Ist es Beamtenbeleidigung Dein Kürzel nicht zu kennen?
7. Du stellst mir die Frage, was mich zu der Annahme berechtigt, Du wärst mit dem NOK für Deutschland identisch. Ich antworte: Nichts. Es war vielleicht allzu simpel, zu vermuten, daß das NOK in seinem „Report“ ungeachtet des Hinweises auf Seite 19 keine Mei-nungen publiziert, die sich extrem von der Haltung des NOK unter-scheiden.
8. Es steht Dir frei, meine Ausführungen als „Gewäsch“ zu deklarie-ren. Und es steht mir frei, meine Ansicht zu publizieren, nachdem ich das Buch von Frau Bergmann gelesen habe.
9. Ich gratuliere Dir dazu, daß Frau Bergmann Deine Kritik an ihr akzeptiert hat, und erlaube mir dazu - als Fußnote - die Vermutung, daß diese „Klarstellung“ im Hinblick auf ihr Schicksal nicht sonder-lich schwer ins Gewicht fällt.
10. Ich würde Dir nichts als Unbescheidenheit auslegen. Man kennt sich...
11. Es ist ungewöhnlich, jemanden einen Brief zu schreiben und den Ad-ressaten aufzufordern, diesen Brief in einer Zeitschrift zu publizie-ren. In der Regel gelten solche Briefe als Leserpost und es bleibt dem jeweiligen Herausgeber überlassen, ob er sie publiziert oder Wert auf eine sachliche Auseinandersetzung - ohne weitere Veröf-fentlichung - legt.
Ich kann auch nicht sagen, daß ich durch Deinen Brief klüger ge-worden wäre. Aber das zu bekennen, dürfte mir neuen Ärger ein-tragen.
Hochachtungsvoll
Unterschrift (Horst Forchel)
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GEDENKEN
Hans Weckel
(30. August 1926 – 24. Dezember 2003)
An einem der letzten Tage des vergangenen Jahres verstarb wäh-rend eines Skiurlaubs Dr. paed. Hans Weckel, der in Thüringen und insbesondere in Jena nachhaltig im Sport und für die Sport-wissenschaft gewirkt hat. In Mohrungen/Ostpreußen geboren, er-lebte der vielseitige Athlet die Kämpfe des Zweiten Weltkrieges 1944/1945 als Soldat in Westpreußen und später im Harz, wo er in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet. Er wurde an Frank-reich ausgeliefert, wo er als Waldarbeiter in die Vogesen kam. Hier gelang ihm ein Fluchtversuch zu seinen in Hasselfelde lebenden Eltern. Von 1947 bis 1948 nahm er an einem Neulehrerkurs in Köthen teil und legte 1950 die erste Lehrerprüfung ab. Damit hatte er auch die Qualifikation erlangt, ein Hochschulstudium aufzuneh-men, das er 1954 am Institut für Körpererziehung der Universität Halle mit dem Staatsexamen beendete. Danach war er am Institut für Körpererziehung in Jena in der Sportlehrerausbildung tätig, im Wasserfahrsport, im Skisport und ab 1955 vor allem im Schwimm-sport. Insbesondere mit dem Beginn seiner Arbeiten zur Dissertati-on über das Schulschwimmen (1962) konzentrierte sich Hans We-ckel auf die Lehrtätigkeit im Schwimmen, für die er von 1972 bis 1991 an der Sektion Sportwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena verantwortlich zeichnete..
Im Deutschen Schwimmsport-Verband der DDR (DSSV) war er seit 1963 als Kampfrichter, in der Kampfrichter-Ausbildung und seit 1975 als internationaler Schiedsrichter tätig. 1990 war er Grün-dungsmitglied des Thüringer Schwimm-Verbandes und wurde zum stellvertretenden Präsidenten gewählt. Nach seinem 70. Geburts-tag gab er alle ehrenamtlichen Verpflichtungen im Schwimmsport an seine Nachfolger weiter, im Thüringer Schwimm-Verband wie auch beim USV Jena an Absolventen des Instituts, an dem er von 1968 bis 1972 nicht nur stellvertretender Direktor für Erziehung und Ausbildung war, sondern an dem er von 1954 bis 1991 half, Gene-rationen von Sportlehrern und Diplomlehrern Sport eine am kom-plexen Gegenstand der Sportwissenschaft orientierte, praxisrele-vante Ausbildung zu vermitteln.
Hans-Georg Kremer
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Eberhard Kunze
(8. März 1940 – 2. Januar 2004)
Der „Förderverein zur Traditionspflege und Erhaltung der Friedrich-Jahn-Gedenkstätten e.V.“ zu Freyburg an der Unstrut hat einen schweren Verlust erlitten. Am 2. Januar 2004 riss ein tragischer Unglücksfall Dr. phil. Eberhard Kunze, ehemals Universität Biele-feld, aus unserer Mitte.
Seit den 90er Jahren gehörte Eberhard Kunze zu der wissenschaft-lichen Arbeitsgruppe, mit deren Unterstützung das Jahnmuseum saniert und restauriert worden ist und die die ständige Ausstellung dieses Museums neu gestaltete.
Sein Tod hat im Förderverein wie im Jahnmuseum eine Lücke hin-terlassen, die kaum zu schließen sein wird. Denn Eberhard Kunze war nicht nur ein wunderbarer Mensch, ein wahrer Freund, von de-nen uns im Leben nur wenige begegnen, jederzeit tolerant und sachlich, sondern er war auch ein hervorragender Wissenschaftler, dem unser Anliegen, die Forschung zu Friedrich Ludwig Jahn, sehr viel zu verdanken hat. Kein Sporthistoriker war mit dieser histori-schen Persönlichkeit so vertraut wie er. Die vor allem während sei-ner Freiburger Studienzeit erworbenen Erkenntnisse und Erfahrun-gen über Gruppenbildungen und Gruppenbewußtsein hat er meis-terhaft für die Erschließung von Quellen ähnlichen Charakters im frühen 19. Jahrhundert genutzt. Beispiele dafür sind die Erfor-schung Jahnscher Netzwerke, des Unitistenordens, des Deutschen Bundes, der Hasenheide-Turner und der Lützower.
Seit Eberhard Kunze in unserer Arbeitsgruppe mitwirkte, hat er mehrere Arbeiten über die Tätigkeit und Wirksamkeit des „jungen” Jahn publiziert, so daß es möglich war, ihn auf der Grundlage einer kumulativen Dissertation an der Universität Bremen bei unserem Vorstandsmitglied Prof. Dr. Harald Braun zu promovieren. Beson-ders beeindruckend war, Eberhard Kunze im Promotions-colloquium zu hören. Auf Grund seiner außerordentlichen Leistun-gen hat die Kommission mit vollem Recht auf „summa cum laude” erkannt.
Seine fachlichen Kenntnisse und wissenschaftlichen Erfahrungen brachte er besonders wirksam in die Neukonzeption der 1999 er-öffneten ständigen Ausstellung „Friedrich Ludwig Jahn: Leben und
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Wirken” im Freyburger Jahnmuseum ein, die sich des regen Zu-spruchs nicht nur der Turnerinnen und Turner aus ganz Deutsch-land erfreut und ungeschränkten Beifall findet.
In seinen Untersuchungen und bei der Darstellung ihrer Ergebnisse besticht die Exaktheit, mit der er arbeitete und schrieb. Er beachte-te bei der Wertung historischer Persönlichkeiten stets ihren Stand-ort, die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sie wirkten und wirksam waren, stützte sich streng auf die Quellen und vermied es dabei, diese zu überfordern. Vor allem bei der ge-genwärtig immer wieder polemisch zugespitzten Diskussion um Jahn pflegte er einen betont sachlichen Umgang mit Thesen und Behauptungen, die sich als überholt erwiesen haben und teilweise - leider - jeglicher Quellengrundlage entbehren. Eine letzte wissen-schaftliche Leistung von Eberhard Kunze war das von ihm konzi-pierte und geleitete Freyburger Jahn-Symposium im Oktober 2003 „Friedrich Ludwig Jahn und die Gesellschaften der Turner - Wir-kungsfelder, Verflechtungen und Gruppenpolitik”, also zu Leben, Werk und Wirkungen Jahns, die seit mehr als 25 Jahren nicht mehr Gegenstand einer größeren wissenschaftlichen Tagung waren. Der Tagungsband wird gegenwärtig vorbereitet und damit allen zu-gänglich.
Auf geschichtswissenschaftlichem Gebiet hatte Dr. Eberhard Kun-ze noch viel vor. Sein Fernziel war es, auf der Basis der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, auch jener aus seinen eigenen Untersuchungen, etwas zu wagen, was gegenwärtig kein andere Wissenschaftler, kein anderer Historiker wagt, in Angriff zu neh-men. 1999 schrieb er zu diesem Vorhaben: „Einige neuere Aufsät-ze und Buchkapitel über F. L. Jahn verdeutlichen ein historiografi-sches Problem - es fehlt eine moderne Jahnbiografie.” Der Reali-sierung dieser anspruchsvollen wissenschaftlichen Pläne ist durch seinen jähen, tragischen Tod eine Grenze gesetzt worden. Ein herber Verlust nicht nur für seine Familie und Freunde, sondern auch für die Sportgeschichtsschreibung.
Hans-Joachim Bartmuß und Wolfhard Frost

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Beiträge zur Sportgeschichte Heft 19/2004
INHALT
OLYMPISCHE SOMMERSPIELE ATHEN 2004
NOTATE
4 Ein Athener Fazit
Olympiaredaktion
10 Athen 2004 – eine sportliche Bilanz
Helmut Horatschke
15 ZITATE VOR UND NACH OLYMPIA
OLYMPIA – BLICK ZURÜCK
28 Was vor 100 Jahren anders war...
Klaus Huhn
32 Gedanken zur olympischen Geburtsstunde vor 110 Jahren
Karl-Heinz Wehr
AKTUELLES INTERVIEW
35 Dr. hc. Karlheinz Gieseler (Neu-Isenburg)
DOKUMENTATION / DISKUSSION
40 Mehr als nur ein Name
Joachim Fiebelkorn
43 Nachbetrachtungen zu einem Buch
Gespräch mit Renate Franz
45 Widerstand auf zwei Rädern
Werner Stenzel
48 Der „Flaggenstreit― und sein Ende
Joachim Fiebelkorn
51 DDR-Eishockey-Geschichte
Herbert Gasch
56 Die DDR war schon 1967 in „Europa―
Klaus Huhn
59 Die Urkunde vom Anfang
Gerhard Hagemeister
61 Jugendliche als Übungsleiter - ein Erfahrungsbericht
Irmgard Boywitt
65 Historiker-Weisheiten
Klaus Huhn
ZITATE
70 Arbeitersport in Berlin 1913
Die letzte Meile wurde getanzt
Sportwissenschaft an der Martin-Luther-Universität
Erst nach der Wende zum „Wunder― geworden u.a.
REZENSIONEN
76 Heinz Florian Oertel/Kristin Otto (Hrsg.): Athen 2004
Rainer Rau
78 Rudi Cerne (Hrsg.): Athen. Das Olympia-Buch 2004
Rainer Rau
79 100 Jahre Wintersport in Oberhof
Klaus Huhn
80 50 Jahre Lok-Turniere Tennis
Kurt Zach
82 Schriftenreihe des Brauchitsch-Vereins
Klaus Huhn
83 Volker Kluge: Max Schmeling
Sebastian Drost
84 Deutschland Archiv 3/2004
Klaus Huhn
85 POST
GEDENKEN
88 Prof. Dr. paed. habil. Eberhard Schramm
Walter Renner
90 Kuno Werner
Jan Knapp
DIE AUTOREN
IRMGARD BOYWITT, geboren 1925, Sportlehrerin, Dipl.-Gesell-schaftswissenschaftlerin, Studienrätin, Kreisturnrat Berlin-Friedrichshain 1956 bis 1985.
SEBASTIAN DROST, geboren 1975, Mediengestalter für Digital- und Printmedien, Studium der Sozial- und Sportwissenschaften in Göttingen 1996 bis 1998.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefredakteur „Deutsches Sportecho― 1959 bis 1963.
RENATE FRANZ, Journalistin.
HERBERT GASCH, geboren 1923, Diplomsportlehrer.
KARLHEINZ GIESELER, Dr. hc., geboren 1925, Hauptgeschäftsführer (ab 1970 Generalsekretär) des Deutschen Sportbundes (DSB) 1964 bis 1989, Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) für Deutschland 1964 bis 1969.
HELMUT HORATSCHKE, geboren 1928, Diplomsportlehrer, Abteilungsleiter (Planung und Koordinierung des Leistungssports) im Bundesvorstand des DTSB 1957 bis 1987.
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist und Sporthistoriker, Mitglied der dvs.
JAN KNAPP, geboren 1948, Schäfergehilfe, Fachlehrer für Staatsbürgerkunde und Geschichte, Leiter der Thüringer Wintersportausstellung Oberhof.
RAINER RAU, geboren 1943, Lehrer für Sport und Geschichte.
WALTER RENNER, Dr. paed. habil., geboren 1936, Hochschuldozent für Theorie und Methodik des Schwimmens an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) und der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig 1984 bis 1996, Vorsitzender der Hochschulsportgemeinschaft (HSG) DHfK 1985 bis 2001.
WERNER STENZEL, geboren1937, Diplom-Historiker.
KARL-HEINZ WEHR, geboren 1930, Generalsekretär der Internationalen Amateur-Box-Assoziation (AIBA) 1986 bis 1998.
KURT ZACH, geboren 1926, Sportlehrer, Reichsbahn-Hauptrat a.D.
EIN ATHENER FAZIT
Von unserer OLYMPIAREDAKTION
Vor allen Thesen - Thesis ist bekanntlich der altgriechische Begriff für Sätze, die zu beweisen sind - eine profane Binsenwahrheit: Alle vier Jahre treffen sich in den Stadien die Olympioniken, um zu feiern oder zu leiden. Auf den Stadionrängen versammeln sich um diese Zeit einige Experten und viele Ahnungslose, die sich als Medienoberrichter ausgeben und rund um die Uhr Urteile in allen Sprachen verkünden, von denen allerdings nur die wenigsten Anspruch erheben können, fundiert zu sein. In dieser Hinsicht bescherte 2004 nichts Neues!
Natürlich waren da Nuancen. Deutsche Medien zum Beispiel hatte der Bundesinnenminister im olympischen Areal nachdrücklich „eingenordet―: „Unsere Presse stimmt Klagen und Wehklagen an. Das kann ich nicht nachvollziehen.― Sein Appell verhallte ungehört, vielleicht auch, weil die Kritisierten konstatierten, dass die zur gleichen Zeit aufgekommenen Montagsdemonstrationen von anderen Ministern mit fast gleichlautenden Formulierungen gerügt worden waren.
Zudem: Die Zeiten, da man in Griechenland Unheil verbreitende Staatsmänner durch das von Kleisthenes eingeführte Ostrakon, dem Scherbengericht, zur Ordnung rief, liegen rund 2500 Jahre zurück, und so traf mit einer Ausnahme niemanden das Erbe dieses altgriechischen Brauchs.
Diese Ausnahme allerdings verdient nachdrücklich hervorgehoben zu werden in der Chronik dieser Spiele: Dem ursprünglich als Gast erwarteten US-amerikanischen Außenminister Powell riet man ohne jede Tonscherben-Abstimmung, auf einen Besuch beim Fest des Friedens zu verzichten. Dem Mann, der sich vielfach gegen Prinzipien des Friedens vergangen hatte, vor allem als er durch gefälschte Dokumente den Irak-Krieg auslöste, fiel als Ausrede für sein Fernbleiben nur die magere Allerweltsvokabel „Terminschwierigkeiten― ein. Es bleibt dabei: Ihm den Besuch des olympischen Tempels zu verweigern, war eines der bemerkenswertesten Ergebnisse von Athen. Dass sich die hiesigen herrschenden Medien bei der Verbreitung des Tatbestandes auf Drei-Zeilen-Notizen beschränkten, verwundert nicht. Den Griechen aber schien der friedliche Verlauf der Spiele gefährdet, wenn der Ex-General auftauchen würde. Der Affront richtete sich in keiner Weise gegen die USA an sich oder etwa seine Athleten, denn deren sportliche Erfolge hätten durchaus die Anwesenheit eines applaudierenden Ministers auf der überfüllten Ehrentribüne gerechtfertigt.
Die kühne Frage, was vom ursprünglichen Olympia geblieben ist, drängte sich in Athen vor allem auf, weil die Spiele nach einem guten Jahrhundert zu ihrer Geburtsstätte zurückgekehrt waren. 1896 hatte man in dem Philanthropen und Millionär Averoff einen Sponsor gefunden, der damals so solide hatte bauen lassen, dass einige Entscheidungen von 2004 noch in dem 1896 errichteten Stadion ausgetragen werden konnten. Die schon
erwähnten Rund-um-die-Uhr-Schwätzer verkündeten lärmend, der griechische Staat hätte immense Schulden gemacht, wozu anzumerken wäre, dass eine alle griechischen Schulden in den Schatten rückende Milliardensumme während der letzten Olympiade, also seit 2000, weltweit für Mord, Totschlag und Rüstung ausgegeben worden war, was kaum jemand öffentlich rügte. Also: Es lebe Olympia - selbst auf die Gefahr, dass es einiges kostete!
Man erinnert sich, dass die Heimkehr der Spiele schon 1996 hatte stattfinden sollen, was damals an den Kabalen der in Atlanta residierenden Coca-Cola-Manager scheiterte. Die berühmte Sängerin Melina Mercouri fungierte zu jener Zeit als griechische Kulturministerin, und so sehr sie heute noch - Jahre nach ihrem Tod - von ihrem Volk verehrt wird, wagte doch kaum jemand, an ihre deutlichen Worte von damals zu erinnern. Als die Entscheidung gegen Athen und für Atlanta gefallen war, prägte sie den treffenden Satz: „Jetzt sind die Spiele endgültig cocacolarisiert.― Das Elf-Millionen-Volk fand sich nach einem Monate anhaltenden Boykott der braunen Brause damals damit ab und gab sich 2004 redliche Mühe, unvergessliche Brücken in die Antike und jene Jahre zu schlagen, da man sich um die modernen Spiele noch als völkerverbindende und pädagogische Großtat bemühte. Zugute kam ihm, dass der im Geschäftemachen unübertroffene spanische Grande Samaranch den Sessel des IOC-Präsidenten inzwischen verlassen und mit dem cleveren belgischen Arzt Jacques Rogge ein Mann dort Platz genommen hatte, dessen Redlichkeit auch inmitten der von Samaranch inthronisierten Sponsorengesellschaft an Coubertins Ideale erinnerte.
Unbestreitbar ist, dass die Spiele ungeachtet aller unkontrollierbaren aber pausenlos wiederholten Vorwürfe vorolympischer Schlamperei ein Erfolg wurden. Wohl auch, weil die Griechen viel zu sehr Griechen sind, als dass sie die Heimkehr Olympias in ein Desaster hätten geraten lassen. Nur ein Beispiel: Das Kugelstoßen im antiken Stadion von Olympia auszutragen, war eine glanzvolle Idee. Dass Archäologen - natürlich auch deutsche - lärmend vor angeblich unausbleiblichen Schäden warnten und durch ihr Geschrei das Bild eines zertrampelten antiken Olympiastadion heraufbeschworen, war eine der vielen absurden Attacken. Wer die Szene kennt, erinnerte sich der unübersehbaren Scharen, die seit Jahren alle vier Jahre nach Olympia pilgern, um Augenzeugen der Entzündung des olympischen Feuers zu werden. Dagegen nahm sich die Zahl der Kugelstoßzuschauer fast kümmerlich aus. Bornierte Fernsehkommentatoren, die an diesem Tag nicht vor ihren Reporterkabinen parken konnten, monierten die zu schmale Straße. Sie hatten wohl damit gerechnet, dass man ihretwegen die olympische Landschaft betonieren würde, weil die TV-Anstalten - in letzter Konsequenz allerdings die Zuschauer - Gebühren entrichtet hatten. Wer
die Stunde im antiken Stadion, solch Geschwätz ignorierend, erlebte, wird sie nie vergessen.
Die Realität des gegenwärtigen Sportbetriebs schlug die nächste Brücke zur Negation: Die Siegerin von Olympia musste Medaille und Olivenkranz zurückgeben, nachdem eine Dopingkontrolle offenbarte, dass sie mit unlauteren Mitteln zum Erfolg gelangt war. Natürlich sind aus dem antiken Olympia auch hinreichend Betrügereien überliefert und ausschließlich von untadeligen Athleten bestrittene Wettkämpfe kennen weder Vergangenheit, noch Gegenwart und vermutlich auch die Zukunft nicht. Das wiederum führte dazu, dass den „Enthüllungen― oft mehr Platz eingeräumt wurde, als sportlichen Leistungen. Zuweilen hockten in Athen mehr Journalisten in Doping-Pressekonferenzen, als auf den Zieltribünen. Das kann in einer Zeit, in der Skandale mehr Aufmerksamkeit finden, als die Bücher kluger Geister, nicht überraschen. Aber selbst im Umgang mit dem Doping erwiesen sich viele Chronisten als ahnungslos. Dass jemand Fremdurin durch einen Minischlauch ins Kontrollglas rinnen ließ, wurde als Spitzenbetrug von Athen angeklagt. 27 Jahre vorher war diese Methode bereits bei der Tour de France kreiiert worden. Der Schlauch kam also eher aus einer Antiquitätenhandlung als aus einem Erfinderlabor.
Niemand stieß darauf, dass die höhere Zahl ertappter Dopingsünder dafür sprach, dass in dem jahrzehntelangen Wettstreit zwischen Pharmaindustrie und Kontrollgeräteherstellern Letztere in Athen Boden wettgemacht zu haben schienen. Das fiel umso mehr ins Gewicht, weil die Pharmariesen weltweit über einen stabilen Markt verfügen, dessen Filialen in vielen Fitnessstudios zu finden sind. Dass sich der Markt für hochklassige Kontrollgeräte auf weniger Kunden beschränkt, liegt auf der Hand. Das Internationale Olympische Komitee gehört zu ihnen und scheint bei der Anschaffung diesmal nicht knauserig gewesen zu sein. Dass man demnächst die Medaillen erst nach der Dopingkontrolle verleihen will, weil einige der Betrüger hinterher das Edelmetall nicht herausrücken wollten, erinnerte an die einzige Sportveranstaltung, die die Siegerehrung erst nach dem Signal der Dopingärzte zelebrierte. Das war vor langen Jahren, und zwar bei der Friedensfahrt!
Bleibt man bei den nüchternen Zahlen, wäre festzustellen, dass 13 Betrüger aus den Athener Ergebnislisten gestrichen wurden. In Sydney waren es elf gewesen, in Atlanta und Barcelona je zwei. Da bereits vor dem Auftakt in Athen zehn Athleten des Dopings überführt worden waren, müsste man offiziell 23 Fälle auflisten und die zeugen eben weniger von sinkender Moral als von zunehmend konsequenterer Kontrolle.
In einer Nachbetrachtung wie unserer ist kein Platz für eine Würdigung aller sportlichen Spitzenleistungen der Spiele, aber es sollen hier wenige für viele genannt werden. 1896 war der längst vergessene Chilene Luis
Subercascaux in einem 100-m-Vorlauf gescheitert, hatte aber durch seine Anwesenheit dafür gesorgt, dass sich die I. Spiele 13 teilnehmender Länder rühmen durften. 108 Jahre später sorgten seine Landsleute Fernando Gonzalez und Nicolas Massu für Olympia-Edelmetall in einer Dimension, die einen Platz ganz oben in der Liste der olympischen Rekorde beansprucht, aber in keine Rekordschablone passt Der Chilene Fernando Gonzalez begann den olympischen Tennis-Siegeszug seines Landes mit Bronze im Einzel gegen den Yankee Taylor Dent, wofür er drei Stunden und 44 Minuten benötigte. Dann legte er eine Eineinhalb-Stunden-Pause ein und zog gemeinsam mit seinem Landsmann Nicolas Massu gegen die Deutschen Nicolas Kiefer und Rainer Schüttler zum Doppelfinale aufs Feld. Nach drei Stunden und 25 Minuten - Mitternacht war längst vorüber - hatten die Chilenen das olympische Gold in dieser Disziplin erkämpft und eine „deutsche Hoffnung― ausgeschaltet. Für eine Feier war keine Zeit, denn Nicolas Massu musste bereits um 18 Uhr zum Einzelfinale gegen den US-Amerikaner Mardy Fish ans Netz. In jeder Pause legte der Chilene die Beine hoch und kühlte seine Muskeln. Als er schon wie der sichere Verlierer aussah, raffte er sich auf und gewann noch. Zwei Tennisspieler, die in 24 Stunden zweimal Gold - das überhaupt erste für Chile - und einmal Bronze gewannen. Athen sorgte in diesem Fall für ein Olympia-Epos, wie es in 108 Jahren noch nicht geschrieben worden war. Sollte man sich nicht schon deshalb mit den Chilenen freuen?
Ein paar Worte zu einer Frau, die keine Medaille gewann und dennoch olympische Geschichte schrieb: Merlene Ottey. Die 44-jährige gebürtige Jamaikanerin startete in Athen bei ihren achten Olympischen Spielen für Slowenien und scheiterte im 100-m-Halbfinale um drei Hundertstelsekunden am Einzug in ein Sprintfinale. 1980, 1984, 1988, 1992, 1996, 2000 hatte sie es geschafft und dabei sechs Medaillen gesammelt.
Das allein wäre schon eine Schlagzeile wert, aber weit gravierender ist, dass ihr Aufstieg die Motivation Olympischer Spiele illustriert. Als sie das erste Mal zu einem Sportfest fahren durfte, war sie 14 Jahre alt und ihre Mutter plünderte die Familienkasse, um das Fahrgeld für den Bus zusammenzubringen. Als sich Merlene vor dem Wettkampf umzog, entschloss sie sich, ihre Geldbörse, in der sie das lange gesparte Taschengeld aufbewahrte, in die Turnhosentasche zu stecken, weil sie fürchtete, es würde in der Kabine gestohlen. Sie lief und gewann, hatte aber unterwegs das Geldtäschchen verloren. Also machte sie gleich hinter dem Ziel kehrt und spürte ihm nach. Sie kam zu spät - es war bereits von jemandem gefunden und gestohlen worden. Hungrig aber glücklich kehrte sie heim und begann ihren sportlichen Aufstieg, der den sozialen Aufstieg mit sich brachte. Als sie sich in ihrer Heimat nach einer
nie bewiesenen Dopingaffäre ungenügend unterstützt sah, wechselte sie nach Europa und startete nun im Dress Sloweniens. Was für sie gilt, galt auch in Athen für viele: Olympia bietet eine fast einmalige Chance, den Slums der Welt zu entkommen.
Der Wechsel ihrer Staatsbürgerschaft - früher nach den olympischen Regeln fast unmöglich - ließe sich auch als ein Kapitel olympischer „Globalisierung― deklarieren.
Das wohl krasseste Beispiel hatte der Berliner „Tagesspiegel― beschrieben. Die kubanische Dreispringerin Yamile Aldama hatte ihre Heimat verlassen, um einem Schotten nach England zu folgen, wo sie ihm ein Kind gebar. Als er über Nacht als Hauptfigur eines 17-Millionen-Dollar-Heroingeschäfts erwischt und zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, wollte sie heimkehren, aber Kuba winkte ab, und so suchte ihr Manager eine neue olympische Heimat. Der Sudan zeigte sich interessiert, vielleicht auch, weil er sich nach den tausendfachen menschlichen Tragödien im Land bei Olympia positiv geben wollte. Mit 14,99 m gelangte sie auf den fünften Platz der Ehrentafel. Bei Olympia wird man ihr wohl kaum noch begegnen und nach dem Sudan hat sie auch nicht die geringste Sehnsucht.
Helmut Horatschke hat das Abschneiden der Deutschen an anderer Stelle exzellent analysiert, deshalb soll hier nur mit wenigen Sätzen erwähnt werden, dass sich auch die BRD auf diesem Athleten-Markt betätigte. So spielten in der Wasserballmannschaft Athleten, die zuvor schon olympische oder weltmeisterliche Ehren für die UdSSR, die GUS-Staaten und für Kasachstan errungen hatten, ganz zu schweigen von der Schützin, die 1992 als erste medaillengeschmückte Frau der Mongolei gefeiert worden war und nun für Deutschland zielte und schoss.
Als bei den Schwimmerinnen der Weltrekord der 4-mal-200-m-Freistil-staffel ausgelöscht wurde, erinnerte sich kaum einer der Chronisten, dass er stattliche 17 Jahre alt gewesen war und schon gar nicht, wer die Damen waren, die ihn bei den Europameisterschaften 1987 in Strasbourg aufgestellt hatten. Das gehört unserer Ansicht nach zu einer seriösen Berichterstattung, weshalb wir jenes DDR-Quartett hier nennen möchten: Manuela Stellmach, Astrid Strauß, Anke Möhring und Heike Friedrich. Zu erwähnen wäre noch, dass der 4-mal-100-m-Weltrekord der DDR-Leichtathletinnen - aufgestellt am 6. Oktober 1985 von Silke Gladisch, Sabine Rieger, Ingrid Auerswald und Marlies Göhr mit 41,37 s - Athen überlebte.
Vielleicht sollten wir auch daran erinnern, dass der damals noch als DLV-Präsident fungierende Prof. Helmut Digel nach den Spielen 2000 zu Protokoll gegeben hatte: „Wir müssen begreifen, dass wir noch nicht ausreichend Leistungssportstrukturen nach der Vereinigung aufgebaut haben, die das fortsetzen, was in der DDR als tragfähige
Leistungssportkultur bestand.― Daran hatte sich bis 2004 nichts geändert und das Streben nach dem DDR-Vorbild hatte eher nachgelassen. Möglicherweise sogar auf Grund der Erkenntnis, dass die Gilde der Manager solche Strukturen längst völlig unmöglich werden ließ. Dafür spräche die Erklärung, mit der Digels einstiger Vizepräsident Rüdiger Nickel seinen eigenen Rücktritt 2004 begründete: „Wir können nicht umsetzen, was wir gerne wollen, weil zu viele Faktoren eine Rolle spielen, die nicht beeinflussbar sind.― Und eine Nachrichtenagentur beseitigte alle Zweifel mit dem anschließenden Kommentar: „...sagte Nickel in Anspielung auf die problematische Zusammenarbeit mit Managern und Heimtrainern.―
Tatsächlich offenbarte Athen im Hinblick auf die wachsende Macht der Manager besorgniserregende Aspekte. Sie könnten schon bald die Politiker übertreffen. Die hatten in der BRD bekanntlich lange vor der Nominierung der Olympiamannschaft eine Stasikontrolle verlangt, die NOK-Präsident Klaus Steinbach tapfer ablehnte. Sie war von Persönlichkeiten wie DSB-Präsident Manfred von Richthofen und dem sportpolitischen Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Klaus Riegert gefordert worden, und wenn man jetzt nach den Ursachen des enttäuschen Abschneidens forscht, ließe sich dieses Versäumnis doch auch noch ins Feld führen.
Ganz am Ende erschien in Athen auch noch Coubertin auf der olympischen Bühne. Der an der Spitze des Feldes der Marathonläufer dem Stadion zustrebende Brasilianer Vanderlei Lima war fünf Kilometer vor dem Ziel von einem geistig Verwirrten von der Strecke gezerrt worden. Er bekannte hinterher, große Ängste ausgestanden zu haben, weil er fürchtete der Attentäter könnte bewaffnet sein. Beherzte Zuschauer befreiten den Olympioniken und der setzte - zum Erstaunen aller - seinen Lauf beherzt fort, was die Gefahr eines handfesten Skandals am Schlusstag bannte. Zwar wurde er noch überholt, rettete aber die Bronzemedaille und seine Manager sorgten dafür, dass die brasilianischen Sponsoren augenblicklich die Auszahlung der für einen Sieg ausgesetzten Summen - 60000 Euro und zwei Kilo Gold - auszuzahlen versprachen. Das aufatmende Internationale Olympische Komitee besann sich auf Coubertin und ließ dem tapferen Läufer die Fairplay-Medaille überreichen, die irgendwann als Verbeugung vor dem Mann gestiftet worden war, der 1896 die Spiele in Athen als erste moderne Spiele feiern ließ. So gefährlich der böse Zwischenfall war, dass er ganz am Ende noch Coubertin ins Spiel brachte und damit an dessen - wenn auch auf Umwegen - olympische Absichten erinnerte, könnte man einen Wink des Schicksals nennen.
N.S.: In Tagen, da deutsche Politiker rund um die Uhr zum Sparen aufrufen und zugleich mitteilen lassen, dass die Fernsehzuschauer – also
auch die olympischen – künftig mehr zu bezahlen haben, kann man sich kaum die Frage ersparen, wer es für sparsam hält, dass beide öffentlich-rechtlichen Anstalten mit zwei kompletten Teams zu Olympia reisen und dort gleich jeden zweiten Tag einen Ruhetag einlegt...
Athen 2004 - eine sportliche Bilanz
Von HELMUT HORATSCHKE
Olympische Spiele bleiben ein Weltereignis und sie wurden in Athen perfekt und mit sportlichem Sachverstand organisiert. Freiwillige Helfer - man sprach von 60.000 - hatten daran großen Anteil. Es waren aber auch die Spiele mit dem höchsten Sicherheitsaufwand der olympischen Geschichte. Hinter dem äußeren Glanz haben sich vielfältige handfeste Geschäftsinteressen etabliert, die den Kurs der Coca-Cola-Spiele von Atlanta fortsetzten. Der Eröffnungsschau folgte ein pausenloser pene-tranter Starrummel deutscher Medien um die Profi-Millionäre Jan Ullrich und Franziska van Almsick. Über ihre Leistungen enttäuscht war nur, wer an die sportliche Sachkenntnis deutscher Medienmacher glaubte. Es war nicht zu übersehen, daß die einträglichen Wettkampfserien des Profisports zum olympischen Höhepunkt ihre prominenten Opfer produzierten.
Nach Jahren der Erklärung über den konsequenten Kampf gegen Doping, erreichte die Zahl positiver Kontrollergebnisse zu den Spielen einen neuen Höhepunkt. Die Frage scheint nicht zu sein, ob weltweit weiter gedopt wird, sondern wer sich die teuersten, noch nicht nachweisbaren Mittel leisten kann. Unter dem Diktat des Kommerzes bleibt sauberer Sport weiter eine Illusion.
Subjektive Kampfrichterentscheidungen blieben nicht aus. So im Turnen, wo russische und chinesische Leistungen nicht die Erfolge der USA beeinträchtigen sollten, oder bei der Disqualifikation des Gehers Andreas Erm.
Auf eine tiefer gehende Einschätzung des veränderten Charakters der Olympischen Spiele im Griff des Kommerzes verzichte ich. Interessierte können sie im Heft 12 der „Beiträge zur Sportgeschichte― (Sydney und die Deutschen) nachlesen. Ebenso werden keine Statistiken verwendet, die man in jeder Zeitung findet.
Entwicklungen im Weltsport
Die Zahl der an Medaillen beteiligten Länder ist gegenüber Sydney von 80 auf 75 gesunken. Die Anteile der Kontinente weisen folgende Tendenz aus (Berechnung nach Medaillenpunkten 7, 5, 4 - Angaben in Prozent):
1988
1992
1996
2000
2004
Europa
67,0
55,0
53,1
51,0
50,1
Asien
10,6
15,7
15,2
20,8
20,6
Nordamerika
14,5
15,6
14,6
11,5
12,6
Lateinamerika
2,4
5,6
6,7
6,5
6,7
Australien/Ozeanien
3,6
5,1
6,3
6,9
6,4
Afrika
1,9
3,0
4,1
3,3
3,6
Gegenüber Sydney bewegten sich Veränderungen in engen Grenzen. Langfristig gewann Asien und verlor Europa.
Bemerkenswerte Veränderungen gegenüber Sydney waren für folgende Länder in ihrer Rangfolge festzustellen:
LEISTUNGSZUWACHS
LEISTUNGSVERLUST
Japan
Australien
Spanien
Rumänien
Italien
Niederlande
China
Frankreich
Türkei
Deutschland
Thailand
Polen
USA
Schweden
Österreich
Schweiz
Griechenland
Bulgarien
— Japan hat seit Sydney seine Medaillenzahl von 18 auf 37 erhöht und ist vom 15. auf den 5. Rang vorgerückt.
— China wiederholt mit Leistungszuwachs das Ergebnis von Sydney mit überwiegend jungen Sportlerinnen und Sportlern, die 2008 ihre Höchstleistungen erreichen können.
— Ein Leistungsabfall von Australien ist nach dem Heimvorteil als normal einzuschätzen. Anzuerkennen ist, daß die Position in der Weltspitze trotzdem behauptet wurde.
— Medienkommentare, die Rußland zum Hauptverlierer erklärten, gehören ins Reich der Legende. Die russischen Sportler haben auf den Punkt genau mit 4 zusätzlichen Medaillen ihr Ergebnis von Sydney wiederholt.
Ursache mancher Fehleinschätzung des Leistungspotentials ist eine einseitige Fixierung auf Goldmedaillen.
Auffallend ist im Gesamtergebnis eine Differenz zwischen Ländern beziehungsweise Sportarten, die sich zielgerichtet auf die Spiele als Wettkampfhöhepunkt vorbereiteten und denen, die versuchten aus kräftezehrenden kommerziellen Wettkampfserien heraus zum Erfolg zu kommen.
Deutsche Olympioniken in Athen
Für eine realistische Ermittlung der Leistungspotentiale wird neben der Medaillenrangfolge eine Wertung der Plätze 1 - 6 (in Punkten: 7, 5, 4, 3,
2, 1) herangezogen, die für alle Sportarten feststellbar ist und einen Vergleich zu früheren Spielen ermöglicht. (Geteilte Plätze = geteilte Punkte)
Deutschland belegte in der Medaillenwertung Rang 6 und verfehlte damit sein angestrebtes Ziel 3. - 5. Rang. Gegenüber Sydney ist das ein weiterer Verlust um 31 Medaillenpunkte (minus 11 Prozent) und um 61 Punkte für Platz 1 - 6 (minus 15 Prozent).
1.
2.
3.
4.
5.
6.
ATHEN
14
16
18
12
22
22
SYDNEY
13
17
26
22
25
23
Von den genutzten Startmöglichkeiten endeten
— auf den Plätzen 1 - 6 104 = 31,4 Prozent
— ab Platz 7 227 = 68,6 Prozent
Ein Langzeitvergleich zeigt, daß die Talfahrt deutscher Olympiamannschaften seit 1992 ungebrochen anhält. Gesamtverlust: 43,8 Prozent der Medaillenpunkte und 36,5 Prozent der Punkte Platz 1 - 6!
KATEGORIE
1992
1996
2000
2004
Medaillen
81
65
56
48
Punkte
545,5
476
408,5
347,5
(Der Anteil der einzelnen Sportarten am Gesamtergebnis geht aus der Tabelle am Ende des Beitrags hervor.)
Positive Entwicklungen gegenüber Sydney wiesen Kanurennsport, Kanuslalom, Sportschießen, Judo, Hockey und Trampolinturnen aus. Auf der negativen Seite fielen Leichtathletik, Gerätturnen, Schwimmen, Rad-sport, Segeln, Fechten, Gewichtheben, Volleyball, aber auch Rudern der Männer schwer ins Gewicht. Die deutsche Leichtathletik war vom 8. Platz in Sydney auf den 24. Rang zurückgefallen. Bei einer getrennten Wertung lagen die Frauen auf der 14., die Männer auf der 40. Position der Weltrangliste der Sportart hinter Katar und Grenada! Ähnlich das Männerrudern, das Jahrzehnte die Weltspitze behauptete und sich jetzt auf dem 20. Rang wiederfand. Wenn trotzdem insgesamt noch der zweite Rang im Weltrudersport behauptet werden konnte, ist das den beiden Trainerinnen Jutta Lau aus Potsdam (2 Goldmedaillen) und Brigitte Bielig aus Dresden (2 Silbermedaillen) zu danken. Auffallend ist, daß Sportler mit DDR-Vergangenheit (die Spielsportarten ausgenommen, wo sich das nicht exakt ermitteln ließ) mit 62,5 Prozent der Goldmedaillen, 55 Prozent der Silbermedaillen und 30 Prozent der Bronzemedaillen zum Gesamtergebnis beitrugen. Die Langzeitwirkung der Talenteauswahl der DDR ist überraschend, geht aber ihrem Ende entgegen.
Untersucht man die Sportarten nach ihrer Einordnung in die öffentliche Werteskala und die Bedingungen, unter denen sie sportliche Leistungen hervorbringen, kommt man zu interessanten Schlüssen:
— Die sogenannten olympischen „Kernsportarten‖ Turnen, Leichtathletik und Schwimmen erreichen mit 94 Disziplinen 9 Medaillen und 64,5 Punkte (= 18,6 Prozent).
— Die völlig oder überwiegend von Profis betriebenen zehn Sportarten Radsport, Segeln, Fechten, Tennis, Tischtennis, Reiten, Fußball, Handball, Volleyball und Triathlon sind in 63 Disziplinen mit 14 Medaillen und 101,25 Punkten (= 29 Prozent) beteiligt.
— Zehn sogenannte „Randsportarten‖, die fast ausschließlich von Amateuren betrieben werden - wer das nicht glaubt, frage die OlympiasiegerInnen Yvonne Bönisch (Judo), Katrin Boron (Rudern), oder Ralf Schumann (Sportschießen), wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten - haben Deutschland vor einem noch tieferen olympischen Absturz gerettet. Mit 104 Disziplinen erreichen Kanu, Rudern, Schießen, Judo, Wasserspringen, Boxen, Ringen, Hockey, Moderner Fünfkampf und Wasserball 25 Medaillen und 177,5 Punkte, darunter 10 von 14 Goldmedaillen!
Insgesamt tragen 13 „Kern‖- und Profisportarten mit 157 Disziplinen zum deutschen Gesamtergebnis 23 Medaillen (4 mal Gold ) und 165,75 Punkte bei, demgegenüber die 10 „Randsportarten‖ bei 104 Disziplinen mit 25 Medaillen (10 mal Gold) und 177,5 Punkten. Über die Wirkung gewinnträchtiger Vermarktung sportlicher Leistungen darf nachgedacht werden. Ebenso über das weitgehende Verschwinden der „Randsportarten‖ aus den Medien in den vier Jahren zwischen Olympischen Spielen.
24 Olympiateilnehmer (in Sydney 31) konnten ihre Medaillenleistung wiederholen. 17 mit DDR-Vergangenheit, 7 aus den alten Bundesländern.
Von etwa 25 in Deutschland eingebürgerten Olympiateilnehmern kamen 7 in den Medaillenbereich. Will man weiter einbürgern statt ausbilden?
Schlußfolgerungen
Die Misere deutscher Sportentwicklung beginnt in den Kindergärten und im Schulsport und setzt sich im Fehlen einer wissenschaftlich fundierten Talenterkennung und -auswahl einschließlich ihrer Förderung durch ein solides Grundlagentraining im Jugendalter fort. Das übernommene Potential der DDR ist aufgebraucht und der deutsche Westen hat nichts Gleichwertiges zu bieten. Aus Vereinen hervorgegangene Nachwuchssportler brechen vielfach ihre sportliche Laufbahn vorzeitig ab.
Im Leistungssport der DDR galt Sport und Beruf als verbindliches Förderprinzip für alle Sportler. (Vgl. C. Oppel in „Beiträge zur Sportgeschichte―, Heft 18) In einem Gesellschaftssystem, in dem die
Wirtschaft nicht für das Volk, sondern das Volk für die Wirtschaft da zu sein hat, ist dieses Prinzip nicht zu verwirklichen. Heute heißt es Sport oder Beruf. Die Wirkung war in Sydney und Athen zu besichtigen.
Der deutsche Sport scheitert an der Unwilligkeit und Unfähigkeit ein gesamtstaatliches Konzept für sportlichen Nachwuchs zu entwickeln und organisatorisch umzusetzen. Privatwirtschaftliche Reservate, Föderalismus und Vereinsmeierei setzen anscheinend unüberwindliche Grenzen.
Man hört, daß ein neues Fördermodell gesucht wird. Wann wird es gefunden und wird es wirken? Im Leistungssport zeigen sich Erfolge in der Regel nach 8 - 10 Jahren! Wo wird also Deutschland 2008 in Peking stehen? Das waren die Positionen von 2004:
SPORTART
Disziplinen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Punkte
Rang
Sydney
Leichtathletik
46
0
2
0
1
2
2
19
24.
8.
Turnen
14
0
0
0
0
0
0
0
19.
18.
Gymnastik
2
0
0
0
0
0
0
0
0
5.
Trampolin
2
1
0
1
0
0
0
11
1.
0
Schwimmen
32
0
1
4
2
3
3
34,5
13.
14.
Wasserspringen
8
0
1
0
0
0
2
7
6.
7.
Synchron-Schw.
2
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Wasserball
2
0
0
0
0
1
0
2
8.
-
Radsport Bahn
12
1
0
3
3
0
1
28
4.
2.
Radsport Straße
4
0
1
0
1
1
0
10
6.
2.
Mountainbike
2
0
0
1
0
0
0
4
6.
7.
Rudern
14
2
2
0
1
3
1
34
2.
2.
Kanurennsport
12
4
3
0
1
1
2
50
1.
2.
Kanuslalom
4
0
1
1
1
1
0
14
3.
4.
Segeln
11
0
0
0
0
0
1
1
29.
8.
Boxen
11
0
0
2
0
0
0
7
12.
13.
Ringen
18
0
0
0
0
0
2
2
25.
23.
Fechten
10
0
1
1
0
1
2
13
8.
7.
Judo
14
1
0
3
0
0
0
17,5
5.
15.
Taekwondo
8
-
-
-
-
-
-
-
-
7.
Gewichtheben
15
0
0
0
0
0
0
0
29.
11.
Sportschießen
17
2
1
0
0
4
4
31
3.
27.
Bogenschießen
4
0
0
0
0
0
0
0
13.
6.
Tennis
4
0
1
0
0
0
0
5
7.
5.
Tischtennis
4
0
0
0
0
0
1
0,75
10.
8.
Badminton
5
0
0
0
0
0
0
0
14.
-
Triathlon
2
0
0
0
0
0
1
1
9.
4.
Reiten
6
2
1
0
2
2
0
29
1.
2.
Moderner Fünfkampf
2
0
0
0
0
1
0
2
8.
-
Fußball
2
0
0
1
0
0
0
4
5.
5.
Handball
2
0
1
0
0
0
0
5
3.
9.
Hockey
2
1
0
1
0
0
0
11
1.
7.
Volleyball
4
0
0
0
0
0
2
1,5
10.
8.
Im Basketball, Baseball und Softball (insgesamt vier Disziplinen) in Athen und Sydney keine Teilnahme.
ZITATE VOR UND NACH OLYMPIA
Doping am Ticker
Wer Doping für eine Randerscheinung des Sports hält, dem sei ein Blick ins Angebot des Sportinformationsdienstes (sid) und der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vom Donnerstag empfohlen. (Gemeint war der 15. Juli 2004 – A.d.R.) Wir haben um 16 Uhr das Suchwort Doping eingegeben. Der Computer spuckte 13 Meldungen aus den vergangenen 24 Stunden aus. In Worten: dreizehn ... Um 15.56 Uhr wird gemeldet: „Die Deutsche Triathlon-Union (DTU) hat ihren ersten Doping-Fall. Wie der Verband am Donnerstag bekannt gab, wurde Thomas Braun bereits am 21. Juni 2003 beim Ironman in Frankreich positiv auf Coffein, Ephedrin und ein anaboles Steroid getestet.‖ Um 14.16 Uhr lief die Nachricht ein: „Zehn Radprofis und zwei Masseure, die in den Sog eines ausgedehnten Dopingskandals geraten sind, müssen sich am 27. Oktober vor einem Gericht in San Remo verantworten.‖ ... Um 13.55 Uhr meldete eine Agentur: „Torri Edwards wurde laut Leichtathletik-Weltverband IAAF bei einer Trainingskontrolle am 24. April auf Martinique in A- und B-Probe der Einnahme der verbotenen Stimulans Nikethamide überführt.‖ ... Um 13.00 Uhr vermeldete der sid: „Ob Jerome Young und mit ihm Michael Johnson das 4x400-m-Gold von Olympia 2000 in Sydney verlieren, soll am Sonntag bei einer außerordentlichen Counciltagung des Leichtathletik-Weltver-bandes IAAF endgültig geklärt werden. ... Um 23.14 Uhr, Mittwochabend, diese Nachricht: „Das US-amerikanische Olympische Komitee hat einen weiteren Dopingfall in der Leichtathletik bekannt gegeben. Der in Albuquerque lebende Marathonläufer Eddy Hellebuyck wurde am 30.
Januar bei einer Trainingskontrolle positiv auf das Blutdopingmittel EPO getestet.‖ ...
MARKUS VÖLKER
Berliner Zeitung 16.7.2004
„Wir kämpfen mit Müsli gegen Atomwaffen”
…Dass mit Hürdensprinterin Kirsten Bolm, Diskuswerfer Torsten Schmidt und Kugelstoßer Ralf Bartels bereits drei deutsche Leichtathleten zur Doping-Kontrolle ausgelost wurden, veranlasste den Trainer von Lars Riedel, Karl-Heinz Steinmetz, zur Aussage, ―auch der Zufall hat seine Re-geln‖… Nickel bestätigte, dass die Auslosung der deutschen Athleten nach dem Zufallsgesetz erfolgt sei… Zum Steinmetz-Ausspruch, „wir kämpfen mit Müsli gegen Atomwaffen―, wollte sich Nickel nicht äußern: „Das sind Vermutungen, daran möchte ich mich nicht beteiligen.‖… Hart ins Gericht geht Armin Hary mit den deutschen Leichtathleten. ―Das sind alles keine Siegertypen‖, sagte der 100-m-Olympiasieger von Rom 1960: ―Die werden schon satt geboren und dann noch verhätschelt.‖ Die Athleten von heute hätten bei Misserfolgen nur Ausreden parat: „Plötzlich kann man das Wasser nicht mehr spüren, der Wind hat einen gestreift, die Wellen waren zu hart.‖ Unverständlich ist dem heute 65-jährigen zum Beispiel das Verhalten des Europameisters und in Athen im 400-m-Zwischenlauf gescheiterten Ingo Schultz... „Wenn ich den acht Tage vor Olympia höre, wie er, nachdem er eine schwache Zeit gelaufen ist, sagt, dass er Gold holen will! Da will ich vor Wut in den Fernseher springen‖, sagte Hary: ―Das grenzt an Arroganz.‖
Das olympische 100-m-Finale mit Justin Gatlin (USA) als Sieger empfand er als Farce. „Wenn man sich die 100 Meter angeschaut hat, fragt man sich angesichts dieser Muskelberge schon, ob es Sprinter oder Bodybuilder sind‖, so Hary: ―Jeder, der mal das Wort Doping gehört hat, wird bei diesen Muskeln nachdenklich.‖…
GENERAL-ANZEIGER BONN 25.8.2004
Lustverlust
Eines der bemerkenswertesten Statements der jüngsten Zeit aus dem deutschen Olympia-Lager ist dieses: „Unsere Leute sind chancenlos. In mir wächst das Gefühl, dass ich keine Lust mehr habe‖, sagt Helmut Schreiber, der Teamarzt der deutschen Leichtathleten. Schreiber ist zu diesem niederschmetternden Fazit gekommen, angesichts einer entmutigenden Beobachtung in Athen: Alle hier dopen, nur wir nicht… Klar scheint nur: Wenn das nicht aufhört in der LeichtathIetik, der Mutter aller Sportarten, dann können die Athleten das Doping aus einem
anderen Grund bald einstellen: Es interessiert sich nämlich niemand mehr für ihren Sport.
KARL-HEINZ WAGNER
KÖLNER STADT-ANZEIGER 25.8.2004
Katja Schumacher unter Dopingverdacht
…Im Athener Nobel-Vorort Vouliagmeni ist Anja Dittmer auf Tauchstation gegangen. Die deutsche Top-Triathletin geht in sich, um sich ganz auf das heutige Highlight zu fokussieren. Wenn sie in brütender Mittagshitze über die olympische Distanz (1,5 Kilometer Schwimmen - 40 Radfahren - 10 Laufen) eine Medaille gewinnt - es stände der Deutschen Triathlon-Union gut zu Gesicht. Ganz und gar nicht passt den komplett in Griechenland weilenden DTU-Funktionären die sich verdichtende Nachricht, dass eine Top-Athletin aus dem Langstreckenbereich unter Dopingverdacht steht. Katja Schumacher, hinter Nina Kraft derzeit zweitbeste Athletin auf der Langstrecke …Nach FR-Informationen liegt bei der 36-Jährigen längst eine positive A-Probe vor, die im Anschluss an den Ironman Frankfurt am 11. Juli … genommen wurde. Die DTU teilte kürzlich die Verdächtigung auch kurz und knapp mit - gab aber weder den Namen noch die unerlaubte Substanz an, die zur positiven Probe führte.
Angesprochen auf den unangenehmen Vorfall, geben sich die Verbandsfunktionäre ausgesprochen einsilbig … Es scheint kein Zweifel zu bestehen, dass es sich um Katja Schumacher handelt, die im Vorfeld des Ironman Germany von Sponsor Opel als Botschafterin präsentiert wurde, 8000 Euro Preisgeld für ihren zweiten Platz zuzüglich Startgeld kassierte … Die Heidelbergerin …ist derzeit nicht erreichbar. Offenkundig hat sie sich nach San Diego abgesetzt. …
FRANK HELLMANN
FRANKFURTER RUNDSCHAU 25.8.2004
Spannend bis zum letzten Tropfen
Der Marathon der Männer, eine Art Symbol für den Grossanlass, führte am Sonntagabend auf der historischen Strecke von Marathon nach Athen. Die Läufer gaben dabei ein Bild der Leidensfähigkeit ab, ohne die der Spitzensport nicht auskommt. Ebenso findet die Hatz nach Erfolgen bei Olympia – das Motto, wonach die Teilnahme bedeutender sei als der Sieg, war schon in der Antike eine Mähr – nicht ohne Doping statt. Die Leichtathletik kann nicht nur für sich in Anspruch nehmen, die bedeutendste Sportart an Sommerspielen zu sein, sondern sie muss auch damit fertig werden, in Athen als einzige drei erwiesenermaßen
schummelnde Olympiasieger hervorgebracht zu haben... Damit nicht genug: Kelly Holmes, Siegerin über 800 m und 1500 m, lief in Athen als 34-Jährige Zeiten wie mit einer Ausnahme seit vielen Jahren nicht mehr. Die 400-m-Hürdenläuferin Fani Halkia aus Griechenland verbesserte sich innert Jahresfrist um vier Sekunden. Beide Athletinnen profitieren von der Unschuldsvermutung: Gedopt hat, wer erwischt wird. Überführt wurden vornehmlich Athleten aus Osteuropa. Leicht nachweisbare Anabolika wurden ihnen zum Verhängnis. Das legt die Vermutung nahe, dass für raffiniertere Methoden das Geld fehlt. Nicht erstaunen würde es, wenn die in Athen entnommenen Urin- und Blutproben (25 Prozent mehr als in Sydney) nachträglich positive Befunde ergäben. Jacques Rogge, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, kündigte an der letzten Pressekonferenz in Athen an, dass die Proben acht Jahre lang eingefroren..., um so später allenfalls neu verfügbaren Tests unterzogen zu werden.
Jan Mühlethaler
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG 30.8.2004
DOPING – Deprimierende Sprachlosigkeit
Drei Wochen ist es jetzt her, dass die Kanadierin Abby Hoffman ihren Council-Mitgliedern eine beschämende Analyse zur Anti-Doping-Politik des Weltverbandes IAAF vorgelegt hat. Das dreiseitige Papier... gipfelte in der These: Die jüngsten Dopingfälle seien der Beweis, dass weder die Nationalverbände noch die IAAF genug unternehmen, um einen fairen Wettkampf zu gewährleisten. Es gebe „erschreckende Schwächen“ im Testsystem: „Unser Anti-Doping-System ist nicht transparent. Die derzeitige Situation, dass die Anti-Doping-Beauftragten exklusiv nur einer Person berichten - dem Generalsekretär -, ist nicht zu akzeptieren. Es wirft Fragen zur Integrität unseres Programms auf. Es gibt reichlich Beweise dafür, dass viele Verbände überhaupt keine Trainingskontrollen durchführen, aber wir unternehmen nichts dagegen. Es gibt auch Beweise, dass einige Verbände bewusst unser Doping-System untergraben: Sie geben uns falsche Informationen, sie ermitteln nicht in Dopingfällen, sie behaupten ständig, positiv getestete Sportler seien unschuldig, unabhängig von den präsentierten Fakten, in einigen Fällen schützen sie sogar die Doper und vertuschen Dopingverstöße.“ Dies betreffe nicht nur kleine, sondern vor allem „anerkannte große Verbände mit vielen erfolgreichen Athleten“. ...Am 1. Juni 2004 hat der Däne Georg Facius seinen Kollegen von der Anti-Doping-Kommission des Europäischen Leichtathletikverbandes (EAA), der auch der deutsche
Verbandspräsident Clemens Prokop angehört, eine Dokumentation über haarsträubende Mängel im Dopingkontrollsystem zugesandt. Die Beispiele, die Facius anonymisiert aufführt, decken sich mit der Analyse des IAAF-Councilmitglieds Abby Hoffman, die von Diack und Gyulai (Generalsekretär und Präsident der IAAF - A.d.R.) unter Verschluss gehalten werden soll.
Facius kommt in seiner Expertise zu dem deprimierenden Urteil, es gebe in den Führungsgremien von IAAF und EAA sowie unter den Meeting-Organisatoren zu viele Personen, „die solche Berichte und die Personen, die solche Berichte anfertigen, verabscheuen“. Die Anti-Doping-Kommission der EAA habe sich seit ihrer Gründung 2001 nur einmal getroffen, schreibt Facius. Das sei ein Skandal. „Es müsse so viel gegen Doping unternommen werden, doch nichts wird getan.“
Jens Weinreich
Berliner Zeitung 11./12.9.2004
Medien, Macht und heißer Sand
…Nirgendwo sonst ist die Musik lauter, die Stimmung auf den Rängen ausgelassener und die Haut der Sportler entblößter als an der Faliro-Küste im Südwesten Athens. Dass es einmal so weit kommen konnte, dafür ist in erster Linie der US Fernsehsender NBC verantwortlich. Auf der Suche nach einem neuen Quotenkick kamen die Strandvolleyballer gerade recht. „Olympia ist nicht allein Sport. Es ist ein großes Familienevent‖, sagt NBC-Sportchef Dick Ebersol. Der Mann, der als mächtigster Spieler im olympischen Medienzirkus gilt, soll vor Atlanta 1996 die NBC-Lizenzzahlungen davon abhängig gemacht haben, dass Beachvolleyball in den olympischen Reigen aufgenommen wird. Dahinter steckt das Kalkül eines TV-Riesen, der die alleinigen amerikanischen Fernsehrechte für Beachvolleyball besitzt. Jetzt, da sich die Sportart als olympisch anerkannte Disziplin bestens verkaufen lässt, ist der Wert der eigenen Übertragungsrechte deutlich gestiegen. …
MATTHIAS EBERLE
HANDELSBLATT 24.8.2004
Inquisition am Beckenrand
Schade, dass die Schwimmerin Antje Buschschulte am Ende ihres Wettkampfes über 100 Meter Rücken keine Kraft mehr hatte. ...So fiel sie der Inquisitorin am Beckenrand in die Hände und war dieser hilflos ausgeliefert. Würde Christa Haas über ein Minimum an Einfühlungsvermögen verfügen oder auch nur ihrer Berufspflicht nachkommen, nämlich zu moderieren, das heißt zu vermitteln; ach was, hätte sie einfach ein bisschen Anstand, würde sie über eine Sportlerin, die
physisch und psychisch sichtbar am Ende ist, nicht mit dem durchgeladenen Mikrofon losgehen...
Ein Blick in Antje Buschschultes Gesicht genügte, um alles über ihre Verfassung im Moment der Niederlage zu wissen. Doch Christa Haas, eine Sportjournalistin, die nicht in der Lage ist, eine einzige vernünftige Frage zum Schwimmsport zu formulieren; die an ihrem Ohrhörer hängt, wie ein Patient am Tropf; die unaufhörlich von dem so genannten Debakel von Sydney schwadroniert, obwohl die Probleme in Athen ganz andere sind (was ihr auch jeder sagt); diese Christa Haas also ist von der Mission beseelt, den nationalen Schwimmern Versagen nachzuweisen. Sie fasst jede verpasste Medaille, die sie auf Grund mangelnder Sachkenntnis erst herbeigeredet hat, als persönliche Beleidigung auf. Sie nimmt sich das Recht heraus, Sportler, die tropfnass und ohne Hemd vor ihnen stehen, auch trainingsmethodisch oder gar charakterlich bloßzustellen. In ihren nicht nur ahnungslosen, sondern auch dreisten Einvernehmungen schwingt immer die Unterstellung mit, die Sportler hätten sich nicht richtig vorbereitet, wären zu locker in den Wettkampf gegangen oder zu fest oder irgendwas dazwischen. Als seien sie absichtlich langsamer geschwommen, als es ihnen möglich gewesen wäre.
Wenn in Athen jemand versagt, dann ist es zunächst einmal Christa Haas. Aber sie versagt nicht allein. Ihre Moderation ist symptomatisch für eine insgesamt ärgerliche Berichterstattung, die über das Medaillenzählen selten hinauskommt.
FRANK JUNGHÄNEL
BERLINER ZEITUNG 18.8.2004
Werbeprostitution in Zeiten Olympias
Die Olympiaberichterstattung war für den Rundfunk- und Fernsehkonsumenten auch ein Festival der Klänge. Keinen Sendetermin ließ Gott verstreichen, ohne dass sich in unser Gehirn ein jeweiliger Trailer von ZDF (Anastacia) oder ARD (Sirtakigezitter) hineinfräste. Garniert von Werbesprüchen des Baumarktes OBI, der Anlegerfirma Payback und Telefon-Samsung. Da machte es schon nichts mehr aus, dass uns auch Michael Steinbrecher, Günter Jauch und einige Schauspieler ins Ohr säuselten, das Neueste von T-Mobile zu kaufen. Werbeprostitution in Zeiten Olympias.
Wenn dieses Gewitter unbeschadet überstanden war, durfte sich unser Ohr an Dialekten des Vaterlandes erfreuen, zumeist westdeutschen. Womit auch in diesem Fall klargestellt war, wer in den Medien das Sagen hat. Ostdeutsch klang es erst wieder, wenn Goldmedaillengewinner, zumeist aus Brandenburg oder Sachsen, zu Wort kamen. East meets West.
Detlev Lücke
Freitag 3.9.2004
Die Helden danken ab
Als am 2. Oktober 1988 in Seoul zum letzten Mal die DDR-Flagge am olympischen Fahnenmast emporstieg, ahnte noch niemand die histori-sche Tragweite der Situation. Reichlich ein Jahr später fiel die Mauer, die deutsche Vereinigung brachte das Ende des Staates, der in der Sportwelt drei Jahrzehnte lang für Aufsehen gesorgt hatte. 578 olympische Medaillen, darunter 203 goldene, gewann die DDR beim größten Sportspektakel zwischen 1956 und 1988. Mitunter betrügerisch waren die Methoden, mit denen die DDR Medaillen einheimste. Doch das vereinte Deutschland freute sich über die neuen Helden, die maßgeblich dazu beitrugen, dass das gerade vereinte Team 1992 in Barcelona mit 82-mal Edelmetall (33 Gold/21 Silber/28 Bronze) die beste Ausbeute der Olympiageschichte für die Bundesrepublik verbuchte. Die Sportstars aus dem Osten aber sind älter geworden, die systematische Sichtung aus DDR-Zeiten ist unter den neuen gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht mehr möglich. 16 Jahre nach Seoul wird der deutsche Sport in Athen wohl zum letzten Male von der umstrittenen Sportförderung jenes Staates profitieren, der den sportlichen Erfolg als Sieg des sozialistischen Systems zu verkaufen suchte.
Berliner Zeitung 9.8.2004
dpa
Minister Schily lobt den deutschen Sport…
Aus dem Funkgerät quäkt eine Männerstimme: “Sechs Wagen, Polizei-auto voraus. Die junge BGS-Beamtin, die sonst routiniert-distanziert den Eingangsbereich des Deutschen Hauses überwacht, ist ganz aufgeregt. In wenigen Minuten muss sie das Tor öffnen für den hohen Gast. Drinnen, in der kühlenden Lobby, werden die zahlreichen Helferinnen ein letztes Mal eingewiesen: “Ihr bleibt hier solange stehen, bis der Minister mit seinem Tross vorbei gegangen ist.” Alle starren hinaus in den Hof, wo nun tat-sächlich Otto Schily mit seinem Gefolge auftaucht. Zügig nimmt der Sportminister die letzten Stufe, im Eingangsbereich macht er an einer Plastikwand halt, auf der Sponsorenlogos prangen. Es ist eine Übungs-anlage die Kraft und Geschwindigkeit errechnet, wenn jemand mit einem Degen auf kreisrunde Messfelder einsticht.
Schily nimmt die Sportwaffe entgegen und sticht zu. Immer wieder. Die Umstehenden applaudieren. “Wirklich Klasse, ja, ja, ja” begeistert sich NOK-Präsident Klaus Steinbach. “Super” rühmt Axel Achten, Chef der Deutschen Sport-Marketing (DSM). “Das ist ja wunderbar”, entzückt sich
Schilys Sportsprecherin Gabriele Kautz. Der Minister hat großen Spaß, er wird von allen Seiten bei Laune gehalten.
Jens Weinreich
Berliner Zeitung 24.8.2004
Wir suchen nach Schuldigen
Mein Olympia-Tagebuch (3): Zwei Stars und ein Skandal
Von Petros Markaris
Warum, frage ich mich seit heute Morgen. Warum müssen wir Griechen mal wieder eine Schlappe einstecken? Nach so viel Mühe, so viel Anstrengung für diese Olympischen Spiele dachten wir stolz: Wir haben es geschafft! Und nun dieser Skandal, gerade am Vorabend der Eröffnungsfeier. Was sind wir eigentlich: Pechvögel – oder Idioten?
Dabei wussten wir, spätestens seit den Spielen von Sydney, dass Kostas Kenteris, unser 200-Meter-Olympiasieger, und Sprinteuropameisterin Katerina Thanou unter Doping-Verdacht standen und entsprechend scharf beobachtet wurden. Wir wollten es nicht glauben, und was wir nicht glauben wollen, schieben wir den bösen Fremden in die Schuhe. Allen voran den Amerikanern, dann den bösen Engländern, schließlich den bösen Australiern, die unsere Stars in Verruf bringen wollen. Die Deutschen zählen seit Otto Rehhagel nicht mehr dazu. Vielleicht wollten wir aber einfach nur den Kopf in den Sand stecken. Unsere Handlungsweise deutet darauf hin.
Man hat also die beiden Athleten nicht rechtzeitig informieren können, und sie haben den Doping-Test verpasst? Wer soll das glauben im Zeitalter der Handys und des SMS? Und dann dieser Unfall – oh Gott! Zwei griechische Superstars der Leichtathletik haben einen Motorrad-Unfall, und kein Mensch merkt was. Ein Unbekannter fährt sie ins Krankenhaus und verschwindet dann spurlos. Auch ein Dieb ist zur Stelle, der prompt das Motorrad klaut. Anfangs ist von Kratzern die Rede, aber am nächsten Morgen werden daraus schwere Hirn- und Rückgratverletzungen. Und das stellt man in einem Krankenhaus für Verkehrsunfälle erst nach zehn Stunden fest? So schlechte Ärzte haben wir in Griechenland nicht, und so schlechtes Theater wird bei uns auch nicht gespielt. …Wir sind ein zwie-spältiges Land. Einerseits sind wir in Europa integriert. Andererseits sind wir, von der Mentalität her, in mancher Hinsieht noch ein Balkanland. Und im Balkan gilt noch immer der Satz von Jean-Paul Sartre: ‖Die Hölle sind die anderen.‖
DER TAGESSPIEGEL 25.8.2004
Petros Markaris, der als Romancier, Dramatiker, Film- und Fernsehautor sowie Übersetzer von Goethe, Brecht und Bernhard in Athen lebt, schrieb für die Zeitung dreimal wöchentlich ein Olympia-Tagebuch.
...über die Zukunft der deutschen Leichtathletik
Dies ist die Zeit der Besserwisser. Die Phalanx der Rechthaber wächst immer dann dramatisch an, wenn sich auf irgendeinem Gebiet Misserfolg einstellt. So ist das scheinbar naturgegeben, auch bei der deutschen Leichtathletik. ...bei aller Planbarkeit von Erfolg ist eines nicht außer Acht zu lassen: Es gehört auch der Athlet als Mensch dazu, dem nicht Talent in gleicher Weise in die Wiege gelegt ist.
Deshalb vernebelt eine erneut entfachte Diskussion über den Sinn von Konzentration, über Regionalisierung, Nesterbildung, größere Einflussnahme der Heimtrainer, wirksamere Steuerung durch die Bundestrainer, die Beschneidung oder Erweiterung deren Kompetenzen nur die gegenwärtige Situation, vor allem die Wege aus der Krise, statt sie zu erhellen.
...Wir dürfen nicht, wie bei einer Springprozession, von einem Konzept zum nächsten springen, sondern müssen zwei Dinge grundsätzlich anerkennen: Entscheidend ist zunächst, dem Athleten die Verantwortung für seine Leistung und deren Präsentation vollständig zurückzugeben. Dies bedeutet, den Athleten nicht mehr zum Objekt verschiedener Interessen zu degradieren, sondern ihn im Mittelpunkt zu belassen. ... Probleme lagen in der Vergangenheit auch in einer Verantwortungsverzettelung, gegenseitigem Zuschieben von Verantwortungen und daher Konzeptionslosigkeit innerhalb eines Athleten-Teams. Bestimmt der Manager, welches Meeting aus ökonomischen Interessen besucht wird? Entscheidet es der Heimtrainer aus fachlicher Ausrichtung auf den Saisonhöhepunkt? Oder entscheidet es der Bundestrainer unter Berücksichtigung der Verbands- und Nationalmannschaftsinteressen? Diese Fragen müssen geklärt sein.
...Leichtathletik-Leistungssport ist kein Experimentierfeld für Hasardeure oder Selbstdarsteller, sondern knochenharte Sisyphos-Arbeit. Hierzu ist absolutes Vertrauen derjenigen nötig, um die es geht, die Haupt-, nein besser die Alleinakteure...
RÜDIGER NICKEL
(Vizepräsident des DLV, nach Athen 2004 zurückgetreten)
Berliner Zeitung 14.9.2004
Das Trainerproblem
Mit wenig Zuversicht kann heute die Frage nach der Zukunft der Leichtathletik-Trainer beantwortet werden. Sind die Athleten wenigstens semi-professionell organisiert, so ist eine zukunftsträchtige Organisation der Leichtathletik-Trainer nicht zu erkennen. Auf diese Weise sind sie weitgehend auf sich selbst verwiesen, befinden sich in extremen Abhängigkeiten zum Erfolg ihrer Athleten, und ihre Arbeit wird nur im Ausnahmefall angemessen honoriert. Ein stabiles Berufsbild ist nicht zu erkennen, es mangelt erheblich an kontrollierten Weiterbildungsmaßnahmen, und auch die öffentliche Anerkennung der Trainer ist nur sehr unzureichend. Die bestehenden Belohnungssysteme sind meist nur auf Athleten ausgerichtet. Die Trainer sind hingegen in ihrer großen Mehrheit auf einen Hauptberuf angewiesen, weil die Honorierung meist nicht einmal den Wert einer Nebentätigkeit erreicht. Dass diese Art von Beruf von Überalterung betroffen ist und dass junge Menschen nur noch sehr selten als Berufswunsch den des Trainers äußern, darf angesichts dieser Situation nicht überraschen.
HELMUT DIGEL
Leistungssport 34 (2004) 5
Sägen, raspeln und schleifen für den Erfolg
Unter grellem Neonlicht thront das Arbeitsgerät von … Birgit Fischer … Ein Anflug vorolympischen Lampenfiebers inmitten des Berliner Industriegebiets Schöneweide. In einer Woche … stehen sie beinahe selber am Start, die Mitarbeiter des Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten, kurz FES. … 25 Physiker, Informatiker und Maschinenbauer beschäftigen sich mit Bauplänen. … Sie arbeiten unter weltweit einzigartigen Bedingungen. Kein anderes Land hat die Materialentwicklung der olympischen Sportarten derart konsequent zentralisiert wie Deutschland. … Nicht ein Satz der Ostalgie kommt Schaale angesichts des gigantischen Budgets der Konkurrenz über die Lippen. Das erstaunt, denn die FES-Geschichte nach der Wende konnte nicht immer an die sorgenfreie DDR-Zeit anknüpfen. 1962, als der Ost-West-Konflikt auf den Sport überschwappte, wurde das Institut unter strenger Geheimhaltung gegründet, seitdem wurden üppige Summen in die Entwicklung neuer Boote und Fahrräder gesteckt. Der Apparat wurde immer weiter aufgebläht, 1989 kämpften 188 Mitarbeiter um die Materialvorherrschaft.
Nach der Wende wurde die Lage schwierig: Obwohl der Einigungsvertrag in Kapitel 39 das FES als erhaltenswürdig einstufte und die Mitarbeiterschaft reduziert wurde, stand das Institut vor dem Aus: „Die Schiffbauindustrie witterte Konkurrenz, und über lokale Bundestagsabge-ordnete wurden wir vom Haushaltsausschuss auf die Abschussliste
gesetzt‖, so Schaale. Der Vorstoß scheiterte erst 1996 an der Lobby der Sportverbände. Seitdem stellt niemand mehr das FES infrage, zu erfolgreich ist dessen Bilanz. In Sydney war das Institut an 20 Medaillen beteiligt…
CHRISTIAN PUTSCH
WELT AM SONNTAG 8.8.2004
Nicht auf wissenschaftliche Begleitung verzichtet
Wenn man Birgit Fischer auf dem Wasser sieht, glaubt man, ein Stück des DDR-Sporterbes zu sehen. Nicht zu Unrecht. Natürlich waren damals 127 Trainer im Osten nicht zu übernehmen, aber wir haben nicht den Fehler gemacht, auf wissenschaftliche Begleitung und Leistungsauswertung zu verzichten. Wir wären auch dumm gewesen.
Josef Capousek
Chefbundestrainer, Deutscher Kanu-Verband
Forschung nur nachrangig
Bezogen auf die Gesamtzahl der geförderten Projekte hat die Forschung zum Nachwuchsleistungssport im Rahmen der Forschungsförderung des BISp nur nachrangige Bedeutung. Von 123 im Jahre 2003 vom BISp geförderten Projekten entfielen lediglich 13 Projekte auf den Bereich des Nachwuchsleistungssports. Dieser Anteil war in den zurückliegenden Jahren ähnlich. Beispielsweise betrafen im Jahr 1995 von 109 geförderten Projekten nur 7 Projekte Themen des Nachwuchsleistungssports...
Aus der Sicht der Sportpraxis bestehen die Erkenntnisdefizite wohl vor allem bei auf die langfristige Entwicklung ausgerichteten sportartspezifischen Details zur Trainingsbelastung und Trainingsbeanspruchung, die wirkungsvolleres Handeln im Training und eine Reduzierung des Gesundheitsrisikos ermöglichen... Auf einem Symposium der Sektion Trainingswissenschaft im Jahre 1995... wurden u.a. als Gründe genannt:
- Wissenschaftlich komplexe Fragestellungen erschweren den Zugang.
- Grundlagenwissen zur Lösung praxisrelevanter Forschungsprobleme fehlt oft.
- Relativ große Zufälligkeit des Trainingshandelns erschwert das Finden von Gesetzmäßigkeiten.
- Multidisziplinäre Untersuchungen stoßen auf organisatorische Schwierigkeiten und sind für den wissenschaftlichen Nachwuchs wenig attraktiv.
- Lange Untersuchungszeiträume sind für Qualifikationsforschung nur bedingt geeignet.
- Ethisch begründete Methodeneinschränkungen machen Forschung zum Teil unattraktiv...
Klaus Carl
Leistungssport 34 (2004) 4
...über Anforderungen auf dem Weg zur Weltspitze
Eigentlich müßte der Anfang mit den Jüngsten ganz anders erfolgen. Normal ist, dass ein sechs-, sieben-jähriges Kind zuerst mit dem Vater spielt, dann vielleicht in eine Junioren-Gruppe kommt und irgendwann die ersten Einzelstunden bei einem guten Trainer erhält. Die aber sollte es schon als Fünf-, Sechs-, Siebenjährige erhalten. Das, denke ich ist ein Vorteil von Russland (im Tennis – A.d.R.), wo sie auf diese Weise einen frühen Vorsprung herausholen.
...Fehler werden oft ... bei der Sichtung gemacht. Wenn man zu Jugendturnieren erst zum Viertelfinal kommt, hat man die wirklichen Talente vielleicht schon verpasst, denn das sind oftmals diejenigen, die auf den Punkt spielen, die etwas riskieren, aber nur noch nicht stabil genug sind, um sich gegen Widersacher zu behaupten, die den Ball nur ins Feld schubsen. Wer es im Kopf hat, auf den Punkt zu spielen, dem kann man die nötige Sicherheit antrainieren. Das Umgekehrte aber geht in der Regel nicht.
ERIK VAN HARPEN
Neue Zürcher Zeitung, NZZ, am Sonntag, Nr. 26
...nahe der Talsohle
>Ein Unternehmen, das nicht funktioniert, funktioniert deshalb nicht, weil die Führung nicht funktioniert<, orakelte Peter Zühlsdorff im Rückblick auf den Reinfall Leipzigs. Wenn, was wahrscheinlich ist, der erfahrene Wirtschaftsmanager nicht nur das Bewerbungskomitee 2012, sondern den derzeitigen Zustand des gesamten deutschen Leistungssports meint, beschreibt er damit ziemlich genau die Lage...
Hinzu kommt als weiterer Hemmschuh für die Entwicklung der im deutschen Sport seit Jahr und Tag herrschende Mangel an Solidarität. Begünstigt durch das Föderativsystem des NOK und DSB bewirkten die höchst unterschiedlichen Teilhaberschaften an der Kommerzialisierung des Sports allen Gemeinschaftsbekundungen zum Trotz die Bildung einer Drei-Klassen-Gesellschaft: die wenigen, mit hohen Erträgen der Kommerzialisierung gesegneten Verbände besonders telegener und publikumswirksamer Sportarten, eine Mittelschicht von Verbänden, die dank zusätzlich zur staatlichen Förderung erwirtschafteter Zugewinne zwar nicht üppig, aber mehr oder weniger auskömmlich operiert und die von nennenswerten Nebeneinnahmen abgeschotteten Verbände, für die sparsamste Haushaltsführung oberstes Gebot ist... Eine Art
Finanzausgleich, wie er zwischen den Bundesländern erfolgt, findet nicht statt.
...Soll es wieder aufwärts gehen, so hat der Sport... keine Zeit mehr zu verlieren. ...Berufene und Unberufene (liefern) dazu mehr oder minder kluge Vorschläge der Zukunftsgestaltung. Für ihre Verwirklichung fehlt allerdings bisher die wichtigste Voraussetzung: die Verfügbarkeit eines qualifizierten Führungspotentials.
Willi Ph. Knecht
Athen 2004. Unser Olympiabuch. Berlin 2004, S.100 ff
...nicht selten Reform um der Reform willen
Institutionelle Angleichungsprozesse, wie man sie in der Politik und in der Wirtschaft beobachten kann, finden schon seit längerer Zeit auch in den Hochleistungssportsystemen der erfolgreichsten Nationen statt. Angleichung ausgelöst durch Druck, aber auch Angleichung hervorgerufen durch Imitationsprozesse ist allenthalben zu beobachten. Von einer autonomen Verfasstheit der Systeme des Hochleistungssports kann schon längst nicht mehr die Rede sein. Die Einflussnahme, insbesondere aus dem Bereich der Politik, ist evident. Die Suche nach effizienter Steuerung führt nahezu zwangsläufig zu hierarchischen Strukturen. Auch diesbezüglich lässt sich ein Prozess der internationalen Angleichung erkennen. Ähnlich wie in der Wirtschaft und Politik gibt es für das System des Hochleistungssports auch vermehrt einen Legitimationszwang, dem man dadurch begegnet, dass Modernisierung vorgegeben wird, ohne dass in der Praxis selbst entscheidende Veränderungen eintreten. ...Dies ist im Hochleistungssport gerade auch deshalb der Fall, weil man mit einem Problem konfrontiert ist, dessen Ursachen vielfältig und mögliche Lösungswege meist unklar sind. Sportorganisationen sind deshalb nicht selten nachahmende Organisationen: Erfolgreiche Modelle werden relativ schnell imitiert und über die Organisationsgrenzen hinweg adaptiert. ...Auch im Hochleistungssport ist man ständig auf dem Sprung, permanent werden neue Reformen verlangt, Reformen werden zur Routine. Doch das Bemühen um Effizienz wird dabei nicht selten zu einer Reform um der Reform willen.
Helmut Digel/Verena Burk
Beilage 26/2004 zur Wochenzeitung Das Parlament
Was vor 100 Jahren anders war...
Von KLAUS HUHN
Vermutlich fanden die Spiele der III. Olympiade in St. Louis vom 1. Juli bis 23. November 1904 statt, aber kaum ein Historiker wird die vorhandenen Fakten als zureichend bewerten, um diese Daten auch nur unter „halb offiziell“ einzuordnen. Im Bericht des „Deutschen Reichsausschusses für olympische Spiele“ (die Kleinschreibung ist den vom Kölner Diem-Institut publizierten Dokumenten entnommen. A.d.A.), der erst im Mai 1905 zu Papier gebracht worden war und demzufolge kaum „Flüchtigkeitsfehler“ enthalten dürfte, findet sich die Zeile: „Die eigentlichen olympischen Spiele fanden vom 29. August bis 3. September statt...“1) Dieser Bericht und andere Schriftstücke offenbaren, wie sehr sich die Spiele in hundert Jahren gewandelt haben, was an einigen Beispielen belegt werden soll.
STARTGELDER
Auf die Amateureigenschaft jedes Teilnehmers wurde streng geachtet. Geld spielte nur bei der Anmeldung der Athleten eine Rolle, denn es mußten Startgelder entrichtet werden. Der Deutschamerikaner Robert C. Kammerer, der den Funktionären des Deutschen Olympiaausschusses bei der Abwicklung der Formalitäten half, legte am 16. August 1904 in einem Brief Rechenschaft über die von ihm geleisteten Vorauszahlungen.
„...Ich empfing einen Brief von Dr. Gebhardt sowie die Anmeldungen der Athleten, Schwimmer und Fechter, die ich gleich gestern Herrn Sullivan per eingeschriebenen Brief schickte. Ich informierte ihn auch, daß Sie die Eintrittsgebühren zahlen würden...
J. Runge Athletik 400 m Lauf Meisterschaft $ 2,-
J. Runge Athletik 800 m Lauf Meisterschaft $ 2,-
J. Runge Athletik 1500 m Lauf Meisterschaft $ 2,-
J. Runge Athletik Running, Broad Jump, Handicap Meisterschaft $ -,50
J. Runge Athletik 440 yards Lauf Meisterschaft $ -,50
J. Runge Athletik 1 Meile Meisterschaft $ -,50
J. Runge Athletik 1 Meile Meisterschaft $ -,50
P. Weinstein Athletik Pole vault Meisterschaft $ 2,-
...―
Insgesamt überwies Kammerer 453,30 $ an Startgebühren. Bekannt wurde nicht, in wie viel Disziplinen der Mittelstreckler Runge tatsächlich startete. Überliefert ist nur der Sieg in einem Vorgaberennen über 880 Yards und das „Weltmeisterschaftsfinale―, in dem neun US-Amerikaner, zwei Kanadier und Runge starteten. In seiner Beschreibung der Ereignisse stützte er sich auf die Übersetzung eines Zeitungsberichts, in dem es hieß: „...Runge versuchte von neuem zu führen, aber die Amerikaner hielten in ihrer Reihe dicht zusammen und sperrten den Deutschen aus und hinderten ihn so daran, vorbeizukommen.―2) Mit einer
allerdings nur geschätzten Laufzeit von 1:57,1 min wurde er Fünfter. Die deutsche Leichtathletikmannschaft bestand damals nur aus ihm und dem Hallenser Paul Weinstein, der im Hochsprung mit 1,778 Dritter wurde und im Stabhochsprung auf Rang sieben einkam.
INTERNATIONALES OLYMPISCHES KOMITEE
Der eigentliche Veranstalter der Spiele, das IOC, war faktisch gar nicht zugegen. Der listige IOC-Präsident Coubertin behauptete in seinen Memoiren: „Das Internationale Olympische Komitee war durch die Herren Fr. Kemeny und W. Gebhardt vertreten.―3) Die Wahrheit sah ein wenig anders aus. Man hatte das IOC zwar nach St. Louis eingeladen, aber Coubertin fürchtete, „wir wären sechs oder sieben um einen für dreißig vorbereiteten Tisch gewesen. Und man würde gesagt haben: 'Mann! Was denn? Das kann doch nicht das Komitee sein, das soviel Schwierigkeiten macht.‗―4) Willibald Gebhardt war bekanntlich das 1896 gewählte einzige deutsche IOC-Mitglied, das die Teilnahme deutscher Athleten an den ersten Spielen gegen heftigsten politischen Widerstand durchsetzte. Er war ein nicht sonderlich bemittelter Lebensmittelchemiker, der die Reise in die USA nebenbei nutzen wollte, um einige seiner Patente dort zu vermarkten, aber nahezu erfolglos blieb. Einen großen Teil der Reisekosten trug er – wie von den IOC-Regeln damals gefordert – selbst.
DOPING
Der Marathonlauf endete mit dem Sieg des US-Amerikaners Thomas Hicks. Sein Trainer brachte die Umstände dieses Erfolgs gewissenhaft zu Papier und trug sie ein Jahr darauf bei einem Trainermeeting in den USA vor. Der Wortlaut wurde überliefert und in der Regel zitiert, wenn dem Ursprung des Dopings nachgegangen wurde. „Der Marathonlauf zeigte vom medizinischen Standpunkt deutlich, daß Drogen für die Athleten bei einem Straßenlauf von großem Nutzen sind. Zehn Meilen vor dem Ziel waren bei Thomas Hicks Anzeichen eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs zu bemerken. Als er um ein Glas Wasser bat, verweigerte ich es ihm: ich gestattete ihm lediglich, den Mund mit destilliertem Wasser auszuspülen. Er schien sich zu erholen bis sieben Meilen vor dem Stadion. In diesem Augenblick sah ich mich gezwungen, ihm ein tausendstel Gran Strychnin mit einem Eiweiß einzuflößen. Obwohl wir auch französischen Cognac bei uns hatten, verzichteten wir darauf, ihm noch weitere stimulierende Mittel zu geben. Vier Meilen vor dem Ziel bat Hicks darum, sich hinlegen und ausruhen zu dürfen. Weil wir aus Er-fahrung genau wußten, was passieren würde, wenn Thomas sich jetzt niederlegen würde, gaben wir dazu nicht die Zustimmung und empfahlen ihm vielmehr, im langsamen Schritt weiterzugehen.
Als Hicks die 20-Meilen-Marke passierte, war sein Gesicht aschfahl, so daß wir ihm noch einmal ein tausendstel Gran Strychnin, zwei Eier und einen Schluck Brandy gaben. Außerdem rieben wir seinen ganzen Körper mit warmem Wasser ab, das wir in einem Boiler in unserem Automobil hatten. Nach diesem Bad erholte sich Hicks noch einmal. Die letzten beiden Meilen lief Hicks nur noch mechanisch - wie eine gut geölte Maschine. Seine Augen verloren jeden Glanz, das Gesicht war völlig blutleer, die Arme hingen schlaff herab, und Hicks vermochte kaum noch die Beine zu heben, die Knie wirkten völlig steif. Er war hei Bewußtsein, doch plagten ihn Halluzinationen. So wurde die letzte Meile zu einer einzigen Qual. Nachdem er noch zwei Eier zu sich genommen hatte, erneut gebadet worden war und einen zusätzlichen Schluck Brandy erhalten hatte, ging er mühsam die letzten beiden Hügel vor dem Ziel hinauf und schaffte es. Hicks verlor während des Rennens acht Pfund, aber nach einem ausgedehnten Nachtschlaf und einer guten Mahlzeit fand man zur großen Überraschung heraus, daß er die Hälfte der verlorengegangenen Pfunde bereits wieder zurückgewonnen hatte.―
Dieser Bericht ist besonders aufschlußreich im Hinblick auf die Dopingaffären hundert Jahre später.
Umgang mit „FARBIGEN―
Am heftigsten dürften zwei „Versuchstage― gegen die olympischen Prinzipien verstoßen haben. Nach dem einzigen halbwegs verläßlichen Bericht dem „Spalding Athletic Almanach― von 1905 fanden sie am 12. und 13. August 1904 statt. Coubertin kommentierte die skandalösen Tests in seinen Memoiren mit den Worten: „Es gab zwei, sonderbarerweise ,anthropological days‗ benannte Tage, an denen die Wettbewerbe den Negern, Indianern, Philippinern und Ainus vorbehalten waren. Ihnen wagte man die Türken und Syrier zuzugesellen.‖
Historiker haben versichert, daß sie vergeblich in den olympischen Annalen nach diesen „Anthropologischen Tagen‖ gesucht haben, und neigen dazu, Coubertins Bemerkungen auf einen Irrtum zurückzuführen. Der Bericht bei „Spalding‖ ist jedoch eindeutig: „In den Monaten vor der Ausstellung hatte der Leiter der Abteilung für Körperkultur verschiedene Beratungen mit dem Leiter der Abteilung für Anthropologie. Es ging darum, die athletischen Fähigkeiten der verschiedenen wilden Stämme, die in St. Louis vertreten waren, daraufhin zu prüfen, was an den oft alarmierenden Gerüchten über ihre Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft Wahres war.― (Die „Stämme― waren in den Pavillons in der zeitgleich mit den Spielen stattfindenden Weltausstellung als „Ausstellungsstücke― eingesetzt. A.d.A.) „Es wurde entschieden, zwei Leichtathletiktage für sie anzusetzen, bekanntgeworden als die ,Anthropologischen Tage‗. Am ersten Tag starteten die verschiedenen Stämme untereinander in den
verschiedenen Disziplinen, und am zweiten Tag wurden die Endkämpfe bestritten zwischen denen, die in den einzelnen Stammeswettkämpfen am ersten Tag die ersten und zweiten Plätze belegt hatten... Daß die Interessierten maßlos davon enttäuscht waren, was ihnen dieser Wettkampf bot, ist bekannt. Wir haben jahrelang die Erklärungen geglaubt, die in Zeitungen und Büchern erschienen waren, wonach viele Wilde schnelle Läufer waren, stark an Gliedern, genau im Umgang mit Pfeil und Bogen, Fachleute im Steinschleudern, und daß einige, besonders die Patagonier, aufgrund ihrer Größe und Stärke und ihres besonderen Lebens Naturtalente sein müßten. Natürlich erwartete niemand, daß die Patagonier John Flanagans (Olympiasieger im Hammerwerfen, A.d.A.) sein würden oder die Indianer Arthur Duffeys und Alexander Grants, aber alle erwarteten sicher viel mehr von den Wilden... Wir haben von den Wunderqualitäten der Indianer als Läufer gehört, von der Ausdauer der Kaffern und von anderen Heldentaten vieler Stämme, aber die Wettbewerbe in St. Louis widerlegen all diese Berichte. Die Rekorde... sind um so bedeutender, als es die Resultate der ersten Wettkämpfe sind, die jemals ausschließlich für Wilde veranstaltet wurden.
Am ersten Tag wurden die 100 Yards in Vorläufen ausgetragen, und zwar folgendermaßen eingeteilt: 6 Vorläufe, einer für jede der folgenden Gruppen - Afrikaner, Moros (Philippinos), Patagonier, Ainus (Japan), Cocopas (Mexiko), Indianer vom Stamm der Sioux. Die schnellste Zeit lief George Mentz vom Stamm der Sioux, ein amerikanisierter Indianer. Seine Zeit von 11,4/s (11,8) war eine Zeit, die jeder Sieger eines Schülerrennens in den Schatten stellt. Lamba, ein Afrikaner vom Stamm der Pygmäen, lief 14,3/s (14,6); Arthur Duffey oder irgendeiner unserer amerikanischen Meistersprinter hätte mühelos in diesem Rennen den Pygmäen 40 Yards Vorgabe gewähren können und würde sie dennoch schlagen.‖... In diesem Ton setzt sich der Bericht über Seiten fort. Daß ein Patagonier die Kugel nur 9,57 m stieß, erscheint dem Autor ebenso „lächerlich‖ wie den vielen Wissenschaftlern, die die Wettbewerbe verfolgten. Die mäßigen Leistungen der „Wilden‖ seien um so „unerklärlicher‖, da „in all diesen Sportarten Mr. Delaney von der St. Louis Universität ihnen vorher erklärte, worum es ging, so daß jeder wußte, was man von ihm erwartete‖.5)
Hundert Jahre später gingen mindestens 26 Prozent der Goldmedaillen an die Urenkel der 1904 „Ausgestellten―.
ANMERKUNGEN
1) Dokumente zur Frühgeschichte der Olympischen Spiele. Köln 1970, S. 186
2) MEGEDE, E. zur: Geschichte der Olympischen Leichtathletik. Berlin 1968, S. 47
3) COUBERTIN, P. de: Olympische Erinnerungen. Berlin 1987, S. 72
4) Ebenda
5) Zitiert nach K. ULLRICH: Olympische Spiele. Berlin 1978, S. 41
Gedanken zur Geburtsstunde
Von KARL-HEINZ WEHR
Im Trubel der Spiele von Athen, mit denen Olympia an seinen Geburtsort zurückkehrte – die Austragung des Kugelstoßens im antiken Olympia rechtfertigt diese Feststellung in jeder Hinsicht – wurden viele Reden gehalten und viele gerühmt, die sich um Olympia verdient gemacht hatten. Es fiel auf, daß der Name Coubertin nicht allzu oft fiel, und es wurde aus meiner Sicht zu selten daran erinnert, daß der französische Humanist ein unauslöschbares Kapitel Sportgeschichte schrieb. Daß er vor 110 Jahren dem Sport Verbundene aus ganz Europa in die Pariser Sorbonne einlud, um dort sein Projekt moderner Olympischer Spiele durch einen internationalen Beschluß sanktionieren zu lassen, ist bekannt. Bei den ständig vorgetragenen Forderungen, die Geschichte des deutschen Sports „aufzuarbeiten― – womit in der Regel jedoch nur der DDR-Sport gemeint ist –, wird kontinuierlich von vielen übersehen, daß Deutschland an der Geburt der Olympischen Spiele nicht beteiligt war. Die Einladungen an die Deutschen verschwanden spurlos, und als Coubertin sich an die deutsche Botschaft in Paris wandte, um deren Weiterleitung zu bewirken, geriet er an den Militärattaché Oberst von Schwartzkoppen, der vollauf damit beschäftigt war, die Enttarnung seines wichtigsten Spions in der französischen Armeeführung zu vereiteln. Dem erschien die Idee Coubertins, Olympische Spiele zu arrangieren, in dieser Situation nicht sehr belangvoll, und so fand der Kongreß in der Sorbonne 1894 ohne die Deutschen statt. Das haben inzwischen zahlreiche gewissenhafte Historiker untersucht, aber in der 1967 erschienenen „Weltgeschichte des Sports― des Sportpapstes Carl Diem – ein Mann, der bekanntlich in den verschiedenen deutschen Gesellschaftsordnungen seine „Nützlichkeit― bewies und dem Kaiser ebenso diente, wie dem Faschismus und Adenauer – sucht man vergeblich wenigstens einen Hinweis auf die deutsche Abwesenheit. Stattdessen fand er in der Darstellung jenes Kongresses eine gerissene Variante, deutsche Verdienste zu rühmen: „Coubertin hielt ... seine Gründungsrede mit möglichst wenig Diskussionsstoff. Aber er bezog sich dabei ehrlich darauf, daß ihm die deutschen Ausgrabungen in Olympia den Gedanken zugeschoben hätten: Deutschland habe ausgegraben, was von dem alten Olympia noch vorhanden sei – warum sollte Frankreich nicht die alte Herrlichkeit wieder herstellen.―1) Vieles ist im Zusammenhang mit Coubertin im Verlauf jener 110 Jahre behauptet und unterschoben worden, aber es blieb Diem und seinen Schülern überlassen, zu behaupten, daß deutsche Archäologen dem französischen Humanisten die Idee suggeriert hätten, moderne Olympische Spiele zu arrangieren. (Daß der Berliner Chemiker Willibald Gebhardt, der viel Ärger auf sich nahm, als er die Beteiligung der Deutschen an den ersten Spielen 1896
erzwang, von Diem ebenfalls ignoriert, nur in einer Bildunterschrift auftauchte und skandalöserweise an anderer Stelle mit einem KZ-Arzt verwechselt wurde, rundet das Bild nur ab.)
Diese Tatbestände, die übrigens in den in der DDR erschienenen Darstellungen des deutschen Sports immer korrekt beschrieben worden waren, anläßlich des 110. Jahrestages der Tagung in der Sorbonne, noch einmal klarzustellen, erscheint mir wichtig.
Schon zwei Jahre zuvor, also 1892, hatte Coubertin – ebenfalls in der Sorbonne – einen Anlauf genommen, für Olympische Spiele zu werben, der indes kein allzu großes Echo fand. Dennoch sind seine Ausführungen hochinteressant, weil sie seine Motive deutlich werden lassen und damit auch belegen, daß ihn die Archäologie kaum beeinflußt hatte: „Schicken wir Ruderer, Läufer und Fechter ins Ausland. Das ist der Freihandel der Zukunft; und an dem Tage, da es sich im Leben und Wandel des alten Europa eingebürgert hat, wird der Sache des Friedens eine neue, mächtige Stütze erwachsen sein... Ich hoffe, daß Sie mich dabei unterstützen..., und daß ich, mit Ihnen zusammen und auf einer den modernen Lebensbedingungen entsprechenden Grundlage, das großartige und heilsame Werk weiterführen und verwirklichen kann: die Wiedererrichtung der Olympischen Spiele.―2)
Als er dann vor dem Forum stand, das er 1894 nach Paris geladen hatte, war bereits von vielen – noch einmal: mit Ausnahme der Deutschen – Zustimmung zu seiner Idee signalisiert worden. Mit einer temperamentvollen Rede hoffte er, die Fundamente Olympischer Spiele sichern zu können.
Rhetorisch klug ging er auch auf die Einwände gegen die begrenzte Rolle des Sports ein, die ihm zu Ohren gekommen waren: „In dieser großen Stadt Paris ... ist es uns in diesem Jahr, 1894, gelungen, die Vertreter des internationalen Sports zusammenzuführen. Einstimmig haben sie die Erneuerung eines Gedankens beschlossen, einstimmig. So unangefochten ist das Prinzip dieses Gedankens, der 2000 Jahre alt ist und heute wie damals das Herz der Menschen bewegt und der einer ihrer vitalsten Gefühlsregungen entspricht, die zudem – was man auch immer sagen möge – zu seinen besten gehört...
Das griechische Erbe ist so umfassend, meine Herren, daß sich alle, die in der heutigen Zeit die Körperkultur unter einen dieser Aspekte stellten, mit voller Berechtigung auf Griechenland berufen durften. Es umfaßt alles. Die einen sahen darin Training für den Schutz der Heimat. Die anderen das Streben nach Schönheit des Körpers und nach Gesundheit durch den schwingenden Ausgleich zwischen Körper und Seele... In Olympia, meine Herren, da gab es das alles. Es gab aber noch etwas mehr, und das hat man noch nicht auszusprechen gewagt, weil seit dem Mittelalter eine Art Mißkredit über den physischen Qualitäten liegt, weil man sie von den
geistigen Qualitäten isoliert hat. Erst in jüngster Zeit ist es der Physis erlaubt worden, Stütze für den Geist zu sein, aber man behandelt sie noch als Untergebene. Tagtäglich läßt man sie ihre Abhängigkeit und Zweitrangigkeit spüren. ...Die Leute der alten Schule haben gestöhnt, als sie sehen mußten, daß wir unsere Tagungen in der Sorbonne durchführten; denn es wurde ihnen klar, daß wir revoltierten und daß wir zum Schluß das Gebäude ihrer morschen Philosophie zum Einsturz bringen würden. Es stimmt schon, meine Herren, wir sind Rebellen...―3)
In seinen 1931 erschienenen Erinnerungen – zu diesem Zeitpunkt hatte man bereits acht Olympische Sommerspiele gefeiert, die spätestens seit den Spielen 1908 in London unumstrittene Großereignisse waren – erinnerte er sich noch gut, welches Echo sein Appell 1894 gefunden hatte: „Meine Darlegung aber, hatte ich beschlossen, in aufsehenerregender Form durch die Ankündigung des Entschlusses zu beenden, die baldige Wiedereinsetzung der Olympischen Spiele zu fordern. Also los! Natürlich hatte ich alles vorausgesehen, nur nicht das, was eintraf. Opposition? Proteste, Ironie? Oder gar Gleichgültigkeit? ... Nichts dergleichen. Man klatschte Beifall, man stimmte zu, man wünschte mir einen großen Erfolg; aber niemand hatte begriffen. Es war das völlige, absolute Unverstehen, das da begann.―4)
Es war also kein umjubelter Siegeszug, den Coubertin hatte feiern können, ganz zu schweigen von dem Schaden, den die Spiele nach seinem Tode nahmen, als der Kommerz Breschen in die olympischen Fassaden zu schlagen begann. Die Ideen aber, die er bereits 1894 äußerte und die den Spielen eine entscheidende Rolle im Bemühen um Frieden und Verständigung zuschrieben, haben sich durch die 110 Jahre behauptet und sogar gegen den gnadenlosen Kommerz durchgesetzt. Dafür gebührt ihm Dank, ganz zu schweigen von der Achtung vor seinem Engagement im Kampf gegen die 1894 so olympiafeindlichen Deutschen, die allerdings heute nicht gern daran erinnert werden.
ANMERKUNGEN
1) DIEM, C.: Weltgeschichte des Sports. Stuttgart 1967, S. 1136
2) COUBERTIN, P. de: Extrait du Discours... dans le Grand Amphithéatre de la Sorbonne en novembre 1892, veröffentlicht 1964 o.O., o.J., S. 43. Zit. n. K. Ullrich: Coubertin. Berlin 1982, S. 43
3) COUBERTIN, P. de: Discours an Congrès de Paris tenu en Sorbonne 16.-23. Juin 1894. In Lettre d‘informations Nr. 22 (Juli 1969), S. 393 f. Zit. n. K. Ullrich: A.a.O., S. 48
4) COUBERTIN, P. de: Mémoires olympiques. Lausanne 1931, S. 9. Zit. n. K. Ullrich: A.a.O., S. 43
ANTWORTEN INKLUSIVE BILANZ
Gespräch mit Dr. hc. KARLHEINZ GIESELER
Karlheinz Gieseler gehört zu den großen “alten” Männern des bundesdeutschen Sports. Der 79-Jährige begann seine Laufbahn als Pressechef beim Deutschen Sportbund (DSB) und dem NOK der BRD und wurde später Generalsekretär des DSB.
BEITRÄGE: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) hat unlängst zu Recht an Sie und Ihre immense Tätigkeit im bundesdeutschen Sport erinnert. Um den Leser ins Bild zu setzen: Wie lange agierten Sie als Geschäftsführer des Deutschen Sportbundes?
KARLHEINZ GIESELER: Von 1964 bis 1989 war ich Hauptgeschäfts-führer (ab 1970 Generalsekretär) des Deutschen Sportbundes; davon ab 1964 bis 1969 auch Generalsekretär des NOK für Deutschland, als seit der Doppelpräsidentschaft von Willi Daume von 1961 eine Verwaltungseinheit von DSB und NOK geschaffen wurde. Daume war es auch, der mich 1959 aus dem - wie er es nannte - „Pfälzer Idyll‖ als Pressereferent zum DSB geholt hatte. Seitdem nahm ich auch an den Verhandlungen zur Bildung gesamtdeutscher Olympia-Mannschaften in Squaw Valley und Rom (1960) und Innsbruck und Tokio (1964) teil und wurde dann zum Nachfolger von Guido von Mengden berufen. In dieser Zeit arbeitete ich mit den Präsidenten Willi Daume (1950-1970), Dr. Wilhelm Kregel (1970-1974); nach seinem Rücktritt am 6.4.1974 auf Grund eines Einspruchs des DFB gegen das Sportprotokoll des DSB mit dem DTSB der DDR folgte Hans Gmelin als Amtierender Präsident, der auch am 8.5.1974 mit Manfred Ewald das Protokoll unterzeichnete, Willi Weyer (1974-1986) und Hans Hansen (1986 bis es 1989 kein tragbares Vertrauensverhältnis zwischen Generalsekretär und Präsident mehr gab) zusammen.
Auf dieser langen Wegstrecke liegen der Beginn der Trimm-Aktion und die neue Sportabzeichen-Initiative (1964), die „Charta des deutschen Sports‖ (1966), die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Sport und Staat (1968), veränderte Führungsstrukturen (1970), das Programm „Sport für alle‖ (1972), das Sportprotokoll zwischen DSB und DTSB der DDR (1974), Vereint für die Vereine (1978), Ehrenamt im Sport (1982), Fairness-Programm mit dem IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch (1984). Die Überführung des Leistungssports vom NOK zum DSB fand 1966 statt mit der neuen Struktur des Bundesausschusses für Leistungssport (BA-L), womit gleichzeitig die Anstellung von Bundestrainern, die Schaffung von Bundesleistungszentren und medizinischen Zentren etc. begann. Die Konzentration des Spitzensports
beim NOK 1961 hatte ich auch schon entwickelt und dafür Professor Nöcker, der gerade aus Leipzig gekommen war, gewonnen.
Wenn es dem Deutschen Sportbund nicht gelingt, das große Heer freiwilliger Helfer immer wieder aufzufüllen, neu zu motivieren und höher zu qualifizieren, wofür die Willi-Weyer-Akademie 1980 in Berlin gegen vielen politischen Widerstand aus dem Osten errichtet wurde, wenn es nicht gelingt, dem Spitzensport mit frischen Ideen fortlaufend neuen Wind unter die Flügel zu blasen und auf diese Weise auch den Breiten- und Freizeitsport in einem Auftrieb zu halten, dann helfen selbst der Sport im Grundgesetz oder im Vereinsförderungsgesetz oder bessere Raum- und Umweltordnungen herzlich wenig. Allein der Mensch entscheidet im Sport, nicht Paragraphen! Hier liegt der immerwährende Auftrag des Deutschen Sportbundes, der nie ohne Aufgaben sein wird, solange er die Entwicklung wach verfolgt und seine Führungsposition entschlossen wahrnimmt. Die Führungsstruktur 2000 des DSB, wie sie auf dem Berliner Kongress 1997 beschlossen worden ist, und die Organisationsstruktur werden dafür den Erfordernissen laufend anzupassen sein und das Verhältnis zwischen Ehren- und Hauptamt, das nicht immer konfliktfrei läuft, ebenfalls. Der Sport hat im Zusammenspiel mit Wirtschaft und Medien mehr zu bieten und zu fordern als er glaubt. Es gibt noch genügend Brachland für die Zukunftsaufgaben des Sports.
Um den Sportverkehr mit dem DTSB der DDR unter Einschluss von Berlin (West) wieder in Gang zu bringen, hat der DSB Verträge mit allen Sportorganisationen des damaligen Ostblocks abgeschlossen: mit Jugoslawien (1973), Rumänien (1975), China (1977), UdSSR unter Mitwirkung von Botschafter Falin (1977), Bulgarien (1977), Polen (1978), Ungarn (1978), CSSR (1979), das Protokoll mit dem DTSB der DDR wurde nach Verhandlungen in Halle, München, Dresden, Frankfurt am Main, Magdeburg und wieder Frankfurt am Main im April 1974 paraphiert und am 8.5.1974 in Berlin (Ost) von Hans Gmelin und Manfred Ewald unterzeichnet. Damit war die Integration von Berlin (West) in den DSB und seine Spitzenverbände dokumentiert; ein Tatbestand, der jahrelang vom DTSB bestritten wurde. Der gesamtdeutsche Sportverkehr blieb zwar immer eine „Bilanz des Mangels‖ (Willi Weyer), aber es war für mich persönlich doch ein Ausdruck dafür, zusammenzuhalten, was zusammengehört.
Die Europäische Sportkonferenz (ESK) ist auch auf meinem Schreibtisch entwickelt und in einem Kreis westlicher Sportvertreter aus neun Ländern (1965) vorgestellt worden. Anlässlich der Olympischen Spiele 1972 wurde sie dann mit Minister Pawlow (UdSSR), Manfred Ewald u.a.m. für 1973 in Wien abgesprochen; 1975 folgte Dresden, 1977 Kopenhagen, 1979 Berchtesgaden, 1981 Warschau und so weiter.
BEITRÄGE: Sie haben in vielen Gesprächen mit Funktionären des DTSB der DDR am Tisch gesessen, und es waren wohl durchaus nicht immer herzliche Verhandlungen. Wen schätzen Sie vor allem als Partner?
KARLHEINZ GIESELER: Wenn die Kontrahenten fair und offen agierten und ohne Hinterhalt, war schon viel gewonnen. Schließlich kamen wir aus unterschiedlichen politischen Positionen und vertraten diese auch. Wen schätze ich vor allem? Manfred Ewald aus vielen Treffen bei Olympia-Verhandlungen, bei den ESKs oder in Vertragsverhandlungen. Man wusste immer, wo man bei ihm dran war; er galt nicht zu Unrecht als Kenner und Könner. Ludwig Schröder, Günther Heinze, Dr. Irene Köhler, die ich von den Diskussionen über die Schlusserklärungen der ESK – zuletzt in Athen – und einem Gespräch über die ―Antigone‖ besonders schätze, und auch Jürgen Hiller aus den Kalenderverhandlungen; sie waren eingebunden in ihre politischen Vorgaben. Lockerer wurden sie erst bei Delegations-Treffen. Ohne diese Treffen wäre ich wohl nie zum Bauernkriegsdrama von Werner Tübke, der am 27. Mai 2004 starb, im Rundbau auf dem Hügel bei Frankenhausen gekommen. Im Gästebuch stand von Golo Mann zu lesen: „Voll Bewunderung und Staunen‖. Dieses Werk konnte nur in der DDR entstehen und nicht aus der Bundesrepublik kommen, konnte man später 1987 von ihm lesen. Ich werde diese Begegnung mit dem hohen Kunstwerk nie vergessen.
Im Übrigen: Nachdem ich 1987 einmal eine positive Würdigung Manfred Ewalds, der mich in den 90er Jahren noch zweimal in Neu-Isenburg besuchte, veröffentlichte, bekam Präsident Hansen ein scharfes Monitum gegen seinen Generalsekretär von BMI-Staatssekretär Spranger (CSU); was der Präsident geantwortet hat, weiß ich nicht; bei Willi Weyer wäre das nie passiert.
BEITRÄGE: Die FAZ-Frage „Wie frei war der Sport vom Einfluss und von Maßgaben der Politik?‖ beantworten Sie: „Er war völlig frei. Wir konnten schalten und walten, wie wir es für richtig hielten. Wir haben immer Verständnis gefunden beim Minister für innerdeutsche Beziehungen, beim Innenminister und auch bei den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Sie haben sich über den Sport informieren lassen.‖ Sie haben den Minister für Auswärtige Angelegenheiten nicht erwähnt. Das könnte ein Zufall sein, vielleicht aber auch nicht. Denn im Archiv dieses Ministeriums finden sich zahlreiche Dokumente - auch welche, die Sie geschrieben hatten -, die keineswegs den Eindruck aufkommen lassen, dass Sie den Minister nur informierten. Ich komme nicht umhin, wenigstens in einem Fall sehr konkret zu werden. Am 25. Juli 1961 schrieb Willi Daume einen ungewöhnlich langen Brief an Ministerialdirektor Sattler im Auswärtigen Amt, der als Antwort auf die Anfrage Sattlers an den DSB zu begreifen ist, wo in nächster Zeit mit dem Start von DDR-Mannschaften vor allem in NATO-Ländern zu rechnen ist
und damit auch mit der „Gefahr‖, dass die DDR-Flagge gehisst würde. Würden Sie das auch noch unter „sich informieren‖ einordnen?
KARLHEINZ GIESELER: Meine Antwort bezog sich einzig und allein auf den gesamtdeutschen Sportverkehr, der auf der Grundlage des Sportprotokolls zwischen DSB und DTSB der DDR ablief. Ich kenne natürlich auch andere Situationen, vor allen Dingen, wenn es um die DDR-Flagge oder den herausfordernden politischen Auftritt von Sportwerbegruppen des DTSB der DDR in Bielefeld, Besigheim, Solingen oder Mainz in der Zeit des Düsseldorfer Beschlusses nach Abbruch der Sportbeziehungen mit der DDR nach Errichtung der Mauer (von 1961 bis 1965) ging.
BEITRÄGE: In diesem Brief betätigte sich Willi Daume als Ratgeber der Bundesregierung und begründet das auch: „Die Politik der Bundesregierung stellt oft Forderungen an den deutschen Sport. Hier ist es einmal umgekehrt, und wir müssen erwarten, dass unsere Wünsche in diesem Falle bei der amerikanischen Regierung durchgesetzt werden, und zwar ungeachtet aller Konsequenzen, die sich möglicherweise daraus ergeben. Wenn ich wiederholen darf, so galt es also zunächst abzuklären, ob die amerikanische Regierung bereit ist, der sowjetzonalen Eishockey-Mannschaft die Einreise-Visa für diese Weltmeisterschaften zu erteilen... Ich könnte mir durchaus denken, dass man amerikanischerseits zunächst einmal die Visa verweigert, dass wir aus sportlichen Gründen Fürsprache leisten und man dann die Visa in Aussicht stellt, allerdings mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass die Spalterfahne nicht gezeigt werden darf... Ich bin mal gespannt, ob unsere Diplomatie potent genug ist, das zu erreichen...‖ Würden Sie diesen präzisen Vorschlag für einen politischen Eingriff in eine von der Welt-Eishockey-Föderation veranstaltete Weltmeisterschaft als „Information der Bundesregierung‖ bezeichnen wollen? Es geht wohlgemerkt nicht darum, uralte Fehden wieder ans Licht zu holen, sondern einzig und allein um eine sachliche „Aufarbeitung‖ der Vergangenheit. Demzufolge lautet die Frage: Gab es eine politische Einmischung der Bundesregierung in den internationalen Sport?
KARLHEINZ GIESELER: Da antworte ich am besten mit der Aussage von Willi Daume bei der Hauptversammlung des Vereins Deutsche Sportpresse (VDS) am 26. März 1963 in Mannheim. Darin heißt es: „Die Politik hat mit dem Sport nichts zu tun, aber sie hat ihn tatsächlich fest am Kragen. Sie wissen, dass den internationalen Verbänden eine Dokumentation vorliegt, in der die schwersten politischen Eingriffe des Zonensports nachgewiesen worden sind. Man versteht, man bedauert, in einigen Fällen begreift man vielleicht auch. Aber das ist doch alles so lästig, und es wird schon gut gehen, ohne dass sich die internationale Sportfamilie einmal von vornherein gegen einen derartig gröblichen
Missbrauch des Sports zu politischer Gemeingefährlichkeit wehrt – weil der Sport ja mit der Politik nichts zu tun haben soll‖. Damit war der DSB gefordert. Natürlich hat es Versuche des Eingriffs der Bundesregierung in den Sport gegeben; sie gingen aber mit der Regelung zum Zeigen der DDR-Flagge bei den Olympischen Spielen 1972 in München zu Ende, weil die provokante Seite nunmehr für die DDR fehlte.
Mehr als nur ein Name
Von JOACHIM FIEBELKORN
In diesem Jahr gedenken wir aus besonderen Anlässen eines Mannes, dessen Name in der DDR hochgeehrt, in der früheren Bundesrepublik Deutschland fast völliger Vergessenheit anheim gegeben wurde. Vor 100 Jahren, am 2. August 1904, wurde Werner Seelenbinder in Stettin geboren, vor 60 Jahren, am 24. Oktober 1944, im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch das Fallbeil hingerichtet. Über den Umgang mit seinem Namen und seiner letzten Ruhestätte wurde in dieser Zeitschrift berichtet.1)
Die Umbenennung der „Werner-Seelenbinder-Kampfbahn― in „Stadion Neukölln― im September 1949 war sicher nicht nur durch den Kalten Krieg zu erklären, der damals gerade begonnen worden war. Sie hatte ideologische Gründe. Die führende Rolle, die Kommunisten – einer von ihnen war Werner Seelenbinder – im Kampf gegen den Faschismus einnahmen, sollte nicht nur verschleiert, sondern verschwiegen werden. Über die Gründe dafür ist viel gesagt und geschrieben worden. Das konsequente Verschonen der Täter verlangte Zurückhaltung beim Nennen und Ehren der Opfer, vor allem, wenn die Opfer Kommunisten waren.
In der DDR wurde die Geschichte des Antifaschismus gelehrt und versucht, den Antifaschismus zu bewahren. Gewiß, auch hier wurden bei der Darstellung des antifaschistischen Kampfes in der Weimarer Republik und vor allem während der zwölf braunen Jahre Proportionen verschoben. Aber unzweifelhaft ist, daß in der DDR nicht nur Ernst Thälmann, Robert Uhrig, Werner Seelenbinder und andere geehrt wurden. Die Namen von Rudolf Breitscheid, der Geschwister Sophie und Hans Scholl, von Pfarrer Paul Schneider, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, um nur einige zu nennen, waren im Osten Deutschlands jedem Schulkind bekannt. Welches Kind im Westen kannte den Namen Werner Seelenbinder? Welches die Namen Hilde und Hans Coppi, Anton Saefkow, Bruno Baum, Heinz Kapelle...? In der „Weltgeschichte des Sports― von Carl Diem sind zwar lobende Worte zu den führenden Sportfunktionären des „Dritten Reiches― Karl Ritter von Halt und Guido von Mengden zu finden, zu
Tätern, die in der BRD wieder in hohe Funktionen gelangten. Den Namen Seelenbinders sucht man in dem umfangreichen Werk vergebens.
Schändlich genug, daß sich nach dem Anschluß der DDR an die BRD auch Menschen an der Schändung des Namens Seelenbinder beteiligten, die in der DDR aufgewachsen und ausgebildet worden waren, wie der Sportjournalist des Fernsehens der DDR Hagen Boßdorf, der gleich 1991 zum Leben von Werner Seelenbinder die unverschämte Frage stellte, „...was sollten die Kinder (der DDR – A.d.A.) von ihm übernehmen: Seinen Heldentod? Seine Olympiateilnahme?―2) Boßdorf ist heute Sportkoordinator der ARD. Karriere setzt nicht unbedingt Charakter voraus.
Ehrlichen Umgang mit dem Menschen, Kommunisten und Sportler Seelenbinder pflegten die westdeutschen Autoren Gerhard Fischer und Ulrich Lindner, die in ihrem Buch über den Fußballsport in der Nazi-Zeit mit dem Titel „Stürmer für Hitler― schrieben: „Nun fanden sich auch bei Fußballern und Sportlern allgemein Beispiele unangepassten Verhaltens bis hin zum aktiven Widerstand... Zahlenmäßig scheint diese Gruppe nach allen Untersuchungen als ziemlich verschwindend, darin unterscheidet sich der Sport allerdings nicht von der Gesamtbevölkerung, von der nur 0,6% von den Spruchkammern als Regimegegner anerkannt wurden. Unter den prominenten Spitzensportlern gab es wirklich nur einen, der aktiven politischen Widerstand geleistet hat, den Ringer Werner Seelenbinder. Das spätere Idol des antifaschistischen Kampfes in der DDR war Kommunist und Arbeitersportler, und er war bereit, für seine Überzeugungen ins KZ zu gehen und schließlich auch dort zu sterben... Jedoch ist auch denkbar, die Kooperation zu verweigern und eine Beeinträchtigung der sportlichen Karriere in Kauf zu nehmen – auch hier ist weitgehend Fehlanzeige. Der begnadete Techniker Matthias Sindelar (österreichischer Fußball-Nationalspieler – A.d.A.), von dem es heißt, dass er kein Freund der Nazis gewesen sei, ist eines dieser seltenen Exemplare.―3) Damit ist auch der vormaligen DDR-Funktionärin und jetzigen Leiterin des Berliner Sportmuseums, Martina Behrendt, eine Antwort gegeben. Frau Behrendt sagte in einem F.A.Z.-Interview über Seelenbinder: „Er wurde bewußt zu einer Kultfigur gemacht. ...Seine Rolle im Widerstandskampf wurde überbewertet.―4) Über den möglichen Zusammenhang von Charakter und Karriere sprachen wir schon.
Um so erfreulicher ist es, daß sich jetzt, 60 Jahre nach der Ermordung Seelenbinders, die Stimmen mehren, die eine Würdigung des Sportlers und politischen Kämpfers fordern. Im Neuköllner Stadion an der Oderstraße fand am 2. August 2004 anläßlich des 100. Geburtstages von Seelenbinder eine Veranstaltung statt, an der führende Frauen und Männer der Verwaltung des Stadtbezirks, des Landessportbundes Berlin und des Berliner Ringer-Verbandes teilnahmen. Unter anderem sprach
die stellvertretende Bezirksbürgermeisterin Stefanie Vogelsang (CDU) Worte ehrenden Gedenkens. Auch der Sohn von Erich Rochler, eines Sport- und Kampfgefährten Seelenbinders, dessen Schweigen unter der Folter Erich Rochler wahrscheinlich das Leben rettete, ergriff das Wort. Er begann mit der bitteren Bemerkung, daß es schön sei, nunmehr zum Grabe Seelenbinders gehen zu können, ohne von Polizisten mit Polizei-Hunden eskortiert zu werden. Diese Zeit ist hoffentlich für immer vorbei. Während jener Veranstaltung erklärte jedenfalls Frau Vogelsang, daß dieses Stadion künftig wieder den Namen Werner Seelenbinders tragen und die Umbenennung am 24. Oktober vorgenommen werden solle. Inzwischen hat das Bezirksamt Neukölln beschlossen, in einer offiziellen Feierstunde am 24. Oktober die Umbenennung vorzunehmen. Damit – so die „Berliner Zeitung― in ihren Bezirksnachrichten bezugnehmend auf Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) – „wahre der Bezirk das Andenken vieler tausend Menschen, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben lassen mussten...―5)
Nachzutragen wäre noch, daß die Berliner Organisation der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) ihre dritte Friedenstour am 5. September 2004 unter dem Motto „Werner Seelenbinder – Widerstand in Berlin― durchführte. Die über etwa 25 Kilometer führende Radtour mit sieben Stopps und kurzen Kundgebungen vor Gedenkstätten an den antifaschistischen Widerstand führte vom Glockenturm am Olympia-stadion quer durch Berlin zum Grab von Seelenbinder am Stadion Neukölln und warb für die Rückbenennung dieses Stadions.
Am 24. Oktober 2004 könnte und wird hoffentlich ein böses Kapitel der Berliner Nachkriegsgeschichte endgültig geschlossen werden.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. HUHN, K.: Seelenbinders Frontgrab. Beiträge zur Sportgeschichte 18/2004, S. 4-7
2) Zit. n. Neues Deutschland v. 2.8.2004, S. 11
3) FISCHER, G./LINDNER, U.: Stürmer für Hitler: vom Zusammenspiel zwischen Fußball und Nationalsozialismus. Göttingen 2002 (3. Aufl.), S. 293
4) Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.7.2004, S. 28
5) Berliner Zeitung v. 31.8.2004, S. 21
Nachbetrachtungen zu einem Buch
Gespräch mit RENATE FRANZ (KÖLN)
Die Autorin Renate Franz trat 1998 mit einem Aufsehen erregenden Buch an die Öffentlichkeit: “Der vergessene Weltmeister”, Untertitel: “Das rätselhafte Schicksal des Radrennfahrers Albert Richter” und auf dem Einband folgender Text: “‟Albert Richter ist ein hoch begabter Sprinter. Ein talentvoller Rennfahrer, dem der deutsche Radrennsport schon jetzt für alle Zeiten einen Ehrenplatz neben seinen erfolgreichen Größen einräumen muß.‟ Knapp zwei Jahre später schreibt die gleiche Verbandszeitschrift „Der Deutsche Radfahrer‟ über Albert Richter: „Sein Name ist für alle Zeit in unseren Reihen gelöscht.‟ Albert Richter war mit seinem Mut und seiner Geradlinigkeit bei den Nazis in Ungnade gefallen und im Januar 1940 im Gefängnis von Lörrach unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Über fünf Jahrzehnte blieb Albert Richter der vergessene Weltmeister. Die Journalistin Renate Franz rollt in dieser Dokumentation… das Leben Albert Richters auf und beleuchtet die Umstände seines Todes neu.”
Das Buch war die erste Biografie des berühmten Weltmeisters, die in den alten Bundesländern erschien, und es bewirkte einiges bei der Aufarbeitung von Richters Schicksal. BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE bat Renate Franz um Auskünfte über die Wirkungen ihres Buches.
BEITRÄGE: Sie haben mit Ihrem Albert-Richter-Buch das unumstritten fundierteste Buch über den vergessensten deutschen Rennfahrer geschrieben und ihm damit ein exzellentes Denkmal gesetzt. (Leider soll das Buch vergriffen sein.) Schon der Titel ließ keine Zweifel aufkommen, worum es Ihnen ging: Albert Richters Schicksal von Nebeln zu befreien. Das lässt die Frage aufkommen, ob und wie der jetzt zehn Jahre zurückliegende Beschluss des Kölner Stadtrates, die Radrennbahn auch als Pflegestätte der Albert-Richter-Traditionspflege zu nutzen, tatsächlich genutzt wurde? Was würden Sie aus Ihrer Sicht darauf antworten?
Renate Franz: Zwar ist das Buch vergriffen, aber eine Neuauflage ist in Planung. Vielleicht ist das für 2005 realisierbar. Die Albert-Richter-Radrennbahn gehört seit rund drei Jahren offiziell nicht mehr der Stadt Köln, sondern der privaten Kölner Sportstätten GmbH. Die einzige große Veranstaltung, „Die Freitag Nacht‖, die bis vor rund zwei Jahren dort stattfand (11. Mai), wurde von mir selbst organisiert. Anschließend sollte dort die Junioren-Bahnrad-WM stattfinden, und die Albert-Richter-Radrennbahn sollte im Rahmen von Olympia genutzt werden. Die Junioren-WM fand aus finanziellen Gründen nicht statt, und die Olympia-
Bewerbung wurde abschlägig beschieden. Jetzt finden auf der Bahn einige kleinere Rennen statt, und im August trainiert die deutsche Bahnrad-Mannschaft dort für Athen. Im Übrigen ist ein Umbau der Radrennbahn geplant, damit sie für weitere Zwecke nutzbar wird.
BEITRÄGE: Neben der präzisen Schilderung von Albert Richters sportlicher Laufbahn enthält Ihr Buch auch den Versuch, Details zum Hintergrund des bis heute nicht aufgeklärten Todes von Albert Richter im Gestapogefängnis Lörrach ans Tageslicht zu bringen. Leider ergaben Ihre Recherchen – so bekennen Sie als Autor – kein Resultat, das das mysteriöse Ende Richters aufhellen könnte. Es war damit zu rechnen, dass sich nach dem Erscheinen des Buches neue Zeugen zu Wort melden würden. Hat sich irgendetwas ergeben, das die Lücken Ihrer Nachforschungen schließen könnte?
Renate Franz: Es haben sich bei mir keine weiteren Zeugen gemeldet. Nach Erscheinen des Buches habe ich in der vollbesetzten Stadtbücherei von Lörrach eine Lesung gemacht, aber auch dort hat sich niemand gefunden, der über weitere Erkenntnisse verfügte.
BEITRÄGE: Sie stellten in Ihrem Buch nüchtern und treffend fest: „Albert Richter wurde nie rehabilitiert.‖ Hat sich daran etwas geändert?
Renate Franz: Nach Albert Richter wurde die Radrennbahn benannt, ich selbst habe einen Nachwuchs-Sprinter-Cup gestiftet, der seinen Namen trägt. Sein Grab wurde zum Ehrengrab der Stadt Köln umgewidmet, und in seinem Heimatstadtteil hängt an der ehemaligen Radrennbahn eine Tafel, die an ihn erinnert. Im Rahmen der Enthüllung gab es eine kleine Ausstellung über sein Leben. In regelmäßigen Abständen wird in Kölner Zeitungen über ihn berichtet, und sein Name findet sich jetzt in einschlägigen Publikationen zur Sportgeschichte. Im vergangenen Jahr habe ich vor dem Deutschen Olympischen Institut einen Vortrag gehalten, der auf große Resonanz gestoßen ist. Ich bin damit ganz zufrieden, auch wenn ich natürlich immer mal wieder eine kleine Initiative starte. Aber das Thema ist bekannt und präsent.
BEITRÄGE: Was fiele Ihnen ein, wenn Sie – als wohl bester Kenner des Leben Albert Richters – aufgefordert würden, eine Ehrung für ihn zu empfehlen?
Renate Franz: Der Sprinter-Cup hat sicherlich viel dazu beigetragen, dass auch junge Sportler Richters Namen kennen. Eine schönere Ehrung kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Zudem gibt es seit mehreren Jahren den Plan, einen Spielfilm über Albert Richters Leben zu drehen. Es ist möglich, dass sich dieser Plan im kommenden Jahr konkretisiert. Es mag sein, dass dieser Film nicht ganz „politisch korrekt‖ sein wird, aber so ein Projekt würde Albert Richter natürlich bundes- wenn nicht europaweit bekannt machen.
Widerstand auf zwei Rädern
Von WERNER STENZEL
Der Galerie „Olga Benario― in Berlin-Neukölln ist zu danken, 2004 mit einer Ausstellung Denkanstöße zur Geschichte des Fahrrades gegeben zu haben. Besonders gewürdigt wurde der im Jahr 1896 in Offenbach gegründete Arbeiter-Radfahrerbund „Solidarität―, der sich bis 1930 mit 329.000 Mitgliedern zum weltweit stärksten Verband dieser Art entwickelt hatte.
Der Sieg über das Sozialistengesetz im Jahr 1890 begünstigte zwar die Gründung des Arbeiter-Radfahrerbundes (ARB), machte seinen Weg aber nicht konfliktfrei. Die erste proletarische Vereinigung der Radfahrer wurde bereits 1893 in Leipzig gegründet, jedoch – nach Mitteilung des sozialdemokratischen „Vörwärts― – bereits sechs Wochen später wieder aufgelöst. Bei offensichtlich entschärfter politischer Programmatik war es dann gelungen, den Namen „Solidarität― zu erhalten und auch danach zu handeln. Während des Ersten Weltkrieges verringerte sich die Mitgliederzahl des ARB von 150.000 (1913) auf 23.000 (1918), 14.000 Aktive überlebten diesen Krieg nicht. Aber es darf nicht übersehen werden, daß am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bereits die Mitgliedschaft im ARB als Kündigungsgrund ausreichte und Jugendlichen unter 18 Jahren die Mitgliedschaft in politischen Vereinen, wozu man den ARB zählte, verboten war. Trotz aller Behinderungen bewährten sich die roten Radfahrer nicht nur bei Reichstagswahlen als zuverlässige Kuriere und Agitatoren, sondern auch bei Demonstrationen und Spartakiaden.
Natürlich widmeten sich die ARB-Mitglieder auch hingebungsvoll ihrem Sport. Ausgedehnte Wochenendausflüge dienten der Geselligkeit, Fahrten über 100 Kilometer und mehr unterstützten das Leistungsstreben der jüngeren Mitglieder. Das und vieles andere wurde in der Ausstellung durch interessante Beiträge dokumentiert.
Ein besonderes Feld der Auseinandersetzung war die Emanzipation der Frauen. Im Jahr 1901 schrieb dazu die Frauenrechtlerin Lily Braun, dem „Wundergerät― Fahrrad ist zu danken, daß sich Frauen mittlerweile im praktischen „Beinkleid-Rock― auf die Straße wagen können. Es ging in den kontrovers geführten Diskussionen allerdings nicht nur um „tonnenartige Radfahrerwaden―, nicht nur darum, daß Frauen an der Seite der Männer „krumm, atemlos und schweißbedeckt über die Straßen jagen... statt fröhliche Gesellschafterin zu sein―, sondern um den Platz der Frau in der Gesellschaft. Denn den Frauen war ein Platz in strenger häuslicher Zurückgezogenheit zugewiesen worden. Ein Bild in der Ausstellung verdeutlichte, daß man zu jener Zeit besonders „Rollentausch― befürchtete, die Männer am Waschbrett und die Frauen
auf dem Fahrrad. Das Fahrrad galt als Statussymbol des Mannes und stand dem Manne zu. Die zunehmende Politisierung der Frauenfrage, besonders durch August Bebel, führte dann dazu, daß bereits 1907 ca. 6000 Frauen Mitglied im ARB geworden waren. Am Ende der Weimarer Republik gehörten mehr als 50.000 Frauen dem RKB an (1928 war der Verbandsname erweitert worden in Rad- und Kraftfahrerbund). Rad- und Wandertouren, der Saalsport und das Fahrrad als Transportmittel für den Weg zur Arbeit hatten den Frauen geholfen, gleichberechtigt am Radsport teilnehmen zu können.
Das Fahrrad konnte allerdings nur Allgemeingut werden, wenn es auch in Massen produziert wurde und Frauen wie Männer mit einem erschwinglichen Preis umworben werden konnten. In Deutschland begann Heinrich Büssing 1868/1869 mit der industriellen Produktion von Zwei- und Dreirädern. Der Preis für ein Fahrrad lag um 1870 zwischen 600 und 750 Reichsmark, und das bei einem durchschnittlichen Einkommen von 110 Reichsmark eines Facharbeiters. Mit wesentlichen technischen Verbesserungen sank dann der Preis bis 1900 auf 28 Reichsmark. Das nun mögliche Geschäft wurde aber nicht allein den Fabrikanten überlassen. Bereits 1905 wurden Fahrräder in Konsumläden gehandelt, neben Kartoffeln, Nudeln und anderen Lebensmitteln. Von besonderer Bedeutung war das Fahrradhaus „Frischauf―, das sich 1901 dem ARB „Solidarität― angeschlossen hatte, nachdem es in den 90er Jahren aus einer Einkaufsgenossenschaft für Fahrräder und Zubehör hervorgegangen war. Nach dem Ersten Weltkrieg, der die Entwicklung aufgehalten und zum Teil unterbrochen hatte, verfügten die Bundesmitglieder mit ihrem Fahrradhaus schließlich über 82 Filialen und 60 Verkaufsstellen in Deutschland. In eigenen Produktionsanlagen wurden 1926 ca. 20.000 Fahrräder hergestellt.
Zu erwähnen wären auch die Sozialleistungen des RKB „Solidarität― bei Radunfällen, Diebstahl oder die Gewährung von Rechtsschutz.
Anhand von Photos und vielen anderen Dokumenten ging die Ausstellung auf die Unterstützung der Radfahrer für den Roten Frontkämpferbund (RFB) und von Ernst Thälmann bei den Reichspräsidentenwahlen ein. Nach dem Machtantritt der Faschisten wurde der RKB gleich anderen Arbeiterparteien und -organisationen verfolgt. Die Ausstellung dokumentierte zum Beispiel eine polizeiliche Anweisung, in der der RKB verboten wird als „Sportorganisation mit Sozialdemokratischer Weltanschauung―. Grund des Verbots ist die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und zum Schutze von Volk und Staat―.
Vielfältig sind die Beispiele für den antifaschistischen Widerstand der Arbeitersportler. Einer von ihnen war Franz Peplinski, der mit anderen Sportfreunden 1933 dem Radfahrerverein „Werner― in Berlin-Neukölln beitrat. 1944 tauchte er in Zepernick unter, wo er nach der Befreiung vom
Faschismus Bürgermeister wurde und später Vorsitzender des Rates des Bezirkes Potsdam. Seit 1933 beteiligte sich ein Lehrer und Mitglied der SPD, Lindtner, an der illegalen Arbeit. Aus dem Strafbataillon 999 lief er zur Roten Armee über und war schließlich in der DDR Direktor einer Oberschule in Berlin-Grünau.
Es würde sich durchaus lohnen, dem Schicksal der Menschen nachzugehen, die auf dem Photo von einer Kundgebung 1931 in HohenNeuendorf bei Berlin zu sehen waren. In diesem Ort war der Bezirksführer des ARB „Solidarität― im Gau 9 (Brandenburg), Adolf Herrmann, nach einer Parteiversammlung der SPD am 23. September 1906 von einer Polizeikugel niedergestreckt worden. Der Mörder, Gendarmerie Wachtmeister Herman Jude, wurde freigesprochen, der Witwe von Adolf Herrmann das Recht auf Berufung verwehrt. Über den für Adolf Herrmann errichteten Gedenkstein gab es, zum Beispiel 1908 und 1919, große Auseinandersetzungen. Noch 1926 führten Demonstrationen zu diesem Stein, der dann von den Nazis geschändet und nach 1933 geschleift wurde. Erst nach der Befreiung vom Faschismus konnte er wieder errichtet werden, und zwar mit Spendenmitteln, die noch aus der Zeit der Weimarer Republik stammten.
Nicht unerheblich war das Fahrrad im Kampf gegen die deutschen Okkupanten im Zweiten Weltkrieg, wie Beispiele aus Dänemark, Italien und Frankreich belegten. Es entschied über die Qualität der Kommunikation im Widerstand, die Verteilung von Flugblättern, selbst über den erfolgreichen Transport von Waffen.
In der Bundesrepublik Deutschland gehörten dem RKB „Solidarität― 1992 60.000 Mitglieder an. Obwohl in der DDR erst 1990 im Anschluß an eine Oder-Neiße-Friedenstour in Görlitz wieder konstituiert, wurden die Traditionen der Arbeitersportler, ihr Friedenswillen und ihre Solidarität, bewahrt, zum Beispiel durch die nun schon legendäre Friedensfahrt, zunächst - 1948 und 1949 - Zwei-Länder- und ab 1950 Drei-Länder-Fahrt, die Internationale Touristische Friedensfahrt, die seit 22 Jahren ausgetragen wird, oder durch die Solidarität mit dem vietnamesischen Volk. Allein die Schriftsteller der DDR brachten das Geld für 1000 Fahrräder auf, um den Befreiungskampf in Vietnam zu unterstützen. Undenkbar wäre auch die Entwicklung in Cuba ohne das Fahrrad, besonders in den Jahren nach 1988. Nicht umsonst nannte Fidel Castro das Fahrrad „kleine Königin der Revolution; sie hat einen Vorwärts- aber keinen Rückwärtsgang―.
Die Ausstellung präsentierte übrigens noch einen anderen Beleg für den Gebrauch des Fahrrads durch die Politik: Nach dem 13. August 1961 bevorratete sich der Senat von Berlin (West) mit 80.000 Velos. Nach 1990 wurden diese Velos mit Mengenrabatt an Selbsthilfegruppen vergeben.
Also: Das Fahrrad, ein Vehikel, das nicht stinkt, leise und genügsam ist, bei richtigem Gebrauch die Gesundheit erhalten hilft, verdient unsere Pflege. Und wer sich mit der Geschichte der letzten 150 Jahre beschäftigt, muß auch die Geschichte des Fahrrads bedenken.
Der „Flaggenstreit“ und sein Ende
Von JOACHIM FIEBELKORN
Die Überschrift verlangt eine Vorbemerkung. Das Wort „Flaggenstreit― war und ist eine verniedlichende Umschreibung für das Bemühen der deutschen Bundesregierung von 1949 bis 1969, ihren Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland auch auf dem Gebiet des Sports international durchzusetzen, ein Bemühen, das beiden Seiten, dem BRD- wie dem DDR-Sport, eine Serie von Problemen, Peinlichkeiten und Skandalen bescherte.
Den letzten großen Eklat in diesem Streit erlebte die Stadt Mainz, wo am 28. März 1969 auf Einladung der TSG Bretzenheim die Frauen-Turn-Olympiariege der DDR ihr Können demonstrieren sollte, eine Veranstaltung also, die den sportinteressierten Mainzern hohen Genuß versprach. Selbstverständlich traten die DDR-Frauen, wie es bei Nationalmannschaften allgemein üblich war und noch ist, unter ihren staatlichen Symbolen an. Ihre Künste aber konnten sie nicht zeigen. Die Polizei stürmte den Saal, riß die DDR-Fahne herunter und erzwang den Abbruch der Veranstaltung. Der Vorfall erregte in beiden deutschen Staaten, wie auch im Ausland, erhebliches Aufsehen und Besorgnis, zumal in aller Welt die Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele in München längst begonnen hatten. Der Beschluß der Bundesregierung vom 18. Dezember 1968, der die Protokollbestimmungen des IOC, die auch die Flaggen- und Hymnenfragen betreffen, für die Münchner Spiele notgedrungen anerkannte, war dem Problem des deutsch-deutschen und des allgemeinen internationalen Sportverkehrs ausgewichen und hatte es geflissentlich umgangen.
Der Vorfall in Mainz veranlaßte den damaligen Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Willi Weyer, am 25. April 1969 zu einem Schreiben an den Bundes-Innenminister Benda, dem Weyer in seiner Eigenschaft als Geschäftsführender Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB) einen zweiten Brief beilegte. Der Minister und Präsident schrieb unter anderem:
„Jüngste Ereignisse in den Internationalen Föderationen und im innerdeutschen Sport zeigen recht deutlich, daß es hohe Zeit ist, Klarheit in den ganzen Fragenkreis zu bringen... Auf diese Weise würden unsere Verbände als Veranstalter solcher Titelkämpfe endlich aus den leidigen, fast 20 Jahre andauernden Protokoll-Querelen herauskommen, die uns international erheblich gebunden und in Wahrnehmung von internationalen
Führungspositionen in einem Maße zurückgeworfen haben, das noch gar nicht abzuschätzen ist.“1)
Dem Vorschlag Weyers, der nur aufschrieb, was die internationale Sportöffentlichkeit schon längst forderte, folgte die Bundesregierung erneut nur halbherzig. In einem Schreiben Bendas an die Innenminister beziehungsweise Senatoren für Inneres vom 23. Juli 1969 heißt es zu einem entsprechenden Beschluß des Bundeskabinetts vom 22. Juli 1969: „...wird die Bundesregierung die Befolgung der ordnungsgemäß zustande gekommenen internationalen Regeln nicht behindern. Sie stellt für diesen Fall vorsorglich klar, daß die Einhaltung dieser Regeln und ihre Duldung durch die staatlichen Stellen ohne Bedeutung für ihr Politik der Nichtanerkennung der ‚DDR‟ sind... Bei Sportveranstaltungen, die von dem Beschluß der Bundesregierung nicht erfaßt werden, gelten die zwischen Bund und Ländern am 4.11.1959 vereinbarten Richtlinien, wonach das Zeigen der Flagge der ‚DDR‟ eine Störung der öffentlichen Ordnung bedeutet. Gegen sie ist polizeilich einzuschreiten.“2)
Es war abzusehen, daß auch diese Festlegung nicht mehr lange Bestand haben würde. Sie stieß nicht nur auf den Protest einer breiter werdenden Öffentlichkeit, sondern fand auch unter den Kollegen des Innenministers wenig Freunde. So schlug der Hamburger Senator für Inneres, Ruhnau, der Innenministerkonferenz vom 5./6. November 1969 vor, daß auch bei innerdeutschen Sportveranstaltungen die DDR-Symbole geduldet werden sollten. Die Konferenz schloß sich dieser Meinung an und bat den Bundes-Innenminister, einen entsprechenden Beschluß des Bundeskabinetts herbeizuführen.
Die Folge war eine Vorlage des Innenministeriums für den Kabinettsausschuß für innerdeutsche Beziehungen, in der es heißt:
„Die seit dem Jahr 1966 von der Bundesregierung eingenommene Haltung in der Flaggen- und Hymnenfrage hat zu einem immer weiteren Abbröckeln der Position der Bundesrepublik geführt. Den damit verbundenen Nachteilen standen keine entsprechenden Vorteile gegenüber... Eine Fortsetzung der bisher verfolgten Politik wäre aber auch nicht vereinbar mit der deutschlandpolitischen Zielsetzung der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, wonach die Bundesregierung von der Existenz eines zweiten Staates in Deutschland ausgeht... Mit der Aufhebung wäre zunächst ausdrücklich ausgesprochen und klargestellt, daß Bund und Länder in der Verwendung der Staatssymbole der DDR an sich übereinstimmend nicht mehr eine Störung der verfassungsmäßigen und damit der öffentlichen Ordnung (im Sinne des Polizeirechts) sehen. Es wäre also künftig davon auszugehen, daß für ein polizeiliches Einschreiten gegen das bloße Zeigen der Flagge und den Gebrauch anderer Staatssymbole der DDR keine Rechtsgrundlage gegeben ist... Eine zum polizeilichen Einschreiten
berechtigende Störung der öffentlichen Ordnung wird man möglicherweise bereits in dem öffentlichen Angriff gegen das DDR-Symbol selbst sehen können...“3)
Das Bundeskabinett schloß sich in allen wesentlichen Punkten diesen Vorschlägen an. Die Hallstein-Doktrin war auf dem Gebiete des Sportes erledigt.
Endgültig beerdigt wurde sie mit der Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen.
1990 wurde sie reanimiert und unter dem Begriff Delegitimierung in „brutalstmöglicher Weise― (die Formulierung stammt aus dem Wortschatz des Hessischen Ministerpräsidenten) umgesetzt. Ihre Folgen sind zum Beispiel in den Arbeitsämtern der ostdeutschen Bundesländer zu besichtigen. Aber das ist ein anderes Kapitel, das an dieser Stelle nicht zu schreiben ist.
Ein kleines Nachwort aber will angefügt sein. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) hat ein umfangreiches Werk in Auftrag gegeben und bezahlt, in dem die nun erreichbaren Beschlüsse des Politbüros zum Sport4), die „zentralen Sportbeschlüsse der SED―5), wie der Text präzisiert; veröffentlicht wurden.
Es wäre jetzt wohl an der Zeit, die nun erreichbaren Beschlüsse der Bundesregierung und diverser Ministerien zum Sport zu sammeln und zu veröffentlichen. Es scheint leider höchst unwahrscheinlich, daß sich für solches Vorhaben Auftraggeber und Sponsoren finden.
ANMERKUNGEN
1) Brief des Innenministers von Nordrhein-Westfalen, registriert im Bundesministerium des Innern unter der Nummer 128/69
2) Brief des Bundesministers des Innern vom 23.7.1969, registriert unter Sp 1 – Bri370 930/8
3) Vorlage des Bundesministeriums des Innern vom 4.12.1969, registriert unter V 8 –117 006/28
4) TEICHLER, H.J.: Die Sportbeschlüsse des Politbüros. Eine Studie zum Verhältnis von SED und Sport mit einem Gesamtverzeichnis und einer Dokumentation ausgewählter Beschlüsse. (Bundesinstitut für Sportwissenschaft. Wissenschaftliche Berichte und Materialien, Band 02), Köln 2002
5) Ebenda, S. 4
DDR-Eishockey-Geschichte
Von HERBERT GASCH
I. VORBEMERKUNG
Die Vokabel „Sportwunder DDR“ ist nicht in der DDR erfunden und auch nicht durch die DDR verbreitet worden. Heute wird der Begriff vor allem von den gut bezahlten „Aufarbeitern“ des DDR-Sports strapaziert - um die DDR zu diskriminieren. Wo immer man Mängel des „Wunders“ zu entdecken glaubt, werden Bagger gerufen. Wenn von Dynamo die Rede ist, waren meist Mielke, Stasi und Doping im Visier. Unlängst hielt der Deutschlandfunk (14. Juni 2004) das nichtssagende Buch „Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder“ für einen willkommenen Anlaß, dem Dynamo-Vorsitzenden wieder mal einige Unfreundlichkeiten zu widmen. Ein für derlei niedere Attacken engagierter Fischer-Solms behauptete, daß Mielke auch im DDR-Eishockey für „Perversion“ (laut Fremdwörterbuch: Regelwidrigkeit des Geschlechtstriebes) gesorgt habe. Die Wortwahl fällt nicht ins Gewicht, offenbart nur den Stil der „Aufarbeiter“.
Nicht zu leugnen ist, daß Eishockey ein besonderes Kapitel jenes „Sportwunders“ war, was ich nicht feststelle, um eine Strophe des DDR-Klagelieds anzustimmen, sondern, weil ich als Dynamo-Funktionär auch im Eishockey involviert war und bezeugen kann: DDR-Eishockey mit seiner Zwei-Mannschaften-Liga hatte etwas von einem „Wunder“, zumal die aus diesen beiden Mannschaften formierte Nationalmannschaft sich über Jahrzehnte in der Verfolgergruppe der Weltspitze behauptete. Daß sich bislang nur wenige „Aufarbeiter“ dem Phänomen zuwandten, hatte triftige Gründe: Alle sonst benutzten Dogmen und Schablonen versagen in diesem Fall, weil die „Grundregel“ – „Die Partei entschied alles!“ nicht anwendbar ist. Die Situation entsprang nämlich einem bemerkenswerten Hader in der Parteiführung, und wie wollte man den heute erklären? Den kompletten Sachverhalt darzulegen, würde ein Buch füllen. Deshalb beschränke ich mich auf eine höchst verknappte Darstellung.
II. ALLGEMEINE FAKTEN ZUR DDR-EISHOCKEY-GESCHICHTE
AM 13. Februar 1949 bestritten die Eishockeymannschaften der SG Frankenhausen und der SG Grün-Weiß Pankow im Natureisstadion vor der Oberhofer Wandelhalle das Finalspiel des anläßlich der 1. Ostzonen-Wintersportmeisterschaft ausgetragenen Eishockey-Turniers. Die SG Frankenhausen gewann 8:2 und wurde fortan in vielen Statistiken als erster – und zugleich einziger – Eishockey-Ostzonenmeister geführt. Tatsächlich konnte das Aufeinandertreffen der Meister Sachsens,
Sachsen-Anhalts, Thüringens und der aus Berlin eingeladenen Mannschaft kaum als echte Meisterschaft bewertet werden. Im Jahr darauf fand in Schierke die erste DDR-Meisterschaft statt, in der sich Frankenhausen vor der BSG Empor Berlin und der BSG Kristall Weißwasser durchsetzte. Dieses Turnier ließe sich mit gutem Gewissen als die Geburtsstunde des DDR-Eishockeys betrachten.
Von da an fanden regelmäßig Meisterschaften statt, die allerdings zuweilen darunter litten, daß sie wetterabhängig waren, weil es an Kunsteisbahnen fehlte. 1956 wurde die DDR beauftragt, in Berlin die B-Weltmeisterschaft auszutragen, die sie gewann. (Und – beispiellos in der Geschichte der Weltmeisterschaften – Belgien einen Torwart lieh.) So trat die DDR 1957 das erste Mal bei einer A-Weltmeisterschaft an. In Moskau unterlag die DDR Schweden mit 1:11, der CSR mit 1:15, Finnland mit 3:5, der UdSSR mit 0:12, bezwang Polen mit 6:2, Japan mit 9:2 und Österreich mit 3:1. Das trug ihr den fünften Platz ein, wobei zu berücksichtigen ist, daß Kanada und USA aus unverhohlen politischen Gründen nicht angetreten waren. Bei der WM 1961 in Lausanne und Genf sorgte die BRD für einen beispiellosen Eklat, als der nach Genf gekommene Willi Daume der BRD-Nationalmannschaft aus politischen Gründen untersagte, gegen die DDR anzutreten, nachdem die Schweizer Gastgeber sich geweigert hatten, auf die DDR-Flagge zu verzichten. Das nie stattgefundene Spiel findet sich in den Annalen als ein 5:0-Sieg der DDR. So hatte die Internationale Föderation entschieden.
Die Zahl der Eishockeyklubs in der DDR wuchs im Laufe der Jahre auf acht, die jährlich die Meisterschaft austrugen. 1968 zum Beispiel gewann der SC Dynamo Berlin mit einem Punktverhältnis von 26:2 aus 14 Spielen und einem Torverhältnis von 112:30 vor Dynamo Weißwasser mit 23:5 Punkten und 88:25 Toren. (Siehe auch STATISTISCHES)
III. DIE MINI-LIGA
Am 8. April 1969 wurde vom Politbüro der SED – auf der Grundlage einer Empfehlung der Sportführung – der Beschluß gefaßt, die intensive Förderung der Sportarten nach verschiedenen Gesichtspunkten abzustufen, um eine höhere Effizienz der vorhandenen Mittel zu erreichen. (Inzwischen ist die Bundesrepublik bekanntlich diesem Weg mit allerdings gravierenderen Folgen für verschiedene Sportarten gefolgt.) Die Zahl der mit hohem finanziellen Aufwand unterstützten Sportarten wurde in der DDR dadurch reduziert. Der Beschluß enthielt die Liste der künftig noch intensiv geförderten Sportarten. Eishockey fehlte zunächst. Die Sportvereinigung Dynamo – ihr Vorsitzender war das Mitglied des Politbüros Erich Mielke – ignorierte den Beschluß und setzte mit eigenen Mitteln die Förderung der beiden Eishockeymannschaften Dynamo Berlin und Dynamo Weißwasser fort. Der Politbürobeschluß wurde handschriftlich ergänzt: „Eishockey nur bei Dynamo―. So entstand die
Mini-Liga. Wir Dynamo-Funktionäre taten alles, um Eishockey weiter zu fördern. Das gilt natürlich auch für die Aktiven, Trainer und Betreuer. Die DDR-Nationalmannschaft nahm weiterhin an den Weltmeisterschaften teil. Das fiel jedoch in die Kompetenz des Deutschen Eislauf-Verbandes (DELV) der DDR, was Kontroversen zwischen der Sportvereinigung Dynamo und der DTSB-Führung auslösen mußte. Es kam zu Situationen, die mit normalen sportlichen Gewohnheiten nicht zu erklären waren. DTSB-Präsident Manfred Ewald versuchte durch fatale Weisungen, nicht mit hohen Niederlagen der Nationalmannschaft in der A-Gruppe konfrontiert zu werden. Er erließ – in diesem Fall seine Funktion mißbrauchend – Weisungen, die die Aktiven und Trainer zu Niederlagen in der B-Gruppe „verurteilten―, um den Aufstieg in die A-Gruppe zu vermeiden. Das führte zum Beispiel 1972 bei der B-WM in Bukarest dazu, daß nach Siegen über Japan, Norwegen, Jugoslawien, gegen die USA verloren werden mußte. Nach einer 3:2-Führung am Ende des zweiten Drittels, wurde das letzte Drittel absichtlich 2:4 verloren. So kam die geforderte Niederlage zustande. Als das nach dem Spiel zu politisch skandalösen antikommunistischen Auftritten der US-Amerikaner im Hotel der Mannschaften führte, wurde Ewald über die Folgen seiner absurden Weisungen informiert, begab sich zum Flughafen Schönefeld, gab dort für die Mannschaft einen nie vorgesehenen Empfang und versicherte den sprachlosen Spielern, daß sich derlei nie wiederholen würde. Allerdings hielt er sich nicht daran. 1982, als die DDR bei der B-WM in Klagenfurt spielte, ließ er DTSB-Untergebene bei Offiziellen der Mannschaft anrufen und forderte nach drei Siegen und einem Unentschieden gegen Polen eine Niederlage. Wir ignorierten seine Anrufe und kehrten ungeschlagen als Aufsteiger in die A-Gruppe zurück. Ewald hatte seine „Forderung― mit dem Hinweis motiviert, Niederlagen der DDR bei der WM 1983 in Dortmund und München würden dem Ansehen des DDR-Sports schaden. Er konnte nicht ahnen, was sich zutragen würde: Die DDR-Spieler wurden nach ihrer knappen Niederlage gegen die BRD tätlich angegriffen und dem WM Gastgeber drohten Strafen und Skandal. Der BRD-Eishockey-Präsident Otto Wanner entschuldigte sich bei mir vor dem versammelten IIHF-Direktorat. Stunden später erschienen Daume, Meier und Tröger, um mir zu versichern, daß alles unternommen würde, um weitere Zwischenfälle zu vermeiden.
Mir ist klar, daß mancher sich fragen dürfte, was mich bewegt, diese Tatsachen im Jahr 2004 mitzuteilen. Um jedem Irrtum zuvorzukommen: Ich schrieb es nicht, um DDR-„Fehler― zu erörtern, sondern weil es mir nützlich erscheint, wenn ein Eingeweihter die Eishockey-Situation schildert und das nicht einem der ebenso böswilligen wie ahnungslosen „Aufarbeiter― überläßt. Dieses von vielen als negativ bewertete Kapitel DDR-Sportgeschichte sollte bei den Realitäten eingeordnet werden, die
wir weder bejubeln noch verdammen. Und die „Historiker―, die uns seit eineinhalb Jahrzehnten lehren wollen, wie wir gelebt haben, sollen meinetwegen weiter versuchen, herauszufinden, wie es kommen konnte, daß ein Politbürobeschluß von einem Politbüromitglied ignoriert wurde. (Der Sport-Zeitgeschichte-„Papst― Prof. Teichler hat zwar einen dicken Band aller Politbürobeschlüsse herausgegeben, diesem Tatbestand aber bislang keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt.)
Und nun noch ein wohl nötiges Wort zu Erich Mielke. Man mag fragen, was ihn, über dessen Person wahrlich genug erfunden und behauptet wurde, bewogen haben könnte, sich für das Überleben des Eishockeys in der DDR zu engagieren. Wer ihn kannte, weiß, daß er kein besessener Fan dieser Sportart war. Seine Gründe, die er zuweilen in kleiner Runde kundtat, lauteten: „Wir sind nicht nach Weißwasser gegangen und haben den Glasbläsern versichert, in der DDR hätte auch ihre Mannschaft eine Chance, zu den besten in Deutschland zu gehören, um ihnen ein paar Jahre später zu eröffnen, daß es damit wieder vorbei ist.― (Niemand soll mir mit dem Einwurf kommen, daß Erich Mielke auch anderes gesagt hat, hier und jetzt geht es um Eishockey.)
Der Publikumszulauf in Weißwasser sprach eindeutig für seine These. In einer Rede, die der langjährige Übungsleiter Klaus Riehle am 6. Dezember 2002 zur 70-Jahrfeier des Eishockeys in Weißwasser hielt, erinnerte er daran, daß zum Beispiel beim entscheidenden Duell zwischen Weißwasser und Berlin in der Saison 1988/89 die Rekordkulisse von 12.500 Zuschauern gezählt worden war. Bekanntlich erinnern auch Eisbärenfans nicht selten noch heute an die SC-Dynamo-Berlin-Tradition.
IV. STATISTIK
Die SG Dynamo Weißwasser errang insgesamt 22 DDR-Meister-Titel, der SC Dynamo Berlin 15, die SG Frankenhausen 2, die BSG Ostglas Weißwasser 2 und die BSG Chemie Weißwasser einen. Die DDR-Nationalmannschaft bestritt insgesamt 648 Länderspiele gegen 22 Länder, von denen sie 321 gewann.
Wie ernst Statistiken genommen werden, erwies sich bei der weltweiten Suche nach dem Nationalspieler mit den meisten Länderspiel-Einsätzen. Dietmar Peters, der erst in Rostock spielte und dann beim SC Dynamo Berlin, wurde lange mit 323 Berufungen an der Spitze geführt, bis jemand herausfand, daß darunter auch acht gewesen sein sollen, die er gegen B-Mannschaften bestritt, was ihm „nur― noch 315 A-Länderspiele beließ. Dadurch rückte der Landshuter Udo Kießling mit 320 Einsätzen wieder auf Rang eins und viele waren zufrieden...
V. KOMMENTAR
Als ich unlängst ein Interview zu lesen bekam, das Dietmar Peters der „Schweriner Volkszeitung― gegeben hatte, entschloß ich mich, mit einigen
Sätzen von ihm diesen Beitrag zu beenden. Er zieht Vergleiche zwischen Eishockey in DDR-Zeiten und heute, denen ich nicht widerspreche...
―Ganz generell betrachtet er die Situation im deutschen Eishockey eher skeptisch. ‗Der Nachwuchs bekommt doch jetzt schon die Quittung dafür präsentiert, daß man in der DEL ausschließlich auf Ausländer setzt. …Läuft es so weiter, spielt Deutschland eines vielleicht gar nicht mehr so fernen Tages in der C-Gruppe.‘ Irgendwie fühlt sich Dietmar Peters damit, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, an die alten DDR-Zeiten erinnert. ‗Unten können wir uns kaum retten vor Kindern, die Eishockey spielen wollen. Aber schon bei den Junioren wird es dünn. Kein Wunder, wenn es für diese Jungs keine richtige sportliche Perspektive gibt.‘‖
Die DDR war schon 1967 in „Europa“
Von KLAUS HUHN
Erdteilkämpfe fanden in der Leichtathletik relativ selten statt. Meist dienten sie als sportliche Attraktion bei internationalen Großereignissen. Einer der ersten wurde im Rahmen der Weltausstellung 1967 in Montreal ausgetragen. Da Montreal damals über keine internationalen Ansprüchen genügende Leichtathletikanlage verfügte, wich man in ein Motorsportstadion aus, legte provisorische Laufbahnen an und asphaltierte den Innenraum. Der Vergleich war nach dem Programmplan der Weltausstellung für den 9. und 10. August 1967 terminiert, was genau zwischen der Zwischen- (22./23.7.) und der Endrunde (16./17. September) des damals noch als Höhepunkt geltenden Europapokals lag. So hatte es der Europarat der IAAF (Vorgänger der European Athletic Association / EAA) nicht leicht, eine starke Mannschaft für Montreal aufzubieten, zumal die UdSSR eine Beteiligung ablehnte. Zu jener Zeit erlebte die DDR-Leichtathletik ihren ersten Aufschwung, und so zauderte der für die Europamannschaft zuständige Niederländer Adrian Paulen keine Sekunde, sechs DDR-Athleten einzuladen und in letzter Minute als siebenten noch den Dresdner Kugelstoßer Dieter Prollius. Möglicherweise ahnte Paulen nicht, welche politischen Hürden er zu meistern hatte, als er diese Entscheidung traf. Als die DDR-Athleten und ihre Betreuer die Visaanträge für Kanada stellten, wurden sie nach einer Intervention Bonns in Ottawa beschieden, daß die Visa keinesfalls in die DDR-Pässe gestempelt würden, sondern zuvor im Westberliner Allied Travel Office ein „Travel Pass― beantragt werden müsse und danach ein kanadisches Visum erteilt würde. Paulen war Realist genug, um vorauszusehen, daß der DDR-Verband das nie akzeptieren würde. Faktisch war damit eine halbwegs aussichtsreiche Europamannschaft in Gefahr. Aber Paulen wollte nicht kapitulieren. Er flog nach Berlin und beantragte in dem Alliierten-Büro an der Potsdamer Straße Pässe für die DDR-Athleten.
Vorher hatte er sich Paßbilder besorgt, ließ sie auf die Anträge kleben und unterschrieb dann jeden der Anträge selbst. Viele, die davon hörten, fragten ihn, was er sich davon versprach, aber der Ex-Direktor einer Kohlengrube verlor nicht viel Worte darüber. Tatsächlich dürfte er hinter den Kulissen die Kanadier vor die Alternative gestellt haben, entweder in Washington zu erreichen, daß ihm das von den USA kommandierte „Reisebüro― die Pässe aushändigte, oder kaum mit einer attraktiven Europa-Auswahl zu rechnen war. Er setzte sich durch, nahm die Pässe entgegen, ließ die kanadischen Visa einstempeln und legte sie bei der Paßkontrolle vor, als die Mannschaft die Maschine nach Montreal bestieg. In der Weltausstellungsstadt regelte er ebenso die Einreise. Die ausnahmslos von ihm signierten Pässe wurden akzeptiert, die DDR-Athleten hatten nur DDR-Pässe bei sich.
Inzwischen hatten sich auch beträchtliche Schwierigkeiten bei der Formierung der Amerika-Aufgebots ergeben. Die aber resultierten daraus, daß sich ein großer Teil der USA-Leichtathletikstars an dem für sie nicht sonderlich lukrativen Erdteilkampf desinteressiert zeigten und gut bezahlte Starts in Europa vorzogen. Am Ende erschien dann aber doch eine Mannschaft mit guten Namen in Montreal, und wenn auch die von vielen erwarteten Weltrekorde ausblieben, lieferten sich beide Kontinente ein spannendes Duell, das am Ende mit 109:100 bei den Männern und 60:55 bei den Frauen für Europa endete.
Die sieben DDR-Athleten holten für die beiden Europa-Mannschaften insgesamt 20 Punkte und trugen damit nicht unerheblich zum Europa-Erfolg bei. Langstreckler Jürgen Haase absolvierte einen imponierenden 10.000-m-Lauf, legte bei 3000 m einen energischen Zwischenspurt ein, dem die Rivalen nicht zu folgen vermochten. Nach 14:21 min passierte er die 5000 m und siegte in 29:05,4 min. Der Mexikaner Martinez hatte 27 s gegen ihn verloren und der US-Amerikaner Clark eine knappe Minute. Aber es gab nicht nur strahlende DDR-Sieger. Der Dresdner Weitspringer Max Klauß hatte auf der fast provisorischen Anlage fünf ungültige Versuche und sicherte mit 7,27 m nur den Punkt für den Letzten. Der ein Jahr vor den Spielen in Mexiko-Stadt noch relativ unbekannte Bob Beamon hatte sich mit 8,03 m den Sieg geholt. Einen weiteren letzten Platz belegte im Kugelstoßen der in allerletzter Minute in die Mannschaft geholte Dieter Prollius (18,51 m). Die DDR-Frauen feierten in der gleichen Disziplin einen ungefährdeten Doppelsieg: Margitta Gummel gewann mit 17,27 m vor der Rostockerin Renate Boy-Garisch, die 16,82 m erzielte. Die beiden Amerika vertretenden Kanadierinnen Mc Credie (14,14 m) und Dowds (13,64 m) lagen „Welten― zurück. Rita Schmidt kam im Hochsprung mit 1,69 m auf die gleiche Höhe wie die Österreicherin Ilona Gusenbauer, mußte sich aber mit Rang drei begnügen. Einen zweiten Rang steuerte noch die Diskuswerferin Karin Illgen bei, die hinter der mit
56,77 m überzeugend erfolgreichen Liesel Westermann (BRD) 52,15 m erreicht hatte.
Der Autor, der mit der Mannschaft nach Montreal geflogen war, nachdem ihm der Pressechef der Weltausstellung telegrafisch versichert hatte, man würde ihm das kanadische Visum am Austragungsort in seinen DDR-Paß stempeln, wurde nach der Landung in Haft genommen und tags darauf wegen „unerlaubter Einwanderung― vor Gericht gestellt. Der Richter beschwor ihn, die Gesetzeswidrigkeit durch eine förmliche Unterschrift anzuerkennen und stellte ihm dafür 48 Stunden freien Aufenthalts in Aussicht, doch blieb ich bis zum Schluß dabei, nicht unerlaubt „eingewandert― zu sein. Von Polizisten eskortiert brachte man mich zum Flugzeug und so sah ich die Eröffnung des Erdteilkampfes nur für Sekunden aus großer Höhe.
Die Urkunde vom Anfang
Von GERHARD HAGEMIEISTER
1978 erschien in Waren eine gemeinsam vom Rat des Kreises, dem DTSB und der BSG Lok Waren/Rethwisch herausgegebene Broschüre über die Entwicklung des Sports in Waren (Müritz), aus der wir Auszüge nachdrucken.
Das Papier ist schon leicht vergilbt. Mit kunstvoll geschriebenen Buchstaben werden die Teilnehmer des Staffellaufes am Tage des Sports in der 5. Weltjugendwoche im Jahre 1947 in unserer Stadt geehrt.
Die Unterschriften machen das Papier für uns wertvoll. Die Achtung vor den Aktivisten der ersten Stunde ist bei uns wach geblieben. Der Kommunist „Fiete‖ Dethloff hatte im Oktober 1945 das Amt des Bürgermeisters in Waren übernommen. In dieser Zeit, als es galt, Umsiedler zu verpflegen und unterzubringen, Typhuskranke zu isolieren, Heizmaterial zu organisieren, war die Zeit für die Jugend und Sport im Rathaus knapp bemessen - aber vorhanden.
Fast schlimmer als das materielle war das geistige Chaos, das der Faschismus hinterlassen hatte. Moralische Verwilderung paarte sich mit Resignation und Mutlosigkeit. Es galt, auch der Jugend wieder ein Ziel für ein besseres Leben zu geben. Leo Nettersheim war ein vorbildlicher Propagandist und Organisator in Sachen Jugend und Sport. Dieser kleine, agile Mann verstand es als Kreissportreferent, einzelne Stunden wie große Höhepunkte vorzubereiten und durchzuführen. Er war auch in der Lage „vorzuturnen‖. Bis in das hohe Alter beeindruckte er manchen mit seinen Übungen an Reck und Barren. Das nutzte er auch in vielen Sportveranstaltungen im Kreis. Bestimmt wird sich noch mancher gerne an diese Veranstaltungen erinnern, wenn Leo Nettersheim in den Orten erschien und für Orientierung und Abwechslung sorgte. Immer trug er
auch den Leipziger Aufruf in der Jackentasche, wenn er mit seinem Fahrrad unterwegs in den Ortschaften war. Die Menschen wurden schon herausgefordert, wenn Leo Nettersheim vor den sportlichen Übungen zu sprechen begann: Die Mitarbeiter der ehemaligen Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit aus Leipzig hatten sich im Juni 1945 mit einem Aufruf an alle Sportgenossen gewandt, sagte er.
Es hat seine Zeit gedauert, bis das Papier bei uns in Mecklenburg angekommen ist. Nun ist es auch bei uns. Hört euch die Worte an:
Wir antifaschistischen Sportler haben die heilige Aufgabe, dafür zu sorgen, daß Nazismus und Militarismus sofort im Sport ausgeschaltet werden.
Wir, die Unterzeichner dieses offenen Briefes, wenden uns an Euch, weil wir der Auffassung sind, daß die neu zu schaffende Sportbewegung nur eine antifaschistische Volkssportbewegung sein kann, und zwar eine Volkssportbewegung der Einheit!
Nur wenn wir Schulter an Schulter marschieren werden wir die Aufgaben des antifaschistischen Kampfes lösen. Wir, die Unterzeichner dieses Briefes, treten ein
1. für eine Volkssportbewegung, die frei von allen nazistischen und militärischen Einflüssen ist;
2. für eine Volkssportbewegung, die nach freien demokratischen Grundsätzen gebildet, verwaltet und geführt wird;
3. für eine Volkssportbewegung, die ein körperlich und geistig gesundes Volk erzieht;
4. für eine Volkssportbewegung, die den friedlichen Wiederaufbau mit allen Kräften fördert;
5. für eine Volkssportbewegung, die für den Frieden kämpft;
6. für eine Volkssportbewegung, die jeden antifaschistischen Kampf unterstützt!
Auf der Grundlage dieser Plattform muß und wird es möglich sein, daß wir uns in unzerbrechlicher Einheit zusammenfinden.
Nach diesen Worten packte Leo Nettersheim die einzig gerettete Stoppuhr aus der Watte und das Laufen und Springen begann. So hat er viele Veranstaltungen organisiert — auch den Staffellauf in der 5. Weltjugendwoche. Die beiden Genossen leben nicht mehr. Sie haben den Staffelstab an uns weitergegeben. Der Sport kam auch in unserem Kreis in Bewegung. Viele haben den Stab übernommen.
Gegen die Wellen
Zu den sportlichen Besonderheiten unserer Stadt gehört nun schon seit 10 Jahren des ―Müritzschwimmen‖. Eine Volkssportveranstaltung, die immer viele anlockt. Hans-Paul Engel… hat an jeder Veranstaltung
teilgenommen… muss staunend zur Kenntnis nehmen, dass er mit seinen 51 Jahren der älteste Teilnehmer im Feld der Männer ist… Vom nahen Ufer suchen Ferngläser die Wellenköpfe nach bunten Badekappen ab. Ihnen fällt ein Schwimmer auf, der sich immer weiter nach vorn arbeitet… Das Kampfgericht ermittelt ihn als den schnellsten Schwimmer in der Altersklasse über 25 Jahre. Stolz nimmt er die Anerkennung entgegen. Es sind nur 365 Tage bis zum nächsten ―Müritzschwimmen‖ denkt Hans-Paul Engel – du musst schon morgen wieder mit den Vorbereitungen beginnen.
Jugendliche Übungsleiter – ein Erfahrungsbericht
Von IRMGARD BOYWITT
Zu den in der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 garantierten Grundrechten der jungen Generation zählten das „gleiche Recht auf Bildung― für alle (Artikel 35), „die Möglichkeit zur allseitigen Entfaltung― der „körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte― (Artikel 39), das Recht auf Erholung und bezahlten Urlaub (Artikel 16) und grundlegende politische Rechte.1) Gemäß dem Verfassungsauftrag waren Körperkultur und Sport der Heranwachsenden insgesamt zu fördern, das heißt Sport, Spiel und Bewegung für die Jüngsten in den Kindergärten, Sport und Spiel im Schulhort, der Sportunterricht und der außerunterrichtliche Sport an den allgemeinbildenden Oberschulen, den Berufs-, Fach- und Hochschulen und der außerschulische Sport in den Sportgemeinschaften und Betriebssportgemeinschaften des DS und später des DTSB und den Grundorganisationen der GST. Selbstverständlich zählte auch der Sport in allen Ferienformen dazu, in den örtlichen Ferienspielen, den Betriebsferien- und zentralen Pionierlagern, in Schwimm- oder Skilagern und vor allem auch das selbständige Sporttreiben im Freundeskreis, in und mit der Familie oder individuell. Zu den Hauptformen zählten der obligatorische Sportunterricht, der außerunterrichtliche Sport an der Schule und der außerschulische Sport. Als charakteristisches Merkmal galt die „enge Verbundenheit von obligatorischem Sportunterricht und sportlicher Freizeitbetätigung im außerunterrichtlichen oder außerschulischen Sport―.2)
Natürlich ist es nicht möglich, in diesem kurzen Erfahrungsbericht alle damals existierenden Formen des Kinder- und Jugendsport zu nennen. Es sollte lediglich deutlich werden, es ging von Anbeginn darum, allen Kindern und Jugendlichen das Sporttreiben zu ermöglichen und für eine gesunde körperliche Entwicklung die nötigen Bedingungen zu schaffen und Entwicklungsimpulse zu geben. Das erforderte, die Entwicklung der Heranwachsenden in ihrer Gesamtheit und Komplexität zu erfassen, von der frühkindlichen Erziehung – Erziehung hier im weitesten Sinn des
Wortes verstanden – bis zum späten Schulalter und darüber hinaus. Und vom Anbeginn wurde auch versucht, die daraus resultierenden Aufgaben in ihrer Gesamtheit und Komplexität zu lösen. Deshalb wurde der Demokratischen Sportbewegung (DS) bereits nach ihrer ersten Konsolidierung im März 1951 die Aufgabe gestellt: „Um ein einheitliches System der körperlichen Erziehung in der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen, ist es notwendig, daß die Arbeit auf diesem Gebiet im vorschulischen, schulischen und außerschulischen Sektor koordiniert wird.―3) Außerdem wurde bereits zu diesem Zeitpunkt die Verantwortung des Schulleiters für die außerschulische körperliche Erziehung hervorgehoben, die dann in der Anweisung des Ministeriums für Volksbildung zur Entfaltung des außerunterrichtlichen Sports an den Schulen... vom 4. Dezember 19514) explizit festgeschrieben wird. Und schließlich orientierte die Anordnung Nr. 1 „Über die Durchführung der Arbeiten des... Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport― darauf, „auch den Sport der Kinder in den Schulsportgemeinschaften... anzuleiten―.5)
Ausgehend vom Verfassungsauftrag diskutierten wir nicht nur die neuen Lehrpläne, die dann 1951 eingeführt wurden, sondern auch Lösungsmöglichkeiten, um möglichst viele Kinder für den Freizeitsport gewinnen zu können, und begannen schon Anfang der 50er Jahre Schulsportgemeinschaften (SSG) zu bilden sowie die erforderlichen Übungsleiter zu gewinnen, aus- und weiterzubilden. Infolge des breiten Angebots an Arbeitsgemeinschaften einer Schule und von Angeboten im Wohnumfeld6) reichten die Lehrer keineswegs aus. Aber auch die Übungsleiter aus dem Kreis der Eltern oder der Übungsleiter und Trainer der jeweiligen Paten- oder benachbarten BSG konnten nicht alle Übungsstunden oder Betreuungsaufgaben in der SSG übernehmen. Deshalb versuchten wir zunehmend, Jugendliche als Übungsleiter (über 16 Jahre) und Übungsleiterhelfer (Aufsichtshelfer über 14 Jahre) aus den Klassen 8 bis 12 zu gewinnen. Zu unserer Überraschung meldeten sich im Stadtbezirk Friedrichshain von Berlin jährlich 100 bis 120 Jugendliche für eine Ausbildung als Übungsleiter, die wir dann in jedem Jahr während der Winterferien auf der Grundlage des Ausbildungsprogramms des DTSB durchführten. Die vom Kreisturnrat und dem Vorsitzenden des Kreisvorstandes des DTSB geleiteten Lehrgänge ermöglichten in der Regel eine Ausbildung für die Sportarten Handball, Volleyball, Gymnastik, Gerätturnen, Leichtathletik (ohne technische Disziplinen) und Kleine Spiele. Der Ausbildungsplan umfaßte täglich vier Stunden theoretische Unterweisung (jeweils vormittags) und nach der Mittagspause die praktische Ausbildung in der gewählten Sportart. Die Eröffnung des Lehrganges und die Vorstellung der Lehrkräfte führten wir später stets im großen Kinosaal des repräsentativen Kinos „Kosmos― durch. Die
theoretische Unterweisung teilten sich die Lehrgangsleiter mit den Sportlehrern der verschiedenen Schulen, die vor allem Theorie und Methodik der Sportarten unterrichteten und die Ausbildung in der Praxis übernahmen. Der Kreissportarzt vermittelte sportmedizinische Grundlagen und die Aufgaben der Ersten Hilfe. Solch ein Lehrgang endete mit der feierlichen Übergabe der Übungsleiterausweise und einem fröhlichen Tanzvergnügen. Selbstverständlich gehörte auch ein kleiner Imbiß dazu.
Jeder erfahrene Lehrer, Trainer oder Übungsleiter weiß, daß es nur so möglich ist, bruchlos von Generation zu Generation immer wieder die erforderliche Anzahl an Übungsleitern zu gewinnen, solide auszubilden und auch kontinuierlich weiterzubilden. Jedem ist aber zugleich auch die Herausforderung und Verantwortung bewußt, die damit verbunden war und immer sein wird, Übungsleiter in jugendlichem Alter einzusetzen.
Als Übungsleiter konnten - in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen - Schülerinnen und Schüler gewonnen werden, die das 16. Lebensjahr vollendet hatten. Für ihren selbständigen Einsatz war nicht nur ein gültiger Übungsleiterausweis notwendig, sondern auch eine schriftliche Erlaubnis der Erziehungsberechtigten. Außerdem mußte die Leitung der SSG oder der BSG zustimmen und eine Oberaufsicht eingesetzt werden oder vorhanden sein. Laut Sportordnung des DTSB (Abschnitt I.2.) galt das nicht für alle Sportarten. In den Sportarten Bergsteigen, Bogenschießen, Boxen, Eishockey, Eislauf, Fechten, Gewichtheben, Kanu, Leichtathletik (technische Disziplinen), Rudern und Segeln, Motorsport, Pferdesport, Radsport und Wasserspringen, Biathlon, Skispringen, Schlitten- und Bobsport durften nur volljährige Übungsleiter tätig sein. Unabhängig davon war für alle Übungsleiter in allen Sportarten eine halbjährliche aktenkundige Arbeitsschutzbelehrung unabdingbare Pflicht.
Es war entsprechend der Fürsorge- und Aufsichtsordnung (§ 7) auch zulässig, Schüler über 14 Jahren als Aufsichtshelfer einzusetzen, und zwar als Schülerübungsleiter, Übungsleiter-Helfer, Riegenführer oder für die Beaufsichtigung auf Unterrichtswegen. Dem Lehrer oblag dann sowohl die Verantwortung für die sorgfältige Auswahl, Einweisung, Belehrung und Kontrolle der Helfer als auch die seinen Pflichten entsprechende Oberaufsicht. Die Fürsorge- und Aufsichtspflicht des Lehrers galt auch für die außerunterrichtlichen Veranstaltungen der Schule, zum Beispiel für die Schülerarbeitsgemeinschaften oder für die Veranstaltungen der Schulsportgemeinschaften7) Kurz: alle gesetzlichen Regelungen und Bestimmungen waren einzuhalten, woraus sich immer wieder Betreuungs- und Anleitungsaufgaben für den jeweils aufsichtführenden Lehrer ableiteten.
Den Wert solch einer über viele Jahre kontinuierlich durchgeführten Ausbildung von Übungsleitern im jugendlichen Alter und ihre verantwortungsvolle Begleitung und Betreuung in den ersten Jahren praktischer Tätigkeit im Sport, ohne in irgendeine Form von Gängelei zu verfallen, messe ich unter anderem daran, daß noch heute Übungsleiter, die ihre Erstausbildung als Schüler im Stadtbezirk Friedrichshain erhielten, in Sportvereinen tätig sind.
Solch eine Rückschau macht jedoch auch immer wieder bewußt, wie wenig mitunter der Gesamtprozeß, zum Beispiel der Entwicklung des Schulsports einschließlich der Schulsportgemeinschaften, bedacht und dargestellt wird, so daß oft der Eindruck entsteht, irgendwann sei solch eine Organisationsform wie die Schulsportgemeinschaften, etwa mit der „Instruktion für die Entwicklung des außerunterrichtlichen Sports an den Oberschulen der DDR― vom 26.10.19618) und der „Arbeitsrichtlinie für Schulsportgemeinschaften (SSG)...― ebenfalls vom 26.10.19619), geradezu implantiert worden. Nein – dafür bin ich Zeitzeuge – das war ein zeitlich längerer Prozeß, dessen Anfänge bis zum Beginn der demokratischen Schulreform nach 1945 im Osten Deutschlands zurückreichen. Die ersten Schulsportgemeinschaften wurden bereits Anfang der 50er Jahre gegründet, nachdem wir uns gründlich überlegt hatten, wie wir – unter den damals gegebenen Bedingungen nach solch einem verheerenden Krieg – immer mehr Heranwachsenden ausreichende Möglichkeiten für Bewegung und Sport in der Freizeit schaffen können. Und die Schulsportgemeinschaften waren ein Element – wenn auch ein besonders wichtiges – in einem komplexen System des Sports für alle Heranwachsenden, für das viele Verantwortung trugen und gerne wahrnahmen.
ANMERKUNGEN
1) Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949. GBl. 1949, Nr. 1, S. 5-16
2) GÄRTNER, H./HINSCHING, J.: Sport der jungen Generation. In: Körperkultur und Sport in der DDR. Berlin 1982, S. 269
3) Entschließung der 5. Tagung des ZK der SED „Die Aufgaben auf dem Gebiet der Körperkultur und des Sports― März 1951. Dokumente der SED, Band III. Berlin 1952, S. 415 ff
4) Anweisung des Ministeriums für Volksbildung zur Entfaltung des außerunterrichtlichen Sports an den Schulen vom 4. Dezember 1951. Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung 1951
5) Anordnung Nr. 1 des Sekretariats des ZK der SED „Über die Durchführung der Arbeiten des durch Beschluß des Ministerrates gebildeten staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport...― v. 12. Mai 1952
6) Vgl. u.a. Verordnung über die außerschulischen Einrichtungen v. 23.10.1952. GBl 1952, Nr. 150, S. 1087-1088
7) Vgl. u.a. Verordnung über die Sicherung einer festen Ordnung an den allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen – Schulordnung – v. 29.11.1979. GBl. I Nr. 44 S. 433; Verordnung über die Pflichten und Rechte der Lehrkräfte und Erzieher der Volksbildung und
Berufsbildung – Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte – v. 29.11.1979. GBl. I Nr. 44, S. 444
8) Vgl. Instruktion für die Entwicklung des außerunterrichtlichen Sports an den Oberschulen der DDR v. 26.101961. Körpererziehung (1961) 11, S. 580-583
9) Arbeitsrichtlinie für Schulsportgemeinschaften (SSG) der allgemeinbildenden Schulen in der DDR v. 26.10.1961. Körpererziehung (1961) 11, S. 583-587
Historiker-Weisheiten
Von KLAUS HUHN
Wer ins Staunen darüber gerät, wie heutzutage Sportgeschichte im allgemeinen „aufgearbeitet― wird und die der DDR im besonderen, sollte sich der Literatur widmen, ehe er mit dem Staunen beginnt. Dieser Umweg deucht unumgänglich, weil die schon in der Antike formulierten Grundregeln der Geschichtsschreibung längst so außer Kraft geraten sind, wie zum Beispiel die Zehnkampftabellen vom Beginn des vorigen Jahrhunderts. Oder: Die Frage, ob Paavo Nurmi tatsächlich gegen die Amateurregeln verstoßen hatte, ließe sich notfalls noch aufarbeiten, wohingegen bei der Frage nach der Geschichte der DDR-Fußballmeisterschaft trotz vorliegender Tabellen fast täglich Haarsträubendes verbreitet wird.
Bei einer Konsultation von Literaten erweist sich schon Goethe (1749-1832) als ein Weiser: „Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen.― Der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804-1872) ergänzte den Weimarer Dichterfürsten durch die Entdeckung einer Nuance: „Der Geschichtsschreiber hat die Muße und Aufgabe, auch den Alten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, aber nicht der Geschichtmacher.― Der Russe Gogol (1809-1852) schrieb in „Über die Art Weltgeschichte zu lehren―: „Alle Geschehnisse der Welt müssen so eng miteinander verbunden werden, so ineinander verschlungen wie die Glieder einer Kette. Wird ein einziges Glied herausgenommen, so zerreißt die Kette.― Anatole France (1844-1924) hinwiederum riet den Historikern: „Wer Geschichte schreibt, muß höchst eitel sein und Freude am Erfinden haben.―
Fazit: Wer sich das Vergangene vom Halse schaffen will – in unserem Fall den durch Medaillenlisten und Rekordprotokolle aufgefallenen DDR-Sport –, wer dieser Vergangenheit und damit den „Alten― keine Gerechtigkeit widerfahren läßt, hier und da ein Glied aus einer Kette heraussägt und gebührend Freude am Erfinden hat, sollte sich zu den „Aufarbeitern― der DDR-Sportgeschichte gesellen und darf ziemlich sicher sein, dort mit Beifall begrüßt zu werden. Da der Job nicht selten auch gut honoriert wird, pflegen die Beteiligten zur Beruhigung ihres Gewissens Bertolt Brecht (1898-1956) jeden Morgen tief zu verscharren, denn der hatte Galileo Galilei sagen lassen: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!―
Wie in vielen Disziplinen des Sports finden sich auch bei den Geschichtsjägern übereifrige Spitzenreiter und ein wenig in Atemnot geratene Hinterherrenner. Eine Umfrage ergab, daß ein gewisser Giselher Spitzer gemeinhin als Spitzenreiter gilt.
Sein Name findet sich in der Rubrik „Mitarbeiter― in der Internet-Auskunft der Universität Potsdam: „Dr. paed. Giselher Spitzer (geb. 1952); Studium von Geschichte, Sozialwissenschaft und Sport; Promotion in Bonn; seit 1994 im Arbeitsbereich Zeitgeschichte des Sports der Universität Potsdam; 2000 Habilitation an der Freien Universität Berlin.― In „Portal― (die Potsdamer Universitätszeitung) wurde im Oktober 2001 mitgeteilt: „...Spitzer... nahm in den vergangenen Wochen eine Gastprofessur an der Universität Odense (Dänemark) wahr.― Ungeachtet der bisher nicht publik gewordenen Bindungen Spitzers zum deutschen Schwimmverband widmete ihm die Internetseite des Schwimmverbandes Rhein-Wupper einen ungewöhnlich ausführlichen Beitrag, wonach Spitzer in Potsdam „...seine Diensträume nach über neun Jahren verlassen und einen Großteil seines Archivs aus Platzmangel auflösen― mußte. Der Hintergrund: Das Land Brandenburg hatte seinen befristeten Arbeitsvertrag nicht verlängert. Das von ihm angerufene Arbeitsgericht entschied am 29. Oktober 2003, dass die Befristung des Arbeitsvertrages unwirksam sei. Der Schwimmverbands-Kommentar ließ durchblicken, daß das Land gegen diese Entscheidung in Revision gehen könnte. Neben diesen auf Kontroversen mit Potsdamer Universitätskreisen schließen lassenden Fakten erschien Insidern Spitzers Vita lückenhaft. Nirgends ward erwähnt, von wann bis wann Spitzer wo studierte? Der Zeitraum zwischen Geburt und Anstellung in Potsdam mißt immerhin 42 Jahre. Gemunkelt wird, daß er zwischendurch bei einer Bundeswehreinheit tätig war, die den Kalten Krieg gegen die DDR im Äther führte. Das könnte seine Eignung für die jetzige Tätigkeit erhärten.
Spitzers Standardthemen sind angebliches Doping in der DDR und vorgebliche Aktivitäten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. Auf beiden Gebieten stützen sich seine Erkenntnisse vornehmlich auf Akten, deren Wahrheitsgehalt juristisch nicht belegt werden kann. Die von ihm verwendeten Papiere tragen in der Regel den Stempel „BStU― (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR), der keinerlei Schlüsse zuläßt, wo wann wie dieses Schriftstück oder seine Kopie entstanden sind.
Über seine Arbeitsweise gab er einem Journalisten Auskunft, als er der „Super-Illu― die Frage beantwortete: „Viele stempeln sie als Wichtigtuer ab, der es mit seinen Behauptungen nicht so genau nimmt. Was sind eigentlich Ihre Quellen?―
Spitzer: „Ich arbeite zu hundert Prozent wissenschaftlich nur mit harten Daten. Meine Quellen sind Gespräche mit Zeitzeugen, SED-Akten und das
Partei-Archiv, Analyseberichte des IOC-Labors in Kreischa, interne Revisionen, Akten aus dem Ministerium für Staatssicherheit, Fotokopien von Arbeitsverträgen. Ich habe erschütternde Beweis für kriminelles Doping...―2)
Auf der Suche nach einem Beleg für seine Methoden könnte man allerdings auf seinen 2002 in Leipzig gehaltenen Vortrag über die von ihm ermittelten „Schattenseiten der Deutschen Turn- und Sportfeste der DDR...― stoßen. In Fußnote 7 wird versichert: „Der... veröffentlicht heute ein Buch ‘Deutsche Arbeitersportler gegen Faschisten und Militaristen‘ (o.J.) in einer Reihe zur ‘revolutionären Arbeiterbewegung‗ des Verlages der MLPD, einer maoistischen Splitterpartei.―3)
Aufschlußreich ist der Verzicht auf die Nennung des Namens des Verlages, vor allem aber der für Historiker ungewöhnliche Zeitbegriff „heute―. Gehalten worden war der Vortrag von Spitzer im Jahr 2002. Das erwähnte Buch war 1959 in der DDR in der von Ernst Engelberg u.a. herausgegebenen Reihe „Beiträge zur Geschichte...― erschienen. Vermutlich wurde in den achtziger Jahren in der Alt-BRD ein Raubdruck verbreitet, von dem der Autor nachweisbar nie etwas erfuhr.
Das sind für Spitzer harte Daten?
Oder: In einem vom Süddeutschen Verlag verbreiteten Interview, daß ein gewisser Robert Hartmann mit ihm führte, erklärte er zum DDR-Doping: „Die Rekonstruktion des Dopinggeschehens aus wissenschaftlicher Sicht ist im übrigen durch die Berliner Prozesse wegen Körperverletzung in wesentlichen Punkten bestätigt worden.1)
Wo liegen für einen Historiker die Grenzen zwischen „wesentlich― und „unwesentlich―? Einer der beiden vom Gericht geladenen Gutachter (Prof. Rietbrock aus Frankfurt/Main) äußerte sich nach der Urteilsverkündung über seine Enttäuschung in einem Interview: „Die Enttäuschung liegt vor allem darin, daß Trainer und Mediziner wegen Körperverletzung verurteilt worden sind, die nicht nachzuweisen war. Ich habe auch meine Zweifel, wenn Gericht und Staatsanwaltschaft ihre Weisheit überwiegend aus Stasiakten schöpfen, über deren Wahrheitsgehalt man streiten kann. Was die nicht nachweisbare Körperverletzung anbelangt, so habe ich dem Vorsitzenden Richter, Herrn Bräutigam nach Prozeßende einen mehrseitigen Brief geschrieben... Meine Kritik zielt darauf ab, daß das Gericht in seinem Urteil Feststellungen getroffen hat, die teilweise im Widerspruch zum Sachverständigen-Gutachten stehen.―2)
Wurde hier Gogol gefolgt und ein Glied aus der Kette entfernt?
Anatole-France-Spuren („Freude an der Erfindung―) und sogar Goethes Erkenntnis („Vergangenheit vom Halse schaffen...―) tauchten bei einem Vortrag auf, den Spitzer vor Sporthistorikern 2001 in Potsdam gehalten hatte und den er in seinem 2004 erschienenen Buch „Fußball und Triathlon― versteckt erwähnte
In dem Vortrag hatte er als Gegner des die DDR-Meisterschaft 1950 entscheidenden Punktspiels Dresden-Friedrichstadt und Freiimfelde Halle genannt. Tatsächlich hatte Dresden gegen die ZSG Horch Zwickau gespielt, was er nach einer mündlich gestellten Rückfrage aus dem Plenum auch unwillig einräumte. Im Buch las man: „Als erster ‚DDR-Meister‘ 1949/50 ließ sich dann die Zentralsportgemeinschaft ‚Horch‘ Zwickau in die Annalen eintragen...4) Um seinen fatalen Fehler vor dem Plenum in Potsdam zu kaschieren, fügte er eine Fußnote an: „Wegen eines falschen Spielergebnisses (entstanden durch Textverkürzung) wurden in der Jungen Welt vom 11.6.2001 sämtliche Überlegungen des Verfassers zum Fußball verworfen.―5) Wie eine „Textverkürzung― zur Auswechselung zweier Fußballmannschaften führen kann, wird nirgendwo erwähnt.
Oder: In dem Buch und in der „Super-Illu― wurde von ihm behauptet, in der Fußballmannschaft Dynamo Berlin sollen „im Europacuphinspiel gegen Werder Bremen 1988 ... einige aus der Mannschaft vollgepumpt gewesen sein.―6)
„Super-Illu― fragte danach und Spitzer antwortete, wonach er gar nicht gefragt worden war: „Der BFC ist im DDR-Fußball die absolute Besonderheit, weil es der Verein von Staatssicherheitsminister Mielke war...6)
Das Magazin wollte es genauer wissen: „Worauf stützen sich ihre Behauptungen?― Darauf er: „Es gibt sogar eine MfS-Aufzeichnung. Da schildert ein BFC-Spieler die Wirkung von ‚weißen Tabletten‘, nach deren Einnahme ‚Kontraste und Farben der Umwelt deutlicher wurden‘...―7)
Super-Illu zitierte dazu den Ex-Dynamo-Star Andreas Thom (heute bei Hertha BSC): „Alle Jahre wieder haut irgendjemand so ein Ding raus und wir müssen uns dazu äußern. Darauf habe ich aber überhaupt keinen Bock mehr.― Und Bodo Rudwaleit, der in jenem Spiel gegen Bremen im Tor gestanden hatte: „Das ist totaler Schwachsinn. Der Herr Spitzer will wohl sein Buch besser verkaufen.―8)
Spitzers früherer Vorgesetzter Prof. Hans-Joachim Teichler gab sich redliche Mühe nicht in die Gruppe der „Abgehängten― zu geraten. Er nahm sich der Aufgabe an, nachzuweisen, daß in der DDR nie mehr Menschen Sport trieben als heute im Osten der BRD. Sein Verfahren funktionierte simpel: Er ordnete alle DDR-Mitgliedszahlen nach aus seiner Sicht freiwillig Sport treibenden und den zum Sport Getriebenen und konstatierte: „Wenn man bei all diesen Gruppierungen eine normale, auf Freiwilligkeit beruhende Mitgliedsquote von hochgeschätzt ca. 30 % annimmt, die restlichen 70 % aber aus der Statistik herausrechnet, muss man insgesamt ca. 1.200.000 DTSB-Mitglieder weniger ansetzen, die freiwillig organisiert waren. Wenn dann zusätzlich noch die der jährlichen Planerfüllung geschuldeten ‚Karteileichen‘ abgerechnet werden, ergibt
sich ein... Bestand von nur noch 1,8 Millionen organisierter Mitglieder im DTSB.― Da diese Zahl die BRD aber immer noch nicht vorne sah, griff er zum letzten Mittel: „Rechnet man die... Ost-Angler... heraus,... ergibt sich...―9) Es lebe Brecht!
Manchmal geht es aber auch nur ums Geld. Das verriet Willi Ph. Knecht, von dem die „Sächsische Zeitung― an seinem 75. Geburtstag schrieb: „Im Kalten Krieg zählte der sprachgewaltige Rias-Kommentator zu den Staatsfeinden der DDR.― Er deckte unlängst auf: „Nun wird also wohl in absehbarer Zeit dem staunenden Publikum doch noch ein neues Machwerk zum Endlosthema Doping im Sport der DDR unterbreitet. Als wissenschaftliche Studie über die Folgeschäden des DDR-Dopings, so Staatssekretärin Ute Vogt als engagierte Befürworterin des Vorhabens, erscheint das Werk namens der Berliner Humboldt-Universität. Die Kosten wurden als „Drittmittel― Zur Verfügung gestellt. Sie belaufen sich auf 108.000 Euro und stammen Eingeweihten zufolge aus dem Haushalt des Bundesministeriums des Innern. Als Projektleiter etablierte sich der Privatdozent Dr. Giselher Spitzer, dessen willkürliche Thesen von 10.000 Opfern des flächendeckenden DDR-Dopings sogar durch die Zahl von nur 306 Anträgen auf Zahlungen aus dem DDR-Dopingopfer-Hilfegesetz ad absurdum geführt wurde. Zur Betreuerin der Publikation wurde Birgit Boese berufen, zuletzt für den Dopingopfer-Hilfeverein in der Berliner Beratungsstelle tätig und vorher Inhaberin eines Konfektionsgeschäftes für Übergrößen. So darf denn nach dem wissenschaftlichen Selbstverständnis dieser Universitätsschrift gefragt werden. Dabei ist der Verweis auf die Vorgeschichte des Projekts aufschlussreich. Schon im Januar 2002 versuchte ein Autorentrio, darunter die erfahrenen Doping-Kombattanten Spitzer und Dr. Klaus Zöllig als Vorsitzender des Dopingopfer-Hilfevereins, eine „Biomedizinisch-epidemiologische Erhebung der Doping-Opfer-Problematik in der ehemaligen DDR― zu edieren, Aufgrund von Begutachtungen durch namhafte Wissenschaftler lehnte das Bundesinstitut für Sportwissenschaften die Finanzierung ab. Als nächster Herausgeber wurde mit einem Kostenvoranschlag von 181.000 Euro die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) auserkoren. Auch hier erfolgte eine Absage, nachdem zwei unabhängig voneinander formulierte wissenschaftliche Beurteilungen ein vernichtendes Urteil erbracht hatten: ‘Wie eine solch bedeutende Thematik mit so viel Wissenschaftsignoranz. Dilettantismus und Subjektivität bearbeitet werden kann, ist völlig unverständlich.‘
Zweifelhaft, ob die nunmehr im dritten Anlauf mit Hilfe des Bundesinnenministeriums erzwungene Veröffentlichung eine bessere Beurteilung verdient. Denn eher als seriöse Wissenschaftler aktiviert das Thema DDR-Doping offenbar die Abstauber von Steuergeldern.―
ANMERKUNGEN
1) www.ddr.im www.de/Aktuelles/Sonstiges
2) Neues Deutschland 10.2.1999
3) www.Super Illu /Sport/Magazin /09594
3) Spitzer, G.: In „Schriften der dvs―, Band 137. Hamburg 2003, S. 87
4) Spitzer, G. Fußball und Triathlon. Aachen 2004, S. 21
5) Ebenda
6) www. Super-illu/sport/magazin 09594/1
7) Ebenda
8) Ebenda
9) Teichler, H.-J.: Sportentwicklung in Ostdeutschland. dvs-Informationen 18 (2003) 2, S. 18
10) Sächsische Zeitung 20.2.2004
ZITATE
ARBEITERSPORT IN BERLIN 1913
„Die beiden großen Sportfeste am gestrigen Sonntag im Grunewald und in Weißensee, räumlich so weit getrennt, haben die Frage aktuell gemacht: Warum besteht ein besonderer Arbeitersport? Mußten die Arbeitersportler eine Gegendemonstration in Weißensee veranstalten, während doch der gesamte Sport im Grunewald erscheinen sollte?
Die bürgerlichen Sportler sagen: Der Sport ist neutral! Jede Politik ist ausgeschlossen. Welche Phrase! Ist es neutral, wenn die bürgerlichen Sport- und Turnzeitungen offen und versteckt die Sozialdemokratie bekämpfen, wenn die Arbeiterschaft ausdrücklich von der Benutzung des Stadions ausgeschlossen wird und die Spielplätze und Turnhallen entzogen werden?
Vollständige Neutralität ist Unsinn. Selbst Kunst und Wissenschaft werden immer mehr von den politischen Strömungen beeinflußt und da sollte der Sport neutral bleiben können? In dem Treiben des politischen Sturmes kann die wahre Neutralität so wenig gedeihen, als wenn wir die Palmenwälder des sonnigen Südens in unser rauhes Klima versetzen wollten.
Die beiden Feste am Sonntag haben in prächtiger Weise die Gegensätze deutlich markiert. Das ist der größte Erfolg des Tages. Im Westen traf sich der Jungdeutschlandbund, mit Extrazügen zu halben Preisen aus ganz Deutschland zusammengeholt. Alle Staatsbehörden waren vertreten, militärische Übungen leiteten das Fest ein und die Tribünen waren gefüllt von hohen Militärs und befrackten und mit allen möglichen Orden versehenen Vertretern der oberen Zehntausend. Und die Arbeiterschaft? Für sie war das Stadion gesperrt.
Der Arbeitersport hat das Hauptprinzip, alle Klassengenossen so an Körper und Geist zu kräftigen, daß sie nicht frühzeitig im Kampf ums Dasein untergehen, sondern immer neugestärkt wie der Phönix aus der Asche wieder den Kampf aufnehmen können. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper! Das ist das Leitmotiv der Arbeitersportverbände.
Aber dieses Ziel soll nicht dadurch erreicht werden, daß die große Masse des Volkes sich willenlos an den Trott der Reaktion hält, sondern jeder soll frei und offen seiner politischen Überzeugung folgen dürfen. Dadurch unterscheidet sich der Arbeitersport von dem Hurrasport der bürgerlichen Sportverbände!―
Vorwärts 9.6.1913
SEELENBINDERS MÖRDER LEBTEN IN DER BRD UNBESCHWERT
Am 2. August 2004 jährte sich Werner Seelenbinders Geburtstag zum 100. Male. In der DDR trugen zahlreiche Straßen, Plätze, Schulen und Sportanlagen seinen Namen – viele von ihnen sind heute umbenannt. Aber das passierte schließlich nicht nur Seelenbinder. Der zweite Mord an diesen Helden hat hierzulande, in dieser sich demokratisch nennenden Gesellschaft, Methode.
Auch den „Werner-Seelenbinder-Turm― des Leipziger Zentralstadions gibt es nicht mehr. Der in Stein gehauene Namenszug des Olympioniken und Kommunisten über dem Turmportal kam im Zuge des Stadionumbaus sozusagen abhanden. Der Turm heißt nur noch Glockenturm.
Außerdem weiß die Leiterin des Berliner Sportmuseums, dass Seelenbinders Rolle im Widerstand von der DDR überbewertet wurde. Klar, deshalb wurde er auch nur hingerichtet. Während die Schreibtischmörder, sein Ankläger und sein Richter, in der BRD ihre Karriere unbeschwert fortsetzen konnten. Staatsanwalt Paul Picke, der mindestens zehn Menschen unters Fallbeil brachte, wurde schließlich Senatspräsident des Oberlandesgerichtes Saarbrücken. Aus dem Richter Wolfgang Münstermann, der mindestens 18 Menschen in den Tod schickte, wurde ein angesehener Rechtsanwalt in Celle.
Leipzigs Neue 6.8.2004
Die letzte Meile wurde getanzt
Es ist nicht so, dass die Meilenbewegung in Vergessenheit geraten ist. Im Eulenspiegel-Taschenkalender 2004... ist sie unter dem 20. April vermerkt: „Vor 30 Jahren Auftakt zur Sportinitiative Eile mit Meile―. ...Dabei sollte es gleich um mehrere Ausdauersportarten gehen, um möglichst viele, wenig aktive Leute anzusprechen. So wurde die Meile im Laufen analog der Jahreszahl 1974 m lang und – nach Konsultationen mit Sportwissenschaftlern wie Prof. Dr. Dr. Israel – im Schwimmen auf 400 m, im Radwandern auf 8.000 m, im Wandern (zu Fuß oder per Boot) auf 4.000 m festgelegt. Möglichst viele Meilen sollten absolviert und konnten auch kombiniert werden. Lange wurde um einen zugkräftigen Slogan gerungen, den schließlich der Erfurter Sportchef der Thüringer Zeitung „Das Volk―, Helmut Wengel, fand: Statt „Eile mit Weile― – „Eile mit Meile―. Vielleicht einmalig: Sämtliche Sportredaktionen der Medien – gleich ob
Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk oder Fernsehen – schlossen sich der Aktion an, veröffentlichten die „Meilen-Pässe― und warben mit viel Einfallsreichtum. ...Die Aktion schlug ein, die Resonanz war überwältigend. Die Redaktionen sammelten die eingehenden Meilenpässe und leiteten sie an die Initiativgruppe weiter. Diese musste in Berlin eine freistehende Wohnung mieten, um mit diesen Pässen schließlich 48 Säcke zu füllen. Zwei Räume benötigte das Komitee allein für Preise, die von Betrieben und Institutionen für die Abschlusstombola gestiftet wurden, mehr als 1000 insgesamt: vom Wochenendhaus bis zum Hörnerschlitten. Die Abschlussbilanz dieser Gemeinschaftsaktion war ebenfalls rekordverdächtig: 27.796.094 Meilen konnten registriert werden.
Die letzte Meile des Jahres 1974 jedoch wurde in Berlin-Lichtenberg getanzt. Dazu waren die rührigsten Organisatoren und Helfer eingeladen worden. Auf der mit allen Meilensäcken dekorierten Bühne des Wohnungsbau-Klubhauses wurden die Hauptgewinner gezogen. U.a. ein Fahrzeug, das Karl-Heinz Emmrich aus Bad Düben gewann und ab sofort nur noch „Meilen-Mofa― hieß. Durch „Eile mit Meile― initiiert, wurde in Bad Düben der heute noch beliebte Heidelauf ins Leben gerufen und sogar eine Straße nach der Meile benannt – der „Meilenweg―, in der Nähe des Startbereichs der neuen Laufstrecke.
Ohne Zweifel gab jene Aktion vor 30 Jahren dem DDR-Volkssport viele Laufimpulse. 1975 wurde ein Meilenkomitee mit ihrem Präsidenten Christoph Höhne, Olympiasieger über 50 km Gehen, gegründet, Meilenabzeichen und Trikots (für 100 bis 1000 Meilen) waren bald begehrt. Und vor allem: immer mehr Laufveranstaltungen, von der Meile bis zum Marathon, entwickelten sich. Der „Meilentreff― erwies sich als der Lauftreff des Ostens. Übrigens förderten DDR-Sportjournalisten auch die Laufbewegung maßgeblich mit, was die Geschichte des Rennsteiglaufs verdeutlicht.
Klaus Weidt
LaufZeit 14 (2004) 7/8
Sportwissenschaft an der Martin-Luther-Universität
Ende Mai wurde bekannt, dass das Rektorat der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Rahmen von Strukturentwicklungen beabsichtigt, das Institut für Sportwissenschaft zu schließen. In einer Erklärung des Rektorats wurde ausgeführt: „In der Konkurrenz zu Leipzig und vor dem Hintergrund der starken Lehramtsnachfrage kann eine nicht lehramtsbezogene Sportwissenschaft an der MLU kaum nennenswert profiliert werden. Als Konsequenz erfolgt die Schließung des Instituts und die Konzentration allein auf die Lehramtsstudiengänge und die Schließung aller weiteren Studienangebote (Diplom, MA); die derzeit
unbesetzte Professur entfällt, eine weitere Professur wird kw gesetzt. In den Diplom- und Magisterstudiengängen wird die Immatrikulation zum WS 04/05 eingestellt. Auf Grund der besonderen gesamtuniversitären Bedeutung des Sports geht der Einstellung der grundständigen sportwissenschaftlichen Studiengänge ein Ausbau des allgemeinen Hochschulsports parallel, um ein attraktives, studienbegleitendes Angebot für die Studierenden aller Fachrichtungen bereit zu halten.―
Diesen Plänen sind die Studierenden und Lehrenden des Instituts mit großem Engagement entgegen getreten. Auch der Präsident der dvs hat sich in einem Schreiben an die Universitätsleitung für den Erhalt der Sportwissenschaft in Halle ausgesprochen. ...Ein ähnliches Schreiben wurde... an den Wissenschaftsminister des Landes Sachsen-Anhalt gerichtet.
Auf der Sitzung des Akademischen Senats der Martin-Luther-Universität am 16. Juni 2004 wurde dann ein vom Rektorat überarbeitetes Strukturkonzept vorgestellt, in dem die geplante Einstellung der sportwissenschaftlichen Studiengänge keine Rolle mehr spielten. Vielmehr bleibt das Institut für Sportwissenschaft erhalten und soll in ein Institut für Sport- und Ernährungswissenschaft überführt werden. Zwar muss das Institut eine weitere Reduzierung der Mitarbeiterstellen von 16,5 auf 12,5 Stellen hinnehmen, kann aber seine drei Professuren behalten. Neben den Lehramtsstudiengängen soll in Halle zum WS 2004/2005 in einem grundständigen Bachelor-Studiengang immatrikuliert werden. Darauf aufbauend wird es zwei Master-Programme geben: eines mit dem Schwerpunkt „Rehabilitation und Sporttherapie―, ein zweites mit dem Schwerpunkt „Prävention― bzw. „Sport und Ernährung―. Gleichzeitig werden die Diplomstudiengänge eingestellt. Der Magister-Studiengang wird nach Magdeburg abgegeben.
dvs-Informationen 19 (2004) 2
Goldene Sportpyramide geht erstmals in den Osten
In Umkehr früherer Feindbilder erfuhr nun in diesem Jahr einer der populärsten Repräsentanten des DDR-Sports eine der höchsten Ehrbezeugungen der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Seit 2000 verleiht sie alljährlich die Goldene Sportpyramide, eine Auszeichnung, die als >Life-time-award< die Lebensleistungen überragender Sportlerinnen und Sportler würdigt. Bisherige Preisträger waren Hans Günter Winkler, Rosi Mittermaier-Neureuther, Uwe Seeler und Manfred Germar. Jetzt fiel die Wahl des Stiftungsrates unter Vorsitz des Mercedes-Chefs Jürgen Hubbert erstmals auf einen Sportler, der seine Triumphe nicht in einer Mannschaft der Bundesrepublik, sondern auf Seiten der DDR errang: Roland Matthes, der erfolgreichste Schwimmer aller Zeiten, der bei drei olympischen Spielen vier Gold- und je zwei Silber- und Bronzemedaillen
gewann; dazu errang er noch drei Weltmeistertitel und markierte 19 Weltrekorde...
Im Unterschied zu den legendären Johnny Weissmüller und Mark Spitz war Roland Matthes einer der ganz wenigen Schwimmer, die ihre olympischen Medaillen bei drei verschiedenen Spielen errangen. Pat Besford, international renommierte britische Schwimmexpertin, beschrieb den Seriensieger aus dem Trabbi-Land als >Rolls Royce of Swimming<. 1967 bis 1971, 1973 und 1975 avancierte er bei jeweils zwischen 1,5 und zwei Millionen Wahlteilnehmern insgesamt sieben Mal zum >DDR-Sportler des Jahres<. Nur Gustav >Täve< Schur übertraf mit neun ersten Plätzen von 1953 bis 1961 diese Popularitätsmarke... Für den Stiftungsrat als entscheidende Jury für die Vergabe der Goldenen Sportpyramide kamen noch zwei Aspekte hinzu. Die Ehrung widersprach der auch im 15. Jahr nach der Wiedervereinigung mancherorts noch gängigen Unart, den DDR-Sport und dessen Repräsentanten vorwiegend im scharfzüngigen Kontext zu Stasi und Doping zu werten – oftmals in pauschalisierender Nachrede ohne individuelle Beurteilung von Sachverhalten. Zudem sollte der Festakt ganz aktuell vor dem Hintergrund der öffentlichen Diskussion über Erfolg und Misserfolg des Aufbaus Ost daran erinnern, dass 1990 zeitgleich mit dem Beitritt des Nationalen Olympischen Komitees der DDR zum Nationalen Olympischen Komitee der Bundesrepublik Deutschland die Kader des vormaligen DDR-Leistungssports unverzüglich in die Fördermaßnahmen der Sporthilfe einbezogen wurden. Diese Soforthilfe, von dem Einen oder Anderen vielleicht schon vergessen, bildete eine mitentscheidende Voraussetzung für den grandiosen Triumph der ersten gesamtdeutschen Mannschaft nach der Wende bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona...
Willi Ph. Knecht
Deutschland Archiv 37 (2004) 4
Zum „Wunder“ wurde das so genannte „Wunder von Bern“ erst nach der Wende
Das „Wunder―, das doch nur neun Jahre nach dem alliierten Sieg über Nazideutschland ein kollektives „Wir sind wieder wer― ausgelöst haben sollte, ließ sich... im damaligen Bewusstsein nicht leicht nachweisen. 1954 wurde zwar im Stadion „Deutschland über alles― gesungen, da gab es eine triumphale Heimkehr der „Helden―..., da gab es Bücher von Fritz Walter und Sepp Herberger. Aber dennoch wurde die kollektive Identität der Westdeutschen eher durch andere historische Umstände geprägt: Durch den Kalten Krieg und die Konkurrenz zur benachbarten DDR.
Die zwei Irritationen scheinen zusammenzugehören: Dass das Ereignis subjektiv so weit weg liegt und dass es erst im Verlaufe der Jahrzehnte die Bedeutung erhalten hat, die es heute besitzt. Während 1954 weder
der Bundespräsident Heuss, noch Kanzler Adenauer, noch ein Minister im Wankdorf-Stadion saßen, so lässt heute Bundeskanzler Schröder zu allen denkbaren Gelegenheiten verlauten, dass er bei der Premiere des Films von Sönke Wortmann drei Mal geweint habe.
Die Klammer zwischen den zwei irritierenden Momenten lautet also: Wenn erst heute, beziehungsweise frühestens seit 1994 ein nationaler Gründungsmythos der westdeutschen Republik beschworen wird, dann wird auch erst heute einer gebraucht. Einen Gründungsmythos einer neuen Bundesrepublik, die sich 1990 gegründet habe, gibt es ja schon deswegen nicht, weil es diese neue Republik nicht gibt. Der Osten trat dem Westen bei; zu den Bedingungen des Westens und in die Geschichte des Westens. Ostdeutscher Fußball ist für westliche Wahrnehmung bloß das Sparwasser-Tor; dass es einen Europapokalsieg gab, einen Olympiasieg, eine Liga und einen Pokalwettbewerb mit ähnlich spannenden Geschichten wie in Westdeutschland, wird nicht gesehen.
Es gibt nicht viele Geschehnisse, die über die enge westdeutsche Gesellschaft der Adenauer-Ära hinaus als Identifikationsangebot für alle – West- und Ostdeutsche gleichermaßen – fungieren können; eigentlich gibt es keines; ... Wenn wir vom „Wunder von Bern― sprechen meinen wir schon lange nicht mehr das historische Ereignis, sondern schon längst den Mythos. Und der ist nicht von den historischen Fakten gedeckt. ... Geschichte wird gemacht, und der Kanzler hat geweint.
Martin Krauß
Freitag. 2.7.2004
REZENSIONEN
Athen 2004. Unser Olympiabuch
Von KRISTIN OTTO und HEINZ FLORIAN OERTEL (Hrsg.)
Schon 5 Tage nach den Olympischen Spielen sollte „Athen 2004. Unser Olympiabuch― vorliegen. Am 10. des Monats hielten wir es dann in den Händen. Vorab angekündigt mit dem Slogan „Nur die Götter sind schneller―, schien der „Gott der Frechheit― (Sten Nadolny) doch irgendwelche Verzögerungen bewirkt zu haben. Aber das und andere Peinlichkeiten sind schließlich nebensächlich bei dem Versuch, die Götter schlagen zu wollen, wenn das Ergebnis unbestritten olympisches Medaillen-Format hat.
Das Geleitwort vom Vizepräsidenten des IOC, Dr. Thomas Bach, schließt mit „Danke Hellas!― Denn: „Athen erlebte ein friedliches Fest, womit die olympische Idee einmal mehr ihre Kraft bewies. Nach wie vor sind die Spiele das einzige Ereignis, bei dem sich die gesamte Welt versammelt.
Alle 202 Olympischen Komitees hatten Athleten entsandt – eine Botschaft der Verständigung.― Die Herausgeber sehen vor allem diese und viele andere Gründe, dankbar zu sein. Sie erinnern aber zugleich auch an das Grundübel: „Geld ist das Hauptdopingmittel.― (S. 25)
Selbstverständlich werden die Medaillengewinner der deutschen Mannschaft vorgestellt und anschließend in einem olympischen Tagebuch Außergewöhnliches und Besonderes, Freude und Schmerz der Tage in Athen höchst sachlich registriert, zum Beispiel die ersten Olympiasiege in der Geschichte der Spiele seit 1896 für die Vereinigten Arabischen Emirate und für Thailand, daß der deutsche Einfluß im IOC schwindet oder durch das Heer von 41.000 Polizisten und Soldaten insgesamt 5800 Funktionäre und VIPs, 10.500 Athleten, 6700 Betreuer, 21.600 Medienvertreter und 35.000 Sponsoren zu schützen waren.
Mit der Leichtathletik wird der Überblick über alle 28 Sportarten bei Olympia 2004 eröffnet, der durch die Statistik und wichtige Fakten und Zahlen ergänzt wird. Natürlich fehlt auch nicht ein Kapitel „Olympia und die Medien― sowie eine „Fernsehkritik―. Wissenswertes vermitteln Kapitel wie „Die olympische Bewegung―, „Neue Theorien zur Antike― oder „Paralympics: Marianne Buggenhagen― zu den Wettkämpfen der Behinderten in 19 Sportarten. Das Besondere dieses Olympiabuches sind zweifellos die fachlich versierten und zum Teil bestechenden Analysen und Einschätzungen der insgesamt 31 renommierten Autorinnen und Autoren, die sich wohltuend von so manchem der oberflächlichen, realitätsfernen und sachlich-fachlich oft kaum begründeten Urteile der Olympia-Berichterstattung unterscheiden. Das gilt zum Beispiel für Roland Matthes, wenn er ausgehend von den Ergebnissen der deutschen Schwimmerinnen und Schwimmer feststellt: „Ganz eindeutig sind Fehler in der richtigen Terminisierung des Trainings gemacht worden. So wie schon in Vorbereitung auf Sydney zuvor.― (S. 77) Und wenn er dieses Urteil begründet und Ursachen nennt. Willi Ph. Knecht analysiert die Ergebnisse dieses besonderen Jahres, sowohl die Bewerbung Leipzigs um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012 als auch die Leistungen der deutschen Olympiamannschaft 2004 und schätzt ein: „In fataler Selbstüberschätzung war vorher vom Bereich Leistungssport des Deutschen Sportbundes Platz drei der Länderwertung prognostiziert worden. Doch statt des Aufschwungs setzte Athen einen vorläufigen Schlußpunkt hinter ein deutsches Sportjahr der Traurigkeit.― (S. 96) Oder – um ein letztes Beispiel zu nennen – bestechend im einzelnen, die Einschätzung der deutschen Segler bei Olympia von Jochen Schümann, und auch im besonderen, von Volker Kluge zum 16. Tag der Spiele als es Birgit Fischer gelungen war, erneut eine Goldmedaille zu erringen: „Birgit Fischer ist nicht nur das Flaggschiff der Nation, sie verkörpert auch mit Steffi Nerius, Nadine Kleinert, Jens
Fiedler, Andreas Dittmer, Franziska van Almsick, Jan Ullrich, Kathrin Boron, Lars Riedel, Katrin Rutschow-Stomporowski und anderen die letzte Generation, die aus dem DDR-Sport hervorgegangen ist. Wie hat man ihn geschmäht! Doch von seinen Schokoladenseiten läßt sich noch immer gut leben.― (S. 41)
Alles in allem: Wer eigenes Erleben am Ort oder vor dem Fernseher, eigene Ansichten mit denen Anderer, mit sehr fachkundigen und wohltuend sachlichen Analysen, Kommentaren und Schilderungen vergleichen möchte, der wird fündig. Die Texte regen zum Nachdenken und zum Meinungsstreit an, manches, zum Beispiel Frauenfußball, ist ein wenig zu kurz gekommen. Sehr schöne Sportbilder und eine Bildauswahl, die die Faszination Olympischer Spiele unter den von Athen geschaffenen und nur dort möglichen Bedingungen, sowohl an die Antike wie auch an die mehr als einhundertjährige Geschichte der Spiele in der Neuzeit zu erinnern, widerspiegeln, stehen diesem Olympiabuch gut zu Gesicht.
Rainer Rau
Kristin Otto/Heinz Florian Oertel (Hrsg.): Athen 2004. Unser Olympiabuch. Das Neue Berlin 2004, 19,90 €
Athen. Das Olympia-Buch 2004
Von RUDI CERNE (Hrsg.)
Dieses Olympiabuch besticht zunächst durch die Fülle und das Feuerwerk der Farbabbildungen (insgesamt 1250 Abbildungen, Bildredaktion: Eberhard Thonfeld), vor allem durch Bilder des Glücks und der Freude – der überschäumenden oder auch der stillen, zurückhaltenden – im Moment des Sieges bei Olympia, auch Bilder der Bitterkeit und Enttäuschung, und durch Bilder – aber schon deutlich weniger – der sportlichen Aktion mit der ihr immanenten Dynamik, Spannung, Dramatik.
Und dieses Buch besticht durch seine informativen Statistiken und Übersichten, durch die Fülle der Fakten auf engem Raum. Es stellt zum Beispiel die Schauplätze der Olympischen Spiele 2004 vor, in Wort und Bild alle für die deutsche Mannschaft nominierten Athletinnen und Athleten (Namen, Geburtstag und Geburtsort, Beruf, Verein, Sportclub oder Team, Sportart oder Disziplin und die in Athen erreichten Ergebnisse), nennt alle Fahnenträger der 202 Olympiamannschaften, die zur Eröffnungsfeier die Fahne ihres Staates in das Stadion trugen, und schließt mit einer Ergebnisübersicht ab, die jeweils durch das Porträt der Sieger komplettiert wird. Der Chronistenpflicht wird auf exzellente Weise, in Wort und Bild, nachgekommen. Die Autoren, Rudi Cerne, Jürgen Bitter und Klaus Weise, schildern versiert und sachlich die 301 Entscheidungen
und das Geschehen rund um die Wettkämpfe, ergänzt durch wichtige Fakten und Zahlen. Das abschließende Tagebuch von Rudi Cerne mit Einblicken in seine Arbeit und die Arbeitsabläufe von Sportübertragungen durch das Medium Fernsehen gehören mit zu den Besonderheiten dieses Olympiabuches, die es von anderen abheben.
Alles in allem: Solide, faktenreich und faszinierend. Wer sich von Olympia, dem Geschehen in all seinen Farben und den großen Emotionen, die freigesetzt werden, anstecken lassen und wer sich informieren und nachschlagen möchte, der wird fündig. Wer allerdings Analysen und erste analytisch gestützte Standpunkte erwartet, wird kaum zufriedengestellt werden können. Projekt und Konzept sahen das sicher auch nicht vor.
Rainer Rau
Rudi Cerne (Hrsg.): Athen. Das Olympiabuch 2004. Südwest-Verl.,
München 2004, 231 S. 16,95 €
100 Jahre Wintersport in Oberhof
Herausgegeben vom WSV OBERHOF 05
Eine 70-Seiten-Broschüre, bei der man schon auf den ersten Seiten ins Staunen gerät: Prominenten-Vorworte vom Thüringer Ministerpräsidenten bis zum Bürgermeister. Dazu sorgsam ausgesuchte sehenswerte Bilder, solide Texte, die auf billige Fremdenverkehrswerbung verzichten, und dazu noch Statistiken, die allein den Erwerb rechtfertigen. Daß es zwischen all dem an Werbeanzeigen wimmelt, stört angesichts der Qualität nicht, zumal man dort, wo man den Preis sucht, nur zwei Euro Spendenpreis erwartet werden. Nachauflagen scheinen programmiert.
Der Reihe nach: Die Vorworte rühmen vor allem die Anfänge, der Vereinsgründer, Badearzt Dr. Weidhaas, taucht wieder und wieder auf, um den Aufschwung während der 40 Jahre DDR werden von den meisten elegante Slalomkurven geschwungen.
Bei den Bildern haben sich die Herausgeber wirklich viel Mühe gegeben. Der kühne Sprung des legendären Carl Böhm-Hennes über einen Misthaufen im Jahre 1910 ist Skigeschichte pur, der Kronprinz am Steuer eines Fünferbobs gehört ebenso zur Historie wie der unvergessene Bobby Griebel. Die weltbeste Kunstlauftrainerin Jutta Müller, 1950 noch selbst auf Kufen, und die Premiere der Mattenspringer 1954 bilden die Überleitung zu jener Periode, in der der Name Oberhof durch seine Repräsentanten im Wintersport weltweit zum Begriff wurde: Der erste Langlauf-Weltmeister Gerhard Grimmer, Biathlon-Olympiasieger Frank Ullrich, die Weltmeister-Staffel 1982, das Gold-Bob-Duo Nehmer/Ger-meshausen, die Rennschlittenstars – die Liste würde zu lang. Sie reicht bis in die Gegenwart, wo Oberhofer AthletInnen in Salt Lake City
Olympiagold holten und Oberhof Gastgeber der Biathlon-Weltmeisterschaft war. Wer alles ganz genau wissen will, kann sich auf den Statistik-Seiten ins Bild setzen lassen, wo ebenfalls akribische Ordnung demonstriert wird. Als „Textzuarbeiter― – zu deutsch: Autoren – werden Jan Knapp, Rolf Hackel, Harro Esmarch und Wolfgang Lerch genannt. Man findet ihre Namen nur im Rückseiten-Impressum, sie hätten es verdient, in der Nähe der Vorworte genannt zu werden. Und sollte der WSV Oberhof nicht unter jenen Sparzwängen leiden, die das Land derzeit plagen, könnte man ihm raten, sich einen Verlag zu suchen und ein handfestes Buch herauszubringen. Es würde garantiert seine Leser finden und sogar noch Gewinn erwirtschaften können. Vor allem in der von vielen bewunderten Oberhofer Wintersportausstellung.
Klaus Huhn
50 Jahre Lok-Turniere Tennis
Von EBERHARD GESKE
Zwei Jahre nach Gründung der Sportvereinigung (SV) Lokomotive in der DDR wurde 1952 in Leipzig durch die Zentrale Fachkommission Tennis der SV Lokomotive das erste Lok-Turnier im Tennis organisiert. 2002 fand das 50. der beliebten Lok-Turniere in Elsterwerda statt. Zunächst waren diese Turniere offene Veranstaltungen, dann Bestenermittlungen der SV Lokomotive und schließlich Einladungsturniere. In unzähligen Städten, ob in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg oder an der Ostseeküste, zum Beispiel in Eisenach, Schleusingen, Tabarz, Dresden, Blankenburg, Halberstadt, Halle, Frankfurt/Oder, Greifswald, Stralsund, Kühlungsborn, Ahlbeck, Binz, Sellin waren die Lok-Turniere zu Gast.
Von der breiten Palette der Tennis-Turniere und -Meisterschaften – insgesamt wurden 155 Lok-Turniere und 205 Tennisveranstaltungen für Kinder, Jugendliche, Damen und Herren, Ehepaare, Tennisfunktionäre und Senioren durchgeführt – haben bis heute das Lok-Ehepaarturnier und die Lok-Seniorenturniere überlebt, obwohl – keineswegs freiwillig – so mancher nicht mehr einem Sportverein der Eisenbahner angehört.
Anliegen der Dokumentation zur Geschichte des Tennissports in der Sportvereinigung Lokomotive in der DDR und den Sportvereinen der Eisenbahner im Osten Deutschlands ist es, die Erinnerungen an die Vielfalt des Turniergeschehens in der SV Lokomotive und die Traditionen der Eisenbahner im Tennissport zu bewahren. Nicht der Sieg war bei den Lok-Turnieren und -Meisterschaften entscheidend, obwohl auch darum gekämpft wurde, sondern schon die Teilnahme im Sinne des olympischen Prinzips zählte für jeden. In der Lok-Gemeinschaft aktiv sein, das war das Entscheidende. Und so ist es auch bis heute geblieben.
Mit mehr als 1000 Dokumenten, mit den Turnier-Ergebnissen und vielen Erinnerungen wurden auf 416 Seiten 50 Jahre Tennisgeschichte der Betriebssportgemeinschaften (BSG) Lokomotive und der Lok-Vereine geschrieben. Auch die politischen Entwicklungen und Veränderungen wurden nicht ausgespart, da sie – ob die Sportlerinnen und Sportler das wollten oder nicht – das sportliche Leben nicht nur beeinflußten, sondern mitunter auch gravierend veränderten. Das galt und gilt für das gesamte politische Geschehen. Auch für die 1989 vollzogene politische Wende mit ihren in vielerlei Hinsicht fragwürdigen Auswirkungen für den Eisenbahnersport und die nun auch im Osten geltende Regel: „Geld regiert die Welt― und damit auch den Sport. Denn vielen Lok-Vereinen gehörten 1993/1994 durchschnittlich 30 Prozent Eisenbahner und in der Regel mehr als 50 Prozent Kinder und Jugendliche an, so daß die Vereine oft nicht die nun wieder geltende 50-Prozent-Hürde, das heißt mehr als 50 Prozent der Mitglieder eines Vereins müssen Eisenbahner sein, schafften und nun keine Eisenbahner-Vereine mehr sein durften.
Eberhard Geske, der Herausgeber und Autor dieser umfassenden Dokumentation, war weder irgendwie besonders exponiert im Sport noch hauptamtlicher Sportfunktionär in der Sportvereinigung Lokomotive. Er war aktiver Tennisspieler bei der BSG Lokomotive Schöneweide in Berlin und hat viele der Lok-Turniere als Turnierspieler miterlebt. Daher kennt er das einzigartige Fluidum dieser Turniere aus eigenem Erleben und weiß aus eigener Erfahrung und Sachkenntnis, welchen Stellenwert der Tennissport bei den Lok-Sportlerinnen und Lok-Sportlern hatte.
Nach der „Chronik des Eisenbahnersports der DDR―, der Festschrift „50 Jahre Lok Schöneweide― zur Geschichte einer Betriebssportgemeinschaft Lokomotive, heute Eisenbahnersportverein, liegt mit „50 Jahre Lok-Turniere Tennis― nun ein umfassender Überblick über die Entwicklung einer Sportart in der SV Lokomotive vor, von der Gründung der SV am 6. Juni 1950 in der DDR bis zum 3. Oktober 1990 und über die grundsätzlichen Veränderungen bis zum 50. Jahr der Lok-Turniere Tennis 2002. Dokumentiert werden: Beschlüsse, Berichte über ihre Verwirklichung, Finanzpläne der Zentralen Fachkommission Tennis oder von Turnieren, Ausschreibungen und die vielfältigen Tennisturniere, die Namen der Aktiven, ob Spieler, Trainer oder Kampfrichter und Funktionäre, jeweils alle Spielergebnisse, natürlich Impressionen und Wertungen. Selbstverständlich wurden auch Zeugnisse der Vorbereitung und die Turnierergebnisse der Eisbahnerauswahl Tennis der DDR bei den USIC-Meisterschaften, den Meisterschaften der internationalen Eisenbahnervereinigung, ob 1959 in Prag (CSR), 1965 in Bandol (Frankreich), 1968 in Szczecin (Polen) oder 1971 in Brüssel (Belgien), in die nun vorliegende Dokumentation aufgenommen, weil diesen Mannschaften jeweils die besten Spieler der Lok-Turniere angehörten.
Deshalb erweist sich diese Dokumentation als eine Fundgrube für jeden, der dabei war, und als beispielgebend für alle, die das Erreichte in ihrer Sportart dokumentieren wollen.
Kurt Zach
Eberhard Geske (Hrsg.): 50 Jahre Lok-Turniere Tennis der
SV Lokomotive / des VDES. Berlin 2003
Schriftenreihe des Brauchitsch-Vereins
Der „Sporthistorische Verein ‘Manfred von Brauchitsch‘ e.V.― in Schleiz hat das erste Heft seiner Schriftenreihe vorgelegt. Die bildreiche 76-Seiten-Broschüre präsentiert auf einem guten Drittel Reden, die auf dem 1. Vereinssymposium am 15. August 2003 in Gräfenwarth gehalten wurden, dazu Berichte von der Trauerfeier für Manfred von Brauchitsch. So boten die Umstände den Herausgebern keine allzu große Chance, ihr Anliegen außer in Dokumenten darzulegen. Immerhin läßt die Broschüre ahnen, wie der Verein seine künftige Arbeit in Angriff zu nehmen gedenkt.
Kern des Heftes sind Ausführungen Günter Erbachs „Manfred von Brauchitsch (1905-2003) und seine Lebensstationen― auf dem Symposium. Sie präsentieren vornehmlich Bekanntes, erwähnen aber auch zahlreiche Lebensstationen, die der weiteren Erforschung bedürfen. Erbach skizzierte als anstehende Aufgaben: „Daher sind wir gut beraten, wenn wir von den Tatsachen ausgehen und Stück für Stück des Mosaiks unseres Wissens über die Lebensleistungen zusammentragen, damit daraus ein komplexes Ganzes wird.― Man wünscht dem Verein viel Erfolg.
Klaus Huhn
Schriftenreihe des Sporthistorischen Vereins Manfred von Brauchitsch. Heft 1, Schleiz 2004
Max Schmeling
Von VOLKER KLUGE
Wer den fragwürdigen Brief Volker Kluges an Horst Forchel in der letzten Ausgabe der „Beiträge...― gelesen hat, wird verstehen, dass jeder, der sich fortan mit einer Kluge-Publikation befaßt, Schimpfkanonaden riskiert. Daß ich es dennoch wage, meine Meinung über sein Schmeling-Buch zu äußern, ist dem Umstand zuzuschreiben, daß ich Auseinandersetzungen wie die erwähnte für unangebracht halte.
Zunächst: Ein Schmeling-Buch mehr. Neue Sichten? Wer darauf hofft, wird enttäuscht sein. Unbestritten ist dieses Potpourri aller bisherigen
Veröffentlichungen aber eine bewundernswerte Fleißarbeit. Wer alles über Schmeling erfahren will, erfährt sehr vieles.
Der renommierte Aufbau-Verlag – durch die Veröffentlichung der Effenberg-Memoiren in der Sportrangliste einige Plätze einbüßend – verweist im Klappentext auf Kluges olympische Verdienste. Das irritiert, denn Schmelings Bindungen zu Olympia waren dürftig, wenn nicht gar dubios, seitdem er in Hitlers persönlichem Auftrag für die Spiele 1936 geworben hatte. Das ignoriert Kluge nicht, verzichtet aber auf eine Wertung seiner damaligen Haltung.
Nach 1945 gab es verständlicherweise umfängliche Diskussionen über Schmelings Haltung zum Faschismus. Daß der Autor die nicht analysiert, ist kein Gewinn. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, daß Kluge eine Intimfeindschaft zu Klaus Huhn hegt und pflegt, doch war er wohl nicht klug beraten, als er die von Huhn damals veröffentlichten Beiträge in einer Zwischenzeile als „Schläge unter der Gürtellinie― einordnete und die Frage stellte: „War er (Schmeling) nicht schon genug bestraft? Ein Großteil seines Vermögens war verloren. Seine Wertpapiere waren Makulatur...― Auch die Überschrift im „Triumphzug durch die DDR― ist irreführend, denn der begann bei Kluge schon vor der DDR-Gründung am 31. Juli 1949 in Magdeburg, wo Schmeling als Ringrichter fungierte.
Mit einem Wort: Ein weiteres Schmeling-Buch, viel mehr nicht. Mit den letzten 19 Worten wird formuliert, was damit bewiesen werden sollte: „Für eine solche Jahrhundertkarriere kann es deshalb eigentlich nur ein gerechtes Urteil geben: ‘Max Schmeling, Deutschland – Sieger nach Punkten‗.― Die Frage nach dem Deutschland, für das Schmeling siegte, bleibt ebenso offen, wie die, gegen wen der Sieg wohl errungen wurde, denn Boxen ist bekanntlich ein Zweikampf.
Sebastian Drost
Volker Kluge: Max Schmeling. Eine Biographie in 15 Runden.
Aufbau Verlag, Berlin 2004, 24,90 €
DEUTSCHLAND ARCHIV 3/2004
Das neuerdings vom Bertelsmann-Verlag im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene „Deutschland Archiv― verkündete im Editorial dieses Heftes: „In der wissenschaftlichen Forschung und in der politischen Auseinandersetzung spielt Sport meist nur eine marginale Rolle. Das Deutschland Archiv leistet mit dem vorliegenden Beitrag einen Versuch, dieses Defizit zu beheben.― In vielen Sportarten wird bei den Versuchen zwischen „gültig― und „ungültig― entschieden. Wer dieser Regel folgt, dürfte zur roten Flagge – Signal für ungültige Versuche – greifen. Abgesehen von dem exzellenten Olympia-Leipzig-Kommentar von Willi Ph. Knecht finden sich nur „Reprisen― von Arbeiten, die seit Jahren in
regelmäßigen Abständen wiederholt – dadurch aber kaum besser – werden. Ob Frank Ketterer in der Rubrik „Zeitgeschehen― einen steinalten Dopingfall, dem bis heute eine ärztliche Bestätigung fehlt, ausführlich wiederholt oder Ronald Huster einmal mehr die Friedensfahrt mit dem Etikett eines „politischen Rennens― versieht, aber geflissentlich ignoriert, daß die BRD wie kaum ein anderes europäisches Radsportland aus eindeutig politischen Gründen am Start des Rennens zumeist fehlte. Als die 20. Fahrt gestartet wurde, konnten die Franzosen auf 20 Starts verweisen, die BRD auf drei! Das einfallslose Prinzip, alle nicht in die gestanzten Schablonen passenden Tatsachen wegzulassen, ist nicht neu, aber auch im Sport nicht sonderlich aussichtsreich. Vielleicht kann eine von dieser Bundeszentrale gesponserte Zeitschrift gar nicht anders vorgehen. Es fällt schwer, diesen Eindruck zu verdrängen.
Klaus Huhn
POST
Gedanken zu Werner Seelenbinder
Ihr Beitrag zu Werner Seelenbinder hat mich sehr bewegt, zumal ich zu den Arbeitersportlern gehörte, die nach dem Verbot der Faschisten im Trikot der Neuköllner Sportfreunde startete (und in der 3-mal-1000-m-Staffel sogar mit auf Platz 3 der deutschen Bestenliste lief). Unlängst besuchte ich eine interessante Ausstellung über die Geschichte des Neuköllner Sports, zu der auch ein exzellenter Katalog erschienen war. Exzellent mit der kleinen Einschränkung vielleicht, daß es zum heute von Tasmania dominierten Stadion heißt: „Dort erinnert noch heute ein etwas versteckt gelegener Gedenkstein an ihn―, was die Tatsache unterschlägt, daß es sich um sein Grab handelt. Auch die Formulierung, das Stadion „verlor den Namen― trifft nicht ganz. Blanker Antikommunismus führte zu der Entscheidung der Neuköllner Bezirksverwaltung, den Namen zu streichen. Es scheint mir nützlich, die Vergangenheit realistisch zu beschreiben.
Karl Tschackert
Berlin
Fragen nach einem Dopingopfer
Ich lese in vielen Nachrichten über angebliche DDR-Dopingopfer den Namen Birgit Böse, kann mich aber nicht erinnern, ihn früher unter Teilnehmern oder gar Siegern der DDR-Leichtathletik gelesen zu haben. Wer weiß Genaueres über Birgit Böse?
Bernd Kellermann
Halle/Saale
Wir wandten uns an Horst Gülle, der in der Leichtathletik lange für den Nachwuchs verantwortlich war und erhielten folgende Auskunft:
Birgit Böse, geborene Papst (Jahrgang 1961) hatte von 1974 bis 1977, also als Kind und Jugendliche, beim Berliner TSC in der Jugendwerfer-gruppe Kugelstoßen trainiert. Sie startete 1975 bei der Kinder- und Jugendspartakiade und gewann mit 12,68 m das Kugelstoßen in der Altersklasse 13. Im Jahr darauf erreichte sie 11,10 m und konnte sich damit nicht für die DDR-Mannschaft qualifizieren, die an den Jugend-wettkämpfen der Freundschaft in Zielona Gora (Polen) teilnahm. Ich nahm bis 1981 an allen internationalen Jugend-Wettkämpfen teil, Birgit Papst stand nie auf einer Startliste. 1977 wurde sie aus dem TSC Berlin wegen Verletzung, vor allem aber wegen charakterlicher Mängel ausdelegiert. Später heiratete sie und nahm den Namen Böse an.
Ich kann mit gutem Gewissen – und notfalls unter Eid – aussagen, daß keine unterstützenden Mittel an diese Athleten vergeben wurden. Wenn sie welche genommen haben sollte, müßte sie sich diese selbst beschafft haben. Sie trat das erste Mal beim Dopingopferprozeß gegen Ewald und Höppner als Nebenklägerin in Erscheinung, konnte aber im Verfahren an sie gestellte Fragen zu ihren Leistungen nicht beantworten. Wie man hörte versuchte sie sich als Inhaberin eines Übergrößenladens, scheiterte aber. Seitdem engagierte sie sich in dem Verein der angeblichen Doping-Opfer, und zwar mit mehr Erfolg: Sie wurde sogar zu einem Gespräch mit Bundespräsident Rau eingeladen, das jedoch hinterher von der Umgebung des Bundespräsidenten als ―fataler Irrtum‖ bezeichnet worden sein soll.
DDR-Trainer im Ausland
Man liest nicht selten die Namen von im Ausland tätigen ehemaligen DDR-Trainern. Hat jemand einen Überblick, wer wann wo tätig war?
Gisela Z.
Potsdam
Selbstverständlich hat niemand eine Statistik geführt, aber Helmut Horatschke, der sich viele Verdienste um statistische Analysen des DDR-Sports und des DDR-Sport-Erbes erwarb, stieß zwangsläufig immer wieder auf ihm bekannte Trainer und Trainerinnen in den Mannschaften oder Nationalmannschaften aus den unterschiedlichsten Ländern. In einem Begleitbrief wies er ausdrücklich darauf hin, daß diese Auflistung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und zahlreiche Trainer inzwischen heimgekehrt sind oder in Rente gingen. (Wer die Liste ergänzen kann und möchte, sollte es der Redaktion von ―BEITRÄGE zur Sportgeschichte‖ mitteilen.)
LEICHTATHLETIK: Heinz Kadow (Südkorea); Werner Trelenberg (Österreich); Wolfgang Meier (Frankreich); Ronald Weigel (Australien)
TURNEN: Dieter Hofmann (Schweiz); Maxi Gnauck (Südafrika); Ulf Hoffmann (Frankreich), Götz Glitscher (Schweiz, USA).
SCHWIMMEN: Wolfgang Richter (Spanien); Roger Pyttel, (Spanien); Rolf Gläser (Österreich); Andrea Eife (Luxemburg); Heike Friedrich (Japan).
RADSPORT: Wolfram Lindner (Schweiz)
RUDERN: Theo Körner (Italien/Australien); Jürgen Grobler (Großbritannien), Hans Eckstein (Österreich); Elmar Antony (Österreich); Heinz Weigel (Österreich), Harald Jährling (Australien); Stefan Mühlenberg (Australien); Jörg Landvoigt (Italien); Bernd Merbach (Italien); Eberhard Mund (Frankreich); Inge Mund (Frankreich); Jörg Weißig (Belgien); Herta Weißig (Belgien); Jutta Behrendt (Norwegen); Hartmut Buschbacher (USA).
FECHTEN: (?) Kahlisch (Schweiz)
FUSSBALL: Bernd Stange (Ukraine, Australien, Irak); Eduard Geyer (Ungarn).
HANDBALL: Paul Tiedemann (Österreich), Waldemar Pappusch (Österreich);
EISKUNSTLAUF: Uwe Kagelmann (Schweiz); Sonja Morgenstern (Italien)
SKI: Karl-Heinz Luck (Schweiz); Jochen Danneberg (Südkorea).
BIATHLON: Kurt Hinze (Italien?).
SCHLITTENSPORT: Walter Jentzsch (Italien); Klaus Bonsack (Österreich); Bernd Hahn (Schweden),
BOBSPORT: Horst Hörnlein (Großbritannien); Meinhard Nehmer (USA, Italien), Erich Enders (Italien); Bernd Möbius (Norwegen).
Prof. Dr. paed. habil. Eberhard Schramm 25. November 1927 – 17. April 2004
Im Alter von 76 Jahren ist der von Studierenden unterschiedlicher Generationen an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig geachtete Hochschullehrer und international anerkannte Sportwissenschaftler Prof. Dr. Eberhard Schramm nach schwerer Krankheit verstorben.
Seit frühester Jugend nahm Eberhard Schramm an Wettkämpfen teil und war ein erfolgreicher Wasserballtorwart. Seine Begeisterung für den Sport trug mit dazu bei, ein Studium an der 1950 gegründeten DHfK aufzunehmen, wo er zum ersten Jahrgang der an der Hochschule immatrikulierten Studenten gehörte, aus dem zahlreiche renommierte Wissenschaftler hervorgingen, die maßgeblich die Entwicklung der Sportwissenschaft in der DDR prägten.
Sein Interesse an der sportwissenschaftlichen Forschung aber auch sein Bestreben, erworbenes wie auch neu erkanntes Wissen in der Praxis anzuwenden, zeichnete sich bereits im Studium ab. Danach arbeitete er zunächst als Sportlehrer und Trainer, übernahm aber schon 1955 die
Leitung des Wissenschaftlichen Kabinetts beim 1954 gegründeten Sportclub (SC) DHfK und damit die wissenschaftliche Verantwortung für die Leistungsentwicklung verschiedener Sportarten im SC. Diese Tätigkeit sollte seine gesamte spätere Forschungsarbeit nachhaltig bestimmen, die sich durch wissenschaftliche Akribie und Disziplin im Einzelnen bei konsequenter Beachtung der Komplexität menschlicher Bewegungen und Leistungen und sachkundige Ableitungen für die angrenzenden Wissenschaftsgebiete und die Praxis auszeichnete. Insbesondere durch die enge Verbindung von Theorie und Praxis sowohl an der Forschungsstelle der DHfK, hier hatte er 1959 die Leitung einer Abteilung übernommen, als auch am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) erwarb Eberhard Schramm umfassende Kenntnisse und Fähigkeiten, die seine Lehrtätigkeit und die von Studenten oder den Kursteilnehmern an nationalen und internationalen Lehrgängen hoch eingeschätzte Qualität seiner Lehrveranstaltungen auszeichneten. 1969 promovierte Eberhard Schramm zum Dr. paed., übernahm im gleichen Jahr die Leitung der Sektion III an der DHfK und war nun neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer im Wissenschaftsbereich Schwimmsport auch für die Lehre und Forschung der anderen Bereiche dieser Sektion verantwortlich, für Wintersport, Wasserfahrsport, Leichtathletik, Radsport, Eisschnellauf, Gewichtheben und Schießsport. Nach dieser Zeit als Sektionsdirektor, war es Eberhard Schramm möglich, sich wieder stärker auf sein eigentliches Fachgebiet zu konzentrieren. Er legte 1980 seine Habilschrift zum Thema „Hydrodynamische Fragen des Sportschwimmens aus sportmethodischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung des Schwimmwiderstandes― vor und wurde nach erfolgreichem Abschluß des Habilverfahrens zum Ordentlichen Professor für Theorie und Methodik Schwimmens berufen. Während seiner gesamten Lehr- und Forschungsarbeit am FKS und an der DHfK war für Eberhard Schramm die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eine selbstverständliche und wichtige Aufgabe, der er sich mit viel Sachverstand, Einfühlungsvermögen und – falls notwendig – auch mit dem erforderlichen Nachdruck widmete. Die von ihm betreuten Promovenden und Habilitanden entwickelten sich zumeist zu anerkannten Sportwissenschaftlern und Hochschullehrern, die vor allem auch die wissenschaftlichen Ansprüche und Traditionen der Theorie und Methodik des Schwimmens, zum Beispiel am Institut für Schwimmsport in Leipzig, bewahren helfen. Die umfangreiche publizistische Tätigkeit von Eberhard Schramm fand ihren Höhepunkt mit der Leitung des Autorenkollektivs für das Hochschullehrbuch „Sportschwimmen― (Sportverlag, Berlin 1987). Unter seiner Leitung gelang es, das individuelle und kollektive Wissen der Mitarbeiter des gesamten Wissenschaftsbereiches zu einem der
anerkanntesten Fachbücher zum Sportschwimmen zusammenzufassen und praxisrelevant aufzubereiten. Trotz seines außerordentlichen beruflichen Engagements war Eberhard Schramm ehrenamtlich im Deutschen Schwimmsport-Verband der DDR (DSSV), im Numismatikerverband und im Gemeinderat seines Wohnortes tätig. Nach der Abwicklung der DHfK 1990 widmete er sich – nun schon im Ruhestand – besonders dem Aufbau des Sächsischen Schwimmverbandes. Er gehörte dem Präsidium des Verbandes seit seiner Gründung im September 1990 an und trug zunächst als Vizepräsident, später als Präsident und schließlich als Ehrenpräsident maßgeblich zum inhaltlichen und strukturellen Auf- und Ausbau des Sächsischen Schwimmverbandes bei. In seiner Amtszeit als Präsident gehörte er dem Hauptausschuß des Deutschen Schwimm-Verbandes an und es war sein Verdienst, daß nach 1990 hochkarätige nationale und internationale Schwimmwettkämpfe in Leipzig ausgetragen wurden, zum Beispiel die 111. Deutschen Meisterschaften im Schwimmen 1999 oder zuvor der Vierländerkampf USA – Rußland – China – Deutschland 1996. Mit dem Ableben von Prof. Dr. paed. habil. Eberhard Schramm verlor der Schwimmsport einen der profiliertesten Sportwissenschaftler und wir – seine einstigen Mitstreiter – trauern um einen stets verläßlichen Freund. Walter Renner
Kuno Werner
10. Mai 1925 – 8. September 2004
Er war ein echter Sohn des Thüringer Waldes, ein unverdrossener Kämpfer, der sich auch lange gegen seine schwere Krankheit wehrte. Vielen Jüngeren wird sein Name vielleicht unbekannt sein, aber hätte die DDR je eine ―Halle des Ruhms‖ eingerichtet, würde man ihn dort ganz vorn finden. Wer noch die Zeit zwischen 1949 und 1962 bewusst miterlebt hat, weiß, was dieser so vielseitige Athlet vor allem in der Loipe geleistet hat. Seine ersten Siege, holte sich der Junior aus Goldlauterer bei Wettkämpfen schon vor 1945. Der Nazikrieg stahl ihm einige Wettkampfjahre, aber nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft ging er nach 1948 wieder in die Spur. Unter der aufmerksamen Anleitung und Förderung durch den Skipionier und Antifaschisten Erich Keller aus Heidersbach, beeindruckte Kuno Werner 1949 bei den 1. Thüringer Landesmeisterschaften in Lauscha Konkurrenten und Zuschauer Er siegte beim Springen auf der Marktiegelschanze und mit dem zweiten Platz im Langlauf wurde er überlegener Sieger in der Nordischen Kombination und damit zum erstenmal Thüringer Skimeister. In Brotterode konnte er 1950 und 1951 seinen Meistertitel erfolgreich verteidigen, lediglich 1952 musste er sich
Heinz Holland aus Schmiedefeld beugen. Seinen ersten DDR-Meistertitel hatte er sich schon 1950 in Schierke im harten Kampf gegen die Favoriten aus dem Erzgebirge mit der Thüringen-Staffel geholt. 22 Mal wurde er Meister im Skilanglauf. Als 1958 das Reglement für den Biathlonsport verkündet wurde, war Kuno Werner vom ASK Vorwärts Oberhof von Anfang an mit dabei. Zwei Einzeltitel und zwei Siege mit der Staffel bewiesen, dass er auch in der neuen Wintersportdisziplin zur Spitze gehörte. Natürlich sammelte der zweimalige Olympiateilnehmer auch bittere Erfahrungen in seiner Laufbahn. 1954 in Falun bei seiner ersten Weltmeisterschaftsteilnahme kam er auf der 50-km- Strecke erst fünf Minuten hinter dem Sieger Veikko Hakulinen ins Ziel. Sein bedeutendster internationaler Erfolg war wohl der 9. Platz im Biathlon bei den Olympischen Winterspielen 1960 in Squaw Valley. Mit 37 Jahren nahm er 1962 noch an den Weltmeisterschaften in Zakopane teil. Danach wirkte er als Trainer beim Armeesportklub in Oberhof umsichtig, einfallsreich und vielseitig. Er machte keine Schlagzeilen mehr, sorgte sich noch aber noch Jahrzehnte um den Nachwuchs. Mit seinem Tod schließt sich ein Kapitel der Geschichte des DDR-Sports.
Jan Knapp

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Frühjahr 2005 + Einzelheft 6,00 €
BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE !)
In diesem Heft
Wie endet die Friedensfahrt ?
Gustav-Adolf Schur (Magdeburg)
Boxen im amerikanischen Ghetto
Sebastian Drost (Freiburg)
Bericht über ein Jenaer Festkolloquium und die
Vergesslichkeit von Wissenschaftlern
Joachim Fiebelkorn (Berlin)
Einer der großen Trainer: Ewald Mertens
Jürgen May (Gelnhausen)
Wer erfand die Spartakiaden?
Klaus Huhn (Berlin)

INHALTSVERZEICHNIS
(Läßt sich von Dir wohl leicht maschinell einfügen)

AUTOREN:
HERMANN DÖRWALD, geboren 1925, Vorsitzender des Bezirksfachausschusses Versehrtensport Dresden 1957 bis 1990.
SEBASTIAN DROST geboren 1975, Student der Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg.
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefredakteur „Deutsches Sportecho― 1959 bis 1963
GÜNTER GRAU, geboren 1951, Präsident des Radsportverbandes Sachsen-Anhalt, Diplomverwaltungswirt
PAUL KUNATH, Dr. paed., geboren 1926, Prof. für Psychologie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) Leipzig 1967 bis 1991, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Sportpsychologie (FEPSAC) 1983 bis 1991
JÜRGEN MAY, geboren 1942, Olympiateilnehmer 1964, 1972, Leitender Verwaltungsdirektor Gelnhausen
ARMIN MÜLLER, geboren 1928, verstorben 2005, Dichter, Maler Nationalpreisträger der DDR, Weimar
IRENE SALOMON, geboren 1940, Diplomverwaltungsrechtlerin, Sport-
wissenschaftlerin
JOACHIM SCHINDLER. Geboren 1947, Sprecher der Interessengemeinschaft sächsischer Bergsteigergeschichte Dresden
WERNER SCHMIDT, geboren 1924, ehemaliger Direktor der KJS Zella-Mehlis und Oberhof
GUSTAV-ADOLF SCHUR, geboren 1931, Diplomsportlehrer, Mitglied des Deutschen Bundestages 1998 bis 2002
HELMUT WENGEL, geboren 1938, Sportjournalist
Wie endet die Friedensfahrt?
Von GUSTAV-ADOLF SCHUR
Viele haben mich in den letzten Wochen besorgt nach der Friedensfahrt 2005 gefragt und ich muss gestehen, dass ich keinem auch nur eine halbwegs verbindliche Antwort geben konnte. In Anlehnung an Hamlets Worte „Die Zeit ist aus den Fugen―, kann man zu dem Schluß kommen, dass auch die Friedensfahrt restlos aus den Fugen geraten ist. Ich muss nicht ausführlich wiederholen, was wir in den letzten eineinhalb Jahrzehnten alles getan haben, um die Fahrt zu retten. Sie war nach der Rückwende sehr schnell ins Visier derjenigen geraten, die die Vergangenheit mit der Axt „aufarbeiten― wollten. Die Vorwürfe, die gegen dieses unnachahmliche Rennen erhoben wurden, waren absurd und reduzierten sich im Grunde auf die Tatsache, dass die Staatsoberen der DDR oft auf den Friedensfahrttribünen Platz genommen hatten. Inzwischen ist dieses Thema im Hintergrund verschwunden, weil die populäre Fahrt auch noch Millionen anlockte, als sie von einer Sektfirma finanziert wurde, die die Zeitungen, die sie gegründet hatten ablösten, und man auf den dichtumlagerten Tribünen „neue― Politiker entdeckte, die sich nun als Förderer und Freunde der Fahrt ausgaben.
In all den Jahren waren viele Anläufe unternommen worden, die Wurzeln des Rennens zu kappen. Man weiss, dass ich gemeinsam mit vielen treuen Freunden viele diese Versuche vereiteln konnte und sich das „Kuratorium Friedensfahrt― oft als ein Fels in der Brandung erwies. Als ich für den Bundestag kandidierte und zwar auf der Liste der PDS, rollte man wieder grobe politische Klötze auf die Strecke, und um des lieben Friedens und der Friedensfahrt willen, zog ich mich zurück. Ich will kein Urteil über meine Nachfolger fällen. Man kennt mich und weiß, dass dies nicht mein Stil ist. Jetzt aber muss ich betroffen feststellen, dass die Fahrt längst in die Hände von Kreisen geraten ist, die nur nach Gewinn streben und möglicherweise in der jüngsten Vergangenheit sogar Gewinn erzielten.
Die Friedensfahrt war neben anderen Vorzügen auch immer ein Werk der Ehrenamtlichen. Beginnend bei den Betreuern in den Stadien und endend bei den Straßenbahnern, die die Schienen mit Holzlatten auslegten, um Stürze zu vermeiden. Keiner schickte eine Rechnung. Heute gilt die erste Frage in der Regel der Adresse, an die die Rechnung zu schicken ist. Das will ich niemandem vorwerfen, denn die Zeiten sind nun mal so oder – um Brecht zu zitieren – „die Verhältnisse, sie sind nicht so.― Ich habe viele Preise gewonnen, als ich noch im Sattel saß, für meine Tätigkeit als Funktionär der Fahrt habe ich nie einen Pfennig kassiert.
Die Kommerzialisierung des Sports vollzieht sich überall in rapidem Tempo und die Friedensfahrt geriet unweigerlich in ihren Strudel. Natürlich mühte man sich, im Zusammenhang mit diesem legendären Ereignis nur halblaute Töne hören zu lassen, aber die Realität blieb hart und bitter. Noch einmal: Ich will keine Urteile über einstige Gefährten formulieren – auch weil das der Sache herzlich wenig nutzt – aber ich kann die Tatsachen auch nicht ignorieren. Das tschechische Radsportmagazin „Peleton― war der erste, der den Schleier der Halbwahrheiten beiseite zog und Fakten lieferte. Immerhin war Chefredakteur Sosenka viele Jahre Mitglied des Friedensfahrtpeletons und sein Sohn Ondrej hatte sie 2002 sogar gewonnen. Seine alte Liebe zu dem Rennen dürfte ihn also vor unbegründeten Vorwürfen bewahren.
Er nannte sieben Gründe für und sieben Gründe gegen die Friedensfahrt. Nicht von ihm erfundene, sondern in der Gegenwart verbreitete und von ihm untersuchte. Danach hat die Kommerzialisierung auch viele der traditionellen Bindungen zwischen Tschechen, Polen und Deutschen zerstört. Man wirft sowohl der tschechischen Firma, die das Rennen arrangierte, als auch den deutschen Organisatoren unsoliden Umgang mit Finanzen vor. Der Streit um die Rechte an der Taube, dem Logo und der Hymne könnte sogar im Gerichtssaal enden. Das Ärgste aber ist wohl, dass die Funktionäre der Radsportverbände der drei Länder, die
einst gemeinsam mit den veranstaltenden Zeitungen – auch unbezahlt - am Direktionstisch saßen, an den Rand gedrängt worden waren. Vielleicht hatte man in völliger Verkennung des Sachverhalts übersehen, dass sie mit darüber zu entscheiden haben, wenn Termine anzumelden sind und die Internationale Radsportföderation danach über diese Termine und auch über die Kategorien der Rennen zu befinden hat.
So weiß man, dass im Ergebnis des unseligen Streits der traditionelle Mai-Termin 2005 nicht mehr im Terminkalender zu finden ist.. Die Variante, den Termin in den Herbst zu verlegen, halte ich persönlich für einen aussichtslosen Rettungsversuch.
So bleibt mir nur, die Daumen zu drücken für ein Überleben der Friedensfahrt und die Versicherung, dass ich, wäre ich Millionär, sie kaufen und ein wenig wie einst betreiben würde. Aber das ist nur ein Traum und das heutige Leben respektiert keine Träume, denn es ist – siehe oben – ein wenig aus den Fugen.
Immerhin will ich die Gelegenheit nutzen, noch einmal allen zu danken, die je dabei waren, wenn die Friedensfahrt sie rief. Sie haben ein Kapitel Radsportgeschichte geschrieben und zwar eins, von dem noch lange zumindest die Rede sein wird.
Übrigens: Ich finde es sehr gut, dass Armin Müllers Friedensfahrterlebnisse in diesem Heft nachgedruckt werden!
„Aufarbeitung“ Werner Seelenbinders ?
Von IRENE SALOMON
Eine Berliner Zeitung hatte das Ereignis angekündigt: „Vortrag über Werner Seelenbinder – Ringer, Widerstandskämpfer und Sportidol am 21. 10. 2004 im Rahmen der Ausstellung des Museums `Neukölln bewegt sich - von Turnvater Jahn bis Tasmania...´ Martina Behrendt wird, gestützt auf neueste Forschungsergebnisse, ein differenziertes Bild über Seelenbinder vermitteln‖.
Diese Ankündigung verhieß neue Erkenntnisse über den legendären Ringer und so überraschte es nicht, dass um die vierzig Interessierte erschienen waren. Die Referentin begann ihre Ausführungen mit einer überraschenden Feststellung: Sie selbst habe sich erst seit 1990 mit Seelenbinder befasst. Eingeweihte wussten, dass sie seit April 1991 zunächst kommissarisch die Geschäfte des „Sportmuseums Berlin‖ geführt hatte. Eine ihrer ersten sporthistorischen Aktivitäten war die Mitgestaltung der Ausstellung „Berlin auf dem Weg nach Olympia‖ (4. 10. – 17. 11. 1991) im Ribbeckhaus gewesen. Es fiel auf, dass Werner Seelenbinder damals weder in der Ausstellung noch im Begleitheft erwähnt worden war.
Die erste überraschende Feststellung der Vortragenden gipfelte in der Behauptung, dass bislang keine wissenschaftliche Biographie Werner Seelenbinders vorliege. Das in der DDR Rekordauflagen – auch im Verkauf – erzielende und mit Erfolg verfilmte Buch „Der Stärkere‖ von Karl Radetz sei aus ihrer Sicht „nur als Literatur‖ zu bewerten. Martina Behrendt versicherte einige Male, dass sie keinesfalls den Ruf Seelenbinders beschädigen wolle, sich aber mit der Leipziger Sportmuseumsleiterin Dr. Gerlinde Rohr darüber einig sei, dass so gut wie nichts über den „Privatmenschen― Werner Seelenbinder bekannt sei. In einer gewagt tabellarischer Form behandelte sie Seelenbinders Lebenslauf. Wie sparsam sie dabei mit Fakten umging, wurde deutlich, als sie nicht einmal die Gründe seiner drei Verhaftungen durch die Faschisten mitteilte. Und immer wieder wagte sie die Behauptung, es lägen kaum schriftliche Aufzeichnungen über sein privates Leben und seine politischen Aktivitäten vor, wenn man einigen belanglosen Postkarten und mündlich überlieferten, aber sich widersprechenden Aussagen von Freunden und Bekannten absähe. Angeblich hätten weder sein früherer Trainer Erich Rochler noch sein Brandenburger Mithäftling Hans Mickinn je bestätigt, dass ihm die während der Olympischen Spiele
1936 illegal wirkende Kommunistische Partei vorgeschlagen hatte, nach einem möglichen Olympiaerfolg das für jeden Sieger vorgesehene Rundfunkinterview zu nutzen, um gegen die faschistische Verfolgung zu protestieren. Martina Behrendt behauptete sogar allen Ernstes, beide hätten diese Absicht in Frage gestellt, weil die Kommunistische Partei danach noch härtere Verfolgung zu befürchten gehabt hätte. Sie machte an diesem Beispiel erschreckend deutlich, was sie unter „wissenschaftlicher Arbeit― versteht. Ihre These: Persönliche Unterlagen Seelenbinder sind nicht auffindbar, Zeitzeugen sind verstorben, also muss alles bisher Publizierte in Frage gestellt werden. Sie ging sogar so weit, zu behaupten, Seelenbinders Haltung gegenüber dem NS-Regime sei nicht schlüssig belegt. Ihre fatale „Beweisführung―: Seelenbinder habe bei allen „späteren― sportlichen Wettkämpfen die Hand zum Hitlergruß erhoben habe. Zu der Einschränkung „später― war sie gezwungen, weil hinlänglich bekannt ist und von niemandem geleugnet wird, dass sich Seelenbinder bei der ersten deutschen Meisterschaft nach der faschistischen Machtübernahme geweigert hatte, den Arm zu heben und deshalb gesperrt worden war. Doch sollte Martina Behrendt damit noch nicht den Höhepunkt ihrer Seelenbinder-„Demontage― erreicht haben. Sie behauptete allen Ernstes, dass er nur bedingt zur Ringer-Weltelite zu zählen sei. In diesem Stil fortfahrend, folgerte sie: So wie keine persönlichen Aufzeichnungen Seelenbinders vorlägen, fehle es auch an Exponaten, von denen mit Sicherheit gesagt werden könne, dass sie Werner Seelenbinder zuzuschreiben seien. Das Sportmuseum Berlin verfüge über ein einziges Exponat, bei dem man auf Grund der Aussagen verstorbener Zeitzeugen davon ausgehen könne, es handele sich tatsächlich um persönliches Eigentum Seelenbinders: Eine Lederhose. Wer sich die Mühe machen würde, allein die „Spur― dieser Hose zu verfolgen, würde sehr schnell zu präzisen Auskünften gelangen können, aber daran scheint es dem heutigen Stil der „Aufarbeitung― zu mangeln.
Hinlänglich bekannt ist, dass Werner Seelenbinder vor seinem Haftantritt den größten Teil seiner persönlichen Habe bei einem treuen Freund, dem Vereinsfunktionär Fritz Schliebener deponiert hatte. Der hatte die Gegenstände auch nach 1945 sorgsam aufbewahrt und war oft von Sportfunktionären gebeten worden, einzelne Stücke für Seelenbinder-Ausstellungen in der DDR zur Verfügung zu stellen. So lichtete sich die Hinterlassenschaft. Eines Tages übergab der schwerkranke Schliebener die Lederhose einem Sporthistoriker, der sie zunächst bei sich zu Hause aufbewahrte und dann dem Berliner Sportmuseum übergab. Das geschah zu einem Zeitpunkt, da Martina Behrendt sich noch nicht mit Sportgeschichte befasste. Der erwähnte Sporthistoriker hatte zu Beginn der achtziger Jahre alle noch lebenden Zeugen der Olympiakämpfe Seelenbinders in der Deutschlandhalle 1936 zu den Fakten befragt und das Material für eine Broschüre der Olympischen Gesellschaft der DDR verwendet. Im Jahr 2000 publizierte er das Ergebnis seiner Recherchen noch einmal in einem Taschenbuch und wiederholte darin das Interview mit dem Zeitnehmer des ersten Seelenbinder-Kampfes, der gleich nach der überraschenden Niederlage in die Kabine geeilt war und dort allein mit ihm über den Kampf geredet hatte. Martina Behrendt schien diese Publikationen nicht zu kennen. Dafür wusste sie, dass Seelenbinders Todes- und Geburtstage in der DDR zu propagandistischen Zwecken benutzt worden waren. Reden seien gehalten worden, die Seelenbinder zum „Idol der Jugend― stilisieren sollten.
Martina Behrendt erwähnte mit keiner Silbe, dass 1984 für die Schüler der Berliner Kinder- und Jugendsportschule, die seinen Namen trug, ein „Werner-Seelenbinder-Kabinett― eingerichtet worden war. Der im Februar 2005 verstorbene Sporthistorikers Dr. Lothar Skorning hatte es gemeinsam mit dem Fotografen Harry Jahnel und zwei Architekten geschaffen. Unerwähnt blieb auch das von der Malerin Vera Singer geschaffene Seelenbinder-Triptychon. Demzufolge
auch kein Wort darüber, wo das Gemälde, das im Fundus des Sportmuseums in Niederlehme deponiert war, abgeblieben sein könnte, was niemand besser wissen müsste, als die Leiterin des Museums.
Dafür versicherte Martina Behrendt, dass der letzte Brief Seelenbinders aus dem Zuchthaus Brandenburg in der DDR verfälscht worden sei.
Nach dem Vortrag konnten Fragen gestellt werden. Eine enttäuschte Historikerin aus Neukölln kommentierte Martina Behrendts mehrfach geäußerte Feststellung, dass nichts aus dem Privatleben Seelenbinders überliefert sei, mit der sarkastischen Gegenfrage: „Worum geht es Ihnen denn? Wollen sie wissen, ob er lieber Marmelade oder Honig aß? Das wäre eine Frage, wie sie heute gern gestellt wird, aber nichts mit der Bewertung der Persönlichkeit zu tun hat.‖
Der Bemerkung eines Journalisten: „Einen Werner Seelenbinder gab es in Deutschland nur einmal―, widersprach Martina Behrendt mit Nachdruck und versicherte, dass seine politische Einstellung und seine Aktivitäten kaum höher zu bewerten seien, als die antifaschistische Haltung Tausender anderer Arbeitersportler. Sein „Klassenbewusstsein― sei zudem in Frage zu stellen, wenn man seine Mitteilung an einen Freund auf einer Postkarte lese, dass er bei der AEG Treptow kündigen werde, um als Eisenarbeiter in einem Rüstungsbetrieb in Marienfelde mehr Geld zu verdienen. Diese These war die verwegenste der Martina Behrendt, denn sie negierte die in dem vollstreckten Todesurteil enthaltenen Vorwürfe des Volksgerichtshofs. Es blieben viele Fragen offen. Auch die, was die Behrendt zu diesem Auftritt bewogen haben mochte? Es gibt viele, die mehr über Werner Seelenbinder wissen als sie...
Selbst Willi Daume würde ich dazu zählen, denn der hatte 1986 beim Treffen der Olympiateilnehmer von 1936 bei einer Rundfahrt den Bus am damals noch hinter Hecken versteckten Grab des Ringers halten lassen und seiner gedacht.
Boxen im amerikanischen Ghetto
Von SEBASTIAN DROST
Der französische Soziologe Loïc Wacquant promovierte nach seinem Studium am Collège de France Ende der 1980er Jahre an der Universität Chicago. Von 1988 bis 1992 trainierte Wacquant in dem traditionsreichen Chicagoer Gym „Woodlawn-Yancee Unit, Boys and Girls Club of Chicago – The Club that Beats the Streets‖. Wacquant erhob während dieser Zeit ethnographisches Datenmaterial in Form von Aufzeichnungen, Beobachtungen, Fotografien und Tonbandaufnahmen, die die Grundlage seiner Forschung darstellen. Die im August 1988 begonnenen Forschungstätigkeiten schloss Wacquant in praktischer Sicht 1992 ab. Im Jahr 2000 veröffentlichte Wacquant dann die soziologische Studie „Leben für den Ring – Boxen im amerikanischen Ghetto― (deutsche Übersetzung 2003). „Drei Jahre lang habe ich drei- bis sechsmal pro Woche mit den Amateuren und Berufsboxern des Clubs trainiert und mich, vom `shadow-boxing´ vor dem Spiegel bis zum `sparring´ im Ring, konsequent ihrem gesamten Trainingsprogramm unterzogen― (Wacquant 2003, S. 9).
Sozialer Raum – Das Ghetto
Der zentrale Punkt dieser Studie ist die Frage wie Boxen „Sinn machen kann―. Die sozio-ökonomische Rahmenbedingung des amerikanischen Boxens bildet das Ghetto. Wacquant beschäftigte sich intensiv mit der Thematik des Ghettos und weist in seinem Aufsatz „Über Amerika als verkehrte Utopie― (1997) darauf hin, dass bei der Thematisierung von „Ghettos― bzw. der als Ghettoisierung bezeichneten Wandlung französischer Vorstädte vielen die Vorstellung von realen Bedingungen von Ghettos fehlt (Wacquant 1997a, S. 169). Wacquant weist explizit darauf hin, dass amerikanische Ghettos und französische Vorstädte sich als „sozial-räumliche Konstellationen― in Struktur, Entwicklung und Dynamik zutiefst voneinander unterscheiden
(Wacquant 1997a, S. 170). Gemeinsam ist zwar die Tatsache, dass Ghetto und „Vorstadt― auf nationaler Ebene die unterste Ebene einer „urbanen Hierarchie― darstellen, aber dies scheint auch schon alles an wesentlicher Gemeinsamkeit zu sein. Erfolgt auf französischer Seite die Ausgrenzung auf Basis von Klassenkriterien, basiert die amerikanische Ghettoisierung auf einer „jahrhundertealten rassistischen Basis― (Wacquant 1997a, S. 170). Lässt sich das Unsicherheitsgefühl in französischen Vorstädten auf jugendliche Kleinkriminalität zurückführen, so ist die Unsicherheit amerikanischer Ghettos in der Realität von Morden, Vergewaltigungen und anderen Gefahren begründet (Wacquant 1997a, S. 171). Wacquant belegt diese Realität mit juristischen Daten für die (damalige) Drei-Millionen-Metropole Chicago aus dem Jahr 1988. Vor dem Strafgericht Cook County wurden 56.204 Hauptanklagepunkte verhandelt: 3.647 Fälle schwerer Körperverletzung, 8.419 Vergewaltigungen, 1.584 bewaffnete Raubüberfälle, 2.569 Fälle „bewaffneter Gewalttätigkeit― und 2.009 Fälle von Mord und vorsätzlicher Tötung (Wacquant 1997a, S. 172). Die Mehrzahl dieser Verbrechen wurde in den schwarzen Vierteln des Ghettos begangen, von Bewohnern an Bewohnern. Wacquant berichtet in seinem Aufsatz „The Zone― von Untersuchungen, denen zur Folge die Wahrscheinlichkeit junger Männer, eines gewaltsamen Todes zu sterben, in Ghettos wie beispielsweise Harlem höher liegt, als bei Soldaten, die während des Höhepunktes des Vietnamkrieges an die Front geschickt wurden (Wacquant 1997b, S. 188). Sind Metropolen in der Regel durch eine überaus komplexe Struktur einer Dienstleistungsgesellschaft gekennzeichnet, entwickelt sich die soziale Struktur eines Ghettos aufgrund steigender Arbeitslosigkeit zu einer größeren Homogenität. (Wacquant 1997a, S. 174). Angesichts des Zusammenbruchs des Marktes für Lohnarbeit und der unzureichenden Sozialhilfe bleibt vielen Ghettobewohnern nur die „informelle Ökonomie der Straße―, der Drogenhandel. Die Konsumenten
finanzieren sich ihre tägliche Drogen-Dosis häufig mit Diebstahl und Straßenkriminalität. Die Ökonomie des Ghettos wird weiterhin bestimmt von Schwarzarbeit, Tagelöhnerei, Blutspenden, Prostitution, Handel mit Lebensmittelkarten oder Krankenscheinen oder vielem mehr (Wacquant, 1997a, S. 74 f.) Der Staat hat nach Angaben Wacquants die Kontrolle über das Territorium des Ghettos größtenteils verloren. So hat die Chicago Housing Authority als Institution zur Verwaltung des sozialen Wohnungsbaus neben 200.000 offiziellen Mietern zusätzlich 60.000 bis 100.000 illegale Bewohner, wie 60.000 Familien auf der offiziellen Warteliste zu stehen (Wacquant 1997a, S. 175). Am deutlichsten wird die fortgeschrittene Verarmung und Benachteiligung des öffentlichen Sektors im öffentlichen Bildungs- bzw. Schulsystem erkennbar: In Chicago rekrutieren sich die Schüler öffentlicher Schulen der „inner city― zu 85 Prozent aus schwarzen und Latino-Familien. Wacquant beschreibt das schulische Niveau so, dass ein Schüler des Martin-Luther-King-Gymnasiums die oberste Klasse abschließen kann, ohne einen vollständigen Satz schreiben zu können oder elementares Bruchrechnen zu beherrschen. Dieser Trend wird staatlich gefördert, indem die Schulbehörde von Chicago für die Schulen der „inner city― nur die Hälfte des Betrages verwendet, die die Schulen der finanziell gut gestellten Vororte erhalten. (Wacquant 1997a, S. 176 f). Der negative Status des öffentlichen Schulwesens lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass keiner der letzten fünf Bürgermeister Chicagos seine Kinder auf öffentliche Schulen geschickt hat, ebenso über die Hälfte der universitären Lehrkörper. Wacquant charakterisiert die Entwicklung des Verfalls abgetrennter Enklaven der „inner city―, der Flucht der schwarzen Mittelklasse und den Entindustrialisierungsprozess ganzer Stadtteile zusammenfassend als „urbane Politik geplanter Verwahrlosung―, der vom amerikanischen Staat seit den
1960er Jahren gezielt vorangetrieben wird (Wacquant 1997a, S. 171).
FENSTER ZUM GHETTO
Wacquants Entschluss zur Analyse der Soziologie des Boxens, entspricht nicht seiner ursprünglichen Intention. Der eigentliche Focus der Untersuchung war, „soziale Strategien der Jugendlichen des Viertels―, also die Untersuchung sozialer Strategien eines Ghettos, dessen Boxhalle, das GYM, Wacquant ursprünglich als „Fenster zum Ghetto― dienen sollte (Wacquant 2003, S. 14 f). Diese ursprüngliche Absicht verwarf Wacquant nach sechzehn Monaten beharrlicher Präsenz und erfolgreicher Inthronisierung als Mitglied des engeren Zirkels des Clubs und mit Einwilligung aller Beteiligten: „Die Menschen von Woodlawn haben mir Vertrauen und Freundschaft entgegengebracht. Ich war nicht nur in der Trainingshalle einer von ihnen, sondern begleitete sie auch bei anderen Gelegenheiten (…) Sie nahmen mich ebenso in die Kirche oder zum Friseur mit, um mir einen „fade― schneiden zu lassen, wie zu einer Partie Billard in die Stammkneipe und ließen mich Rap hören, bis er mir zu den Ohren herauskam. Bei einem politisch-religiösen Meeting der Nation of Islam, wo ich mich als einziger nichtgläubiger Europäer unter zehntausend gläubigen, ekstatischen Afroamerikanern wiederfand, habe ich sogar dem Minister Louis Farrakhan applaudiert. Ich habe an drei Beerdigungen, zwei Hochzeiten, vier Geburten und einer Taufe teilgenommen und 1992 die tiefe Trauer anlässlich der Schließung des GYM von Woodlawn geteilt, das ein Jahr später einer Maßnahme städtischer „Sanierung― zum Opfer fiel. (Wacquant 2003, S. 10 f.).
DAS GYM ALS SCHUTZSCHILD
„GYM― ist die Bezeichnung für eine Boxhalle. Wacquant beschreibt das GYM als eine „Schmiede, die den Boxer hervorbringt―. Aber diese Definition allein fasst die Komplexität nicht. Das GYM erfüllt mehrere Funktionen: In erster Linie die Isolation vor den Straßen des Ghettos. Es ist
ein Schutzschild gegen die Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten des täglichen Lebens (Wacquant 2003, S. 20). Der Vergleich mit einer heiligen Stätte wird herangezogen, die einen geschützten Raum darstellt, der nicht allen zugänglich ist. Zweitens wertet Wacquant das GYM als eine Schule der Moral, der Disziplin, der Gruppenzugehörigkeit und als Schule des Respekts vor anderen wie vor sich selbst, die die Autonomie des Willens fördert. Letztlich bedeutet die Zugehörigkeit zu einem GYM die Akzeptanz in einem Männerbund, der die Möglichkeit bietet, aus der Anonymität herauszutreten und Bewunderung und Beifall der lokalen Gesellschaft auf sich zu ziehen (Wacquant 2003, S. 20). Als boxerischen Habitus bezeichnet Wacquant die Aneignung eines komplexen körperlichen Mechanismus und mentaler Schemata, die so eng miteinander verbunden sind, dass zwischen Physischem und Spirituellem, zwischen athletischen Fähigkeiten und moralischem Vermögen nicht mehr unterschieden werden kann (Wacquant 2003, S. 21). Wacquant geht von einer Doppelbeziehung des GYM aus, von Symbiose und Opposition zu seinem Viertel und dem bitteren Alltag des Ghettos (Wacquant 2003, S. 21). „Sie (die Boxhalle, A. d. A.) bezieht ihre Mitglieder aus der Jugend des Ghettos und stützt sich auf eine maskuline Kultur des physischen Muts, des individuellen Ehrbegriffs und der körperlichen Leistungsfähigkeit, bildet jedoch gleichzeitig einen Gegensatz zur Straße: hier Ordnung, dort Unordnung; hier individuelle und kollektive Regulierung der Leidenschaft, dort private und öffentliche Anarchie; hier die kontrollierte und konstruktive Gewalt – zumindest hinsichtlich des sozialen Lebens und der Identität des Boxers – eines streng geregelten und klar begrenzten Austauschs, dort die sinn- und hirnlose Gewalt der unkalkulierbaren, ausufernden Konfrontationen, die charakteristisch für die Bandenkriminalität und den Drogenhandel im Viertel sind.― (Wacquant 2003, S. 60).
„JEDE STUNDE IM GYM IST EINE WENIGER AUF DER STRASSE“
Die Boxhalle (GYM) ist im „Woodlawn-Yancee Unit, Boys and Girls Club of Chicago – The Club that Beats the Streets‖ beheimatet. Bereits im Namen des Clubs ist der pädagogische Auftrag definiert. Das Gebäude, in dem die Boxhalle untergebracht ist, wird zur Hälfte als Kinderhort benutzt. Der Club finanziert lediglich den Unterhalt des Gebäudes. Die Betreuung der Boxer erfolgt ausschließlich auf ehrenamtlicher Basis. Eine beträchtliche Anzahl von Wacquants Trainingspartnern oder „Freunden― von Woodlawn sind zum Boxen konvertierte Straßenkämpfer. Der Club bietet die Möglichkeit zum Aufbau sozialer Beziehungen, die außerhalb nicht mehr gegeben sind. Dieser kollektive Rückzug macht das Leben in der Boxhalle erst möglich und stellt gleichzeitig seine Anziehungskraft dar (Wacquant 2003, S. 31). Wacquant berichtet von dem ausdrucksstarken Zitat: „Jede Stunde im GYM ist eine weniger auf der Straße―. Aussagen von Berufsboxern bestätigen diese Einstellungen; Sie wären ihrer Ansicht nach sonst endgültig in die Kriminalität abgerutscht. Unterstützt wird dies mit dem Hinweis, dass viele berühmte Boxer wie Sonny Listen, Floyd Patterson oder Mike Tyson ihre ersten Boxlektionen im Gefängnis erhalten haben (Wacquant 2003, S. 32). Der ehemalige Halbschwergewichtsweltmeister Mustafa Muhammad wird mit folgenden Worten zitiert: „Wenn ich nicht Boxer geworden wäre, hätte ich Banken ausgeraubt. Es gab Zeiten, in denen ich das tun wollte. Drogen wollte ich nie verkaufen. Ich wollte besser sein, also wollte ich Bankräuber werden― (Wacquant 2003, S. 32). „Das Boxen hat mich aus dem Sumpf herausgeholt und zu einem akzeptablen Menschen gemacht. Wäre das nicht gewesen, würde ich heute Heroin verkaufen, oder wäre tot, oder im Gefängnis― (Pinklon Thomas WBC-Weltmeister im Schwergewicht im Jahr 1985; Wacquant 2003, S. 32).
KONVERSATION
Der Club ist nicht nur Ort körperlichen Trainings, sondern auch der Ort von „Geselligkeit― in Georg Simmels Auslegung. Es finden reine Assoziationsprozesse statt, die sich selbst genügen und keinen oder nur einen sozial unbedenklichen Inhalt aufweisen. Es existiert ein ungeschriebenes Gesetz, nach dem jeglicher Status, arbeits-, familiäre- oder seelische Probleme und Verpflichtungen nicht über die Türschwelle des GYM gelangen, sondern draußen bleiben. Lediglich Sportereignisse haben ihren Platz in der Konversation (Wacquant 2003, S. 42). Die Abgeschlossenheit der Boxhalle von der Außenwelt stellt die Grundlage der „Politik des Trainers― dar, wie Wacquant es formuliert. Diese Abgeschlossenheit ist gekennzeichnet von der Nichtthematisierung von Ereignissen des öffentlichen Lebens, egal ob auf kommunaler oder nationaler Ebene (Wacquant 2003, S. 33). „Am 11. November 1988 begrüße ich alle per Handschlag. Ob er (DeeDee, A. d. A.) zur Wahl gegangen sei? `Jaja, ist erledigt, heute morgen´ sagt er eintönig. Es scheint ihn nicht weiter zu bewegen. Ich frage ihn nach seiner Meinung zum Wahlkampf und ob Bush oder Dukakis seiner Meinung nach gewinnen würde: `Das schert mich einen Dreck, Loui. Was außerhalb dieser Wände geschieht, ist mir schnuppe. Das hat keinerlei Bedeutung für mich. Es zählt nur, was innerhalb dieser vier Wände hier stattfindet. Alles andere ist mir vollkommen egal.´ Mit einer lässigen Handbewegung nach draußen beendet er die Diskussion― (Wacquant 2003, S. 34).
AMATEURBOXEN UND BERUFSBOXEN
Es wird eine strikte Trennlinie zwischen Amateurboxen und Berufsboxen gezogen. Auch jahrelange Praxis im Amateurboxen bedeutet nicht unbedingt Kenntnisse über Sitten und Gebräuche des Profiboxens zu besitzen. Wacquant erwähnt neben nicht durchsichtigen finanziellen Aspekten vor allem die unterschiedlichen Wettkampfregeln, die so divergieren, dass man von „zwei verschiedenen
Sportarten― sprechen kann. Geht es bei den Amateuren um das Sammeln von Punkten und hoher Interventionsmöglichkeit des Schiedsrichters, so geht es im Profiboxen um das „Anschlagen― des Gegners. Wacquant zitiert den Trainer eines anderen GYM mit folgenden Worten: „Berufsboxen ist kein Kinderspiel, weißt du, sondern da prügeln sie dir die Birne weich. Das ist ein hartes Spiel, wenn du zu den Profis wechselst, dann ist es ein hartes― – er korrigiert sich – „nein, das ist kein Spiel. Bei den Amateuren kannst zu Spaß haben. Die Profis wollen dich umbringen― (Wacquant 2003, S. 56).
MYTHOS DER BOXERISCHEN HERKUNFT
Unbestritten ist, dass fast alle Boxer aus den unteren Gesell-schaftsschichten kommen, Wacquant verweist auf die jeweils „neuen―, von der Immigration gespeisten Fraktionen der Arbeiterklasse. Anlässlich des „Golden Gloves― Amateurturniers im Jahr 1989 macht DeeDee Armour (der Trainer) Wacquant auf folgendes aufmerksam: „Wenn du wissen willst, wer in der Gesellschaft ganz unten steht, musst du dir nur anschauen, wer boxt. Für die Mexikaner ist es heute härter, als für die Schwarzen― (Wacquant 2003, S. 46). Dennoch widerlegt Wacquant den gern gepflegte Mythos des „hungry fighters―, wie er beispielsweise von Mike Tyson verkörpert wird. In aller Regel kommen Boxer nicht aus den untersten Fraktionen des Ghetto-Subproletariats (nach Auffassung Wacquants ist das Vertreten dieser These ein „pseudo-wissenschaftlicher Diskurs― [Wacquant 2003, S. 48]), sondern stammen aus den Randbereichen der Arbeiterklasse, die auf dem Weg zu einer stabilen sozioökonomischen Integration sind (Wacquant 2003, S. 46 f.). Die Selektion ist keine Folge materiellen Ausschlusses, sondern erfolgt über die Vermittlung moralischer und körperlicher Dispositionen. Folgende Dispositionen werden als Voraussetzungen für boxerische Praxis genannt: Geregeltes Leben, Sinn für Disziplin, physische und mentale Askese. Diese Eigenschaften können unter – von chronischer
Instabilität und zeitlicher Desorganisation geprägten sozialen und ökonomischen Bedingungen – nicht ausgebildet werden. „Ohne ein gewisses Maß an objektiver persönlicher und familiärer Stabilität ist der Erwerb der zur erfolgreichen Ausübung dieser Sportart notwendigen körperlichen und moralischen Voraussetzungen wenig wahrscheinlich― (Wacquant 2003, S. 47).
Wacquant zitiert den Boxer „Butch―: „Im GYM lernst du Disziplin, Selbstkontrolle. Du lernst früh zu Bett zu gehen und früh aufzustehen, `roadwork´ (morgendliches Lauftraining) zu erledigen, auf dich zu achten, das Richtige zu essen. Also, dein Körper ist eine Maschine und die muss in Schuss sein. Du lernst es dich beim Ausgehen einzuschränken, nicht mehr auf der Straße rumzuhängen und Dummheiten zu machen. Du bekommst so was wie eine Soldatenmentalität, wie in der Armee, und das ist gut für dich― (Wacquant 2003, S. 60). Auch anhand statistischer Daten weist Wacquant nach, dass das sozio-ökonomische Profil und das Bildungsniveau der Berufsboxer spürbar über dem Durchschnitt der Ghettobewohner liegt (Wacquant 2003, S. 48). Berufsboxer stammen in der Regel aus den traditionellen Arbeiterfamilien oder sie haben das Ziel, diesen Status zu erreichen. Mittel zum Erreichen dieses Ziels ist das Erlernen eines qualifizierten Handwerks. Als ein solches betrachten sie das Berufsboxen. Berufsboxen genießt in ihrer nächsten Umgebung ein hohes Ansehen und bietet zudem die Möglichkeit, viel Geld zu verdienen (Wacquant 2003, S. 49). Die Mehrheit der Mitglieder des gym von Woodlawn gehen einer festen (Teilzeit-)Beschäftigung nach, sind etwa Wächter, Tankstellenwärter, Maurer, Straßenreiniger, Lagerverwalter, Bote, Sportlehrer in städtischen Parks, Angestellte im Reprographiebetrieben, Hilfsarbeiter, Feuerwehrmänner, Kassierer oder Erzieher. Wichtige Indikatoren, die sie von den Ghetto-Bewohnern unterscheiden, sind: Herkunft aus intakten Familien, Boxer sind häufig verheiratete Familienväter, Boxer verfügen über
die Mitgliedschaft in einer formellen Organisation (dem Boxclub) und das gilt im sozialen Raum des Ghettos als absolutes Privileg.
SPORT AUS REFLEXIVER SICHT
Wacquant resümiert Boxsport als Gesamtheit traditionell effizienter Techniken, die sich aus praxisimmanenten Schemata zusammensetzen. Boxen beschreibt die Verinnerlichung der – den Boxer charakterisierenden Dispositionen – bei denen es sich im Wesentlichen um einen Prozess der körperlichen Erziehung und physiologischer Sozialisation handelt. Entsprechend der Anforderungen des Feldes besteht die „pädagogische Arbeit― in dem Umbau und Ersatz des „wilden Körpers― durch einen „habitualisierten Körper― (Wacquant 2003, S. 63).
TEILNEHMENDE BEOBACHTUNG
Die hier angewandte Methode der teilnehmende Beobachtung hat den Vorteil, dass sich das empirische Datenmaterial aus der natürlichen Umgebung der Boxer generiert. Die beschriebenen Verhaltensweisen und Aussagen werden nicht gezielt herbeigeführt. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung kann zur „beobachtenden Teilnahme― (Wacquant 2003, S. 12) umschlagen und sich sogar ins Problematische kippen.
LITERATUR
WACQUANT, LOÏC, 1997A
Über Amerika als verkehrte Utopie
In: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens. Pierre Bourdieu et al. (Hrsg.), S. 169 – 178. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH
WACQUANT, LOÏC, 1997B
The Zone
In: Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens. Pierre Bourdieu et al. (Hrsg.), S. 179–193. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH
WACQUANT, LOÏC, 2003
Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto
Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz GmbH
Als der DDR-Sport
„verfassungsfeindlich“ war
Stellungnahme von FRIEDRICH KARL KAUL
Am 5. November 1962 schrieb der renommierte Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul für den DTSB das folgende Gutachten über das Urteil des Bundesgerichtshofs, den Deutschen Turn- und Sportbund für verfassungsfeindlich zu erklären und damit faktisch auf dem Boden der BRD zu verbieten und der strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen..
Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die von Bonn betriebene Politik der Intervention gegen die Deutsche Demokratische Republik ist die Verhinderung jeder Verständigungsmöglichkeit zwischen der westdeutschen Bevölkerung und unseren Bürgern. Wenn auch bei Begründung des Bundesgerichtshofs von dem damaligen Präsidenten dieses obersten westdeutschen Spruchgerichts hoch und heilig versichert wurde, daß die Ausübung der Justiz in politischen Strafverfahren durch den Karlsruher Bundesgerichtshof nur der Verfolgung krimineller Verbrechen dient, hat sich gerade der Bundesgerichtshof und insbesondere sein politischer (3.) Strafsenat durch seine Rechtsprechung zum Wegbereiter der Bonner Interventionspolitik ... gemacht.
In diesen Rahmen fällt auch die am 14. März 1961 von dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs verkündete „Grundsatz―-Entscheidung, in der der Deutsche Turn- und Sportbund der Deutschen Demokratischen Republik für „verfassungsfeindlich" erklärt und als Ersatzorganisation der verbotenen KPD bezeichnet wird (Az. 1 StE 5/60).
Der Notwendigkeit der Bonner Interventionspolitik folgend, stellt das Gericht die Behauptung auf:
Jede Begegnung zwischen Sportlern der beiden deutschen Staaten, jedes Gespräch über Probleme des Sports, wenn es „im Sinne der SED-Ziele― geführt wird, sei „politische Wühlarbeit gegen die Bundesrepublik―. Mit dieser durchsichtigen Feststellung soll den politischen Abteilungen der Staatsanwaltschaften der einzelnen westdeutschen Länder die juristische Handhabe gegeben werden, jeden Bürger beider deutscher Staaten unter Anklage zu stellen, der für den friedlichen sportlichen Wettbewerb zwischen den Sportlern aus Ost und West eintritt.
Mit diesem Grundsatzurteil gegen den gesamtdeutschen Sport, das, wie gesagt, richtungweisend für alle politischen Sondergerichte der Bundesrepublik ist, soll die politische Sonderstrafjustiz gegen alle Anhänger einer friedlichen demokratischen Entwicklung, alle Befürworter normaler Sportbeziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik mobilisiert werden. Es ist bekannt, daß seit 1951 - der Verabschiedung des Blitzgesetzes durch den Bundestag - bis Ende des Jahres 1961 etwa 200.000 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren mit etwa einer halben Million Betroffener gegen die Gegner der Remilitarisierung, der atomaren Aufrüstung und Notstandsgesetzgebung eingeleitet wurden. ...
Wie alle diese Urteile gegen die friedlichen gesamtdeutschen Kontakte ist auch das „Sportlerurteil― ein Ausdruck für die verständigungsfeindliche Politik der Bundesregierung, die von dem Ziel getragen ist, gewaltsam ... die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik einzuverleiben.
Der Staatsanwalt wird mobilisiert, um dem so natürlichen Wunsch aller deutschen Sportler, die gegenseitigen Sportverbindungen zu verstärken entgegenzutreten, um auf diese Weise jede, aber auch jede sinnvolle Kontaktmöglichkeit zwischen den Bürgern beider deutscher Staaten zu unterbinden. Wie hoffnungslos die Verwirklichung dieser Absichten gerade auf dem Gebiet des Sports ist, ergibt
sich aus der Tatsache, daß nach den Angaben des westdeutschen Amtes für Verfassungsschutz allein in den Monaten Januar bis Oktober 1960 rd. 20.000 Jugendliche und Sportler aus der Bundesrepublik zu „gesamtdeutschen Treffen― in die Deutsche Demokratische Republik kamen.
Schon seit Jahren werden politische Prozesse gegen verständigungsbereite Sportler aus beiden deutschen Staaten vor den westdeutschen Sondergerichten durchgeführt.
Bereits 1953 wurde der weltbekannte Rennfahrer Manfred von Brauchitsch wegen seiner Mitarbeit im „Komitee für Einheit und Freiheit im deutschen Sport― des Hochverrats bezichtigt und verhaftet. In Dortmund standen im Jahre 1959 Helmut Schebeck und drei weitere Mitarbeiter dieses Komitees unter der Anklage der „Staatsgefährdung― und der „Geheimbündelei― vor dem politischen Sondergericht. Das „Grundsatzurteil― des Bundesgerichtshofs vom 14. März 1961 geht jedoch weit über alle Urteile, die in derartigen. Verfahren bislang ergangen waren, dadurch hinaus, daß der Deutsche Turn- und Sportbund schlechthin zur Ersatzorganisation der KPD erklärt wird. ... Auf diese Weise wird jeder Gegner der Bonner Atomkriegspolitik zum „Kommunisten― und damit zum „Staatsfeind― gestempelt.
Bericht über ein Festkolloquium und über die Vergesslichkeit von
Wissenschaftlern
Von JOACHIM FIEBELKORN
Es gibt eine nicht ermittelbare Zahl früher in der DDR tätiger Wissenschaftler, die seit rund 15 Jahren an partieller Vergesslichkeit leiden. Es gibt auch eine beträchtliche Zahl neu im Osten Deutschlands angesiedelter Wissenschaftler, die nicht vergessen müssen, weil sie (auch partiell) gar nicht erst wissen wollen. Vor allem Angehörige beider Kategorien trafen sich am 15. November 2004 in der Aula der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Jena, um mit einem Festkolloquium den 75. Jahrestag der Landesturnanstalt, einer Einrichtung der Universität, zu feiern, die später in Institut für Leibesübungen umbenannt worden war. Ab 1948 gab es dann an der Universität das Institut für Körpererziehung, aus dem schließlich die Sektion Sportwissenschaft wurde. Seit 1990, dem Jahr, in dem alles anders zu werden begann (auch mancher Leut´ Gedächtnis), heißt die Einrichtung nun Institut für Sportwissenschaft.
Man verzeihe uns die etwas umständliche Einleitung, aber sie macht die wechselvolle Geschichte der Landesturnanstalt/des Instituts deutlich und auch die anfangs erwähnte Amnesie einer großen Gruppe ansonsten meist hoch gebildeter Wissenschaftler. Folgte man deren schriftlichen und mündlichen Auslassungen zum Thema, hätte man nämlich lediglich den 35. Jahrestag feiern können, da nach ihrem Verständnis 40 Jahre lang an der Universität Jena keinerlei Sport stattgefunden hat
Das beginnt mit dem vom Institut herausgegebenen Sonderheft der Schriftenreihe „JENAER BEITRÄGE ZUM SPORT―. Auf siebzehn Seiten des 34seitigen Heftes werden in anschaulicher Weise die Lehrstühle und Fachbereiche des Instituts vorgestellt, vierzehn Seiten schildern seine Geschichte. In all der Fülle an Informationen, Berichten und Schilderungen finden sich ganze zwei Sätze, die über den Sportbetrieb an der Universität zwischen 1948 und 1989 Auskunft geben. Zum Standardangebot im Hochschulsport wurde aufgeschrieben: „Dies konnte seit 1990 trotz gleichzeitigem rasanten Abbau der hauptamtlichen Mitarbeiter kontinuierlich erweitert werden. Waren im Studentensport in der DDR-Zeit bis zu 24 Sportlehrer und Lehrerinnen beschäftigt, die etwa 3000 Studierende in Sportgruppen direkt betreuten, so sind es jetzt zwei.― Über die sich aus diesem Schwund ergebenden Qualitätsunterschiede wird nicht berichtet.
Auch der Institutsdirektor, Prof. Dr. Frank DAUMANN, gibt in seinem Vorwort dazu keinerlei Auskunft.
Nach genannter Lektüre und geweckten Interesse suchte der Autor Kontakt zu ehemaligen Mitarbeitern der Jenaer sportwissenschaftlichen Aus-bildungseinrichtung, die ihn ausführlich über die „vergessenen― 40 Jahre und über den Verlauf der Festveranstaltung informierten.
Bereits 1948 wurde das Institut für Körpererziehung gegründet, um Neulehrern und Abiturienten die Möglichkeit zur Ausbildung als Sportlehrerin bzw. Sportlehrer zu bieten. Mancher von ihnen bestimmte
später als Assistent, Lektor, Dozent und Professor das anerkannte Niveau der Lehre und Forschung über Jahrzehnte mit. An der Ausbildung von Fachlehrern für Körpererziehung, die bis in die 60er Jahre für Lehrer der Mittelstufe in einem dreijährigen und für Oberstufenlehrer in einem fünfjährigen Ausbildungszyklus erfolgte, hatten Fachkräfte wie Horst Götze, Wolfgang Gutewort, Willi Schröder, Lothar Köhler, Georg Buschner, Erich Blum und Hans Weckel wesentlichen Anteil. Es sei vervollständigend bemerkt, dass in den fünfziger Jahren an den Universitäten und Hochschulen der DDR der Sportunterricht für die Studierenden aller Studieneinrichtungen obligatorisch wurde.
Nach der Gründung von Sektionen im Zuge der 3. Hochschulreform veränderten sich auch in Jena die Bedingungen für den Wissenschafts- und Lehrbetrieb. Die 1968 gegründete Sektion Sportwissenschaft bildete bis zum Ende der DDR auf der Grundlage eines Lehrprogramms, das für alle Sportlehreinrichtungen der DDR verbindlich war, in einem Fünfjahresstudium Lehrer in zwei Fächern für die allgemeinbildende polytechnische Oberschule aus. Wir wollen uns mit diesen knappen Informationen begnügen.
Die Arbeit der Sektion in Forschung und Lehre fand in der internationalen Sportwissenschaft reichlich Anerkennung. Fünfzehn Jahre nach Ende der DDR soll das alles ersatzlos gestrichen werden.
So erinnerte dann auch beim Festkollegium keiner der Redner daran, dass Thüringens Kultusminister Fickel im Dezember 1990 gemeinsam mit dem neuen Senat der Universität die Abwicklung von Einrichtungen der Forschungs- und Lehrstätte und die Entlassung von Hochschullehrern eifrig betrieben hatte.
Lediglich Rolf Beilschmidt, in der DDR ein bekannter, erfolgreicher Hochspringer, der als Vertreter des Landessportbundes das Wort ergriff, nannte die Namen verdienstvoller Lehrkräfte und erinnerte daran, dass die Zusammenarbeit zwischen der Sportwissenschaft und dem Vereinssport seine traditionellen Wurzeln in der DDR hat.
Es ist bezeichnend genug, dass für den Festvortrag ein Gast aus Köln eingeladen wurde: Studiendirektor Dr. Karl Lennartz, Geschäftsführer des Carl und Lieselott Diem-Archivs an der Olympischen Forschungsstätte der Deutschen Sporthochschule Köln. Es sei daran erinnert, dass dieser Mann in unserer Zeitschrift schon einmal massiver Geschichtsfälschungen überführt wurde.2) Zu seiner Ehre aber sei bemerkt, dass er eigene Zweifel bekundete, als Bewohner des „äußersten Westens― genügend Vorwissen zu haben, um dem Anspruch der Feierstunde gerecht zu werden. Was dann folgte, waren in mehr als 60 Minuten historische Reminiszenzen an Ereignisse und Personen der deutschen Ausbildungsgeschichte im Bereiche des Sports und natürlich auch an die Denkschrift Carl Diems vom September 1919 zur Deutschen
Hochschule für Leibesübungen. Lennartz nannte dabei schließlich auch die Ausrichtung der Ausbildung auf die Anforderungen der Nazis unter der Regie des faschistischen Institutsdirektors Hans Ebert.
Nach dem Verweis auf die Nazizeit erwartete das Publikum Ausführungen zur Sportlehrerausbildung in der Zeit von 1948 bis 1990. Und die kamen. In der Rekordzeit von 26 sec trug Lennartz die für ihn nennenswerten Kenntnisse über 40 Jahre sportwissenschaftliche Lehre und Forschung in der DDR vor. Eine Spitzenleistung für geschichtswissenschaftliche Synthese.
Der Institutsleitung ist nicht nachzusagen, sie hätte keinen Besseren gefunden. Sie wollte keinen Referenten, der dem komplexen Anspruch, die 75-jährige Geschichte der Einrichtung zu würdigen, entsprochen hätte.
Man kann voraussetzen, dass Daumann wusste, wer Lennartz ist und was von ihm zu erwarten war.
So hat Daumann zu verantworten, dass auch und vor allem die Studienleistungen tausender Jenaer Absolventen ignoriert und der Vergessenheit anheim gegeben werden sollten. Der von ihm gesteuerte Vorgang ordnet sich ein in die Bestrebungen, die DDR, ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre vielfältige Identität auszulöschen.
Hegel schrieb dereinst, man könne aus der Geschichte der Völker lernen, dass die Völker aus der Geschichte nicht lernen. Die Organisatoren jenes Kolloquiums waren sehr bemüht, Hegels Erkenntnis neue Grundlagen zu schaffen.
ANMERKUNGEN
1) JENAER BEITRÄGE ZUM SPORT, S. Jena S. 17
2) Joachim Fiebelkorn, : Chronique scandaleuse, 2002, in Beiträge zur Sportgeschichte, Berlin S. 85 - 89
Wer wann die Spartakiade erfand
Von KLAUS HUHN
Im „Sport-Brockhaus― (Wiesbaden) von 1984 findet man unter dem Begriff „Spartakiade― folgenden Hinweis: „(nach – Spartacus) Bez. für Sportveranstaltungen in sozialist. oder
kommunist. Ländern, wie die S. der Völker der UdSSR oder Armee-S. In der Dt. Dem. Rep. gibt es seit 1965 Kinder- und Jugend-S. mit Sommer und Winterwettbewerben. Sie führen über Vorausscheidungen, Kreis-S. und Bezirks-S. zu den Finalwettbewerben. Die Endwettkämpfe der Sommer-S. finden bei den Turn- und Sportfesten der Dt. Dem. Rep. in Leipzig statt. Bei der IX. Kinder- und Jugend-S. (1983) fielen in 19. Sportarten 856 Entscheidungen der versch. Altersklassen. Die Gesamtteilnehmerzahl liegt bei jeweils 4 Mio. Die erste S. fand 1921 in der Tschechoslowakei statt.―
Der einbändige Große Brockhaus von 2003 liefert die Definition: „Spartakiade (nach Spartacus) die, große Sportveranstaltung in den früheren kommunistischen beziehungsweise sozialistischen Länder die zur Talentesichtung und auch zur politischen Selbstdarstellung dienten.―
Wie der „Sport-Brockhaus― korrekt mitgeteilt hatte, war die erste Sport-Spartakiade 1921 in Prag ausgetragen worden, die letzten umfassenden Kreisspartakiaden in der DDR dürften 1989 stattgefunden haben.
Die Frage, wie wer wann auf die Idee gekommen war, einem Sportfest diesen Namen zu geben, ist nur selten untersucht worden. Unsere Fakten stützen sich auf das 1975 im DDR-Sportverlag erschienene Buch „Die Urenkel des Spartacus― von Klaus Ullrich.
...
Exakt 1994 Jahre, nachdem der Ausbruch des gewaltsam in die Gladiatorenschule von Capua verschleppten Sklaven Spartacus Rom beunruhigte – sein Aufstand gegen Rom scheiterte letztlich an der Uneinigkeit der an der Spitze der unter geflohenen Sklaven großen Zulauf gefundenen Armee Agierenden - erschien der Name des längst Vergessenen auf Plakaten an den Zäunen des Prager Maniny-Stadions und kaum jemand in der tschechischen Metropole konnte sich erklären, worum es eigentlich ging.
Man schrieb den Juni 1921 auf den Plakaten wurde für die „Spartakiade der FDTJ‖ (Abkürzung eines damaligen Arbeitersportverbandes) geworben. Wer war auf die Idee gekommen, den legendären Gladiator der Antike zum Namensgeber für ein Sportfest der Arbeitersportler zu wählen?
Die Antwort lautete: Ein gewisser Jiri Frantisek Chaloupecky. Was die Frage auslöst: Wer dieser Mann? Was waren seine Motive? Und: Was mochte ihn auf die Idee gebracht haben, diesem Namen einen Platz in der Geschichte des Sports zu sichern?
Tatsächlich war der Name Spartacus bereits am 27. Januar 1916 verwendet worden, und zwar in Berlin als eher anonyme Unterschrift unter eine hochbrisante politischen Flugschrift. Wie es dazu gekommen war blieb auch lange unklar. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts befragte ich den Berliner Arbeiterfunktionär und Historiker Professor Rudolf Lindau, der mir bestätigte, dass er der letzte Überlebende einer Gruppe von Revolutionären sei, die sich in den Januartagen 1916 um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geschart hatten, um den Kampf gegen den imperialistischen Krieg zu intensivieren. Sie verfassten „Politische Briefe― an Sozialdemokraten, von denen sie vermuteten, dass sie Aktionen gegen den Krieg unterstützen würden. Jene „Briefe‖ waren am 27.Januar 1916 zum ersten Mal mit der einleitenden Bemerkung erschienen: „W. G. Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen! Mit Parteigruß Spartacus‖
Lenin äußerte sich dazu am 11. Juli 1919 in seiner Vorlesung an der Swerdlow-Universität: „Der Name Spartacus, den die deutschen Kommunisten — diese einzige Partei, die wirklich gegen das Joch des Kapitalismus kämpft — jetzt tragen, wurde von ihnen gewählt, weil Spartacus einer der hervorragenden Helden eines der größten Sklavenaufstände war.‖
Blieb die Frage: Wer war auf die Idee gekommen, den Namen als Anonym-Autor für die „Politischen Briefe‖ zu verwenden? Rudolf Lindau hatte keinen schlüssigen Beweis, wer den Vorschlag gemacht hatte, war aber ziemlich sicher, daß es Karl Liebknecht gewesen sein musste.
Das würde sich zwar nicht mit der 1924 von Ernst Meyer niedergeschriebenen Erinnerung („Die Revolution", Gedächtnisnummer zum 10. Jahrestag der Gründung des Spartakusbundes, Nr.2, S.4) decken, aber den Fakten nahekommen. Meyer schrieb: „Im Februar 1916 versammelten sich an einem Sonntagvormittag eine kleine Zahl von Genossen, die Leiter der Spartakusgruppe Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Karski (Marchlewski), Hermann und Käthe Duncker und ich.
Diese Sitzung beschäftigte sich mit der Festlegung der politischen Richtlinien für unsere Arbeit und mit der Herausgabe eines neuen Informations-Materials. ... Nach kurzer Rücksprache mit Karl Liebknecht nannte ich unsere Korrespondenz `Spartakus´. Bei der nächsten Zusammenkunft der `Zentrale´ gab es einiges Hallo: niemand war mit dem Namen zufrieden.― Aber am Ende befand man: „Spartakus war sofort zum Symbol der revolutionären Elemente Deutschlands geworden, und das Wort ,Spartakist' galt von nun an als Schreckenstitel für jeden Bourgeois und Sozialdemokraten und als Ehrenname für jeden Revolutionär.‖
Damit wäre die deutsche Quelle aufgedeckt. Und wie kam es, dass sich Jiri Frantisek Chaloupecky ihrer bediente?
Das Leben dieses Tschechen war geprägt vom Kampf für die Sache der Arbeiter. Er starb — nur 32 Jahre alt — an der Proletarierkrankheit Tuberkulose. Als man ihn zu Grabe trug, erinnerte sich Professor Nejedly: „So ein Begräbnis, wie es die Arbeiter Prags Chaloupecky bereiteten, hatte man seit Jahren nicht mehr erlebt.‖
Der Sohn einer armen Eisenbahnerfamilie, hatte in der Schule schon bald überragende Veranlagungen demonstriert,
doch musste er die Realoberschule in Prag-Karlin wegen seiner ständigen Kritik am Schulsystem schon nach der fünften Klasse verlassen. Freunde und Kampfgefährten sagten von ihm, daß er ein sehr eigenwilliger Mensch gewesen war, wortkarg auf der einen Seite und ein glänzender Redner auf der anderen, oft schweigsam, aber gesellig, vor allem von hoher Intelligenz. In seinem Kampf nahm er nie eine Sekunde Rücksicht auf seine Stellung als Eisenbahner und Staatsangestellter, der von heute auf morgen wegen seiner revolutionären Tätigkeit davongejagt werden konnte.
Schon vor dem ersten Weltkrieg hatte er durch marxistisch fundierte Artikel in verschiedenen Zeitschriften auf sich aufmerksam gemacht. Im August 1918 erregte ein Artikel von ihm beträchtliches Aufsehen. Unter der Uberschrift „Das Volk hinter der eisernen Maske‖ informierte er über den wahren Sachverhalt der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und korrigierte die vielen Falschmeldungen, die darüber auch in Prag in Umlauf gesetzt worden waren. Kurz nach der Gründung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, die Chaloupecky vom ersten Tage an zu ihren Mitgliedern zählte, organisierte er – vom Wert der Körpererziehung für die Arbeiterklasse überzeugt – den Gründungskongreß einer revolutionären Arbeitersportbewegung, der FDTJ. Obwohl selbst Gründer dieser Organisation, lehnte er jede führende Funktion ab und übernahm nur die Redaktion des theoretischen Organs des neuen Verbandes. Dann stürzte er sich in die Vorbereitungen der 1. Arbeiterolympiade, worüber im Jahrbuch der FDTJ zu lesen stand: „Vor der Tür stand die 1. Arbeiterolympiade, unser Glauben, unsere Hoffnung, unsere Liebe...‖ Eine Woche vor dem großen Fest scheiterten alle Bemühungen, diese Arbeiterolympiade gemeinsam mit dem schon lange bestehenden revisionistischen Arbeitersportverband durchzuführen, weil dieser darauf bestand, die Vertreter der bürgerlich-tschechoslowakischen Regierung als Ehrengäste
einzuladen und ihnen sogar einen Teil des Massenschlußbildes zu widmen.
Die FDTJ sagte ihre Teilnahme an der Veranstaltung ab, und in eben dieser Stunde wurde die „Spartakiade― geboren! Jiri Frantisek Chaloupecky schlug seinen Genossen vor, im Maniny-Stadion ein eigenes Sportfest zu organisieren. Später schrieb er: „Es wäre eine grobe Verirrung in der Sache und Persönlichkeit gewesen, den Namen von Marx oder Lenin zu gebrauchen, den Namen dieser Giganten, die mit dem Turnen nicht viel Gemeinsames hatten und in einer wesentlich anderen Richtung, an einem doch viel breiteren und tieferen Werk arbeiteten. Lenin, würde eher erniedrigt, wenn er einmal zum Paten des Turnens – obwohl des kommunistischen Turnens – würde!‖
Und noch deutlicher machte er seine Absichten mit den Worten: „Und überall, wohin sich unsere Turner auch begeben werden, obwohl mit Genossen aus allen Ländern vermischt, überall wird ihnen die historische Erscheinung des Spartacus folgen: für das Proletariat Muskeln zu stärken und den Geist zu schärfen, mit dem Proletariat der Welt aufzustehen, für das Proletariat im Kampfe zu sterben!‖
Antonin Zapotocky sagte einmal über diese erste Spartakiade: „Ein Beispiel für die Überwindung aller Hindernisse muß uns die große Begeisterung sein, mit der die 1. Arbeiterspartakiade im Jahre 1921 vorbereitet wurde. Diese Begeisterung und der feste Wille der Arbeiter haben wahre Wunder geschaffen und, wie man zu sagen pflegt, Berge versetzt!‖
In einer in den fünfziger Jahren in Prag erschienenen Biographie über Chaloupecky hieß es: „Seine gewagte Tat gelang. Unter dem Einfluß und den Fahnen der jungen Kommunistischen Partei fand am Haupttag der Spartakiade eine Massenkundgebung mit hunderttausend Turnern und ein Kampfmarsch durch Prag statt. In diesen Tagen wurde der Grundstein für die revolutionäre Massenbewegung in der Tschechoslowakei gelegt.‖
Schon die nächste Spartakiade, die 1928 in Prag stattfinden sollte und gründlich vorbereitet worden war, wurde verboten, als schon Gäste aus vielen Ländern auf dem Wege zur Stadt an der Moldau waren.
Im August 1928 war dann Moskau Schauplatz der 1. Internationalen Spartakiade.
Sie dauerte 14 Tage, zählte rund 4400 Teilnehmer, darunter ungefähr 35 Prozent weibliche Sportler, was ein sensationeller Anteil war. Mehr als eine Million Zuschauer wurden bei der Veranstaltung gezählt.
Die Il. lnternationale Spartakiade war für den 4. – 12. Juli 1930 nach Berlin vergeben worden. Sie wurde sehr bald durch den Polizepräsidenten verboten, doch fanden in ganz Berlin „Sportfeste‖ mit internationalen Gästen statt, die enorme Zuschauerzahlen erreichen.
Jiri Frantisek Chaloupecky behielt mit seiner Prognose über die Rolle des Spartacus Recht, auch wenn sich heute kaum noch jemand seiner erinnert: Seine Idee erwies sich über Jahrzehnte als erfolgreich und zumindest die großen Lexika – siehe oben - bewahren den Begriff.
DIE ÜBERBELASTUNG
Von PIERRE DE COUBERTIN
In der Pariser Zeitung „LE PRANCAIS" erschien am 30. August 1887 –bezeichnenderweise in der Rubrik „Verschiedenes“ - ein Beitrag des späteren IOC-Gründers, den wir auszugsweise wiedergeben, sowohl weil er einen Eindruck vermittelt, welchen Weg der Schulsport in den letzten 120 Jahren zurückgelegt hat, als auch, welche Probleme aktuell blieben.
Wir haben von mehreren Freunden des FRANCAIS Beiträge zur Frage der Überbelastung (gemeint war die Überlastung der Kinder durch die damalige Erziehung. A.d.H.) erhalten. Diese Frage gehört zu denen, die gegenwärtig auf das Lebhafteste die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit beanspruchen; und sie verdient es in jeder Hinsicht. Heute veröffentlichen wir eine Studie zu diesem Thema, mit der Monsieur Piere de COUBERTIN sich an uns gewandt hat. Unser ausgezeichneter Mitarbeiter hat die an den großen englischen Universitäten angewandten Methoden beobachtet, die bei der jungen Generation die Entwicklung der physischen Kraft und der intellektuellen Fähigkeiten in ein Gleichgewicht bringen sollen. Auf der Grundlage der in England gewonnenen Ergebnisse schlägt der Autor die Lösung des Problems vor. ...
Die Akademie für Medizin ist bei dem edlen Ziel, die Überbelastung zu beseitigen, dabei, sich selbst zu überlasten. In einer beträchtlichen Anzahl von Sitzungen hat sie wohl eine noch beträchtlichere Anzahl von Referenten angehört, die wie ich glaube, keine Schwierigkeit gehabt haben, ihre Hörer von der Existenz dieses Schulübels zu überzeugen und von der Notwendigkeit, es verschwinden zu lassen.
Die Überbelastung – M. Jules SIMON hat sie geistvoll als „ein barbarisches Wort" bezeichnet, und man kann ihn für diese Schöpfung nicht tadeln, da sie ja dazu dient, eine Barbarei zu kennzeichnen. Die Überbelastung ist in diesem Winter groß in Mode. Ich glaube selbst, daß sie wahrhaftig die höchste Bestätigung durch die Öffentlichkeit erfahren hat, indem sie einen Platz in den Revuen und den Chansons der Kaffeekonzerte erhielt. Es wäre bedauerlich zu sehen, daß eine Frage, die so ernst ist und die es erfordert, mit einer großen Zurückhaltung behandelt zu werden, jetzt in ein Aufbegehren umschlägt und eines Tages zur fixen Idee wird. In Frankreich gelangt man nur zu leicht von einer Übertreibung in die andere, und so wie die Auffassung sich nicht ohne Hilfe eines Gesetzes oder Reglements durchzusetzen vermag, ist es mehr als sonst notwendig, vor überstürzten Reformen zu warnen.
Da die Krönung der geistigen Überbelastung die vergessenen Gesetze der Hygiene sind, könnte niemand die Akademie für
Medizin dafür tadeln, daß sich mit dem Problem befaßt. Aber daraus zu formulieren „den Wunsch, die großen Reformen zur Art und zu den Programmen auf den gegenwärtig gebräuchlichen Unterricht angewendet zu sehen― - davon ist man weit entfernt. Ist dieses Mittel gut? Man darf es bezweifeln. Gewiß arbeiten unsere Schüler zuviel. Ihre Programme sind zu umfassend, und der Unterricht selbst verdiente, eingegrenzt zu werden, denn man sollte nun klarer erkennen, daß dies besser ist, als v i e l e Dinge nur oberflächlich zu tun.
Aber wenn man sich darauf beschränkt, die Unterrichtsstunden zusammenzudrängen, dann verlohnt sich das wirklich nicht, ohne etwas an ihre Stelle zu setzen. Ging es lediglich um eine Verlängerung dessen, was man an den Colleges recreation (Erholung. A.d.H.) nennt? Es ist immer noch besser, daß die Kinder über ihre Schulbank gebeugt sitzen, als daß sie innerhalb der vier Mauern des Schulhofs einen verkrüppelten Baum umkreisen. Man hat offensichtlich für den Geist zuviel getan, aber man hat vor allem nicht viel für den Körper getan; die Zeit für die recreation zu erhöhen, heißt nicht, die Lücke zu schließen. Man kann den Kindern gut raten, zu spielen, aber was meint man, mit wem sie spielen, wenn man sie auf diese Schulhöfe loslässt, die schon für ein Sechstel von ihnen zu eng sind? Es ist dies wirklich eine fast ironische Empfehlung, und sie würde unsere Nachbarn in England und Deutschland mitleidig lächeln lassen. Ja, ich weiß, es gibt „Promenaden―. Diese ungesunden Wanderstrecken quer durch Paris. Kann man ohne Herzbeschleunigung ansehen, wie die langen Reihen von Schülern gezwungen sind, ihre wöchentlich schulfreie Zeit auf diese ungesunde Weise zu verbringen? Wenn man die Dauer ihrer Lernzeit verringert, dann wird es zweifellos z w e i dieser Promenaden pro Woche anstelle einer geben. Sicher ein schöner Fortschritt! Das ist nicht das rechte Mittel – wir müssen andere suchen. Viele unserer Pariser Oberschulen sind alte Bauten. Die Belüftung ist schlecht, die
Klassenzimmer sind meist ungesund. Man versteht, dass diese Bedingungen nicht günstig für die physische Entwicklung der Kinder sind, und alle getroffenen Hygienemaßnahmen können angesichts dieser Einrichtungen nur bejaht werden. ... Ich besuchte im Frühjahr das Lyzeum Janson de Sailly in Passy, Rue de la Pompe. Entlang der Gebäude verlaufen große offene Galerien, und die Fassaden sind aufgelockert durch farbige Steine, die einen „dem Auge angenehmen und gefälligen Eindruck― vermitteln, sagte mir mein Erklärer. Und noch mehr dank der durchdachten Anordnung eines Wandelganges kann man unter einem Schutzdach von einem Ende zum anderen des Lyzeums gehen. Gewiß spielt man dort nicht mehr als anderswo, trotz der Wandmosaiken, und die Kinder würden vielleicht allen diesen schönen Dingen einen großen Garten vorziehen, in dem sie ganz ungezwungen herumspringen könnten, selbst auf die Gefahr hin, dann und wann ein paar Regentropfen abzubekommen.
In dem gleichen Lyzeum Janson, wie in vielen anderen, gibt es eine Turnhalle und einen Fechtsaal. Der Sport ist auf diese Weise ausreichend vertreten. Gewiß spielt das Turnen eine Hauptrolle und ich verneine durchaus nicht das Fechten. Ich glaube jedoch, folgende Einschränkung machen zu müssen: Das Turnen hat seinen Platz in der Rekreation, und da es viele Schüler für ein Schwebereck gibt, kann jeder Schüler kaum mehr als eine Kippe pro Tag, mit Ausnahme von Donnerstag und Sonntag, machen...
Warum ist also die Turnhalle nicht immer geöffnet mit dem Recht der Kinder, ihren Bizeps immer dann zu stärken, wenn es ihnen gefällt? Solange das Turnen auf diese Weise reglementiert wird, wird es keine großen Dinge erwarten lassen. Was das Fechten angeht, gilt die gleiche Bemerkung. Der Lehrer kann sich jedem nur einige Augenblicke widmen, und wenn er die Anfänger einen gegen den anderen fechten lässt, nehmen sie falsche Gewohnheiten an, die sie in der Folgzeit hindern, ein guter Fechter zu werden. ...
Im Sommer gibt es kühle Bäder. Das gilt für zwei Monate im Jahr. In der übrigen Zeit wäscht man sich nicht. Es wird offenkundig, daß sich die Zahl derjenigen erhöht, die das System der Reinigung nützlich finden, um nicht zu sagen notwendig - sowohl für die Gesundheit als auch physisch und moralisch. Aber die Umsetzung der Theorie in die Praxis ist eine mühselige Angelegenheit. Alles in allem kenne ich e i n e Oberschule, die ein Schwimmbad besitzt, das Lyzeum in Vanves – übrigens mit einer ganz besonderen Sorgfalt organisiert. Unglücklicherweise war das Schwimmbecken nicht überdacht und im Winter nicht nutzbar.
Eine simple Parallele: In Starrow bei London zahlt jeder Schüler (es sind nur 400) ungefähr 35 Franc pro Jahr für den Unterhalt des Schwimmbeckens. Das ist nicht teuer. Ich weiß nicht, wieviel die Erstinstallation gekostet hat. ... Würde man die Turnhallen öffnen und Schwimmhallen bauen, wäre die bereits gestellte Frage der Überbelastung einen Schritt zu ihrer Lösung weiter, und zwar ohne, daß es nötig wäre, Unterrichtsstunden und Studium viel zu verkürzen. Jede hygienische Vorsichtsmaßnahme, jede Übung – militärisch oder nicht – können nicht die Spiele ersetzen. Es gibt in unserer Nachbarschaft ein Volk, das man gern in seinen in seinen sportlichen Neigungen als übertrieben einschätzt. Man braucht nicht zu befürchten, diesen Nachbar zu kopieren. Würde man es jedoch tun, könnte man vermeiden, in die gleichen Fehler zu verfallen, und man könnte es besser machen als der Nachbar ...
Was die Spiele anbelangt, ist es nicht genug, daß die Ermutigung von den Lehrern kommt. Was die Kraft in England ausmacht, ist, daß die Ermutigung von der gesamten Öffentlichkeit kommt. ... Die Öffentlichkeit bei uns blieb in dieser Hinsicht kühl. ... Das Problem ist also, in unsere schulischen Gewohnheiten Spiele einzuführen, die sich unter drei Aspekten abzeichnen: Verschiedenartigkeit, Gruppierung und Popularität.
Das heißt, sie müssen allen Altersstufen und allen Eignungen dienen, sie müssen von den Spielenden selbst organisiert werden, die sich auf ihre Art und Weise gruppieren, und daß die Spiele schließlich Wetteifer und Begeisterung wecken. Hierbei gibt es ernsthafte Schwierigkeiten zu überwinden, von denen einige besonders typisch für Frankreich sind.
Die erste Schwierigkeit ergibt sich aus der Situation unserer Oberschulen, die fast alle in Städten konzentriert sind, in Hauptorten der Departements oder in großen Industrie- und Handelszentren. Man findet kaum Ausnahmen. ... Man könnte antworten, daß es falsch sei, Oberschulen anderswo als auf dem Lande zu errichten. Da es weniger bevölkert ist, könnte alles um so besser gehen. Aber das sind Reformen, vor allem die erste, die sich nicht von heute auf morgen realisieren läßt. Es ist gut, mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge zu rechnen und sich dann zu einem Zeitpunkt zu einigen, da man weiteres tun kann.
Gelände zu finden, ist der erste Punkt. Es ist überall schwierig - in Paris scheint es unmöglich zu sein. ... Es wäre notwendig, daß jede Oberschule außerhalb ihres Gebäudes ein Feld beachtlicher Größe hätte. Man könnte dort in 4 aufeinanderfolgenden Stunden zweimal in der Woche spielen. ... Im Winter könnte man Fußball vorsehen, das erfordert keine hohen Anlagekosten. Im Sommer waren es Cricket oder Rasentennis, die an unseren Oberschulen Freude schaffen. Letztere Sportart, an der man in Frankreich Geschmack zu gewinnen beginnt, setzt eine sorgfältige Ausrüstung voraus, Schläger und Bälle. Aber dessenungeachtet kann man sich mit einem befestigten Sandboden oder Asphaltboden begnügen, das reduziert die Kosten beträchtlich. ... Es ist ein ausgezeichnetem Spiel, sehr interessant, es schult die Disziplin und weckt den Kollektivgeist. ... Die Aufzählung der weiteren Spiele, die es verdienten, bei uns eingeführt zu werden, würde zu lang. Jede Saison hat ihre Anhänger, und man kann sagen, daß es für jeden Geschmack etwas gibt. Man findet jedoch noch
andere Formen der Unterhaltung. In der Mehrzahl der englischen Oberschulen existieren sogenannte Werkräume, in denen sich die Schüler mit unterschiedlichen Arbeiten der Tischlerei, ja sogar der Kunsttischlerei unter der Leitung eines erfahrenen Arbeiters beschäftigen. ...
Offensichtlich sind die größten Vorbehalte gegenüber solchen Neuerungen die Kosten, die sie verursachen. Gesetzt den Fall, die Oberschulen besäßen ein ziemlich entlegenes Spielterrain, dann muß man an die die Gelder für den Transport dorthin denken. ... Aber die Eisenbahn gibt Dauerkarten, und die Kosten könnten minimal sein.
In Frankreich tritt die Frage des Geldes manchmal in einer sehr unglücklichen Form auf. Wir haben die Besonderheiten des Gleichheitsgeistes. Das ist nicht immer tadelnswert. Aber unter dem Vorwand, nicht ausgerechnet die weniger Reichen zu benachteiligen, benachteiligt man jene, die mehr für eine echte Kostenverringerung tun könnten. ... Wenn die Erziehungsgebühren steigen, ließe sich das ausgleichen, wenn man die Kinder weniger Jahre die Oberschule besuchen läßt, oder den Schulbesuch später beginnt. ... Das aber gefällt jenen Eltern nicht, die danach streben, die Kinder los zu sein. Was Stipendien oder Halb-Stipendien anbelangt, müssten diese im Wettbewerb abgestimmt werden. Man wäre dann zumindest gewiß, daß sie nicht die Kinder treffen, die nicht in der Lage sind, daraus Nutzen zu ziehen. ... Das gleiche falsche Streben nach Gleichheit, könnte dazu führen, dass die einen für die anderen bezahlen - das wäre ein kapitaler Fehler. Aber diese ganz persönlichen Gedanken werden vielleicht nicht von der Mehrheit unserer Leser geteilt. Übrigens bin ich auch vom Thema abgewichen.
Der Staat, der bei uns eine so wohlhabende Persönlichkeit ist, könnte, wie mir scheint, Gelände abgeben oder verpachten. Ist es zuviel, seine Großzügigkeit zu erwarten, und hat er nur ein Herz für das, was mit der Politik zusammenhängt ? Wir hoffen nein. ... Es ist der Sport, der das zerbrochene Gleichgewicht wieder festigt. Er muß seinen
markierten Platz im Gesamtsystem der Erziehung haben, er muß es durchdringen. Dann wird man bald seine Vorteile erkennen: physische Vorteile, denn er ist es, der die Gesundheit stabil erhält; moralische Vorteile, denn er schafft ruhige Sinne und Vorteile und entspannt die Nerven; selbst soziale Vorteile, denn er dient dazu, in die Gesellschaft der Kinder die Regeln hineinzutragen, die die Gesellschaft der Menschen beherrschen. Er schafft einen gekräftigten Körper, einen Willen, der den Körper beherrscht und ihn anregt. Die Menschen werden schließlich Respekt vor der Autorität haben, anstelle der revolutionären Verbitterung, die immer in Rebellion gegen die Gesetze steht.
Noch einmal: Die Leichtathletik-Europameisterschaften in Athen 1969
DOKUMENTATION
Im Oktober 1965 hatte das Europa-Komitee der Internationalen Leichtathletik-Föderation die IX. Leichtathletik-Europameisterschaften für das Jahr 1969 nach Athen vergeben. Der Militärputsch am 21. April 1967 veränderte die politische Situation in Griechenland gründlich. Tausende politisch linksstehender Persönlichkeiten wurden verhaftet, auf KZ-Inseln inhaftiert oder ermordet.
Der Leichtathketik-Verband der DDR bekundete vor der Abreise seiner Mannschaft nach Athen, dass seine Teilnahme an der Europameisterschaft allein dem Reglement zuzuschreiben sei, das den Start in jenem Land vorschreibt, an das die Internationale Föderation die Wettkämpfe vergeben hat. Beim Einmarsch zur Eröffnungsfeier
verzichtete die DDR-Mannschaft darauf, vor der Ehrentribüne die der Mannschaft vorangetragene Flagge zu senken, wie es gemeinhin üblich ist.
Sportlich wurden die IX.Europameisterschaften zu einem überzeugenden Erfolg für die DDR: Mit elf Gold-, sieben Silber- und sieben Bronzemedaillen belegte sie den ersten Rang im Medaillenspiegel. Auf den ersten Plätzen folgten die UdSSR (9/7/8), Großbritannien (6/4/7), Frankreich (3/4/-), die CSSR (2/1/2) und Polen (2/-/5).
Die in den DDR-Zeitungen damals als Mannschaft Westdeutschland/Westberlin bezeichnete BRD-Mannschaft kam mit 1 Silber- und 2 Bronzemedaillen auf den 16. Rang. Die Mannschaft hatte allerdings beschlossen aus Protest gegen die Startverweigerung für den Mittelstreckenläufer Jürgen May nicht an den Wettkämpfen teilzunehmen. Als die griechische Obrigkeit durchblicken ließ, dass sie diesen Schritt als unfreundlichen Akt empfinde – angesichts der politischen Situation in Griechenland musste die Entscheidung als politische Konfrontation der BRD gegenüber dem Obristenregime gedeutet werden, was jedoch vermieden werden sollte – und androhte, das olympische Feuer für die 1972 in München stattfindenden Spiele nicht in Olympia entzünden zu lassen, wurde entschieden, an den Staffelwettbewerben der EM teilzunehmen. Es blieb dies in der Geschichte der Europameisterschaften ein einmaliger Vorgang.
In den Medien der BRD löste die Entscheidung der Mannschaft einen heftigen Streit aus. Zu erklären wäre noch, dass Jürgen May illegal die DDR verlassen hatte und nach dem Reglement der Internationalen Leichtathletikföderation eine dreijährige Sperre hinzunehmen hatte, weil er von einem Verband – für den er bereits bei Europameisterschaften gestartet war – zu einem anderen gewechselt war. In einer am 17. September von der BRD-Mannschaft in Athen verteilten Erklärung hieß es: „Nach ihrer (bezog sich auf die Mannschaft. A.d.A.) Überzeugung ist es erforderlich, dass
den besonderen Verhältnissen in Deutschland (z.B. das fehlende Recht des freien Wohnungswechsels nach Westdeutschland) in der Satzung der IAAF, insbesondere deren Zulassungsbestimmungen, Rechnung getragen werden muss. Es darf nicht möglich sein, dass Regeln bestehen, nach denen Entscheidungen gefällt werden, die auch die IAAF nicht befriedigen können...―
Die folgende Dokumentation basiert ausschließlich auf Zitaten bundesdeutscher Zeitungen des Jahres 1969:
„Der Abend“ (16. September)
„Dr. Danz hatte es gewußt: Jürgen May ist gesperrt... Der Brief, in dem Adrian Paulen, der holländische Präsident des IAAF-Europa-Komitees, den DLV-Präsidenten eingehend unterrichtet hatte, ist vom 21. August datiert. ..."
BILD (17. September)
„... Stufe eine wurde am späten Sonntagabend gezündet. Da erfuhr die Mannschaft erstmals davon, daß Jürgen May vom Internationalen Leichtathletik-Verband... aus der Startliste gestrichen worden war. Die Mannschaft des DLV sah darin einen politischen Beschluß, der die deutsche Situation nicht berücksichtigt. ...―
„Die Zeit“ (26.September)
„... Nicht genug damit: Danz unterrichtete später in Schwetzingen auch noch seinen Vorstand, insgesamt fünf Herren. Doch keiner erkannte offenbar den politischen Zündstoff und die Notwendigkeit, einen solchen Vorfall, wie es heißt, ’transparent’ zu machen. ..."
„BILD“(17. September)
„Bild sprach mit Frau May...
Bild: Wußten Sie schon vorher Bescheid?
Bärbel May: Ja, zwei Tage vor der Abreise nach Athen ließ Dr. Danz in einem Gespräch mit meinem Mann durchblicken, daß es Schwierigkeiten geben würde. Und da war mir schon klar, daß Jürgen wohl nicht starten darf. ...―
„DIE WELT“ (18. September)
„... Der Paragraph 12 besagt, daß Athleten, die einmal ein Mitglied der IAAF (also einen Verband) bei internationalen Meisterschaften vertreten haben, nicht mehr für einen
anderen Verband starten dürfen, es sei denn bei folgenden Ausnahmen. Die Ausnahme im Absatz 9e lautet: '... bei einem Wechsel in der Nationalität durch Naturalisierung oder Registrierung in einem anderen Lande oder durch anderes Ersuchen nach Staatsbürgerschaft in der Art, die in diesem Lande gesetzlich anerkannt ist, vorausgesetzt, daß der Nachsuchende mindestens drei Jahre in diesem Lande ansässig war, von dem letzten Tage an, an dem er sein früheres Land vertrat.'―
„DER TAGESSPIEGEL“ (18. September)
„... So verstaubt ..., ist der Punkt 9e des Paragraphen 12 gar nicht; er wurde erst auf dem IAAF-Kongreß 1964 in das Reglement aufgenommen. Vorher hätte für einen Athleten beim Wechsel von Verband zu Verband überhaupt keine Chance bestanden, jemals für den neuen Verband an Olympischen Spielen oder Europameisterschaften teilzunehmen, wenn er dies zuvor bereits als Mitglied eines anderen Verbandes getan hatte. ..."
„WETZLARER NEUE ZEITUNG“ (17. September)
„Eine Regel des Internationalen Leichtathletikverbandes sagt klar und deutlich, daß Sportler, die die Staatsangehörigkeit wechseln, nach vollzogenem Wechsel automatisch drei Jahre für Olympische Spiele und kontinentale Meisterschaften gesperrt sind. Seitdem die DDR als selbständiger Verband von den internationalen Sportverbänden anerkannt ist, zählen die beiden deutschen Mannschaften jede ... für sich. Auch das ist bekannt. ...
„BILD“ (16. September)
„... Bleibt hart, deutsche Leichtathleten! Laßt Euch nicht länger von internationaler Funktionärswillkür an die Wand drücken! Kommt lieber wieder nach Hause, statt zweifelhaften Kompromissen nachzugeben! Pfeift auf die Medaillen, ... Die Konsequenzen: Der Marquess of Exeter hatte nämlich gestern abend durchblicken lassen, daß eine Abreise der deutschen Mannschaft einen Bruch der IAAF-Regeln bedeuten würde. Und daß dieser Verstoß
möglicherweise eine einjährige internationale Sperre zur Folge haben könnte. ...
Denn Tatsache ist, wenn der Internationale Leiohtathletik-Verband die Streichung von Jürgen May nicht zurücknimmt, wäre jeder Sportler, der jetzt noch aus der Zone in die Bundesrepublik flüchten würde, für die Olympischen Spiele in München für die Bundesrepublik nicht startberechtigt. ..."
„BILD“ (17. September)
„Bonn begrüßt den Verzicht der Leichtathleten. Die Bundesregierung hat gestern die Entscheidung der Leichtathleten begrüßt. Ein Regierungssprecher: 'Wir begrüßen es, daß die deutsche Mannschaft aus Solidarität und sportlicher Kameradschaft mit Jürgen May den Beschluß gefaßt hat und nicht dem Rat ihrer Funktionäre gefolgt ist.―
„FRANKFURTER ALLGEMEINE“ (18. September)
„Zu ihrer Solidarität mit Jürgen May hat der Vorsitzende den CDU-Bundesfachaussohuß Sport, der Bundestagsabgeordnete Dr. Manfred Wörner, die in Athen weilende Leichtathletik-Mannschaft der Bundesrepublik beglückwünscht. Wörner sieht in der Haltung der Sportler die ’klare Weigerung, sich politischen Erwägungen zu beugen’.
„BILD“ (23. September)
„Silberner Lorbeer für Jürgen May. Nun greift auch der Bundesinnenminister den BILD-Leservorschlag auf! Minister Benda hat angeregt, Jürgen May, den 'Betrogenen von Athen', mit dem Silbernen Lorbeerblatt auszuzeichnen. May soll bereits am Wochenende beim Länderkampf gegen Großbritannien in Hamburg dekoriert werden. ..."
"FRANKFURTER ALLGEMEINE" (24. September)
„... Aber daß der Bundesinnenminister dem Mitgefühl für May die Krone damit aufsetzen will, daß er ihm die höchste Sportauszeichnung, das Silberne Lorbeerblatt, verleihen lassen will ..., das ist leider gar nicht gut. Das sieht nämlich wenige Tage vor der Wahl nach Popularitätshascherei aus.
"FRANKFURTER RUNDSCHAU" (18. September)
„... Hier vollzog sich eine politische Enthüllung, die für die Bundesregierung und die von ihr bis zur Stunde verfochtene Politik des Nichtzurkenntnisnehmens von Tatsachen eine weitere schwere
Niederlage darstellt. Mit frommem Wunschdenken, wonach die DDR kein Staat ist, weil sie nach Bonner Ansicht keiner sein darf, ist heute nicht einmal in der Sportwelt Beifall zu holen. Es mag schön und edel klingen, daß Jürgen May mit seiner Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik nicht auch seine Staatsangehörigkeit gewechselt habe, weil es keine zwei Deutschländer gebe. Aber im Ausland wird diese spezielle Feinheit bundesdeutscher Politlogik schlichtweg nicht gesehen. Dort hat man sich den Blick für Realitäten nicht durch eine Bonner Spezialbrille trüben lassen. Und wenn dann noch gar Statuten hinzukommen, wie die des Internationalen Leichtathletik-Verbandes, die mühelos die simple Auslegung zulassen, wonach die DDR ein Staat ist, dann gehört schon Mut der Verzweiflung oder grobe Verantwortungslosigkeit dazu, Jürgen May doch ins Athener Feuer zu schicken. ...―
JÜRGEN MAY (April 2005)
Die Redaktion der „Beiträge zur Sportgeschichte― legte Jürgen May diese Dokumentation vor und bat ihn um Stellungnahme. Sein Kommentar: „Sachlich und korrekt recherchiert. Ich selbst hatte in jener erwähnten Versammlung der Mannschaft alle dazu aufgerufen, sich nicht an dem Boykott zu beteiligen und auch darauf hingewiesen, dass ich nicht die Last der Verantwortung tragen wolle, die Athleten um ihre Chancen gebracht zu haben.―
Friedensfahrt-Momentaufnahmen
Von ARMIN MÜLLER (†)
Der am 7. Februar 2005 in seiner Heimatstadt Weimar verstorbene Dichter und Maler Armin Müller hatte 1966 auf Einladung der Friedensfahrt-Organisatoren das Rennen begleitet und diese „Momentaufnahmen“ geschrieben. Sie gehören zu den Schätzen der modernen Sportliteratur.
1
Es ist, als rutsche das Meer, diese blaue, ungeheure Fläche, plötzlich nach unten weg, der rechte Tragflügel wächst in den Himmel, links die grüne, die dunkle Ebene kippt nach oben, so als rolle eine Landkarte sich auf, wird größer, breiter, deutlicher. Eine Straße, schnurgerade, schiebt sich heran. Baumschatten erkenn ich auf durchlöchertem Asphalt; es muss geregnet haben, Pfützen spiegeln herauf. Manchmal, im Fernsehen, hat man einen ähnlichen Blick: Tief unten, zwischen den Bäumen, ganz langsam, zieht ein buntes, zusammengedrängtes Rudel dahin: die Fahrer.
2
Aus der Nähe sieht man sie nie. Jedenfalls nie ganz. Am Straßenrand, irgendwo zwischen den Kilometersteinen, eingekeilt in die schwankende, drängende Mauer, bleibt einem nur ein schmaler Spalt. Man steht und wartet, man kennt ihre Gesichter, man hat sich die Farben der Trikots gemerkt, ihre Rückennummern notiert, die Sonne kommt steil von oben, es riecht nach Limonade und Teer, und das Warten will kein Ende nehmen, doch da ist plötzlich ein Murmeln, ein Rufen, ein Schulterrecken, das Pflaster vibriert, man spürt es deutlich, es summt unter den Schuhen, man will nach der Startliste schaun, doch das geht nicht, man ist umzingelt, die Mauer wankt, ein Schwirren und Sirren wird laut, das Rascheln sehr naher Papierfähnchen, dann sind SIE da.
Dagewesen.
Kaum dass man das Gesicht des einen oder des anderen hat ausmachen können, verschwitzt, verstaubt, entfernt sich der Pulk, beinahe geisterhaft, eine knisternde flirrende Wolke, von der ein hoher, sehr feiner Ton ausgeht, ein Singen fast; man sieht die Wolke davonziehn, rasch, sehr rasch, rote, weiße, grüne, blaue Rücken, schmale, gekrümmte, vornübergebeugte Rücken. Das alles geht unter im Gedröhn,
im Staub der Begleitfahrzeuge. Man steht da und hält das Blatt mit den Startnummern in der Hand. Die Polizisten lassen die Seile fallen. Die Absperrung ist aufgehoben.
3
Ein kleiner weißer Punkt springt auf, fliegt aus dem Dunkel des Tunnels ins grelle Licht, in den ohrenbetäubenden Lärm, mitten hinein ins Spalier der Fähnchen. Und wieder, sehr rasch, sehr dünn, zwischen den Fähnchen, den Schultern, den Armen, dieser gekrümmte Rücken, wirbelnde Knie, wie mit Öl übergossen, das Glitzern der Speichen, fast phosphoreszierend, dann ein Aufschrei, zwei in die Luft gerissene Arme, und das Meer der Reporter, der Begleiter, der Fotografen nimmt den Sieger auf, verschluckt ihn, begräbt ihn.
4
Die Männer an den Mikrofonen überschrein sich, ihre Konkurrenten an den Pressetelefonen überbieten sich. Wie ein Rausch ist das. Eine Flut bricht hervor, gewaltig, weiße Schaumkronen, eine donnernde Gischt:
GIGANTEN, RITTER, KAPITÄNE, STRATEGEN, HEROEN.
Wir leben in einer lauten Welt. Beinahe von selber stellen sich Superlative ein, wir sind sie gewöhnt, und es geschieht ganz selbstverständlich, daß wir daheim, an den Lautsprechern, am Bildschirm, beim Frühstück, die Giganten, Ritter, Kapitäne, Strategen und Heroen uns so vorstellen: Berserker, Riesen, strahlende Helden, Tarzans Söhne.
5
Abends seh ich sie in ihr Hotel kommen, einen nach dem anderen. Schmächtige Burschen, schmal, müde, klein wie Jockeys, Hänflinge. Sie schieben ihr Rad vor sich her,
manche lachen ein bißchen oder rufen sich eine Bemerkung zu, und manche sagen gar nichts.
Der Mann in Gelb, flankiert von einem Stoßtrupp gewaltiger, mächtiger Leute, solchen in Trainingsanzügen und solchen in blitzsauberen Nylonhemden, duckt sich unter der lauten Woge, die im Foyer über ihm zusammenstürzt. Beinahe ängstlich wirkt er, verschüchtert. Einem Eleven vom Städtischen Ballett sieht er ähnlicher als einem sieggewohnten Athleten. Die Nummer Eins des Feldes, der RITTER der Landstraße, der STRATEGE, der GIGANT ist klein und müde.
6
Irgendwo in Paris ist er zu Hause, in einer Straße, die ich nicht kenne, die ich mir nur vorstellen kann. Fassaden, von denen der Putz bröckelt, spitze Giebel mit blechernen Dachrinnen. Auf dem Hof, vielleicht, balgen sich Kinder mit einer schwarzen Katze, und irgendwo, unter einem Torbogen oder zwischen den Schornsteinen auf dem Dach, spielt jemand auf einem Akkordeon. Ich weiß, daß auch Bernard oder sein Bruder oder der Vater, vielleicht alle drei. früher auf einem solchen Akkordeon gespielt haben, abends, wenn die Mutter den Tisch abräumte, oder sonntags, wenn es nach frischer Wäsche und gescheuerten Dielen roch. Ein Rennrad ist teuer. Eine Harmonika auch. Und der Vater, selber Rennfahrer gewesen, voller Erinnerungen, voller Erwartungen, nahm das Akkordeon, ging in die Stadt, versetzte es auf dem Markt oder sonstwo und kaufte Bernard ein blitzendes teures Rennrad. Am selben Abend noch, unter der schrägen Sonne, begann für den Jungen jener harte und lockende, durch Sommer und Winter und Winter und Sommer geschlagene, siebenmal verfluchte und achtmal gelobte Asphalt- und Katzenbuckel-, Regen- und Staubweg, der ihn über Brücken und Serpentinen, durch Tunnels und Schluchten, über Stein und Sand und Schnee bis in dieses laute, geschäftige, nervöse Foyer geführt hat, durch das er jetzt, müde, todmüde, sein dünnes Rennrad schiebt. Bernard Guyot, der kleine Franzose, der Spatz, der Hänfling, der Heroe.
7
Wir tuckern, wir gleiten, wir rasen im Keil der Begleitfahrzeuge durch Wolken von Staub, durch Lichtschreie, durch Explosionen von Auspuffgasen. Hinter uns, umschwirrt, umdonnert, umtost, die Fahrer, unbeeindruckt, wie es scheint, gleichmütig, stoisch. Vor den Ortschaften, den engwinkligen Gassen, dem Kopfsteinpflaster, den Sommerwegen, zieht das Tempo der Wolgas, der Skodas, der Wartburgs ruckartig an, dann schießen die Hirsche davon, dann stürzt der Apfelbeutel vom Armaturenbrett, dann heißt es: festhalten. Reifen quietschen, Strohballen kratzen, rechts wird überholt und links, Rufe neben uns, über uns, hinter uns, eine rollende Brandung, Echo wie: Sie kommen, kommen, kommen, ...men, ... men, ... men.
8
Im Durcheinander, im Gedränge eines solchen Augenblicks muß es passiert sein: Einer der Fahrer, kaum bemerkt, ist auf und davon. Plötzlich, neben den Kotflügeln, ganz nah am Rand der Straße, leuchtete ein roter Fleck auf, sekundenschnell, zwei Schultern im wuchtigen Auf und Nieder. Hinter der nächsten Kurve schon, verdeckt von winkenden Armen, von einer wie ein Turm aus dem Autodach ragenden Kamera, ist er verschwunden.
9
Ein rotes Trikot? Wir sehn uns an. Nie ist einer der Marokkaner vorn gewesen. Was für die Spitze der Fahrer, für die ersten des Feldes, ohne Bedeutung ist, wird für uns und für Zehntausende an der Strecke zur Sensation. Ein Marokkaner ist dem Feld davongeflogen!
Die Straße ist plötzlich leer; weit und breit keine Ortschaft, keine Zäune, keine Gärten, nur Wiesen, Baumgruppen, Felder. Die Tachometernadel zittert. Da heult es hinter uns auf, ein jäher anschwellender Ton, zwei Lichtaugen rasen auf uns zu: der marokkanische Materialwagen. Hinter der
Windschutzscheibe, vom Fahrtwind umjagt, steht ein Mann aus dem Norden Afrikas, der Chef der Equipe, aufrecht, wie ein Feldherr im Film. Etappe um Etappe hat er dem Feld hinterherzuckeln müssen. Jetzt, in dieser Minute, wächst er um Zentimeter. Ein Kommandeur stößt nach vorn.
10
Aus der Minute, dem jähen Ausbruch, sind Stunden geworden. El Faruki, dessen Name plötzlich in aller Munde ist, den die unruhigen Mauern an den Rändern der Strecke flüstern, schreien, rufen, den die erstaunten Radioreporter erst ungewohnt, dann immer flüssiger sprechen, El Faruki hat den entschlossenen und dennoch aussichtslosen Kampf bis zum Ende, zum bitteren Ende geführt. Ganz allein, ohne den Windschatten, die schützende Geborgenheit des Rudels, hat er Kilometer um Kilometer, Minute um Minute, Stunde um Stunde, bezwungen. Er hat gewusst, dass hinter ihm die Routiniers, die großen Namen, die einander belauern wie Katzen, ihn hetzen werden, er hat sie in seinem Nacken gespürt, er hat sich umgeschaut, immer wieder, hat Prämie um Prämie gewonnen, zeitweilig einen Vorsprung von vier Minuten herausgeholt, herausgesprengt, herausgebissen, und hier, in dieser Stadt mit ihren Schornsteinen und Geleisen, nach einhundertundvierzig einsamen, zerstörerischen Kilometern, kurz vor dem Ziel, umbrandet vom Jubel, da tritt er noch einmal, verzweifelt fast, in die Pedale. Doch die Jäger, erbarmungslos, sind heran. Sie fressen ihn.
11
Im Schlaf noch, nach siebenhundert Kilometern, seh ich sie: wie auf eine Schnur gereiht, Fahrer hinter Fahrer, rote, blaue, grüne, weiße Trikots, blitzende Felgen, Reflexe von Licht. Silhouetten, die sich ineinander-schieben, sich ausdehnen, wieder zusammenrücken. Ein Schattenspiel. Ein Farbenspiel. Die breite Front der Fahrer. Ihr spitzer Keil. Die Kette, die zu zerspringen droht, an deren Enden eine unsichtbare Kraft zerrt. Die Straße steigt an, die Straße fällt ab. Bildwechsel. Bildschnitt. Blende: Gesichter, über den Lenker gebeugt. Die Stöße der Knie. Blicke nach vorn, nach hinten. Blicke zur Seite. Lauernde Blicke, rasche Blicke. Dann: ein Ducken, ein Stemmen. Wie von einer imaginären Sehne abgeschossen, schnellt, schwirrt, schießt ein Pfeil nach vorn. Und wieder: Silhouetten, die sich ineinanderschieben, sich ausdehnen, wieder zusammenrücken. Minute um Minute, Kilometer um Kilometer. Und irgendwo, weitweg, hinter der Menschenmauer, den Fahnen, den Böllerschüssen, spielt jemand auf einem Akkordeon. Der Balg, wie er sich dehnt und wieder zusammenschiebt. Das Feld, wie es sich auseinanderzieht und wieder knäult.
12
Da steht er, der kleine Bernard, mit blauen, zerrissenen Lippen, blaß, ein wenig verwirrt, so als wolle er das alles noch nicht glauben: das hölzerne Podest unter seinen Füßen; das tosende, schäumende Oval, in dessen Zentrum er steht, kopfhoch über den anderen; der Regen, der auf die Instrumente der Musiker fällt; und dann: die Taube, eine weiße Taube. Nur für Augenblicke hat er ihr Gefieder gespürt, weich und leicht, die Wärme der Taube, deren Zeichnung er tausendfach gesehen hat, gedruckt und gemalt, gekratzt und gepinselt, an Mauern, auf Stein und Asphalt, und die nun, von seiner Hand ins Licht gehoben, über Köpfe, über Wogen von Armen und Fähnchen steigt, in die Wolke des Jubels, höher und höher, eine sanfte Schleife ziehend, eine steile Spirale, in
den Himmel hinein, in den Himmel dieser geteilten, unruhigen Stadt.
LEBENSSPUREN
Von WERNER SCHMIDT
Der frühere Direktor der Kinder- und Jugendsportschule Zella-Mehlis, Werner Schmidt, schickte uns einen Gedichtband, der den Untertitel „Aus den Erfahrungen meines Lebens“ trägt. Wir wählten das folgende Gedicht aus:
Siege sind -
Süß!
Niederlagen –
bitter.
Wenn Du gewonnen hast, -
übernimm Dich nicht
beim Auskosten
der süßen Früchte.
Du läufst dann Gefahr,
daß sie bald -
ehe Du Dich versiehst -
bitter schmecken!
betrete
nach dem Wettkampf das Siegerpodest
mit Stolz -
auf Dich - auf uns!
Auf dem Rückweg
zu Deinen Freunden
überlege Dein Verhalten,
das Dich würdig
zu neuen Erfolgen führt.
Sei stolz - und kämpfe noch besser!
Otto Nitze – ein Leben für den Radsport
Von GÜNTER GRAU
Magdeburg galt vor dem Zweiten Weltkrieg als die Stadt der Radsportler. Ein wenig stolz waren die Elbestädter auf diesen Beinamen schon. Eine Begründung dafür lag in der Tradition, denn bereits ab 1869 hatte sich das Radfahren, der Sport und alles was dazu gehört an der Elbe zunehmend ausgebreitet. Tausende Arbeiter kamen vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Fahrrad aus den umliegenden Dörfern zur Arbeit und Vereine schossen wie Pilze aus dem Boden.
Nicht unbeeinflusst davon waren auch die drei Brüder Curt, Ernst und Otto Nitze. Alle drei wurden Radsportler. Besonders erfolgreich war Otto, dessen ganzes Leben von dieser Sportart geprägt wurde.
Der aus Magdeburg gebürtige Schlosser begann seine aktive Rennlaufbahn 1910 in seiner Heimatstadt. Siege in der Meisterschaft von Magdeburg und Halle im Jahre 1913 und noch einmal in Magdeburg im darauf folgenden Jahr waren seine ersten Erfolge, bevor zwischen 1914 und 1919 für ihn eine Zwangspause folgte. 1920 vermochte er sich dann auf Anhieb erneut die Meisterschaft von Magdeburg zu sichern,
ehe in den folgenden Jahren Siege in klassischen Straßenrennen folgten.
So gewann er 1921 „Quer durch die Lüneburger Heide― und „Magdeburg – Quedlinburg – Magdeburg―, 1923 „Rund um die Altmark― und den „Großen Handelspreis von Magdeburg―, 1924 „Rund um die Hainleite―, „Rund um Magdeburg―, „Rund um die Altmark―, „Quer durch Anhalt―. Bei „München – Berlin― wurde er hinter Kohl genauso Zweiter, wie er in der großen Fernfahrt „Zürich – Berlin― über 1010 km hinter Peter Rösen den Ehrenplatz belegen konnte.
Ein Erfolg, den er gern gefeiert hätte, blieb ihm allerdings versagt. Die Harzrundfahrt, den Klassiker des deutschen Radsports mit Start und Ziel in Magdeburg.
Dabei hatte er 1928 als Berufsfahrer beste Chancen. In der Spitzengruppe liegend hatte sein Stallgefährte, der Schweizer Blattmann, einen Raddefekt. Der Manager legte fest, dass Otto dem Eidgenossen sein Rad geben musste. Damit war der Traum vom Sieg vorbei.
Statt dessen erhielt Nitze das Geld für eine Zugfahrkarte von Halberstadt nach Magdeburg.
Eine schmerzliche Episode für ihn.
Nach Beginn des Aufbaus der demokratischen Sportbewegung im Osten Deutschlands stellte sich Otto Nitze, gerade erst von einer schweren, langwierigen Krankheit genesen, sofort als Funktionär zur Verfügung.
Seit 1954 leitet er als Fachausschuss-Vorsitzender die radsportliche Arbeit im Bezirk Magdeburg und hat wesentlichen Anteil an den schönen Erfolgen, die gerade dieser Bezirk Jahr für Jahr insbesondere auf organisatorischem Gebiet erringen konnte. Unter seiner Regie wurde die „Harzrundfahrt― wieder zu einem bedeutenden internationalen Rennen, das jährlich im UCI-Kalender stand, und mit dem „Harzer Bergpreis― wurde mit der Unterstützung der Zeitung „Tribüne― ein Rennen ins Leben gerufen, das jetzt schon über eine gute Tradition
verfügt. Auch in der Massensportarbeit brachte Otto Nitze mit seinen getreuen Helfern seinen Bezirk wesentlich voran.
Mit der Schaffung der Kleinen Friedensfahrt schuf er einen Wettbewerb für nichtorganisierte Schulkinder, in deren Folge einige spätere Weltmeister und Olympiasieger ihre ersten Schritte im Radsport vollzogen haben.
Für seine Verdienste bei der Entwicklung des Radsports in der sozialistischen Sportbewegung der DDR wurde Otto Nitze mit der goldenen Ehrennadel des DTSB und vielen anderen Ehrungen ausgezeichnet.
1963 riss ihn der plötzliche Tod mitten aus seinem Schaffen. Er hatte sein ganzes Leben dem Radsport gewidmet und sollte als ehrendes Beispiel den folgenden Generationen unvergessen bleiben.
Kluge Köpfe schnelle Beine
(Auszug aus dem gleichnamigen Buch, 1963 im Sportverlag Berlin erschienen)
„Otto Nitze warb die ersten Freunde für den Plan in der Redaktion der Magdeburger `Volksstimme´... Auch die FDJ lieh ihm ein offenes Ohr, denn schließlich ging es hier um die Jugend. In den Rathäusern nickte man ebenfalls... Otto Nitze hatte seine Mannschaft beisammen und ging ans Werk. Die Kreisvorstände des DTSB wurden durch einen Brief auf den bevorstehenden Besuch aufmerksam gemacht. In jedem Kreis wurde das Projekt genau erklärt. ... Natürlich waren da auch Kreisvorstände ..., die behaupteten, noch nie einen radfahrenden Jungen in ihrem Kreis gesehen zu haben, natürlich stieß man auch auf FDJ-Funktionäre, die darauf verwiesen, daß man gerade mitten in einer `Kampagne´ stecke und deshalb nicht über die Zeit verfüge, sich auch noch mit der Friedensfahrt zu beschäftigen. Derlei Argumente sammelte Otto Nitze sorgfältig. Kehrte er von seinen Expeditionen nach Magdeburg zurück, lieferte er sie in der Redaktion der `Volksstimme´ wie kostbare Beute ab.
Dort wurden sie in Druckerschwärze gewälzt, mit einer nicht selten beißenden Antwort versehen und auf die Walzen der Rotation gebracht. Der ganze Bezirk Magdeburg erfuhr von
dem gähnenden FDJler, der nicht verstehen konnte, daß die Friedensfahrt eine der besten Möglichkeiten zur Gewinnung der Jugend bietet, oder vom DTSB-Vorsitzenden, der die radfahrenden Jungen noch nicht gesehen hatte, weil er versäumte, sich danach umzudrehen...―
Hannes Horlbeck:
Der Vater mit dem großen Herzen
Von HELMUT WENGEL
Nomen est omen. Der steinerne Erfurter Roland, der als Wahrzeichen der alten Handelsstadt seinen Platz unweit der berühmten Krämerbrücke hat, fand anno 1968 eine höchst lebendige Entsprechung. Das war, als Roland Matthes bei den Olympischen Spielen in Mexiko City die hoch favorisierten Rückenschwimmer aus den USA bezwang und zwei Goldmedaillen mit in die Blumenstadt brachte. Eine von den nächsten zwei Goldenen, die der Ausnahmeathlet, der auf seinen Spezialstrecken acht Jahre lang ungeschlagen blieb, 1972 in München gewann, hat er seiner Trainerin Marlies Grohe geschenkt. Er nannte sie Mutter.
Diese Geste des Herzens hat seinerzeit auch einen Mann tief bewegt, der der Vater des Erfurter Schwimmsports war. Denn Hannes Horlbeck, als Cheftrainer der Schwimmer beim SC Turbine bis 1969 am Aufstieg zum Erfolg maßgeblich beteiligt, hatte einst schon die „Mutter― - unter deren Mädchennamen Marlies Geißler – Anfang der fünfziger Jahre zu DDR-Meisterehren im Brustschwimmen geführt. Damals, als er hauptamtlich als Buchhalter bei einem Erfurter VEB und nach Feierabend als Übungsleiter im Nordbad tätig war. Wenige Monate nach seinem 50. Geburtstag erlebte der Mann mit dem großen Herzen, der alle seine Schützlinge liebevoll „meine großen Kinder‖ nannte, eine Sternstunde nach Herzrasen. Sein 20-jähriger „Schmetterling‖ Jutta Langenau beglückte ihn im Sommer des Jahres 1954 in Turin mit dem Europameistertitel. Nach nervenzehrenden politischen Querelen waren den DDR-Schwimmern
buchstäblich im letzten Augenblick die Visa für Italien erteilt worden. Drei Stunden nach Mitternacht waren sie in Turin gelandet, knappe acht Stunden später stieg die Erfurterin als Vorlaufsiegerin und Weltrekordlerin (100 m in 1:16,6 min) aus dem Wasser und holte tags darauf das erste Schwimmgold. „Weltrekord mit Wut im Bauch‖, schmunzelte Horlbeck hinterher stolz, fügte aber auch hinzu: „Wir hatten gar keine Zeit, uns mit irgendwelchen Anpassungsproblemen herumzuschlagen‖.
Das war auch nicht nötig. Denn mit der ehrgeizigen Jutta hatte er, als sie noch Großmann hieß und die Freibäder in den Nachkriegsjahren wegen Seuchengefahr gesperrt waren, öfter mal in umliegenden Baggerseen trainiert. Bis dahin war der gebürtige Sachse, der Anfang der 30-er Jahre von den Plauener „Wasserratten‖ über Leipzig nach Erfurt gekommen war und sich in Lehrgängen des Schwimmsportverbandes zum ehrenamtlichen Übungsleiter qualifiziert hatte, eigentlich schon ein erfolgreicher Trainer. Was kaum noch einer weiß: Unter Horlbecks Fittichen reifte der Geraer „Neptun‖ Heinz Schlauch in Erfurt zu Thüringens erstem Weltklasseschwimmer. 1938 stellte Schlauch Europarekorde über 100, 200 und 400 m Rücken auf und fügte im Berliner Olympiastadion beim ersten Erdteil-Länderkampf der Geschichte dem bis dahin ungeschlagenen „Rücken-Giganten‖ aus den USA, Bill Neunzig, die ersten Niederlagen zu. Der weithin unbekannte „Vorschwimrner‖ von Roland Matthes starb im Februar 1945 als unbekannter Soldat an der „Westfront‖.
Horlbeck hat nie viel Aufhebens von seinen Erfolgen gemacht. Weder als Übungsleiter noch als Cheftrainer hat er den „harten Hund‖ gespielt. Der Mann, der sich als Autodidakt das theoretische Wissen über Trainingsmethodik erworben und dies nach den Kriegswirren im Erfahrungsaustausch mit Trainern aus der damaligen UdSSR und Ungarn („Die haben uns zum Glück nicht wie Verlierer behandelt...―) und als 60-jähriger Fernstudent (!) an der DHfK
vertieft hat, verstand den Sport als Lebenselixier für die Jugend.
Und für sich selbst. Bis kurz vor seinem Ableben im Oktober 1981 stand er am Beckenrand der jüngsten Erfurter Schwimmtalente. Als Übungsleiter.
Wie die Europameisterin ihn sah...
Aus dem 1979 in Berlin erschienenen Buch „Schwimmen in Vergangenheit und Gegenwart“ (S. 31)
... Jutta Langenau-Großmann blieb dem Sport auch später, nach Abschluß ihrer Laufbahn als Wettkampfschwimmerin, treu. 1955 schloß sie das Sportlehrerstudium mit ihrer Staatsexamenarbeit an der DHfK ab, einer Arbeit über das Dephinschwimmen. „Es war sehr wichtig für mich‖, sagte sie, „daß ich meinen Sport auch theoretisch durchdrang. Ich habe oft mit meinem Trainer Hannes Horlbeck zusammengesessen, und wir machten uns über diese neue Technik Gedanken! Damals war ja so gut wie kein Material darüber vorhanden. Wir konnten uns also nur auf das verlassen, was wir gesehen oder selbst probiert hatten.‖
Als Lehrerin und Mutter von drei Kindern war sich Jutta Langenau-Großmann, ihrer Verantwortung als sportliches Vorbild immer bewußt. „Mir kam es dabei stets darauf an, meine Schüler nicht nur zu guten Sportlern zu erziehen, sondern zu Menschen, die mit beiden Beinen in unserer Wirklichkeit stehen‖, sagte sie...
Einer der großen Trainer:
Ewald Mertens
Auskünfte von JÜRGEN MAY
FRAGE: Unsere Absicht, DDR-Trainer der Gründerjahre vorzustellen, bewog uns, Sie um Ihre Meinung über Ewald Mertens zu bitten. Der Teilnehmer an den Olympischen Spielen 1936 - er war über 800 m nach einem vierten Platz im dritten Vorlauf (1:55,1) und einem fünften Rang im Zwischenlauf (1:54,9) ausgeschieden - war seit dem Ende der vierziger Jahre Trainer in Halle und Erfurt. Erinnern Sie sich der ersten Begegnung mit ihm?
JÜRGEN MAY: Ewald Mertens lebte mit seiner Familie in meiner Heimatstadt Nordhausen. Mein erster Übungsleiter, Karl Reinhard, von der BSG Aktivist Nordhausen war ein Freund von ihm. Ich erinnere mich noch, dass sie im gleichen Haus wohnten. Mertens war mir schon vor unserer ersten persönlichen Begegnung ein Begriff, denn ich kannte schon seit meiner Schülerzeit alle Berichte über die Leichtathletikwettbewerbe bei den Olympischen Spielen 1936 aus dem bekannten, in blauem Leinen gebundenen Bildband einer deutschen Zigarettenfirma, fast auswendig.
Als ich im Frühjahr 1960 in Erfurt als A-Jugendlicher mit großem Vorsprung Bezirkswaldlaufmeister wurde, nahm mich Mertens zur Seite und eröffnete mir, dass er mich in der nächsten Woche mit den Erfurter Läuferassen Siegfried Herrmann, Manfred Matuschewski und Klaus Richtzenhain zum Trainingslager der besten DDR-Mittel-und Langstreckler nach Kienbaum bei Berlin mitnehmen wolle. Nach zwei Wochen Training in Kienbaum ging es direkt zu den Deutschen Waldlaufmeisterschaften in Berlin-Grünau und ich wurde, wiederum mit großem Vorsprung, DDR-Jugendmeister. Nach dem ich mein Abitur in Nordhausen abgelegt hatte, holte er mich sofort nach Erfurt.
FRAGE: Man erinnert sich daran, dass Ewald Mertens sich nicht nur um das sportliche Können seiner Athleten kümmerte. Trifft es zu, dass er sich auch intensiv um Ihre berufliche Entwicklung kümmerte?
JÜRGEN MAY: Mertens hat bei seinen Athleten immer darauf gesehen, dass die sportliche und berufliche Entwicklung möglichst im Gleichklang verliefen. Alle seine Erfurter Spitzenathleten haben sich unter seinem Einfluss über ihre gleichsam „mitgebrachte― Berufsausbildung hinaus, später weiterqualifiziert. Letztlich haben alle auch ein Studium absolviert. Ich selbst habe auf sein Anraten hin, nach dem Abitur zunächst eine Schriftsetzerlehre absolviert, dann in der Sportredaktion des Verlages zu dem die Druckerei gehörte, ein Volontariat abgeschlossen und begleitend dazu ein Studium an der DHfK begonnen.
FRAGE: Welches war Ihr größter sportlicher Erfolg, den Sie, betreut von Ewald Mertens, errangen?
JÜRGEN MAY: Ewald Mertens hat meine größten sportlichen Erfolge, wozu auch verschiedene Welt- und Europarekorde im Jahre 1965 gehörten, selbst nicht mehr miterlebt, nachdem er im vorangegangenen Winter, leider viel zu früh, verstarb Er war es aber, dem ich diese Erfolge zu verdanken hatte.
FRAGE: Wenn Sie eine Eigenschaft nennen sollten, die Ihnen bei Mertens am meisten beeindruckte, würden Sie welche nennen?
JÜRGEN MAY: Er war aus meiner Sicht eine der großen Trainerpersönlichkeiten der deutschen Leichtathletik. Schon sein Auftreten und sein Umgang flößten Respekt ein. Die Athleten verehrten und achteten ihn, den „Alten‖, wie sie ihn heimlich nannten. Von Mertens habe ich als junger Athlet spannende Geschichten über Nurmi, Harbig, Peltzer und anderen erfahren, die mich damals faszinierten und inspirierten.
Ewald Mertens war ein Praktiker und ein alter Fuchs mit einem riesigen Erfahrungsschatz. Er hielt nicht viel von jenen jungen Trainern, die, ohne selbst einmal Mittel- oder Langstreckler gewesen zu sein, den Erfolg vornehmlich über die Sportwissenschaft suchten. Ein geflügeltes Wort von ihm lautete: „Meine Trainingskonzepte passen alle auf die Rückseite einer Zigarettenschachtel―, von denen er - sicher auch ein Grund seines frühen Todes - leider viel zu viel verbraucht hatte.
Skandal mit Vorgeschichte(n)
Von JOACHIM FIEBELKORN
Während diese Zeilen geschrieben werden, ist der letzte Akt des Skandals um den Fußballschiedsrichter Robert Hoyzer noch nicht eingeläutet. Eine Schilderung des Geschehens aber und die Aufzählung der Verstöße gegen Regeln und Bräuche im Sport sind an dieser Stelle auch kaum nötig. Die Massenmedien klären die Öffentlichkeit hinreichend, teilweise aufdringlich, über die missratenen Söhne des Sports auf. Weniger freilich über deren Vorbilder.
Verwunderlich an der ganzen misslichen Geschichte ist weder die Tatsache, dass sie stattfand, noch sind es ihre Dimensionen. Der Berufsfußball ist ein Geschäft, in dem es nicht selten um dreistellige Millionenbeträge geht. Ein
Wirtschaftszweig mit solchen Umsätzen (und Schulden), in welchem kriminelle Energie keine Rolle spielt, ist kaum vorstellbar. Warum sollte der Fußball die Ausnahme sein?
Der italienische Nationalspieler Francesco Totti (44 Länderspiele, acht Tore) sieht das Umfeld, in dem er lebt, so: „Das ist eine Welt, die mir nicht behagt. Sie hat zu viele falsche Menschen, die den Fußball nicht lieben und nur aufs Geld aus sind.―1)
Totti lebt und spielt in Italien. Dort gehören Wettbetrügerein und manipulierte Spielergebnisse nicht zu den Seltenheiten. Wie auch in Deutschland nicht.
Skandale gab es hier schon ausreichend, als an eine Bundesliga noch gar nicht gedacht wurde, der größte 1930, als die Mannschaft von Schalke 04 illegaler Zahlungen wegen für ein Jahr gesperrt und 14 ihrer Spieler zu Professionals erklärt wurden.
32 Jahre später, am 2. Juli 1962, beschloss der Bundestag des Deutschen Fußballbundes (DFB) mit großer Mehrheit die Einführung der Bundesliga, die dann am 24. August 1963 ihren ersten Spieltag hatte. Nur 20 Monate vergingen, bis Buchprüfer des DFB in der Kasse des Bundesligisten Hertha BSC ein Minus von 192.000 DM entdeckten, die für illegale Zahlungen an Spieler veruntreut worden waren. Es wurde gemunkelt, dass die Prüfer lediglich die Geschäftsbücher der Berliner so genau unter die Lupe nahmen.
Danach begann ein unglaubliches Possenspiel, inszeniert von der Führung des DFB. Hertha, als Vierzehnte der 16 Mannschaften umfassenden Liga, musste zwangsabsteigen. Um den Tabellenletzten, den Traditionsverein Schalke 04 zu retten, wurde beschlossen, die Bundesliga auf 18 Mannschaften aufzustocken, was zuvor vom DFB grundsätzlich abgelehnt worden war. So blieb neben den Gelsenkirchnern auch der Karlsruher SC in der obersten Spielklasse. Dazu stießen die beiden ordnungsgemäß ermittelten Aufsteiger, Bayern München und Borussia Mönchen-Gladbach. Für die Besetzung des noch offenen
achtzehnten Platzes fiel der DFB-Führung eine Lösung ein, die angesichts der Häme und der erhobenen Zeigefinger jener Aufarbeiter des „politisch gelenkten DDR-Sports―, die stets nur die Splitter im Auge des anderen sehen, heiter stimmt: „... noch ein anderes Problem bereitet Kopfzerbrechen. Bundesliga-Fußball ganz ohne Berlin? Aus politischen Gründen eigentlich undenkbar.― 2)
„Um die Berliner nicht völlig zu verprellen, entschloss man sich in Frankfurt, anstelle Herthas die Neuköllner Tasmania in die Bundesliga zu hieven.―3) Tasmania 1900, muss man in diesem Zusammenhang wissen, hatte in der (West)Berliner Stadtliga hinter Tennis Borussia und dem Spandauer SV lediglich den dritten Platz belegt, besaß also keinerlei Qualifikation für den großen Sprung in die oberste Spielklasse. Ein Jahr später hatten die Tasmanen dann lediglich acht Punkte auf der Habenseite und mussten die Bundesliga wieder verlassen. Das „politisch Undenkbare― war denkbar geworden.
Der ganz große Krach begann dann am 6. Juni 1971. An diesem Tag feierte der Präsident der gerade abgestiegenen Offenbacher Kickers, Gregorio Canellas, seinen 50. Geburtstag und nutzte die Gelegenheit, seinen fachkundigen Gästen Tonbänder vorzuspielen, die zahlreiche Bestechungen und Manipulationen in der obersten Spielklasse belegten. Mit dem Vorsitzenden des DFB-Kontrollausschusses, Hans Kindermann, ging nun ein Mann ans Werk, der mit bemerkenswerter, beim DFB nicht so häufig anzutreffender Konsequenz, Masche um Masche das Netz der Geheimhaltung zerriss, das die Initiatoren des Skandals gesponnen hatten. Das Ergebnis war erschreckend. 53 Aktive waren beteiligt, darunter acht Spieler, die in insgesamt 93 Spielen das Nationaltrikot getragen hatten, und vier weitere, die erst nach dem Skandal 79 Berufungen in die Auswahl erhielten. Betroffen waren die Vereine Eintracht Braunschweig (16 bestrafte Spieler), Hertha BSC (15), Schalke 04 (14), VfB Stuttgart (3), MSV Duisburg (2), Arminia Bielefeld (2,) 1.F Köln (1). Man weiß, dass nicht alle Schuldigen gefunden worden waren. Dazu der Bielefelder Sünder Roggensack: „Fast die Hälfte der Bundesliga steckte mit drin ... Das galt übrigens nicht nur in der Saison 70/71, sondern schon all die Jahre davor... Sieben Achtel der Saisonspiele liefen normal. Wenn es dann um den Abstieg ging, reisten Vorstände mit Geldkoffern durch die Gegend―.4)
„Wie viele Spiele waren manipuliert, wie viele Punkte verschoben worden? Keiner vermochte damals wie heute genau zu sagen, wie viel Geld da in schummerigen Bars, dunklen Kabinengängen, gutbürgerlichen Wohnungen und feudalen Villen seine Besitzer gewechselt hat.― 5)
Schwer zu glauben, dass Schiebereien dieses Ausmaßes ohne die Mithilfe von Schiedsrichtern möglich wurden.
Doch auch der Fall Hoyzer hat mindestens einen Vorgänger. „Der ehe-malige Schatzmeister Peter Karg enthüllte, dass der 1. FCN(ürnberg) in der Saison 1990/91 für die Betreuung der einzelnen Schiedsrichter-Gespanne sage und schreibe 174.000 Mark ausgegeben hatte. Die Unparteiischen hatten wertvolle Geschenke wie Sport- und Trimmgeräte, Kosmetiksets und Sportkleidung erhalten.―6) Ob sich die Betroffenen entsprechend dankbar erwiesen, ist nicht überliefert.
Man sieht, die Ereignisse im Jahre 2005 kamen nicht so unverhofft, wie es heute gern dargestellt wird.
Aber: schlechte Beispiele verderben gute Sitten. Das Mitglied der Weltmeistermannschaft von 1974 Paul Breitner in einer Fernsehdiskussion zum Thema Hoyzer: Bei den Amateuren wird geschoben.6)
„Kleine Gefügigmacher sind die Ausnahme, aber Realität. Hier 500 Euro, da ein Abendessen oder ein paar Fässchen Bier.―7)
„Es gibt Vereinspräsidenten, die offen erzählen, wie selbstverständlich in der Bezirksliga Spiele abgesprochen würden. Es koste manchmal nur zwei Kästen Bier. In diesem Milieu wachsen Nachwuchsfußballer auf.―8)
Das ist wohl das Erschreckendste an der üblen Angelegenheit: Die Jungen schauen doch ihren Vorbildern nicht nur auf die den Ball führenden Füße.
Die DFB-Führung aber bemühte sich, die Probleme auszusitzen. So ist es seit jeher ihre Methode, wenn es um dunkle Seiten ihrer Organisation geht, gleichgültig, ob es sich dabei um politische Haltungen oder eben um Vergehen auf
Bundes- und Vereinsebene handelt, die den Fußballbund in ein schlechtes Licht setzen.
In einem empfehlenswerten Buch über die Geschichte der Juden im deut-schen und im internationalen Fußball ist zu lesen: „Beim Festakt im Ge-wandhaus (100 Jahre DFB, Januar 2000. A.d.A.) mahnte Bundesprä-sident Johannes Rau die Verbandsoberen an, endlich auch die Schat-tenseiten deutscher Fußballgeschichte aufklären zu lassen und vor allem die Historiker, die sich darum bemühten, nicht in ihrer Arbeit zu behindern.―9)
Mit den Schattenseiten war die Verbandspolitik des DFB zu Zeiten der Hitlerherrschaft gemeint.
Das Verschweigen des Schrecklichen wie auch des nur Unangenehmen ist nicht etwa in Scham und Verlegenheit zu suchen, es ist Prinzip.
Es bedarf folglich einer beachtlichen schauspielerischen Leistung, wenn sich leitende DFB-Funktionäre heute lautstark über Hoyzer und andere entrüsten. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1982 in Spanien hatte es offensichtlich Absprachen und die Manipulation mindestens eines Spielergebnisses durch leitende Männer des DFB gegeben, ganz abgesehen von einer unkorrekten Auslosung, die vom Leiter des FIFA-WM-Organisationskomitees, Neuberger, Präsident des DFB, zu verantworten war.
„...nachdem der für das Losen auserwählte Madrider Waisenjunge die zweite Kugel aus der Lostrommel gezogen hatte, riss FIFA-OK-Chef Neu- berger plötzlich die Hände hoch und rief: `Stopp!´. Es folgten mehrere Minuten des Chaos und des Getuschels der mächtigsten Männer der Fußballwelt, ehe das von Glücksgöttin Fortuna bestimmte Los in eine `passendere´ Form abgewandelt wurde und das Eröffnungsspiel statt Argentinien gegen Schottland (wie ausgelost) Argentinien gegen Belgien lautete.―10)
Der Verfasser jener Zeilen, Hardy Grüne, ein anerkannter Kenner des deutschen wie des internationalen Fußballs, zitiert dazu die „Frankfurter Allgemeine Zeitung―: „Die Kugeln
brachen ausgerechnet bei den Mannschaften auseinander, die willkommene Gegner für die Länder Spanien und Deutschland wurden: Honduras und Österreich. Wenn manipuliert werden sollte, dann sicher zugunsten von Spanien und Deutschland, hatte es immer geheißen, einmal weil Funktionäre beider Länder an der Organisation dieser Weltmeisterschaft maßgeblich beteiligt sind, und zum anderen, weil sie nach Meinung der FIFA die meisten Zuschauer anziehen... Zur Erinnerung: Auch 1978 hatte es bereits Gerüchte um eine `gelenkte´ Auslosung gegeben, wobei der deutsche FIFA-OK-Chef Neuberger beteiligt gewesen sein soll.―11)
Hier sei nicht ganz nebenbei bemerkt: Der Verfasser dieses Artikels erin-nert sich eines Gespräches mit dem späteren Präsidenten des Deutschen Fußballverbandes der DDR (DFV), Funktionär auch des Europäischen Verbandes UEFA, Günter Schneider über die Weltmeisterschaft 1974. Dieser mit den Gepflogenheiten im internationalen Fußball bestens vertraute Fachmann berichtete dabei, ihm seien schon vor der Auslosung für die WM 1974 die Gegner der DDR-Vertretung bekannt gewesen. Ledig-lich das vierte, in die Gruppe der schwächsten Mannschaften eingeordnete Land, sei dann dazugelost worden (Australien). Den beiden deutschen Mannschaften hätte man Siege gegen Chile zugetraut und sei sicher gewesen, mit zwei so zugkräftigen Mannschaften in den deutschen Stadien für volle Häuser zu sorgen und den übertragenden Fernsehanstalten gute Quoten zu garantieren.
Zurück zu 1982: Der nächste Skandal folgte auf dem Fuße. Die Logik sagt, dass (neben österreichischen) deutsche Funktionäre zu seinen Initiatoren zählten. Die „kleinen― Algerier hatten Deutschland besiegt und vor dem letzten Spieltag zusammen mit den Österreichern beste Chancen, in die zweite Runde zu kommen. Die damals noch übliche Methode, die Gruppenspiele zu unterschiedlichen Zeiten anzusetzen, gab nach dem 3:2-Sieg der Algerier über Chile
Deutschen wie Österreichern die Chance, gemeinsam in die Finalrunde zu kommen. So „...sorgten Deutschland und Österreich in einer konzertierten Aktion für ein Resultat, das beide Teams im Turnier beließ. Es war eine skandalöse Vorstellung, die vor allem deshalb so beschämend war, weil keine Mannschaft einen Hehl aus dem unsportlichen Ansinnen machte... nach dem 1:0 durch Hrubesch, das Deutschland die Tabellenführung und Österreich den zweiten Platz sicherte, schoben sich die Teams achtzig Minuten lang die Bälle zu, ohne irgendetwas zu riskieren. .. Konsequenzen hatte das Skandalspiel von Gijon keine...― 12)
Es ist kaum vorstellbar, dass sich die Spieler zwischen Kabinen und Spielfeld auf solche Schiebung geeinigt hatten. Ohne das Zutun leitender Verbandsfunktionäre war solches Schmierentheater nicht zu inszenieren.
Beenden wir damit die Aufzählung der Vorgeschichte(n) zum Fall Hoyzer. Es ist wahrscheinlich, dass sie unvollständig blieb.
Der Volksmund sagt, dass der Fisch am Kopf zu stinken beginnt. Der üble Geruch wird wohl bis in die Wohnstuben der Zeitungsleser und Fernsehzuschauer dringen. Nur eben nicht in die Amtsstuben des DFB in Frank-furt/Main.
ANMERKUNGEN
1) FIFAmagazine Februar 2005
2) Kicker Spezial 1993, 30 Jahre Bundesliga, Nürnberg S. 64
3) Hartwig, Wolfgang / Weise, Günter 1997, Hundert Jahre Fußball in Berlin, Berlin S. 125
4) Stern v. 3.2.2005
5) Kicker Spezial 1999, Hundert Jahre deutscher Fußball, Nürnberg S. 57
6) ARD: Sabine Christiansen am 30.1.2005
7) Frankfurter Rundschau v. 7.2.2005
8) Stern v. 27.1.2005
9) Eric Eggers 2003, Oase im Sturm der NS-Zeit – der DFB und die Vergangenheit in Davidstern und Lederball, Göttingen S. 218
10) Grüne, Hardy 2002, WM-Enzyklopädie 1930 – 2006, Kassel S. 303
11) Ebenda
12) Ebenda, S. 305
Wiedergutmachung an
Helmuth Behrendt
Von ERHARD RICHTER
Vorweg: Eine Zeitschrift, die zweimal im Jahr erscheint, entwickelt keinen Ehrgeiz, aktuell sein zu wollen. Deshalb gilt auch für die Situation, mit der sich der folgende Beitrag befasst: Schon während der Drucklegung dieser Ausgabe kann sich die Situation verändert haben. Die Entscheidungen von Kommunalpolitikern sind oft unberechenbar...
Der US-amerikanische Baumillionär Avery Brundage errichtete nicht nur Hotelpaläste – in dem wohl attraktivsten in Chikago bewohnte er bis zu seiner Übersiedlung nach Deutschland die ganze oberste Etage -, sondern war auch sein Leben lang in der olympischen Bewegung tätig und opferte den damit verbundenen Aufgaben viel Zeit. Zur Charakterisierung seiner Person: 1936 sicherte er die Teilnahme der USA an den Spielen in Berlin, in dem er bei der entscheidenden Abstimmung Splitterstimmen hervorzauberte, mit denen keiner gerechnet hatte. Später soll er sogar in einer Versammlung der US-Faschisten aufgetreten sein. Er war selbst wohl kein Faschist, aber eben ein hartgesottener Unternehmer und solider Antikommunist. Wenn sich überhaupt jemand rühmen konnte, ihn eines Tages dafür gewonnen zu haben, die Aspekte des Sozialismus wenigstens zur Kenntnis und danach – zumindest auf dem Gebiet des Sports - in Augenschein zu
nehmen, war das der deutsche Arbeitersportler Helmut Behrendt. Das mag ein wenig phantastisch klingen, ist aber die blanke Wahrheit.
Der in Königsberg geborene Behrendt war begeisterter Fußballer, der lange in der Mannschaft von Fichte Südost Berlin spielte. Der Kommunist war 1933 vor den Faschisten in die Sowjetunion emigriert, 1934 illegal zurückgekehrt, bald verhaftet und wegen seiner antifaschistischen Tätigkeit 1935 angeklagt worden, der Vorbereitung zum Hochverrat schuldig zu sein und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Als die vorüber waren, sperrte man ihn in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Mauthausen. 1945 gehörte er dem vom ersten Magistrat im vom Faschismus befreiten Berlin gebildeten Sportamtes an, wurde bald darauf Mitglied der neuen demokratischen Sportbewegung und war von 1952 bis 1973 Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees der DDR. In dieser Funktion begegnete er eines Tages auch Brundage, als die DDR ihre Bemühungen, Mitglied der olympischen Familie zu werden, intensivierte. Der Baumillionär aus Chikago respektierte ihn als einen Menschen, der nicht nur wie er selbst lange begeisterter Sportler gewesen war, sondern vor allem als jemanden, der seine Gesinnung nie verraten und dieser Haltung wegen sogar Zuchthaus- und KZ-Haft auf sich genommen hatte. Die „Liaison― zwischen beiden war nicht über Nacht gewachsen, aber sie stand auf soliden Füßen. Brundage versicherte einem Bundesdeutschen einmal hinter vorgehaltener Hand: „Ein verlässlicher Mann!― Es war möglicherweise eine Art von Verlässlichkeit, wie sie in den USA rar ist. Jedenfalls wurden der Millionär und der ehemalige KZ-Häftling olympische Gefährten. Behrendts blieb ein angesehenes Mitglied der olympischen Familie, als Brundage die olympische Bühne verließ und war 1978 der erste DDR-Bürger, der mit dem Olympischen Orden ausgezeichnet wurde.
Nach seinem Tode 1985 gab man der Schwimmhalle in Berlin-Marzahn-Hellersdorf seinen Namen und ehrte ihn mit einer dort aufgestellten Büste. 1990 sorgten bilderstürmende Schreihälse dafür, dass der Name und die Büste verschwanden. Nun haben sich Sportbegeisterte in dem Berliner Stadtbezirk zusammengetan, um an Behrendts 20. Todestag (5. September) dieses Unrecht zu korrigieren. Man erinnerte daran, dass Neukölln eine Bilderstürmeraktion gegen Werner Seelenbinder nach über fünf Jahrzehnten korrigiert hatte. So lange wollte man in Marzahn-Hellersdorf allerdings nicht warten. Die kommunalen Abgeordneten sahen keine Hürde darin, den Schritt rückgängig zu machen. Das nächste Wort hatte die Bäderverwaltung, die dem Träger des Olympischen Ordens und Freund des IOC-Präsidenten die Ehrung nicht verweigern wollte.
Vielleicht kann ich in der nächsten Ausgabe der „Beiträge― über die Re-Namensgebung berichten...
Paralympics 2004 - eine Bilanz
Von HERMANN DÖRWALD
Die Paralympics in Athen 2004 wurden als die XII. Spiele dieser Art bezeichnet, obwohl der Name „Paralympics‖ erst 1984 offiziell für die „Weltspiele der Behinderten‖ verwendet worden war. Gezählt wird also seit 1960, seit den ersten „Internationalen Weltspielen der Gelähmten‖ in Rom (Italien), die damals - hervorgegangen aus dem Internationalen Sportfest für Querschnittsgelähmte, den Stoke Mandeville Games in Großbritannien (seit 1952) - das erste Mal im Anschluss an die Olympischen Sommerspiele durchgeführt wurden und an denen etwa 400 Rollstuhlfahrer aus 23 Ländern teilgenommen hatten. In den folgenden Jahren wurden diese Internationaen Spiele der Gelähmten dem Rhythmus der Olympischen Spiele angepasst. In Toronto (Kanada) 1976 bei den „Weltspielen der Behinderten― starteten dann neben den Rollstuhlsportlern auch Amputierte und Sehbehinderte. Aus den Weltspielen der Gelähmten waren die der Behinderten geworden, obwohl noch nicht alle Gruppen der Behinderten beteiligt waren.
Bei den XII Paralympics in Athen 2004 starteten Athletinnen und Athleten aus 136 Ländern. Insgesamt standen 525 Entscheidungen auf dem Programm. Den abschließenden Medaillenspiegel dieser Paralympics führte China mit insgesamt 141 Medaillen (63 Gold-, 46 Silber-, 32 Bronzemedaillen) an, vor Großbritannien mit 94 (35 - 30 - 29) und Kanada mit 72 Medaillen (28 - 19 - 25). Die USA belegten den vierten, Australien den fünften, die Ukraine den sechsten Platz und Deutschland nach Spanien mit 79 Medaillen (19 – 28 – 32) Rang acht. Im Vergleich zu den Paralympics 2000 in Sydney konnten vor allem die Mannschaften aus China, der Ukraine und Japan ihre Medaillenbilanz deutlich verbessern.
Die Mannschaft des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) erzielte ihr bisher bestes Ergebnis bei den Paralympics 1988 in Seoul (Südkorea) mit dem 2 Platz hinter den USA und insgesamt 192 Medaillen (77 - 84 - 51). Diese hervorragende Plazierung konnte auch noch bei den
Paralympics 1992 in Barcelona (Spanien) - nun verstärkt durch die Athletinnen und Athleten aus den neuen Bundesländern - und 1996 in Atlanta (USA) gehalten werden. Allerdings nahm die Zahl der errungenen Medaillen sukzessive ab. In Barcelona wurden insgesamt 171 (61 - 50 - 60) und in Atlanta 149 Medaillen (40 - 58 -51) gewonnen Die Mannschaft von Sydney 2000 fiel auf den 10. Rang der Nationenwertung zurück. Dieses Ergebnis veranlasste den Deutschen Behindertensportverband 2001 ein neues, langfristig angelegtes Leistungssportkonzept zu erarbeiten und einzuführen, das zweifellos erst nach etwa sechs bis acht Jahren voll wirksam wird. Die Rahmenbedingungen für den Spitzensport von Menschen mit Behinderungen wurden weitgehend professionalisiert und mit „der Einrichtung des TOP TEAM ATHEN 2004 ... für einen Teil der Athletinnen und Athleten ein erster Schritt in diese Richtung getan‖ wie Dr. Quade, der Chef de Mission der deutschen Mannschaft in Athen, feststellte. Außerdem reiste nicht nur ein stark verjüngtes Team nach Athen, sondern es waren auch die Qualifikationsbedingungen verschärft worden, so dass nur die Besten der Besten eine Chance hatten, nominiert zu werden. Nahezu die Hälfte der Teilnehmer - 44 Prozent - startete zum ersten Mal bei Paralympics. Sie errangen 43 der insgesamt 78 Medaillen für die deutsche Mannschaft, deren Mitglieder in 16 von 19 ausgeschriebenen Sportarten an den Start gingen. Besonders erfolgreich waren die 18 Schwimmerinnen und Schwimmer des deutschen Teams. Sie gewannen insgesamt 23 Medaillen (5 - 8 - 10) und kamen 55 Mal auf Platz 4, 5 oder 6 ein (12 - 16 - 17), während 53 Leichtathletinnen und -athleten 24 Medaillen (4 - 11 - 9) errangen. Besonders dramatisch verlief das Kugelstoßen der Frauen. Die „grande dame― des deutschem Behindertensports, Marianne Buggenhagen, stieß in ihrer Spezialdisziplin und Schadensklasse mit 9,06 m erneut einen Weltrekord. Sie wurde aber - auf Grund des komplizierten Wertungssystems - auf Platz zwei gesetzt und Jana Fessiowa, eine tschechische
Athletin, mit deutlich geringerer Weite, aber in einer höheren Schadensklasse eingestuft, demzufolge auf Rang eins gesetzt. (Marianne Buggenhagen hatte die Kugel zwei Meter weiter gestoßen als Jana Fessiowa.) Dagegen protestierten drei an der Konkurrenz beteiligte Mannschalten, wohlgemerkt war die deutsche nicht darunter. Dem Protest wurde durch die Jury stattgegeben und damit hatte Marianne Buggenhagen ihre 8. Goldmedaille bei den Paralympics gewonnen.
Als besonders leistungsstark erwiesen sich auch, wie die nachfolgende Übersicht zeigt, die Athletinnen und Athleten, die in den Sportarten Tischtennis, Reiten, Judo und im Radsport an den Start gingen.
Die Tabelle listet die Plätze 1 bis 6 und gibt die Punktzahl nach dem 7,5,4,3,2,1-System an)
Leichtathletik: 4-11-9-12-16-17 = 204 Schwimmen:5-8-10-13-6-12 = 178 Radsport: 2-1-3-4-9-7 = 68 Tischtennis:4-2-3-2-0-0 = 56 Judo:2-1-3-0-1-0 = 33 Sportschießen:1-1-2-1-1-1 = 26 Reiten:0-4-1-0-1-0 = 26 Bogenschießen:1-0-0-0-0-1 = 8 Gewichtheben:0-1-0-0-1-0 = 7 Segeln: 0-0-0-2-00 = 6 Fechten: 0-0-0-0-1-4 = 6
Ehrenkolloqium für
Ernest Strauzenberg
Von PAUL KUNATH
„Leistungsfähig, lebensfroh, aktiv bis ins hohe Alter‖ – so beschreibt Stanley Ernest Strauzenberg das Anliegen seines Buches „Gesundheitstraining― (Berlin 1977). Und er hat auch selbst so gelebt, beispielgebend für andere. Am 25. November 2004 beging er seinen 90. Geburtstag.
In seinem vielseitigen wissenschaftlich produktiven Leben hat Prof. Dr. med. habil. Stanley Ernest Strauzenberg auf dem Gebiet der Diagnostik und Therapie der Inneren Medizin,
speziell zur Diabetologie, praktisch und theoretisch gearbeitet. Bereits 1966 erschien das mit Hans Haller verfaßte und zur damaligen Zeit weltweit geschätzte Standardwerk „Orale Diabetestherapie―. Im gleichen Jahr wurde er zum Professor für Innere Medizin und zum ärztlichen Direktor des Klinikums der Medizinischen Akademie in Dresden berufen.
Die eigene sportliche Betätigung – Ende der 30er Jahre gehörte Strauzenberg in Sachsen zu den besten 400-m- und 800-m-Läufern und zu den erfolgreichsten Studentensportlern – sowie die Betreuung sportlich aktiver Patienten in seiner zehnjährigen Landarztpraxis in Oberbärenburg, später von jugendlichen Athleten in Dresden, vertieften sein Interesse an sportmedizinischen Aufgaben und Problemen. Bereits 1950 betreute er Skilangläufer in Zinnwald. Am ersten sportmedizinischen Kongreß der DDR, 1953 in Leipzig nahm er ebenso teil wie an der Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Sportmedizin, dem Vorläufer der Gesellschaft für Sportmedizin der DDR.
Die für ganz Deutschland und weltweit beispielhafte Entwicklung der Sportmedizin in der DDR, einschließlich ihrer staatlichen Förderung, auch wenn man die heute oftmals als einseitige Instrumentalisierung des Staates darzustellen versucht, sah Prof. Dr. Strauzenberg immer in Mitverantwortung für grundlegende Entwicklungsentscheidungen. Die Gesellschaft für Sportmedizin war dann für mehr als 1500 Ärzte, die im Sport und für den Sport der DDR tätig waren, eine wissenschaftliche und organisatorische Interessenvertretung. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass ein Ehrenkolloquium anlässlich des neunzigsten Geburtstages von Stanley Ernest Strauzenberg vielfältige Beachtung fand. Am 3. und 4. Dezember 2004 wurde dieses Kolloquium im „Raupennest‖ in Altenberg (Sachsen), einem traditionellen sportmedizinischen Rehabilitations- und Betreuungszentrum, durchgeführt. Veranstaltet wurde es vom Sächsischen Sportärztebund
durch „Sachsens Integriertes Zentrum für Gesundheitsförderung― unter Leitung von Privatdozent (PD) Dr. med. Zerbes. Obwohl der Jubilar sich schon 1978 in den Ruhestand versetzen ließ - er konnte und wollte die Einschränkung des Zentralinstitutes für Sportmedizin in Kreischa vorrangig auf Belange des Leistungssports nicht mitgehen -, nahmen etwa 150 Ärzte, Wissenschaftler und Freunde an der Veranstaltung teil.
In seiner Laudatio würdigte der Vizepräsident des Deutschen Sportärztebundes, der Kardiologe Prof. Dr. Löllgen vom Klinikum Remscheid, die Leistungen des Jubilars zur Wirksamkeit körperlich-sportlicher Belastungen in der Prävention und Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und den damit verbundenen Stoffwechselproblernen. Prof. Dr. Haller (Dresden) hob in seiner Rede immer wieder die herausragende klinische Arbeit in vielen Praxisbereichen hervor. Prof. Dr. Neumann (Leipzig) stellte eindrucksvolle Studien zur Herzkreislaufbelastung in Abhängigkeit von körperlichen Bewegungen und sportlichen Übungen vor, die er im letzten Jahrzehnt seiner langjährigen Untersuchungen im Ausdauersportbereich bei Männern und Frauen verschiedener Altersstufen und Indikationen durchgeführt hat. PD Dr. Altmann von der Herzkreislaufklinik in Bad Gottleuba bestätigte aus klinisch rehabilitativer Sicht sowohl die Notwendigkeit als auch die Wirksamkeit einer bewegungsorientierten Therapie. Er konnte auf diese Weise die Weiterführung der von Strauzenberg begründeten Dresden-Kreischaer Schule der Sportmedizin belegen. In einem Beitrag von Herrn Schmidt, Landessportbund Sachsen, wurde schließlich dargestellt, daß durch die gemeinsame Aktion des Deutschen Sportbundes und der Bundesärztekammer „Sport pro Gesundheit‖ die im Kolloquium vorgestellten Erfahrungen und Erkenntnisse heute für die Förderung der Gesundheit der Bevölkerung genutzt werden sollen.
Der Versuch, 90 Jahre des Lebens eines Menschen zu würdigen, wird immer unvollständig sein. Auch wenn der Autor dieser Zeilen mehr als vier Jahrzehnte mit dem Jubilar zusammengearbeitet hat: Beim Aufbau von Kreischa als Rehabilitationszentrum der DHfK Leipzig, zwölf Jahre als Mitglied der zentralen Facharztkommission, davon acht Jahre unter seiner Leitung, im Prozeß der Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der engeren Verflechtung der Sportmedizin mit der Sportwissenschaft und ihren verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. In diesen Jahren habe ich Stanley Ernest Strauzenberg kennen und schätzen gelernt. Er fühlte sich immer mit dem sozialen Leben und dem DDR-Sport verbunden und hat mit seiner Eigenständigkeit und Kritik stets versucht, notwendige Entwicklungsprozesse zu fördern und Fehlentwicklungen zu verhindern oder aufzuhalten. Gerade deshalb genoß und genießt er bis heute als Mensch, als Arzt, als Wissenschaftler und Sportmediziner weltweit besondere Achtung und Anerkennung.
ZITATE
„SOLLTE ICH NACKT SCHWIMMEN?”
Der Auftakt zum Kurzbahn-Weltcup morgen gerät für Antje Buschschulte (25) plötzlich zur Nebensache. Seit der Ankunft in Südafrika grübelt die Magdeburgerin über ihre Beziehung zum Deutschen Schwimmverband (DSV). Dessen Cheftrainer Ralf Beckmann hatte dieser Tage eine Disziplinarmaßnahme gegen Buschschulte öffentlich gemacht. 2000 Euro soll die mit dem Gewinn von drei Bronzemedaillen erfolgreichste deutsche Olympiaschwimmerin von Athen zahlen, weil sie bei einem ihrer Rennen in Griechenland nicht im Schwimmanzug der Nationalmannschaft (Arena). sondern eines Konkurrenzunternehmens (Speedo) angetreten war.
Buschschulte wehrt sich schon seit Wochen gegen die Strafe, hat längst eine Anwältin eingeschaltet. Nach dem Riß einer Naht am neuentwickelten Hightech-Anzug habe ihr in Athen zwischen Einschwimmen und Finale kurzfristig kein Ersatz zur Verfügung gestanden, lautet ihre Begründung. „Ich habe finanziell doch nix von dem Anzugwechsel gehabt, sondern wollte einfach nur schnell schwimmen. Sollte ich das etwa nackt tun?‖, fragt Buschschulte...
Raik Hannemann
Die Welt - 19. November 2004
Schily: „Hier muß gründlich
aufgeräumt werden”
Erst die Führungsperson aussuchen, dann die Fusion angehen? Gegen diesen Vorschlag wehrt sich die deutsche Sportführung seit Beginn der Reformdebatte im Spätsommer. Dabei sind doch schon längst Fakten geschaffen: Der Chef vom Ganzen heißt Otto Schily. Nun ist der Mann zwar Bundesinnenminister und als solcher per Autonomieabsatz in der Grundsatzerklärung des Deutschen Sportbundes (DSB) auf Distanz zu halten. Aber was stört das einen Schily? „Der darf doch seine Meinung sagen―, erklärte DSB-Präsident Manfred von Richthofen sichtlich zufrieden. Natürlich. Und so sagte der Minister am Samstag auf dem Bundestag des DSB in Bremen pflichtbewußt, er respektiere die Unabhängigkeit des Sports. In der Kür legte er dann los. Mit der Macht eines „Hauptförderers― im Spitzensport, mit dem Argument einer geplanten Mittelerhöhung von 11,8 Prozent für 2005 (133 Millionen Euro) und schließlich mit dem schlagenden Verweis auf seine demokratische Gesinnung: „Der Bund trägt die Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler.―
Wer unter den Delegierten die geballte Kraft in der ersten Rede zum Tage als Drohpotential verstand, hatte begriffen: hier macht ein Politiker Sportpolitik wie lange nicht mehr. Der SPD-Mann Schily sprach zum Vergnügen des CDU-Freundes
Richthofen für die heftig umstrittene Fusion von DSB und Nationalem Olympischen Komitee (NOK). „Die große Chance, die Organisationsstruktur des deutschen Sports zu straffen und neu zu ordnen, um mehr Effizienz und Schlagkraft zu erreichen, darf nicht vertan werden―, sagte Schily und warnte: „Das Ministerium wird die Ergebnisse im Hinblick auf ihre Förderwirkungen eingehend prüfen.‖ Deutlicher kann man es kaum sagen. Und so ließ der Szenenapplaus mit zunehmender Schärfe nach. Als Schily das bemerkte – „der Beifall kommt zögerlich― -, hatte er manchen Delegierten schon getroffen. Denn was bedeutet es für den gemeinen Sportfunktionär, wenn der Innenminister feststellt, daß „mehr als 120 Gremien für den Leistungssport (und den Breitensport) nicht der Weisheit letzter Schluß sind―? ... Denn „hier‖, forderte Hardliner Schily, „muß gründlich aufgeräumt werden―. Wobei mit aufräumen in diesem Fall wohl wegräumen gemeint ist. ...
Die Delegierten nickten das vorgelegte kurz- wie langfristige Programm Gold nur noch ab: Nun sollen die Bundesstützpunkte von etwa 141 auf 100 reduziert und dafür etwa 30 Fördereinrichtungen für Nachwuchsathleten unter 23 Jahren eingerichtet werden. Das angenommene Förderkonzept 2012 schreibt stärkere Eliteunterstützung. Kaderreduzierungen. Konzentration von Trainingsgruppen sowie eine neue Einteilung der olympischen Sportarten und Disziplinen in Leistungsfördergruppen vor. Frei nach dem Motto: Die Starken mit Zuwendungen (plus zehn Prozent) stärken, die Schwachen mit Abzügen (bis minus 30 Prozent) bestrafen. Nachdem das Erbe des DDR-Sports verbraucht ist, tauchen im Vereinten Deutschland mit der Effektivitätsrechnung wieder Ideen des ehemaligen Systems auf. 1967 wurden alle Sportarten. in denen sich die DDR keinen Medaillengewinn ausrechnete, nicht mehr unterstützt. Vielfalt ist kein Thema mehr.
Anno Hecker
Frankfurter Allgemeine Zeitung - 6. Dezember 2004
Deutsche Sportler dopen verstärkt
Alarmsignal für den deutschen Sport: Die Zahl der Dopingfälle stieg im Olympiajahr um 60 Prozent auf 80 an, im Vorjahr waren es 50. Da noch nicht alle Proben ausgewertet sind und die im Ausland überführten Athleten gar nicht erfasst sind, wird die Zahl bis Jahresende weiter steigen. Dabei wurden die Tests nicht signifikant verstärkt. „Ein Grund für den rasanten Anstieg ist, dass wir vor Olympia die Qualität der Kontrollen erhöht haben. Wir haben in den Trainingsphasen kontrolliert, in denen Doping für die Athleten Sinn hat‖, erklärte Roland Augustin, Geschäftsführer der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada).
Erschreckend ist, dass 2004 in den deutschen Labors nicht auf modernste Dopingmethoden untersucht wurde. Erst 2005 wird in Köln und Kreischa auf Wachstumshormone (HIGH) und Fremdblut analysiert. Und bei den Tests in Deutschland, die von der Nada verantwortet wurden, gab es keinen Epo-Fall.
Triathletin Nina Kraft ist nicht erfasst, weil sie in den USA erwischt wurde. Die Renner unter den verbotenen Substanzen sind weiter anabole Steroide, mit 20 Fällen machen sie ein Viertel aus. Ansonsten sind Diuretika, Stimulantien, Cannabis und Gluco-Corticosteroide besonders beliebt. Speziell Gluco-Corticosteroide sind ein Grund für den Anstieg. Die Substanz ist etwa in Asthmasprays oder entzündungshemmenden Salben enthalten.
Sportler, die diese Mittel aus therapeutischen Gründen einnehmen, können eine Ausnahmegenehmigung bei der Nada beantragen. Viele Athleten vergessen dies... Die Nada muss die 4300 Trainings- und 4000 Wettkampftests nebst allen anderen Aufgaben mit einem 1,2 Millionen-Euro-Etat bestreiten. Jeweils 130 000 Euro steuern NOK, DSB und Sporthilfe bei, drei Sponsoren erbringen 160 000 Euro. Jetzt soll die Wirtschaft um weitere Hilfe gebeten werden.
Hans-Peter Kreuzer
Süddeutsche Zeitung - 10. Dezember 2004
Von Kati lernen, heißt...
Neulich sah ich im Fernsehen irgendwelche britischen Eiskunstläufer und plötzlich kam mir in den Sinn, wie ich vor Jahrzehnten von einer berühmten britischen Eiskunstläuferin gebeten worden war, ihr als Dolmetscher behilflich zu sein. Der DDR-Sportverband hatte die renommierte Britin als Trainerin engagiert, darauf hoffend, dass es mit ihr mit dem Eiskunstlauf vorangehen würde. Die Frau verstand ihr Handwerk – forderte ihre Gage – und machte sich in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle ans Werk. Ihr Engagement währte jedoch nicht lange. Eines Tages packte sie ihre Koffer und just, als sie mitteilen wollte, warum sie den Vertrag augenblicklich kündigen würde, bat sie mich um Übersetzerhilfe. Der Kern ihres Motivs klang beinhart: „Diese Mädchen hier eignen sich alle hervorragend für Eiskunstlaufweltmeisterschaften, aber höchstens als Kartenabreißerinnen am Eingang.―
Die Dame – mit Rücksicht auf ihr Image, verzichte ich darauf, ihren Namen zu nennen - flog davon und eine junge, als Trainerin völlig ungeübte DDR-Eiskunstläuferin, die obendrein sehr skeptisch war, übernahm das Training. Sie heißt Jutta Müller und während die Britin trotz ihrer Olympiamedaille längst vergessen ist, schwärmen heute noch viele von Jutta. (Ich auch.)
Wie man weiß, steht es derzeit auch nicht gerade zum allerbesten um den deutschen Eiskunstlauf und weil ständig die Frage gestellt wird, wie man möglichst schnell wieder an die Weltspitze kommen kann, las ich (9. November 2004) sehr aufmerksam und mit Interesse, was Katarina Witt in der Berliner taz dazu geschrieben hatte: „Leistung, Leistung, nochmals Leistung - in keinem anderen Bereich der DDR-Gesellschaft wurde das Leistungsprinzip derart konsequent
und kompromisslos durchgesetzt wie im Sport. Das begann bei der Suche nach Talenten, setzte sich bei der Forderung des Nachwuchses fort und endete bei der Belohnung der Spitzenathleten. Mein Weg führte mich damals in Karl-Marx-Stadt direkt vom Betriebskindergarten in den Sportklub. Das geht heute schon deshalb nicht mehr, weil es keine Betriebskindergärten mehr gibt. Normalerweise wurden sportliche Talente ohnehin durch die Trainer entdeckt, die von Schule zu Schule pilgerten und systematisch nach Kindern suchten, die Freude und Begabung für verschiedene Sportarten mitbrachten. Mit dieser gründlichen Suche ist zu erklären, dass ein kleines Land wie die DDR derart erfolgreich im Sport war.
Heute verlässt man sich darauf, dass ambitionierte und ehrgeizige Eltern selbst aktiv werden und ihre Kinder zu den Eislauf-Vereinen bringen. Scharen von Kindertrainern, die geduldig im ganzen Land nach Talenten suchen und mit deren Ausbildung beginnen, kann sich der deutsche Sport längst nicht mehr leisten. Ein ’Casting’ gibt es heute selbst im Fernsehen für alle möglichen und unmöglichen Talente. Für Sportarten, die zunächst kein Geld bringen, sondern etwas kosten, gibt es so ein Casting leider nicht.
War ein Talent dann erst einmal entdeckt, wurde es gehegt und gepflegt. An den anderen, weniger begabten Kindern verlor das DDR-Sportsystem schnell das Interesse. Es herrschte eine streng leistungsorientierte Auslese. Ich wechselte in der 3. Klasse an die Kinder- und Jugendsportschule meiner Heimatstadt, ab der 5. Klasse erhielt ich dort Einzelunterricht. Die Schule nahm auf den Trainingsalltag der Sportler Rücksicht, ohne etwas zu verschenken. Natürlich gab es im Alltag der DDR wenige Alternativen, die so viel gesellschaftliche Anerkennung und materielle Vorteile versprachen wie der Leistungssport. ... Aber das entscheidende Motiv für mich war, nichts anderes als die Beste zu sein. Ich war knapp 14, als für mich feststand: Erst an der Weltspitze werde ich zufrieden sein.
Für dieses Ziel habe ich bis zu sieben Stunden am Tag trainiert. Heute finden junge Sportler diese Bedingungen in ihren Schulen äußerst selten vor. ... Die Länge der Schulzeit muss flexibel sein, der Stundenplan und Lehrumfang muss sich am Trainingspensum orientieren. ... Aber noch wichtiger als die sichtbaren Belohnungen war die Anerkennung in der Gesellschaft. Sie war natürlich politisch motiviert, weil die DDR sich mit Siegern schmücken wollte. Aber die Wertschätzung für den Einzelnen blieb über das Ende seiner Karriere hinaus bestehen. Gaby Seyfert, die Anfang der 70er Jahre Weltmeisterin im Eiskunstlaufen war, blieb bis in die letzten Tage der DDR eine populäre Person. ... Hierzulande werde ich als ’ehemalige’ Olympiasiegerin vorgestellt, in den USA heißt es immer: ’The 2time olympic champion.’― (Die zweifache Olympiasiegerin) „Man ist es und bleibt es. ... Wer nur alle vier Jahre nach Olympischen Spielen jammert, dass es wieder weniger Medaillen geworden sind, wird nichts ändern, solange er sich nicht selbst bewegt. Als Sportler nicht, als Sportsystem auch nicht.―
Deutlicher ging’s kaum! Natürlich können mir Leser entgegenhalten: „Das ist doch für uns nichts Neues!― Sie könnten auch noch einwenden, dass im deutschen Sport kaum jemand bereit ist, sich von Katarina Witt belehren zu lassen, weil anderthalb Jahrzehnte Anti-DDR-Medien-Agitation auch im Sport nicht mit einem Besen einfach weggekehrt werden könnte. Natürlich wird ein Land nicht daran gemessen, wie viel Eiskunstlauf-Olympiasieger es hervorbringt, aber dazu gehört – siehe oben - eben auch der Betriebskindergarten und der wird wohl kein comeback in dieser Gesellschaft feiern. Er stammt aus dem anderen System und ich glaube, es hat alles was mit dem System zu tun. Bis hin zum Eiskunstlaufen.
Klaus Huhn
LEIPZIGS NEUE - 14. Januar 2005
„Ozapft is“
Früher, als man die Schlagzeilen noch aus Bleilettern zusammenfügte, schob man Titel, von denen man sicher war, dass sie bald wieder gefragt sein würden, in eine Ecke, in der man sie schnell wiederfand. Das wäre so eine: Olympia ruft! In Leipzig sind die Aktenordner, die die Briefe und Pläne und Werbeprospekte – und vor allem Rechnungen - enthalten, noch nicht mal in einem Container verstaut, da kräht München: Jetzt wir! Und weil man mit der Bewerbung für Sommerspiele in Berlin (2000) und Leipzig (2012) so kläglich gescheitert war, wechselte man die Reifen und startete in den Winter: 2014 will München die Skispringer und Rodler aus aller Welt begrüßen.
Übrigens: Das letzte Mal, als sich eine deutsche Stadt um Winterspiele bewarb, verdiente ich nicht schlecht. Nein, nicht mit einem Beratervertrag oder einträglicher Lobby-Tätigkeit, sondern mit einer ansehnlichen Wette. Am Tag bevor entschieden wurde, ob Berchtesgaden die Winterspiele 1992 veranstalten würde, charterte deren Bewerbungskomitee ein Salonschiff auf dem Genfer See, lud alle IOC-Mitglieder und auch Journalisten ein, bewirtete sie fürstlich und ließ den IOC-Mitgliedern – während sie „auf See― waren - wertvolle Geschenke auf ihre Zimmer bringen. (Niemand sollte auf dem Landungsteg damit gesehen werden.) Es war der so siegessichere Berchtesgadener Orgchef und Kurdirektor, dem ich an Bord eine Wette anbot, das Berchtesgaden die Spiele nicht bekommen würde. Er hielt lärmend dagegen, dass Berchtesgaden schon so gut wie gewonnen habe. Am nächsten Tag flog Berchtesgaden in der ersten Runde raus. Der fassungslose Kurdirektor wollte für sein verlorenes Wettgeld von mir wenigstens erfahren, woran es gelegen haben könnte. Ich mutmaßte: Berchtesgaden ist als ehemalige Hitler-Logis noch immer weltweit „belastet―. Er staunte, wie „nachtragend― die Welt wäre.
Nun also wieder München und wieder mit Berchtesgaden am Hinterrad. Die Termine stehen fest: Am 28. Juli 2005 muss
die Bewerbung eingereicht sein, 2007 wird in Guatemala abgestimmt. Natürlich liegt eine „Machbarkeitsstudie― schon vor, was auch bedeutet, dass die ersten Honorare schon geflossen sind. Die Athleten werden wenig sehen von München, die Skisportler dürften in Garmisch-Partenkirchen untergebracht – Schauplatz der Spiele 1936 – werden, die Eisschnelläufer in Inzell... Die „Frankfurter Rundschau― verglich die Bewerbung mit einem Wiesn-Spaß: und schrieb drüber:„Ozapft is―.
Klaus Huhn
junge Welt - 26. Januar 2005
„Diese gigantischen Beträge
sind für mich pervers"
Der österreichische Sportdirektor Toni Innauer über die Kommerzkultur im Skispringen und die Zukunft seines Sportes.
Toni Innauer hat das Skispringen vergangenen 30 Jahren geprägt wie kaum ein Zweiter - zuerst als Athlet, dann als Trainer und Funktionär. Heute bekleidet er das Amt des Sportdirektors im österreichischen Verband. Aber er schaut auch über den Tellerrand hinaus...
... ein Fernsehsender wie RTL in Köln braucht die Sporthelden, um hohe Einschaltquoten und Werbeeinnahmen erzielen zu können.
Korrekt, das führt dazu, dass in unserer Kommerzkultur die Stars beinhart geschaffen werden - obwohl dafür kein Fundament vorhanden ist. Das funktioniert wie bei Big Brother. Ich sehe die Tendenz, dass diese Schizophrenie auch mehr und mehr auf den Sport übergreift - und bestätigt werde ich durch Figuren wie Anna Kournikowa, die nur eine mittelmäßige Tennisspielerin und trotzdem ein Superstar war.
Und wer ist die Anna Kournikowa unter den Skispringern?
Bei uns gibt es solche Leute nicht, und ich hoffe auch, dass sich das nicht ändert. Denn für mich steht die sportliche
Leistung immer noch an erster Stelle. Gewisse Grenzen wollen wir nicht überschreiten - auch wenn die Show das vielleicht verlangen würde...
Aber reicht es beispielsweise auch für Thomas Morgenstern, um in die Bereiche eines Großverdieners Hermann Maier vorzustoßen?
Dazu habe ich eine eigene Meinung. Wenn es um so gigantische Beträge geht, steckt da für mich eine Perversion dahinter. Das ist hinausgeschmissenes Geld. Nein, eine Nummer kleiner reicht.
Thomas Hold und Stefanie Wohl
Stuttgarter Zeitung - 25. Februar 2005
Commerzbank-Arena für Waldstadion
Ein großer gelber Schriftzug wird in den nächsten Wochen über der Haupttribüne des neuen Frankfurter Waldstadions montiert. Meterhohe Buchstaben bilden das Wort „Commerzbank-Arena‖. So wird die Sportstätte von Mai an für mindestens zehn Jahre heißen. Gefühle sind Tugenden, von denen sich Banker gemeinhin nicht leiten lassen. Und dennoch ließ sich Commerzbank-Chef Klaus-Peter Müller am Donnerstag zu der Äußerung hinreißen: „Wir wollen Emotionen wecken.― Freilich ging es da nicht um Finanzgeschäfte, sondern um ein Fußballstadion.
Müller war wie auch Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU), Bürgermeister Achim Vandreike (SPD), Eintracht-Boss Heribert Bruchhagen und der Geschäftsführer des Sportvermarkters Sportfive, Thomas Röttgermann, ins Stadion gekommen, um den neuen Namen für das Waldstadion zu verkünden. Für zunächst zehn Jahre wird die Commerzbank das Namensrecht am Stadion erwerben.
Über den Preis schwiegen sich alle aus, bestätigt wurde nur, dass die jährliche Summe je nach Liga-Zugehörigkeit von Eintracht Frankfurt schwanken kann. Somit dürften insgesamt zehn bis 20 Millionen Euro zusammen kommen. Der überwiegende Teil davon fließt in den Schuldendienst des Stadionumbaus (188 Millionen Euro).
Neben der Steigerung des Bekanntheitsgrades wolle die Commerzbank mit der Investition auch „ein Zeichen setzen für die Verbundenheit mit der Stadt und ihren Bürgern und Sportfans‖, sagt Vorstandssprecher Müller. Er habe Verständnis dafür, dass nicht alle Sportfans „unsere Begeisterung teilen‖. In Zeiten leerer öffentlicher Kassen sei aber „nun einmal vermehrtes privates Engagement gefordert‖.
Die Bank habe der Stadt „einen großen Dienst erwiesen‖, sagte OB Petra Roth. Dafür erziele sie eine „weltweite Werbewirkung‖ durch das Namensrecht.
Bei Anflügen auf den Flughafen werde der Commerzbank-Schriftzug erkennbar sein. Allerdings wird, wie am Rande der Pressekonferenz zu erfahren war, noch an den technischen Möglichkeiten dazu getüftelt.
Offiziell vorgesehen ist zurzeit nur ein Schriftzug über der Haupttribüne, der von der Festwiese her zu erkennen ist...
Eintracht-Chef Bruchhagen sagte, er könne die „Bedenken der Traditionalisten‖ verstehen, dennoch sei der Verkauf des Namensrechts „eine notwendige Maßnahme‖.
Martin Müller-Bialon
Frankfurter Rundschau - 4. März 2005
„Ohne Steroide wäre er heute nicht da, wo er ist”
Im November 2003, kurz nach seiner Wahl zum Gouverneur von Kalifornien, spielte Arnold Schwarzenegger auf seine starke Vergangenheit an: „Ich liebe es, wenn die Leute zu den Wahlurnen gehen und ihre Muskeln spielen lassen.‖ Die Geschichte des Arnold Alois S., der einst aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Graz in Österreich auszog, um der stärkste Mann der Welt zu werden, schien eine klassische Hollywoodwende genommen zu haben. Mister Universum (fünffach) und Mister Olympia (siebenfach), Haudrauf in Actionfilmen ... ist nun die Nummer eins im
bevölkerungsreichsten US-Bundesstaat, trotz (oder vielleicht sogar wegen) seiner Affären und Skandale.
Heute lacht der 57-jährige vierfache Familienvater über seine ungezählten Fehltritte und -griffe. ...
Doch ein Gesetzentwurf bringt nun Unruhe ins Schwarzeneggerland. Die Abgeordnete Jackie Speier wollte Lehrer an den High Schools verbindlich über die Gefahren von Steroiden aufklären sowie die oft mit Dopingsubstanzen verunreinigten Nahrungsergänzungsmittel verbieten lassen. Der Hintergrund: Unabhängigen Schätzungen zufolge nehmen rund elf Prozent der 15- bis 18-Jährigen Hochschüler Steroide (die gesundheitsgefährdend und offiziell verboten sind). Die Dunkelziffer bei den zurzeit noch legalen Pillen und Pülverchen liegt um einiges höher.
Der Republikaner Schwarzenegger aber legte sein Veto gegen das Gesetz ein. Die Demokratin Speier reagierte enttäuscht, wenn auch nicht ohne Verständnis: „Ohne Steroide wäre er heute nicht da, wo er ist.‖
Damit hat die resolute Politikerin nicht einmal unrecht. Schwarzenegger gab in der Vergangenheit nicht nur zu, Haschisch und Marihuana geraucht zu haben, sondern er bestätigte auch oft genug, dass er seine Muskelberge anabolen Steroiden zu verdanken hat. Deren potenzielle Gefahren waren in den 70er-Jahren noch unerforscht, doch auch mit dem heutigen Wissensstand würde er alles exakt wieder so machen wie in seiner aktiven Zeit als Eisenstemmer: „Absolut. Damals war es etwas Neues, das gerade erst auf den Markt gekommen war. Wir gingen zum Arzt und experimentierten damit unter seiner Oberaufsicht.‖ Alles richtig gemacht also. ... Noch einmal Schwarzenegger in einem Interview mit dem Playboy: „Ich habe mir nie Sorgen um negative Effekte der Steroide gemacht, da ich nie eine Überdosis genommen habe.‖
In der Gegenwart ist Arnold Schwarzenegger neben seiner hauptberuflichen Gouverneurstätigkeit unter anderem auch noch Herausgeber der beiden Bodyhuildermagazine Muscle
and Fitness und Flex. ... Jeff Everson, Insider, weil bodybuildender Journalist, hat für Schwarzeneggers Politik kein Verständnis: „Warum lässt er sich in Verbindung bringen mit Magazinen, die voll gepackt sind mit Steroidbildern, wenn er gleichzeitig Gouverneur von Kalifornien ist?‖ ...
Arnold Schwarzenegger gehört der selben Partei an wie Präsident George W. Bush. Der sieht sich auf einem Kreuzzug, auf dem er auch den Sport drogenfrei bekommen will. Doch der starke Österreicher, der einst auf der Leinwand den Kindergartentop abgab, geht unbeirrt seinen eigenen Weg. Offiziell lehnt er heute Steroide ab. In seiner Tagespolitik ist davon aber nichts zu bemerken. Und so hofft Jackie Speier unverdrossen auf bessere Zeiten...
Wolfgang Büttner
Frankfurter Rundschau - 3.März 2005
Offener Brief an den Ministerpräsidenten
von Sachsen
Sehr geehrter Herr Prof. Milbradt,
ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass Sie sich für meine körperliche Verfassung interessieren, dennoch teile ich Ihnen mit, dass ich noch einen ziemlich soliden Spurt absolvieren kann. Diese Mitteilung erscheint mir wichtig, weil – um im Radsportjargon zu bleiben – Ihr „Wasserholer― in der Regierungsmannschaft auf die Idee kam, mich, meinen Namen und mein noch immer vorhandenes Ansehen zu missbrauchen, um ohne Luft in den Reifen eine Attacke zu fahren, die Nazis und meine Freunde ins gleiche Trikot stecken wollte. Wer mich kennt, weiß, dass ich durchaus Spaß verstehe, aber dieser „Wasserholer― Winkler scheint ein wenig den Überblick verloren zu haben, was für einen Rennfahrer fatale Folgen haben kann.
Er hat sich von einem seiner „Wasserholer― ein Schur-Zitat holen lassen, dass keines ist. Und er glaubte, mit diesem Zitat im Parlament mich und den NPD-Bundesvorsitzenden
Voigt in eine Mannschaft zu zwängen. Ich bin Bürger der Bundesrepublik Deutschland und für mich gilt – auch wenn ich früher für die DDR gestartet bin – das Grundgesetz der Bundesrepublik, in dem auch der Satz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!―
Diesen Grundsatz des Grundgesetzes hat „Wasserholer― Winkler verletzt und es wäre höchste Zeit, dass er wegen dieser üblen Unfairness zur Verantwortung gezogen wird.
Unterstellt wird mir, ich hätte irgendwann irgendwo Hitler und seinen Autobahnbau gerühmt. Es trifft zu, dass mir Journalisten mein Leben lang hinterherzogen, um mich zu einem Wort gegen die DDR oder gegen die SED oder gegen die Friedensbewegung zu bewegen. Selbst den von mir hoch geachteten Dichter Uwe Johnson, der deswegen extra in mein Trainingscamp kam, beschied ich abschlägig. Dass irgendein Journalist im Wahlkampf 1998 behauptete, ich hätte mich zur Autobahn geäußert, wird immer mal wieder behauptet. Niemand hat auch nur die Spur eines Beweises dafür. Das glaubte Wasserholer Winkler nutzen zu können. Lassen Sie ihn wissen, dass es ein misslungener Ausreißversuch war.
Ich bin für energischen Kampf gegen die NPD, gegen organisierte und nicht organisierte Nazis. Der Faschismus hat genügend Unheil angerichtet und in wenigen Wochen werden wir der Millionen Menschen gedenken, die in dem von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren. Wir sollten es gemeinsam tun und Typen wie dem Wasserholer Winkler bedeuten, dass er in unseren Mannschaften nichts verloren hat.
Ich hoffe, mich verständlich gemacht zu haben.
Gustav-Adolf Schur
jW - 14. März 2005
Lücke nach der Einheit
... Wenn es um Sportstätten geht, hat die deutsche Einheit den neuen Bundesländern einen Geldsegen beschert. Zumindest auf den ersten Blick; 1,4 Milliarden Euro sind innerhalb von 15 Jahren für Neubau oder Instandsetzung von Turnhallen, Sportplätzen und Schwimmbädern geflossen, doch das Ergebnis des „Goldenen Plans Ost― ist nicht so, wie es der Name aussagt.
Das kann nicht überraschen, wenn man die 1,4 Milliarden mit jener Zahl vergleicht, die einst in das West-Original geflossen sind. Im gleichen Zeitraum von 15 Jahren wurden damals rund 17,4 Milliarden Mark (8,9 Mrd. Euro) in die sportliche Grundversorgung investiert. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Ost-Förderung für Prestigeobjekte zweckentfremdet wurde.
„Wir sind noch weit entfernt von einer Angleichung der Infrastruktur im Sport, sagt Hans Jägemann, Abteilungsleiter für Umwelt und Sportstätten beim Deutschen Sportbund (DSB). ... Der DSB hatte ... 13,7 Milliarden Mark für den Neubau sowie 11,1 Milliarden Mark für die Sanierung von Sportanlagen errechnet. Von diesen etwa 12,5 Milliarden Euro sind nur gut 1,4 Milliarden aufgebracht worden; 11 Prozent. Schon in der ersten Phase bis 1998 lief manches falsch. Über das Investitions-Förder-Gesetz (IFG) flossen etwa 625 Millionen Euro aus Bundesmitteln, die sich durch Kofinanzierung von Gemeinden und der einzelnen Länder auf 1,25 Milliarden Euro verdoppelten. Doch die Gelder kamen oft nicht an. So wurden Neubauten im Zuge der dann gescheiterten Berliner Olympiabewerbung 2000 aus denn IFG-Topf zu 90 Prozent finanziert. wie Max-Schmeling-Halle, Velodrom oder Schwimmhalle.
Nach Auslauf des IFG-Gesetzes wurden bis 2001 weitere 60 Millionen Euro bereitgestellt ... Für 2005 wurden gerade noch drei Millionen Euro genehmigt, ab 2006 soll diese Unterstützung auf Null heruntergefahren werden.
(sid)
Berliner Zeitung - 18. März 2005
REZENSION
Dresdner Bergsteiger im Widerstand
Von Dr. BARBARA Weinhold
Als ich vor sechs Jahren erstmals Konkretes vom Schicksal des Dresdner Naturfreunde-Bergsteigers Gerhard Grabs und seiner Familie und Freunde erfuhr, hat mich das stark aufgewühlt und zutiefst betroffen gemacht. Nun liegen die Geschehnisse, die man in jeder Hinsicht ungewöhnlich nennen kann, der Öffentlichkeit vor. Die gründlich recherchierte Geschichte führt uns nicht nur in einen Freundes- und Familienkreis begeisterter Bergsteiger und Touristen, sie führt uns in eine höchst widersprüchliche politische Periode deutscher Geschichte. Die wesentlichen
Geschehnisse dieses Buches spielen sich am Ende der Weimarer Republik, besonders aber in der Zeit des Nationalsozialismus und danach in Sachsen und Böhmen ab.
Es gehört zu den tragischen Aspekten der deutschen Verhältnisse zu Beginn der dreißiger Jahre, dass sich engagierte Antifaschisten – ob Kommunisten oder Sozialdemokraten – damals einem unerbittlichen Entscheidungszwang gegenübergestellt sahen: Denn von parteikommunistischer Seite wurde jeder ernstliche Kritiker der stalinistischen Herrschaftspraxis in der Sowjetunion als Helfershelfers Hitlers, als Sozialfaschist – oder was fast noch schlimmer war – als Trotzkist denunziert. Es gehört zu den tragischen Aspekten kommunistischer Politik, dass Gerhard Grabs und seine Freunde kritisch einer kommunistischen Parteipolitik gegenüber standen, die wenige Jahre später vom siebenten kommunistischen Weltkongress sowie der „Brüsseler Konferenz― der KPD einer kritischen Revision unterzogen wurde – wenn man so will, die weitere Entwicklung gab ihnen recht! Ein ehemaliger Dresdner Historiker gab vor Jahren auf meine Frage, warum er in seinen Ausarbeitungen, insbesondere in seiner Dissertation, die Leistungen von Gerhard Grabs und seiner Gruppe unterschlagen und ihre Namen nicht genannt habe, nur die unwürdige Antwort: „Das waren doch Trotzkisten!― Das ist am Ende auch die Crux der ganzen Geschichte!
Auch in den Chroniken und Ausarbeitungen zum antifaschistischen Widerstandskampf im Bezirk Dresden 1933 bis 1945 sowie in Ausarbeitungen zur Geschichte der Naturfreunde-Opposition (VKA) wird man deshalb bis vor wenigen Jahren vergeblich die Namen von Gerhard Grabs und seiner Freunde suchen. Das ist um so unvorstellbarer, wenn man bedenkt, dass diese kleine verschworene Gruppe zwischen 1933 und 1937 unerkannt bei über 60 Literaturtransporten Tausende illegale Druckschriften über die Grenze beförderten sowie ungezählte Personenschleusungen über die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen durchführten. 1937/38 wurde die Gruppe verhaftet und verurteilt. Zwei Gruppenmitglieder – Käthe und Wenzel Kozlecki – trugen das schwere Los jahrelanger Emigration in der CSR (1933 bis 1938) sowie später in England und Mexiko, elf Gruppenmitglieder, darunter zwei Frauen, verbrachten mehr als 40 Jahre in nationalsozialistischen Zuchthäusern und Konzentrationslagern, fünf davon bis zur Befreiung 1945. Es tröstet wenig, dass sie damit das Schicksal so vieler anderer namenloser Helden teilen.
Barbara Weinholds Ausarbeitung schließt aber nicht nur eine Lücke in der kritischen Erforschung der Geschichte des deutschen Trotzkismus, sie dokumentiert auch Aspekte der Zusammenarbeit von oppositionellen kommunistischen
Gruppen sowie aus den Reihen der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) im regionalen und überregionalen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Nicht unwesentlich ist die detaillierte Darstellung tatsächlicher Widerstandsarbeit beiderseits der Grenze, in Sachsen und Böhmen durch sächsische Wanderer und Bergsteiger. Nicht zuletzt gibt das Buch tiefe emotionale Einblicke in das schwere Los von Emigranten sowie in die zutiefst komplizierte Verhaltensstruktur von in die Hände der Gestapo gefallener Widerstandskämpfer, in die inneren Auseinandersetzungen von Gefangenen zwischen Aussage und Aussageverweigerung, zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Gerade auch deshalb ist diesem Buch über vergessene Sportler im Widerstand eine interessierte Aufnahme und eine verdiente Anerkennung zu wünschen.
Joachim Schindler
Dr. Barbara Weinhold: Eine trotzkistische Bergsteigergruppe aus Dresden im Widerstand gegen den Faschismus. Neuer ISP Verlag, Köln 2004, 21 €
Erinnerungen
Von MAX SCHMELING
Der Tod der Boxlegende Schmeling bewegte viele Gemüter. Er warf auch manche Frage auf und die Antworten gingen oft weit auseinander. Wir mochten uns am Grab des 99Jährigen nicht an Streit beteiligen, was uns veranlasste, Max Schmeling selbst als Zeugen zu bemühen.
1977 waren im Verlag Ullstein, Frankfurt/M.-Berlin-Wien seine „Erinnerungen“ erschienen, aus denen wir mit drei Jahzehnten „Rückstand“ zitieren. Das Buch (544 S.) enthielt keinen Hinweis darauf, dass ihm ein „ghostwriter“ behilflich gewesen war.
Zunächst die rein sportliche Bilanz: Schmeling bestritt in seiner Laufbahn von 1924 bis 1948 als Berufsboxer 70
Kämpfe – die Zahl seiner Amateurkämpfe gab er in seinen Erinnerung nicht präzise an, so dass man sie nur auf fünf schätzen kann – gewann 43 durch k.o., 14 nach Punkten und den, der ihm den Weltmeistertitel eintrug durch Disqualifikation, boxte fünfmal Unentschieden, verlor viermal nach Punkten und fünfmal durch k.o.
Die Memoiren beginnen mit dem Satz: „Manchmal komme ich mir wie ein wandelndes Monument vor.― Die Situation, in der er seine Karriere begann, skizzierte er in einer Bildunterschrift mit den Worten: „Die Berliner Gesellschaft der zwanziger Jahre bestand nicht aus den wichtigen und den maßgebenden Leuten, nicht aus den Reichen und Mächtigen; es waren viel mehr die Leute, über die man redete, ein buntes Gemisch aus allen Sphären: Künstler und Bankiers, Showgirls, Schauspieler, Journalisten und Schriftsteller, Rennfahrer und Gelehrte.― Schmeling – so verraten vor allem die Illustrationen des Buches – war meist mittendrin in dieser Gesellschaft. Als sich der unvergessene Schauspieler Fritz Kortner in einem Zuckmayer-Stück prügeln sollte, ließ er sich von Schmeling das ABC des Faustkampfs beibringen und der erfuhr nach einer Übungsstunde von dem berühmten Mimen, was er tatsächlich vom Boxen hielt: „Macht Euch doch nichts vor! Das Boxen ist gar kein Sport! Es ist Lebenskampf auf ein Dutzend Runden zusammengedrängt.―
Schmelings Aufstieg war unaufhaltsam. 1930 wurde er durch den Tiefschlagsieg über Sharkey Weltmeister „aller Klassen―. Die Hochzeit mit der tschechischen Filmschauspielerin Anny Ondra, deklariert er in seinem Buch als „so etwas wie eine Traumhochzeit, die den Zeitungen Stoff für Wochen lieferte.―
Schmelings Rolle in der Zeit des Faschismus ist eines der strapaziertesten Themen seines Lebens. Die immer wieder gestellte Frage lautete: War er selbst ein Nazi? Er selbst hielt sich bei seiner Antwort zurück... Über seinen Sieg gegen den US-Amerikaner Steve Hamas in Hamburg 1935: „Der Sieg wurde überschwenglich gefeiert. ... die Fünfundzwanzigtausend im weiten Rund erhoben sich ... und sangen das Deutschlandlied – die Hand zum Hitlergruß erhoben ...― Schmelings damaliger Manager war Joe Jacobs. Als er in den zwanziger Jahren in den USA geboxt hatte, bestanden die dortigen Box-Oberen darauf, dass er sich an
einen US-Amerikaner binde. Joe Jacobs übernahm sein Management.
Jahre später, in Hamburg, geschah folgendes: „Joe Jacobs, der mich gerade in der Ringmitte umarmt hatte, wusste offenbar einen Augenblick lang nicht, wie ihm geschah. Mechanisch hob auch er, die unvermeidliche lange Havanna in der Rechten, die Hand zum Hitlergruß... Der Vorgang hatte ein Nachspiel... Das Bild des kleinen, ein wenig ironisch lächelnden Mannes mit der Zigarre in der erhobenen Hand ging durch die Weltpresse.―
Danach lud der Reichssportführer von Tschammer und Osten Schmeling in sein Büro und legte ihm nahe, sich von dem Juden Jacobs zu trennen. Er tat es zunächst nicht. Aber er erinnerte sich: „Was bei meinem Besuch nicht ausgesprochen worden war, wurde jetzt in dürren Worten von mir verlangt: Er habe, so schrieb der Reichssportführer, die beschämenden und skandalösen Bilder vom Ring-Auftritt des Juden Joe Jacobs gesehen. Auch der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda sei höchst ungehalten über die Affäre. Ich sei der einzige deutsche Sportler, der mit einem Juden zusammenarbeite. Er lege mir aufs dringlichste nahe, die Sache möglichst umgehend zu bereinigen... Bei keinem anderen als bei Hitler, suchte ich Hilfe für Joe Jacobs. ... und erhielt schon für den nächsten Tag eine Einladung zum Tee. Brückner richtete mir gleichzeitig den Wunsch Hitlers aus, meine Frau mitzubringen. ... Hitler schien ganz Anny zugewandt und nahm dann das Gespräch mit der Frage auf, ob sie Wienerin sei. `Nein, ich komme aus Prag´, erwiderte sie. Das begeisterte Hitler noch mehr. `Prag, das schöne, alte, deutsche Prag!´ Er schwärmte von der Stadt, die die älteste deutsche Universität besitze, die lange Zeit Residenz der Habsburger gewesen sei, und überhaupt sei Böhmen so etwas wie das Herz und Kleinod Deutschlands: `Ja, das goldene Prag!´, wiederholte er etwas gedankenverloren.― Alle Versuche – versichert Schmeling -,
endlich das Thema Jacobs zu erörtern, scheiterten. Am Ende trennte er sich von Jacobs.
Über das Berlin jener Zeit schrieb Schmeling: „Schon immer war die `Roxy-Bar´ die `Vermißten-Zentrale´ genannt worden; wenn man einen von uns zu Hause nicht antraf, schaute man ins `Roxy´, und nur zu oft saß dann der Gesuchte auch in dem mit rotem Samt ausgeschlagenen Raum in der Joachimsthaler Straße, einen Steinwurf vom Kurfürstendamm entfernt.
Jetzt gewann das Wort eine neue Bedeutung. Zum ersten Mal vermißten wir wirklich den einen oder anderen aus der Schauspieler- und Künstlerrunde, und die Auskunft holten wir uns wie einst bei Heinz Ditgens. Aber nun hieß es: Alfred Flechtheim ist vorige Woche nach London emigriert, seine Galerie wird gerade aufgelöst; oder: Heinrich Mann soll jetzt von Amsterdam nach Südfrankreich gezogen sein; oder: Ossietzky sitzt im KL, wie man die Konzentrationslager damals nannte; oder schließlich: Tucholsky hat sich in Schweden umgebracht. Nun war es wirklich eine `Vermißten-Zentrale´ geworden.―
„...es gab viele unter uns, und in gewisser Weise gehörte ich auch dazu, die von der Aufbruchstimmung sowie von den Erfolgen des Regimes im Innern wie nach außen beeindruckt waren.―
„Nach dem Kriege haben viele in einer vielleicht unbewußten Selbsttäuschung behauptet, sie hätten von alledem nichts gewusst. In Wahrheit haben wir alle gewusst. Dass es in Deutschland Konzentrationslager gab, war kein Geheimnis.― ...
1936 rückte näher und damit die Olympischen Spiele in Berlin. Schmeling und sein deutscher Manager Max Machon beschlossen, als Zuschauer zu einem Kampf nach New York zu reisen. „Als wir unsere Sachen packten, waren in Garmisch-Partenkirchen sowie in Berlin die Vorbereitungen für die XI. Olympischen Spiele in vollem Gange. Eine Anlage von klassischer Strenge und Geschlossenheit war nahe der
Berliner Heerstraße in Umrissen schon erkennbar, und draußen in Döberitz führten Bautrupps der Wehrmacht eingeschossige Häuser aus Feldsteinen auf, die in einer parkartigen Landschaft als `Olympisches Dorf´ die Sportler aus aller Welt beherbergen sollten.
Die Rassenpolitik des Regimes, die Ausschreitungen und Boykott-Aktionen gegen jüdische Mitbürger sowie der anhaltende Emigrantenstrom aus Deutschland: das alles hatte insbesondere in Amerika Überlegungen wachgerufen, den Olympischen Spielen fernzubleiben. Die Absage einer der stärksten Sportnationen der Welt mußte aber nicht nur den Spielen jeden Wert nehmen, sondern auch dem Regime einen schweren Prestigeverlust zufügen.
Zweifellos war ich in diesen Jahren der international bekannteste deutsche Sportler, und vor allem in Amerika war mein Ansehen größer als das irgendeines anderen. Bezeichnenderweise war es nicht der Reichssportführer selber, der mich eines Tages, unmittelbar vor meiner Abreise, zu Hause anrief, sondern sein Stellvertreter, Arno Breithaupt. Nach einigem freundlich vorbereiteten Gerede kam er zum Kern der Sache. Mit großer Beunruhigung, so erklärte er, verfolge man in Berlin die zögernde Haltung der Amerikaner hinsichtlich einer Teilnahme an den Spielen. Dann fragte er offen heraus: ’Sie kennen doch Amerika gut. Könnten Sie 'rüberfahren und die entscheidenden Leute positiv beeinflussen?’
Ich fragte, ob das ein offizieller Auftrag sei. Ohne die Frage direkt zu beantworten, gab Breithaupt zu erkennen, daß er mich nicht von sich aus um Vermittlung bitte. Ich erklärte, ohnehin im Aufbruch nach New York zu sein und selbstverständlich mit den Herren des amerikanischen Olympischen Komitees sprechen zu wollen.
Einige Tage später rief mich auch noch der Präsident des deutschen Olympischen Komitees, der greise Staatssekretär Dr. Theodor von Lewald, an. Er hatte von dem Gespräch Breithaupts mit mir gehört und bat mich, ein Handschreiben
an seinen amerikanischen Freund und Kollegen Avery Brundage mitzunehmen. In dem Schreiben, das mir von Lewald vorlas, versuchte er, der selber Halbjude war, die entstandenen Bedenken zu zerstreuen, und sagte allen Teilnehmern an den Olympischen Spielen faire Gastfreundschaft zu.
Ein Zufall fügte es, daß im New Yorker `Commodore-Hotel´, das seit einigen Jahren mein Stammquartier geworden war, kurz nach meiner Ankunft die entscheidende Sitzung des amerikanischen Olympischen Komitees stattfand. Als ich mich bei Brundage anmeldete, um den Brief Herrn von Lewalds zu übergeben, kam er persönlich in mein Zimmer im elften Stockwerk. Er war freundlich und besorgt zugleich. Aus einer kleinen Ledermappe kramte er statt vieler Worte einige Zeitungsausschnitte, in denen amerikanische Korrespondenten von Ausschreitungen in Deutschland berichteten: Auf einigen Fotos war die Verhaftung von Kommunisten, die Drangsalierung von Juden zu sehen, und in einem der Berichte war davon die Rede, daß die Stadtverwaltung von Stettin den jüdischen Mitbürgern die Benutzung der städtischen Hallenbäder verboten habe.
’Was sagen Sie dazu, Max?’, fragte Brundage mit großem Ernst. ’Einer amerikanischen Mannschaft würde eine ganze Anzahl von Negern und Juden angehören. Wer garantiert uns, daß sie in Deutschland nicht behelligt werden?’
Allen Argumenten Brundages hielt ich immer wieder entgegen, daß alle deutschen Sportler einen korrekten Verlauf der Spiele garantieren und keine Diskriminierung, aus welchen Gründen auch immer, zulassen würden.
Im nachhinein wird mir die grenzenlose Naivität deutlich, mit der ich mich, trotz aller Erfahrungen, für Dinge verbürgte, die gänzlich außerhalb meiner Macht lagen. Keine Zusage, kein Versprechen konnte Hitler, sofern er überhaupt davon wußte, daran hindern, mich nach Belieben zu desavouieren... Immerhin machte meine Fürsprache einigen Eindruck, und mit ganz knapper Mehrheit entschloß sich das amerikanische
Komitee, an den Spielen in Deutschland teilzunehmen. Zum Dank wurde mir bald darauf der Große Olympische Orden verliehen.―
In seiner Erinnerung an den Kampf, den er in New York als Zuschauer erlebte, offenbarte er auch ein einziges Mal, mit welchen Methoden hinter den Box-Kulissen operiert wurde. Schmeling hatte gegen Braddock um die Weltmeisterschaft kämpfen sollen, aber Joe Louis bestritt diesen Kampf: „Der kranke Jimmy Braddock hatte längst einen Vertrag für einen Titelkampf gegen Joe Louis unterzeichnet, der schon einige Wochen später in Chicago ausgetragen wurde. Eine Geheimklausel des Vertrages sprach ihm für die Dauer von zehn Jahren aus allen Einkünften seines Gegners zehn Prozent Provision zu. Fünfundzwanzigmal hat Joe Louis im folgenden Jahrzehnt seinen Titel verteidigt. James Braddock ist reich geworden, indem er nicht gegen mich antrat. Joe Louis hatte freilich mit all dem nichts zu tun. Er war, wie ich, die Figur in einem Spiel...―
„Als ich Ende August 1936 nach dem gescheiterten Titelkampfprojekt nach Berlin zurückkam, waren die Olympischen Spiele gerade zu Ende gegangen. Sie hatten Deutschland einen beispiellosen sportlichen Triumph gebracht. ... Das Regime sah sich in diesen Erfolgen triumphal bestätigt. Und tatsächlich konnte es ja darauf verweisen, dem eben noch depressiven, von Arbeitslosigkeit und Elend niedergedrückten Lande einen neuen Geist eingehaucht zu haben.―
„Es ist nur natürlich, daß jede Nation Freude und Genugtuung über die Siege seiner Sportler empfindet. Aber nie war bis dahin ein Staat, eine Monarchie oder eine Republik, auf den Gedanken gekommen, aus dem Erfolg eines Springers eine Rechtfertigung der eigenen Herrschaftsform herzuleiten. Jetzt aber wurden die Siege auf dem Sportfeld in politische Überlegenheitsbeweise umgemünzt.
Damals kam es mir manchmal so vor, als hätten die neuen Machthaber tatsächlich einiges Recht, sich die sportlichen
Erfolge zuzuschreiben. Hatte denn nicht wirklich der Nationalsozialismus den Körper gegen den Geist ausgespielt? Und wenn er überhaupt eine Symbolfigur hatte, die der Jugend als Ansporn und Leitbild diente, so war es, neben dem Soldaten, der muskelgestählte Athlet.―
Niemand wird je die Frage beantworten können, ob der der folgenden Passage folgende Versuch, das in der BRD so eifrig verfolgte politische Ziel, Naziregime und DDR gleichzusetzen, wirklich Schmelings Ansicht wiedergab oder von außenstehenden Förderern des Buches initiiert worden war. Andere Kommentare von ihm fand man bislang kaum. Vielleicht war es nur ein Versuch, Schmelings Autorität noch einmal politisch zu mißbrauchen...
Hier der Wortlaut: „Erst später ist mir aufgegangen, daß es gar nicht so sehr das Dritte Reich war, das im sportlichen Sieg gewissermaßen die eigene Höherwertigkeit bestätigt sehen wollte. Ich lernte, daß es die Diktaturen im allgemeinen sind, die sich aus den Erfolgen einzelner Sportler ihre Rechtfertigungen holen. Auch jene Gewaltherrschaft, deren Ideologie gerade nicht auf den Muskel, sondern auf den Gedanken gegründet ist, und die vorgibt, nicht den Körper, sondern den Geist zu feiern, setzt alles daran, in sportlichen Wettkämpfen Triumphe davonzutragen: Schwimmerinnen, Kanuten und Läufer müssen dazu herhalten, dem sozialistischen Staaten zu internationalem Ansehen zu verhelfen.―
Max Schmeling, Erinnerungen, Frankfurt/M – Berlin – Wien 1977
Sportstadt Frankfurt/Oder
Von HANS-EBERHARD FEHLAND und HANS-JÜRGEN LOSENSYK
Viel Prominenz und zahlreiche Zeitzeugen gaben sich am 19. Februar anlässlich der Präsentation des Buches „Sportstadt Frankfurt (Oder)‖ im Sportmuseum der Oderstadt ein Stelldichein. Das Erstlingswerk beinhaltet die sportliche Entwicklung der 752jährigen Stadt an der Oder von den Anfängen bis in die Gegenwart. Es wird dabei ein Bogen gespannt von den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 mit dem dreifachen Turn-Olympiasieger Hermann Weingärtner bis zu Olympia 2004 in Athen mit dem goldenen Sportschützen Manfred Kurzer. Die sportliche Historie wird durch viele Geschichten, Episoden und Porträts aufgelockert. Zudem machen die Ehrentafel aller Medaillengewinner bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften, eine Zeittafel und die Vorstellung der gegenwärtig 82 Sportvereine der Stadt die 311-Seiten-Lektüre zu einem interessanten Nachschlagewerk für jung und alt. Autoren des Buches sind die Frankfurter Sportjournalisten Hans-Eberhard Fehland und Hans-Jürgen Losensky.
„Mit der Gründung des Vereins Sportgeschichte, der Eröffnung des Sportmuseums aus Anlaß der 750-Jahr-Feier im Jahre 2003 und dem nun vorliegenden Buch hat die Sportstadt Frankfurt (Oder) etwas vorzuweisen, das im Land Brandenburg einmalig ist‖, hob Eberhard Vetter, Vizepräsident des Landessportbundes, vor den knapp 100 Gästen hervor. Das Buch ist zum Preis von 14.90 Euro, die allein dem Verein Sportgeschichte zugute kommen, im Sportmuseum in der Slubicer Straße 6-7 und in der Buchhandlung „Ulrich von Hutten‖ im Oderturm erhältlich. Das Museum ist dienstags, donnerstags und freitags von 15 bis 18 Uhr geöffnet.(TEL 0335 – 6659663)
Aufstehen – immer wieder!
Von WOLFGANG TAUBMANN-JOHANNES ZIMOCH-WILFRIED SCHULZ
Dieses 320-Seiten-Buch ist für Freunde des Sports und Historiker im gleichen Maße eine Fundgrube. In der
Unterzeile wird kundgetan, wem denn empfohlen wird, immer wieder aufzustehen: Allen, die ihre zweite Liebe dem Radsport geschenkt haben und diesen Sport in den Mannschaften der NVA-Armeesportvereinigung betrieben. Diese Mannschaften – erläutern die Autoren im Vorwort – existierten vom 1. März 1957 bis zum 1. März 1991 und waren in Leipzig-Gohlis, Markkleeberg und Frankfurt/Oder zu Hause. Schon beim Studium des Inhaltsverzeichnisses stößt man auf zahllose Namen, die im Radsport der DDR eine Rolle spielten. Der Mann, mit dessen Erinnerungen das Buch beginnt, hatte schon einen großen Namen, lange bevor er die Aktiven des ASK betreute: Emil Kirmße. 1935 war er auf der Elberfelder Radrennbahn gegen die Weltelite der damaligen Steher erfolgreich gewesen und hatte Lohmann, Möller und Krewer hinter sich gelassen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs löste er eine Profilizenz – der Amateurradsport hatte noch mit den Folgen der alliierten Gesetze zu tun, während Profis zu den „Artisten― zählten und deshalb ungehindert starten konnten – und setzte seine Siegesserie fort. Er wurde der erste Steher-Ostzonenmeister! Als sich die 1948 entstandene neue Sportbewegung des Radsports annahm, war Kirmße mit von der Partie. Er studierte an der DHfK, beteiligte sich an der Vorbereitung der Amateursteher, die internationale Erfolge für die DDR errangen und agierte danach als ASK-Cheftrainer. Dies sei hier mitgeteilt, um deutlich zu machen, wie umfassend und lückenlos diese Chronik ist. Sie hätte gut und gern zweibändig werden können, wenn die Herausgeber sich dazu aufgerafft hätten, eine etwas größere Schrift zu wählen. Aber: Zu bewundern ist ihr Engagement und deshalb sollte man nicht Messlatten anlegen, die aus der Buchkunst stammen.
Dafür wurde jede Messlatte sportlicher Fakten gemeistert. Ein einziges Beispiel: Mechaniker Rudolf Esser war schon in seiner Jugend im roten Arbeitersport gestartet, kam 1959 zum ASK Leipzig und die Liste der Rundfahrten, bei denen er Armeerennfahrer betreute, ist stattlich. Diese Biographie des
im Jahr 2000 im Alter von 87 Jahren Verstorbenen macht deutlich, wie umfassend das gesammelte Material ist. Und nicht nur Lebensläufen galt die Aufmerksamkeit der Autoren. Bis hin zu den Untersuchungen im Windkanal wird der Leser informiert und kann sich so kundig machen, dass Olaf Ludwig eine fast perfekte Zeitfahrhaltung aufwies, als man ihn gegen den künstlichen Wind testete. Empfohlene Korrekturen konnten den Luftwiderstand des Geraers nur um 2,5 Prozent senken. Diese Abschweifung soll deutlich machen, dass man das Buch durchaus auch als ein beachtliches Kapitel der Geschichte des DDR-Radsports betrachten kann. Das führt bis zu einer – wohl sonst nirgendwo zu findenden – Chronik der 30 Internationalen Oderrundfahrten, deren erste (1955) Karl Quast gewonnen hatte und deren letzte (1994) Jan Schaffrath für sich entschied.
Wer diese Enzyklopädie erwerben will, sollte den „internen Manuskriptdruck― bei den „Beiträgen zur Sportgeschichte― anfordern. Die Redaktion wird sie Bestellungen an Wolfgang Taubmann weiterleiten
Klaus Huhn
GEDENKEN
Werner Lesser
22.August 1932 - 15.Januar 2005
Sein Name ist für alle Zeiten mit einem historischen Ereignis verknüpft. Um dem Schneemangel in den DDR-Mittelgebirgen beizukommen, hatte man sich auf die Suche nach „Schneeersatz― gemacht und Trainer Hans Renner hatte mit seiner Erfindung der Kunststoffmatten das Problem gelöst. Als im Herbst 1954 in Oberhof das erste offizielle Mattenspringen stattfand, ging Werner Lesser als Sieger in die Annalen ein.
Bereits bei den Wintersportmeisterschaften des Deutschen Sportausschusses 1949 in Oberhof hatte er als Werner
Lesser II den Kombinationssieg bei den Jungmannen errungen. Zu den III. Wintersportmeisterschaften der DDR 1952 waren am 2. Februar 100.000 Sportbegeisterte mit 48 Sonderzügen nach Oberhof gekommen. Der Spezialsprunglauf auf der Thüringenschanze war der mit Spannung erwartete Höhepunkt. Am Sonntag dem 3. Februar überrascht der 19jährige Werner Lesser von der BSG Stahl Brotterode alle Favoriten. Mit zwei Sprüngen von über 60 m stand er gemeinsam mit Franz Knappe aus Geschwenda auf der höchsten Stufe des Siegerpodestes. Sein späterer Trainer Hans Renner belegt den dritten Platz. Diesem ersten Meistertitel folgten in den nächsten Jahren noch drei weitere. Werner hatte mehr Leidenschaften, als nur das Skispringen: Vor allem den Fußball und die Trompete.
Werner Lesser steht auch als erster in der langen Traditionsreihe der Skiflieger aus der DDR. 1956 gewann er mit 122 m die Internationale Skiflugwoche in Mitterndorf am Kulm. Bei den Olympischen Winterspielen in Cortina d'Ampezzo unterstrich er mit seinem achten Platz, dass er zur Weltelite gehörte. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre gehörte er zusammen mit Harry Glaß und Helmut Recknagel zu dem Trio, das die DDR erfolgreich bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und Vierschanzentourneen vertrat. Seinen letzten Wettkampf bestritt er 1962. Als Trainer und Funktionär war er dann für den ASK Vorwärts in Oberhof und Brotterode tätig. Unter seinen Fittichen entwickelten sich Skispringer der Weltklasse, wie Kurt Schramm, Dieter Bokeloh, Dieter Neuendorf, Manfred Wolf, Hans-Georg Aschenbach, Dietmar Aschenbach, Jochen Danneberg und Martin Weber. Auch in der Internationale Skiföderation ( FIS) genoss Werner Lesser als Kampfrichter Ansehen. In den letzten Jahren wirkte er unermüdlich im „Förderverein Skisprung Thüringen‖
Jan Knapp
Lothar Skorning
5. Oktober 1925 – 3. Januar 2005
Mit ihm verließ uns einer der Männer der ersten Stunde des DDR-Sports. Sein Herz gehörte der Idee, der er sich verschrieben hatte, sein Kopf widmete sich der Sportbewegung, die mit den unseligen Traditionen des
deutschen Sports brach. Dass an seinem Grab die PDS-Fraktionsvorsitzende des Landtags Brandenburg, Dagmar Enkelmann und sein Kampfgefährte Günter Wonneberger sprachen, trug dem Rechnung, was uns bewog, aus beiden Reden zu zitieren.
DAGMAR ENKELMANN: „Als Sportler und meisterlicher Judoka hatte Lothar Skorning seine Krankheit als Herausforderung an seine Kämpfernatur angenommen. Das Aktiv-Sein, das Nicht-Aufgeben und Sich-Nicht-Geschlagen-Geben waren seine Lebensmaxime. Uns gab er deswegen leichthin den Rat, von seinem Tod nicht allzuviel Aufhebens zu machen. Das Leben ginge doch weiter. Doch nicht jeder ist ein Kämpfer. Und ohne Dich Lothar, da will ich Dir widersprechen, geht das Leben so einfach nicht weiter. Dein Bild lebt eingebrannt in den Gedächtnissen Deiner Familie und Deiner vielen Freunde weiter. Es ist das Bild eines ehrlichen, unbeugsamen, geradlinigen, kritischen, eines temperamentvollen, sozial fühlenden, klugen und humorvollen Menschen.
Wie kam es, dass aus der sowjetischen Besatzungszone das spätere Sportwunder DDR erwuchs? War es überhaupt ein Wunder? Jedenfalls wird das einmalige Sport-Phänomen noch lange Zeit für Debatten sorgen. Und wir dürfen vermuten, dass Lothar dereinst noch selbst Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sein wird. Lothar Skorning fühlte sich einem tiefen Humanismus verbunden. Geboren in der kurzen Friedensperiode zwischen zwei Kriegen, musste er in den Krieg derer ziehen, die sich für Übermenschen hielten und doch nur Unmenschen waren. Mehrfach verwundet, überlebte er das Morden und geriet in sowjetische Gefangenschaft. Vielen seiner Generation gleich, erlebte er seinen persönlichen Wendepunkt in der Antifa-Schule des Nationalkomitees Freies Deutschland. Nach den Erfahrungen von Faschismus, von Krieg, Hass und Gewalt fand auch er in dem neuen deutschen demokratischen Staat seine Heimstatt. Diesen mit aufzubauen, sollte sein Lebenswerk werden. In
dem hoch gebildeten Wissenschaftler, muss der Widerspruch zwischen dem, was theoretisch über die lichte neue Gesellschaft behauptet wurde, und der realen Lage im Sozialismus gebohrt haben. Auch der allseits geförderte Sport war in der DDR keine Insel der Seligen, wenn die Erfolge ausblieben. Das hat Lothar Skorning manches Mal aufgerieben. Die Aufbau-Generation, die zwar ein besseres Leben für ihre Familien und Kindeskinder vor Augen hatte, schonte sich selbst am wenigsten.
GÜNTER WONNEBERGER: Mit den Angehörigen, trauern besonders die seiner Kampfgefährten, die schon vor mehr als 50 Jahren mit ihm zusammengearbeitet hatten, - namentlich jene, für die ich hier sprechen darf: Georg Wieczisk, Hans Simon, Dietrich Harre, Gerhard Feck, Hans Schuster, Eleonore Salomon, Willi Schröder, Helmuth Westphal, und Günter Erbach, der in den Aspirantenjahren mit Lothar als "Skorbach" publizierte.
Haupanliegen Lothars wurde schon in der Berliner Studienzeit die Geschichte der Körperkultur und des Sports. Warum? Aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt stellte er sich wie viele seiner Generation die Frage: Wie entstehen Kriege und welche Lehren ergeben sich aus dem eben beendeten mörderischen Weltbrand, der von Berlin ausgegangen war. Empört über die Vorlesungen seines Direktors Carl Diem, der Heldenmythos predigte und die Leistungen körperlich gestählter deutscher Soldaten in den Kriegen rühmte, ohne den Charakter der Kriege auch nur anzudeuten, wandte sich Lothar dem Studium der Sportgeschichte zu. Seine bereits erworbenen marxistischen Kenntnisse waren die Leitlinie, die ihm auch von befreundeten Antifaschisten nahegebracht wurde. Gegen die im Westen bereits sichtbar werdende schleichende Restauration alter Verhältnisse, vertrat er den Weg seiner Partei, antifaschistisch-demokratische Verhältnisse zu schaffen und später sozialistische Ziele anzusteuern. Eine seiner Hauptaufgaben sah er dabei darin, die
Sportgeschichte zu erforschen und der jungen Generation von Sportlehrern seine Erkenntnisse zu vermitteln. Seine Bibliographie widerspiegelt fast alle Hauptthemen sportgeschichtlicher Arbeit in der DDR. Speziellen Arbeiten zur Geschichte des Arbeitersports und zu einzelnen Arbeitersportlern waren wichtige Beiträge, diesen Teil der Geschichte vor dem Vergessen zu bewahren.
Er war ein beliebter und aktiver, sachkundiger Gesprächspartner im Kreis von Fachleuten aus Ost und West. Und er war deshalb persönlich bitter enttäuscht, als in den 90er Jahren meinungsführende Westkollegen statt wissenschaftlich fundierter Diskussion, politisch gewollte Deligitimierung des DDR-Sports praktizierten. Lothar wusste deshalb, dass es gerade in diesem Zusammenhang noch viel zu tun gibt. Und so hat er im Krankenbett begonnen, die bisher veröffentlichten Äußerungen zur „Geschichte des DDR-Sports― zu analysieren. Die Krankheit war schneller. Was ihm nicht mehr gelungen ist, bleibt uns nun - als sein Vermächtnis - zu verwirklichen.
Der Geschichte Endurteil verjähret nicht - und sie setzt schließlich jeden in sein Ehrenrecht.
Wolfgang Hempel
7. März 1927- 4. Dezember 2004
Hubert Knobloch
19. Dezember 1939 – 6. Dezember 2004
Roland Sänger
26. Februar 1935 – 28. Dezember 2004
Dass DDR-Sportjournalisten zur europäischen Elite zählten, wagt kaum jemand zu bestreiten. Als Wolfgang HEMPEL starb, strömten nicht nur über 200 Trauergäste in eine Erfurter Sporthalle, sogar die konservative Hamburger „Zeit― schickte einen Chronisten los, der das Phänomen des DDR-Sportjournalismus erklären sollte.
Wolfgang HEMPEL entstammte der ersten Generation, die den – weil immer wieder mit politischen Schwellen blockiert – mühsamen Weg des DDR-Sports aus dem Nichts an die Weltspitze begleitete und kommentierte. Reporter waren in dieser Phase nie nur Beobachter oder
journalistische Wertungsrichter, sie lebten, litten und feierten mit den Aufsteigern und sie wuchsen auch mit ihnen. Gemeint ist: Sie beherrschten die deutsche Sprache und – was dem „Zeit―-Chronisten wohl entging – lasen Bücher, die nicht nur Rekordlisten enthielten. Sie luden Schriftsteller zu ihren Jahresversammlungen und diskutierten mit ihnen. Unvergessen der Auftritt von Inge von Wangenheim, die mit geschliffenen Worten die Unsitte geißelte, Kesselflicker-Boxer nur deshalb zu rühmen, weil sie aus den Entwicklungsländern kamen. HEMPEL war die „gelassenste― Stimme am Sport-Mikrofon, die man in Deutschland vernehmen konnte. Man hörte ihn nie krakeelen, nicht jammern oder mit faulem Witz gewürzte Kritik üben und schon gar nicht, eine misslungene Aktion mit Häme bedenken. Es war bewundernswert, wie er immer das treffende Wort fand und nie der Eindruck aufkam, dass er es hätte erst suchen müssen.
Als die Rückwende auch die Medienokkupation bescherte, war für HEMPEL nicht mal Platz in einer zweiten Mannschaft. So geriet er in den Hintergrund, lange bevor er starb. „Zeit―-Reporter Christoph Dieckmann mischte unter seine Plattitüden, die vom Doping bis zu Mielke reichten, an versteckter Stelle den Satz: „Es ist wohl wohl nicht alles gut gewesen in der DDR, aber ihre alten Sportreporter waren vom Feinsten.―
Zu Hubert KNOBLOCH, der nur Stunden nach Hempel starb, zitierte Dieckmann Thomas Schwarz: „Den bürgerlichen Christdemokraten hat die Wende zum Kommunisten gemacht.― Hatte er übersehen, dass er doch erst hätte erklären müssen, wie ein „bürgerlicher Christdemokrat― im Arbeiter- und Bauernstaat überhaupt Medienstar hatte werden können?
Bei allen Olympischen Spielen behauptete sich die Mannschaft des DDR-Fernsehens vor den zwei BRD-Mannschaften von ARD und ZDF. Vor allem durch ihre immer glänzend präparierten Reporter und die clevere Umsicht der Redakteure. Unvergessen – nur ein Beispiel -, wie die BRD-Fernseh-Zuschauer 1988 in ihren Schüsseln verzweifelt nach dem DDR-Sender suchten, weil der das dramatische Eishockeyspiel BRD-CSSR (2:1) übertrug, während auf dem anderen Kanal das nicht allzu aufregende Restprogramm der Eröffnung lief.
Medaillen verdiente auch die konstruktiv aktive Mitwirkung der DDR-Journalisten am DDR-Sportbetrieb. Ein Freund Hempels in Erfurt erfand die Losung „Eile mit Meile―, ein Kollege schlug vor, künftig zu jedem Olympiasieger auch den zu nennen, der ihn einst für den Sport gewonnen hatte. Zugegeben: Die Quoten bestimmten in diesem Land und diesem System nicht das Leben, aber Sportarten erschienen auf dem Bildschirm, die man nun seit Jahren nie mehr sah. Es gab kaum eine Jahresversammlung der Sportjournalisten, zu der HEMPEL nicht gekommen wäre. Er saß auch mit an dem Tisch, an dem einst das Potsdamer Abkommen signiert worden war, als ein Sportfan in der
Potsdamer Museumslandschaft die legendäre Tafel für die Jahresversammlung der Sportjournalisten hatte räumen lassen.
Roland SÄNGER sorgte am Holmenkollen ebenso wie bei den Damenskirennen in Klingenthal für Stimmung. Er schrieb, inszenzierte und arrangierte unzählige Massensportveranstaltungen, lief oft auf Skiern mit und triumphierte nicht selten bei Wettbewerben der Sportjournalisten.
Dieckmann hatte sich nicht bereden lassen, zu behaupten, DDR-Sportjournalisten hätten nur geredet und geschrieben, was man ihnen vorschrieb oder vorredete. Er könnte begriffen haben, dass seine Elogen auf HEMPEL und KNOBLOCH selbst für den einfältigsten Leser keinen Spielraum ließen, derlei zu behaupten. Und dann wurde auch noch enthüllt, dass keiner von den „Meistersingern― Berichte für das MfS geschrieben hatte. Dass sie beim alljährlichen Dynamoball smalltalk mit Fußballfan Mielke pflegten, wurde glücklicherweise niemandem angelastet.
Dass Roland SÄNGER Opfer irgendwelcher Denunzianten wurde, seinen Job und seinen Ruf verlor – was im Thüringer Wald schwerer zu ertragen war, als irgendwo in Berlin – vergällte ihm den Rest seines Lebens. Seine Verdienste konnte niemand annullieren und auch den Ruf der DDR-Sportjournalistik nicht schmälern. Wie schrieb die „Zeit―? „Es ist wohl wohl nicht alles gut gewesen in der DDR, aber ihre alten Sportreporter waren vom Feinsten.―
Klaus Huhn
Willi Ph. Knecht
24. Februar 1929 – 17. Februar 2005
Diese Zeilen schrieb jemand, der Willi Knecht länger als fünf Jahrzehnte kannte und ihn – ungeachtet des Umstands, dass die beiden nie Freunde wurden – bis zum letzten Tag schätzte. Willi Knecht hatte sich, vornehmlich am RIAS-Mikrofon, des Kreuzzugs gegen die DDR und vor allem ihres Sports verschrieben. Seine Bücher zu diesem Thema füllen Regale, die Manuskripte seiner Kommentare stapeln sich zu Bergen. Es gab Zeiten, in denen kein Tag zur Neige ging, an dem er nicht mit seiner fast melodischen Stimme in scharfen oft auch zynischen Worten gegen die Medaillenmacht DDR angegangen wäre. Man sollte nicht versuchen, nach den Motiven zu forschen, die ihn bewogen nach der Rückwende – und dem Ende der DDR – plötzlich ganz andere Fragen
aufzuwerfen, das Kreuzzugsgewand irgendwo am Wegesrand zu vergraben und eine neue Sachlichkeit im Umgang miteinander zu praktizieren. Solch Wandel wird höheren Orts meist nicht geschätzt. Willi Knecht, sein Leben lang im Mittelpunkt, geriet plötzlich ins Abseits. Er ertrug es mit Würde und Haltung. Ein Fernsehsender hatte sich 1990 viel davon versprochen ihn und den Autor an einem Abend in den Talk-Ring zu schicken. Wir redeten einige Worte darüber, ob es der Zeit angemessen wäre, mit Hieben aufeinander loszugehen? Ohne weitere Verabredung geriet der Disput zu einem sachlichen Gedankenaustausch über die neue Situation und auch über die Notwendigkeit, die positiven Aspekte des DDR-Sports weiter zu nutzen. Doch damit stand er bald allein da und als Männer wie Willi Daume, die sein Können und Wissen schätzten, nicht mehr am Steuerruder des bundesdeutschen Sports standen, hielten dessen Nachfolger die Stunde für gekommen, sich von Willi Knecht zu trennen. Der einstige Herold der bundesdeutschen Sportpolitik ward nicht mehr gebraucht. Für seinen Charakter sprach, dass ihn das keinen Millimeter von seinem Weg abtrieb. Er schloss die Türen des über Jahre Meinungen bildenden „NOK-Reports― und zog sich zurück. Wer wusste, in welchen Zeitungen man ihn noch lesen konnte, verlor nicht den Kontakt zu dem ungewöhnlichen Journalisten. Als im Sportausschuss des Bundestages jede Partei Fachleute mit einem Gutachten aufbieten sollte, und er wieder einmal an die Seite geriet, hatte er keine Hemmung, sich von der PDS nominieren zu lassen. Das bescherte ihm einen ungewöhnlichen Tag mehr in seinem ereignisreichen Leben. Selbst wenn uns unsere Standpunkte nie Freunde werden ließen, werde ich ihn nicht vergessen. Lehrt uns nicht der Sport, dass man auch „Gegner― schätzen sollte? Klaus Huhn
Register wichtiger Publikationen in den 20 Ausgaben der „Beiträge zur Sportgeschichte“


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TITELSEITE HEFT 22
Frühjahr 2006 Einzelheft 6,00 €
Beiträge zur Sportgeschichte 22
In diesem Heft
Bilanz der Winterspiele in Turino
Helmut Horatschke - Klaus Huhn
Vor 50 Jahren wurde das legendäre FKS etabliert
Gespräch mit Hans Schuster
Boxen und die Aussichtslosigkeit
Gespräch mit Günter Debert
DYNAMO und die Wahrheit
Herbert Gasch
Auf Distanz zu Carl Diem
Helmut Westphal
2
Beiträge zur Sportgeschichte Heft 22/2006
INHALT
// OLYMPISCHE WINTERSPIELE TURIN 2006
4 Turino 2006
Olympiaredaktion
6 Deutsche Bilanz – sachlich kritisch
Helmut Horatschke
10 Der Kalte Krieg auf dem Eis
Klaus Huhn
23 ZITATE vor und nach Olympia
// OLYMPIA – BLICK ZURÜCK
26 Zur Geschichte der Olympischen Winterspiele
Werner Stenzel
// INTERVIEW
31 Vor 50 Jahren – Gründung der Forschungsstelle an der DHfK
Gespräch mit Hans Schuster
44 Boxen und die Aussichtslosigkeit
Gespräch mit Günter Debert
//DOKUMENTATION / DISKUSSION
48 Wieder einmal: Aufarbeitung
Klaus Eichler
52 Vier Konferenzen zur Zeitgeschichte
Joachim Fiebelkorn
56 100 Jahre Deutscher Skiverband (DVS)
Jan Knapp
59 DYNAMO – und die Wahrheit
Herbert Gasch
3
63 Auf Distanz zu Carl Diem!
Helmuth Westphal
66 // ZITATE
Der deutsche Nachwuchssport in der Krise!?
Sport-Förderflickwerk
Das Potenzial für jede einzelne Sportart ist rückläufig
// REZENSIONEN
81 Kristin Otto/Heinz-Florian Oertel: Turin 2006 - Unser Olympiabuch
Klaus Huhn
82 Andreas Ciesielski (Hrg.): Typisch Täve
Klaus Huhn
83 Andreas Ciesielski (Hrg.): Erich Schulz: Sein Leben für den Radsport
Klaus Huhn
84 Klaus Ampler: Schweiß – Eine Autobiografie
Klaus Huhn
85 Andreas Ciesielski: Das Wunder von Warschau
Margot Budzisch
86 Peter Becker: Der Trainer
Wolfgang Taubmann
88 Günter Witt: Skisport in der bildenden Kunst
Günther Wonneberger
89 Dietmar Schürtz: Julius Feicht – mein Leben für den Schwimmsport
Hasso Hettrich
90 BOXING special
Dietrich Denz
// GEDENKEN
92 Rudi Hellmann
Klaus Huhn
94 Siegfried Geilsdorf
Erhard Richter
95 Johannes Weber
4
Rolf Donath
96 Walter Roth
Kurt Franke
DIE AUTOREN
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theorie der Körperkultur an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994
GÜNTER DEBERT, geboren 1929, Diplomsportlehrer, Boxtrainer seit 1953, Cheftrainer im Deutschen Boxverband (DBV) 1978 bis 1990
DIETRICH DENZ, geboren 1942, Diplom-Mathematiker, Sportjournalist beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) und Sport-Informationsdienst (sid)
ROLF DONATH, OMR Dr. med., Diplomsportlehrer, geboren 1929, Direktor des Zentralinstituts des Sportmedizinischen Dienstes (ZI) Kreischa 1981 bis 1990
KLAUS EICHLER, geboren 1939, Chemie-Ingenieur, Vizepräsident des DTSB 1984 bis 1988, Präsident des DTSB 1988 bis 1990
JOACHIM FIEBELKORN, geboren 1926, Sportjournalist, Chefredakteur „Deutsches Sportecho“ 1959 bis 1963
KURT FRANKE, Dr. sc. med., geboren 1926, Prof. für Chirurgie/Trauma-tologie an der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR 1977 bis 1990, Chefredakteur der Zeitschrift „Medizin und Sport“ 1961 bis 1980
HERBERT GASCH, geboren 1923, Diplomsportlehrer
HASSO HETTRICH, geboren 1932, Präsident „Sport und Gesellschaft e.V.“
HELMUT HORATSCHKE, geboren 1928, Diplomsportlehrer, Abteilungs-leiter (Planung und Koordinierung des Leistungssports) im Bundesvor-stand des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) 1957 bis 1987
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren1928, Sportjournalist und Sporthistoriker
JAN KNAPP, geboren 1948, Schäfergehilfe, Fachlehrer für Staatsbürger-kunde und Geschichte, Leiter des Thüringer Wintersportmuseums Oberhof
ERHARD RICHTER, geboren 1929, Generalsekretär des Deutschen-Ringer-Verbandes (DRV) 1980 bis 1986
HANS SCHUSTER, Dr. paed., geboren 1928, Prof. für Theorie des Leis-tungssports an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) und am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig 1965 bis 1990, Rektor der DHfK 1965 bis 1967, Direktor des FKS 1969 bis 1990
WERNER STENZEL, geboren 1937, Diplom-Historiker
WOLFGANG TAUBMANN, Dr. paed., geboren 1932, Diplomsportlehrer, Leiter des Wissenschaftlichen Zentrums im Deutschen Radsport-Verband (DRSV) 1967 bis 1987
HELMUTH WESTPHAL, Dr. paed. habil., geboren 1928, Prof. für Theorie der Körperkultur und Sportgeschichte an der Pädagogischen Hochschule Potsdam 1958 bis 1988
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GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Ge-schichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der DHfK Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972, Präsident des International Commitee for History of Sport and Physical Education (ICOSH) 1971 bis 1983, Mitglied der dvs
TURINO 2006
Von unserer OLYMPIAREDAKTION
Alle Olympiabildprachtbände sind erschienen, die meisten wohl sogar schon verkauft, aber manches geriet in der Hektik der Konkurrenzkämpfe unter die Räder.
Deshalb beginnen wir mit einem vergleichenden Urteil: Als 1956 in Corti-na zum ersten Mal von den Italienern organisierte Olympische Winterspie-le stattfanden, schaufelte man im Vorübergehen Schnee auf die Haupt-straße, damit der legendäre Zeno Colo als letzter Fackelläufer die Schussfahrt von den Alpengipfeln erst im Stadion beenden musste. Der die - im römischen Capitol entzündete - Flamme zur Schale trug, stolperte über ein Kabel und alle im Stadion bangten mit ihm, dass das Feuer nicht verlöschen möge.
In Turino lag kein Schnee, die Gipfel waren nur bei klarem Wetter in der Ferne zu erkennen, aber niemand stolperte, denn Perfektion wurde prä-sentiert. Wenn eine Zeitung schrieb, man habe vergeblich nach dem olympischen Geist gesucht, und dem Chronisten nicht entging, dass nie und nirgends der Name Coubertin fiel, dann verrät das genug über die Spiele der Gegenwart. Milliarden konnten den berühmtesten Artisten zu-sehen, den weltbekannten Tenören zuhören, Farbkompositionen bestau-nen und sahen immer im Hintergrund die olympische Flagge. Zum Olym-piaauftakt in Torino gehörten ein feuerroter Ferrari-Formel-I-Bolide eben-so wie zum Programm die drei Stunden Autofahrt zur Tribüne an der Bobbahn, auf der ein Sitzplatz 400 Euro kostete, also etwa so viel wie ei-ne Hartz-IV-Monatsgage.
Dennoch: Es waren großartige Spiele - nur eben ganz andere als die vor fünfzig Jahren in Cortina.
Zugegeben, auch damals ging es schon ums Geld, nur eben noch in an-deren Dimensionen. Wer diesmal verlor, verlor vielstellige Summen. Zum Beispiel die US-amerikanische Fernsehgesellschaft NBC, die 613 Millio-nen Dollar für die Übertragungsrechte bezahlt hatte, aber eine um 30 Pro-zent gesunkene Einschaltquote zu beklagen hatte. Die fest kalkulierten Werbeeinnahmen sanken rapide, weil jeder Dollar, den eine Werbesen-dung einträgt, an eine Quote gebunden ist. Und von dem NBC-Geld leben nicht nur die Spiele, sondern auch das Internationale Olympische Komitee und zwar - wie Eröffnung und Finale jedem vor Augen führten - auf ziem-
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lich großem Fuß. Kurzum: Es könnte geschehen, dass man demnächst auch im IOC sparen muss und das könnte Probleme mit sich bringen.
Da Olympia längst zur Soap Opera auf- oder abgestiegen ist, sind die Chancen gering. Geblieben sind übrigens die deutschen Medaillenzähler! An die 16 Jahre hat man sich über die DDR ereifert, die angeblich Sport nur um dieser Medaillen willen erlaubt hatte. Und jetzt? In der FAZ las man: „`Wir sind stellvertretend für die sportlichen Mitbürger unseres Lan-des alle begeistert und stolz auf die Leistungen unserer Sportler`, hob Wolfgang Schäuble... hervor.“ Und dann hatte er noch hinzugefügt: „Auch mit ihrem Auftreten haben die Sportler Ehre für unser Land eingelegt.“
„Sind noch Fragen?“, pflegte man früher zu fragen. Nein aber ein paar Antworten hätte ich noch bei der Hand. Der Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung hatte sie der FAZ gegeben: „Bei der Bundeswehr geben wir im Jahr fast 27 Millionen Euro aus für die Sportförderung. Das zahlt sich aus. Ohne diese Sportförderung stünden wir nicht an erster Stelle des Medaillenspiegels.“ Und der Minister hatte mindestens einen medail-lenzählenden Adjudanten in seinem Gefolge, denn er sagte der FAZ und der deutschen Öffentlichkeit auch noch: „Die Bundeswehr alleine käme bereits auf Platz drei der Wertung.“ Er meinte die Medaillenwertung und merkte vorsichtshalber noch an: „Wenn wir die Bundeswehr nicht hätten, stünden wir im Medaillenspiegel auf Platz dreizehn.“ Unvorstellbar diese Katastrophe: Deutschland nur Dreizehnter in der Welt. Gerettet wurde das Land also von der Bundeswehr.
Der Interviewer erinnerte sich einer Vokabel, die vor rund 60 Jahren in Umlauf gebracht worden war, um die DDR zu diffamieren: Deren Athleten seien „Staatsamateure“. Das mochte der Minister 2006 nicht hören: „Ich finde im übrigen den Begriff Staatsamateur nicht positiv. Als ich in Turin mit dem Biathlon-Olympiasieger Michael Greis gesprochen habe, habe ich gemerkt, welchen Bezug er zu seinem soldatischen Dienst hat.“ Na denn! Links um, im Gleichschritt...
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt! Am Ende der Abschlussfeier wurde eine riesige Picasso-Friedenstaube auf dem Rasen formiert, stieg dank der Fernsehkameras auf zum Flug um die Welt und erinnerte so an die Hoff-nung, die Olympia verbreiten will. Wieder und wieder...
Sich über den angeblich der Fahndung nach Dopingsündern geltenden Polizei-Überfall zu ereifern, wäre fast vertane Zeit. Alle waren sich einig im Klagelied gegen das Dopingübel und nur Unbelehrbare fragten sich ir-ritiert, wie es wohl aufkommen konnte, nachdem die DDR doch schon so lange untergegangen ist. Und wird sie nicht heute noch als Mutterland al-len Dopings verteufelt? Als eine bundesdeutsche Skiläuferin wegen zu hoher Blutwerte für einen Wettkampf gesperrt wurde, las und hörte man
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vernichtende Kritik am Internationalen Olympischen Komitee. Ja, die Frau war schließlich in einem der alten Bundesländer zur Welt gekommen...
Deutsche Bilanz - sachlich kritisch
Von HELMUT HORATSCHKE
Das Programm der Olympischen Winterspiele wurde erneut um sechs Wettbewerbe erweitert - drei für Männer und drei für Frauen - und erreich-te damit die Zahl von 84 Disziplinen. Neu im Wettkampfprogramm waren ein Massenstart im Biathlon - 12,5 km für Männer und 10 km für Frauen -, je ein Mannschaftsverfolgungsrennen im Eisschnelllauf für Männer und für Frauen und im Snowboard die Disziplin Cross jeweils für Männer und für Frauen.
Seit 1992 sind das 38 neue olympische Wettbewerbe. Der Skilanglauf der Männer über 30 km und der der Frauen über 15 km sind der neuen Dis-ziplin Zweier-Mannschaftssprint gewichen. Bei der Programmgestaltung spielten Interessen der Medien nach publikumswirksamen und möglichst spektakulären Wettbewerben ebenso eine Rolle, wie die Werbewirkung, die sich Sportartikelfirmen für ihre Produkte versprechen. Manche der neuen Disziplinen dürften für eine intensive Verbreitung ungeeignet und von vornherein den Profis vorbehalten sein.
Im Wintersport entfaltet sich die Materialschlacht der konkurrierenden Firmen noch stärker, als im Sommersport. Das bedingt schon der Preis, den man heute für Wintersportausrüstungen bezahlen muss. Profis wer-den mit Spitzenprodukten ausgerüstet, die für einen normalen Sportler unerschwinglich sind. Dabei fiel auf, dass die Spitzenläufer ungeachtet des für die Spiele geltenden TV-Werbeverbots, demonstrativ ihre Skier vor den Kameras präsentieren. Schließlich wollen neben der großen Ver-marktungsgesellschaft IOC auch die Sportföderationen und die nationalen Sportverbände am Profigeschäft kräftig mit verdienen. Da soll man „flexi-bel“ sein. Da wird selbst die olympische Idee eines weltumspannenden Frieden stiftenden Sportfestes ignoriert. Zwischen dieser Idee und der gnadenlosen Vermarktung etikettenbeklebter Profis in immer dichter wer-denden aufreibenden Wettkampfserien ist eine tiefgreifende Diskrepanz entstanden. Das Geschäft des Profisports negiert das humanitäre Anlie-gen einer sportlichen Betätigung und dessen vielfältigen Organisations-formen und führt zu einem exklusiven Wanderzirkus, der Woche für Wo-che von Ort zu Ort zieht. Aus den beteiligten Sportlern sind Berufsartisten geworden, die je nach Erfolg für eine hohe oder weniger hohe Gage ar-
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beiten. In diese Struktur sind die Olympischen Spiele inzwischen als eine Art sportartenübergreifender Oberzirkus einbezogen. Ein Beweis dafür ist auch die Übernahme bevorteilter Startplätze aus den Weltcupserien für die olympischen Wettkämpfe. Wer sich nicht am Profizirkus beteiligt, wird bei den Spielen in einer ungünstigeren Startgruppe ausgelost. Olympi-sche Spiele bleiben trotzdem sehenswert, wenn man sie als das nimmt, was sie geworden sind. Für den sportlichen Berufsartisten führt der Zwang, mangels beruflicher Ausbildung und Perspektive zum Gelderwerb gezwungen zu sein, häufig in physisch und psychisch nicht mehr verkraft-bare Grenzbereiche. Das zeigte das Scheitern auffallend vieler Welt-cupfavoriten in den olympischen Wettbewerben von Turin. Der Berufs-sport wird in Deutschland wie auch in anderen Ländern, von Angehörigen der Armee, des Grenzschutzes und der Polizei dominiert. Auch wenn man nicht am Dienstbetrieb teilnimmt, sichert ein Mannschaftsdienstgrad bei Ausbleiben gewinnbringender Erfolge noch ein überlebenssicherndes Einkommen. Die Medien beherrschen die Profiszene mit und diese be-herrscht ihrerseits den Sportteil der Medien. Das weite Feld des Sportes außerhalb der Profiszene kommt in den Medien meist nur noch ab 10.000 Teilnehmern vor. Neben dem Profizirkus gibt es aber noch einen von den Medien kaum beachteten Leistungssport. Das sind Sportler, die den Pro-fizirkus meiden oder nur einzelne Wettkämpfe zum Leistungsvergleich nutzen und nach gezielter Olympiavorbereitung sogar favorisierten Profis das Nachsehen geben. Sie sind es, die den Olympischen Spielen noch eine gewisse Farbe geben.
Zur Wertung der sportlichen Ergebnisse
Für die Einschätzung der tatsächlichen Leistungspotentiale von Kontinen-ten und Ländern erweist sich die goldmedaillenfixierte Medaillenstatistik als wenig geeignet. Aussagekräftiger ist eine Statistik der ersten 6 Plätze, gerechnet nach Platzierungspunkten 7,5,4,3,2,1. Danach haben sich die Leistungspotentiale der Kontinente nur leicht zu Gunsten Asiens und zu Lasten Europas und Nordamerikas verschoben. Größere Differenzen im Vergleich zu den Spielen von 2002 traten bei den leistungsbestimmenden Ländern auf. Hier haben eine positive Leistungsbilanz: Kanada, Schwe-den, Südkorea, Österreich, Schweiz, Russland und China. Größere Ver-luste verzeichneten: USA, Deutschland, Norwegen, Bulgarien und Japan. Zu berücksichtigen war, dass mit den sechs neuen Disziplinen der Zu-wachs insgesamt größer war, als die Verluste. Die Spitzengruppe der leis-tungsbestimmenden Länder ist enger zusammengerückt. Die 10 führen-den Länder sind in dieser Reihenfolge: Deutschland, Kanada, USA, Ös-terreich, Russland, Norwegen, Schweden, Schweiz, Italien und Frank-reich. Anschluss halten Südkorea und China. Man sieht, dass die Medail-
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lenbilanz (13. Rang ) dazu verleiten kann, das tatsächliche Potential Nor-wegens (6. Rang) zu unterschätzen.
Größere Gewinne und Verluste in den einzelnen Sportarten:
SPORTART
GEWINN
VERLUST
Biathlon
Deutschland
Norwegen
Frankreich
Russland
Bobsport
Deutschland
USA
Kanada
Schweiz
Russland
Curling
Kanada
Großbritannien
Schweden
Norwegen
Finnland
Schweiz
Eishockey
Schweden
USA
Finnland
Kanada
Eiskunstlauf
China
Russland
Eisschnellauf
Kanada
Deutschland
Italien
USA
Russland
China
Rennschlittensport
Italien
Deutschland
Short-Track
Südkorea
China
Kanada
Ski Alpin
Österreich
Norwegen
Schweden
Italien
Frankreich
Deutschland
Ski Freistil
China
USA
Ski Nordisch
Schweden
Finnland
Frankreich
Deutschland
Österreich
Schweiz
Snowboard
USA
Schweiz
Skeleton
Kanada
USA
Das Ziel der deutschen Mannschaft, die führende Position von 2002 auch 2006 zu verteidigen, wurde erreicht. Trotz der sechs neuen Disziplinen blieb das Ergebnis hinter den Spielen von 2002 um sieben Medaillen und 35,5 Platzierungspunkte zurück. Ursache war die wachsende Differenz der Leistungsentwicklung einzelner Sportarten, die nachdenklich stimmen
10
sollte. Aufschluss geben die Resultate der einzelnen Sportarten von Platz 1 - 6, die Platzierungspunkte mit Plus und Minus zu 2002, der Platz in der Rangliste der Sportart, und der Vergleich mit 2002.
Sportart
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Ges.
+ -
2006
2002
Biathlon
5
4
2
2
0
0
69
+13
1
2
Bobsport
3
0
0
0
3
0
27
+3
1
1
Eishockey
0
0
0
0
1
0
2
0
7
7
Eiskunstlauf
0
0
0
0
0
1
1
+1
10
-
Eisschnellauf
1
1
1
2
2
2
28
-26
5
2
Rennschlitten
1
2
1
0
1
2
25
-7
1
1
Short-Track
0
0
0
0
0
1
1
+1
10
-
Ski Alpin
0
0
0
0
0
1
1
-11
12
7
Ski Nordisch
1
4
2
3
1
2
48
-13
7
4
Snowboard
0
1
0
0
0
0
5
+5
3
-
Skeleton
0
0
0
1
0
0
4
0
4
5
Ski-Freist./Curl.
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Der deutsche Gesamterfolg lebte also wesentlich von Erfolgen in vier Sportarten, eingeschlossen die überraschende Silbermedaille in Snow-board. Dem standen gegenüber:
Ein Leistungsverlust von 48 Prozent im Eisschnelllauf, trotz zweier neuer
Disziplinen, ein Einbruch im alpinen Skisport mit nur noch einem 6. Platz, 21 Prozent Leistungsverlust im nordischen Skisport, erstmalig seit 1992 ohne Medaille im Skispringen, ein 10. Platz im Eishockey der Männer.
Diese Bilanz wirft einige Fragen auf: Wie lange können ältere Sportler noch die Erwartungen erfüllen? Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus und wie fördert man ihn? Ist es weiter vertretbar, aus den Serienweltcups her-aus ohne spezielle Vorbereitung bei Olympischen Spielen an den Start zu gehen? Ist ein Fördersystem, das dem erfolgreichen Verband mehr Geld sichert und dem erfolglosen die Zuschüsse kürzt eine weitsichtige Strate-gie? Wer verantwortet, dass eine aus den verschiedenen Profiligen rekru-tierte Eishockeymannschaft nach nur drei Tagen gemeinsamer Vorberei-tung in das olympische Turnier geschickt wird? Waren DSB-Führung und NOK seit Athen zu sehr mit sich selbst und ihrer Fusion beschäftigt, oder bestimmen im Profizirkus jetzt andere Mächte?
Auffallend ist, dass erneut der größere Anteil an Medaillen von Sportlern geholt wurde, die aus dem deutschen Osten stammen.
MEDAILLEN
OST
WEST
GOLD
65 %
35 %
SILBER
62 %
38 %
BRONZE
33 %
66 %
GESAMT
57 %
43 %
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Das Weiterwirken alter Leistungstraditionen aus dem DDR-Sport in eini-gen Wintersportarten und das Können der noch tätigen Trainer in Ober-hof, Oberwiesenthal, Altenberg, Berlin, Erfurt, Chemnitz und Riesa scheint sich jedenfalls immer noch auszuzahlen.
Der Kalte Krieg auf dem Eis
Von Klaus HUHN
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Um es deutlich zu sagen: Olympia hatte in seiner Geschichte genug Ärger mit den Deutschen: Zwei Weltkriege - die dreimal die Spiele verhinderten und zur verständlichen Folge hatten, dass man die Deutschen für drei Olympiaden ausschloss - und der perfektionierteste Missbrauch von Olympia bei den Spielen 1936 durch Hitler dürften als Belege für diese Feststellung zulangen.
Und nun 2006 ein im Vergleich zu den Millionen Menschenleben kosten-den Kriegen auf den ersten Blick fast harmloser Krimi. Kein Blut, keine Opfer. Als Randereignis kann er dennoch nicht abgetan werden, weil er als schwerwiegendes Nachtrags-Kapitel zum Kalten Krieg eingeordnet werden muss. Tagelang lieferte er denn auch dem für den deutschen An-tikommunismus-Frontabschnitt zuständigen Medien fette Schlagzeilen.
Juristisch muss er zudem als - misslungener - Versuch betrachtet werden, das olympische Regelwerk nach deutschen Wünschen zu manipulieren.
Der Tatbestand: Als das Nationale Olympische Komitee der Bundesre-publik Deutschland seine Mannschaft für die Olympischen Winterspiele 2006 in Torino benannte, ließ es die Öffentlichkeit wissen, dass drei vor-nominierte Betreuer von der Liste gestrichen worden seien. Offenbar bei diesem in der Geschichte der Spiele beispiellosen Fall doch von Spuren schlechten Gewissens geplagt, verband man diese Mitteilung mit der Ver-sicherung, dass die Namen der Ausgesperrten nicht preisgegeben wür-den. Eine an Naivität kaum zu überbietende Ankündigung, denn jeder halbwegs Eingeweihte erfuhr durch einen Blick auf die Liste, wer gelöscht worden war. Zwei aus dem Trio zogen sich wortlos zurück, vermutlich, weil sie überzeugt waren, dass jeder Versuch, diese Aussperrung rück-gängig zu machen, aussichtslos war. Diese Skepsis war bei allen in den neuen Bundesländern Aufgewachsenen erklärlich, denn der Vorwurf, den man gegen sie erhob, hatte dort seit 1990 schon Tausende von Existen-zen zerstört und an die hundert Selbstmorde verschuldet. Er lautete: Tätig gewesen für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Er musste nicht vor Gericht nachgewiesen werden, wie das nach den geltenden Ge-setzen für alle Verstöße gegen das Recht vonnöten ist, weil man sich da-ran gewöhnen musste, dass ein Papier des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen alle sonst üblichen Beweismittel ersetzte.
Der Dritte im Bund der Verdammten war der Eiskunstlauftrainer Ingo Steuer. Zu seiner Person: Geboren am 1. November 1966 in Karl-Marx-Stadt, schon in früher Jugend begeisterter Eiskunstläufer, mit 18 Jahren Junioren-Weltmeister im Paarlaufen. Er errang danach noch viele interna-tionale Erfolge, wurde mit Mandy Wötzel 1995 Europameister, 1996 Vi-zeweltmeister und 1998 bei den Olympischen Spielen in Nagano Bron-zemedaillengewinner. Später wurde er Profi, tourte mit seiner Partnerin durch die Welt und entschloss sich dann, Trainer zu werden. Das von ihm
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betreute Paar Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowsky wurde für viele überraschend im Januar 2006 Vize-Europameister. Damit stand auch fest, dass es Deutschland bei den Olympischen Spielen vertreten würde.
DIE VERGANGENHEITSKONTROLLE
Den Auftakt für den Krimi lieferte die Mitte der neunziger Jahre in Deutschland eingeführte „Vergangenheitskontrolle“ aller im Sport die deutschen Farben Vertretenden. Verfügt hatten diese beispiellose Kon-trolle die führenden Männer des Nationalen Olympischen Komitees und des Deutschen Sportbundes. Fortan - so war angeordnet worden, ohne dass je verbürgte und demokratisch gebilligte Beschlüsse bekannt wurden - musste für jeden in offiziellen Funktionen die Bundesrepublik vertreten-den Aktiven oder Betreuer - vorausgesetzt er stammte aus der DDR - ein Papier beigebracht werden, in dem bescheinigt wurde, dass er nie für den Geheimdienst der DDR tätig gewesen sei. Auch dieses Papier lieferte die „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“. Indes: Auch für deren Vorgehen existieren verbindliche Regeln, die man sogar schon auf der In-ternetseite jenes Amtes finden kann.
Zum Beispiel: „Im Stasi-Unterlagen-Gesetz ist festgelegt, dass in einigen Bereichen Personen daraufhin überprüft werden können, ob sie früher für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR hauptamtlich oder inof-fiziell tätig gewesen sind.“
Frage: Wer definierte den Begriff „einige Bereiche“? Wo ließe sich eine gesetzliche Grundlage für die „Bereiche“ finden. Die Internetseite der Bundesbeauftragten gibt keine Antwort auf diese Fragen.
Doch damit erschöpfen sich die Unklarheiten nicht. Wie fragwürdig das Gesetz ist, verrät auch ein zu überlesender Nebensatz im Abschnitt: „An-träge von Forschern und Medienvertretern“: „Die Bundesbeauftragte un-terstützt ... bei der historischen ... Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssi-cherheitsdienstes oder der nationalsozialistischen Vergangenheit...“
Die Bundesbeauftragte wollte mit dieser Formulierung natürlich ihre politi-sche Absicht bekunden, Staatssicherheit und Nationalsozialismus auf ei-ne politische Ebene zu stellen. Diese Absicht ist keineswegs neu, aber im konkreten Fall der Absicht nicht sehr dienlich. Bislang wurde nämlich kaum ein Fall bekannt, mit dem die Bundesbeauftragte die Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit unterstützt hätte, obwohl niemand bestreitet, dass das Ministerium für Staatssicherheit zahlreiche Dokumen-te zu diesem Thema gesammelt hatte.
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„NICHT UM DEN JUDEN ZU HELFEN...“
So dürfte man dort mit Sicherheit wahrgenommen haben, dass der Präsi-dent des selben Nationalen Olympischen Komitees, das jetzt die „Ver-gangenheitskontrolle“ verfügte, von 1951 bis 1958 ein Mann namens Rit-ter Karl von Halt war. Der hatte sich bereits 1936 mit Olympia befasst und das immerhin als Präsident des Organisationskomitees der IV. Olympi-schen Winterspiele. Seinen Titel „Ritter von...“ verdankt er der Ehrung mit dem bayerischen Personaladel, mit dem er im Ersten Weltkrieg ausge-zeichnet worden war. Ein anderer „Ritter von“ nämlich ein gewisser Lex amtierte 1935 im hitlerschen Innenministerium und an den hatte sich Halt am 14. Mai 1935 im Rahmen seiner ganz speziellen Olympiavorbereitung gewandt: „Mit wachsender Sorge beobachte ich in Garmisch-Partenkirchen und Umgebung eine planmäßig einsetzende antisemitische Propaganda. Wenn sie bis vor wenigen Monaten geschlummert hat und nur hin und wieder in Reden zum Durchbruch kam, so wird jetzt systema-tisch dazu übergegangen, die Juden in Garmisch-Partenkirchen zu ver-treiben. Am 1. Mai hat der Kreisleiter Hartmann in seiner Rede dazu auf-gefordert, alles Jüdische aus Garmisch-Partenkirchen zu entfernen. Ich selbst sah, wie der Kreisleiter einen jüdischen Gast aus dem Postamt von Garmisch entfernte. Seit letztem Sonnabend sind in G.- P. große Tafeln -angebracht mit der Aufschrift `Juden sind hier unerwünscht!´ Der Leiter der Deutschen Arbeitsfront hat in einer Hotelierversammlung zum Aus-druck gebracht, daß jeder Gaststättenbesitzer aus der Partei ausge-schlossen würde, der einen Juden als Gast aufnehme. Sofern er nicht Parteigenosse wäre, würde mit anderen Mitteln gegen ihn vorgegangen werden. Ich könnte diese Beispiele durch eine Unzahl von Episoden ver-vollständigen, die sich in G.-P. ereignet haben. ... Wenn die Propaganda in dieser Form weitergeführt wird, dann wird die Bevölkerung von Gar-misch-Partenkirchen bis 1936 so aufgeputscht sein, daß sie wahllos jeden jüdisch Aussehenden angreift und verletzt. Dabei kann es passieren, daß Ausländer, die jüdisch aussehen und gar keine Juden sind, beleidigt wer-den. ... Das Olympia-Verkehrsamt weiß schon heute nicht mehr, wie es die Unterbringung vornehmen soll, wenn es sich um nichtarische Athleten handelt. Wenn in G. - P. die geringste Störung passiert, dann - darüber sind wir uns doch alle im klaren - können die Olympischen Spiele in Berlin nicht durchgeführt werden, da alle Nationen ihre Meldung zurückziehen werden. Diesen Standpunkt haben mir gestern die Nationen, die bei der internationalen Tagung in Brüssel anwesend waren, eindeutig zum Aus-druck gebracht. Für uns Deutsche wäre das ein ungeheurer Prestigever-lust, und der Führer würde die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen
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und ihnen eine verdiente Strafe erteilen, da sie nicht rechtzeitig auf die Konsequenz dieser Propaganda aufmerksam gemacht haben. Lieber Lex, Du kennst meine Auffassung. Du weißt auch ganz genau, daß ich diese meine Sorgen Dir nicht deshalb äußere, um den Juden zu helfen, es han-delt sich ausschließlich um die olympische Idee und um die Olympischen Spiele...“
Nein, um die Juden ging es ihm mit Sicherheit nicht, sondern um die Tar-nung der faschistischen Judenpogrome und damit um den Missbrauch des olympischen Gedankens durch Nazi-Deutschland. Seine Bemühun-gen trugen Früchte, in Garmisch-Partenkirchen wurden 1936 sogar zwei Journalisten vorübergehend eingesperrt, weil sie die während der Olympi-schen Spiele geltenden „Rücksichten“ nicht beachtet hatten.
Ritter von Halt erwarb sich schon damals so viel Vertrauen bei den Nazis, dass man ihn kurz vor dem Untergang des faschistischen Deutschlands noch zum “Reichssportführer” berief!
1951 - nach Beendigung seiner Internierung durch sowjetische Behörden - war er sogleich wieder zum Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees der BRD gewählt worden. In dieser Eigenschaft führte er auch die Verhandlungen über die Bildung einer Olympiamannschaft beider deutscher Staaten. Einige dieser Verhandlungen fanden bekanntlich in der DDR statt. Zu denen reiste also als BRD-Verhandlungsführer der letz-te “Reichssportführer” in die DDR. Durchaus denkbar, dass dies den DDR-Geheimdienst interessierte, auch weil Halt im Hauptberuf Direktor der Deutschen Bank gewesen war und bei einem Besuch in Berlin allen Ernstes Erkundigungen einzog, ob ihm einige Pokale aus seinem früheren Deutsche-Bank-Tresor zurückgegeben werden könnten.
Als von Halt das Amt des Präsidenten des NOK niederlegte, wählte man ihn zum Ehrenpräsidenten und der Bundespräsident verlieh ihm - dem letzten Reichssportführer der Nazizeit! - das Bundesverdienstkreuz mit Stern. Niemand hat das bis heute bedauert oder sich bei olympischen In-stanzen dafür entschuldigt. Niemand hat demzufolge jener immerhin in dem Stasi-Unterlagen-Gesetz formulierten Hinweis auf die „Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit“ Rechnung getragen. Das kann auch kaum verwundern - es ging immer nur gegen und um die DDR!
UM GEHEIMDIENSTVERGANGENHEIT
In jenen schon erwähnten Überprüfungsrichtlinien geht es also vor allem um Tätigkeiten für den Geheimdienst der DDR. Dort ist auch der Perso-nenkreis benannt, der daraufhin überprüft werden soll: „... als größte Gruppe die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Laut Gesetz sind aber auch überprüfbar: Minister und bestimmte hohe Amtsträger, Abgeordnete
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und Angehörige kommunaler Vertretungskörperschaften, Rechtsanwälte und ehrenamtliche Richter, kirchliche Funktionsträger und Betriebsräte sowie leitende Personen in Wirtschaftsunternehmen, Parteien und Ver-bänden.“ Olympiateilnehmer wurden nicht genannt und einige der er-wähnten Gruppen schienen obendrein sehr großzügig überprüft worden zu sein. Der nachweisbar mit einem hohen Orden des MfS ausgezeichne-te Manfred Stolpe war bekanntlich lange Ministerpräsident in Brandenburg und danach Bundesminister. Kaum jemand nahm daran Anstoß. Pfarrer Joachim Gauck pflegte Kontakt mit einem MfS-Offizier und wurde - „Bun-desbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“.
Aufschlussreich auch der Satz im Internettext: „Zuerst einmal: Es gibt kei-ne durch das Stasi-Unterlagen-Gesetz vorgeschriebene `Regelanfrage´.“ Das sahen die Sportoberen offensichtlich anders. Die Bundesbeauftragte beantwortete vorsorglich auch diese Frage: „Welche Entscheidungen werden von den Empfängern der Informationen getroffen? Soweit aus Rückinformationen der empfangenden Stellen, aus Medienberichten oder anderen Publikationen bekannt ist, reichen die Folgen einer mitgeteilten MfS-Tätigkeit vom Fehlen jeder Konsequenz über begrenzte Maßnahmen ... bis zur einvernehmlichen oder einseitigen Trennung. Auch dagegen können die Gekündigten oder Entlassenen mit den Mitteln des Rechts-staates vorgehen und eine solche Entscheidung gerichtlich überprüfen lassen.“
Auffällig bei diesem Blick in die geltenden Gesetzesregeln: Gesucht wird nach Geheimdienst-Mitarbeitern, wobei ungeachtet des ständig zitierten Prinzips vom gleichberechtigten „Zusammenwachsen“ der einst zwei deutschen Staaten nirgends nach dem BRD-Geheimdienst gefragt wird.
So blieb nur die sich aus dem konkreten Fall ergebende logische Frage, ob denn je zuvor Geheimdienstmitarbeiter bei Olympischen Spielen tätig - und wenn ja später deswegen verfolgt worden - waren? Diese Frage ließe sich verlässlich nur durch ein Studium der Akten verschiedener Geheim-dienste beantworten oder - bei weiter zurückliegenden Fällen - durch his-torische Recherchen. Bis zu jenen „Stasi“-Ausforschungsaufträgen des NOK der BRD war kein Fall bekannt geworden, in dem Geheimdienstmit-arbeiter durch olympische Offizielle entweder aufgefordert worden waren, Olympia zu meiden oder - siehe Beispiel BRD - von zuständigen „Beauf-tragten“ ausgeforscht wurden?
Ob man davon ausging, dass ein Geheimdienstmitarbeiter privat durch-aus auch um olympisches Edelmetall kämpfen kann - es existiert keine Liste von Berufen, die bei Olympia nicht zugelassen wären -, konnte des-halb nie geklärt werden, wohl auch, weil es nie jemanden interessierte.
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Meine Recherchen lieferten jedoch Fakten in verschiedener Richtung: Der bis in seine neunziger Lebensjahre noch an alpinen Rennen teilnehmende Brite Peter Lunn war 1936 bei den schon erwähnten Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen Teamchef der britischen Alpinen und bekleidete 1948 in St. Moritz die gleiche Funktion, war also ein olympischer Offiziel-ler. Im Hauptberuf war er einer der führenden Männer des britischen Ge-heimdienstes und schrieb nicht nur Personen-Dossiers, sondern organi-sierte auch Anfang der fünfziger Jahre den Bau eines Tunnels, der aus dem US-amerikanischen Sektor Berlins in die DDR vorgetrieben wurde, um dort DDR-deutsche und sowjetische Telefonleitungen anzuzapfen. Lunn hatte das Pech, dass in seinem Büro einer saß, der die Tunnelskiz-ze schon vor Baubeginn nach Moskau geliefert hatte, sodass die Operati-on bald aufflog. Das war bald nach Lunns olympischen Auftritt in St.Moritz. Demnächst wird man den 50. Jahrestag der Entdeckung des Tunnels im Berliner Alliiertenmuseum mit einer Ausstellung würdigen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass jemand Lunns olympische Kontakte bei dieser Gelegenheit offenlegt.
Das IOC nahm auch keinen Anstoß daran als der langjährige CIA-Agent Philip Agee, nachdem er den Geheimdienst quittiert hatte, seine Erinne-rungen schrieb und darin auch aus Mexiko City unter dem Datum des 15. Juli 1967 mitteilte: „Dieser Einsatz bei der Olympiade ist großartig... Scott ermunterte mich, möglichst viele Leute kennenzulernen und meine olym-pische Tarnung gut auszubauen. Das Hauptinteresse der Abteilung Ope-rationen gegen die Sowjets ... ist die Identifizierung und Kontaktaufnahme mit möglichen Agenten... Die ...Abteilung will meine Einschätzung der Pressevertreter des Olympischen Komitees, die als Medienagenten ein-gesetzt werden könnten.“ (Agee; „CIA intern“; Frankf./Main 1981; S. 423 f)
Und auch der bundesdeutsche Geheimdienst mit dem Ex-Nazi-General Gehlen an der Spitze fehlte nicht. Als der Autor dieser Zeilen während der Spiele 1960 in Rom ein Gespräch mit dem Chef de Mission der deutschen Mannschaft, Gerhard Stöck, in dessen Zimmer im Olympischen Dorf führ-te, betrat ein dem Autoren Unbekannter den Raum und wurde von Stöck als „Werner Klingeberg“ vorgestellt. Als er wieder gegangen war, bekann-te Stöck verlegen, dass ihn das Auswärtige Amt als „Berater“ nominiert habe. Die italienische Zeitschrift „VIE NUOVE“ bot eine andere Version: „Für die führende Rolle Gehlens... spricht..., dass ... Dulles ... nach Pullach kam und den sogenannten `Plan OR´ ... beschloss. Ein weiteres Ergebnis dieser Besprechungen war, dass .... Dr. Werner Klingeberg so-fort nach Rom entsandt wurde und dort für die Arbeit der Emigranten-Geheimdienste verantwortlich zeichnet.“ (Neues Deutschland, 20. August 1960) Es ist betrüblich, dass sich Historiker wie Giselher Spitzer, die dank ihrer Herkunft sicher leicht an BND-Akten gelangen könnten, nie für das
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Thema „deutsche Geheimdienste und Olympia“ interessierten, zumal der Übergang vom Nazi-Geheimdienst zum BND bekanntlich reibungslos ver-lief. Jedenfalls ist mit all diesen Fakten hinreichend bewiesen, dass sich Geheimdienste verschiedenster Herkünfte - auch der BRD - schon lange für Olympia interessiert hatten.
GAUCK MÖCHTE KALTEN KRIEG HÜLLENLOS...
Dass man im Fall Steuer diese Tatsache ignorierte - ganz abgesehen da-von, dass er sich weder mit dem Fall Lunn noch mit den Fällen Agee oder Klingenberg vergleichen ließe -, ist mit dem Hinweis auf die politische Ge-genwart leicht zu erklären: In Deutschland führt man noch heute Kalten Krieg! Das geschieht auch, in dem man der vor vier Olympiaden (griechi-sche Zeitrechnung, entspricht 16 Jahren) untergegangenen DDR pausen-los neue Verbrechen andichtet, die jede Sympathie für Strukturen und Mi-lieu des untergegangenen Landes - in dem es, um nur ein Beispiel zu nennen, keinen Obdachlosen gab - massiv unterdrücken soll. Verschie-dene Varianten dieses Feldzugs haben sich zwar im Laufe der Jahre ab-genutzt, aber die „Stasi“ gilt als noch rund um die Uhr tauglich. (Das Phä-nomen dieser Erscheinung: James Bond als Spion seiner Majestät gilt als Held, ein für das MfS Tätiger in jedem Fall als Schurke!)
Die Medienkampagne auf diesem Feld erzielte im Laufe der Jahre unbe-streitbar Wirkung. So konnte man es sich sogar leisten vor zwei Jahren unter enormem Medien-Getöse im märkischen Rheinsberg einen „28fachen Stasimörder“ dingfest zu machen und schaffte es, die Tatsa-che, dass es sich dabei um einen in der deutschen Kriminalgeschichte beispiellosen Flop handelte, schweigend und erklärungslos abzutun. Seit-dem spaziert der „Mörder“ täglich ungeschoren durch die Tucholsky-Stadt. Die renommierten Magazine, die die Höllengeschichten publiziert hatten, tun so, als hätten sie die Horrorstory nie gedruckt und die be-troffenen Fernsehnachrichtenredakteure scheinen von extremem Ge-dächtnisschwund befallen.
Andernorts wird dagegen Eifer entfaltet. Zum Beispiel in Schulen. Am 17. Januar 2006 erschien der frühere Bundesbeauftragte Joachim Gauck im Zwickauer Käthe-Kollwitz-Gymnasium und was er dort trieb, beschrieb die „Freie Presse“ (18.2.06) mit folgenden Worten: „Ohne Blauhemd ist Kati Witt ihm lieber. `Kati Witt, die dürften einige noch kennen. Die konnte in dem Alter, in dem Sie sind, schon sehr gut Eislaufen´, erzählte Joachim Gauck in der Aula des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums seinem aus vielen Klassenstufen gemischten Publikum. Als er die Eisprinzessin jüngst im FDJ-Hemd in einer TV-Ostalgie-Show sah, habe er das als geschmacklos empfunden... Verglichen mit diesem Aufzug, meinte der ehemalige Pfar-
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rer, seien doch `die Bildchen viel geschmackvoller`, für die Kati einige Jahre früher posierte, für den Playboy und nicht nur ohne Blauhemd.“
Klartext: Hüllenlos sei ihm die Witt lieber gewesen, meinte der Pfarrer. Solch Playboy-Zuneigung eines Kirchenmannes mag überraschen, aber hinter dieser Eros-Sympathie versteckt sich wohl in diesem Fall wirklich nur seine Abneigung gegen das Blauhemd. Er sei dagegen, predigte er den Schülern, dass die DDR `nie beliebter gewesen sei, als seit sie tot war´. Und diesem Vorwurf fügte er allen Ernstes die Warnung hinzu, die Schüler mögen nicht den Eltern glauben, was sie ihnen über die DDR er-zählen. Er hob die Stimme: „Fallen Sie nicht darauf rein!“ Es klang wie ei-ne Warnung vor dem Leibhaftigen.
Das bedeutet: Der hoch berentete Ex-Bundesbeauftragte reist durch die neuen Länder und rät den Kindern, ihren Eltern nicht zu glauben!
Würde da jemand einwenden wollen, der Verweis auf den „Kalten Krieg“ sei übertrieben?
MEDIENWALZE ROLLT LOS
Die Frage, ob man Kati lieber hüllenlos oder im Blauhemd sehen mochte, könnte Gedanken über Gaucks Gedanken angeregt haben, wurden aber augenblicklich vertrieben, als die deutsche Olympiamannschaft formiert wurde und Ingo Steuer ins Stasi-Visier geriet. Dafür sorgte schon der Um-stand, dass die große Medienwalze sogleich angelassen wurde. Dafür nur ein Beispiel: Die „Süddeutsche Zeitung“ in München ließ Hans Leyende-cker einen Artikel schreiben, dessen Überschrift schon alle Ziel-Zweifel ausräumte: „Sport in der DDR - Im festen Griff der Stasi“ (2.2.06; S. 32). Dabei hatte Leyendecker nur in die Mottenkiste gelangt: „Die von SED-Größen wie Walter Ulbricht oder Erich Honecker oft und gern gepriesene Überlegenheit des sozialistischen Systems war lediglich in einem Bereich real - im Spitzensport. Die DDR leistete sich das aufwendigste Sportsys-tem der Welt und dabei fiel dem Ministerium für Staatssicherheit eine weit reichende Rolle zu.“
Für eine Quizfrage wären die Floskeln ungeeignet, die nämlich: „In wel-chem Jahr dürfte Leyendecker diesen Satz geschrieben haben: 1991? - 1995? - 2000? Oder 2005?“ Selbst Telefonjoker würden da kaum aushel-fen können!
Aber es wäre daran zu erinnern: Nichts hat die Bundesrepublik Deutsch-land und auch ihre Journalisten vier Jahrzehnte lang mehr gewurmt als die ständigen Stadien-Niederlagen gegen die DDR. Jahrzehnte hinterher-hecheln und den Lesern, Zuschauern und Hörern ständig erklären sollen, warum die „Roten“ wieder einmal besser waren, mehr Medaillen gewon-nen hatten und in der Welt als die - in diesem Fall - eindeutig besseren
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Deutschen gefeiert wurden - das erzeugte Wut und war so entnervend, weil niemand es zu erklären vermochte. Bis heute nicht! Deshalb muss bis heute das MfS herhalten und Leyendeckers Vokabeln entstammten auch in diesem Fall den gängigen Gleichungen: Ulbricht, Honecker, Staatssicherheit.
Es war schon die Rede davon, dass sich zwei Bezichtigte trollten und mit den Vorwürfen abfanden. Der Dritte aber sorgte dafür, dass die Affäre zum handfesten Krimi wurde. Um in der Sache keinen Fehler zu begehen, noch einmal die juristische Vorgeschichte? Neun Personen - so wurde verbreitet - seien „Stasi“-belastet gewesen. Sechs wurden „freigespro-chen“ für Olympia. Die anderen drei wurden „gesperrt“. Ein Blick in deren Akten beweist: Alle drei waren zwischen 1990 und 2006 mehrfach im Auf-trag von Sportverbänden der Bundesrepublik Deutschland bei Welt- und Europameisterschaften tätig, alle drei trugen demzufolge offizielle Mann-schaftskleidung mit dem Bundesadler und wurden weltweit demzufolge of-fiziell als „Deutsche“ betrachtet und geführt. Als Deutsche ohne Abstriche!
Das wirft die juristische Frage auf: Wer entscheidet im deutschen Sport, wer Deutschland bei Weltmeisterschaften vertreten darf und wer bei Olympischen Spielen? Die Frage, ob es dafür irgendeine Regel gibt, muss gestellt werden, weil alles im Sport durch Regeln geregelt wird.
Eine einzige Auskunft stammte von einem Mitglied einer vom NOK und dem DSB gebildete Kommission, die diese Entscheidung getroffen haben soll. Befragt hatte die Süddeutsche Zeitung (1.2.06 - S. 27) den „Maler Matthias Büchner, 52, aus Zella-Mehlis“: “Wie läuft das ab, wenn die Kommission eine Entscheidung zu treffen hat? Büchner: Bei der Konstitu-ierung haben wir uns auf eine Formel geeinigt, die sinngemäß heißt: Es geht darum, ob und inwieweit eine Person mit dem Sicherheitsapparat der SED verstrickt war, für diesen wissenschaftlich tätig war und in dieser Tä-tigkeit Dritten schadete oder eine Schädigung billigend in Kauf nahm.“ ... Frage an den Maler: „Warum wurden Steuer und Glaß nach mehreren Einsätzen bei Olympia erst jetzt ausgemustert? Büchner: Wir können uns immer erst damit beschäftigen, wenn wir die Unterlagen auf den Tisch be-kommen. ... Und dann müssen wir uns der Mühe unterziehen das alles zusammenzutragen, abzuwägen und nach unserem Gewissen zu ent-scheiden.“
Aufschlussreich, dass keine Silbe dazu fiel, ob jemand die Glaubwürdig-keit der Akten kontrolliert, bei juristischen Verfahren bekanntlich die erste Frage. Man konnte zu fürchten beginnen, der deutsche Sport werde in dieser Hinsicht von einem Team gesteuert, das an die Methoden des Ku-Klux-Klan erinnert. Was umso schwerer wog, weil das NOK schon hinrei-chend negative Erfahrungen gesammelt hatte. Die „Frankfurter Allgemei-ne Zeitung“ (26.1.2006 - S. 37) hatte sich schmollend daran erinnert: „In
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Albertville mußten die Sportfunktionäre über den Fall des Bobfahrers Ha-rald Czudaj urteilen. Sie befragten ... seine zum Teil bespitzelten Brem-ser. Die Antwort war vorhersehbar: Die Anschieber hätten ohne Piloten nicht fahren können. Czudaj blieb im Rennen. Zwei Jahre später ließ das NOK den Co-Trainer im Bobfahren, Gerd Leopold, im Team, obwohl der Riesaer zu den Hauptamtlichen der Stasi gehörte.“
Und dennoch galt auch 2006: Ein Birthler-Hinweis genügte, NOK-Präsident Steinbach erklärte, dass drei verdammt worden seien und Leyendecker und andere schalteten ihre Laptops ein! Alles schien in ge-wohnten Bahnen zu verlaufen, als sich auch noch Schäuble zu Wort mel-dete: Der „Bundesinnenminister... begrüßte gestern die bislang größte Stasiüberprüfung im deutschen Sport... Zwischen NOK und Birthler Be-hörde sei `ein gangbarer Weg gefunden und gemeinsam beschritten wor-den´“. (Die Welt, 28.1.06) Man erinnert sich: Schäuble war einer der bei-den Deutschen, die den „Einigungsvertrag“ konzipiert hatten.
Und immer lieferten die Medien Flankenschutz. Selten einfallsreich, aber immer nach dem gleichen Strickmuster. Wieder die „Süddeutsche“, dies-mal vom 6.2.2006: „Täuschen, schummeln, lügen. Auf diese Pfeiler war der Mustersport des Überwachungsstaates gebaut. Wer nicht mit der Sta-si kooperierte, war eben ins Doping verstrickt - diese doppelte Ver-schwörung unterschied den Sport von allen anderen Gesellschaftsberei-chen.“
Solche Thesen sind immer dienlich. Dem zweiten Kunstlaufduo Eva Maria Fitze und Rico Rex wurde kommentarlos eröffnet, dass es ohne seine Trainerin Monika Scheibe fahren müsse, weil die „stasibelastet“ sei. Und Ingo Steuer konnte im mdr-Sachsenspiegel den Leiter der Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, mit einer 30-Seiten-Akte hantieren sehen, die er selbst nie gesehen haben soll. Nochmal: Knabe ist Gedenkstättenchef, von Bindungen an das NOK war bislang nichts be-kannt. Er scheint auch die Fernsehzuschauer nicht überzeugt zu haben, denn von den rund 11.000 Anrufern sprachen sich 86 Prozent dafür aus, Ingo Steuer an den Spielen teilnehmen zu lassen. Der mdr widmete sich auch danach dem Thema und trommelte am 6. März 2006 (22.05 Uhr „Dresdner Gespräch“) eine Fünfer-Runde von Anklägern zusammen, der die Speerwurf-Olympiasiegerin Ruth Fuchs - angeblich auch „Informantin“ - aussichtslos gegenüberstand. Fußballtrainer Jörg Berger redete von ei-nem Stasi-„Mordanschlag“, verzichtete aber wohlweislich auf die in Rheinsberg bereits zu den Akten gelegte Quelle. Nach 45 Minuten dieses TV-Inquisitionsverfahrens hatten sich über 22.000 Zuschauer an einer Abstimmung darüber beteiligt, ob die „Stasi“-Akten geschlossen werden sollen oder nicht. Moderatoren und fünf „Ankläger“ konnten das 60,1-
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Prozent-Votum für die Beendigung der Treibjagd nicht verhindern. (Kon-trollieren konnte das Abstimmungsergebnis ohnehin niemand.)
„Die Welt“ (27.1.2006 - S. 24) hatte schon Tage vor den Spielen in Torino die Zukunft so geweissagt: „Das Handy mit italienischer Nummer, das sich Ingo Steuer für die Olympischen Winterspiele vom 10. bis zum 26. Februar in Turin zugelegt hatte, wird nicht klingeln. Die Deutsche Eislauf-Union (DEU) bestätigte gestern, daß der Eiskunstlauftrainer ... keine Ak-kreditierung für Turin erhalten wird.“
Wie schon manches Mal irrte „Die Welt“ auch in diesem Fall, Steuer hatte längst eine einstweilige Verfügung gegen den von Frau Birthler initiierten NOK-Bescheid beantragt. Indessen hetzten Journalisten durchs Land, um Zuspruch für die Anti-„Stasi“-Entscheidung zu sammeln. Das Ergebnis war fatal. Eine Umfrage unter Besuchern von Oberhof landete im Papier-korb: 98 Prozent hatten sich gegen die Sperre ausgesprochen. Das Naiv-Magazin „Super-Illu“ zitierte die weltbeste Eiskunstlauftrainerin Jutta Mül-ler (77): „Die Thematik möchte ich überhaupt nicht besprechen. Nicht mit Ihnen und nicht mit jemand anderem.“ Die „Frankfurter Allgemeine Zei-tung“ (2.2.2006) bekam deutliche Antworten von Katarina Witt: „Waren Sie erstaunt darüber, daß auch Sie zu denjenigen gezählt haben, auf die Ingo Steuer als `IM Torsten´ ein wachsames Auge hatte?
Ich habe bereits 1993 meine Akten eingesehen und wußte daher, wer über mich an den Staatssicherheitsdienst der DDR berichtet hatte. Doch hatte ich mich damals entschieden, nicht mit dem Finger auf jemanden zu zeigen oder eine öffentliche Jagd zu eröffnen. Dies tun jetzt aber Perso-nen, die weder in dieser Form betroffen waren noch einen Bezug zu unse-rer damaligen Situation in der DDR haben.
Verurteilen Sie den inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter Steuer für das, was er gemacht hat?
Man darf doch nicht vergessen, wie jung die meisten gewesen sind. Auch sollte man nie vergessen, welcher Unterrichtsstoff in unseren Schulen ge-lehrt wurde. Unser Lesestoff war `Timur und sein Trupp´, `Käuzchenkuh-le´ oder `Nackt unter Wölfen´ und eben nicht `1984´ von George Orwell. Es gibt Dinge, die man nicht wissen kann, wenn man sie nie vorgestellt bekommt. Natürlich gibt es viele, die von sich behaupten können, nein zur Stasi-Mitarbeit gesagt zu haben, aber ich glaube eben auch, daß viele überzeugt waren, keine Wahl zu haben.
Ist Ingo Steuer in Ihren Augen als Trainer von Sawtschenko/Szolkowy noch tragbar, oder sollte er in Zukunft nicht mehr Teil einer Mannschaft der Deutschen Eislauf-Union sein?
Auf Grund ihres jugendlichen Alters werden Aljona und Robin von allen noch am wenigsten verstehen, worum es hier eigentlich geht. Sie stehen allerdings vor dem wichtigsten Wettkampf ihrer Karriere und brauchen die
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Bezugsperson, der sie als Sportler am meisten vertrauen: den Trainer, der dazugehört. Ich kann ihnen nur empfehlen, was Weltklassesportler am besten können: nämlich den Rest der Welt ausblenden, Scheuklappen anlegen und sich nur noch auf sich selbst und ihre Leistung kon-zentrieren. Diejenigen, die ihnen den möglichen Erfolg gönnen, sollten ih-nen hilfreich zur Seite stehen. Alle anderen, die meinen, jetzt sofort end-lich der Gerechtigkeit Genüge tun zu wollen, sollten ihr Geltungsbedürfnis mal für einige Wochen ignorieren.
Ist es Ihres Erachtens an der Zeit, die Aufarbeitung der Stasi-Fälle nach so vielen Jahren einzustellen?
Mir gefällt die Art und Weise nicht, wie mit der Problematik umgegangen wird. Ich kenne Steuers Akte nicht, aber ich denke, daß 16 Jahre nach dem Mauerfall einerseits die Dinge so langsam aufgearbeitet sein sollten und andererseits, daß es an der Zeit ist, wichtigere Themen in den Vor-dergrund zu rücken. 14 Tage vor den Olympischen Spielen wird das plötz-lich wichtig. Das alles trägt jetzt doch nicht dazu bei, daß Ost und West besser zusammenwachsen, und es trägt auch nicht zu besseren Olympi-schen Spielen bei.“
Ein Kommentar erübrigt sich. Die Medienmeute war ohnehin schon auf dem Weg in den Berliner Gerichtssaal. Den wohl treffendsten Report lie-ferte die „Berliner Morgenpost“: „Gleich zu Beginn gab Richter Wolfgang Krause zu erkennen, was er sich vorgenommen hatte: väterliche Milde. Im Saal 102 des Berliner Landgerichts hatte er die Zivilklage 5 0 39/06 Sawtschenko und andere gegen das Nationale Olympische Komitee zu verhandeln. Schon die Auflistung der Verfahrensgegner an der Tür war ir-reführend: In dem Eilverfahren ging es darum, ob der Eiskunstlauftrainer Ingo Steuer heute mit seinen Athleten Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy zu den Winterspielen nach Turin fliegen darf, obwohl das NOK ihn für untauglich hält, Deutschland zu repräsentieren, weil er fast fünf Jahre fleißig für die Stasi spitzelte.
Er darf, urteilte Krause gestern. Am Schluß rutschte ihm der heimliche Grund heraus: Die Stasisache `ist sehr lang her´, sagte er, `das ist ja fast Geschichte.´
In der Sache rechtfertigt er sein Urteil mit schlampiger NOK-Arbeit. Im Fall Steuer hätten die Olympier sich nicht an Grundsätze eines rechtsstaatli-chen Verfahrens gehalten: Sawtschenko und Szolkowy `wurden gar nicht gehört´, monierte Krause, Steuer `mußte sich von einem Tag auf den an-deren erklären. Es war nicht zu erkennen, wie das Ermessen ausgeübt wurde.´“
Des Richters Kommentar war deutlich und erinnerte die Öffentlichkeit da-ran, dass der so gepriesene Rechtsstaat zuweilen auch noch „Grundsätze
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eines rechtsstaatlichen Verfahrens“ einfordert, selbst, wenn es sich um die „Stasi“ handelt!
Der Präsident des Deutschen Sportbundes, ein Herr von Richthofen sah das anders: „Ein in der Endkonsequenz völlig unverständliches Urteil“ und fürchtete dass es "Konsequenzen für die künftige Bewertung von Stasi-Vorgängen im Sport hat."
Steuer und seine Schützlinge flogen nach Torino und wurden dort von ei-nem Beamten des BKA abgeholt. Kein Geheimdienstangehöriger aber immerhin ein Kriminalist! Der richtige Mann also für diesen Krimi.
Die drei waren zu Späßen allerdings nicht aufgelegt, zumal sie vor Ort nicht von Funktionären empfangen wurden, die sich wenigstens zurück-zuhalten wussten. Thomas Bach, „der am Freitag in Turin zum Vizepräsi-denten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gewählt wurde, sprang dem empörten NOK bei: Es könne ja wohl nicht angehen, dass ei-ne `Nationalmannschaft vom Amtsgericht Tiergarten aufgestellt´ werde“ (Der Spiegel; 13.2.2006; S. 158) Der Mann träumt davon, IOC-Präsident zu werden, man sollte dieses Zitat gut aufbewahren!
Die anderen eiferten Bach nach: „Auch den Sportfunktionären ging es vo-rige Woche nur noch darum, die Angelegenheit irgendwie durchzustehen: Wenn nicht ohne Steuer, dann halt mit ihm. So traf sich NOK-Chef Stein-bach am Donnerstagabend mit dem Eislauftrainer.“ (Ebenda S. 160) Der Reporter konnte weder mitteilen, dass der NOK-Präsident - einst ein re-nommierter Schwimmer und derzeit ein angesehener Arzt, was ihn leider nicht zum fundierten Sportfunktionär qualifizierte - das Eiskunstlaufpaar und seinen Trainer in Turin willkommen geheißen hätte. So startete das ungeliebte deutsche Eiskunstlaufpaar nach beispiellosem Stress mit ei-nem durch die Medienattacken überforderten Trainer an der Bande, in den Kampf um die Medaillen. Der Auftakt der beiden war brillant, aber der dreifach geworfene Salchow missriet, sie mussten sich nach dem Kurz-programm mit Rang sieben begnügen. Steuer in das Fernsehmikrofon: „Für das, was sie durchgemacht haben, war es eine tolle Leistung!“
Das galt erst recht für die Kür, in der sie sich noch um einen Platz verbes-serten und so Olympiasechste wurden. Das Resultat sollte der Ordnung halber für alle Zeiten mit einem Stern gekennzeichnet werden, der daran erinnert, dass es sich tatsächlich um einen in der olympischen Geschichte beispiellosen Mehrkampf gehandelt hatte: Eine Catch-as-catch-can-Prüfung im Kalten Krieg und eine Paarlaufprüfung im Eiskunstlauf.
ZITATE:
Der letzte große Zahltag?
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Gold für die Athleten, Blech für NBC: Als in den USA am Wochenende das Olympiafazit gezogen wurde, war der für die Übertragungen von den Winterspielen in Turin zuständige Sender der große Verlierer. Obwohl die US-Stars mit 25 Medaillen ihr zweitbestes Ergebnis bei Winterspielen nach Salt Lake City (34) einfuhren, zeigten ihnen die Fans in der Heimat die kalte Schulter. Der Quoteneinbruch von rund 30 Prozent im Vergleich zu 2002 stürzt sowohl NBC als auch das Internationale Olympische Komi-tee (IOC) in ein Dilemma: In Zukunft dürfte der Marktwert des einstigen Publikumsmagneten Olympia und damit auch die Finanzkraft des mit Ab-stand wichtigsten Einzelsponsors der Spiele sinken. Die voraussichtlich schwächsten Olympia-Einschaltquoten der Geschichte ... drängten in den vergangenen zwei Wochen jenseits des Atlantiks den Sport in den Hinter-grund. USA Today druckte fast täglich eine ganze Seite Leserbriefe ver-bitterter Sportfans, Werbepartner ließen ihrer Enttäuschung freien Lauf, dazu avancierte NBC zum willkommenen Opfer der Late-Night Spötter David Letterman und Jay Leno. Tenor der Kritik: Zu wenige Live-Übertra-gungen, zu viele Werbeunterbrechungen und der konstante Druck auf die Tränendrüse - Argumente, die NBC seit Jahren hört, aber auch schon immer gerne überhört. ... Ironischerweise wurde Turin für NBC trotz der extrem schlechten Resonanz zur Goldgrube. 613 Millionen Dollar gab der Sender für die Übertragungsrechte aus, dank 416 Stunden Berichterstat-tung und der damit verbundenen Werbeblöcke stand am Ende ein Rein-gewinn von rund 50 Millionen Dollar. Nach Ansicht von Experten wie Da-vid Carter vom USC Sports Business Institute könnte das ... allerdings der letzte große Zahltag ... gewesen sein.
Frankfurter Rundschau, 28.2.2006
„Sie haben Ehre eingelegt“
Erster! Grund genug auch für den Sportminister ein Ausrufezeichen zu setzen. „Wir sind", hob Wolfgang Schäuble beim Besuch der deutschen Olympiamannschaft in Turin und Sestriere hervor, „stellvertretend für die sportlichen Mitbürger unseres Landes alle begeistert und stolz auf die Leistungen unserer Sportler." ... „Auch mit ihrem Auftreten haben die -Sportler Ehre für unser Land eingelegt", lobte der Minister die Extraquali-tät dieses Teams.
Roland Zorn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.2.2006
„Ohne Bundeswehr stünden wir auf Platz dreizehn“
Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung über den Medaillenspie-gel..., Sie haben bei den Olympischen Spielen in Turin viele Erfolge per-sönlich miterlebt. Sind Sie konvertiert vom Fußball zum Wintersport?
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Ich hatte immer ein Herz für den Sport, und zwar breit angelegt. ...Ich ha-be Fußball gespielt, bin aber auch ein begeisterter alpiner Skifahrer. Ich habe also auch ein Herz für den Wintersport. Wie unsere Soldatinnen und Soldaten sich in Turin geschlagen haben, darauf bin ich stolz und darüber bin ich glücklich. ... Bei der Bundeswehr geben wir im Jahr fast 27 Millio-nen Euro aus für die Sportförderung. Das zahlt sich auch aus. Ohne diese Sportförderung stünden wir nicht an erster Stelle des Medaillenspiegels. Die Bundeswehr alleine käme bereits auf Platz drei der Wertung. Wir ha-ben neun Goldmedaillen, acht Silbermedaillen und zwei Bronzemedaillen errungen oder waren in Mannschaften daran beteiligt. Das ist eine stolze Ausbeute für die Bundeswehr; das sind rund fünfundsechzig Prozent der Medaillen, die Deutschland gewonnen hat. Das Bild unseres Landes wird durch die Sportförderung positiv geprägt. ....
Inwieweit sind Staatsamateure noch zeitgemäß? In den Zeiten des Eiser-nen Vorhangs hatte der Westen den Eindruck, er müsse mit dem Ost-block gleichziehen. Nun gibt es den Ostblock nicht mehr. Muß der Sport sich nicht selbst ernähren?
.... Wenn wir die Bundeswehr nicht hätten, stünden wir im Medaillenspie-gel auf Platz dreizehn. Ich finde im übrigen den Begriff Staatsamateur nicht positiv. Als ich in Turin mit dem Biathlon-Olympiasieger Michael Greis gesprochen habe, habe ich gemerkt, welchen Bezug er zu seinem soldatischen Dienst hat. Auch Schorsch Hackl oder Christoph Langen ... - sie machen nicht den Eindruck von Staatsamateuren.
Die Fragen stellte Michael Reinsch, FAZ, 1.3.2006
Schrauben am Optimum
Raketenwerfer, Maschinengewehr oder Tauchvorrichtung - die Autos von James Bond haben mehr Extras als nur Navigationssystem oder Klimaan-lage. Damit 007 auf der Straße einen Vorteil gegenüber bösen Verfolgern hat, tüftelt Q der Chefschrauber des britischen Geheimdienstes, immer neue Spezialvorrichtungen aus. Was dem Topagenten sein Q ist Bobfah-rer Andre Lange das FES. Das Institut für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten in Berlin-Schöneweide sorgt unter anderem dafür, dass auch die deutschen Bobfahrer in der Eisrinne einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz haben. Der Viererbob, in dem Lange und seine drei Teamkol-legen heute durch die 19 Kurven in Cesana rasen, wurde in dreijähriger Arbeit am FES entwickelt. Es ist eine neue Generation, ein Modell mit Zu-kunft. „In der Aerodynamik ist uns aufgrund von höheren Rechenleistun-gen der Computer ein Durchbruch gelungen", sagt Ralf Gollmick, Leiter der FES-Konstruktionsabteilung. ... Das FES fertigt neben Bobs auch Ro-del- und Skeletonschlitten, Kanus, Segel- und Ruderboote sowie Räder. Dabei setzt das Institut auf ganzheitliche Betreuung. Die Geräte werden
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entwickelt und getestet, zusätzlich werden die Athleten individuell betreut. „Die Bobmannschaft war regelmäßig hier“, sagt Gollmick. „Das Grundge-rät wurde speziell an die Sportler angepasst!“ Dafür sind auch 3 der rund 50 FES-Mitarbeiter in Turin vor Ort. ... Im Gegensatz zu Spielsportarten wie Fußball oder Handball hat bei den meisten olympischen Wintersport-disziplinen das Sportgerät einen entscheidenden Einfluss auf den sportli-chen Erfolg. Mit einem schlechten Bob kann auch der beste Fahrer nicht gewinnen. Das FES hat das Ziel, den Spitzensportlern die perfekten Ge-räte zu liefern. Kommerzielle Sportartikelhersteller könnten so eine Arbeit kaum leisten. ... Wie könnte man auch Bobs in Großserie kostendeckend herstellen? Das FES baut keine Massenprodukte, sondern entwickelt in einem wirtschaftlich unprofitablen Bereich, um Bobfahrer, Rennrodler & Co. wettbewerbsfähig zu halten. Die geringen Stückzahlen führen dabei zu beträchtlichen Werten. Allein ein Satz hochwertiger Bobkufen hat mit 30.000 Euro den Marktwert eines neuen Mittelklasseautos. ... Den Etat des FES von rund 3 Millionen Euro finanziert ein Trägerverein aus zwölf Sportverbänden. Damit kommt das Geld indirekt über Zuschüsse vom Bundesinnenministerium. ... Zum Schutz vor den Spionen benutzt das Institut dasselbe Datenschutzsystem wie das Bundesinnenministerium.
Christian Meyer, Die Tageszeitung 25.2.06
OLYMPIA - BLICK ZURÜCK
ZUR GESCHICHTE DER
OLYMPISCHEN WINTERSPIELE
Von Werner Stenzel
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Die Vorgeschichte der Olympischen Winterspiele wurde längst nicht mit solchem Eifer erforscht, wie die der Sommerspiele. Dafür gab es viele Gründe. Die Winterspiele waren erst 1924 zum ersten Mal ausgetragen worden. Im gleichen Jahr fanden bereits die achten Sommerspiele statt. Zudem erreichten die Winterspiele nie die Dimensionen – sowohl im Hin-blick auf die Zahl der Sportarten als auch die der Teilnehmer – der Som-merspiele.
So kam es auch, dass der Weg zu den Winterspielen noch immer nicht restlos aufgeklärt worden ist. Der 1995 im Alter von 81 Jahren verstorbe-ne Österreicher Erich Kamper muss an erster Stelle genannt werden, wenn es um die Chronisten der Winterspiele geht. Der Ehrenpräsident der olympischen Historiker hinterließ zahlreiche bemerkenswerte Arbeiten zu diesem Thema, hatte aber unerklärlicherweise den französischen Winter-sportwochen, die 1907 zum ersten Mal in Briancon-Montgenèvre ausge-tragen wurden, kaum Aufmerksamkeit geschenkt.
In einer anlässlich der Olympischen Winterspiele 1964 in Innsbruck von einem Getränkehersteller finanzierten und als Geschenk an Gäste und Journalisten der Spiele verteilten Buch über die Geschichte der Winter-spiele (Stuttgart 1964) hatte Kamper darauf verwiesen, dass schon bei dem von Coubertin initiierten Kongress am 23. Juni 1894 in Paris, der die „Wiederaufnahme“ der Olympischen Spiele beschloss, in der Liste der künftigen olympischen Sportarten auch das Eiskunstlaufen aufgeführt wurde. Das war auch dem Umstand zuzuschreiben, dass schon 1892 in Scheveningen die Internationale Föderation gegründet worden war und schon 1889 die ersten Weltmeisterschaften im Eisschnelllauf stattgefun-den hatten.
Allerdings konnten die Eisläufer nicht damit rechnen, bei der olympischen Premiere in Athen 1896 dabei zu sein. An eine Eishalle in Griechenland dachte damals niemand. Auch vier Jahre später in Paris bot sich keine Gelegenheit und erst recht nicht 1904 in St. Louis. So war es das die vier-ten Spiele mit britischer Akribie veranstaltende London, das die ersten Wintersportmedaillen vergab. Der 1895 errichtete Eispalast – Kamper überlieferte sogar die Maße: 62 x 16 Meter – wurde zwar erst drei Wo-chen vor Beginn der Wettkämpfe für das olympische Organisationskomi-tee geräumt, so dass nur wenig Zeit für Training blieb, aber immerhin wurden vier olympische Entscheidungen ausgetragen: Pflicht und Kür der Herren, Spezialfiguren der Herren, Paarlaufen und eine Pflichtkonkurrenz der Damen.
Am 29. Oktober 1908, als die Pflicht der Damen und Herren und das Paarlaufen ausgetragen wurden, war die Halle mit begeisterten Zuschau-ern überfüllt, die dem „größten Eiskunstlauf-Ereignis beiwohnten, das bis dahin in England stattgefunden hatte“. (Kamper, S. 13)
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Einer Untersuchung von Stefanie Arlt („Von den Nordischen Spielen über die olympischen Wintersportwettbewerbe zu den ersten Olympischen Winterspielen in Chamonix“/www.netschool.de) ist zu entnehmen, dass im Jahr der Londoner Spiele bereits die zweite „Woche des internationalen Wintersports“ in Chamonix stattfand. Bereits bei der ersten 1907 waren Wettkämpfe in den nordischen Skidisziplinen, im Eisschnelllauf, Eiskunst-lauf, Eishockey, Curling, Rodeln, Bobrennen und Skeleton ausgetragen worden. Eishockey spielte damals international schon eine beträchtliche Rolle und 1908 wurde in Paris die Internationale Eishockeyföderation (LIHG) gegründet und der französische Kunstläufer und Eishockeyspieler Louis Magnus zu deren erstem Präsidenten gewählt. Das ist der Erwäh-nung wert, weil er 18 Jahre später in Chamonix das erste Eishockeytur-nier bei Olympischen Winterspielen organisierte.
Der vielfache Hinweis auf die Nordischen Spiele, die im Gegensatz zu den französischen Wintersportwochen nicht jedes Jahr stattfanden, erhellt die Wintersport-Situation jener Jahre: Es fanden Weltmeisterschaften bei den Kunstläufern und Schnellläufern statt, es wurden die internationale französische Wintersportwoche ausgetragen, die Nordischen Skispiele (1901, 1905, 1909, 1913, 1917, 1922 und 1926) und seit 1892 alljährlich vor den Toren Oslos die Holmenkollen-Skirennen, die das Erbe der 1883 gegründeten Huseby-Rennen angetreten hatten.
Nur allzu verständlich also, dass es mehrere Anläufe gab, diese Wettbe-werbe unter dem olympischen Dach zu vereinigen, was allerdings oft ge-nug daran scheiterte, dass alle daran Beteiligten zwar begeisterte Zu-stimmung signalisierten, in den Stunden, da die Entscheidungen fallen sollten, aber um ihre Selbständigkeit fürchteten.
Die erste ernsthafte Debatte im IOC fand bei der Tagung 1911 in Buda-pest statt. Aufgeworfen hatte die Frage Graf Brunetta d'Usseaux (IOC-Mitglied für Italien von 1897 bis 1919) am 23. Mai 1911, als er dem Ver-treter des schwedischen Organisationskomitees für 1912 aus heiterem Himmel die Frage stellte, ob das Komitee, das die Sommerspiele organi-siere, auch ein Programm für Wintersportarten plane? Das schwedische IOC-Mitglied – und Chef des Organisationskomitees für 1912 - Oberst Balck (im IOC von 1894 bis 1921) verneinte brüsk und verwies darauf, dass daran schon deshalb nicht zu denken sei, weil die nächsten Nordi-schen Spiele 1913 stattfinden würden. (Er verwies nicht darauf, dass er auch die organisierte.) Der Italiener überraschte das Komitee mit dem Vorschlag, diese Nordischen Spiele als Olympische Winterspiele auszu-tragen und den olympischen Kalender ein wenig zu modifizieren: das olympische Jahr sollte vom 1. Juni 1912 bis 31. Mai 1913 dauern, so dass die Winterspiele noch unter 1912 geführt werden könnten. Die IOC-
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Mitglieder diskutierten die skurile Idee mit Vehemenz und vertagten die Abstimmung auf den nächsten Tag.
Der Graf wiederholte seinen Antrag 24 Stunden später und diesmal betei-ligten sich fast alle IOC-Mitglieder an dem Streit, bis auf den Präsidenten. Baron de Coubertin schwieg und tat sicher klug daran, denn niemand konnte Balck zwingen, zu den Sommerspielen auch noch Winterspiele zu arrangieren.
Der Antrag wurde abgelehnt und so fanden vorerst keine Winterspiele statt.
Drei Jahre später tagte das IOC in Paris und wieder gab es Vorschläge, auch Wintersportwettbewerbe ins olympische Programm aufzunehmen. Der Sensationellste stammte von einem Vorstandsmitglied des norwegi-schen Skiverbandes, dessen Namen allerdings nicht einmal Kamper in Erfahrung brachte. Damit leistete Norwegen als Heimatland des Skisports einen unerwarteten Beitrag auf dem Weg zu Olympischen Winterspielen. Hinzu kam ein österreichischer Antrag, den Eissport ins olympische Pro-gramm aufzunehmen. Beide Vorschläge wurden angenommen, allerdings kam man nicht einmal mehr dazu, ein Protokoll zu fertigen, denn der Aus-bruch des Ersten Weltkriegs beendete den Kongress über Nacht.
Die Olympischen Sommerspiele 1916 waren bekanntlich schon vorher an Berlin vergeben worden und hinlänglich bekannt ist, wie die Vorbereitun-gen verliefen. Carl Diem schrieb in der Zeitschrift „Fußball und Leichtath-letik“: „1916 müssen wir siegen, und zwar auf der ganzen Linie ... Dies kann und wird geschehen, wenn die Vorschläge des Deutschen Reichs-ausschusses für Olympische Spiele Annahme finden, in dem in der deut-schen Armee regimentweise durch besondere Prüfungswettkämpfe die natürliche Leistungsfähigkeit auf die Probe gestellt wird.“ (Zitiert nach K. Lennartz: Die Olympischen Spiele 1916, Carl-Diem-Institut. Köln o. J. S. 62)
Zu dem Projekt „auf der ganzen Linie“ zu „siegen“, gehörte auch, ein „Ski-Olympia“ auf dem Feldberg im Schwarzwald zu veranstalten. Abgesehen davon, dass die Norweger gegen dieses Vorhaben energisch protestier-ten, wurde es durch den Krieg ohnehin hinfällig. Deutschland bemühte sich, auf Schlachtfeldern blutige Siege zu erringen und verzichtete auf Olympia: „Die Würfel sind gefallen! Die Tage dumpfer Ungewissheit vo-rüber! Aus der Sportschau 1916 ist eine Heerschau 1914 geworden. Und hier, wo die ganze Welt als Preisrichter fungiert, wird sich erweisen, dass der deutsche Sport auch im ernsten Kampf seinen Mann steht.“ (Illustrier-ter Sport, Berlin. Nr. 31, 4. 8. 1914)
Als der Krieg zu Ende war, Europa die Trümmer beiseiteräumte und das IOC beschloss, Olympische Spiele 1920 in Antwerpen zu veranstalten, wurden die Deutschen nicht eingeladen. Dieser Tatbestand wird auch
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heute noch oft und gern in den Medien als „Unrecht“ deklariert und sogar als Verletzung der olympischen Regeln dargestellt. Tatsache ist und bleibt, dass man zu den an das von den Deutschen überfallene Belgien vergebenen Spielen keine Deutschen hätte einladen können, ohne die olympische Bewegung zu spalten.
Der IOC-Präsident Coubertin fand einen Weg, auf die Einladung zu ver-zichten und auch einen, um „kleine Winterspiele“ stattfinden zu lassen. Antwerpen hinterließ keinen offiziellen Bericht der Spiele, sondern nur ein lückenhaftes Schreibmaschinenprotokoll. Als wichtigste Zeremonie der Eröffnung sollte man den Gottesdienst am 14. August 1920 betrachten, der den Toten des Ersten Weltkriegs gewidmet war. Bereits vom 20. bis 30. April fanden im Eispalast die Wintersportwettbewerbe statt.
Bei den Eiskunstläufern beherrschten zwei Schweden die Szene: Gillis Grafström – in Potsdam begraben – und sein inzwischen 42-jähriger Landsmann Ullrich Salchow. Grafström gewann unangefochten, Salchow stürzte an die Barriere und musste sich mit dem vierten Rang begnügen. Der Höhepunkt war das erste olympische Eishockeyturnier, das die Ka-nadier dominierten. Die Schweiz schlugen sie 29:0, die CSR 15:0 und Schweden im Finale 12:1.
Am 26. Mai 1921 lud das IOC Wintersportexperten aus aller Welt ein, um der Tagung des IOC ein Gutachten präsentieren zu können. Der Schwei-zer Alfred Megroz erstattete den Bericht und teilte auch mit, dass die Ver-treter Frankreichs, der Schweiz und Kanadas für die Einführung von Olympischen Winterspielen votiert hätten, während Schweden und Nor-wegen den Vorschlag nach wie vor ablehnten und obendrein Frankreich und die Schweiz für in dieser Frage nicht kompetent erklärten. Das schwedische IOC-Mitglied - später IOC-Präsident - Sigfrid Edström be-mühte sich, zu vermitteln und versicherte, er würde nicht gegen den Vor-schlag der beiden französischen IOC-Mitglieder Graf Clary und Marquis de Polignac stimmen, die empfohlen hatten, der internationalen Winter-sportwoche 1924 in Chamonix olympische Schirmherrschaft zu gewähren.
Die skandinavische Front gegen Olympische Winterspiele geriet ins Wan-ken. Das kanadische IOC-Mitglied Merrick hielt eine flammende Rede und brachte den Antrag ein: „Der Kongreß schlägt dem Internationalen Olym-pischen Komitee vor, daß in allen Ländern, wo Olympische Spiele durch-geführt werden und wo es möglich sei, auch Wintersportwettbewerbe zu organisieren, diese unter die Patronanz des IOK gestellt und nach den Regeln der zuständigen internationalen Fachverbände abgewickelt wer-den sollten.“
Noch einmal folgte eine hitzige Debatte und an deren Ende ergriff zu aller Überraschung IOC-Präsident Baron de Coubertin das Wort. Er schlug vor, im März 1922 einen weiteren Wintersportkongress abzuhalten, den der In-
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ternationale Eislaufverband als ältester Wintersportverband arrangieren sollte und der den Vorschlag Polignacs noch einmal prüfen sollte.
Es tat sich etwas, was selten war im IOC: Man widersprach Coubertin. Der Antrag für die Durchführung von Winterspielen des Franzosen de Po-lignac fand eine klare Mehrheit, doch waren die Widerstände damit immer noch nicht überwunden. Der Schwede Sigfrid Edström forderte, dass die Wintersportwoche in Chamonix nirgends als Olympische Spiele ausgege-ben werden dürften. Diese Intervention endete in einem Kompromiss: Nach der Austragung der Woche sollte das IOC die endgültige Entschei-dung treffen.
Danach machten sich die Franzosen ans Werk, schlossen einen Vertrag mit Chamonix, der der Stadtverwaltung 40 Prozent der Einnahmen garan-tierte, mindestens aber 500.000 France. In den Tagen vor der Eröffnung regnete es in Strömen, aber als am 24. Januar 1924 der Auftakt stattfand - 294 Teilnehmer aus 17 Ländern waren dabei -, war der Winter wieder zurückgekehrt. In den offiziellen Statistiken findet man übrigens nur 16 Länder, weil zwar ein Este an der Eröffnung teilgenommen hatte, dann aber keiner startete.
Der Finne Clas Thunberg gewann im Eisschnelllauf fünf Medaillen (3 gol-dene, eine silberne und eine bronzene, während der Norweger Thorleif Haug zu drei Goldmedaillen (Skilanglauf über 18 km, 50 km und Nordi-sche Kombination) und einer bronzenen im Spezialsprunglauf kam.
Das Wichtigste: Die IOC-Tagung 1925 in Prag beschloss, die Winter-sportwoche nachträglich als die I. Olympischen Winterspiele anzuerken-nen und künftig alle vier Jahre Winterspiele auszutragen. Dabei wurde dem Land, das die Sommerspiele übertragen bekommen hatte, ein Vor-recht eingeräumt, auch die Winterspiele auszurichten, was dann aller-dings nur dreimal geschah: 1924, 1932 und 1936.
INTERVIEW
Vor 50 Jahren – Gründung der
Forschungsstelle an der DHfK
Gespräch mit HANS SCHUSTER
Am 1. September 1956 gründete die Deutsche Hochschule für Körper-kultur (DHfK) in Leipzig eine Forschungsstelle, aus der 1969 das For-schungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) hervorging. Die „Bei-träge zur Sportgeschichte“ sprachen mit dem einstigen Rektor der
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DHfK (1965-1967), langjährigen Direktor der Forschungsstelle (1960-1965, 1967-1969) und des FKS (1969-1990) Prof. Dr. Hans Schuster.
BEITRÄGE: Erinnern Sie sich noch etwa an ein halbes Dutzend Namen damaliger Wissenschaftler, die mithalfen das spätere FKS auf die Beine zu bringen?
HANS SCHUSTER: Es war lediglich ein knappes Dutzend, das sich im September 1956 zusammenfand, um die Arbeit in der Forschungsstelle (FST) aufzunehmen. Mit vielen von ihnen verbindet mich eine mehr als 30-jährige enge freundschaftliche Zusammenarbeit.
Das sind zum Beispiel: der erste Direktor der Forschungsstelle, Gerhard Hochmuth, zugleich auch Nestor der Biomechanik in der DDR und Autor eines Lehrbuches, das international hoch geschätzt wurde, Günther Thieß, der ideenreich an der Neugestaltung des Schulsports beteiligt war und ganz maßgeblich das leistungsorientierte Training im Nachwuchsbe-reich wissenschaftlich fundierte, Günther Wonneberger, der die zeitge-schichtliche Forschung an der Forschungsstelle prägte, Rudi Stemmler, der Einzige, der damals über Erfahrungen in der Anlage, Darstellung und Interpretation von repräsentativen Erhebungen verfügte, Heiner Gund-lach, der sich zum ausgewiesenen Experten in der Leichtathletik entwi-ckelte. Und schließlich nenne ich noch Ingenieur Karl Hüttel, der mit viel Phantasie und handwerklichem Geschick dafür sorgte, Technik zu entwi-ckeln, die für unsere Untersuchungen benötigt wurde.
Innerhalb kurzer Zeit erweiterten Absolventen der DHfK, der Moskauer Sporthochschule und anderer Institute den Mitarbeiterkreis, wie Helga Pfeifer für Sportschwimmen und die Ausdauersportarten, Alfons Lehnert für die Theorie und Methodik des Trainings und als Leiter mehrerer inter-disziplinärer Forschungsprojekte, Horst Fiedler für Boxen und Kampf-sportarten. Ende 1956 waren es bereits 34 und zum 10-jährigen Bestehen 1966 war die Gesamtzahl der Mitarbeiter auf 180 angestiegen.
Eine Besonderheit charakterisiert diese Anfangsphase: Es gab keine aus-gewiesenen Lehrer in der Forschung, an die man sich hätte wenden kön-nen, manchmal halfen einige aus den Mutterwissenschaften. Jeder muss-te vor und in der laufenden Arbeit selbst lernen, wie es am besten geht – im Grunde waren alle mehr oder weniger Autodidakten. Das war aber kein Nachteil, sondern vielmehr ein Gewinn für ein anderes, zum Teil neues Vorgehen in der Sportwissenschaft der DDR, die aus bekannten histori-schen Gründen neue Wege suchen musste.
Die fast ausschließlich jungen Mitarbeiter konnten sich vor allem auf die Ergebnisse der sowjetischen Sportwissenschaft stützen, die am weitesten entwickelt war. Das betraf besonders wesentliche Theorien und Hand-lungsrichtlinien für das Training in allen Bereichen des Sports, die Trai-
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ningsmethodik, die Physiologie und die Psychologie oder die Qualifikation des Trainerstammes usw.
BEITRÄGE: Würde man Sie danach fragen, ob Sie sich noch daran erin-nern, welches Vorhaben vor einem runden halben Jahrhundert das erste Forschungsprojekt war und welche das wissenschaftliche Profil der For-schungsstelle besonders prägten, könnten Ihnen folgende einfallen?
HANS SCHUSTER: Wenn ich mich recht erinnere, war es das Projekt von Gerhard Hochmuth mit dem Thema: Untersuchungen über den Ein-fluss der Absprungbewegung auf die Sprungweite beim Skispringen. Da-mit promovierte er zum Dr. Ing. an der Technischen Universität Dresden. Es wurde eine erste Messdolle für den Rudersport entwickelt, das erste internationale Patent der FST für die Entwicklung eines Skirollers für das Sommertraining der Skilangläufer erworben – vielfach technologisch wei-terentwickelt gehört er seit langem zum internationalen Standard –, Be-wertungstabellen für die Überprüfung des körperlichen Zustandes von Schulkindern wurden erarbeitet oder Anleitungen für die Gestaltung der Ausgleichgymnastik in Produktionsbetrieben. Bald aber wurde deutlich, dass mit punktuellen Projekten allein keine Antworten gefunden werden konnten, um die drängenden Probleme in der praktischen Entwicklung des Sports und des Leistungssports lösen zu helfen.
Wichtige politisch-organisatorische Entscheidungen waren mit der Bildung der Sportclubs, der Kinder- und Jugendsportschulen (KJS), zentraler Trainingsstätten, der Traineraus- und -weiterbildung an der DHfK bereits lange vorher gefallen. In den 60er Jahren wurden in Verantwortung des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport und des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) in rascher Folge weitere Maßnahmen beschlos-sen und realisiert, die den Systemaufbau nachhaltig bestimmten. Ohne die einzelnen Jahreszahlen zu nennen, waren das die Bildung der For-schungs- und Entwicklungsstelle (FES) für Wettkampfgeräte, das Büro zur Förderung des Sports für die Sicherung der schulischen und berufli-chen Ausbildung der Athleten, die Trainingszentren in allen Bezirken und Kreisen, Wissenschaftliche Zentren der Sportverbände, die Profilierung der KJS zu Spezialschulen für den sportlichen Nachwuchs, die Kinder- und Jugendspartakiaden als prägendes Element für die Wettkampfsyste-me der Nachwuchssportler, die 1965/1966 begannen, 1967 wurde die Leistungssportkommission der DDR gebildet als Gremium zur Koordinie-rung der Gesamtbelange des Leistungssports.
Die weiteren Schritte zur Entwicklung der Sportmedizin waren u.a. getragen von dem Gedanken, im Rahmen der Gesundheitspolitik der Prophylaxe ei-nen höheren Stellenwert einzuräumen. Es erfolgte der Aufbau des Sport-medizinischen Dienstes der DDR bis zur Kreisebene zur Sicherung der ge-sundheitlichen Betreuung der sporttreibenden Bevölkerung, des Schul-
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sports, des Übungs- und Wettkampfbetriebes und des Leistungssports. Die Ausbildungsrichtung „Facharzt für Sportmedizin“ wurde bestätigt, und – um das Niveau in der sportmedizinischen Ausbildung und Forschung zu erhö-hen – wurde im Rahmen der DHfK das eigenständige Institut für Sportme-dizin eingerichtet, dem kurz darauf die Bildung des Rehabilitationszentrums in Kreischa folgte. Im Kontext damit – deshalb auch diese Aufzählung – war eine Neuausrichtung der Forschung dringend geboten.
Prägten die ersten Jahre vor allem die Qualifikation der Mitarbeiter und das Sammeln von Erfahrungen in der Forschungsmethodik, so war die Arbeit in den folgenden zehn Jahren darauf gerichtet, den Aufbau eines Vorbereitungs- und Ausbildungssystems von Leistungssportlern wissen-schaftlich zu unterstützen und dieses System inhaltlich auszugestalten.
Ab 1959/1960 wurde die Vorrangigkeit der Arbeiten für den Hoch- und Nachwuchsleistungssport an der FST verstärkt, neue Kräfte hinzugewon-nen, weitere Wissenschaftsdisziplinen wie Pädagogik, Psychologie, Ma-thematik einbezogen. Und nach einer Phase der Entwicklung im Institut für Sportmedizin, in der es galt, die Wissenschaftsprofile herauszuarbei-ten, kam es zu einer engen Zusammenarbeit und Kooperation mit den Be-reichen und Personen, die sich für die sportmedizinische und biowissen-schaftliche Forschung im Leistungssport entschieden.
In den Mittelpunkt rückte die sportartspezifische Forschung bei gleichzeiti-ger Herausbildung der Fähigkeiten, grundlegende und übergreifende The-men zu bearbeiten, die für die Weiterentwicklung theoretischer Positionen und Trainingskonzeptionen erforderlich waren. Zugleich wurden die Ver-flechtungsbeziehungen zwischen Wissenschaft und Praxis deutlich enger.
Am Anfang dieser Etappe stand die sorgfältige Aufbereitung der Ergeb-nisse von Wettkampfanalysen einer etwa 60 Personen umfassenden Be-obachtergruppe zu den Olympischen Sommerspielen in Rom, der Sport-wissenschaftler, Mediziner, Trainer und weitere Fachexperten angehör-ten. Sie wurde verbunden mit der Ausarbeitung von Empfehlungen für die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1964 in Tokio. Bislang war nicht für vier Jahre, sondern mehr von Jahr zu Jahr neu konzipiert worden.
Eigene Standpunkte wurden erarbeitet und in wissenschaftlichen Semina-ren mit Trainern zur Diskussion gestellt, zum Beispiel zu Problemen des Trainings, die auch international umstritten, oft gegensätzlich waren wie die Gestaltung des Ausdauertrainings im Leistungssport – ich erinnere nur an die Frage, Intervalltraining und/oder Dauertraining und wie geht es wei-ter, an die Fragen zur Rolle des Krafttrainings in den verschiedenen Sportarten und -disziplinen oder an die Fragen im Zusammenhang mit der Einführung einer speziellen Trainingsphase zur unmittelbaren Wettkampf-vorbereitung (UWV) mit dem Ziel, die individuellen Höchstleistungen tat-sächlich zu den jeweiligen Wettkampfhöhepunkten zu erreichen.
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Dem folgten mehrere Seminare mit Vertretern aus den verschiedenen Sportartengruppen, in denen die spezifischen Standpunkte zur Weiter-entwicklung der Trainingskonzepte im Mittelpunkt standen.
Einige Forschungsprojekte möchte ich besonders hervorheben, weil de-ren Ergebnisse nachhaltige Auswirkungen auf die inhaltliche Gestaltung des Gesamtprozesses hatten. Das war zum einen die wissenschaftliche Ausarbeitung der Ziele, Aufgaben und Methodik, die den Programmen für das Kinder- und Jugendtraining zugrunde gelegt werden sollten. Eine der Grundthesen war, die Ausrichtung des Trainings nicht von Nahzielen ab-hängig zu machen, sondern das Training als Bestandteil eines langfristi-gen einheitlichen Prozesses zu verstehen, der auf das Vollbringen hoher sportlicher Leistungen in der Zukunft vorbereitet. Bezeichnet wurden die beiden ersten Etappen als Grundlagentraining und Aufbautraining, denen dann das Hochleistungstraining folgte. Diese Auffassungen legten mit den Grundstein für einen wesentlichen Systemvorteil des DDR-Leistungs-sports – eine strategische Verbindung des Nachwuchstrainings mit dem Hochleistungstraining frühzeitig erkannt und genutzt zu haben. Die so ge-nannte „frühzeitige Spezialisierung“ stand dem entgegen. Für das Grund-lagentraining war eine zwar sportartgerichtete aber allgemeine, vielseitige athletische Grundausbildung vorrangig, während das Ziel des Aufbautrai-nings darin bestand, die jungen Sportler planmäßig auf das Hochleis-tungstraining vorzubereiten und die Basis für hohe spezielle Belastungen und damit für mögliche hohe Leistungen zu verbreitern.
Als zweites Projekt möchte ich nennen: Die Erarbeitung von Grundlagen für die Planung und Auswertung des Trainings, am Beispiel mehrerer Sportar-ten. Dazu wurden die Inhalte für die Rahmentrainingspläne bestimmt, eine Planmethodik und eine Trainingsdokumentation entwickelt, die es möglich machen sollten, das realisierte Training jedes einzelnen Sportlers nach be-stimmten Kriterien, ob Mittel oder Methoden und vor allem den Belastungs-grad, zu erfassen und einer Trainingsanalyse zugänglich zu machen. Das war ein weiterer Schritt im Prozess des langfristigen Anliegens, den Zu-sammenhang von Training und Trainingswirkung zunehmend besser objek-tivieren zu können. Mit der Bildung der Wissenschaftlichen Zentren (WZ) in den Sportverbänden übernahmen diese die Verantwortung für die prakti-sche Realisierung und die Weiterentwicklung dieses Projektes.
1965 begann eine interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppe unter der Leitung von Alfons Lehnert mit „Untersuchungen zur langfristigen und unmittelbaren Vorbereitung auf die speziellen klimatischen und ortszeitli-chen Bedingungen der XIX. Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexiko-City“ in ca. 2000 m Höhe gelegen. Wissenschaftlerteams aus vielen Län-dern befassten sich damals mit der gleichen Problematik. Die in unserer Arbeitsgruppe aus Felduntersuchungen und zusätzlichen Untersuchungen
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in Barokammern gewonnenen allgemeinen Erkenntnisse sowie die für einzelne Sportarten speziell erarbeiteten Vorbereitungs- und Trainings-konzepte führten dazu, dass die DDR-Athleten ihre olympischen Wett-kämpfe recht erfolgreich bestreiten konnten.
Anfang 1968 erhielt die Forschungsstelle den Auftrag, eine Grundlinie der Entwicklung des Leistungssports bis 1980 zu erarbeiten. Die dazu gebil-dete Arbeitsgruppe analysierte internationale Entwicklungstendenzen, verglich Vorbereitungssysteme anderer Länder. Ausgehend von der geo-grafischen Lage, der Größe des Landes mit einer relativ geringen Bevöl-kerungszahl und dem erreichten Entwicklungsstand des Leistungssports in der DDR galt es, Schlussfolgerungen zu ziehen, Varianten abzuwägen und Entscheidungsgrundlagen zu erarbeiten, zum Beispiel für die Anzahl der Sportarten, die unter den gegebenen Bedingungen besonders geför-dert werden können, die Größenordnungen im Aufbau der Kaderpyramide in den 3 Stufen sowie für den Ausbau solcher Faktoren, die sich bereits als spezifische Vorteile des DDR-Vorbereitungssystems erwiesen hatten. Einer wissenschaftlichen Studie war beispielsweise zu entnehmen, dass – beim damaligen Stand der Akzeleration – in der DDR pro Jahrgang etwa 1500 Jungen eine finale Körperhöhe größer als 1,90 m und ebenso viele Mädchen größer als 1,80 m erreichten. Geht man davon aus, dass ein Teil davon Bewegungsstörungen aufweist, andere sich zwar sportlich be-tätigen aber nicht regelmäßig trainieren wollen, dann würde sich die mög-liche Anzahl solcher „Großen“ noch weiter verringern. Aber diese „Gro-ßen“ suchten die Sportart Rudern, die in der DDR populären Spielsportar-ten Volleyball und Handball, die Wurfdisziplinen und der Hochsprung in der Leichtathletik und andere, so dass sich die Frage aufdrängte, wie kann es mit Basketball weitergehen? Ich erwähne das, weil es um Ent-scheidungsfindungen ging, die sich auch angesichts der Tatsache erga-ben, dass neben der Sowjetunion, den USA und eventuell der BRD kein anderes der damals führenden Sportländer in der Lage war, das vollstän-dige olympische Programm abzudecken, obwohl dieses noch weit weni-ger Disziplinen umfasste als heute. Der Entwurf für diese Grundlinie lag im Mai 1968 der Leistungssportkommission vor und war Grundlage für lei-tungspolitische Abstimmungen und Entscheidungen. Das Sekretariat des Zentralkomitees der SED bestätigte die Grundlinie zur Entwicklung des Leistungssports in der DDR bis 1980 am 19. März 1969.
BEITRÄGE: Könnten Sie die Ziele und Arbeitsweise des Forschungsinsti-tuts für Körperkultur und Sport (FKS) zu DDR-Zeiten knapp umreißen?
HANS SCHUSTER: Mit dem knapp ist das so eine Sache. Denn es geht immerhin um einen Zeitraum von fünf Olympiaden, um mehr als 20 Jahre, in denen sich vielfältige Entwicklungen vollzogen. Die Gründung des FKS im April 1969 stand in engem Kontext mit dem Gesamtaufbau des spezifi-
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schen Leistungssportsystems mit dem legitimen Ziel, die Leistungsfähig-keit der DDR im weltweiten sportlichen Wettstreit auch durch hohe und höchste sportliche Leistungen nachzuweisen. Zum anderen fällt die Grün-dung des FKS mit einem Zeitpunkt zusammen, zu dem – aus meiner Sicht – der Systemaufbau weitgehend abgeschlossen war und eine Ent-wicklungsphase begann, in der die Systemwirksamkeit und -vervollkommnung in den Mittelpunkt gerückt werden konnten. Das war vor allem mit einer qualifizierten inhaltlichen Ausgestaltung verbunden.
Das FKS als selbständiges Institut entstand durch den Zusammenschluss der Forschungsstelle mit dem Institut für Sportmedizin, von dem etwa zwei Drittel des vorhandenen Potentials dem FKS zugeordnet wurden und ein Drittel an der DHfK für die Lehre und die Forschung verblieb. Es un-terstand direkt dem Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport.
Nach einigen inneren Schwierigkeiten im Prozess der Wissenschaftsorgani-sation und der 1973 erfolgten Übernahme der Nachwuchsforschung durch die DHfK sowie der Konzentration der Spielsportforschung an der Hochschu-le, die über die kompetenteren Experten auf diesem Gebiet verfügte, ent-stand am FKS eine Grundstruktur, die bis zum Ende seiner Existenz bestand. Es gab vier Forschungsbereiche der Sportartengruppen Ausdauer-, Schnell-kraft-, Zweikampf- und technisch-akrobatische Sportarten sowie den Bereich Gesellschaftswissenschaften. Dazu die übergreifenden Bereiche Sportmedi-zin/Biowissenschaften und Automatische Informationsverarbeitung, Technik und Entwicklung (ATE). Dem FKS war außerdem das Zentrum für Wissen-schaftsinformation und Dokumentation zugeordnet, das gemeinsam mit den verschiedenen Leitstellen alle Bereiche des Sports versorgte.
Die Zahl der Mitarbeiter stieg auf ca. 600 an. Davon besaßen etwa 330 Mitarbeiter aus 24 Wissenschaftsdisziplinen einen Hochschulabschluss, die in ihrer Mehrzahl nicht Sportwissenschaft studiert hatten.
Zum Kernstück der Forschung am FKS wurde die komplexe, interdiszipli-näre sportart- und disziplinspezifische Forschung, wobei disziplinspezi-fisch darauf verweist, dass nicht die Sportart, sondern die jeweiligen Dis-ziplingruppen, beispielsweise in der Leichtathletik, Wurf / Stoß, Sprung, Laufen oder Sprint Gegenstand waren, und da wieder Diskuswerfen – Kugelstoßen, Weit- beziehungsweise Hochsprung, 800-m-Lauf oder 10.000-m-Lauf usw. mit ihren ganz unterschiedlichen Anforderungsprofi-len. Für den interdisziplinären Ansatz in der jeweiligen Sportart waren die Leistungsstrukturen maßgeblich für die Zusammenarbeit mit den ver-schiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Die organisatorische Zusammen-fassung der einzelnen sportartspezifischen Gruppen in Forschungsberei-che ermöglichte es, Synergieeffekte zu nutzen.
Im FKS wurden für etwa zwei Drittel der damals um die 200 olympischen Disziplinen der Sommerspiele die Vorbereitung der Athleten durch wis-
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senschaftliche Untersuchungen unterstützt. Im Wintersport betraf das Ski-langlauf, Skisprung und im Rahmen von Forschungsgemeinschaften Bi-athlon und die Nordische Kombination.
Die sportartspezifische Forschung war zugleich die Basis, um grundle-gende, übergreifende Themen zu bearbeiten, stetig wissenschaftlichen Vorlauf zu schaffen.
Für die Arbeitsweise waren enge Verflechtungsbeziehungen zwischen Wis-senschaft und Praxis charakteristisch, deren wichtigste Achse die Verbin-dung zwischen den Sportverbänden des DTSB und den entsprechenden Forschungsgruppen war. Darüber hinaus gab es mehrere Ebenen, auf de-nen Trainer, Wissenschaftler und andere Fachexperten regelmäßig zu-sammenwirkten, zum Beispiel in den Arbeitskreisen des DTSB für die ein-zelnen Sportartengruppen oder in den Trainerräten. Die direkte praktische Zusammenarbeit vollzog sich auf der Ebene Trainer, Sportler und Wissen-schaftler denn letztlich war es ein Ziel der Forschung, die individuelle Leis-tungsentwicklung jedes Athleten wirkungsvoll zu unterstützen.
Die sportartspezifische Forschung erfolgte im Wesen nach dem Vertrags-prinzip, in dem die entsprechenden Forschungsprojekte mit den Ergeb-niserwartungen fixiert und zugleich die Leistungen des Sportverbandes festgeschrieben worden waren, zum Beispiel den Wissenschaftlern den Zugang zum ablaufenden Trainingsprozess und zu den Wettkämpfen, zu zentralen Lehrgängen oder wichtigen Abschnitten des Trainings im In- und auch im Ausland für die ausgewählten Kaderkreise zu gewährleisten.
Die für einen Olympiazyklus erarbeiteten Grundrichtungen der Forschung wurden in aller Regel von den Wissenschaftlern selbst erarbeitet, mit den Praxispartnern abgestimmt und nach Beratung durch die Arbeitsgruppe Wissenschaft von der Leistungssportkommission der DDR bestätigt.
Um einen Eindruck der komplexen Forschungsaufgaben zu vermitteln, will ich einige der prägenden Hauptrichtungen nennen, ohne das natürlich ganz exakt und jeweils bis ins Detail tun zu können, weil die tatsächlich thematisch bearbeiteten Projekte entsprechend den Möglichkeiten der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen gestaltet wurden.
Das waren zum Beispiel leistungsprognostische Arbeiten im Hinblick auf die konkreten künftigen Leistungs- und spezifischen Wettkampferforder-nisse im Bereich der Weltspitze, die Bestimmung genauer Zielgrößen für das Training, das tiefere Eindringen in Leistungsstrukturen und der die Entwicklung bestimmenden Leistungsfaktoren. Kurz gesagt: Wo liegen die Leistungsreserven und welche können nutzbar gemacht werden? Zu-sammen mit der Aufbereitung der bisher neu gewonnenen Erkenntnisse war es unsere Aufgabe, die Trainingskonzeptionen für unterschiedliche Zeiträume zu erneuern oder zu vervollkommnen, die wiederum eine Grundlage für die individuelle Trainingsplanung waren.
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Als eine der wichtigsten Leistungsreserven galt die Steigerung der Trai-ningsbelastung in Einheit mit der Beschleunigung der Wiederherstellung nach den verschiedenen Belastungseinheiten. Die Forschungsarbeiten dazu richteten sich anfangs stark auf die quantitativen Seiten des Trai-nings wie Zeitaufwand, Umfänge und Intensitäten. Schon bald aber richte-ten sie sich auf die inhaltlich-qualitativen Faktoren im Trainingsprozess, um den Wirkungsgrad für die Leistungsentwicklung zu erhöhen.
Ein dritter Komplex – sehr heterogen – umfasste im weitesten Sinne den Leistungsfaktor sportliche Technik, Lern- und Korrekturprozesse meist im Zusammenhang mit anderen Komponenten sowie inneren und äußeren Informationsprozessen.
Zu einem wichtigen Bestandteil der Trainingskonzepte in einer großen Anzahl von Sportarten wurde das Höhentraining. Unter Nutzung der wis-senschaftlichen Ergebnisse, die im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf die Höhenlage von Mexiko-City gewonnen worden waren, ging es jetzt darum, das Training in Höhenlagen zur Vorbereitung auf Wettkämpfe un-ter N.N.-Bedingungen zu nutzen. Wir waren weder die Ersten noch die Einzigen, die das erkannt hatten und entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen durchführten. Ausgehend davon, dass es ein Hypo-xietraining an sich nicht gibt, sondern ausschlaggebend für eine leis-tungssteigernde Wirkung die Trainingsgestaltung unter Hypoxiebedingun-gen ist, und zwar eingeordnet in das Gesamtkonzept des Trainings, führ-ten diese Untersuchungen sowohl zu grundlegenden Erkenntnissen als auch zu entsprechenden sportartspezifischen Lösungen. Weitergeführt wurden diese Untersuchungen in der Spezialhalle in Kienbaum, also unter künstlichen Höhenbedingungen, die auch einen variablen Wechsel ver-schiedener Höhenbedingungen ermöglichten.
Zur weiteren Vervollkommnung des DDR-Systems der Förderung des Nachwuchses wurden Forschungen für ein einheitliches System der Eig-nung, Sichtung und Auswahl (ESA) von Kindern und Jugendlichen durch-geführt, wobei bewusst darauf verzichtet wurde, „Talentforschung“ zu be-treiben, die ohnehin nicht sonderlich aussichtsreich gewesen wäre. Es galt vielmehr, Schritt für Schritt Kriterien zu entwickeln und zu vervoll-kommnen, die das System praktikabel machten.
Die – bereits in diesem Gespräch genannten – Etappen des langfristigen Leistungsaufbaus wurden noch ergänzt durch die Einführung einer Phase des Anschlusstrainings, und zwar eingeordnet zwischen Aufbau- und Hochleistungstraining, da insbesondere für die Männer ein längerer Ab-schnitt nach dem Aufbautraining und dem Erreichen des Höchstleistungs-alters lag. Die wissenschaftliche Bearbeitung dieser Aufgabe wurde den verschiedenen sportartspezifischen Forschungsgruppen übertragen.
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In den Jahren der Existenz des FKS nahmen technologische Entwicklun-gen weltweit einen großen Einfluss auf den Leistungssport. Das betraf nicht nur die Wettkampfanlagen selbst – nehmen wir nur die „künstlichen“ Bedingungen für viele Wintersportarten wie Eisschnelllaufhallen oder künstlich vereiste Bob- und Schlittenbahnen –, sondern auch die ganze Palette der Wettkampfgeräte oder die Ausrüstung der Athleten, die Ent-wicklung neuer Trainingsgeräte, die gesamte Untersuchungs- und Mess-technik, auch die für Forschungszwecke. Für das FKS galt das zum Bei-spiel für den Bau und den Einsatz von Strömungskanälen im Schwimm-sport. An einem 1971 importierten Kanal wurden Einsatzmöglichkeiten und die dafür zweckmäßigste Trainingsmethodik mit Weltklassesportlern erprobt und dann ein rundes Dutzend solcher Strömungskanäle im Eigen-bau für alle Sportclubs mit Schwimmsektionen hergestellt. Dadurch und durch das Höhentraining konnte die gesamte Trainingsmethodik im Schwimmsport grundlegend umgestaltet werden. Solch einen Strömungs-kanal nutzten übrigens als Erste Roland Matthes und Kornelia Ender in Vorbereitung auf die Olympischen Sommerspiele in München. Oder – um ein weiteres Beispiel für solche Entwicklungen zu nennen – kippbare Laufbänder für Skilanglauf erlaubten, das Training jedem beliebigen Profil einer Wettkampfstrecke anzupassen.
Für die Forschung selbst wurden u.a. interaktive Bildauswertesysteme, Mess- und Informationssysteme entweder selbst entwickelt oder weiter vervollkommnet, Grundlagen für die mathematisch-physikalische Bewe-gungsmodellierung geschaffen, komplexe Mess- und Untersuchungsba-sen für sportartspezifische Belange eingerichtet.
1974 wurde die Dopingforschung aufgenommen. Entsprechend den da-mals geltenden Geheimhaltungsbestimmungen konnten Ergebnisse vor-erst nicht veröffentlicht werden. Am 8. und 9. Mai 1990 veranstaltete das FKS dann ein wissenschaftliches Kolloquium mit aktiver Beteiligung kom-petenter Dopingforscher aus der BRD mit Prof. Donike an der Spitze. Es kam zu einem interessanten, regen Meinungsaustausch. Die vorgestellten wissenschaftlichen Ergebnisse wurden nach Vorschlag von Prof. Dr. med. Horst de Marées von ihm und Prof. Dr. sc. med. Rüdiger Häcker in einem Sammelband zusammengefasst und schon 1991 im Deutschen Ärzte-Verlag veröffentlicht. Die „Beiträge zur Sportgeschichte“ haben im Heft 21/2005 bereits darauf Bezug genommen.
Es sei noch erwähnt, dass am FKS von Anbeginn ein Wissenschaftlicher Rat mit vier Fakultäten bestand, dazu wissenschaftliche Beiräte der sport-artspezifischen Bereiche sowie Fachkommissionen für die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen. Von den insgesamt 182 Mitgliedern gehörten 74 anderen wissenschaftlichen Einrichtungen oder Institutionen der Praxis an. Die Hochschullehrer des FKS nahmen Lehrverpflichtungen in der
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Spezialausbildung der Direkt- und Fernstudenten der DHfK und in der Trainerweiterbildung sowohl an der DHfK als auch im DTSB und in den verschiedenen Sportverbänden und Sportclubs wahr. Besondere Auf-merksamkeit widmeten wir der Ausbildung des wissenschaftlichen Nach-wuchses. Von 1956 bis zur Abwicklung des FKS 1990 promovierten 192 Mitarbeiter, wissenschaftliche Assistenten und Forschungsstudenten, 39 habilitierten sich, davon die Hälfte an verschiedenen Akademien, Univer-sitäten und Technischen Hochschulen.
BEITRÄGE: Der heutige Innenminister Schäuble nennt zuweilen im klei-nen Kreis die Erhaltung des FKS als besondere Leistung, weil es ja im so genannten Einigungsvertrag genannt wurde. Historiker neigen gern zu der Behauptung, das FKS sei einst in der DDR nur wegen der erhofften olym-pischen Medaillen geschaffen worden. Es kann kaum Zweifel daran auf-kommen, dass Schäuble bei diesem Abschnitt im EV auch nur Medaillen im Sinn hatte. Oder sehen Sie diesen Schritt unter anderem Aspekt?
HANS SCHUSTER: Nein ganz gewiss nicht, wenn man die Förderung des Leistungssports, insbesondere des Hochleistungssports, auf das Ziel Medaillengewinn reduziert, was allerdings – unabhängig von jeder Gesell-schaftsordnung – das höchste Ziel jedes Athleten ist, der sich den damit verbundenen außerordentlich hohen Anforderungen im Prozess der Vor-bereitung auf sportliche Leistungsziele stellen will und stellt.
Dass sich das FKS darauf konzentrierte und das auch mit einigem Erfolg, habe ich bereits gesagt. Aber im Artikel 39 des Einigungsvertrages war nicht nur die Übernahme des FKS, sondern auch die der Forschungs- und Entwicklungsstelle (FES) Berlin festgeschrieben worden, die in der DDR einen ganz wesentlichen Anteil daran hatte, dass DDR-Athleten mit exzel-lenten Wettkampfgeräten ausgerüstet worden waren. Ich nenne nur die Ruder- und Kanuflotten, Bobs und Schlitten, modernste Rennräder, zum Teil auch Segelboote höchster Qualität. Es ging dem Innenminister ohne Zweifel darum, nach fast zwei Jahrzehnten des leistungssportlichen Übergewichts des DDR-Sports – immer als Schmach in der Alt-BRD emp-funden, um kein eindeutigeres Wort zu gebrauchen –, endlich wieder zur Spitzengruppe der Länder im Hochleistungssport zu gehören.
Das ist die eine Seite des Artikels 39. Die viel wichtigere war der erklärte Wille, alle Strukturen des DDR-Sports zu zerschlagen, darunter ganz selbstverständlich auch die des Leistungssports, wie es dann innerhalb kürzester Frist geschah.
Aus eigener Erfahrung, da ich als Direktor des FKS noch bis Mai 1990 im Amt war, möchte ich noch einiges dazu sagen, was sich in Vorbereitung der Übernahme des Instituts und nach der Festlegung einer mehr oder weniger damit verbundenen „Bestandsgarantie“ so zugetragen hat. Es er-übrigt sich fast zu sagen, dass sich die SPD als Opposition den Spielre-
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geln der BRD entsprechend gegen die Pläne von Minister Schäuble aus-sprach und mit machtvollen Worten die angebliche Übernahme des Staatssports der DDR geißelte. Unabhängig davon gab es eine Lobby über alle Parteigrenzen hinweg, die mit einer Übernahme des FKS zu-gleich mehrere äußerst hinderliche Probleme der Entwicklung des BRD-Leistungssports lösen wollte. Das betraf zum einen die als mangelhaft empfundene Unterstützung des Leistungssports durch die Universitätsin-stitute für Sportwissenschaft, deren Forschungsergebnisse zwar auf die Praxis des Leistungssports ausgerichtet schienen, aber eben für diese Praxis wenig nützlich waren. Auch die Existenzberechtigung des Bundes-instituts für Sportwissenschaft in Köln, das keine eigene Forschung be-treibt, wurde angezweifelt. Das alles war von den Protagonisten vielleicht gut gemeint, hatte aber mit der politischen Realität der Ziele des An-schlusses im Grunde nichts zu tun.
Mit Schreiben vom 23. April 1990 beauftragte der Ministerialdirektor im BMI Schaible eben dieses Bundesinstitut in Köln mit der Aufgabe, eine Bestandsaufnahme der Sportwissenschaft in der DDR vorzunehmen. In-nerhalb weniger Tage, am 2. Mai 1990, war dieser Bericht fertig. Bezogen auf das FKS lautete das Urteil: Das FKS als zentrales Forschungsinstitut zu erhalten sei nicht sinnvoll. Angesichts der üppigen Ausstattung seien die wissenschaftlichen Ergebnisse zweier Jahrzehnte gemessen an der Leistungsfähigkeit großer westdeutscher Institute eher dürftig. „Im Übrigen sei am FKS nicht, wie im Westen üblich, geforscht, sondern nur Auftrags-arbeit im Sinne der Leistungssteigerung erledigt worden.“
Minister Schäuble brauchte diese Berater sicher nicht, denn das politische Ziel war klar bestimmt: Mehr Medaillen auch mit Hilfe erfahrener Experten aus der Leistungssportforschung der DDR für die BRD zu erringen.
Nach dem 3. Oktober 1990 waren es besonders leitende Sportwissen-schaftler der BRD, die alles versuchten, die Festlegung im Einigungsvertrag zu unterlaufen, und vehement gegen jede mögliche Art der Fortführung des FKS kämpften. Am 17. Oktober 1990 richtete der damalige Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), Prof. Dr. Elk Franke, einen persönlichen Brief an den Bundesminister für Bildung und Wissen-schaft, Möllemann, in dem er ihn bat, alle seine Möglichkeiten zu nutzen, um zu verhindern, dass das FKS in irgendeiner Form als wissenschaftliche Einrichtung anerkannt wird. Massiv sähe er die Forschungslandschaft der BRD gefährdet. Schaden nähme auch die relativ junge Sportwissenschaft als Ganzes. Als Einsatzmöglichkeit für FKS-Mitarbeiter empfahl er, sie im Sinne einer Beratungsinstitution den einzelnen Olympiastützpunkten anzu-gliedern. Dieser Kampf leitender Sportwissenschaftler der BRD gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft gegen die Einordnung des FKS nach den Rechtsnormen der BRD wurde mit aller Härte geführt, denn
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es ging für viele vermeintlich auch um die eigene Existenz und geringere fi-nanzielle Mittel aus den Fördertöpfen. Enorm zugespitzt wurde diese Aus-einandersetzung durch die Kampagne um das Dopingproblem, anfangs noch verschämt als weltweites Problem, von dem Ost und West gleicher-maßen betroffen seien, dargestellt, wurde es dann fester Bestandteil der Delegitimierung der DDR als Ganzes.
Doch zurück zum eigentlichen Thema. Das FKS wurde abgewickelt, wie es so schön hieß. Mit allem „wenn“, „aber“, „warum überhaupt“ dauerte es dann zwei Jahre bis zu einer Neugründung mit der Auflage, alle Bezüge auf das Vorgängermodell FKS der Vergessenheit anheim zu geben. Ge-bildet wurde ein Verein als Träger der neuen Einrichtung mit dem Namen „Institut für angewandte Trainingswissenschaften“ (IAT) und einem Per-sonalbestand von etwa 80 Mitarbeitern.
Ich kann nicht beurteilen, was sich aus der ursprünglichen Absicht, die mit dem Artikel 39 des Einigungsvertrages verbunden war, für das neue Insti-tut ergeben hat. Anlässlich des 10. Jahrestages der Gründung des IAT hat aber Prof. Dr. Reinhard Daugs (Saarbrücken), der bereits die Neu-gründung des IAT begleitet hatte, in seiner Festrede zum Thema: „10 Jah-re IAT – Ein Institut im Spannungsfeld zwischen Sportpolitik und Sport-wissenschaft“ dazu Aussagen gemacht. Seinen Ausführungen war zu entnehmen, dass das Spannungsfeld letztlich der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit der universitären Leistungssportforschung in der BRD ist, dessen Auswirkungen im IAT spürbar sind.
Dass es offensichtlich mehrere Möglichkeiten der Leistungssportfor-schung gibt, die sowohl hochwertige wissenschaftliche Ergebnisse erbrin-gen als auch gleichzeitig nachweisbar die Entwicklung sportlicher Spitzen-leistungen beeinflussen kann, haben nicht nur die DDR, die Sowjetunion oder China bewiesen. Schon zu DDR-Zeiten war bekannt, dass zum Bei-spiel Australien in Canberra über beste Trainingsstätten für mehrere Sportarten und über Wissenschaftlerteams verfügt, die vor Ort athleten-bezogene Forschung im Hochleistungsbereich durchführten. Ähnlich voll-zog sich die Entwicklung in Kanada mit dem Zentrum in Calgary, zeitwei-se in Colorado Springs (USA) oder in Japan, alles Länder, in denen die Freiheit der Wissenschaft offenbar nicht in ihren Grundfesten erschüttert wurde, wenn eine leistungssportorientierte Forschung zum Nutzen von Trainern und Athleten durchgeführt wird.
Unter Bezug auf die westlichen Länder machte Prof. Dr. Helmut Digel, lang-jähriger Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes, in einem erst un-längst in der Zeitschrift der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) er-schienenen Artikel nun den Vorschlag, dass es an der Zeit sei, auch in Deutschland ein nationales wissenschaftliches Institut zur Erforschung des Hochleistungssports zu gründen.
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Ein Kommentar erübrigt sich.
BEITRÄGE: Würde man von Ihnen die Nennung einer besonderen wis-senschaftlichen Leistung des FKS erwarten, was würden Sie antworten?
HANS SCHUSTER: Charakteristisch war für das FKS die komplex ange-legte interdisziplinäre Forschung. Und diesbezüglich stehen bei mir die Ergebnisse zur Erforschung des Höhentrainings ganz weit vorn. Denn nir-gendwo anders in der Welt wurde diese Problematik interdisziplinär und sportartspezifisch unter den Bedingungen des Hochleistungssports so umfassend untersucht wie am FKS in Leipzig. In einer großen Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten und Hochschulschriften sind die Ergebnisse dieser Untersuchungen dokumentiert worden.
BOXEN UND DIE AUSSICHTSLOSIGKEIT
Gespräch mit GÜNTER DEBERT
Günter Debert war nie Box-Weltmeister, aber wenn irgendein Gremium solche Titel an extrem erfolgreiche Trainer vergeben würde, gehörte er mit ziemlicher Sicherheit zu den Kandidaten. Klaus Huhn interviewte den 76-jährigen.
FRAGE: Wann bestritten Sie Ihren ersten Kampf im Ring?
GÜNTER DEBERT: Oje, eine schwere Frage, zumal meine Laufbahn durch die Nachkriegsumstände gewissermaßen umgekehrt verlief: Ich begann als Profi und wurde dann Amateur. Die 1945 erlassenen Befehle des Alliierten Kontrollrats verboten „Kampfsportarten“, wozu in der Sowje-tischen Besatzungszone das Boxen gehörte. Allerdings nur das der Ama-teure, weil ein paar pfiffige Manager der sowjetischen Kommandantur er-läutert hatten, bei Berufsboxen handele es sich um etwas wie Varieté und das war nicht verboten. So füllten die Berufsboxer auch in Berlin die Hal-len, vor allem den alten Friedrichstadtpalast und dort gab auch ich mein Boxer-Debüt. Ein Datum könnte ich aber nicht mehr nennen. Das muss 1946 gewesen sein, da war ich 17.
FRAGE: Und der letzte Kampf?
GÜNTER DEBERT: Das weiß ich genauer, den bestritt ich 1953. In dem Jahr war ich auch DDR-Meister im Leichtgewicht geworden, hörte dann aber auf, weil feststand, dass ich in keinem Fall zu den Europameister-schaften fahren durfte.
FRAGE: Ein Verbot?
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GÜNTER DEBERT: Man musste sich an die Regeln halten: Reamateuri-sierte Boxer durften nicht an den Amateur-Europameisterschaften teil-nehmen.
FRAGE: Und dann?
GÜNTER DEBERT: Begann meine Trainerlaufbahn und zwar am 2. No-vember 1953 als Assistent von Erich Sonnenberg, dessen Name nicht vergessen werden darf, wenn von den Erfolgen des DDR-Boxsports die Rede ist.
FRAGE: Und wann standen Sie das letzte Mal in einer Ringecke?
GÜNTER DEBERT: Noch so eine komplizierte Frage. Als ich nach der Vereinigung der beiden Boxverbände meine Kündigung einreichte, fragten mich die Schweizer, ob ich bei ihnen die Trainerausbildung übernehmen würde. So stand ich noch lange in Schweizer Ecken, wenn auch nicht während der Kämpfe...
FRAGE: Sie haben beim vereinten deutschen Boxverband gekündigt?
GÜNTER DEBERT: Es muss gesagt werden, dass auch die Boxverbände vereinigt wurden, wie alles vereinigt wurde, ich betone das Wörtchen wur-de. Bis 1991 war ich noch als Trainer tätig, dann häuften sich die auch heute noch gängigen Vorwürfe. Also nahm ich meinen Abschied, zumal eben die Schweizer schon auf der Matte standen.
FRAGE: Und waren die mit Ihnen zufrieden?
GÜNTER DEBERT: Ich glaube schon. Vor Weihnachten haben Sie mir einen herzlichen Gruß mit Kalender für 2006 geschickt...
FRAGE: Wenn Sie den heutigen Boxsport bewerten sollten, würden Sie was sagen?
GÜNTER DEBERT: Da fällt eine Antwort schwer, denn faktisch gibt es keinen Spitzen-Boxsport mehr. Der Amateursport ist schwach und der Profisport lebt fast nur von ausländischen Boxern.
FRAGE: Und Ihr Urteil über den Profisport?
GÜNTER DEBERT: Den will ich nicht schlechtreden, zumal ich – wie schon erwähnt – selbst mal Profi war. Ich wiederhole mich: Einen deut-schen Spitzen-Boxsport gibt es faktisch nicht mehr, weil die Basis des Amateursports am Boden liegt, obwohl – auch das will ich nicht ignorieren – die Amateure ja hin und wieder auch noch internationale Erfolge errin-gen. Andererseits muss man natürlich den Unterschied zwischen Ama-teur- und Profiboxen sehen. Es beginnt bei den Nummerngirls, die die Runden anzeigen und endet rundum bei der Show. Das schließt nicht aus, dass im Profiring harte und sportlich respektable Kämpfe ausgetra-gen werden, also eben nicht nur Show, sondern auch Kampf. Profiboxen ist ein hartes Brot. Andererseits muss man auch feststellen, dass Profibo-xen leichter als Amateurboxen ist. Als Profiboxer kann man sich die Geg-ner aussuchen und wenn jemand aufgebaut werden soll, werden die
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Gegner dementsprechend gewählt. Beim Amateurboxen musst Du – so-bald Du eine bestimmte Klasse erreicht hast – Turniere bestreiten. Und die werden ausgelost. Es kann Dir passieren, dass Du im ersten Kampf gleich auf einen Weltmeister triffst. Das kann Dir bei den Profis kaum pas-sieren. Und dann sind da natürlich auch Profis, die man nicht zufällig als „Fallobst“ bezeichnet, Boxer, die geopfert werden, um die Erfolgslaufbahn anderer zu sichern.
FRAGE: Ein Unterschied zwischen Profis und Amateuren, die vor allem dem Laien imponiert, ist die Zahl der Runden, die Amateure in der Regel drei, die Profis auch mal zwölf...
GÜNTER DEBERT: Jeder Amateur könnte genau so gut, zwölf Runden absolvieren, wenn er entsprechend vorbereitet wird. Das ist nur eine Fra-ge des Trainings, was allein dadurch bewiesen ist, dass alle unsere guten Amateure, die ins Profilager wechselten, dort jede geforderte Distanz ab-solvierten. Mit Henry Maske wurde das Profiboxen erst wieder salonfähig gemacht! Und die Trainer, die das zustandebrachten, sind fast ausnahms-los Trainer, die in der DDR ihr Handwerk gelernt haben. Die beiden domi-nierenden Profiställe in Deutschland beschäftigen faktisch nur ehemalige DDR-Trainer.
FRAGE: Zurück zum derzeitigen deutschen Amateurboxsport...
GÜNTER DEBERT: Ich kann mich nur wiederholen: Jede Voraussetzung und vor allem jegliche Unterstützung fehlt. Die noch tätigen Trainer müs-sen sich um Geld von mehreren Sponsoren bemühen. Längst vergessen sind die Stützpunkte, die es einst in der DDR gab, Berlin, Schwerin, Halle, alles geschlossen worden. Man wird vom deutschen Boxsport nicht mehr viel erwarten können. Bei den Profis gibt es mit Markus Beyer noch einen Weltmeister, der auch in Kürze aufhören wird. Den habe ich als 16-jährigen mitgenommen ins Höhentrainingslager und dort hat er nicht etwa Kämpfe bestritten, sondern mit den Besten trainiert und von denen natür-lich viel gelernt.
FRAGE: Das ist alles zu den Akten gelegt worden...
GÜNTER DEBERT: Diese Gesellschaft betont doch ständig, dass sie kein Geld hat, kein Geld für die Kultur und eben auch kein Geld für den Sport. Dabei sollte man den Sport nicht nur in Sonntagsreden feiern, son-dern seine Funktion wahrnehmen. Es gilt nicht nur, dass, wer Sport treibt, etwas für seine Gesundheit tut, sondern auch für sein Leben. Junge Men-schen, die ohne Ausbildungsplätze geblieben sind und ohne Arbeit, sind natürlich anfälliger für Drogen, Alkoholismus und Kriminalität als jemand, der sich an einer Aufgabe messen kann. Die Situation wird geprägt durch extreme Aussichtslosigkeit. Wo wäre ein Ausweg? Klubhäuser? Sind ge-schlossen! Boxvereine? Haben kein Geld und an Einrichtungen wie Stützpunkte ist nirgends zu denken, sie wurden ja geschlossen.
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FRAGE: Zum Thema Stützpunkte gehört auch die Qualifikation der Trai-ner...
GÜNTER DEBERT: Und ob. Unsere Trainer waren ausnahmslos ausge-bildete Sportlehrer, ja meist sogar Diplomsportlehrer, also wissenschaft-lich ausgebildet. Lässt sich alles nicht miteinander vergleichen. Heute wird das meiste nach Schnauze gemacht, bei uns war es geplant. Der Aufbau hatte System: Trainingszentren, Kinder- und Jugendsportschule. Das al-les macht Kuba übrigens heute noch und ist Weltspitze im Amateur-Boxsport. Ganz am Rande: Ich habe Anfang der sechziger Jahre die ers-ten Kubaner bei uns trainiert. Die waren gleich nach der Revolution in die DDR gekommen. Keine Schuhe, nichts. Wir haben ihnen geholfen, wo wir konnten. Ich bin dann später als Trainer nach Ägypten gegangen.
FRAGE: Und waren die mit Ihnen zufrieden?
GÜNTER DEBERT: Glaub schon. Wenn man so etwas richtig anpackt, kommt meist etwas dabei heraus. Einer der Boxer, die ich trainierte, wur-de Afrikameister im Leichtgewicht und machte auch sonst Karriere. Er wurde General und ist Präsident des ägyptischen Boxverbandes. Auch die Staffel wurde Afrikameister und ich wurde von Abdel Nasser mit einem hohen Orden ausgezeichnet.
FRAGE: Gibt es heute noch Situationen, in denen Sie Sehnsucht nach dem Ring empfinden?
GÜNTER DEBERT: Nein, so gut wie nie. Ich sehe gern einen guten Box-kampf und meine ehemaligen Kollegen, die heute bei den Profis tätig sind, schicken mir aus alter Freundschaft immer Karten, also sitze ich schon noch am Ring, aber darin erschöpft sich die Sehnsucht.
FRAGE: Hin und wieder treffen sich die Alten ja noch...
GÜNTER DEBERT: Ja, da wird dann geplaudert und manche Erinnerung wachgerufen. Viele sind noch da, manche sind nicht mehr da. Das ist die Biologie und die einzige Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft – ich betone in dieser Gesellschaft -: Alle müssen einmal gehen!
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DOKUMENTATION/DISKUSSION
Wieder einmal: Aufarbeitung
Von KLAUS EICHLER
Früher traf man sich und redete miteinander. Ich meine die Zeit, in der ich Präsident des DTSB der DDR war und wir wohl keine euphorischen, aber durchaus sachliche Kontakte zum DSB der BRD pflegten. Wir erledigten bei solchen Zusammenkünften unsere Anliegen, unsere Termine, unsere künftigen Vorschläge. Dann kam der „Anschluss“, der – wie man sich viel-leicht noch erinnert – nicht selten aufwändig gefeiert wurde und danach kamen die Realitäten. Zum Beispiel die „Vereinigung“ der beiden deut-schen Verbände der Sportwissenschaftler. Die erste gemeinsame Tagung der Historiker verlief turbulent, die nächsten bemühten sich zuweilen um Sachlichkeit, aber von Mal zu Mal nahm die Zahl der Historiker aus dem Osten ab. Das Motiv der „Absager“: Es kommt nichts dabei heraus.
Es blieben einige Unentwegte, zu denen man zum Beispiel Klaus Huhn zählte, der sich durch persönliche Attacken nicht beeindrucken ließ und unverdrossen seinen Standpunkt vertrat oder – was noch öfter vorkam – Behauptungen von Kollegen aus den westlichen Gefilden im Plenum kor-rigierte. Ich will nur ein Beispiel von vielen erwähnen: Als Prof. Teichler in Potsdam Gastgeber der Jahreskonferenz der Sporthistoriker war, referier-te Herr Spitzer über den DDR-Fußball und wiederholte, was schon tau-sendmal behauptet worden war: Die erste DDR-Meisterschaft war durch Weisungen der SED an den Schiedsrichter entschieden worden. Die Gegner dieses Finales waren bekanntlich Dresden-Friedrichstadt und die ZSG Horch Zwickau. Spitzer aber ließ als Gegner der Dresdner Freiimfel-de Halle auflaufen. Recht peinlich für einen Historiker, da es sich nur um zwei Mannschaften handelt. Klaus Huhn korrigierte Spitzer und Teichler riet ihm, das Podium zu verlassen. Derlei Episoden sind Dutzendware.
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Nun hat auch Klaus Huhn seinen Austritt erklärt. Auch weil inzwischen Michael Krüger die Historiker-Geschäfte führt, der schnell dafür sorgte, dass auch Klaus Huhn nicht mehr auf der Rednerliste erschien.
In der Zeitschrift „SportZeit“ las ich im Bericht Krügers von der Jahresta-gung der Sektion Sportgeschichte am 3./4. Juni 2005 in Frankfurt/Main: „Die Frage der deutschen Sporteinheit wurde auf der Tagung im Rahmen eines Forschungsprojekts des Instituts für Zeitgeschichte des Sports unter Leitung von Hans Joachim TEICHLER (Potsdam) von `Zeitzeugen´ disku-tiert, die vor 15 Jahren an verantwortlicher Stelle diesen Prozess begleite-ten, der im Prinzip bis heute nicht ganz abgeschlossen ist.“ Gespannt war ich auf die Namen der Zeitzeugen, die den „Prozess begleitet“ haben soll-ten. Doch Krüger steigerte meine Spannung: „Tatsache ist, dass die Strukturen des ehemaligen `Sportwunders DDR´ aufgelöst wurden und im westdeutschen Sport auf- bzw. untergingen. Im Vertrag zur deutschen Einheit, der damals auf westdeutscher Seite von Bundesinnenminister (und zugleich dem für Sport zuständigen Minister) Wolfgang SCHÄUBLE ausgehandelt wurde, blieben im § 39 vom DDR-Sport nur `Bestands-garantien´ für einige wenige Einrichtungen übrig, die von bundesstaatli-cher Bedeutung schienen, wie das FKS, das Dopingkontrolllabor in Kreischa sowie die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte (FES) in Berlin. Alles andere stand zur Disposition. Heute ist so gut wie nichts mehr davon übrig geblieben, stellten die geladenen Zeitzeugen Steffen HAFFNER, damals Redaktionschef Sport bei der FAZ, Dietrich FISCHER-SOLMS von der dpa sowie Martin-Peter BÜCH, damals Direk-tor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, Heinz MECHLING, heute Professor für Sportwissenschaft und damals verantwortlicher Referent im BISp, und - last, not least - Walfried KÖNIG, zu jener Zeit einer der ver-antwortlichen Referenten und Abteilungsleiter bei der Deutschen Sportmi-nisterkonferenz und im Sportministerium von Nordrhein-Westfalen.“
Ich leugne nicht: Ich war überrascht. Haffner zählte zwar zu den seriösen Sportjournalisten und berief sich auch gern darauf, in seiner Jugend mal Anhänger von Chemie Halle gewesen zu sein, aber „Zeitzeuge“. (Weil von Klaus Huhn schon die Rede war, sei daran erinnert, dass Haffner sich in aller Öffentlichkeit dafür entschuldigen musste, Huhn als „Stasi-Auge“ bei den Olympischen Winterspielen abgelichtet zu haben und sich in einem noch vorliegenden Brief bereit erklärte den durch diese Behauptung ent-standenen Schaden auch finanziell wettzumachen, wovon Huhn meines Wissens keinen Gebrauch machte.) Die Definition eines „Zeitzeugen“ nach Krüger-Version wäre aufschlussreich. Das gilt auch für Fischer-Solms, der oft mit von der Partie war, wenn es gegen den DDR-Sport ging, aber ein „Zeitzeugen“-Zeugnis wohl von niemandem erwarten kann.
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Prof. Krüger erläuterte dann „Das Potsdamer Projekt“ und klärte auf, es sei „darauf angelegt, in einer Reihe von Tagungen und mit Zeitzeugen Licht ins Dunkel dieses spezifischen Vereinigungsprozesses zu bringen. Von dem in Frankfurt versammelten Kreis konnten TEICHLER und seine leitende Projektmitarbeiterin Jutta BRAUN drei wesentliche Aspekte notie-ren: Erstens wurde übereinstimmend betont, dass im westdeutschen Sport große Erwartungen bzw. Hoffnungen vorhanden waren, den inter-national erfolgreichen DDR-Sport in den freien Westen hinüber zu retten. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Aber - zweitens - führte diese Er-wartungshaltung auch dazu, die Augen vor der Dopingpraxis in der DDR lange Zeit zu verschließen. Außerdem ging es im Grunde - drittens - im-mer nur um den Spitzensport. Über Breitensport in der DDR wollte man im Westen gar nichts wissen.“
Prof. Teichler hatte im Deutschland-Archiv 3/2004 bereits einen gewagten Versuch unternommen, das Thema „Breitensport“ aus bundesdeutscher Sicht in Angriff zu nehmen. Das tat er so: „Mehr als 13 Jahre nach der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 ist die deutsche Sportland-schaft trotz aller Sonntagsreden, die das Gegenteil behaupten und den Sport als gelungenes Beispiel der Vereinigung hervorheben, noch immer zweigespalten: Während in den Flächenländern des Westens der Organi-sationsgrad in Sportvereinen zwischen 32 Prozent und 40 Prozent schwankt, verharren die vergleichbaren Werte der östlichen Bundesländer auf einem wesentlich niedrigeren Niveau zwischen 10,5 Prozent (Bran-denburg) und 14,5 Prozent (Thüringen). Im Mai 2002 feierte der Deutsche Turnerbund zum ersten Mal ein Turnfest im Osten, zudem in der traditio-nellen Turn- und Sportfeststadt Leipzig. ... Das signifikante Missverhältnis von 94,5 Prozent West- und nur 5,5 Prozent Ostbeteiligung in Leipzig wurde bislang weder im organisierten Sport noch von Seiten der Sportpo-litik ausreichend thematisiert. Mit dem folgenden Beitrag soll auf die histo-rischen Wurzeln dieser Ost-West-Diskrepanz und auf daraus resultieren-de offene Forschungsfragen eingegangen werden.
Nach außen hin kommunizierte die DDR das Bild eines hocheffizienten und erfolgreichen Leistungssportlandes, in dem für die Bürger auch im Breitensport optimale Zustände herrschten: niedrige Mitgliedsbeiträge (auch für aufwändige Sportarten), kostenlose Nutzung von Sportstätten, kostenlose Fahrten zu Wettkämpfen und gesetzlich geregelte großzügige Förderung des Breitensports durch Betriebe, Gewerkschaften und Ge-bietskörperschaften. Auch nach der friedlichen Revolution von 1989 wur-de von offiziellen Stellen undifferenziert das Bild eines einstmals hoch-subventionierten, funktionierenden Breitensports verbreitet, dem erst durch den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und den Wegfall der ge-werkschaftlichen Unterstützung die Basis entzogen wurde. Gestützt wird
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dieses Bild durch einen starken Rückgang der gemeldeten organisierten Mitgliedschaft von zuletzt 3,7 Millionen im DTSB auf 1,1 Millionen in den neuen Bundesländern im Jahr 1991 bzw. 1,7 Millionen im Jahr 1999. Das entspräche einem Einbruch im Organisationsgrad von durchschnittlich 21,7 Prozent in der DDR im Jahr 1989 auf 10 - 15 Prozent im Jahr 1999 in den neuen Bundesländern. Ohne die teilweise dramatischen Schwierig-keiten des Systemwechsels für die Menschen und des gleichzeitigen Insti-tutionentransfers im Sport auszublenden, muss das offizielle Bild des gut funktionierenden Breitensports in der DDR einer Überprüfung und wie zu zeigen sein wird einer nicht unerheblichen Korrektur unterzogen werden.“ Danach widmete sich Teichler den angeblich gefälschten DTSB-Statistiken und schenkte diesem Thema enorme Aufmerksamkeit. Neh-men wir an, es gab tatsächlich Fehler in DTSB-Statistiken – bislang hat noch kaum jemand absolut fehlerfreie Statistiken vorweisen können – würde das nicht das Geringste an den Werten des DDR-Breitensports verändern. Weder die kostenlose Nutzung von Sportanlagen noch die kostengünstigen Reisemöglichkeiten der Sportler würden durch eine ver-änderte Statistik beeinträchtigt. Rund 1200 Worte häufte Teichler an, um „nachzuweisen“, dass der Breitensport in der DDR faktisch gar nicht exis-tierte, sondern ein Potemkinsches Dorf an. Hier einige seiner gravieren-den Entdeckungen:
„Mit dem Mitgliedsbeitrag von zwei Erwachsenen konnte man 13 Kinder-beiträge finanzieren, das heißt, man konnte elf Mitglieder mehr melden und machte sogar Gewinn, da von den Kinderbeiträgen prozentual mehr Geld in der Kasse der Sportgemeinschaft blieb.“
„Im Prozess der friedlichen Revolution bezifferten Insider den vorge-täuschten Mitgliederbestand auf 20 - 25 Prozent; eine Marge, die durch sporadische DTSB-Revisionen und durch Zeitzeugenbefragungen im Potsdamer Umland erhärtet wird.“
Noch ein Wort zu den auch beklagten Sportanlagen. Zugegeben: Unsere Wünsche und Erwartungen waren größer als unsere Möglichkeiten. Der forcierte Wohnungsbau entsprach aber durchaus dem Interesse der Sporttreibenden - wir kannten keine Obdachlosen!
Die „Zeitzeugen“ bemängelten die geringe Zahl der Schwimmhallen. In den vorhandenen lernten 98,6 Prozent aller DDR-Schulkinder im Sportun-terricht das Schwimmen - nirgendwo in der Welt wurde das erreicht.
Der so vollmundig angekündigte „Goldene Plan Ost des Sportstättenbaus verhieß Besserung. Das Resultat: In den letzten 15 Jahren wurden in Ber-lin nahezu die Hälfte der Schwimmhallen geschlossen - aus Geldmangel. Vergeblich hatten die früheren Akteure des Schulschwimmsports dagegen protestiert. Ich habe auch weder ein Veto des DSB noch den Protest der
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„Zeitzeugen“ vernommen. (Das ist wohl der Unterschied zwischen er-nannten „Zeitzeugen“ und tatsächlichen.)
Es ist überflüssig, diesen „Forschungsresultaten“ noch einen Kommentar zu widmen. Der DTSB wusste um die Mängel des Breitensports und tat viel, um sie Schritt für Schritt abzubauen aber niemand wird erwarten, dass sich der ehemalige DTSB-Präsident zu den Statistikvariationen ei-nes Professors äußert, der zwar in engem Kreis gesteht, in seiner Jugend weite Strecken – freiwillig!!! – zurückgelegt zu haben, um die Friedens-fahrt aus der Nähe erleben zu können, und nun seinen Ruf als Akademi-ker bei der „Aufarbeitung“ des DDR-Sports aufs Spiel setzt. Nur, weil das höheren Orts von ihm erwartet wird.
War das nicht just das, was er pausenlos dem DDR-Sport vorwarf?
Vier Konferenzen zur Zeitgeschichte
Von JOACHIM FIEBELKORN
Der Herbst vergangenen Jahres brachte manches Gespräch über den deutschen Sport. Ausnahmsweise nicht über „Klinsi“ und seine Zöglinge und auch nicht über die bevorstehenden Winterspiele in Turin, sondern über deutsche Sportvergangenheiten.
In München-Oberhaching diskutierten anlässlich des 100. Geburtstages des Deutschen Skiverbandes 60 Skihistoriker aus 12 Ländern, um sich in Gemeinschaft mit zahlreichen deutschen Hobbyhistorikern über die aus hundert Jahren ebenso ereignisreicher wie wechselvoller Geschichte ge-wonnenen Kenntnisse und Erfahrungen auszutauschen. Dr. Gerd Falkner, dessen Initiative die Konferenz zu verdanken war, hatte dem Treffen gute Voraussetzungen geschaffen. Die so gerne herbei geredeten und dadurch immer wieder für Diskussionsstoff sorgenden Konflikte zwischen Vertre-tern des Sports aus den alten und den inzwischen nicht mehr ganz so neuen Bundesländern spielten keine Rolle. Funktionäre, Trainer und Sportler dieses Verbandes wissen, dass nur vertrauensvolle Zusammen-arbeit und das Nutzen der Kenntnisse und Erfahrungen beider Seiten Er-folge ermöglichten. Die Spiele in Turin wiesen, wie auch die vorhergehen-den Olympischen Spiele und Weltmeisterschaften, den Nutzen solcher Erkenntnisse eindrucksvoll nach.
Die anderen vier Konferenzen und Foren waren dem Thema 15 Jahre deutsche Sporteinheit gewidmet, wobei sich in der letzten wieder einmal zeigte, dass der Begriff Einheit mir einer gewissen Vorsicht zu betrachten ist.
Die Serie begann mit einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Ar-beitsbereich Zeitgeschichte des Sports der Universität Potsdam durchge-führten Veranstaltung. Eine wohltuend abgewogene Rede des Ministers für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Holger Rupp-
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recht, öffnete den Weg zum Thema, Prof. Hans Joachim Teichler und Dr. Jutta Braun von der Universität Potsdam waren bemüht, den dann folgen-den Gesprächsrunden eine Basis zu geben. Dann saßen, nach Sportarten sortiert, Funktionäre, Trainer und Sportler zusammen, um sachlich über jene ereignisreiche Zeit des Beitritts der DDR-Verbände in die Organisati-onen des BRD-Sports zu sprechen. Da sprachen wichtige Zeitzeugen, auf deren Wissen, auf deren Erfahrungen die Sporthistoriker oft gern zurück-greifen, diese aber auch nur zu oft und unter Verzicht auf Erkenntnisge-winn vernachlässigen.
Ähnliches lässt sich von der Veranstaltung berichten, die der Verein Helle Panke wenig später zum gleichen Thema durchführte. Der Versuch (und mehr als ein Versuch kann es unter den um 1990 herrschenden Bedin-gungen nicht sein), den damaligen Ereignissen nachzuspüren, muss als geglückt bezeichnet werden, auch wenn ein für den vorgesehenen Refe-renten kurzfristig eingesprungener Redner den folgenden Gesprächen ei-ne nur unvollkommene Grundlage gab. Für Qualität und Aussagekraft ga-rantierte dann aber der Olympiasieger von 1976 und mehrfache Weltre-kordler im Kugelstoßen, Udo Beyer. Da sprach ein Kenner des DDR- und des Weltsports. Er vor allem sorgte dafür, dass die zahlreichen Gäste mit erheblichem Zugewinn an Wissen den Heimweg antreten konnten.
Die vierte der Tagungen mit dem verheißungsvollen wenn auch recht lan-gem Titel Große Hoffnungen, verspielte Chancen – der lange Weg in die Sporteinheit - Erinnerungskonferenz: 15 Jahre deutsche Sporteinheit, veranstaltet von der Bundeszentrale für politische Bildung, von der Uni-versität Potsdam, vom Deutschen Sportbund, vom NOK für Deutschland, unterstützt durch Stiftung Aufarbeitung und die brandenburgische Lan-desanstalt für politische Bildung, hatte für den Autor ein Vorspiel, das ihn sehr nachdenklich machte. Wenige Tage vor Beginn der zwei Tage dau-ernden Konferenz saß er mit Gustav-Adolf Schur beim Plausch zusam-men und legte dabei die Einladung zu jenem Forum auf den Tisch. Die darauf gedruckten Namen hatten ihn stutzig gemacht. Da war viel heutige und ehemalige Prominenz vertreten wie Manfred von Richthofen, Präsi-dent des DSB, Prof. Walther Tröger, Ehrenpräsident des NOK, oder Dr. Martin Peter Büch, damals noch Direktor des Bundesinstituts für Sport-wissenschaft. Aber auch Leute, die vom Sport wenig wissen oder mit ihm lediglich durch das Studium von Akten zu tun haben. Cordula Schubert zum Beispiel, im Kurzzeitkabinett de Maizière als Sportministerin ausge-wiesen, oder Herbert Ziehm, der sich mit Unterlagen der Birthler-Behörde beschäftigt. Und so ist es wohl verständlich, dass der Autor seinen Ge-sprächspartner nach dessen Meinung befragte, was er, ebenfalls auf der Einladung genannter Teilnehmer der Veranstaltung, von dieser wohl er-warte. Schur war, so kann man es wohl beschreiben, fassungslos. Er
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wusste nicht, wie sein Name auf die Einladung gelangte. Niemand hatte ihn um sein Einverständnis gebeten, niemand hatte ihn eingeladen. Der Autor dieser Zeilen teilte Schurs Fassungslosigkeit. Er hatte in einem recht langen Leben manch üble Tricks erlebt, dieser hier war eine Spit-zenleistung.
Die Konsequenz war: fern bleiben. Warum Zeit opfern, um einmal mehr zu hören, was im Laufe der Jahre in ständiger Wiederkehr zu lesen und zu vernehmen war.
Verlautbarungen und Presseberichte bestätigten alle Befürchtungen. Der Deutsche Sportbund veröffentlichte im Internet seine drei Punkte enthal-tene Zusammenfassung der Tagungsergebnisse. Punkt 1: „Entschädi-gung der Dopingopfer“. Punkt 2: „Erkenntnisse zu Stasi-Verstrickungen und Dopingbelastungen.“ Punkt 3: „Diskussion über nicht erfolgte Aufklä-rung und Vergangenheitsbewältigung“. Das also war für den DSB das Wesentliche an jenen 15 Jahren. Keine Bestandsaufnahme, keine Frage nach den nicht zählbaren Versäumnissen beim Umgang mit dem DDR-Sporterbe und dem Niedergang des internationalen Ansehens des deut-schen Sports entsprechend seiner Ergebnisse bei den Olympischen Sommerspielen.
Noch besser kann es eine Dame namens Grit Hartmann. Die Leser dieser Zeitschrift wissen spätestens seit der Ausgabe 21 (S. 20–26), dass diese entweder schludrig recherchiert oder fahrlässig mit der Wahrheit umgeht. Und Unsinn schreibt. Wie in ihrem Bericht über jene Tagung in der Berli-ner Zeitung 14.11.2005: „Teichler ist mit dem Versuch gescheitert, aus der Erinnerung auszuklammern, was das ostdeutsche Sportwunder erst ermöglichte: Doping und seine Überwachung durch die Staatssicherheit.“
Frau Hartmann zieht die Bilanz der Tagung auf ihre Weise. Sie deckt auf, warum bei den Olympischen Spielen 1992 – 2002 vor allem solche Sport-ler Medaillen für Deutschland holten, die ihr sportliches Handwerk in der DDR gelernt hatten. Am Hauptcomputer des Instituts für Forschung und Entwicklung sitzt, so könnte man sich nun vorstellen, ein OiBE des MfS, ein IM drückt heimlich beim Gewichtheben mit an der Hantel und Birgit Fi-schers Boot wurde von einem Kampftaucher des MfS ins Ziel geschoben. Und ganz nebenbei werfen diese Männer den Sportlern heimlich kleine blaue (oder sind es rote?) Pillen in den Morgenkaffee der Athleten.
Frau Hartmann stellt nunmehr alle erfolgreichen DDR-Sportler, die für den Leistungssport tätigen Wissenschaftler, Trainer, Ärzte und Funktionäre unter Generalverdacht. Sie müsste es eigentlich besser wissen. Ihr Vater, der 1994 früh verstorbene Dr. Jürgen Hartmann, promovierte an der DHfK und arbeitete dann im Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) und in der Leitung des Ringerverbandes der DDR, wo er sich vor allem mit Trainingsmethodik und Wettkampfvorbereitung befasste. Hat er ihr nie
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erzählt, wie hart Wissenschaftler, Trainer und Sportler arbeiten müssen, bevor sich der Erfolg einstellt? Bezieht sie ihren Vater und auch ihre Mut-ter, die unter ihrem Mädchennamen Eva-Maria ten Elsen 1956 in Mel-bourne Bronze gewann, in diesen Verdacht mit ein?
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zu dem so gern genannten und nie zitierten Staatsplan 14.25. Der entsprechende Teil des Planes, der auch andere Forschungsaufträge beinhaltet, enthält keine Festlegungen für die spätere Nutzung von Dopingpräparaten oder „Unterstützenden Mit-teln“ (UM). Die darin vorgegebenen Ziele entsprechen in etwa den For-schungszielen, die sich der westdeutsche Wissenschaftler Prof. Dr. Man-fred Donicke stellte (R. Häcker/H. de Marées: „Hormonelle Regulation und Psychophysische Belastung im Leistungssport“, Deutscher Ärzteverlag GmbH, Köln 1991). Prof. Keul und Prof. Steinbach betrieben praktische Forschungen zum Thema unter Einbeziehung zahlreicher Probanden, da-runter auch Leistungssportler (nach Singler/Treutlein: „Doping im Leis-tungssport“, Meyer & Meyer, Aachen, 2000).
So bleibt noch etwas zur Staatssicherheit und ihren Informellen Mitarbei-tern zu sagen. Und zu den Herren von Richthofen, Bach, Steinbach und anderen. Sie schreien mit Frau Hartmann im Chor nach „Aufarbeitung“ und nach Ermittlung auch des letzten IM. Schwerverbrechen wie Raub oder Totschlag gelten in der BRD nach 15 Jahren als verjährt. Im 16. Jahr nach dem Anschluss der DDR an die BRD aber wird von den Damen Birthler und Hartmann, den Herren Steinbach (dem NOK-Präsidenten, nicht dem Wissenschaftler), Bach und von Richthofen die Jagd nach den IM fleißig fortgesetzt. Für Frau Birthler und ihre hauptamtlichen Mitstreiter sollte man Verständnis haben. Sie streiten schließlich auch für ihre gewiss ansehnlichen Apanagen. Warum aber legen sich die anderen so ins Zeug? Sucht nach Gerechtigkeit? Hat Richthofen seine Stimme erhoben, als der Staatsanwalt, der Seelenbinders Kopf forderte, nach dem Krieg im Oberlandesgericht Saarbrücken amtierte? Hat er protestiert, als der Fuß-ball-Nationalspieler Rudolf Gramlich, von dem ein Bild existiert, auf dem er, als SS-Offizier, die Pistole in der Hand, tschechische Bürger vor sich her treibt, in den fünfziger Jahren Präsident der Eintracht Frankfurt wurde und schließlich das Bundesverdienstkreuz angehängt bekam?
Ließ es ihn gleichgültig, als das oberste Gericht der BRD, der Bundesge-richtshof, eingestehen musste: „…keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte ebenso Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte …sind wegen Rechtsbeugung verurteilt worden… Ei-nen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die Rechtsprechung des BGH.“ (Neue Justiz 3/1996 und 4/1998). Der BGH beging demnach Straftaten, die im Gesetz Strafvereitlung genannt wer-den. Für die Genannten Bagatellen?
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Woher also der inquisitorische Eifer, auch den letzten der IM an das letzte der heute noch anwendbaren Instrumente eben der Inquisition zu bringen, an den Pranger? Der Autor sucht nach den Gründen solcher Haltung und findet nur einen: Hass. Sie können es als Politiker nicht verzeihen, dass in der DDR der Versuch unternommen wurde, eine neue Gesellschaft zu er-richten. Sie können es als Sportfunktionäre nicht verwinden, dass der DDR-Sport in der Welt eine Achtung genoss, die der BRD-Sport so nicht erlangen konnte. Die Erfüllung des Hasses aber ist die Rache. Und wenn der Hass zu feige ist, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen, verbirgt er sich hinter der Maske der Gerechtigkeit. Beispiele dafür bietet die Weltgeschichte genug. Jene Tagung und die misslichen Vorgänge um den Eiskunstlauftrainer Ingo Steuer vermehrten ihre Zahl.
100 Jahre Deutscher Skiverband (DSV)
Von JAN KNAPP
Am 4. November 2005 beging der Deutsche Skiverband (DSV) sein 100-jähriges Jubiläum und führte zum Auftakt – was keinesfalls allgemein üb-lich ist – vom 11.-15.Oktober 2005 in Oberhaching eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema „Internationale Skihistoriographie und deutscher Skilauf von den Anfängen bis zur Gegenwart“ durch. Sowohl das Thema der Konferenz als auch die breit gefächerten Konferenzschwerpunkte, die von der engen Verknüpfung der Anfänge des deutschen Skisports mit den Entwicklungen in Skandinavien über die Geschichte des Frauenskisports bis zur kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle des DSV und seiner Vereine im faschistischen Deutschland und zur Zeitgeschichte des Ski-laufs reichten, waren schon konzeptionell darauf gerichtet – und auch das ist bemerkenswert –, Zusammenhangerkenntnisse zu gewinnen, zum Beispiel zu den Zusammenhängen von internationalen, nationalen und regionalen Entwicklungen. Für mich als Leiter der Thüringer Wintersport-ausstellung Oberhof war deshalb auch besonders wichtig, welchen Platz die ostdeutsche und die DDR-Skigeschichte einnahmen.
Die mit insgesamt 60 Teilnehmern aus 12 Ländern, darunter auch aus Japan und den USA, gut besuchte Konferenz, in der von der geographi-schen Herkunft her natürlich die Vertreter Bayerns, Österreichs und der Schweiz dominierten, vereinte ganz unterschiedliche Historiker miteinan-der, den Universitätsprofessor und die Studentin, den Leiter und Gründer eines kleinen Ski- und Heimatmuseums und den Hobbyforscher im Senio-renalter. Das wissenschaftliche Niveau der Konferenz wurde dadurch aber keineswegs beeinträchtigt, sondern eher befördert.
Zahlenmäßig spielten die fünf aus dem Osten Deutschlands stammenden Konferenzteilnehmer eigentlich keine Rolle. Aber schon die exzellente
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Vorbereitung und Führung der Konferenz von Seiten des DSV durch den einstigen Skisportler des SC Harz Hasselfelde, des Sportwissenschaftlers und Sporthistorikers, Dr. Gerd Falkner, der in der DDR studiert und pro-moviert hat, überzeugte alle Anwesenden ebenso wie unser Vortrag zur Thüringer Skigeschichte oder der zur Ausbildung von Diplomsportlehrern in einem Fernstudium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, womit auf eine entscheidende Systemkomponente der Entwicklung des Sports hingewiesen und eine Brücke von der längst ab-gewickelten Trainerausbildung an dieser Hochschule bis zu den jüngsten Erfolgen des deutschen Skisports geschlagen wurde. Das Konferenzma-terial liegt inzwischen, herausgegeben von Gerd Falkner, als Tagungsdo-kumentation (Planegg 2005, 192 S.) vor und kann über den DSV (Haus des Ski, Hubertusstr. 1, 82152 Planegg) bezogen werden.
Die Anerkennung der Leistungen des DDR-Skisports durch die Konfe-renzteilnehmer war auch beim gemeinsamen Besuch des Deutschen Skimuseums München Planegg spürbar. Dieses Museum ist ein von der Internationalen Skiföderation anerkanntes „FIS-Skimuseum“, das unter den deutschen Ski- und Wintersportmuseen unbedingt eine Leitfunktion erfüllt. Die gegenwärtige Exposition ist seit dem Sommer 2002 der Öffent-lichkeit zugänglich. Ihr Schöpfer ist ebenfalls Gerd Falkner, der in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Veröffentlichungen zur deutschen Skigeschichte vorlegte, erst unlängst und aus gegebenen Anlass „100 Jahre Deutscher Skiverband - Chronik des deutschen Skilaufs von den Anfängen bis zur Gegenwart“ in drei Bänden, die bisher nicht nur umfang-reichste, sondern auch tiefgründigste Schrift zu diesem Thema.
Trotzdem zählt für mich die Ausstellung im Deutschen Skimuseum Pla-negg, sowohl das Konzept wie auch die inhaltliche und künstlerische Ge-staltung, zu den alles überragenden Leistungen von Dr. Falkner. Seine Präsentation der Skisportgeschichte gibt sowohl dem Laien als auch dem vorgebildeten Besucher vielfältige Impulse. Überzeugend wirken die sorg-fältig ausgewählten Zeugen und Zeugnisse der Skigeschichte wie histori-sche Skier, Großfotos, schriftliche Dokumente, Plakate, Medaillen, Abzei-chen und figürliche Darstellungen in Originalbekleidungen. Durchgehend wird der jeweilige gesellschaftliche Hintergrund, die Einbettung der Skige-schichte in die Entwicklung der Gesellschaft verdeutlicht.
Die Ausstellung ist chronologisch gegliedert und angeordnet:
- Das Laufen auf Schneeschuhen als lebensnotwendige Fortbewegungs-art der Menschen
- Die Anfänge des Skisports in Deutschland vor 120 Jahren und die Ent-wicklung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
- Die Geschichte des Skisports in den beiden deutschen Staaten von 1945 bis 1990
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- Der deutsche Skisport seit 1991.
Als besonders gelungen erweist sich die Präsentation der Skigeschichte beider deutscher Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deut-schen Demokratischen Republik. Entlang eines breiten Ganges wird auf der einen Seite der DDR-Skisport und der DDR-Biathlonsport dargestellt und auf der anderen die Skigeschichte in der Bundesrepublik Deutschland bis 1990, und zwar gleichrangig und gleichberechtigt. Beide Ausstellun-gen zeigen die Entwicklungen und die vollbrachten Leistungen, gesell-schaftliche Bezüge, Persönlichkeiten und Zeugnisse der Skigeschichte bis zum Skimaterial und zur Skibekleidung ohne Abstriche. Die Sachlichkeit und Objektivität dieser beiden Expositionen – eingeordnet in die deutsche Skigeschichte – heben sich deutlich von den Gruselkabinetten ab, die an-dernorts zum Thema DDR eingerichtet wurden.
Nicht weniger beeindruckend sind auch die anlässlich des 100-jährigen Jubiläums vorgelegten Schriften, von denen ich schon die dreibändige „Chronik des deutschen Skilaufs“ erwähnte. Zu nennen sind aber auch und vor allem der repräsentative Bildband von Günter Witt „Skisport in der bildenden Kunst“ (Edition Leipzig 2005) oder die regional orientierten Festschriften, zum Beispiel „Ein Jahrhundert Thüringer Skispuren 1905 - 2005“. Ebenso wie die wissenschaftliche Konferenz des DSV oder die Ausstellung im deutschen Skimuseum machen diese und andere Schrif-ten deutlich, dass Erinnerungspolitik heute keineswegs gezwungen ist, zur „Vergottung der Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit“ (Giacché) beizutragen und dazu Tatsachen einerseits zu verhüllen, zu verstümmeln, zu negieren und andererseits zu schönen und zu diesem Zweck beson-ders zu inszenieren. Objektivität als unabdingbare Voraussetzung für kriti-schen Rückblick auf Gelungenes und weniger Gelungenes, für die Nut-zung der Vielfalt, Unterschiedlichkeit und auch Gegensätzlichkeit an ge-wonnenen Erfahrungen im Interesse der weiteren Entwicklung – das hat der DVS auf vorbildliche Weise demonstriert – wäre sonst nicht möglich. Ganz in diesem Sinne bezeichnet der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, Dieter Althaus, in seinem Glückwunsch „zum Jubiläum des Er-folgsverbandes“ Thüringen „als Hochburg des Wintersports, als ein Land mit großer Sporttradition“. Und der Präsident des Deutschen Skiverban-des, Fritz Wagnerberger, nennt Namen wie Helmut Recknagel, Kuno Werner, Werner Lesser, Gerhard Grimmer, würdigt das gestern und heute Geleistete ebenso wie die Investitionen in die Zukunft des Skisports, ins-besondere die Heranbildung von Nachwuchsathleten, indem er feststellt: „Es ist ... auch nach der Vereinigung Ost-West mit hohem Einsatz und großem ehrenamtlichen Engagement immer wieder gelungen, hoffnungs-volle Nachwuchsathleten aus allen Bereichen des Skisports zu fördern
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und auf ihrem langen Weg in den absoluten Spitzenbereich zu begleiten ... und damit eine so dauerhafte Erfolgsära (zu) ermöglichen.“
Allerdings ist solcherart Erinnerung und Erinnerungspolitik eher die Aus-nahme und noch keineswegs selbstverständliche Regel.
DYNAMO - und die Wahrheit
Von HERBERT GASCH
Mancher erinnert sich vielleicht: Vor langen Jahren war ich Stellvertreter des Leiters der Sportvereinigung Dynamo und ich mache auch noch heu-te keinen Hehl daraus. Unlängst entschloss ich mich sogar, auf der Neu-jahrswünsche publizierenden Seite des ND eine unüberlesbare Anzeige zu veröffentlichen und darin allen Gesundheit und Glück für 2006 zu wün-schen. Warum? Weil ich ständig erlebe, dass man sich hier und da und dort noch an Dynamo erinnert und die dafür gute Gründe haben, wollte ich auf diesem Wege herzlich grüßen.
In den Zeitungen, die heute die Meinungen machen oder in den alle paar Monate neu zusammengeschnipselten Fernseh“dokumentationen“, die den letzten Aufguss von Horror am Abend verbreiten sollen, ist mit Vorlie-be vom „Stasiklub“ die Rede, wenn Dynamo erwähnt wird. Als Jan Ullrich die Tour de France gewann, erwähnte natürlich niemand, was Ullrichs In-ternetseite heutzutage noch verrät: „Vereine: Bis 1987 SG Dynamo Rostock; 1987 - 1989 SC Dynamo Berlin; seit 1992 RG Hamburg“. Und die Liste seiner Trainer beginnt er korrekt mit: „Peter Sager (SG Dynamo Rostock)“. Ich freue mich für Jan Ullrich, dass man ihm, auch als er die Tour nicht gewann, nicht auch noch den „Stasi“-Klub vorwarf! Und ich kann mich guten Gewissens darauf berufen, dass ich seinen Namen hier nicht erwähnte, um nachträglich für Dynamo zu werben. Wenn ich darauf aus wäre, könnte ich immerhin 103 olympische Medaillen auflisten...
Ich mache mir keine Illusionen, dass man vielleicht eines Tages die tat-sächlichen Leistungen und Verdienste der Sportvereinigung Dynamo er-fassen wird, dass sich seriöse Historiker bei uns darum bemühen könn-ten, herauszufinden, wie sich Zehntausende Dynamofunktionäre um die Jugend gekümmert haben und die meisten von ihnen waren ehrenamtlich tätig! Ich entschloss mich zu dem Neujahrsgruß, weil ich vielen dieser Dy-namo-Übungsleiter und -Trainer und -Funktionäre nachfühlen kann, wie bitter es ist, sich ein Leben lang um den Sport bemüht zu haben, und dann mit politischen Schlagworten - treffender vielleicht noch: Schimpf-worten - „vom Platz gestellt“ zu werden!
Deshalb diese Zeilen!
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Beginnen möchte ich mit einem Dank an alle, die meinen Neujahrsgruß beantwortet und alle, die ihn gelesen oder von ihm erfahren haben.
Aus Gera schrieb mir ein ehemaliger Funktionär: „Wir haben in unserer heute noch dem Namen nach existierenden SG Dynamo eine Sektion Fußball mit einer starken Nachwuchsabteilung.“ Zuweilen treffe ich Freunde auf der Straße, die sich der Zeiten des BFC erinnern oder an Dresden. Bei den Berliner Eishockey-Eisbären hallen noch oft „Dynamo“-Rufe durch die Halle und sogar deren kanadischer Trainer kann gut damit leben.
Herbert Schoen, fast legendärer Mittelverteidiger, fragte mich unlängst: „Siehst Du eigentlich noch Fußball im Fernsehen und denkst an unsere Zeit?“ Warum sollte ich nicht? Wenn ich Thomas Doll auf der Bank des HSV sitzen sehe, habe ich schon meine Erinnerungen und ähnlich geht es mir, wenn Falko Götz bei Hertha agiert. Haben die und viele andere nicht früher beim angeblichen Schiebermeister BFC gespielt? Und des-halb so gut, weil sie Fußball oder weil sie „schieben“ konnten und weil ihnen die Schiedsrichter die Händchen reichten? Und wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich, wer hat die ahnungs- und talentlosen „Schie-berspieler“ denn nur in die Bundesliga geholt? Und wer hat ihnen dort die Schiedsrichter besorgt, die pfiffen, was sie hören wollten? Und hat bei al-lem noch eine Menge Geld damit verdient, denn keiner wechselte be-kanntlich ohne Manager? (Die - gebe ich zu - hatte Dynamo allerdings nicht...)
Fast hätte ich das Doping vergessen! Wie konnten die nach ihrer BFC- oder Dresden-Laufbahn denn ohne Doping in der Bundesliga überhaupt den Ball treffen?
Also Fragen über Fragen, an die Sänger des Uraltlieds vom „Stasi“-Club, Fragen, die gestellt werden müssen, weil sonst Montags schon niemand mehr weiß, was am Sonntag über Dynamo wieder mal verbreitet worden war!
Und damit mich niemand missversteht: Nichts von dem, was ich auf-schrieb, hat etwas mit Nostalgie zu tun. Aber mit den Realitäten der Ge-genwart. Es gibt im bundesdeutschen Sport von heute eine einzige Struk-tur, die an Dynamo oder ASK erinnert - das ist die Bundeswehr. Dort hat man Dynamo millimetergenau kopiert, wenn man vielleicht von den Ge-hältern absieht, die gezahlt werden. Ansonsten funktioniert die von jedem Bundesverteidigungsminister gerühmte „Medaillenschmiede“ - selbst die-ses Wort hat man sich bei uns ausgeliehen - so prächtig, dass man ein Loblied nach dem anderen anstimmt.
Der Unterschied: Man redet sich nicht mit „Genosse“ an, ereifert sich ge-bührend wenn der Name Mielke fällt und hält es für richtig, den Palast der
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Republik abreißen zu lassen. Die Dynamo-Hallen und -Stadien nicht. Die werden noch gebraucht für die Medaillen.
Es ist da allerdings noch ein anderer gravierender Unterschied zwischen der Bundeswehr und Dynamo: Würde man dort nach den Kinder- und Ju-gendmannschaften suchen, stieße man in ein Loch - derlei gibt es dort nämlich gar nicht.
Im Sommer 1952, damals war ich Leiter der Sportvereinigung der Deut-schen Volkspolizei, erhielt ich zusammen mit einigen Freunden den Auf-trag, die Gründung einer einheitlichen Sportvereinigung der Sicherheits-und Schutzorgane vorzubereiten. Im März 1953 wurde die Sportvereini-gung Dynamo gegründet, und wenn Historiker wie Teichler noch hun-dertmal schreiben sollten, dass jeder Volkspolizist zwangsläufig Dynamo-Mitglied war, wird es nicht die Wahrheit. Damals zählten wir rund 23.000 Mitglieder und ich kenne viele Länder der Welt, in denen es lange vor uns schon Polizeisportvereine gab. 1954 begannen wir mit der Clubbildung und organisierten den Hochleistungssport in Leistungszentren. (Wie ich schon für jüngere Leser ausführte: So wie heute die Bundeswehr ihre Sportkompanien). Es entstanden der Sportclub Dynamo Berlin und Klubs in Hoppegarten, Klingenthal, und Leistungsschwerpunkte in Dresden (Fußball), Luckenwalde (Ringen), Zinnwald (Biathlon, Bob, Rennschlitten), Weißwasser (Eishockey), Eisenach (Fechten), Magdeburg (Wasserball), Erfurt (Motorsport).
Und das kam im Laufe der Jahrzehnte dank des Eifers der Athleten, ihrer Trainer und der Betreuer dabei heraus: In 21 olympischen Sportarten, sowie im Motorsport und Fallschirmspringen erkämpften 508 Dynamoath-leten
103 olympische Medaillen
davon 44 in Gold.
Das sind ein paar mehr, als die USA 2004 in Athen errangen!
68 Frauen und Männer im Dynamodress wurden Weltmeister
und 47 Europameister
Ich müsste hier eine fast endlose Namensliste zu Papier bringen, wollte ich nur die berühmtesten Trainer nennen, die daran beteiligt waren, und begnüge mich mit Rolf Gläser (Schwimmen), Jürgen Heritz (Turnen), Wilfried Bock (Biathlon), Heinz Birkemeyer, Max Schommler, Günther Sauer (Leichtathletik), Charlie Lorenz, Roland Elste, Werner Otto (Rad-sport), Herbert Friedel, Erich Ast, Erich Kunz (Skisport). Dazu kämen zahllose Ärzte, Masseure - der Masseur der Telekom-Mannschaft, „Eule“ Ruthenberg, wird während der Tour de France heute noch zehnmal täg-lich im Fernsehen gezeigt und gerühmt - und Helfer. Das war schon eine „Mannschaft“, die sich sehen lassen konnte!
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Was aber vor allem gern übersehen wird, ist die schon erwähnte Nach-wuchsarbeit unserer Sportvereinigung. Von den 279.000 Mitgliedern wa-ren 1989 über 100.000 Kinder und Jugendliche. Wenn ich von rund drei-ßig Jahren Nachwuchsarbeit ausgehe, haben sicher rund drei Millionen Nachwuchsathletinnen und Athleten das weinrote Trikot getragen. Unzäh-lige Meister aller Altersklassen in allen Sportarten waren darunter. Nie hörte ich - und wir hatten „natürlich“ ein gutes Informationssystem - dass einer von denen in den Kreis von Kriminellen geraten wäre. Jeder Sozial-arbeiter, der sich mit den Problemen der Gegenwart plagt, könnte bezeu-gen, wie wichtig gerade in diesem Alter die sportliche Betätigung ist, und das galt auch für DDR-Zeiten. Schon der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei war interessiert daran, die Kinder „von der Straße zu holen“, und viele ABV’s redeten nicht nur darüber, sondern betätigten sich selbst als Übungsleiter in der SV Dynamo. Hier praktizierte die Polizei Präventi-on und Vorbeugung vorbildlich und sammelte dabei viele wichtige Erfah-rungen. Der Umstand, dass die Sportvereinigung irgendwann einige Häu-serblocks errichten ließ, um nach Berlin ziehende Trainer unterbringen zu können, hat dazu geführt, dass wir uns oft heute noch begegnen. Mein Nachbar ist der frühere Wasserballtrainer Werner Kniep, der auch nach der Rückwende seinem Beruf treu blieb und manchen Wasserballer aus-bildete, der heute beim Meister Spandau spielt. Ein paar Hauseingänge weiter wohnte Inge Wischnewski, die zu den erfolgreichsten Eiskunstlauf-trainerinnen gehörte. Christine Errath war eine ihrer Schützlinge. In mei-nem Aufgang wohnt auch Jürgen Heritz, der vielleicht die meisten Turn-medaillenschützlinge des Landes betreute.
Ich komme ins Schwärmen und wieder wird man mir Nostalgie vorwerfen und wieder werde ich nur darüber lächeln, weil es nämlich genügend Gründe dafür gibt, dass nicht nur wir von Dynamo - aber eben auch wir von Dynamo - noch immer stolz darauf sein können, wieviel junge Men-schen wir für den Sport geworben und gewonnen haben, mit wieviel Eifer Übungsleiter in Dörfern und Kleinstädten an Spartakiaden mitgewirkt ha-ben und in wieviel Klubs eine Arbeit geleistet wurde, die Respekt verdient! Deshalb - ergänze ich meine Neujahrsbotschaft - sollten wir uns durch die inzwischen abgetretenen Stasi-Klub-Sprüche nicht beeindrucken lassen! Ich schließe mit „Sport frei“!
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Auf Distanz zu Carl Diem!
Von HELMUTH WESTPHAL
Sofern ein öffentliches Objekt den Namen einer Persönlichkeit trägt, wird in der Regel solch eine Namensverleihung mit den gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Verdiensten eines Bürgers sowie des-sen Beziehungen zu dem jeweiligen Objekt begründet. Das betrifft vor al-lem Straßen, Plätze, Stadien oder Gebäude und Institutionen. Auf diese Weise kam auch in Köln eine Verkehrsverbindung zu dem Namen „Carl-Diem-Weg“. Andere Städte der Bundesrepublik bedienten sich dieses Namens für ähnliche Zwecke. Und es muss dahingestellt bleiben, ob bei der Wahl dieses Namens eine gründliche Analyse des Lebenswerkes von Carl Diem vorgenommen wurde. Leichtfertigkeit und Routine lassen sich nicht ausschließen, zumal Kenntnisse und Wertungen oft mühselig und kontrovers erarbeitet werden müssen und im Nachhinein Korrekturen un-vermeidlich sind. Auch das umfangreiche Wirken Carl Diems als Journa-list, Sportwissenschaftler und -politiker musste einer kritischen Analyse unterzogen werden, die zwangsläufig zur Umbenennung öffentlicher Ob-jekte führte. Auf diese Weise verliert nun – laut Beschluss des zuständi-gen Bezirksparlaments Köln-Lindenthal – der „Carl-Diem-Weg“ in Köln seinen Namen.
Diese Korrektur ist als ein politisches Bekenntnis zu werten. Sie ist ein Bekenntnis zu Frieden und Völkerverständigung, eine Absage an den An-tisemitismus und vor allem an alle Tendenzen, den deutschen Sport, ob offen oder verdeckt, erneut Vormacht- oder Kriegszielen deutscher oder internationaler Monopolstrukturen auszuliefern. Denn solch eine Gefahr erweist sich heute keineswegs als eine Fiktion, sondern als Realität, zu-mal es seit Jahren im nationalen und internationalen Rahmen immer wie-der Bestrebungen gibt, das militärische und wirtschaftliche Potential der Bundesrepublik Deutschland stärker als bisher im internationalen Maß-stab für konkrete Einsätze zu nutzen.
Für die Positionierung der deutschen Sportbewegung gegenüber solchen Bestrebungen und Plänen vermittelt das politische Engagement von Carl Diem keine geeigneten Orientierungen, weshalb die Bürger der ge-schichtsträchtigen Stadt Köln – trotz aller Angriffe, Vorwürfe und Kritiken –
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keinen Grund haben, ihre demokratisch vorbereitete und getroffene Ent-scheidung wieder rückgängig zu machen. Damit finden sich die Anhänger Carl Diems keineswegs ab. Sie berufen sich auf Sporthistoriker wie Ber-nett, Teichler und andere Analytiker, die Diems Werk zwar differenziert bewerten, ihn aber auch mit der subjektivistischen Willkür tiefenpsycholo-gischer und anderer Wertungsmethoden in Schutz nehmen, da angeblich nicht alles, was Diem gesagt, geschrieben und veranlasst hat, seiner ei-gentlichen Moral und Überzeugung, seinem Charakter entsprach. Es kann aber offen bleiben, ob Diem ein Anhänger der faschistischen Ideologie, ih-rer personalpolitischen Strukturen und ihrer realen Politik gewesen ist. Er war kein profilierter Gegner der deutschen Expansionspolitik unter den Hohenzollern und ebensowenig unter der faschistischen Hitlerdiktatur. Er hat vielmehr sein Leistungsvermögen und sein Ansehen dazu genutzt, den deutschen Sport in den Dienst der Kriegführung des deutschen Mo-nopolkapitals zu stellen, sowohl in Vorbereitung und Durchführung des Ersten als auch des Zweiten Weltkrieges.1) Das ist bisher nicht widerlegt. Genau darin unterschied sich Diem eindeutig von Willibald Gebhardt, der in der deutschen Sportbewegung, aus den Ursachen, dem Verlauf und den Folgen des Ersten Weltkrieges die Lehren ziehend, die Olympische Idee der Völkerverständigung und der Festigung des Friedens durchset-zen wollte. Insofern muss die Entmachtung Gebhardts in der deutschen Sportpolitik, an der Diem beteiligt war2), auch als Indiz einer Politik zur Si-cherung der Kontinuität des Missbrauchs der deutschen Körperkultur in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gewertet werden.
Diem hat angesichts der beiden Weltkriege und ihrer Folgen, insbesonde-re des Schicksals von Nationen und vielen Millionen Menschen, sich nicht veranlasst gesehen, sein Werk kritisch und politisch überzeugend zu be-urteilen. Offensichtlich sah er sich dazu auch nicht genötigt, weil das da-mals niemand in den Westzonen und in der späteren Bundesrepublik Deutschland erwartete. Vielmehr kam die antisowjetische Politik imperia-listischer Mächte schon bald nach dem Abschluss des Potsdamer Ab-kommens zum Tragen und gab keinerlei Anlass dazu, die einst betriebene Instrumentalisierung des deutschen Sports im Sinne und Interesse der deutschen Expansionspolitik einer kritischen Analyse zu unterziehen.
Die antisowjetischen Kriegspläne konnten nicht umgesetzt werden. Sie scheiterten am Widerstand der Volksmassen ebenso wie an der damali-gen Stärke des Warschauer Paktes. So konnte sich der europäische Sport ein halbes Jahrhundert lang unter den Bedingungen des Friedens entwickeln und Diem konnte seine intellektuellen Fähigkeiten und sportpo-litischen Erfahrungen auf andere Weise nutzen. Er gründete die Sport-hochschule in Köln, leitete sie in den ersten Jahren ihres Bestehens, be-reicherte die Sportwissenschaft mit zahlreichen Publikationen und betei-
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ligte sich an der Arbeit nationaler und internationaler Strukturen des Sports, so dass nach seinem Ableben die Frage nach dem Umgang mit seinem Namen durchaus berechtigt war und noch ist. Sie kann aber stets nur im Kontext mit den speziellen historischen Erfahrungen des deut-schen Volkes beantwortet werden, die mit Großmachtansprüchen und mi-litärischem Vorgehen und Engagement verbunden waren. Die bitteren Lehren zweier von Deutschland ausgelösten Weltkriege gehören zu je-nem geistigen Kapital, das in unserem Lande noch dominiert, obwohl der Rechtsextremismus nachweisbar seine Anstrengungen verstärkt hat, fa-schistisches und militaristisches Ideengut mit den Mitteln der Massenbe-einflussung zu verbreiten, darunter auch mit einer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kaum unterbrochenen Traditionspflege und eines fa-schistisch-militaristischen Personenkultes. Die Zurücknahme der Stra-ßenbezeichnung in Köln heute richtet sich angesichts dessen mit Konse-quenz gegen alle, die sich nicht – wie einst Willibald Gebhardt – mit per-sönlichem Mut und Können in den Dienst der Olympischen Idee gestellt und dem Missbrauch des deutschen Sports für großmachtpolitische und militärische Ziele verweigerten, sondern mittaten, im Fall Diem nachge-wiesenermaßen bis zuletzt.
Eine Korrektur der Wegebezeichnung war auch im Hinblick auf die Aus-tragung von Spielen der Fußballweltmeisterschaft 2006 nicht zu umge-hen. Denn jenen Besuchern des Kölner Stadions, darunter auch solchen aus dem Ausland, denen die Biografie Carl Diems weitgehend oder auch nur in Ansätzen bekannt ist, könnten in Zweifel darüber geraten, wie ver-lässlich 60 Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges die Ab-sage an den Missbrauch des deutschen Sports für deutsche Großmacht-politik ist. Und weder Diems Anmerkungen über die Ausschaltung jüdi-scher Funktionäre3) im Prozess der nach dem Frankreichfeldzug betriebe-nen faschistischen Neuordnung des europäischen Sports in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch eine Diem-Apologetik heute sind geeignet, das internationale Vertrauen in den deutschen Sport zu stärken. Allerdings kann zeitweiliges Taktieren nicht ausgeschlossen werden und es bleibt abzuwarten, ob und wann die Gegner der nun beschlossenen Straßenumbenennung in Köln wieder aktiv werden.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. HUHN, K.: Bemerkungen zu einem Diem-Plädoyer. Beiträge zur Sportgeschichte 3/1996, S. 113-123
2) Vgl. WESTPHAL, H.: Dr. W. Gebhardt – ein Opfer seines Friedensengagements? Beiträge zur Sportgeschichte 1/1995, S. 98-112
Willibald Gebhardt konnte seine Ziele leider nur während eines kurzen Zeitraumes verfolgen, da er im Jahr 1921 infolge eines Verkehrsunfalls aus dem Leben schied.
3) Vgl. Monitor. Sendung der ARD v. November 1995
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ZITATE
Blatters Bombe
Budapest (dpa/SZ) - Der Weltverband Fifa und die Europäische Fußball-Union (Uefa) gehen gemeinsam auf Konfrontationskurs zur Interessen-gemeinschaft der europäischen Spitzenklubs (G14). „Die Uefa stellt sich keinem in den Weg, der die Fußball-Familie (und damit auch die realen nationalen Wettbewerbe) verlassen will, weil er unsere sportlichen Werte nicht teilt", heißt es in einer auf dem Uefa-Kongress gestern in Budapest verabschiedeten Resolution. „Sich nur die Rosinen herauszupicken, geht jedoch nicht. Wir werden unsere Überzeugungen und unsere Grundsätze verteidigen."
Die G14, in der 18 europäische Spitzenclubs vereint sind, fordert von der Fifa Entschädigungen für verletzte Nationalspieler in Millionenhöhe und unterstützt entsprechende Klagen vor Gericht. Zudem verlangt die G14 von der Uefa eine radikale Reform der Champions League. Kern dieser Forderung ist die Abschaffung der Qualifikation für die europäische Kö-nigsklasse und damit die Schaffung einer geschlossenen Liga nach ame-rikanischem Vorbild.
„Ist es richtig, so eine Bombe zu werfen? Wir geben ihnen alles, liefern den Rohstoff Spieler und sie klagen gegen uns", wetterte Fifa-Chef Sepp Blatter. ... Uefa-Chef Lennart Johansson verurteilte das Vorgehen der G14 ebenso vehement: „Es zeigt sich, dass eine kleine Gruppe mehr Macht und Geld haben will." Mit welchem Recht könne sie sich über „fun-damentale Prinzipien der Demokratie hinwegsetzen und sich pompös als Sprecher der Klubs erklären". Die Uefa kündigte an, allen Vereinen, die an ihren Wettbewerben teilnehmen, künftig schriftlich die Einhaltungen der Grundsätze des Weltfußballs abzuverlangen. Johansson: „Wir sind gegen eine Liga ohne Auf- und Abstieg. Wenn sie es nicht wollen, heißt es Good-Bye."...
Süddeutsche Zeitung 24.März 2006
Blatter bietet Weltkrieg an
Tunis - Eine martialische Drohung hat der Fifa-Präsident im Konflikt mit der „G 14" ausgesprochen: „Wenn sie einen Weltkrieg wollen, können sie ihn haben", sagte der Schweizer Joseph S. Blatter am Montag in Tunis in Richtung der Vereinigung europäischer Großklubs, darunter Bayern Mün-chen, Borussia Dortmund und Bayer Leverkusen. Anlass der Attacke Blat-ters: Die „G 14" unterstützt eine Klage des SC Charleroi gegen die Fifa. Der Verein fordert 615.955 Euro Entschädigung, weil sich Mittel-feldspieleiAbdelmajid Oulmers bei einem Länderspiel im November 2004
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schwer verletzt hatte. Die „G 14" selbst fordert vom Weltverband rückwir-kend für in den letzten zehn Jahren durch Abstellung von Nationalspielern entstandenen Schäden 860 Millionen Euro. (sid)
Kölner Stadt-Anzeiger, 28.März 2006
7000 Soldaten bei der Fußball-WM im Einsatz
BERLIN. Zum Schutz der Fußball-Weltmeisterschaft sollen deutlich mehr Bundeswehrsoldaten als zunächst geplant bereitgestellt werden. Verteidi-gungsminister Franz Josef Jung (CDU) sagte der Bild am Sonntag, er sei sich mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble einig, dass die Bun-deswehr „im Bedarfsfall bis zu 7000 Soldaten zum Schutz unserer Bevöl-kerung und der Gäste der Fußball-Weltmeisterschaft bereit hält". Ur-sprünglich waren nur etwa 2000 Soldaten im Gespräch gewesen. Laut Jung liegen mehr als 100 Anträge auf Bundeswehrhilfe aus Ländern und Gemeinden vor. Konkret stelle die Bundeswehr Sanitätskräfte, ABC--Abwehreinheiten, Pioniere, Feldjäger mit Sprengstoff-Spürhunden sowie Hubschrauber und Flugzeuge bereit, berichtete die Zeitung.
In einem vertraulichen Konzept des Ministers für die Bereitschafts--Einheiten heiße es, neben Naturkatastrophen und schweren Un-glücksfällen könnten Großschadensereignisse während der WM nicht ausgeschlossen werden. ... In ständiger Bereitschaft, heißt es in dem Konzept weiter, befindet sich während der Weltmeisterschaft auch das mobile Biowaffen-Labor des Wehrwissenschaftlichen Institutes in Muns-ter. ... Zudem ständen acht Helikopter für den Transport von Elitesoldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK), Helfern und Material bereit. Die Marine stelle zwei große Rettungshubschrauber.
Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigte den Bericht weit-gehend. ...
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte ursprünglich ge-plant, die Bundeswehr umfassend zur Fußball-WM einzusetzen und damit seine Pläne zu befördern, den Einsatz von Soldaten über die im Grund-gesetz bisher vorgesehenen Ausnahmeregelungen hinaus zu verankern. Mit diesen Plänen stieß er allerdings nicht nur beim Koalitionspartner SPD, sondern auch beim Verteidigungsminister auf Widerstand. Jung be-fürchtete eine Überforderung der ohnehin bereits durch die zahlreichen Auslandseinsätze belasteten Bundeswehr. (Reuters, AP)
Berliner Zeitung, 27. März 2006
Winzer setzen auf WM-Wein
BERLIN - „Die Fußball-WM ist für die hiesige Weinwirtschaft schon fünf Monate vor dem Start ein Gewinn", sagte Armin Göring, Chef des Deut-schen Weininstituts. Ein Lizenzvertrag mit dem Weltfußballverband Fifa
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soll deutschen Tropfen einen exklusiven Auftritt bei dem Turnier sichern und rund um den Globus die Exporte ankurbeln. „Wir hoffen, dass vor al-lem die Ausfuhren in fußballverrückte Länder wie Italien oder Spanien an-ziehen so Göring.
Mit der Lizenz hat das Weininstitut als. Spitzenorganisation der Branche das Recht erworben, das zum einen heimische Winzer in ganz Europa Weine mit dem offiziellen WM-Emblem oder dem Fifa-Pokal anbieten dür-fen. Zum anderen sichert der Vertrag, dass auf sämtlichen offiziellen WM-Veranstaltungen in den VIP-Zonen ausschließlich Weine von deutschen Erzeugern ausgeschenkt werden.
„Wir sind damit als einzige deutsche Lebensmittelbranche bei der WM als Sponsor präsent", so Göring. Beim Bier hat sich der US-Konzern Anheu-ser-Busch die Rechte gesichert, bei alkoholfreien Getränken darf allein Coca-Cola mit dem WM-Emblem werben. Während diese Konzerne bis zu 50 Millionen Dollar für Rechte als Hauptsponsor zahlen, kam das Weininstitut für 750000 Euro zum Zuge, wie Göring bestätigt. ... Der Okto-ber mit seinem milden Klima habe besonders an der Mosel und im Rhein-gau den Weingütern viele hochwertige Beerenauslesen beschert, schwärmt Göring. Die Qualität liege weit über dem Durchschnitt der schon sehr guten vergangenen Jahre: „Die Weine überzeugen durch Fülle und Kraft." ...Göring rechnet mit „moderat" steigenden Preisen, „aber keines-falls im Ausmaß des Ernterückgangs".
Thomas Wüpper, Frankfurter Rundschau, 10. Januar 2006
Grüne wollen nur Leichtbier zur WM
Die Grünen möchten den Fußballfans zur WM nur alkoholarmes Dünnbier gönnen. Im Olympiastadion und auch bei Übertragungen in der Öffent-lichkeit sollte nur Leichtbier ausgeschenkt werden, sagte die Gesund-heitsexpertin der Grünen, Felicitas Kubala, gestern. Dies sei das beste Mittel, um aggressive Fans zu bremsen. So habe es zuletzt beim Pokal-spiel zwischen St. Pauli und Hertha BSC nur alkoholarmes Bier gegeben, sagte Kubala.
Bei den anderen Parteien wurde der grüne Vorstoß gestern einmütig als „lebensfremd" und „Spaßbremse" abgelehnt. „Wir können nicht 98 Pro-zent der Fans dafür bestrafen, dass sich wenige daneben benehmen", sagte etwa Alexander Ritzmann von der FDP.
Unterstützung finden die Grünen dagegen bei der Polizei. „Wer zur Gewalt neigt, wird durch Alkohol enthemmt", sagte Ingo Rogge, der Chef des WM-Vorbereitungsstabes der Poli-zei. Für die Übertragungen außerhalb des Stadions seien je-
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doch die Bezirksämter zuständig, sie könnten Auflagen ertei-len. In den Stadien wird es Auflagen nur bei riskanten Spielen wie Holland gegen England geben. Fifa und Polizei haben vereinbart, dass bei gefährdeten Partien ausschließlich alko-holfreies Bier ausgeschenkt werde, hieß es beim Frankfurter Organisationskomitee. „Wir müssen nur die Fässer austau-schen", sagte Dietmar Henle von „Bitburger"...
Ha, Der Tagesspiegel 10.Januar 2006
Merkel träumt nicht (nur) vom WM-Titel
„Fußball ist mehr als Kicken - Fußball kann in einer verrückten Welt dazu beitragen, wieder eine positive Stimmung und positive Energie zu be-kommen" sagt der Chef des Internationalen Fußballverbandes (Fifa), Jo-seph Blatter. Positive Stimmung und positive Energie für das Land hat sich auch der damalige Bundeskanzler - und einstige Hobby-Stürmer - Gerhard Schröder (SPD) von der Fußball-Weltmeisterschaft versprochen und sich im Jahr 2000 stark für die deutsche Bewerbung ins Zeug gelegt. Seine Nachfolgerin. Angela Merkel (CDU) mag nun weniger mit Fußball am Hut haben, doch auch die Christdemokratin weiß um die Wichtigkeit des WM-Turniers - außen- wie innenpolitisch.
„Bei der WM geht es darum, die Leistungsfähigkeit Deutschlands vor aller Welt unter Beweis zu stellen bringt die Historikerin Jutta Braun vom Sportwissenschaftlichen Institut der Universität Potsdam die Bedeutung des Ereignisses auf den Punkt. Es ist die erste große Sportveranstaltung, mit der sich das wiedervereinigte Deutschland der Welt präsentiert. Welt-offen, friedlich, sympathisch und professionell soll das Land nach den Wünschen des WM-Organisationskomitees um Franz Beckenbauer nach außen wirken. „Zu Gast bei Freunden", lautet der programmatische Titel, der bereits heute Reisende auf den Autobahnen des WM-Gastgebers willkommen heißt.
Sportliche Großereignisse wie Olympische Spiele oder Fußball-WM bein-halten stets eine politische Komponente. Mit den Olympischen Spielen von Moskau im Jahr 1980 etwa wollte der kommunistische Ostblock seine Wettbewerbsfähigkeit in Konkurrenz zum kapitalistischen Westen de-monstrieren. Mit Verweis auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan boykottierten die USA und viele westliche Länder damals aber die Wett-bewerbe - und vermieden damit auch alle von Moskauwohl erhofften Ne-beneffekte.
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Vier Jahre später „rächte" sich der Ostblock und blieb seinerseits den Olympischen Spielen von Los Angeles fern. Selbst die Fußball-EM 1988 in der Bundesrepublik drohte vom Ost-West-Gegensatz überschattet zu werden. Strittiges Thema damals: West-Berlin. „Der Ostblock setzte mit Vorliebe sportpolitische Hebel an, wenn es um den Status West- Berlins ging“, erklärt Sporthistorikerin Braun. So verzichtete der Deutsche Fuß-ball-Bund (DFB) damals auf Berlin als Spielort „aus Furcht, dass die ost-europäischen Nationen das Turnier“ sonst boykottieren würde. Als Trost-pflaster beschloss der Fußball-Bund, das jährlich ausgetragene Endspiel um den DFB-Pokal nach Berlin zu vergeben. ...
Die gute Infrastruktur in Deutschland mag letztlich den Ausschlag gege-ben haben, weshalb die Bundesrepublik sich gegen die eigentlich favori-sierten Südafrikaner bei der Vergabe der WM 2006 durchsetzte. ... „Ich bin mir sicher, dass die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 für unser Land politisch, kulturell und wirtschaftlich ein Erfolg werden wird“, hat Angela Merkel vorige Woche nach einem Treffen mit dem deutschen WM-Organisationskomitee verkündet und hinzugefügt: „Ich bin genauso si-cher, dass sie auch sportlich ein Erfolg wird.“ Während der sportliche Er-folg angesichts der jüngsten Leistungen der Nationalkicker in den Sternen steht, belegt eine repräsentative Studie der Universität Hohenheim die wirtschaftliche Ertragskraft des Turniers. Jeder fünfte Deutsche, so die Studie, wolle einen WM-Austragungsort besuchen. Diese Menschen brin-gen Geld in die Städte. Bei solchem Andrang spielt das Thema Sicherheit eine große Rolle, was den Verantwortlichen aber bewusst zu sein scheint. So ist aus Kreisen der Feuerwehr zuhören, dass technische Anschaffun-gen nie so problemlos waren wie jetzt - vor der WM.
Die Gesamtkosten der WM liegen laut Fifa bei einer Milliarde Euro, von denen 700 Millionen durch Geld von Sponsoren gedeckt sind. Das deut-sche WM-Organisationskomitee verfügt über einen Etat von 430 Millionen Euro, ein Großteil davon soll über den Verkauf der Eintrittskarten aufge-bracht werden. ... wünscht sich auch der Vorsitzende des Sportausschus-ses im Bundestag, Peter Danckert (SPD). „Ich glaube der Fußball ist der einzige Punkt, in dem es keine Unterschiede mehr gibt" zwischen Ost und West sagt er mit Blick auf Michael Ballack (Ost) und Bastian Schweinstei-ger (West). Und so hoffen alle auf eine positive Stimmung und positive Energie bei der WM ...
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Olaf Sundermeyer, Frankfurter Rundschau, 22. März 2006
Die Wahrheit und die Aufsichtsräte
Im bundesdeutschen Sport tobt seit langem ein Machtkampf. Der in Kürze die öffentliche Bühne verlassende DSB-Präsident Richthofen sah lange sein Ziel darin, die Teilung der Macht zwischen DSB und NOK zu been-den und eine vereinte Führung zu schaffen. Es gab viele, die dagegen opponierten und triftige Gründe dafür hatten. Der Triftigste ist die Charta der olympischen Bewegung, die unmissverständlich verlangt, dass das für die olympischen Belange zuständige Komitee völlig unabhängig sein muss. Unabhängig in jeder Hinsicht. Richthofen fand eine juristische Lü-cke und schuf damit die Voraussetzungen für eine Organisationsform, wie es sie seit der ersten Olympiateilnahme Deutschlands 1896 in Athen noch nie gab. Zugegeben, manches wurde geändert in diesem guten Jahrhun-dert. So kam ein Mann, der heute noch in der BRD - deutlicher: In der ehemaligen BRD - als höchst ehrenwerte Persönlichkeit gepriesen wird, 1917 auf die Idee, das Wort „Olympia“ aus dem Namen des Komitees zu streichen, weil er für die Olympischen Spiele keine Zukunft mehr sah. Der Mann hieß Carl Diem und wer morgen auf die Idee kommen sollte, nach der Adresse der Deutschen Sporthochschule zu fragen, würde die Ant-wort bekommen: Köln, Carl-Diem-Weg 6. Womit belegt wäre, dass jeder dort Studierende jeden Tag an den Mann erinnert wird, der nicht nur das „Olympia“ streichen ließ, sondern auch die absurde Behauptung formulier-te: Der Krieg gehört zum Mann wie die Schwangerschaft zur Frau. Schluß mit der Erinnerung an Diem, jetzt geht es darum, wer in der neuen deut-schen Sportzentrale auf der Kommandobrücke stehen soll. Hinter den Ku-lissen gab es ein beträchtliches Gerangel, aber nun hat man sich auf ei-nen Herrn Bach geeinigt, der sich rühmen darf, mal mit der Florett-Mannschaft Olympiasieger gewesen zu sein und just im Internationalen Olympischen Komitee wieder zum Vizepräsidenten gewählt wurde. Neben seiner sportlichen Laufbahn ist auch seine berufliche spektakulär und zeugt von enormer Vielseitigkeit: 1985 wurde er bei adidas (Sportartikel) Direktor für Internationale Beziehungen (möglicherweise, weil er internati-onale Beziehungen hatte), 1988 wechselte er in die Politik und wurde Ko-ordinator des mittelständischen Beraterkreises beim Bundesministerium für Wirtschaft, 1998 Vorsitzender des Aufsichtsrates der Michael Weinig AG (Maschinen), 2000 Vorsitzender des Aufsichtsrates der Weinig Inter-national AG (auch Maschinen), dann Mitglied des Verwaltungsrates der Siemens Schweiz AG und 2002 Stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzen-der der Wall AG.
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Und warum sollte er da nicht auch noch Vorsitzender des Aufsichtsrates des deutschen Sports werden? Ich sehe keinen Grund. Und sollten sie mich fragen wollen, wer denn sonst noch auf der Liste der Kandidaten stand, antworte ich ihnen als erstes: Kein Ossi! Und wenn sie mich fragen sollten, warum denn ein Ossi hätte wenigstens angemeldet werden sollen, antworte ich ihnen: Vielleicht weil die Ossis in Turin bei den Olympischen Winterspielen 65 Prozent der Goldmedaillen geholt hatten und auch 62 Prozent der Silbermedaillen. Nur bei Bronze mussten sich die Ossis mit 33 Prozent trösten. Sie dürften es getan haben. Zurück zur Personalfrage: Niemand hatte sich im Osten wenigstens mal umgehorcht, ob da nicht vielleicht ein Kandidat. Nein, wirklich, in jener Gegend sind die Aufsichts-räte rar.
Klaus Huhn, Leipzigs Neue, 25. März 2006
Entweder „Idiot oder Drecksack"
Köln - Mit drei Jahren Verspätung wird der Abstiegskampf der Saison 2002/2003 neu aufgerollt. Offiziell im Visier der Kölner Staatsanwaltschaft steht das Spiel Bayer 04 Leverkusen gegen 1860 München vom 33. Spieltag, mit dem Leverkusen damals die Abstiegsränge verließ. Während Bayer 3:0 gewann, unterlag Arminia Bielefeld in Rostock mit 0:3 Toren und rutschte damit auf Platz 16. Am letzten Spieltag der fraglichen Saison hätte Bielefeld die Schützenhilfe der bereits abgestiegenen Nürnberger benötigt, um den Abstieg doch noch zu vermeiden. Hier setzt der von Bielefelds Torhüter Mathias Hain geäußerte Verdacht ... ein, denn Nürn-bergs Präsident Michael A. Roth hatte gesagt: „Leverkusen hat noch ei-nen gut bei uns." Warum Leverkusen „einen gut" hatte, wird beim Blick auf die Details deutlich: Es bestanden in jener Zeit ja zahlreiche Verbin-dungen zwischen Nürnberg und Leverkusen. Bayer wollte nach der Sai-son den Polen Jacek Krzynowek verpflichten, der noch in Nürnberg unter Vertrag stand. Dies geschah dann auch. Nürnberg konnte eine hohe Ab-lösesumme gut gebrauchen, die es bei einem Abstieg Leverkusens nicht gegeben hätte. Außerdem besaß Bayer eine erkaufte Option auf den Tschechen David Jarolim. Bayer hatte außerdem noch Paulo Rink nach Nürnberg ausgeliehen, den Franken aber einen Einsatz des Stürmers im Spiel gegen Leverkusen vertraglich untersagt. ... Präsident Roth sagte zudem noch: „Bleibt Leverkusen in der Bundesliga, haben wir einen star-ken Aufstiegs-Konkurrenten weniger." ... Leverkusens damaliger Ge-schäftsführer Reiner Calmund sagte seinerzeit, auf diese Häufung von Umständen angesprochen: „Entweder sind wir Idioten oder Drecksäcke." „Idioten", die mit Spielern wie Lucio, Bastürk, Neuville, Placente, Butt, Juan, Berbatow oder Ramelow bei einem Absteiger nicht gewinnen kön-
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nen. Oder „Drecksäcke", weil ein Zusammenhang zwischen benötigtem Sieg und Geldfluss selten zuvor derart offenbar geworden ist.
Frank Nägele und Stephan Klemm - Kölner Stadt-Anzeiger 28. März 2006
Rassismus-Eklat in Spanien
Madrid - Eine Viertelstunde vor Schluss hatte Samuel Eto'o genug von den Unverschämtheiten. Statt den Eckstoß für seinen FC Barcelona aus-zuführen, trottete der Kameruner wutentbrannt dem Ausgang entgegen, als ihm im Stadion La Romareda von Real Saragossa wieder Affen-geschrei von der Tribüne entgegen schallte. „Ich spiele nicht weiter", rief der beste Fußballer Afrikas, und es war einiger Einsatz nötig, ihn davon abzuhalten. Erst stellte sich der Schiedsrichter dem Flüchtenden in den Weg, dann redeten Mitspieler und Trainer auf ihn ein. Nach tumultartigen Diskussionen ließ sich der erfolgreichste Torjäger der spanischen Liga umstimmen und half den Gästen zornig beim Sieg. ... Auch nach dem Ab-pfiff drehte sich fast alles um diesen neuen Fall von Rassismus in spani-schen Arenen. In Saragossa war Eto'o schon im vorigen Jahr beleidigt worden, diesmal traktierten ihn einige Zuschauer mit permanenten Geräu-schen aus dem Urwald der schlechten Erziehung. ... Trainer Victor Munoz spielte den wiederholten Skandal zwar herunter, ein beliebter Reflex. E-to'os Aktion sei übertrieben gewesen, „die Rassisten sind nur eine kleine Minderheit". Mehrere Medien jedoch forderten, der spanische Fußballver-band solle endlich Konsequenzen ziehen und die betroffenen Vereine be-strafen. Bislang hatte es nicht einmal Folgen gehabt, dass Nationaltrainer Luis Aragones den französischen Stürmer Thierry Henry lautstark als „Scheißneger" bezeichnete.
Peter Burghardt - Süddeutsche Zeitung 27 Februar 2006
Nigerianer wird rassistisch
attackiert und zeigt Hitlergruß
BERLIN - Dreitausend Zuschauer waren ... zum Punktspiel der NOFV-Oberliga Süd ins Kurt-Wabbel-Stadion von Halle gekommen. Kurz vor Schluss schaffte der HFC gegen Sachsen Leipzig den 2:2-Ausgleich, was die Gästeanhänger in Rage brachte. Sie stürmten den Rasen. Die Polizei musste sie wieder in ihren Block treiben. Schon während des gesamten Spiels war der Leipziger Spieler Adebowale Ogungbure wegen seiner Hautfarbe immer wieder mit Affenlauten verhöhnt worden. Als der Nigeri-aner nach dem Spiel als einer der letzten den Innenraum verlassen wollte, kam es zu Tätlichkeiten von Hallenser Zuschauern gegen ihn. Der 24-Jährige reagierte überraschend mit einem Hitlergruß vor der Haupttribüne.
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Gegen ihn wurde daraufhin Anzeige wegen des Zeigens verfassungs-feindlicher Symbole erstattet.
Seine Reaktion will der Ex-Cottbuser jedoch nicht als Tolerierung der NS-Bewegung verstanden wissen. Ogungbure sagte: „Ich wurde geschlagen und wusste nicht, wie ich mich wehren sollte. In meiner ganzen Karriere wurde ich noch nie so schlecht behandelt wie in dieser Oberliga. Ich bin kein Affe oder Bimbo, sondern ein Mensch." Die Reaktion der Polizei in Halle verblüfft: Sie hat eine Anzeige gegen den nigerianischen Spieler ge-schrieben, aber keine gegen einen der mutmaßlichen Angreifer. Da „ein Bürger" berichtete, Ogungbure habe nach dem Spiel den Hitlergruß ge-zeigt, werde jetzt ermittelt, sagte der Sprecher der Polizeidirektion Halle, Siegfried Koch, am Montag dem Tagesspiegel. Der Augenzeuge habe je-doch nichts über Beleidigungen oder Schläge gegen den afrikanischen Spieler gesagt.
Der Tagesspiegel, 28.März 2006
Unendlich: DDR, Stasi und Doping
Der Ringerverband hat seinen Sportdirektor entlassen. Nicht wie ein Bun-desligaklub wegen kontinuierlicher Erfolglosigkeit, sondern wegen seiner – “Stasivergangenheit.” Kein Zweifel: Dieses Thema ist unerschöpflich! Dabei bestreitet schon längst niemand mehr, dass derlei Vorwürfe in der Regel gegenstandslos sind. Auch bei Wolfgang Nitschke stand schnell fest, dass er anstehende Arbeitsgerichtsprozesse gewinnen würde und deshalb schloß der Verband einen Vergleich, der zwar die Kündigung vorsieht, aber „ohne jegliche Vorwürfe des DRB gegenüber Nitsch-ke".Verbunden mit dem Vergleich ist die Zahlung einer Abfindung an den langjährigen Bundestrainer, der juristisch gesehen einen unkündbaren Vertrag hatte und vor einem Jahr nach Vorwürfen von “Stasi-Mitarbeit” beurlaubt worden war.
Der Mann war seit 1991 Bundestrainer war und seine Schützlinge holten bei Europa- und Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen 46 Me-daillen. Seit man ihn davonjagte, häuften sich die Niederlagen. Das tan-gierte die zuständigen Instanzen des bundesdeutschen Sports nicht. Da-für war die sogenannte Laurin-Kommission bemüht worden, die “Stasifäl-le” klären soll. Die fand nach der Untersuchung des Sachverhalts eine grandiose Lösung: Nitschke könnte Bundestrainer bleiben, aber als Sportdirektor keinen neuen Vertrag erhalten. Daraus wurde jedoch nichts, weil plötzlich das Bundesinnenministerium aktiv wurde und auf der Kündi-gung bestand.
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Es gibt ein altes Sportlerlied, in dem sich die Worte finden: “Sport voran”! Man sollte es anstimmen!
Wirklich: Es fällt heutzutage nicht leicht, positive Sportbotschaften zu fin-den! Sollte man die vielleicht als positiv betrachten: Prof. Dr. Franke, der lange Jahre gemeinsam mit seiner Frau Brigitte Berendonk den Doping-kreuzzug gegen die DDR führte, kündigte in einem Interview in der FAZ (19.9.2005), dass er das Handtuch werfen werde: “... es wird zuviel. Mei-ne Frau ist 1995 ausgestiegen aus der Kampagne. Es kostete zu viele Nerven. Dazu kommen nun zunehmend Klagen von Athleten, die falsch positiv getestet sind. ... Genauso wie ich dagegen bin, daß junge Men-schen gedopt werden, genauso bin ich als Naturwissenschaftler dagegen, daß wegen schlechter Wissenschaft, eines Gottesbeweises oder Donner-grollen Menschen auf dem Marktplatz verbrannt werden.”
Man staunt. Nicht mehr auf dem Marktplatz verbrennen? Endlich aufräu-men mit den DDR-Dopinglegenden?
Nein, das keinesfalls!
Prof. Franke erinnerte flugs daran: “Klaus Wengoborski, ein ehemaliger Kriminalpolizist, hatte erstaunliche Erfolge, auch international. Doch er wurde lange Zeit nicht zentral eingesetzt. Er war derjenige, der Katrin Krabbe erwischte ...”
Na, bitte, da wäre man doch schon wieder auf der richtigen Spur.
Eine der nächsten Rückfragen galt Dieter Baumann und da lautete die Auskunft einmal mehr: “Im Fall Baumann habe ich Unterlagen von der Staatssicherheit der DDR gezeigt, in denen steht, wie sie jemandem Mittel in der Zahnpasta untergeschoben haben.” Erinnern Sie sich noch? Wenn nicht, wurde es höchste Zeit, dass Prof. Franke dieses Stasi-Schauermärchen wieder einmal vortrug.
Und so sieht er das Dopingproblem generell: “Doping Test und -Nachweis sind unersetzlich. Nur: Es kommt auf die Interpretation an. Der Sport muß beweisen können, daß sich jemand absichtlich gedopt hat.”
Und weil das eine absurde Forderung ist, hat sich Prof. Franke entschlos-sen, die Kreuzzugkohorte zu verlassen. Nur wenn es um die DDR geht, steht er noch zur Verfügung. Zum Beispiel im Fall Krabbe und in der be-sonders abscheulichen Affäre, in der die “Stasi” in Dieter Baumanns Zahnpasta das Dopinggift injizierte.
Klaus Huhn, Leipzigs Neue, 12. November 2005
Das Geschäft mit dem alljährlichen Wahnsinn
Mit dem Wahnsinn ist das ja so eine Sache. Das närrische Treiben im Kölner Karneval ist da ein gutes Beispiel. Für die einen der Himmel auf Erden, für die anderen eine Zumutung. Der Dachverband des amerikani-
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schen College Sports (NCAA) hat es da einfacher: Der jährlich wiederkeh-rende Wahnsinn, der das Basketball-Endturnier begleitet, heißt unmiss-verständlich „March Madness" - ein von der NCAA urheberrechtlich ge-schützter Begriff. Anders lässt sich das Phänomen, das die Basketball--Amateure von März bis April veranstalten, auch gar nicht beschreiben.
„March Madness" oder „Big Dance", wie das 64 Spiele umfassende Tur-nier auch genannt wird, ist in den USA der absolute Zuschauermagnet. ... Die Attraktivität erklärt sich aus dem brutalen Spielmodus: Denn die 65 teilnehmenden Teams ermitteln in sechs K.o.-Runden den Meister. ... Längst fürchtet auch die US-Wirtschaft den grassierenden College-Irrsinn: In einer Umfrage der Tageszeitung „USA Today" gaben 42 Prozent der Befragten zu, auch während der Arbeitzeit nicht auf die „Madness" ver-zichten zu wollen. Nach Angaben der Firma „Challenger, Gray & Christ-mas" beschäftigen sich US-Angestellte durchschnittlich 13,5 Minuten pro Tag mit „March Madness". Eine Untersuchung ergab, dass die betrof-fenen Unternehmen ihren Arbeitnehmern so eigentlich 237 Mill. Dollar an Gehalt streichen müssten. ... Und in Las Vegas erhoffen sich die Buch-macher den großen Zahltag. Bis zu sieben Mrd. US-Dollar sollen durch College-Wetten umgesetzt werden.
Martin Fünkele - Handelsblatt 23. März 2006
DER ELCH UND DIE KUFEN
Vor langen Jahren pflegte man humorig zu stöhnen: „Ich glaubte, mich knutscht ein Elch!“ Und mitten im Februar 2006, glaubte ich für Sekunden allen Ernstes, dass nun der Augenblick gekommen war, an dem ein Elch mir seine Liebesgefühle offenbaren würde. Beschert hatte mir diesen Schock die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die wohl der Meinung gewe-sen war, die Anti-Stasi-Kampagne müsse noch - so sagt man heute wohl - „getoppt“ werden. Der damit beauftragte Autor ist ein gewisser Anno He-cker, geboren irgendwann im Hochsommer 1964. Als am 6. Februar 1968 in Grenoble die X. Olympischen Winterspiele eröffnet wurden, war er also noch keine vier Jahre alt und was sich dort damals an der Rennschlitten-bahn in Villard de Lans zugetragen hatte scheint er nie im Leben nachge-lesen zu haben. Sein Artikel jedenfalls ließ den Eindruck entstehen, er glaube, den Lesern Neuigkeiten mitzuteilen. Man musste nicht lange grü-beln, wie solche Fakten-Ignoranz entstehen konnte: Jemand hatte ihm ei-ne „Stasi“-Akte geschenkt! Und was wiegt heutzutage für einen Medien-lorbeerjäger hierzulande mehr?
Ich beschreibe dem Leser, der die Ereignisse von damals nicht mehr im Kopf hat, den Skandal in Stichworten: Gegen den mit wilden politischen Drohungen vorgetragenen Willen der BRD-Regierung hatte das Internati-onale Olympische Komitee der DDR 1965 eine eigene Olympia-
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Mannschaft eingeräumt. Die Premiere war bei den Winterspiele in Grenoble 1968 und den noch immer erbosten BRD-Politikern lag damals an einem handfesten Skandal, der das olympische Ansehen der DDR schon bei diesem Auftakt ruinieren sollte.
Man suchte sich eine Sportart aus, in der DDR-Siege zu befürchten wa-ren, nämlich die Rennschlittenwettbewerbe. Nach zwei von vier Durch-gängen lagen denn auch zwei DDR-Athletinnen in Front, die dritte war aussichtsreiche Vierte. Aber urplötzlich wurde der dritte Lauf aus „Sicher-heitsgründen“ abgesagt, Minuten später kam die schockierende Mitteilung dass die DDR-Frauen disqualifiziert worden seien. Fassungslos fragte die DDR-Mannschaftsleitung nach dem Grund. Ehe sie noch eine Antwort bekam - man warf den DDR-Frauen vor, die Kufen ihrer Schlitten „ge-heizt“ zu haben - , belagerte schon eine Meute bundesdeutscher Journa-listen den Eingang zum DDR-Hotel. Es blieb bei der Disqualifikation und die Medaillen gingen an Italien und die BRD.
Nun wollte man gleich zum ganz großen Schlag gegen die DDR ausho-len: Der westdeutsche Mannschaftsleiter Hartmann trommelte in seinem Hotel alle erreichbaren Mannschaftsleiter zusammen und schlug ihnen vor, vom IOC zu verlangen, dass die gesamte DDR-Rennschlitten-mannschaft wegen „versuchten Betruges“ disqualifiziert werden müsse, also auch die Männer.
Der IOC-Präsident Avery Brundage (USA) - wahrlich kein DDR-Fan - be-gab sich, durch den Protest der DDR aufgescheucht, an den Schauplatz und fragte die Jury als erstes, wie sie denn die angeblich von der DDR geheizten Kufen festgestellt hätten. Er wollte ein Thermometer sehen und die Werte erfahren, die mit ihm gemessen worden waren. Die Jury be-kannte kleinlaut, noch nie ein Thermometer benutzt zu haben. Man neh-me Schneeklümpchen und werfe sie auf die Kufen. Sie seien bei den Schlitten der DDR-Frauen verblüffend schnell geschmolzen. Brundage - ich stand in diesem Augenblick neben ihm - fragte nur: „Ist das Ihr Ernst?“ Die Jury nickte und Brundage - nach den Regeln nicht imstande, die Ent-scheidung aufzuheben - entschloss sich zu einer in der Geschichte der Spiele beispiellosen Demonstration: Er lud die drei DDR-Frauen zum Es-sen ins IOC-Hotel ein und speiste dort mit ihnen inmitten des gesamten Internationalen Olympischen Komitees. Die Intrige gegen die DDR war vor der olympischen Öffentlichkeit „demontiert“, wenn auch die Frauen um ihre Medaillen betrogen blieben.
Nun - 38 Jahre später - erschienen Anno Hecker und der sich pausenlos als „Stasi“-Spezialist aufspielende Giselher Spitzer und schlugen in der FAZ die Trommel: „In diesen Tagen noch zucken deutsche Sportfunktio-näre zusammen, wenn von der Stasi die Rede ist, von Spitzeln, von ge-meinem Verrat, von falscher deutsch-deutscher Kameradschaft und Igno-
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ranz gegenüber den brutalen Schnitten des `Schwertes der Partei.´ In diesem Fall ist es ganz anders. Erstmals scheinen Dokumente aus den gesammelten Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ein Fehl-urteil im olympischen Wintersport aufzudecken, eine Affäre zu klären, die Athletinnen aus Ost und West schwer belastete.” Dass das Hecker-Spitzer-Duo plötzlich die 1968 schon von den DDR-Medien enthüllten Hin-tergründe des Kufenskandals bestätigten, hatte einen Grund, den nur die Gegenwart präsentieren konnte: Es hatte in einer “Stasi”-Akte gestanden! Frau Birthler avancierte zur Kronzeugin: “Auf etwa 37 Seiten, die der Ber-liner Stasi-Enthüller und -Experte Giselher Spitzer entdeckte, hat der Offi-zier im besonderen Einsatz (OibE) Oberstleutnant Noack, den Fall analy-siert und ihn für die MfS-Führung als mehr oder weniger abgekartetes Spiel beschrieben.” Das hatte - siehe oben - damals auch der IOC-Präsident so empfunden. Dank der “Stasi” darf also plötzlich ausnahms-weise zur Wahrheit werden, was 38 Jahre geleugnet worden war. Die DDR hatte sich damals gegenüber dem den “Heizeffekt” aufdeckenden Schiedsrichter übrigens zurückhalten müssen, denn er war ein Pole. Die polnische Sportleitung hielt ihn für einen ehrenwerten Mann und DDR-Politiker hielten einen DDR-polnischen Zwist wegen dieses Vorfalls für unangebracht. Jener MfS-Ermittler hatte damals sogar herausgefunden, dass der Pole schon im Vorfeld von den Westdeutschen zu einem Urlaub eingeladen worden war, vorsichtshalber nach Österreich.
Damit niemand glaubt, Medien oder die Birthler-Behörde seien auf dem Weg zur Wahrheit, muss noch angefügt werden, dass der betreffende Of-fizier natürlich ein “Böser” war: “Stasi”-Experte Spitzer: „Er wußte von al-len Geheimnissen, wie etwa dem Versenken von Dopingsubstanzen im St.-Lorenz-Strom zum Ende der Sommerspiele von 1976 in Montreal." Da haben wir’s: Der Kufenskandal von 1968 fand erst in Montreal 1976 sein “Stasi”-Ende, als der Offizier Dopingsubstanzen im St. Lorenz-Strom ver-senkte.
Hecker und Spitzer ließen die Frage offen: Hat die Birthler-Behörde die Taucher schon angeheuert, die das Geheimnis vom Grund des St.Lorenz-Stroms bergen werden?
Oder knutscht mich ein Elch?
Klaus Huhn, Leipzigs Neue 28. Februar 2006
Der deutsche Nachwuchssport in der Krise!?
Für den Zeitraum bis 2008 und darüber hinaus wird mit einer weiteren dy-namischen internationalen Leistungsentwicklung gerechnet. ... Gleichzeitig verschlechtert sich das Leistungsniveau der Trainingsanfänger in Deutsch-land deutlich. Objektiv wird damit die Heranführung junger deutscher Athle-ten an die Weltspitze erschwert. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine
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Trainingskonzeption zu erarbeiten, die, ausgehend von den Anforderungen im Hochleistungstraining, ein Nachwuchstraining entwirft, das über eine systematische Förderung der Talente hinaus Leistungsvoraussetzungen für den prognostizierten Olympiasieger 2008 bzw. 2012 entwickelt...
Unter dem Aspekt der schnelleren Heranführung von Nachwuchsathleten sollten folgende Vorschläge überdacht werden:
- Umwandlung des derzeitigen „Fördersystems“ in ein echtes Talentför-dersystem, da das zur Zeit gültige System ein Belohnungssystem ist.
- Beibehaltung des systematischen und langfristigen Leistungsaufbaus über die Etappen Grundlagen-, Aufbau-, Anschluss- und Hochleistungs-training. ...Ein Verlassen der Systematik führt zu Leistungseinengungen.
- ...Die schnellere Heranführung von Nachwuchsathleten an Spitzenleistun-gen kann nur über höhere Trainingsbelastungen realisiert werden. Der dazu notwendige Trainingsaufwand sollte sich auch an der internationalen Kon-kurrenz orientieren, die in der Regel einen höheren Aufwand im Vergleich zu uns betreibt. In Deutschland wird versucht, mit einem so genannten „in-telligenten Training“ und einem geringen Trainingszeitaufwand utopische Zielstellungen zu realisieren. Im internationalen Vergleich führt das langfris-tig zum Verlust unserer führenden Position (U19 bis HLT)...
Dieter Altenburg
Leistungssport 35 (2005) 6, S. 25
Sport-Förderflickwerk
Täve Schur sagt im Interview: „Auch das ganze bundesdeutsche Sportför-dersystem ist nur Flickwerk.“ Diese harte Erfahrung haben wir auch ge-macht. Und zwar, wie gewissenlos Funktionsträger mit Talenten umgehen. Unser Sohn war bis vor fünf Monaten auf einem Sportfördergymnasium (Skilangläufer, sieben Medaillen bei Deutschen Meisterschaften). Nach ei-ner Erkrankung wurde er aus dem deutschen Kader, in dem er zwei Jahre war, raus befördert. Die realen Ausgaben im Erzgebirge für Internatsunter-bringung, Internatsvollverpflegung und Fahrtkosten zum Elternhaus betru-gen je Monat 800 Euro. Seit vorigem Sommer gibt der Freistaat Sachsen lediglich einen Förderbetrag von 165 Euro. Wir als Eltern, Vater Rentner, Mutter Verkäuferin, konnten unserem Sohn die leistungssportliche Ausbil-dung nicht mehr finanzieren.
Frank Thomas (Leserbrief)
Neues Deutschland 6.3.2006, S. 14
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REZENSIONEN
Turin 2006 - Unser Olympiabuch
Von Kristin Otto und Heinz-Florian Oertel
Man fragt sich, was den Verlag „Das Neue Berlin“ wohl bewegen mag, je-des Mal nach Olympischen Spielen einen neuen Druck-Rekord aufstellen zu wollen und mit unüberlesbarem Stolz auf der ersten Innenseite dem Leser kundzutun: „Erschienen ... fünf Tage nach Ende der Spiele.“ Soll das die - wahrlich respektabel raren - Fehler entschuldigen? Die Antwort weiß wohl allein der Wind. Immerhin hat sich das Duo Otto-Oertel längst den Ruf gesichert, Herausgeber olympischen Spitzenschriftguts zu sein, und wer den behauptet, darf sicher sein, dass die Leser geduldig warten, bis der nächstfällige Band erscheint, zumal die Fans ohnehin nach dem Rund-um-die-TV nicht unter olympischen Entzugserscheinungen leiden. Die stattliche Schar der Autoren war bis auf Ausnahmen gut ausgesucht. So hätte man für die Biathlon-Wettbewerbe im Thüringischen sicher einen Kundigeren finden können, als in Berlin, also einen, der den Ursprung der Biathlon-Triumphe nicht auf Geheimniskrämerei des Trainers Ullrich zu-rückführt. Volker Kluge - als „Chefredakteur“ ausgewiesen und zudem als Pressechef des NOK der DDR von 1992-1990(?)- erklärt dem Leser den Hintergrund der Vergabe der Spiele nach Turin so: „Keine Familie hat das Italien des 20. Jahrhunderts so sehr geprägt wie die Agnellis. Ihr Name steht für Reichtum und politischen Einfluss ... Zur 100-Jahr-Feier seines Konzerns steuerte das IOC 1999 noch ein besonderes Präsent bei: Es vergab die Olympischen Winterspiele an die Hauptstadt Piemonts.“ Wie mag wohl der belgische Chirurg Jacques Rogge - „nebenbei“ IOC-Präsident - diese Deutung empfinden? Von Kluge stammt auch das Kapi-tel „Querelle d’Allemands“, in dem er den bekanntlich erst von einem Ber-liner Landgerichtsdirektor gestoppten, mit Stasi-Vorwürfen inszenierten Olympia-Ausschluss eines Eiskunstlauftrainers kühn herunterspielt: „Wäh-rend man an diesem Abend anderen Paaren Blumen und Stofftiere zu-wirft, beschmeißen sich die Deutschen mit Akten.“ Welche „Deutschen“? Mit welchen „Akten“? Schlicht unzutreffend die Feststellung: „Bei Olympi-
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schen Winterspielen wurde anfangs nur auf der Großschanze gesprun-gen.“ Jahrzehntelang hatten sich vor allem die Skandinavier erfolgreich gegen die Versuche, olympische Medaillen für „Weitenjäger“ zu vergeben, gewehrt. 1964 war das Springen von der Großschanze erstmalig olym-pisch. Solche Mängel festzustellen, reduziert in keiner Weise das Kom-pliment für ein rundum gelungenes Olympiabuch, das sicher aufs „Trepp-chen“ gelangt wäre, wenn das IOC dafür Medaillen vergeben würde.
Klaus Huhn
Kristin Otto, Heinz Florian Oertel; Turin 2006, Berlin 2006, 240 S. 19,90 €
Skisport in der bildenden Kunst Von GÜNTER WITT
Dem Autor ist ein Meisterwerk gelungen, ebenso meisterhaft von einem renommierten Leipziger Verlag gestaltet. Mehr als 100 Reproduktionen von Kunstwerken - fast alle großformatig und (sofern die Originale es her-geben) farbig - stellen eine Augenweide dar und bieten viele Überra-schungen schon beim ersten "durchblättern" des Bildteils, der in sieben Abschnitte gegliedert ist: Anfänge des Skisports / Freizeitsport / Lernen und Üben / Langlauf / Alpiner Skilauf / Skispringen / Humor. So wird die ganze Dimension des Skisports erfasst - historisch und weltweit sowie un-ter Berücksichtigung aller Genres bildkünstlerischer Darstellung von Ma-lern, Bildhauern, Grafikern und Karikaturisten samt deren unterschiedli-chen "Handschriften". Neben allgemein bekannten Künstlern, von denen aber Skibilder sonst wenig Beachtung finden (z. B. Ernst Ludwig Kirchner, Edvard Munch, Heinrich Vogeler, Heinrich Zille), sind auch weniger be-kannte Künstler vertreten, denen bemerkenswerte Kunstwerke rund um den Skisport gelungen sind. Dazwischen sind Aussprüche zum Sport und zum Verhältnis Kunst - Sport platziert, die auch eine Verwandtschaft von Kunst und Sport andeuten, ohne Identität zu behaupten, wie in der Litera-tur ab und an vertreten worden ist.
Der Autor geht von einem Gedanken des Begründers der Olympischen Spiele der Neuzeit aus: "Den Sport kann man als Hervorbringer der Kunst und als Gelegenheit für die Kunst betrachten" und schließt seinen Fach-kommentar mit dem Ausspruch eines Skilauf-Enthusiasten, der überzeugt war, das Skilaufen werde "solange die Berge stehen und der Schnee fällt, ... der König des Sports bleiben." Günter Witts Fachkommentar zeugt von den tiefgründigen wissenschaftlichen und persönlichen Bemühungen des Autors, Sport und Kunst zum gegenseitigen Nutzen zu verbinden - Bemü-hungen, die während seiner vieljährigen Hochschullehrertätigkeit an der Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig in der erfolgreichen Etab-lierung einer Wissenschafts- und Lehrdisziplin "Ästhetik des Sports" und in der umfangreichen Sammlung "Sport in der bildenden Kunst" ihren
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Niederschlag gefunden hatten - allerdings mit der Abwicklung der DHfK li-quidiert wurden. In Zeiten erbarmungsloser Kommerzialisierung des Sports können solche Bücher vielleicht auch eine Art Trostpflaster für ge-schundene Seelen treuer Sportanhänger sein.
Günther Wonneberger
Günter Witt: Skisport in der bildenden Kunst. Edition Leipzig 2005, 25 €.
Typisch Täve
ANDREAS CIESELSKI (Hrg.)
Wenn Klaus Köste und Klaus Ullrich, die 2002 das neunte Buch über Buch herausbrachten, richtig gezählt haben, wäre dies das Zehnte. Das könnte Fragen aufwerfen: Noch eins? Nicht längst alles gesagt? Die Ant-worten, die Herausgeber Cieselski gibt, sind überzeugend und gipfeln in einem überzeugenden „Ja“. Demzufolge: Fragt mich einer, der die neun gelesen hat, ob es sich „lohnt“ zum zehnten zu greifen, antworte auch ich mit einem vernehmlichen „Ja“. Cieselski, früher im Dress der legendären Berliner Post-Mannschaft selbst im Rennsattel, hat nicht nur einen guten Titel gefunden, sondern dessen Inhalt auch realisiert. Neue Autoren, neue Aspekte, aber alles „typisch Täve“. Der Präsident des Radsportverbandes Sachsen-Anhalts, Günter Grau, recherchierte Täves Kindheit und verdient dafür Bewunderung. Christine Fischwasser „outet“ sich als eine Verehre-rin des Weltmeisters, deren „Anhimmelung“ nie nachließ. Werner Kirch-hoff liefert Auskünfte über die „Mit Täve zur Tour“-Reisen, Heinrich Fink versichert, dass Täve „politisch immer auf Friedensfahrtkurs“ rollte, der Herausgeber erinnert an seinen früher erschienenen Titel „Das Wunder von Warschau“, Heinz Dietrich „enthüllte“ Täves Rolle bei einem chinesi-schen Festessen, Wolfgang Lichtenberg beschrieb „Meine Sonntage mit Täve“ und und und. Und auf all den Seiten auf Hochglanzpapier Stapel von Bildern und darunter viele bislang nie veröffentlichte.
Und dann ein zweiter Teil, den der Herausgeber irreführend „Anhang“ nennt. Es ist viel eher eine ebenso lesenswerte Dokumentation. Die zum Beispiel daran erinnert, dass Täve auch eine deutschlandweite spektaku-läre Unterschriftenaktion gegen den Irak-Krieg in die Wege geleitet und zum Erfolg geführt hatte. Zugegeben, nicht alle waren davon begeistert - so zieh NOK-Präsident Steinbach sie als „amerikafeindlich“ und nannte sie obendrein „parteipolitisch motiviert“ -, aber der Zuspruch, den sie bei den deutschen Sportlern fand, markierte ein belangvolles Kapitel Sportpo-litik. Oder: Täves Erklärung, warum er auf den kostenlosen Trip im Bun-desregierungsjet zum Fußball-WM-Finale nach Yokohama verzichtete und stattdessen nach Königswusterhausen fuhr, weil dort die Paul-Dinter-
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Halle eingeweiht wurde. Oder Täves Radtour zusammen mit Rudi Altig zu Gunsten krebskranker Kinder. Dazu Reden aus dem Bundestag, Skizzen seines Tuns dort. Der Untertitel des Buches lautet: Eine Hommage an ei-nen 75jährigen. „Hommage“ ist halbwegs genau übersetzt „Huldigung“. Dieses ist eher eine „Würdigung“, noch genauer eine „Ehrung“. Und zwar eine gelungene!
Klaus Huhn
A. Cieselski (Hrg); Typisch Täve; Kückenshagen 2006, 166 S. 14,80 €
Erich Schulz: Sein Leben
für den Radsport
Von ANDREAS CIESELSKI (Hrg.)
Noch heute erinnert ein Stein an der Landstraße Halle-Eisleben an den tragischen Augenblick, an dem Erich Schulz am 11. Juli 1956 nach einem Sturz ums Leben kam. Nun hat Andreas Cieselski dafür gesorgt, dass se-riöse Radsporthistoriker sein Leben nachverfolgen können. Zugegeben: Es gibt nicht mehr so viele, die sich an diesen großen Radrennfahrer er-innern, aber ebenso zuzugeben ist deshalb auch: Es wurde höchste Zeit, seinem Leben neben jenem Stein ein Denkmal zu setzen, das mindestens in allen deutschen Radsportarchiven künftig seinen Platz finden wird und mit Sicherheit aber auch in den Bücherregalen vieler Radsportfans. Erich Schulz schrieb viele Kapitel DDR-Radsportgeschichte, tatsächlich so vie-le, dass es eines Buches bedurfte, um sie zusammenzutragen. Der das tat, saß hunderte Male in Schiedsrichterbegleitwagen oder stand am Ziel, um den Einlauf zu notieren: Günter Kumm. Aus den Schulz’ zahllosen Triumphen einige herauszusuchen, fordert akkurate Ranglistenforschung. Immerhin: Im Herbst 1950 demonstrierte die junge Sportbewegung auf überzeugende Weise ihre Absicht, neue Wege einzuschlagen. Steherren-nen - nur ein Beispiel - sollten nicht mehr den Profis vorbehalten bleiben und so fand am Vorabend der Wahlen 1950 auf dem Leipziger Scheiben-holz vor 40.000 Zuschauern das erste Amateursteherrennen in Deutsch-land statt. Sieger: Erich Schulz. 1953 fungierte er als Kapitän der DDR-Friedensfahrtmannschaft, schied aber nach einem Sturz aus. Die DDR-Rundfahrt dieses Jahres gewann die DDR-Nationalmannschaft mit Schulz als Kapitän und die Einzelwertung einer aus dem den Radsporthimmel stürmenden „Nachwuchs“: Gustav-Adolf Schur. Noch einmal feierte er ei-nen umjubelten Triumph an der Spitze seiner Post-Mannschaft, als er bei der DDR-Rundfahrt 1956 bei tosendem Unwetter das Mannschaftszeitfah-ren gewann. Als er nach dem tragischen Sturz in Berlin zur letzten Ruhe
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gebettet wurde, ließ der Sieger der DDR-Rundfahrt, der Belgier Alfons Hermanns, seinen goldenen Siegerkranz als letzten Gruß in die Gruft fol-gen. Damals war das so: Unter denen, die die Totenwache hielten, war auch der DDR-Minister für Post- und Fernmeldewesen, Burmester.
1957 wurde zum ersten Mal ein Erich-Schulz-Gedenkrennen ausgetra-gen, 33 Jahre lang konnte es an ihn erinnern. Danach fehlte es an Sponsoren. Nun erinnert wenigstens ein Buch an ihn.
Klaus Huhn
A. Cieselski; Erich Schulz: Sein Leben für den Radsport; Kückenshagen; 168 S. 12,50 €
Schweiß - Eine Autobiografie
Von KLAUS AMPLER
Es sprach sich herum, dass „Neppe“ seine Erinnerungen zu Papier ge-bracht hatte, Genaueres erfuhr man nur mühsam. Vielleicht neugieriger als andere - weil ich einst eine Broschüre über seinen steilen Karrierebe-ginn geschrieben hatte -, bemühte ich mich bei meinem Buchhändler, doch erwies sich der Kauf als der mühsamste Bucherwerb meines Le-bens. So dauerte es, bis ich das stattliche Buch in Händen hielt. Der schon auf der ersten Innenseite angekündigte Verweis auf umfänglich und vom Autor mit viel Dank verwendete „Stasi“-Akten ließ mich stutzen und als ich den Buchdeckel schloss, geriet ich ins Nachdenken. Der Autor hat-te mir im Vorwort versprochen: „Ich habe die meiner Meinung nach wich-tigsten Ereignisse zusammengetragen, anhand derer auch die Entwick-lung des Radsports im Osten Deutschlands nachvollzogen werden kann“, aber ich blieb unschlüssig, ob er mir tatsächlich ein halbwegs komplettes Kapitel DDR-Sportgeschichte präsentieren wollte. Seine Urteile über die „Mächtigen des DDR-Sports“: „Ohne jegliche Ahnung hantierten diese Leute auf dem Gebiet des Sports herum - allen voran Manfred Ewald. Ich wurde immer verbitterter und meine ursprünglich 300%ige Motivation, mit der ich einst meine Laufbahn ... begonnen hatte, war auf Minimalniveau gesunken“ waren vernichtend. Natürlich gab es an Manfred Ewald - Frie-de seiner Asche - einiges auszusetzen, aber „ohne jegliche Ahnung“? IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch hielt viel von Ewald und Kanadas berühmtester Sportjournalist Doug Gilbert widmete ihm in einem in den USA erschienenen Buch über den DDR-Sport ein ganzes Kapitel voller Komplimente. Amplers Meinung kennenzulernen, ist das Anliegen seiner Memoiren, aber oft keimen Zweifel. Obendrein geriet der Rezensent in ei-ne Klemme, weil er zuweilen als Präsident des DDR-Radsportverbandes fungiert hatte und von Ampler konkret beschriebene Fakten - behutsam formuliert - besser und anders kennt. Das nährt Zweifel am Anliegen des
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Autors. So bleibt es ein vielleicht subjektives Urteil, wenn der Rezensent bekennt: Ich habe Klaus Ampler über Jahrzehnte nicht nur wegen seiner Moral im Sattel und seiner Konsequenz als Trainer geschätzt und werde es auch künftig tun. Indes: Seine Memoiren haben nur wenig von dieser Achtung in mir erhärten können. Dass Klaus Ampler eines Tages die DDR hatte verlassen wollen, hatten wir alle lange vor dem Erscheinen dieses Buches gewusst und nie auf eine Goldwaage seiner Haltung gelegt. Zu oft hatte er später seinen Willen und seine Moral bewiesen, die DDR mit Er-folgen zu vertreten. Oder wirklich nur sich selbst? Ich bleibe vorerst bei meiner Meinung.
Klaus Huhn
Klaus Ampler, Mein Leben für den Radsport; Gotha 2005; 260 S.;16,50 €
Das Wunder von Warschau
Von ANDREAS CIESIELSKI
Die nachträgliche und ganz offenkundig zweckdienliche Stilisierung des Weltmeistertitels der Nationalelf im Fußball 1954 aus der Bundesrepublik Deutschland zum „Wunder von Bern“ forderte den Autor Andreas Cie-sielski heraus, seinen Bericht über die Friedensfahrt „Prag – Berlin – War-schau“ 1955 und den begeisterten Empfang von Gustav-Adolf (Täve) Schur als Sieger dieser Fahrt im Armeestadion von Warschau als das „Wunder von Warschau“ zu bezeichnen. Immerhin waren damals erst zehn Jahre nach dem von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieg vergangen, die schier unglaublichen Zerstörungen des Landes und be-sonders von Warschau erst teilweise beseitigt. Obwohl das bis dahin Er-reichte jedem nicht nur Respekt und Hochachtung abnötigte. Schlimmer noch: Nach dem Überfall und den unfassbaren Verbrechen an den Bür-gern Polens – drei Millionen polnische Juden und drei Millionen Polen, je-der Zehnte, waren von der deutschen Wehrmacht und der SS ermordet worden – konnten Furcht, Ablehnung und Misstrauen gegenüber Deutsch-land und den Deutschen in historisch so kurzer Zeit nicht überwunden werden. Wenn auch – entsprechend dem Potsdamer Abkommen, Ab-schnitt IX – am 6. Juli 1950 im „Abkommen zwischen der DDR und der Republik Polen über die Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze“ die Oder-Neiße-Grenze als „unantast-bare Friedens- und Freundschaftsgrenze“ völkerrechtlich verbindlich ver-einbart worden war, hatten jedoch Politiker des anderen deutschen Staa-tes das Abkommen als „Verrat“ und die dafür Verantwortlichen in der DDR als „Verräter“ beschimpft. Seit 1950 nahmen zwar jeweils DDR-Mannschaften an der Friedensfahrt teil. 1951 belegte sie Rang zwei in der
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Mannschaftswertung, 1952, als die Fahrt das erste Mal über deutschen Boden führte, den dritten und 1953 – auf den letzten Etappen lediglich mit den vier Fahrern Schur, Trefflich, Meister I und Dinter – den ersten Platz. Alle Athleten, Trainer und Betreuer hatten in diesen Jahren geholfen, das Vertrauen von Millionen Sportbegeisterten in den Friedenswillen der Deutschen aus der benachbarten DDR zu fördern. Und trotzdem war es nach all den leidvollen Erfahrungen so selbstverständlich nicht, einem Deutschen 1955 solch einen begeisterten Empfang in Warschau zu berei-ten. Dass Täve Schur sowohl durch seine Leistungen als auch und vor al-lem durch sein Verhalten das mit ermöglichte, wird in diesem Buch, an-lässlich des 75. Geburtstages von Täve erneut vorgelegt, deutlich und in dem exakt zum 75. erschienenen Titel „Typisch Täve“ durch viele Gefähr-ten und Zeitzeugen nachgewiesen.
Margot Budzisch
Ciesielski, A.: Das Wunder von Warschau. Kückenshagen 2005, 131 S., 9,90 €
DER TRAINER
Von PETER BECKER
Peter Becker, einer aus der großen Schar engagierter und renommierter Radsporttrainer in der DDR, hat sich hingesetzt und ein Buch von 225 Sei-ten über die in mehrfacher Hinsicht schwierige Tätigkeit des Trainers ge-schrieben. Als Fundus dafür dienten ihm seine eigenen Erfahrungen und sein Berufsleben im Radrennsport. Er war über 40 Jahre Trainer nicht we-niger Eleven, die zu nationalen und später auch zu internationalen Meriten gelangten - einige in verschiedenen Disziplinen des Radrennsports sogar bis zu Weltmeister- und Olympiaehren. Im Anhang des Buches sind die wichtigsten Ergebnisse der von ihm betreuten Sportler in nationalen und in-ternationalen Rennen, besonders die vom Olympiasieger, mehrfachen Weltmeister und Tour de France-Sieger Jan Ullrich, aufgelistet.
Peter Becker (Jahrgang 1938) absolvierte von 1958 bis 1962 die weltweit renommierte Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, die 1990 vom Freistaat Sachsen „abgewickelt“ wurde. Seine Ausbildung zum Diplomsportlehrer befähigte ihn mit seinen praktischen Erfahrungen bei vielen Radrennen zur Übernahme der ersten Radsportklasse in der DDR an der KJS Berlin und zur Mitwirkung in der Jugendkommission des DRSV der DDR. In diesem Rahmen sowie in Trainerkonferenzen, Weiter-bildungen und in vielen Analysen brachte er mit anderen seine konstrukti-ven Gedanken für eine wirksame Trainings- und Erziehungsarbeit, für die Vervollkommnung der Kinderprogramme und der Rahmentrainingspläne
Kommentar [a1]:
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im Nachwuchsbereich ein. Solche Arbeitsgrundlagen im Verband, von Jahr zu Jahr nach den neuesten Praxisauswertungen und wissenschaftli-chen Ergebnissen fortgeschrieben, führten zu einer immer sicherer wer-denden Aufeinanderfolge von Anforderungen in den einzelnen Altersklas-sen bis in den Hochleistungsbereich hinein.
Ohne Zweifel der Begabteste war Jan Ullrich. Ihn bildete ab 1983 zu-nächst Peter Sager von der SG Dynamo Rostock-West aus, ein Übungs-leiter, der noch heute nach geeigneten Kindern Ausschau hält und ihnen dann die perspektivisch so bedeutsamen ersten Grundlagen der Sportart vermittelt. Im September 1987 kam das außerordentliche Talent Jan Ull-rich als Dreizehnjähriger an die KJS Berlin. Und von diesem Zeitpunkt an führte ihn der Autor in den Bereich der Erwachsenen und bereitete ihn schließlich selbst weiter auf Höchstleistungen vor. Nach den damals aktu-ellen Erkenntnissen zum biologischen Alter junger Sportler war Jan Ullrich ein Spätentwickler. Deshalb hieß es, sich in Geduld zu üben, die Leis-tungsfähigkeit durch umfangreiche, abwechslungsreiche, allgemeinathle-tische Anforderungen und ein vielseitiges spezifisches Training Schritt für Schritt zu steigern, den Wettkampfeinsatz im Gelände, auf der Bahn und auf der Straße überlegt zu dosieren, die Fahrtechnik und taktische Fähig-keiten ständig zu vervollkommnen, kurz: solide Grundlagen für spätere Spitzenleistungen zu schaffen und nicht schnelle Erfolge anzupeilen.
Becker erweist sich als kompetenter, einfallsreicher und kundiger Trainer, der für ein großes Talent eine Aufeinanderfolge von jährlich deutlich er-höhten Reizsetzungen (in Umfang und Intensität) konzipiert, entspre-chende Erholungsphasen einbaut, stets orientiert am aktuellen individuel-len Leistungsstand, den er mehrmals im Jahr an einer komplexen Leis-tungsdiagnostik abliest sowie an Leistungskontrollen und Wettkampfer-gebnissen. Richtschnur für das Training und den individuellen Leistungs-aufbau sind für Becker immer die Erfordernisse in den entscheidenden in-ternationalen Rennen. Dieses Konzept behält Becker mit Ullrich auch nach dem grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland 1989/90 und dem Wechsel im Jahre 1995 von Ullrich zu den Professionals bei, wobei sich der Trainer nicht als Coach im westlichen Sinne, sondern als der das Training Planende, Organisierende, Überwa-chende, Auswertende versteht, und nicht zuletzt als Pädagoge und Psy-chologe - von seinen Sportlern stets Eigenverantwortung, Konsequenz, Selbstdisziplin, Ehrlichkeit fordernd. Man liest, dass er stets ein streitbarer und daher unbequemer Trainer für alle Funktionäre und Verbandstrainer war, insbesondere für jene, die glaubten, über seine Schützlinge vom Grünen Tisch aus entscheiden zu können.
Schwere Stürze, Verletzungen, Krankheiten und eine für einen Sportler dieser Kategorie vermeidbare Gedankenlosigkeit (Einnahme einer stimu-
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lierenden Droge auf einer Party mit zweifelhaften Freunden während einer krankheitsbedingten längeren trainings- und wettkampffreien Zeit) führten zu Unterbrechungen im langfristigen Leistungsaufbau mit spürbaren Rückschlägen in der Leistungsentwicklung. Im Jahr 2003 trennten sich dann die Wege des Sportlers Jan Ullrich und seines väterlichen Trainers. Becker entließ Ullrich auf dessen Wunsch in die Selbständigkeit, ihm ans Herz legend, sein noch nicht voll ausgeschöpftes Potenzial zu nutzen.
Das Buch gibt Einblicke in die Gedankenwelt eines Trainers, und es könn-te eigentlich noch mehr davon vertragen. Hoffentlich analysiert Becker später, nach dem Karriereende von Ullrich dessen Gesamttraining für die Erleuchtung späterer Radsportasse, wie es Drechsler/Jeitner am Training von Heike Drechsler für die Leichathletik getan haben. In diesem Buch kann man das Training von Jan Ullrich nur unkommentiert auf einer beige-fügten CD erfassen. Die CD enthält auch drei Lieder des Berliner Lieder-machers Arno Schmidt. Das für dieses Buch komponierte Sportlied „Sie-gen“ (Text Ed Stuhler) unterstreicht den pädagogischen Grundgedanken von Becker als Botschaft an seine Sportler: Siegen erfordert die ständige Auseinandersetzung mit sich selbst. Wolfgang Taubmann
Peter Becker: Der Trainer, Kückenshagen 2004, 225 S.,21,95 €
Julius Feicht – mein Leben für den Schwimmsport
Von DIETMAR SCHÜRTZ (Regie)
Der von den Film- und Videoamateuren BERLIN e.V. gedrehte Videofilm (38 Min.) zeichnet das Leben des Schwimmsportlers und späteren Schwimmtrainers Julius (Jule) Feicht nach, der – inzwischen mehr als 80 Jahre alt – heute noch regelmäßig trainiert und national wie international zu den besten Schwimmern seiner Altersklasse gehört.
In diesem Film berichtet Jule Feicht – unter Verwendung einer Fülle von Archivmaterial – über seine Generation im Zweiten Weltkrieg, über den schweren Anfang im Sport nach dem Ende dieses Krieges, über die Auf-bauleistungen, die Berliner Schwimmsportler erbrachten, um zum Beispiel das 1951 eingeweihte Karl-Friedrich-Friesen-Schwimmstadion zu errich-ten, und über die ersten Erfolge der Schwimmsportler aus der DDR bei in-ternationalen Meisterschaften. Selbstverständlich werden das selbstbe-wusste aber langwierige Anrennen gegen die Alleinvertretungsanmaßung der einstigen Bundesrepublik Deutschland und das fast unendlich schei-nende Mühen um die gleichberechtigte Teilnahme der Athletinnen und Athleten aus der DDR am weltweiten Sportgeschehen ebenso gegenwär-tig wie die Sternstunden des Schwimmsports der DDR zunächst bei Eu-ropa- und später bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen.
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Beeindruckend: Jule Feicht als Trainer und dann als Cheftrainer des Deutschen Schwimmsport-Verbandes (DSSV) inmitten seiner internatio-nal renommierten Schützlinge und danach inmitten des Nachwuchses, als Trainer im Grundlagen- und Aufbautraining derjenigen, die sich erst an-schickten, den Staffelstab vorangegangener erfolgreicher Generationen von Schwimmsportlern zu übernehmen. Der Film dokumentiert, dass eine ganze Generation der besten und erfahrensten Trainer – wie Jule Feicht in Berlin, Hannes Horlbeck in Erfurt und viele andere – sich schließlich um das durch nichts zu ersetzende und in keiner Weise nachzuholende Grundlagen- und Aufbautraining der Heranwachsenden bemühten und damit die Voraussetzungen für einen exzellenten aber behutsamen lang-fristigen Leistungsaufbau späterer Spitzenathleten schufen.
Widrigkeiten und Widersprüche der Entwicklung des Sports, insbesondere des Schwimmsports, werden ebensowenig ausgespart wie die des beruf-lichen Werdeganges von Jule Feicht. Das entscheidende und nachhaltig beeindruckende dieses Porträts ist aber, niemals aufzugeben und sich und den eigenen Ansprüchen treu zu bleiben.
Hasso Hettrich
Julius Feicht – mein Leben für den Schwimmsport. Regie: Dietmar Schürtz. Berlin 2004 (System VHS, Produktion FiViA)
„BOXING special“
Das klassische Amateurboxen – nach neuer Definition das Olympische Boxen – läuft Gefahr, sich aus dem olympischen Programm zu verab-schieden und in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Nach dem Ab-gesang der hochkarätigen internationalen Magazine der Welt- und Euro-pa-Amateurbox-Föderation (AIBA und EABA) im Jahr 1997 sowie dem Verzicht der Mehrzahl nationaler Boxmagazine auf Berichte aus der Welt des Amateurboxsports und seiner Föderationen reagierten 1997 internati-onal engagierte und namhafte Verfechter eines weltweit angesehenen Amateurboxsports mit der Herausgabe einer Informationszeitschrift „BOXING special“ im Stile eines Branchenmagazins mit einer dazugehö-rigen Internet-Plattform (www.boxingspecial.org.de).
Neben der Berichterstattung über Welt- und Europameisterschaften aller Altersklassen mit kompletten Statistiken der Medaillengewinner sowie kompetenten inhaltlichen Einschätzungen, die sonst nirgendwo mehr zu finden sind, wurden auch Informationen über das zunehmend in die Kritik geratene Innenleben der AIBA und EABA veröffentlicht. Angesichts der Auseinandersetzungen zwischen der Führung der AIBA und dem Interna-tionalen Olympischen Komitee (IOC) über die Zukunft des Boxens als at-
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traktive olympische Sportart seit 1904 entwickelte sich „BOXING special“ im Laufe der Jahre zu einem Newsletter, das sich auch dem Kampf gegen Korruption, Misswirtschaft und alle Formen der Manipulation in der AIBA und EABA wendet und sie meist schonungslos aufdeckt. Dabei werden Postengeschacher, Regelverstöße und finanziell fragwürdige Praktiken angeprangert. Zugleich werden Bestrebungen unterstützt, wie der interna-tionale Amateurboxsport aus der Misere herausgeführt werden kann und Perspektiven dafür aufgezeigt.
Nach den Auseinandersetzungen mit dem IOC über die Erfüllung von Auf-lagen an die AIBA für die Erhaltung des Boxens als Bestandteil des Olympischen Programms befasst sich „BOXING special“ aktuell mit dem Gerangel um die Durchführung eines Kongresses der EABA zur Schaf-fung wirkungsvoller neuer Leitungsstrukturen und einer arbeitsfähigen Führung, nachdem den bisherigen „Machthabern“ der wichtigsten Konti-nentalföderation der AIBA auf dem Außerordentlichen Kongress in Prag das Vertrauen entzogen und eine neue Führungsriege gewählt wurde. Dazu wurden interessante Dokumente veröffentlicht.
„BOXING special“ war zunächst als ein Sprachrohr der neu gebildeten „European Union Boxing Group“ gegründet worden. Es hatte 1997 vor al-lem das Ziel, den Boxsport in Westeuropa in der bevorstehenden Ausein-andersetzung mit der Übermacht der neuen Staaten aus der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawiens vor dem Niedergang zu bewahren. Später kam als sportpolitisches Ziel hinzu, den westeuropäischen Boxverbänden in der EABA und der AIBA ein größeres Gewicht zu verleihen.
Bisher erschienen zusammen mit mehreren Sonderausgaben 75 Newslet-ter. Viele Jahre bestand die Redaktion aus dem Niederländer Henk Los, dem Engländer Rodney Robertson, dem Dänen Sören B Thomsen und Karl-Heinz Wehr aus Berlin, der über lange Jahre Vizepräsident und Ge-neralsekretär der AIBA und Vizepräsident der EABA war. Karl-Heinz Wehr zeichnet heute allein für die Herausgabe verantwortlich und bezieht zu-nehmend internationale Autoren ein.
Dietrich Denz
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GEDENKEN
Brief an Rudi Hellmann
Lieber Rudi,
diese Zeilen erreichten Dich nicht mehr, der Tod war schneller. So blieb mir nichts anderes, als den Brief Deiner Urne beizugeben. Ich hatte Dich kurz vor Deinem Tod noch angerufen, aber Du warst an jenem Tag schon nicht mehr in sonderlich guter Verfassung. Eichler und ich hatten den Termin unseres Besuchs bei Dir schon notiert - aber der Tod war erbar-mungslos und schneller.
In Situationen wie diesen weiß man plötzlich so genau, was man dem an-deren noch alles erzählen wollte - und bleibt dann damit ratlos am Gra-besrand stehen...
Wir sind ein langes Stück Lebensweg zusammen gegangen. Als Genos-sen und das war zwischen uns mehr als eine Floskel. Wir waren deswe-gen nicht immer einer Meinung und hatten sogar im Sport unterschiedli-che Interessen. Dich traf man oft am Fußballplatz, mich am Ziel von Rad-rennen. Jedes Jahr im Mai kreuzten sich diese Wege, kam der Tag, an dem wir in einer Kabine in das gleiche Trikot schlüpften und gemeinsam dem Ball hinterherjagten. Das war am Ruhetag der Friedensfahrt, wenn die DDR-Tross-Mannschaft gegen den „Rest der Welt“ antrat und der kleine Belgier Loode de Pooter meist das gegnerische Tor hütete. Mal spielten wir in Aue, mal in Leipzig. Oft gewannen wir, aber als in der ande-ren Elf ein ehemaliger tschechoslowakischer Nationalspieler stand, der später Fernsehreporter geworden war, erzielte der allein vier Tore und wir hatten keine Chance. Aber wir hatten unseren Spaß und saßen abends mit Schlips und Kragen an den Tafeln des Empfangs, den die Regierung der DDR für alle Teilnehmer der Friedensfahrt zu geben pflegte. Und wir hatten manch fröhliches Gespräch an solchen Abenden, mit Rennfahrern, aber auch mit Mechanikern, Masseuren und Mannschaftsleitern. Ich will nicht abschweifen, aber dieser Tage wurde ich daran erinnert, als ich Klaus Amplers Autobiografie im Buchladen bestellt und der Verlag den verwunderten Buchhändler befragt hatte, ob der Käufer ein Klaus Huhn sei. Dem wollte man es nicht ausliefern. War mir noch nie passiert. Als ich es dann doch in den Hand bekam, erfuhr ich, dass Klaus Ampler - Du er-innerst Dich sicher noch der turbulenten Spreedampferfahrt, auf der wir 1963 seinen Sieg feierten - angeblich ein hartnäckiger Widerstandskämp-fer gegen die DDR gewesen sei. Ich habe nach 1990 oft gesagt, dass die Rückwende der größte Charakterstriptease der Geschichte gewesen war.
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Manches, was man uns dabei vorführte, überraschte uns vielleicht, brach-te uns aber nicht aus dem Tritt. Ähnlich wie mit Ampler erging es uns ja auch mit Buschner, den ich nicht selten in Deinem Vorzimmer traf und der an seinem Geburtstag nur üble Schimpfworte für uns fand. Ob Autobio-grafien oder Haltung - der Markt löhnt vieles und wir hatten uns daran ge-wöhnt. Und zwar an die unerschütterliche Gesellschaft vieler Gefährten der Vergangenheit, die sich und uns treu geblieben waren, auch wenn sie es dabei nicht immer leicht hatten. Klaus Köste fällt mir da ein, der an Täves Seite im Bundestag für unsere Partei wirkte und die Kampagne der deutschen Sportler gegen den Irak-Krieg bravourös führte, so erfolgreich, dass sich der NOK-Präsident für einige unpassende Worte entschuldigen musste. 1972 hatte Köste in München Gold erturnt. Das war als Deine Tochter Silber holte und auch für diese beiden zum ersten Mal das DDR-Banner in der BRD olympisch gehisst werden musste. Ja, ich schreibe bewusst „musste“, denn wir beide haben auch so manche Stunde ge-meinsam erlebt, in der dieses Recht mit Gewalt ignoriert wurde. Das war noch zu Zeiten, als man zwar riet, den „Brüdern und Schwestern“ Kaffee zu schicken, aber die Polizei aufmarschieren ließ, wenn die Flagge dieser Brüdern und Schwestern gehißt wurde.
Bei den Olympischen Winterspielen 1968 in Grenoble hatten sie unseren Rodlerinnen Betrug durch Kufenheizen vorgeworfen und auch da waren wir gemeinsam losgezogen, um die Attacke scheitern zu lassen. Am Ende hatte der US-amerikanische IOC-Präsident Avery Brundage die angebli-chen Betrügerinnen demonstrativ zu einem Dinner eingeladen, was die BRD-Medien natürlich verschwiegen, obwohl sie doch sonst immer schworen, nur Du verbotest den Journalisten - im Namen der Partei - mit-zuteilen, was sich so tat. Ich erinnere mich auch noch an den Tag, dass mir Erich Honecker ausrichten ließ, ich sollte nach Innsbruck fahren, wo Harry Glass bei den sogenannten Olympia-Ausscheidungen schwer ver-unglückt war, im Krankenhaus lag und umsorgt werden sollte.
Je länger dieser Brief wird, desto mehr gemeinsame Erlebnisse fallen mir ein. Ja, auch die Skatrunden, in denen Du meist der bessere warst, wie auch auf dem Fußballrasen. Viel wichtiger aber: So schwer dieser Ab-schied fällt, bleibt es immer der Abschied von einem reichen Leben, auch wenn wir beide nie das waren, was heutzutage die meisten unter „reich“ verstehen, also vermögend und an Börsen spekulierend.
Unsere Freundschaft war reich durch unsere Überzeugung - und die Kraft unserer Gemeinsamkeit!
Dein
Klaus Huhn
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Siegfried Geilsdorf
1. April 1929 - 5. Februar 2006
Seine ersten Verdienste erwarb er sich als Forstingenieur. Vielleicht brachte er aus dem Wald die Ruhe mit, die er in jedem Kreis verbreitete, in dem er auftrat. Vielleicht auch die Eigenschaft zuhören zu können, die ihn ebenso auszeichnete. Der Beginn seiner „sportlichen Laufbahn“ ist nicht an einem Datum festzumachen. Seine Liebe gehörte dem Sport und dort schätzte man ihn - auch wegen der schon erwähnten menschlichen Eigenschaften. 1966 wählte man ihn zum Vorsitzenden des Bezirksvor-standes Dresden des DTSB. Die Erfolge der Dresdener Bezirksorganisa-tion, besonders im Kinder- und Jugendsport, waren nicht zuletzt auch sein Verdienst. Aber auch im Leistungssport konnten die Dresdner auf Medail-len und Schlagzeilen verweisen. Mit seinem Kollektiv - sein Stellvertreter Werner Fritzsche schwärmt heute noch voller Stolz von der gemeinsamen Arbeit - konnte er viele Ziele erreichen.
1975 wurde er zu einem der Vizepräsidenten des DTSB gewählt. Zuerst war er für den Kinder- und Jugendsport verantwortlich, später für die Gruppe der nichtolympischen Sportarten zuständig. In dieser Funktion hatte er manche komplizierte Situation zu meistern, denn viele Funktionä-re der Sportarten, die faktisch nicht mehr an Welt- und Europameister-schaften teilnahmen, hatten oft verständliche Probleme, sich damit abzu-finden. Siegfried Geilsdorf mühte sich um Ausgleich und suchte ständig nach Möglichkeiten diesen Sportarten Chancen zu eröffnen. Realität war, daß die dem DDR-Sport zur Verfügung stehenden Devisen nicht für die intensive Förderung aller Sportarten reichten. Dass man deshalb unter-schiedliche Förderstufen schuf, wurde lange in den BRD-Medien mit vie-len absurden Argumenten angeklagt. Siegfried Geilsdorf war oft der „schwarze Mann“. Auch das trug er mit der ihm eigenen Gelassenheit, er-innerte allerdings an die Vorwürfe, als die BRD 1997 die einstigen DTSB-Strukturen nicht nur kopierte, sondern noch in den Schatten stellte.
Seiner politischen Überzeugung blieb Geilsdorf bis zum letzten Tag sei-nes Lebens treu.
Seit 1990 gehörte Siegfried Geilsdorf dem Sprecherrat des Berliner Freundeskreises der Sport-Senioren an. Auch hier bewährten sich seine Ideen, sein Tatendrang und seine Bereitschaft, anderen zu helfen. In vie-len Aktionen des Freundeskreises erkannte man seine Handschrift. Er wird auch dort sehr vermisst werden.
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Erhard Richter
JOHANNES WEBER
22. August 1935 – 8. Januar 2006
Als ich am 2. Januar 1966 meine Facharztausbildung Sportmedizin in Kreischa begann, sagte man mir, der Chefarzt sei im Urlaub, sein Vertreter sei Oberarzt Dr. Weber. Ich bräuchte mich bei ihm nicht vorzustellen, er wüsste mich schon zu finden. Noch auf der Suche nach meinem Arbeits-platz, begegnete ich einem Kollegen, der die Treppe hinaufeilte. Als er mich sah, hielt er inne und sagte: „Sie sind bestimmt Kollege Donath aus Halle. Ich bin Weber und bearbeite hier seit Mai 1965 die Sporttraumatologie. Will-kommen in unserer Mannschaft. Wir haben viel zu tun, wir machen etwas, was es bisher noch nicht gibt, Sportmedizin.“ Selten war ich einem so freundlichen Oberarzt begegnet. Der erste Eindruck hielt vierzig Jahre stand.
Wir lernten bei Hannes Weber die traumatologische Seite der Sportmedizin. Mit großer Geduld führte er uns in die Röntgendiagnostik und in den Verlauf der Reparationsvorgänge von Geweben ein. Beeindruckend war, wie er die medizinischen Befunde mit den vorangegangenen sportartspezifischen Be-lastungen verband. Er suchte stets nach den Ursachen der Fehlbelas-tungsschäden und beeinflusste auch entsprechend die trainingsmethodi-schen Vorgänge, obwohl es nicht immer einfach war, die Trainer zu über-zeugen, die erforderlichen Trainingspausen zu gewähren.
OMR Dr. med. habil. Johannes Weber stammte aus Ulbersdorf in Sachsen. Das war für ihn Veranlassung, monatlich mehrmals die Entfernung Kreischa-Ulbersdorf-Kreischa, etwa 80 km, mit dem Rennrad zurückzule-gen. Selbstverständlich konnte sich der Deutsche Radsport-Verband der DDR einen solchen Arzt nicht entgehen lassen. Somit war er mehrere Jah-re Verbandsarzt im Radsport und begleitete auch unterschiedliche Rund-fahrten. Später wohnten wir in demselben Haus. Hannes kam meist zwei bis drei Stunden nach Dienstschluss heim, die Arme voller Akten, die er für seine Gutachtertätigkeit am Feierabend benötigte. Eindeutig auf Sportbelastungen zurückzuführende bleibende Körperschäden wurden in der DDR finanziell entschädigt. Damit war diese Gutachtertätigkeit in mehrerer Hinsicht sehr verantwortungsvoll: für die Betroffenen und ihre fi-nanzielle Entschädigung und für die Trainingsmethodiker und deren Ver-pflichtung, die Methoden des Leistungsaufbaus zu optimieren.
Zu seinem 70. Geburtstag im August 2005 hatte er noch einmal alle Freunde und Kollegen um sich versammelt, wohlwissend, dass ihm nur noch kurze Lebenszeit beschieden war. Johannes erwähnte dies mit kei-nem Wort und gestaltete eine fröhliche Feier. Unheilbar erkrankt verstarb
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er im Januar 2006. Dankbar erinnern wir uns an diesen klugen, fleißigen, kameradschaftlichen und tapferen Menschen. Rolf Donath
WALTER ROTH
2. Juli 1937 – 12. März 2006
Eine Woche nach seinem Tod trauerten auf dem Friedhof in Berlin-Mahlsdorf mit der Familie des Verstorbenen MR Dr. med. habil. Walter Roth auch viele Ärzte und Sportwissenschaftler um ihren Kollegen, der manchem zum guten Freund geworden war. Zu DDR-Zeiten wurde der stets profunde Rat des Leistungsphysiologen für die sportmedizinische Betreuung und die wissenschaftlich begründete Trainingsmethodik von Ruderern, Eisschnell-läufern und vielen anderen Sportlern umgesetzt. Deren Leistungen trugen dann über das Ende der DDR hinaus zum Prestige des übernehmenden Landes bei. Nur den Mitinitiator dieser Ergebnisse stellte man im nunmehr einigen Vaterland kalt. Walter Roth erhielt nach 1990 Angebote zum Lehren und Forschen aus Kuba, Chile und den mittleren Osten. Aber das war den Pharisäern kein Anlass, ihre Kurzsichtigkeit zu revidieren.
Walter Roth wurde als jüngstes Kind einer Familie von Eisenbahnern in Tetschen (CSR) geboren. Der ihm aus Familientradition zugedachte Beruf wurde nicht realisiert, weil die Integration von Umsiedlern in der DDR auch das Hochschulstudium für ihre begabten Kinder einschloss. Als Erbteil aus dem Elternhaus verkörperte er aber Arbeitsfleiß, Ehrlichkeit, Abneigung ge-gen Falschheit und Schlamperei und das Streben nach sozialen Idealen.
Wegen seiner fachlichen Kompetenz wurde der Leistungsphysiologe Wal-ter Roth 1970 in das Redaktionskollegium der Zeitschrift „Medizin und Sport“ berufen. Schon nach der ersten Beratung „konnten“ wir miteinan-der. Seine sachlichen Bemerkungen trafen stets den Kern und seine Kritik war immer fundiert. Beckmesser waren ihm so zuwider wie dem damali-gen Chefredakteur und das alles wurde zur Grundlage einer anhaltenden Sympathie füreinander, welche unsere Familien einschloss.
Im kürzlich erschienenen Buch „Die Sportmedizin der DDR“ wird der lange Titel der Habilitationsschrift aus dem Jahr 1979 genannt: Ergebnisse sport-physiologischer Studien in den Jahren 1964 bis 1978 sowie der muskelzel-lulären Grundlagen der ... Leistungsfähigkeit in der Sportart Rudern. Für Leistungsphysiologen und Sportmediziner ist daraus der wissenschaftliche Wert der Lebensleistung von Walter Roth ersichtlich. Den praktischen Nut-zen zogen Sportwissenschaftler für die optimale Trainingsgestaltung.
Dem Wissenschaftshistoriker verbleiben für seinen Fundus von Walter Roth etwa 80 Publikationen in Zeitschriften und als Buchbeiträge. Uns, die wir seine Freunde wurden, verbleiben das Andenken an einen intensiv arbei-tenden Wissenschaftler, dessen Schaffen leider nicht selten zu Abstrichen
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in der Zuwendung für die Familie führten, und die Erinnerung an einen freundlichen und ehrlichen Menschen ohne Fehl und Tadel. Kurt Franke

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INHALTSVERZEICHNIS:
ADMV 3
Blindenverband 7
Coubertin (Simon) 11
Olympia-Abiturienten 15
Arbeitersport Julius Deutsch 21
Wer war eigentlich Amateur (Stenzel) 30
DTSB-Feier 38
Olympia-Ausscheidungen 1964 - 43
Länderkampf USA-DDR 58
Tour de France 64
ZITATE 75
Rezension
(Witt)
(Simon DHFK) 82
Rezension ADMV
Gedenken (Hoecke Fiebelkorn,
Langheinrich)
Ein halbes Jahrhundert
bezahlbarer Motorsport
Von HARALD TÄGER und HORST SCHOLTZ
Am 2. Juni 2007 beging der Allgemeine Deutsche Motorsportverband e.V. (ADMV), der nach 1990 konsequent seine Selbständigkeit bewahrte, sein 50. Gründungsjubiläum. Das war zunächst Anlass für eine Zeitreise durch die zurückliegenden 50 Jahre in einer Sonderschau gleichen Namens im Rahmen der Auto-Erlebnis-Messe AMI vom 14.-22. April 2007 in Leipzig. Auf einer Ausstellungsfläche von ca. 600 qm in Halle 1 der Neuen Messe ließen unterschiedliche Fahrzeuge den Motorsport von gestern und heute im ADMV nach- und gewissermaßen auch miterleben. Die Landesverbände des ADMV führten Festveranstaltungen durch, zum Beispiel fand in Potsdam am 12. Mai 2007 die des Landesverbandes Brandenburg statt, und am 2. Juni, dem Gründungstag, hatte der ADMV zu einem Festakt ins Sport- und Bildungszentrum Blossin geladen, zu dem Hartmut Pfeil, der ADMV-Präsident seit 1991, 125 Mitglieder begrüßen konnte, unter ihnen drei der Gründungsmitglieder, 13 Mitglieder, die vom Anbeginn - also 50 Jahre - dem Verband angehören, und natürlich Athletinnen und Athleten, die mit ihren sportlichen Leistungen ADMV- und Sport-Geschichte schrieben. Das waren Athleten, wie der dreifache Weltmeister Paul Friedrichs (Moto-Cross / 500 ccm 1966, 1967, 1968) oder der Motorbootrennsportler Bernd Beckhusen, der bereits 1969 den ersten Weltmeistertitel in der Klasse 0 bis 250 ccm für den ADMV gewann, die also schon das „außerordentliche Jahrzehnt"1) dieses Verbandes mit prägten, Geländefahrer aus den siegreichen Trophy- und Silbervasenmannschaften des ADMV von 1963 bis 1987 oder die 32-fache DDR-Meisterin im Wasserski Gabriele Hüller und die renommierte Automobil-Rallyefahrerin Monika Petzold. Die Geschichte des ADMV, wie sie zum Beispiel der anlässlich des Jubiläums herausgegebene Band „Zeitreise 1957 - 2007“2) oder auch der anlässlich des 40-jährigen Jubiläums in dieser Zeitschrift im Heft 4/1997 erschienene Rückblick3) nachzeichnen, ist die eines der sportlich erfolgreichsten deutschen Motorsportverbände. Und sie ist die Geschichte einer Solidargemeinschaft, die sich uneingeschränkt für den Breitensport, das heißt für bezahlbaren Motorsport engagiert hat und engagiert. Das belegen vor allem der Umgang mit weitreichenden Forderungen und einschneidenden Ereignissen, wie der Beschluss von 1973, keine Welt- oder Europameisterschaften mehr auszurichten und auch an solchen Meisterschaften nicht mehr teilzunehmen - einzige Ausnahme waren die
Six Days im Motorradgeländesport/Enduro. Nach 40 Jahren ADMV - also mehr als 25 Jahre nach diesem Beschluss - schätzten wir ein, daß noch „die Auswirkungen dieses Beschlusses im Prozess der Vorbereitung von Weltspitzenleistungen zu spüren sind. Wir können und dürfen aber auch nicht übersehen und vergessen, dass dadurch der Breitensport und der Sport mit Serienfahrzeugen forciert worden ist. Neben den Lizenzklassen entstanden Ausweisklassen. Die große Beteiligung machte das möglich. Die Nachwuchsentwicklung war gesichert und neue Disziplinen wurden eingeführt. Seit 1976 entwickelte sich der Auto-Cross-Sport und 10 Jahre später konnte die 19. Disziplin im Angebot des ADMV, der Rennsport mit historischen Fahrzeugen, aufgenommen werden. Der Motorsport im ADMV war finanzierbar, attraktiv, spannend und mitreißend trotz der Einschränkungen im Leistungsbereich .“4)
Als ein weiterer Beleg erwies sich der Beschluss von 1990, die Selbständigkeit des Verbandes zu bewahren und sich nicht einer altbundesdeutschen Organisation anzuschließen bzw. unterzuordnen.
1990 waren bis zum Jahresende im Motorsport des ADMV praktisch kaum Veränderungen zu spüren. Eine Woche nach der Währungsunion mussten dann aber alle Einnahmen und Kosten am Sachsenring - für das letzte Rennen auf dem alten Kurs - erstmals in DM kalkuliert und zugleich die Beendigung der Mitgliedschaft des ADMV in der Internationalen Motorradsport-Föderation (FIM), der Internationalen Automobil-Föderation (FIA), der Internationalen Motorwassersport-Union (UIM) und der Weltunion für Wasserski (UMSN) sowie die Einstellung der eigenen Sportgesetzgebung vorbereitet werden. Am 9./10. Juni 1990 fand aber in Zschopau ein Lauf der Enduro-WM statt, eine Prädikatsveranstaltung der FIM. Im September startete eine Nationalmannschaft des ADMV - wenn auch vorläufig das letzte Mal - bei den Six Days, ebenso ein Team beim WM-Moto-Cross der Nationen. Ab Januar 1991 galt dann die Sportgesetzgebung der Obersten Nationalen Sportkommission für den Motorradsport (OMK) und der Obersten Nationalen Sportkommission für den Automobilsport (ONS). Maßgebliche Sportwarte, wie Renn- und Fahrtleiter, Schiedsrichter, Sportkommissare und Techniker des ADMV drückten die Schulbank und arbeiteten sich ein. Gemeinsam wurde ein Übergangsjahr vereinbart, ab 1992 galten schließlich alle technischen und sportgesetzlichen Bestimmungen. Einige ADMV Sportarten bzw. -Klassen, „verschwanden" von der Bildfläche, fanden kaum noch Interessenten: Einzylinder-Motorradrennsportklasse, Rennwagen mit 1600 ccm; Karts und Moto-Cross-Maschinen oder Serientrialmaschinen. Neue Technik war angesagt. Während einige Sportler dank ihrer Leistungen, Popularität oder eines gut bezahlten Jobs die neue Situation finanziell bewältigten, mussten andere wegen unlösbarer Probleme aufgeben. Bezogen auf die Sportarten und Klassen reduzierte sich die
Anzahl der Fahrer von 1990 nach fünf Jahren auf weniger als 50 Prozent. Neu hinzu kamen allerdings Geländewagentrial mit Allradfahrzeugen, Kart-Slalom und Motorschlittenwettbewerbe. Die Tourenwagen der Rundstrecke fanden sich im ADMV-Trabant-Lada-Racing-Cup (TLRC) wieder, aus dem Pneumant-Pokal wurde der ADMV-Rallye-Pokal und die Seriensportler richteten die ADMV-Meisterschaften im Zweiradrallye- und Orientierungssport aus. Unabhängig von den vielen objektiven und künstlich errichteten Hürden, die der ADMV in dieser Zeit mit seinen Clubs überwinden musste, blieben die motorsportlichen Ereignisse faszinierende Darbietungen der ADMV-Aktiven. In Teterow fand das 75. Bergringrennen (FIM-Preis der Nationen) statt, in Berlin-Hohenschönhausen gaben sich beim „Master of Spikes" die besten Eisspeedwayfahrer ein Stelldichein, in Leipzig feierten Tausende Fans die Aktiven beim Hallen-Cross und beim Supercross. 1998 wurde der ADMV als Mitglied in den Deutschen, Motorsport Bund (DMSB) aufgenommen, der im Jahr zuvor aus ONS und OMK hervorgegangen war. Von nun an gehörte der Verband dazu, wenn auch bescheiden mit lediglich drei Vertretern in den insgesamt 33 Ausschüssen und den 91 Ausschussmitgliedern, aber satzungsgemäß und anerkannt.
Der ADMV beschritt nun auch neue Wege und die Zahl der Veranstal-tungsjubiläen nahm zu. Im Teutschenthaler Talkessel fand 2001 die Motocross-WM erstmalig in allen drei Soloklassen an einem Wochenende statt. In Teterow wurde 2002 das Speedwaystadion „Arena am Kellerholz" eingeweiht. Der MC Freital organisierte die 30. Motorrad-Langstreckenfahrt „1000 km durch Deutschland", der MC Wriezen sein 70. und der MSC Rügen sein 60. Moto-Cross. Der MC Meißen führte den 30. Silbernen Stahlschuh durch, der MC Güstrow feierte 40 Jahre Speedway und der MC Mecklenburgring Parchim lud zum 80. Sandbahnrennen ein. Die ADMV-Rallye Erzgebirge, als Wismutrallye geboren, wurde 40 Jahre und der Trabant-Racing-Cup 10 Jahre alt. Der Automobilrallyesport fand neue Veranstalter in Plauen, Grünhain, Zwickau, Freiberg und Niesky. Vor allem die Lausitzer belebten die Ral-lyeszene und zwar so, dass erstmals das Finale der deutschen Meisterschaft in der Lausitzer Bergbau- und Seenlandschaft ausgetragen wurde. Selbst die Baja, eine Art Langstreckenrallye, organisierte der Rallye-Renn-Club Lausitz (heute Rallye-Renn- und Wassersport-Club Lausitz) zweimal. Fünfzig Jahre nach der Bahnschließung starteten 2005 in Berlin-Karlshorst erstmals wieder Langbahnfahrer. In Neustadt-Dosse drehten in der Pferdesporthalle erstmals Bahnsportler ihre Runden und der MSC Lugau organisierte gemeinsam mit Partnern in Chemnitz Supercross-Wettbewerbe. Die Kartslalomsportler in Dresden, Schmalkalden, Aue und Zeulenroda stellten ein eigenes ADMV-Programm zusammen, für Kartrennsportler bot sich der Freizeitcup an.
Für die Motorradrennsportler wurde die lizenzfreie ADMV-Motorrad-Leistungsüberprüfungsmeisterschaft eingeführt, auch im Motocross entstand eine ADMV-Serie. Die Motorschlittensportler führten die ADMV-Sachsenmeisterschaft in ihrer Sportart ein. Zum lizenzfreien Programm gehörten nun auch der ADMV-Classic-Cup für historische Motorräder und Wagen und der ADMV-Drift-Cup (Supermoto).5) Zu den Höhepunkten und Sternstunden des Motorsports im ADMV zählten zweifellos solche Erfolge, wie der erste Enduro-Weltmeister (80 ccm) für den ADMV durch Thomas Bieberbach (1990), die Langbahnweltmeisterschaft 2002 durch das ADMV-Mitglied Robert Barth, der erstmals Langbahnweltmeister wurde, und der Gewinn der Bronzemedaille durch Christian Hefebrock (Liebenthal) bei der Speedway-Junioren-Weltmeisterschaft 2006. Im selben Jahr schickte der ADMV auch seine erste Clubmannschaft zu den Six Days.6) Zweifellos ist das mit ein Ergebnis der gezielten Nachwuchsförderung, in deren Ergebnis 2002 erstmals junge Aktive als ADMV-Fördersportler berufen wurden. Künftig möchte der ADMV seine Kernangebote weiter ausbauen: das sind vor allem typische Dienstleistungen für mobile Menschen, der Amateursport und der Nachwuchssport. Die Solidargemeinschaft steht im Mittelpunkt. Neben Sportlern und Veranstaltern sollen über den Dachverband auch Sportwarte des ADMV, also Renn- und Fahrtleiter, Sportkommissare oder Schiedsrichter, besser gefördert und in diesem Jahr damit begonnen werden, Lizenznehmern zum Jahresende einen angemessenen Betrag von der Lizenzgebühr zurückzuerstatten. Außerdem zahlt der ADMV als einziger Dachverband in Deutschland ca. 20 Prozent aus dem Verbandsbeitrag der Mitglieder an ihre Ortsclubs zurück, was sich als einzigartige zusätzliche Fördermaßnahme der Ortsclubs erwiesen hat. Alles entsprechend dem Credo und den Intentionen des Verbandes, auch in Zukunft „...eine lebendige Breitensportorganisation" zu sein.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. Schottz, H./Täger, H.: 40 Jahre ADMV. Beiträge zur Sportgeschichte 411997, S. 80 ff.
2) Vgl. Täger, H.: Zeitreise 1957 - 2007. Berlin 2007, 152 S.
3) Vgl. Scholtz, H./Täger, H.: A.a.O., S. 78-87
4) Ebenda, S. 84
5) Vgl. Täger, H.: A.a.O., S. 30 f.
6) Vgl. ebenda, S. 34 ff
50 Jahre Allgemeiner Deutscher
Blindenverband (ADBV) Von WERNER UHLIG und HERMANN DÖRWALD
Seit 1945 gab es im Osten - zuerst in Sachsen - Blindenausschüsse auf Kommunal-, Kreis- und Landesebene. Am 24. und 25. Mai 1957 wurde dann in Halle (Saale) der Allgemeine Deutsche Blindenverband der DDR gegründet. Verbandspräsident wurde der kriegsblinde Dr. Helmut Pielasch, der selbst systematisch und nachhaltig auf diese Verbandsgründung hingearbeitet hatte. Das äußerte sich in einer Reihe offizieller Glückwünsche anlässlich des Gründungskongresses, zum Beispiel auch in dem von Otto Grotewohl, dem Ministerpräsidenten der DDR. Was die ganz konkreten Lebensbedingungen der Blinden in der DDR betraf, hatte der zweite Arbeitsausschuss für Blindenfragen bereits vor der Verbandsgründung fruchtbare Arbeit geleistet. Vor allem ab 1956 sind sozialpolitische Verordnungen und Beschlüsse wirksam geworden, über die wir uns damals außerordentlich gefreut haben. So erhielten berufstätige Blinde einen Zusatzurlaub von sechs Werktagen pro Jahr. Blinde Arbeitslose gab es übrigens nicht! Schon 1955 fiel im Ministerium für Kultur, dem die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB) in Leipzig unterstand, die für alle Punktschriftleser in guter Erinnerung gebliebene Entscheidung, der zufolge die Preise für Blindenschriftbücher im Buchhandel angepasst wurden. Vergleichen wir Blindenbücherpreise von 1956 und heute: Für Friedrich Schillers Wallenstein" bezahlten wir 2,40 Mark und heute kostet das Buch laut DZB-Preisliste 40,90 Euro, für Das siebte Kreuz" von Anna Seghers zahlten wir 2,85 Mark und heute 53,39 Euro... Dennoch war der Alltag für uns nicht leicht. Wohnungen mit Zentralheizung standen uns in größerer Anzahl erst ab den 70er Jahren zur Verfügung, beispielsweise in Leipzig im Stadtteil Grünau. Blinde wurden bei der Vergabe solcher Wohnungen bevorzugt. Heute müssen sich allerdings Blinde, die dort eine Wohnung beziehen konnten, durch den so genannten Rückbau, wodurch auch das Wohnumfeld beeinträchtigt wird und die Geschäfte verschwinden, wieder anderswo eine Wohnung suchen. Unvergessen bleiben Kultur und Sport im Verbandsleben des ADBV. Nicht nur, dass es beinahe selbstverständlich war, ins Theater und in die Oper zu gehen. Es kamen auch große Künstler und sogar Weltmeister in unsere Mitgliederveranstaltungen. Als Thomas-Kantor Hans-Joachim Rotzsch mit einem Teil des Thomanerchores für Leipziger Blinde im Jugendclubhaus „Erich Zeigner" auftrat oder Täve Schur uns in einem Saal der Kongresshalle von der
Friedensfahrt erzählte, sind das Erlebnisse gewesen, an die man auch heute noch gern zurückdenkt.
Am schönsten war aber wohl, dass sich unter uns Blinden und Sehschwachen selbst eine beachtliche Anzahl von Sängern und Musikanten zu Chören und Instrumentalgruppen zusammenfanden, die anderen und sich selber zur Freude unsere Verbandsveranstaltungen bereicherten. Das Kulturensemble unseres Verbandes nahm erfolgreich an den Arbeiterfestspielen teil, das Mädchenterzett und das Flötenquartett aus Karl-Marx-Stadt wirkten in Rundfunksendungen mit. In Leipzig hatten wir einen Frauenchor, eine Tanzkapelle und die landesweit beliebte Folkloregruppe „Porlamondo" („Für die Welt"). Natürlich gab es unter uns auch Kegelsportler, Skat- und Schachspieler. Stimmungsvolle Wettkämpfe lieferten sich die Klingel-Rollball-Mannschaften - heute heißt das Goalball. Die Hochburg des Blindensports war Karl-Marx-Stadt. Wir blinden Schwimmer von Chemie Leipzig mussten uns aber auch nicht verstecken. In den besten Zeiten trainierten wir viermal pro Woche, davon zweimal auf der 50-Meter-Bahn im Schwimmstadion. Am 1. Deutschen Blindensportfest, das vom 1.-3. Juli 1955 in Wuppertal stattfand, nahmen über 30 blinde Frauen und Männer der Sektion Versehrtensport im Deutschen Sportausschuss (DS) teil. Die meisten kamen aus Leipzig von der BSG Chemie, andere von den Blindenanstalten Halle, Magdeburg, Halberstadt und Frankfurt/Oder. Diese Mannschaft leitete der damalige 1. Präsident der Sektion Versehrtensport im Deutschen Sportausschuss (DS), Josef Schopp aus Leipzig. Als Betreuer waren die Sportfreunde Kneutzsch von der Blindenschule Halle und Dörwald aus Dresden dabei. Alle Teilnehmer der Mannschaft aus der DDR warteten mit hervorragenden Leistungen auf, ob Leichtathleten oder Schwimmer. Ein Aufsehen erregendes Novum bei diesem Blindensportfest war das Reigenschwimmen der blinden Frauen von der BSG Chemie Leipzig, das großen Beifall fand. Der Vater" dieses weit über die Grenzen hinaus berühmten Figurenreigens der blinden Frauen war übrigens Josef Schopp, der Präsident der Sektion Versehrtensport. Nach der Gründung des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) am 27.-28. April 1957 gründeten Versehrte und Behinderte am 4. Juli 1959 in Halle (Saale) den Deutschen Verband für Versehrtensport (DVfV) als Mitgliedsverband im DTSB, in dem alle, ob Gehörlose, Körperbehinderte und Querschnittsgelähmte, Blinde und Sehschwache und später auch geistig Behinderte, gemeinsam und miteinander kooperierend ihren Sport organisierten. Selbstverständlich wirkten sie auch mit den verschiedenen Verbänden der Behinderten zusammen. Bereits wenige Monate nach der Gründung des DVfV unterzeichneten am 6. Februar 1960 der Präsident des ADBV, Dr. Helmut Pielasch, und der Präsident des DVfV, Willi Linnecke, eine Arbeitsvereinbarung über die Aufgaben von Körperkultur
und Sport und ihre gemeinsame Verwirklichung. Denn blinde und sehschwache Sportlerinnen und Sportler trugen seit Beginn der 50er Jahre jährlich Meisterschaften aus, Pokalwettkämpfe fanden statt, nationale und internationale Vergleiche wurden durchgeführt. Zum Beispiel trafen sich die blinden Schachsportler aus Österreich und der DDR nahezu vom Anbeginn in regelmäßigen Abständen zu einem Länderkampf im Blindenschach. Vor allem die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich sportlich betätigten, nahm weiter zu. 1958 hatten 24 Jugendliche an den Internationalen Sportwettkämpfen der blinden und sehschwachen Jugendlichen in Leningrad teilgenommen, seit 1958 führten die Blindenschulen - anfangs noch gemeinsam mit den Gehörlosenschulen - zentrale Sportfeste durch, 1959 lud die Blindenschule Karl-Marx-Stadt anlässlich ihres 150jährigen Bestehens zu einem DDR-offenen Sportfest ein, 1961 wurde an der Blindenschule in Königswusterhausen eine eigene Sportgemeinschaft gegründet. Selbstverständlich nahm auch die Zahl der Sportarten zu, in denen Blinde und Sehschwache sich versuchten oder ihre Meister ermittelten. Waren das zunächst Schach, Kegeln (Asphalt und Bohle) und Rollball, ermittelten Blinde und Sehschwache später auch ihre Meister im Schwimmen und in der Leichtathletik. Besonders Wandern zählte schließlich zu einer der beliebtesten und von vielen bevorzugten Sportart. Eine der letzten Sportarten, in der Blinde sich erprobten, war ab 1987 Triathlon (mit Partner 400 m Schwimmen, 20 km Tandem, 5-km-Lauf). Vieles wurde vom DVfV und dem ADBV gemeinsam in Angriff genommen, wie die regelmäßig erneuerten Vereinbarungen zwischen beiden Verbänden und die gemeinsam durchgeführten Beratungen belegen1). Das galt insbesondere für alle Initiativen und Vorhaben, um das Recht jedes Behinderten oder Versehrten zu verwirklichen, sich entsprechend seinen Möglichkeiten sportlich zu betätigen und dafür auch die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Insofern war es nur folgerichtig, dass im April 1974 Dr. Dr. Helmut Pielasch zum Vizepräsidenten des DVfV gewählt wurde und er nun in dieser Funktion die Interessen der blinden und sehschwachen Sportlerinnen und Sportler vertrat. International hatten zunächst vor allem die Blindenschachsportler auf sich aufmerksam gemacht. 1961 belegten sie während der internationalen Mannschaftskämpfe im Blindenschach in Meschede (BRD) gemeinsam mit Österreich den 3. Platz. 1964 führte der Internationale-Blinden-Schachbund (IBSA) seinen III. Weltkongress und die II. Schacholympiade in Kühlungsborn (DDR) durch, wo die Nationalmannschaft ebenfalls Rang 3 erreichte, den sie 1976 auch während der V. und 1980 während der Vl. Blindenschacholympiade errang. Anlässlich der Vl. Einzelmeisterschaft im Blindenschach der IBCA 1986 in Moskau (UdSSR) gewann Olaf Dobierzin die Bronzemedaille.
Noch erfolgreicher waren die blinden Schachsportler im Fernschach. Die DDR-Mannschaft K.P. Wünsche (Berlin), W. Kranz (Leipzig),, R. Kehl (Halle) . E. Hoffmann (Karl-Marx-Stadt) sicherte sich bei der II. Blindenfernschacholympiade (1976-1980) die Goldmedaille. Und 1981 wurde Klaus Peter Wünsche Weltmeister im Blindenfernschach (Turnierbeginn war am 1.4.1979). Auch in anderen Sportarten, zum Beispiel in der Leichtathletik und im Schwimmen gingen Blinde und Sehschwache bei internationalen Wettkämpfen erfolgreich an den Start. Die 1. Europäischen Sportspiele für Blinde fanden 1977 in Poznan (VR Polen) statt. Die Sportlerinnen und Sportler aus der DDR erkämpften in der Gesamtwertung den 3. Platz und errangen 7 Gold-, 3 Silber- und 4 Bronzemedaillen. Goldmedaillen gewannen die Vollblinden Regina Schuffenhauer (50 m Brustschwimmen), Gerd Franzka (100 m Brustschwimmen) und Henry Schenker (Speerwerfen) sowie die Sehschwachen Evelyn Böhm (60-m-Lauf, Weitsprung, Kugelstoßen) und Sibylle Pißarek (50 m Freistil).2) All das und vieles andere, vor allem das Engagement für den Kinder- und Jugendsport - die Mitgliedschaft in den Schulsportgemeinschaften war kostenlos, selbst für Starts bei Wettkämpfen des DVfV mussten keine Startgelder bezahlt werden - und die zunehmenden Möglichkeiten sportlicher Tätigkeit für alle Blinden und Sehschwachen trugen zur internationalen Anerkennung all dieser Bemühungen und ihrer nicht zu übersehenden Ergebnisse bei. Die DDR gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern des Internationalen Blindensportverbandes (IBSV) 1981 in Paris. Zum ersten Präsidenten wurde der damalige Vizepräsident des DVfV Dr. Dr. Helmut Pielasch gewählt. Viel bliebe wäre noch zu berichten über die gemeinsamen Aktivitäten von ADBV und DVfV, vor allem über das engagierte Wirken der Trainer, Übungs- und Wanderleiter und Funktionäre. Und es wäre allen zu danken, insbesondere anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung des ADBV. Zwar erhielten bei der diesjährigen Mitgliederversammlung des Leipziger Blindenverbandes 12 Mitglieder eine der speziellen Braille-Urkunden für ihre 50jährige Mitgliedschaft im Verband - so auch Gerhard Mathow, der 1957 zum ersten Vorsitzenden des ADBV-Kreisvorstandes in Leipzig gewählt worden war - doch wurden weder seine Leistungen als Kreisvorsitzender gewürdigt noch in der Feier das von vielen Geleistete angemessen gewürdigt. Chronistenpflicht gebietet, das wenigstens zu vermerken.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. Dörwald, Hermann: Chronik des Versehrtensports der DDR. Dresden 2003, 194 S.
2) Vgl. ebenda
Coubertins soziale Ziele
Von HANS SIMON
Als Pierre de Coubertin am 2. September 1937 74jährig im Park von Lausanne plötzlich starb, hatte sich das Leben eines humanistischen Denkers, Pädagogen Diplomaten, Dichters, Historikers und „Sportfunktionärs" - oder sollte man treffender „Sportpropagandisten“ sagen? - vollendet, der als Wiedererwecker der Olympischen Spiele, als Begründer des modernen Olympismus und Schöpfer der Olympischen Spiele der Neuzeit in die Geschichte eingegangen ist. Coubertin hat seinen Zielen, der Entwicklung und Förderung des Sports sein ganzes Leben gewidmet und auch sein Vermögen geopfert.(1/S.11)
Der Sproß einer Adelsfamilie wollte - nach Studien in England (Thomas Arnold) - der französischen Jugend unter den Bedingungen der III. Republik ein neues Gesicht geben, indem er Schülersportvereine und Wettkämpfe ins Leben rief, also den Sport als immanenten, neuen Bestandteil der Erziehung in die tägliche Praxis einzuführen versuchte. Dabei hatte er stets die ganze Jugend und die ganze Nation im Auge, nicht nur privilegierte Schichten. Es ist das Kennzeichen Coubertinscher Zusammenschau der Dinge die nationalen Begrenzungen zu überwinden. Für ihn ist die Athletik „international und demokratisch, folglich den Ideen und Bedürfnissen der Gegenwart angepaßt. Aber heute wie ehedem wird ihre Wirkung heilsam oder schädlich sein, je nach dem Nutzen, den man aus ihr ziehen, und der Richtung, in der man sie einpendeln wird. Die Athletik kann die edelsten, wie die niedrigsten Leidenschaften ins Spiel bringen; sie kann Uneigennützigkeit und Ehrgefühl genau so entwickeln wie Geldgier; sie kann ritterlich oder verderbt, männlich oder roh sein. Schließlich kann man sie genausogut verwenden den Frieden zu festigen wie Krieg vorzubereiten"(3/S.25) Diese umfassende Charakterisierung von 1894 findet sich auch in seinem politischen „Testament „1925. (4/S.144) Daß für Coubertin die gesellschaftlichen Bedingungen des Sports entscheidend sind für seine Funktion geht aus der schon 1895 gestellten Frage hervor: „In welcher modernen und den Gegenwartsbedürfnissen entsprechenden Denkordnung finden wir das ethische Gegengewicht, das den modernen Athletismus davor bewahren könnte in die Geschäftemacherei, hineingezogen zu werden und so schließlich im Schmutz zusammenzubrechen?“ (1/S.13)
Es scheint so, als hätte Coubertin schon vor 112 Jahren Probleme einiger Sportarten des Jahres 2007 vorausgesehen, wenn man die mehr oder weniger hilflosen Maßnahmen von Verbänden und Regierungen im
Deutschland des 21. Jahrhunderts bedenkt. Dieser Ansicht war auch seine Biografin Eyquem: „Coubertin ist ein Dichter, er lebt in der Phantasie, er träumt zugegeben, aber er ist auch ein Mann der Tat. , Er experimentiert seine umfassende Intelligenz wägt das Wirkliche inmitten der Gegenwart ab und errät bisweilen die Konturen der Zukunft." (1/S.115)
So war für ihn „die kleine Republik des Sports eine Miniaturdarstellung des demokratischen Modellstaates.“ Er wollte beides miteinander verbinden, fand jedoch nicht die Mittel und Methoden, weil er übersah, dass es keine gleichen Bedingungen für die Menschen in der Klassengesellschaft gab und schrieb 1919: „Einst war die sportliche Betätigung der gelegentliche Zeitvertreib der reichen und untätigen Jugend. Dreißig Jahre lang habe ich mich bemüht sie zu einem gewohnten Vergnügen auch für das Kleinbürgertum werden zu lassen. Nun muß noch das Leben der proletarischen Jugend von der Freude am Sport durchdrungen werden, weil sie das billigste Vergnügen, das dem Prinzip der Gleichheit am besten entsprechende, das wirksamste gegen den Alkohol und das produktivste an beherrschten und kontrollierten Energien ist. Alle Sportarten für alle!"(1/S.14f) Hier zeigte sich der liberale Demokrat, der an die Vernunft appellierte und zugleich von den Stadtverwaltungen forderte, mehr Sportplätze zu schaffen oder wenigstens kleine Wiesen als Spielfelder auszuweisen, für ein Sportprogramm auch Gebäude zur Verfügung zu stellen.
Es ging ihm um die Sportmöglichkeiten , also die materiellen Bedingungen für den Sport. (3/S.131f) und diese Bedingungen waren für die Arbeiterklasse unzureichend weil die bürgerliche Ordnung „die Unterwerfung des Individuums, auf seine Eingliederung in Verfügbarkeit der vier Kräfte, auf die sich die besitzende Klasse stützt: Imperialismus, Militarismus, Plutokratismus und Klerikalismus.“ (1/S.108) Eine derartige Abhängigkeit des Einzelnen von den herrschenden Mächten läßt ihn zu der Folgerung kommen „die kapitalistische Gesellschaft ruht nur noch auf Heucheleien."(1/S.108)
Damit wendete sich Coubertin direkt der Arbeiterklasse zu, allerdings vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Bildung. Daher stellte er die Frage: „Ist es überhaupt damit getan, die Privilegien der oberen Schichten abzuschaffen, müßte man nicht zur Vervollständigung der Reformen jetzt nicht vielmehr der Arbeiterklasse diese Privilegien einräumen?" (1/S.66) Zweifellos hat diese Frage, die Coubertin für sich bejahte, eine logische Folge, weil die „Arbeiterklasse, die von den Besitzenden keinerlei Unterstützung erfährt, in Gesetzen nach Hilfe sucht und verlangt, daß ihr auf Kosten anderer geholfen werden soll." (1/S.67)
Hat diese Überlegung Coubertins angesichts der Situation der Arbeiterjugend an den deutschen Universitäten, die sich hohen
Studiengebühren und Bittgängen zu den BAFÖG-Büros gegenübersieht, nicht hohe aktuelle Bedeutung? Coubertin forderte die Gründung von Arbeiteruniversitäten, an denen auch eine breite historische Bildung vermittelt wird (1/S.95), die die Verdienste und Fehler jeder Nation beim Namen nennen soll. So wird der Chauvinismus, rückgedrängt der „weltweiten Aufruhr auszulösen“ (1/S.97) droht. 1891 lud Coubertin führende Politiker an die Sorbonne ein, um über die Arbeiteruniversitäten zu beraten, darunter auch den Sozialisten Jean Jaures. Er riet, dafür die praktischen und am wenigsten aufwendigen Organisationsformen zu untersuchen und die Fächer und Studiengebiete auszuwählen, „die zu einer Universitätsbildung der Arbeiter am geeignetsten sind“ (1/S.111). Im Jahre 1921 erschien die Schrift „Die Arbeiteruniversitäten“, die von den Arbeiterstudenten selbst geleitet werden sollten als ein Instrument des Ausgleichs der Bildungsmöglichkeiten. 1922 und 1923 veröffentlicht Coubertin zwei weitere Arbeiten zu diesem Thema und eine eigene Charta der Arbeiteruniversitäten (1/S.112f). In Lausanne regte er an, im „Haus für das Volk" die Universität zu realisieren und veröffentlichte 1933 ein Vorlesungsverzeichnis für Übungen in Physik, Chemie, Medizin, Sozialökonomie, Rechtswissenschaft, Geschichte, Kunstgeschichte, Gewerkschaftsbewegung, Fremdsprachen (1/S.114). Er setzte auf pädagogische Reformen und forderte das Proletariat auf „auf das Absolute als Ziel und auf Gewaltanwendung als Mittel zu verzichten" und erläuterte: „um der verderblichen Gewaltanwendung zu entrinnen, die sein Anliegen zum Scheitern verurteilen könnte, muß man das Proletariat in einen Bildungsstand versetzen, durch den es gegen sich selbst ausreichend Abwehrkräfte entwickeln kann, um der noch so berechtigten Empörung und der ganz offensichtlichen Ungerechtigkeit entgegenzustehen, damit es endlich in Beharrlichkeit, aber mit Ruhe seine eigene Aufwärtsentwicklung verfolgen kann." (1/S.109f) So blieb Coubertin gänzlich in den Vorstellungen und Rahmenbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, die er bessern wollte, in der er der Arbeiterklasse Gleichberechtigung verschaffen wollte. Ja, er maß ihr geschichtliche Kräfte zu, als er 1922 in dem Artikel „Zwischen zwei Gefechten - vom Olympismus zur Arbeiteruniversität" erklärt: „Ich setze große Erwartungen in die Arbeiterklasse. In ihrem Schoß ruhen wirkungsvolle Kräfte. Sie scheint mir zu großen Taten fähig." (1/S.115) Schon früher, im Jahre 1920 anläßlich der Eröffnung des olympischen Kongresses in Antwerpen betonte Coubertin, daß die Proletarier die Mehrheit der Bevölkerung darstellen und forderte deshalb, auch der proletarischen Jugend „kostenlos oder fast kostenlos den Weg zur Anleitung und Übungsmöglichkeit im Sport“ frei zu machen.(4/S.132)
Zahlreiche Vorschläge und Vorstellungen Coubertins in der Olympischen Geschichte sind realisiert oder weiterentwickelt worden; die sozialen Ziele
harren in wesentlichen Teilen noch ihrer Verwirklichung. Coubertins Erben in aller Welt bleiben ihnen verpflichtet,
Zumal er auch Olympiasieger geworden war. 1912 im Kunstwettbewerb mit seiner „Ode an den Sport“ (Unter den Pseudonymen Georges Hohrod und Martin Eschbach eingereicht.) Deren letzte Strophe lautete:
O Sport Du bist der Friede!
Du schlingst ein Band um Völker,
Die sich als Brüder fühlen in gemeinsamer Pflege
Der Kraft, der Ordnung und der Selbstbeherrschung.
Und Charaktereigenschaften anderer Völker
Schätzen und Bewerten
Sich gegenseitig messen, übertreffen, das ist das Ziel:
Ein Wettstreit in dem Frieden.
(4/S. 105f)
Literaturverzeichnis
1. Eyquem, Marie-Therese :Pierre de Coubertin - ein Leben für die Jugend der Welt. 1972 Dortmund Schopp Verlag
2.Coubertin, Pierre de :Einundzwanzig Jahre Sportkampagne (1887 -1908) 1974 Ratingen Henn Verlag
3. Coubertin Pierre de :Olympische Erinnerungen. 1984 Berlin Sportverlag
4.Ullrich, Klaus :Coubertin - Leben, Denken und Schaffen
Jugend erforscht Olympia
Von JOSEPHIN RÖHLER
In den Tagen um den Jahreswechsel 2005/2006 gab es für den Abiturjahrgang des Schuljahres 2006/2007 des Christoph-Gottlieb-Reichard-Gymnasiums in Bad Lobenstein einen Vorgeschmack auf künftigen Prüfungsstress. Es ging dabei um die im Zeitraum eines Jahres gruppenweise zu schreibenden Seminarfacharbeiten.
Seit dem Schuljahr 1999/2000 gibt es in Thüringen für die Schüler der 10. bis 12. Klassen ein neues Unterrichtsfach. Sein Anliegen ist es, die Schüler zu selbständigem Lernen, zu Formen wissenschaftlichen Arbeitens zu führen. In diesem Rahmen ist im 12. Schuljahr eine Seminarfacharbeit zu schreiben, die bewertet und in einem Kolloquium verteidigt wird und auf Wunsch der Schüler in das Abiturergebnis eingehen kann. Die Arbeiten werden von den Seminarfacharbeitern betreut. Zusätzlich können die Schüler einen Außenbetreuer auswählen, der die inhaltliche Betreuung des gesamten Arbeitsablaufes übernimmt. Wir wählten dafür den Rentner Dieter Hertwig, der über außergewöhnliches Wissen um den Sport und eine reich bestückte Sportbibliothek verfügt.
Das Thema war frei wählbar. Es soll Verknüpfungen zu anderen Unterrichtsfächern ermöglichen und einen engen Bezug zu Problemen der Region ermöglichen.
Wir, je zwei Schülerinnen und Schüler, hatten ein hier ungewöhnliches Thema gewählt: „Die antike Botschaft vom Olympischen Frieden - Ideal oder Wirklichkeit. Wie lebendig ist die Olympische Idee in der Region Bad Lobenstein?“ So war unsere überwiegend theoretische Ausrichtung der Arbeit sicher ein Wagnis und stieß trotz einer sehr gut bewerteten Präsentation auf wenig Zustimmung.
Um uns Neulinge in solcher Arbeit - wir wurden 1988 geboren, dem Jahr also, als die olympische Geschichte der DDR endete - an diese Aufgabe heranzuführen, fuhr Herr Hertwig mit uns zu einer Buchlesung von Heinz-Florian Oertel nach Rudolstadt. Wir sprachen dort mit Herrn Oertel und seinen Begleitern, Rennschlitten-Olympiasiegerin Margit Schumann und Bob-Olympiasieger Dieter Schauerhammer, über unser Vorhaben. Sie erklärten sich sofort bereit, uns ihre Meinung zum Thema schriftlich mitzuteilen. So kamen wir auf die Idee, weitere Zeitzeugen um Unterstützung zu bitten.
Für die Überlegungen, Hinweise und Materialien , die wir von Frau Schumann, den Herren Heinz-Florian Oertel , Klaus Huhn, Volker Kluge, Jörg Ulrich Hahn von der FAZ, Joachim Fiebelkorn und dem NOK für
Deutschland erhielten, bedanken wir uns herzlich. Ein besonderes und anspornendes Ergebnis unserer Briefaktion war der freundliche Kontakt über Telefon, Computer und Briefe, den Herr Fiebelkorn mit uns hielt und der uns im Verlaufe unserer Arbeit Impulse gab und durch den uns mancher Rat erreichte.
So konnten wir optimistisch an unsere Arbeit gehen.
Zuversichtlich schauten wir auch auf die Winterspiele in Turin, denn wir hofften, mit einer Medaille des Weltklasse-Skilangläufers Axel Teichmann den Abschnitt über den Regionalsport „schmücken“ zu können.
Zuvor aber ging es um den grundsätzlichen Inhalt unserer Arbeit. Die Beratungen mit dem Betreuer, die nach Notwendigkeit durchgeführt wurden, führten zur Herausbildung einheitlicher Auffassungen in allen Themenbereichen, eine straffe Kontrolle sicherte die Einhaltung und Erfüllung des Arbeitsplanes. So entstand eine Grobkonzeption für den Inhalt und bildete die Grundlage für die detaillierte Gliederung der Arbeit. Wir nahmen uns vor, die Beziehungen zwischen Olympia und Frieden über den gesamten Zeitraum der Spiele der Antike und der Neuzeit zu verfolgen und die wesentlichsten Ergebnisse zu beurteilen. Daraus ergeben sich die Hauptgliederungspunkte:
1. Die Spiele der Antike und der Mythos vom Gottesfrieden.
2. Die Umsetzung und Weiterentwicklung des Friedensgedankens bei der Begründung der Olympischen Spiele der Neuzeit.
3. Das erste olympische Jahrhundert der Spiele der Neuzeit. Ergebnisse und Probleme bei der Verwirklichung der olympischen Friedensidee.
4. Olympia zwischen Krieg und Frieden.
5. Teilnehmen ist wichtiger als siegen - Olympisches aus der Region Bad Lobenstein.
Die Termine wurden bestimmt, die Übergabe der zu studierenden Literatur organisiert.
Da die erforderlichen Studienmaterialien fast ausnahmslos im privaten Besitz unseres Betreuers waren und an Zahl, Themenvielfalt und Spezifik den Bibliotheksbestand in der Region um ein Vielfaches übertrafen, gewannen wir erheblich an Zeit für Studium. Die organisatorischen Probleme waren überwiegend gelöst, wir konnten uns nun auf unsere Texte konzentrieren. Die Zustimmung in den Briefen unserer Zeitzeugen war auch moralisch eine große Hilfe, konkrete Ratschläge wurden unverzichtbar.
Mit der Arbeit wuchs unser aller Interesse an der olympischen Geschichte. Jeder für sich machte die Erfahrung, dass das vermeintliche Sportthema vor allem historisch, sportpolitisch und gesellschaftspolitisch zu sehen ist. Das haben wir auch in unserer Einleitung zum Ausdruck gebracht.:
„Die olympische Bewegung stand nie außerhalb der Gesellschaft. Die Olympischen Spiele der Antike waren ebenso ein Kind ihrer Zeit, wie es die Spiele der Neuzeit seit ihrer Wiederbegründung bis heute sind. Daraus resultiert auch, dass die Jahrtausende alte, zutiefst politische und zugleich im Mittelpunkt der Menschheitssehnsucht stehende Frage nach einer Welt in Frieden auch eine olympische Frage wurde.“
Diese Sichtweise erleichterte uns nicht nur eine sachliche Beurteilung, sie bewahrte uns auch vor überzogenen Erwartungen bzw. Negierung der Wirkungen der olympischen Friedensidee.
Inhaltlich konzentrierte sich der erste Schwerpunkt auf Ursprünge, Entwicklung, Wirkungen und Grenzen des „Heiligen Friedens“ von Olympia, genannt Ekecheiria. Dabei gab es reichlich Gelegenheit, Beziehungen zum Unterrichtsfach Geschichte herzustellen. Besonders beeindruckte uns, dass in dem politisch zersplitterten Griechenland, wo andauernde Rivalitäten und kriegerische Auseinandersetzungen mit Nachbarstaaten fast zum Alltag gehörten, die oft auch als olympischer Waffenstillstand be-zeichnete Ekecheiria über ein Jahrtausend jedes vierte Jahr die im wesentlichen regelmäßige Durchführung der Spiele gewährleistete. Leider behandelte das uns zur Verfügung stehende Studienmaterial die Wirkungen des „Heiligen Friedens“ sehr stiefmütterlich und stellte mehr seine Grenzen heraus.
Andreas Höfer zitiert in seinem Buch „Der olympische Frieden - Anspruch und Wirklichkeit einer Idee“ Prof. Lämmer: „Über das unmittelbar religiös-festliche Erlebnis hinaus verfügten die Spiele keinen weitergehenden Zweck.“
Es steht uns wohl nicht zu, hier Zweifel anzumelden, aber: gilt das für die 1000 Jahre ihrer Durchführung? Wurden nicht schon im 6. Jahrhundert v. Chr., als die Wettkämpfer und Besucher in großen Zahl aus Kolonien kamen und „Olympias neue Rolle als Schauplatz der regelmäßigen Heimattreffen der Auslandsgriechen“ (Prof. Sinn) begründeten, über das Zitat hinausgehende Akzente gesetzt?
Gingen nicht auch von den griechischen Staatsmännern, bedeutenden Heerführern und den großen Geistern der Antike, die die Spiele besuchten, starke gesellschaftliche und geistig-kulturelle Werte aus?
Wir haben das in unserer Arbeit bejaht und zugleich auf die Grenzen der Ekecheiria aufmerksam gemacht. Der Frieden war nie das Ziel, zu dem die Spiele beitragen sollten, sondern allein die Voraussetzung für deren reibungslosen Ablauf. Dennoch liegt darin die eigentliche Botschaft der antiken Spiele, die lauten könnte, dass jedes große Menschheitswerk des Friedens bedarf, um erfolgreich verwirklicht zu werden.
Der Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, hat diese Botschaft entsprechend den Bedingungen seiner Zeit umgesetzt. Für uns kam es darauf an, die von Coubertin
olympische Friedensidee klar herauszuarbeiten, weil die Friedenswirkung der Olympischen Bewegung nur auf dieser Grundlage realistisch zu beurteilen ist. Höfer schreibt dazu, dass der Bezug auf Coubertin notwendig sei, weil er „als erster und vielleicht einziger Philosoph und Prophet der Olympischen Bewegung theoretisch begründet hat.“
Deshalb haben wir Höfers Aussage sinngemäß übernommen: Coubertin hat erstmals in der Geschichte des Sports einen Zusammenhang zu Frieden und Völkerverständigung hergestellt… Er sah in den Olympischen Spielen das Forum, um Menschen verschiedener Nationalität, Rasse und Religion zu einem gewaltfreien und geregelten Wettstreit zusammenzuführen und damit einen neuen Weg zu Frieden und Völkerverständigung zu beschreiten.“
Die Olympischen Spiele sollten also nicht das Bild einer heilen Welt vermitteln oder die Probleme der Welt vergessen machen, sondern eine erstrebenswerte Utopie vor Augen führen.
Volker Kluge formulierte das in einem Brief an uns so: „Der eigentliche Wert liegt in der Botschaft, die von ihnen (den Olympischen Spielen) ausgeht: Die Sportler aus über 200 Ländern sind in der Lage, ihre Wettkämpfe nach gemeinsamen Regeln, unter Einhaltung des Fairplay und ohne Diskriminierung auszutragen. Insofern geben sie ein Beispiel für die internationale Politik.“
In den beiden folgenden Punkten der Gliederung haben wir wesentliche Faktoren untersucht, die die Olympische Friedensidee befördert haben bzw. ihr entgegenstanden.
Ausgehend von dem in Coubertins Friedensgedanken begründeten Anspruch des Internationalen Olympischen Komitees, dass die Olympische Bewegung einen Beitrag zu Frieden und Völkerverständigung leisten will, haben wir in der Seminarfacharbeit für die Tätigkeit des IOC zwei Konsequenzen zu begründen versucht. Erstens die Aufgabe, zu sichern, dass die Spiele ihren Beitrag zu Frieden und Völkerverständigung nachhaltig zum Ausdruck bringen. Dieses Bemühen ist an zahlreichen Beispielen nachweisbar.
Die zweite Konsequenz ergibt sich aus der Olympischen Charta, in der festgeschrieben ist, dass sich das IOC alleine, bzw. bei bestehender Möglichkeit gemeinsam mit anderen Organisationen an Aktionen zur Stärkung des Friedens beteiligt. Die sich daraus ergebende Forderung an das IOC zum friedenspolitischen Handeln ist unüberhörbar. Das allerdings wurde, auch gefördert durch die verlogene These vom „unpolitischen Sport“, in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht so begriffen und sollte auch so nicht begriffen werden. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist das IOC auch nicht über Willenskundgebungen hinaus gekommen. Dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Tat ist in unserer Seminararbeit Gegenstand der Kritik.
Höfer verweist in seinem Buch auf diese Problematik und stellt fest, dass das IOC nicht immer im Sinne der Friedensidee gehandelt und sich ohne zwingenden Grund widerstandslos den politischen Realitäten gebeugt hat. Er sieht als grundsätzliches Problem, dass der Widerspruch zwischen selbstverkündetem Friedensanspruch und der politischen Wirklichkeit die gesamte olympische Geschichte bestimmt, eine Tatsache, die viele Medien nutzten, um die gesamte olympische Friedensidee in Misskredit zu bringen.
Die Front der Kritiker ist groß. Ihr Argument ist die unbestreitbare Feststellung, dass Olympia weder einen Krieg verhindert noch beendet hat. Auch wir haben im Anhang unserer Arbeit in einer Zusammenstellung „Olympia und Kriege“ feststellen müssen, dass in den ersten 100 Jahren der Spiele der Neuzeit weltweit an keinem Tag die Waffen schwiegen. Doch unsere Absicht war es nicht, das Scheitern des „Olympischen Friedens“ zu begründen, sondern auf die Unfähigkeit der Bewegung, Kriege zu verhindern hinzuweisen und daraus nun erst recht die Konsequenz abzuleiten, die Friedenswirksamkeit der Spiele zu stärken und nicht dem Unterhaltungsbedürfnis nach dem Muster Hollywoods zu opfern, wie das besonders eindringlich bei den Eröffnungs- und der Abschlussveranstaltungen der Spiele seit 1980 demonstriert wird.
Dass aber der Gedanke des olympischen Friedens trotz alledem lebendig blieb und eine nicht abschätzbare Zahl von Anhängern der Spiele erfasst, hat sich sicher auch deshalb herausgebildet, weil Olympia trotz alledem Friedenswerbung und Friedenswirkung zugleich verkörpert.
Mit dem im 20. Jahrhundert erfolgten Aufstieg zum Weltsportereignis Nr. 1 rückten die Spiele zunehmend ins Blickfeld der Politik. Auch dadurch wurden sie nur zu oft beschädigt und infrage gestellt.
In unserer Arbeit haben wir die Beschädigung des Coubertinschen Friedensgedankens durch Kriege, den internationalen Terrorismus, Rassismus und Nationalismus sowie durch konträre ideologische Positionen von Staaten und Staatengruppen vornehmlich während des Kalten Krieges untersucht. Hier einige Erkenntnisse, die uns besonders bewegten: Die beiden Weltkriege, die massiv die Existenz der olympischen Bewegung bedrohten, beweisen unmissverständlich, dass Krieg und Olympia unvereinbare Gegensätze sind.
Die Friedensidee, so wie sie sich auch im olympischen Geist spiegelt, war das erste Opfer der beiden Weltkriege, woran der Kriegsverursacher Deutschland durch die Verfälschung der olympischen Idee und den Missbrauch der Spiele maßgeblichen Anteil hatte.
Bei den politischen Angriffen auf Olympia gab es in beiden Kriegen wenig Unterschiede, die prinzipielle Zielstellung war ja identisch: Verwerfen des humanistischen Inhalts der olympischen Idee, vorrangig des sich mit Frieden und Völkerverständigung verbindenden Konzeptes Coubertins.
Betroffen machte uns, dass deutsche Sportfunktionäre wie Carl Diem seit dem ersten Weltkrieg und Ritter von Halt in der Zeit des Nationalsozialismus sich nicht nur an die Seite der sport- und friedensfeindlichen Kräfte stellten, sondern auch deren eifrige Erfüllungsgehilfen wurden. Diems schriftlich niedergelegte Ansichten, in denen der Krieg als eigentliches Bewährungsfeld des Sports verherrlicht und der Opfertod fürs Vaterland gepriesen wird, sind die Perversion der olympischen Idee.
Im Ergebnis unseres Studiums olympischer Literatur entstand auch ein Gliederungspunkt über die Zukunft Olympias. Unser Ausgangspunkt dabei waren die als „Aufbruch in die olympische Einheit“ gefeierten Spiele von Seoul 1988, die ein ganz besonderes Signal setzten.
Die unter IOC-Präsident Samaranch vorgenommenen gravierenden Erweiterungen des olympischen Regelwerkes, die u.a. Olympia dem Kommerz und, in dessen Schatten, für den Professionalismus öffneten, brachten nicht nur Milliardendollarbeträge für das IOC, sondern auch ein verändertes Olympia.
Die olympische Zukunft findet ohne Coubertin statt. Dessen Nachfolger haben sich nicht nur in der Frage nach Markt oder Tempel für den Markt entschieden, sie führten und führen auch sein Motto, wonach teilnehmen wichtiger sei als zu siegen, ad absurdum, denn für den Professionalismus ist diese Losung ohne Inhalt. Er will mit dem Sport Geld verdienen, ob bei Olympia oder anderen Veranstaltungen.
Die Feststellung H.F. Oertels in einem ND-Interview, dass er das IOC nicht mehr als Sachwalter der Olympischen Idee sehen könne, hat sich für uns bestätigt. Die Aussage, dass die Olympische Idee im Alltagssport vertreten wird, im Kinder- und Jugendsport, im Sport von Millionen Menschen, haben wir im letzten Schwerpunkt unserer Arbeit als Maßstab für den Regionalsport genommen. Dank der Unterstützung aus Sportvereinen, von Reportern der Regionalzeitungen sowie unserer ehemaligen Sportlehrerin und Olympiateilnehmerin Burghild Wieczorek haben wir „Olympisches“ in der Region Bad Lobenstein aufgespürt.
Leider erfüllte sich unser Wunsch nicht, die Arbeit mit olympischen Erfolgen Axel Teichmanns zu „schmücken“ und wir mussten uns mit dem Satz trösten: so ist halt der Sport. Sein Auftreten am Ort der Winterspiele, um nach noch nicht ganz überstandener Krankheit seine Sportkameraden moralisch zu unterstützen, ist aber auch Olympia.
Letztlich zeigte sich, dass unsere Anstrengungen auch so erfolgreich waren, uns viel Freude bereiteten und wir für die Seminarfacharbeit und deren Verteidigung „olympischen Lohn“ erhielten.
Anmerkung des Betreuers Dieter Hertwig: Die Seminararbeit erhielt 14 von 15 zu vergebenden Wertungspunkten.
SPORT UND POLITIK
Von Julius Deutsch (†)
Der österreichische Sozialdemokrat Julius Deutsch (1884 - 1968) gehörte zu den führenden Persönlichkeiten des Arbeitersports. In der Politik erwarb er sich einen Namen als Gründer des Republikanischen Schutzbunds, der in Österreich als Gegengewicht zu den sogenannten Heimwehren entstand. 1934 floh er in die Tschechoslowakei und kämpfte von 1936 bis 1939 als General auf Seiten der republikanischen spanischen Armee. Bis 1951 leitete er nach seiner Rückkehr in Wien die Sozialistischen Verlagsanstalten. 1928 war im Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger sein Buch „Sport und Politik“ erschienen, aus dem wir im Vorfeld seines 40. Todestages diesen Auszug bringen.
[...] Gibt es.einen neutralen Sport?
Unter den vielen Hunderten bürgerlicher Zeitungen, die jahraus und jahrein über den Sport schreiben, wird es wohl nur ganz wenige geben, die nicht mit dem Brusttone der Überzeugung versicherten, dass es ihnen gar nicht einfalle, auch auf diesem Gebiete „Politik" zutreiben. Nein, der Sport, so wird uns immer wieder versichert, sei eine rein menschliche Angelegenheit, die mit den Gegensätzen der Klassen und Parteien nichts, aber schon gar nichts zu tun habe. Nur die unentwegten Klassenkämpfer auf der proletarischen Seite seien es, die auch in das harmlose Treiben des Sports ihre Brandfackeln schleudern und so den Frieden gewalttätig stören... Es scheint, als ob die Heuchelei zum unentbehrlichen Rüstzeug der Diskussion über den Sport gehörte, denn sonst würde man nicht immer wieder diesem Versuche begegnen, die Tatsachen zu verschleiern.
Betrachten wir einmal das, was man uns als neutralen Sport zu präsentieren sucht, was wir aber viel einfacher und klarer als bürgerlichen Sport bezeichnen:
In seiner Reinkultur zeigt er sich bei den großen, prunkvollen Veranstaltungen, die die Sensationslust veranstaltet. Da werden Wochen vorher die Reklametrommeln gerührt, bis Zehntausende Menschen am Tage des Ereignisses zusammenströmen. Die sehen dann voll fieberhafter und mit allem Raffinement künstlich aufgestachelter Leidenschaft zu, wie einige Rekordjäger sich um einen hohen Preis raufen. Der hohe Preis, um den es geht, gehört genau so dazu, wie die sonstige marktschreierische Aufmachung. Je roher und gefährlicher der Sportzweig ist, um den es sich da handelt, desto größer ist die Anziehungskraft. Die Wettkämpfe der Boxer stellen aus diesem Grunde alle anderen in den Schatten. Als Tunney und Dempsey in Chicago um die Weltmeisterschaft boxten, bereiteten die bürgerlichen Sport- und die Tageszeitungen die Bevölkerung wochenlang auf dieses große Ereignis vor. Als dann endlich der heißersehnte Tag gekommen war, gebärdete
sich eine 160.000köpfige Menschenmenge wie irrsinnig bei jedem „Schwinger" und bei jedem „Haken" den einer der Champions austeilte. Die einzelnen Phasen des blutigen Schauspiels wurden durch den Rundfunk der spannungsvoll horchenden Welt verkündet. Einige Menschen hat beim Zuhören am Radio vor Aufregung der Schlag getroffen.
Aber schließlich hat sich die Veranstaltung trotz dieser bedauernswerten Zwischenfälle sehr gelohnt, denn was besagten die paar toten Zaungäste des Vergnügens gegenüber der viel beachtenswerteren Tatsache, daß der eine Boxer sich nicht weniger als eine Million und der andere eine halbe Million Dollars erboxt hatte. Ungerechnet die Summen, die im Wege der Reklame und der Eintrittspreise und gar noch jener, die durch die Wetten in Umlauf gesetzt worden sind. Ja, das war ein großer, ein historischer Tag des bürgerlichen Sports!
Man wende uns nicht ein, daß dieser Boxer-Wettkampf eine Entartung gewesen sei, die auch ernste Leute im bürgerlichen Sportlager verurteilt haben. Mit einer derartigen Ausrede, die einer verlogenen Bemäntelung gleichkommt, ist nichts getan. Es handelt sich vielmehr um die Frage, ob eine Veranstaltung, wie die des Chicagoer Boxer-Wettkampfes nicht der inneren Wesenheit des bürgerlichen Sportes entspricht und infolgedessen mit ihm untrennbar verbunden ist. Wie schaut es denn mit den üblichen Veranstaltungen des bürgerlichen Sports aus? Zeigen sie nicht im kleinen haarscharf alle jene Züge, die uns beim amerikanischen Boxer-Wettkampf ins Riesenhafte verzerrt entgegengrinsten?
Der bürgerliche Sportbetrieb ist samt und sonders auf die individuelle Spitzenleistung eingestellt. Rekord und abermals Rekord - das ist das Zauberwort um das sich alles dreht. Man glaubt, weiß Gott, welchen Grad von Glückseligkeit erreicht zu haben, wenn ein Springer anstatt einen Meter und fünfundachtzig Zentimeter einen Meter und neunzig Zentimeter hoch springt. Die Läuferleistungen eines Nurmi oder Dr. Peltzer werden wie ein Wunder bestaunt und mit der marktschreierischsten Reklame, die nur möglich ist, bedacht. [...] Für die Entfaltung menschlicher Tüchtigkeit ist es ganz gleichgültig, ob dem Fräulein Eberle noch eine Durchquerung einer Meeresenge gelingt oder nicht. [...] Das sind Artistenkunststücke, die mit Sport, der einer harmonischen Ausbildung des ganzen Körpers, nicht aber der hvpertropischen Entwicklung einzelner Körperteile zustrebt, nichts zu tun haben. Artistenkunststücke gehören in den Zirkus, gegen den wir, als einer Stätte des Vergnügens, natürlich nichts einzuwenden haben. Man soll uns nur nicht einzureden versuchen, daß zwischen dem Zirkus und der Volksgesundheitspflege des echten Sports ein Zusammenhang besteht.
Das Streben nach Spitzenleistungen im Sportbetrieb ist verständlich, hat auch einen gewissen erzieherischen Wert und wird deshalb von uns
keineswegs in Bausch und Bogen verdammt. Wir wenden uns aber mit aller Entschiedenheit gegen die von der bürgerlichen Presse aller Länder so sorgsam gehätschelten Übertreibung der Spitzenleistung, gegen die Rekordsucht, die eine große Gefahr für jeden ernsten Sportbetrieb ist. Aber der Rekordfanatismus des Bürgertums ist durchaus kein Zufall. Der bürgerliche Sport ist individualistisch. Das ist seine tiefste Wesenheit. Er stellt die Gemeinschaftsleistung des Massensports gegen die Spitzenleistung des einzelnen zurück. Der bürgerliche Sport kann folgerichtig nichts anderes sein als der sportliche Ausdruck des sonstigen bürgerlichen Lebens. So wie in der Gesellschaftsordnung des Kapitalismus der Stärkere über den Schwächeren siegt und zu Ehre, Ruhm und Reichtum aufsteigt, ist es auch im bürgerlichen Sportleben. Jeder kämpft für sich und gegen alle.
Für unsere Betrachtung ergibt sich somit die Feststellung, dass der bürgerliche Sport mit Notwendigkeit jene Charaktereigenschaft herausbildet, die dem kapitalistischen Leben eigentümlich ist, vor allem also einen hemmungslosen Egoismus.
In der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung ist um Geld alles feil. Warum sollte man da sich nicht auch die Sportler kaufen können? Von der Rekordjägerei zum Berufsspielertum ist nur ein Schritt.[...] An und für sich ist es natürlich nicht unehrenhaft, um Geld sportliche Leistungen zu zeigen. So wenig wie das Gewerbe des Artisten hat das des Berufsspielers etwas Anrüchiges an sich. Der eine wie der andere kann selbstverständlich ein durchaus ehrenhafter Mensch sein und auf einwandfreie Weise sich sein Brot verdienen. Darum handelt es sich in diesem Zusammenhang nicht. Es gilt vielmehr zu untersuchen, ob und welche volkserzieherischen Qualitäten dem Sporte innewohnen. Von diesem Standpunkte aus ist es klar, daß der Berufssport so gut wie gar nichts bedeutet. Wenn einige besonders trainierte - und noch dazu auf ein Kunststück einseitig eingeschulte - Menschen irgendein artistisches Kunststück zuwege bringen, dann hat das für die zuschauende Menge nur den Reiz einer Sensation. Nicht einmal als Anreiz zur Nachahmung und damit als Propagandamittel für eine sportliche Betätigung kommt es in Betracht, weil die gezeigte Rekordleistung eine einseitige Körperausbildung zur Voraussetzung hat, die im allgemeinen nicht erstrebenswert erscheint.
Wir kommen demnach zu dem Schlusse, dass der bürgerliche Sport, der zur Rekordhascherei und zum Berufsspielertum führt, als ein Ausdruck kapitalistischen Wesens von der Arbeiterklasse prinzipiell abgelehnt werden muss. Es ist nicht wahr, dass er neutral ist; er ist vielmehr ein Stück jener Gesellschaftsordnung und Kulturauffassung, die zu zerstören die historische Aufgabe und die sittliche Pflicht des Proletariats ist. [...]
Die bürgerlichen Klassen haben neben der Sportbewegung, die sich ein neutrales Mäntelchen umzuhängen versucht, in den meisten Ländern auch Sportvereinigungen geschaffen, die mehr oder weniger deutlich einen politischen Kampfescharakter zeigen. [...] Von dem Geiste, der im Deutschen Turnerbund (1919) herrscht, geben die folgenden Stellen eines typischen Zeitungsartikels aus seinem Lager ein charakteristisches Beispiel. In der Nummer 11 der „Bundesturnzeitung" vom Jahre 1923 schrieb ein Berliner Hakenkreuzler namens Willi Buch: „Und darum gebeut die Erkenntnis begangener Fehler: Das Machtbegehren des Pöbels zu bekämpfen, Aufopferung im Dienst für Volk und Vaterland höherzustellen als den Kampf um die Futterkrippe. Kampf bis zum Tod, getragen vom grimmen, alles vernichtenden Haß ... Das Deutschland der Zukunft hegt einen Haß und wartet des Führers, der Macht zu werten versteht. Bis seine Fanfare ertönt, sein Banner flattert, hassen wir still. Aber laut rufen wir unsere Verachtung zu: Euch, ihr welschen Frauenschänder und Räuber, euch, ihr entarteten Volksgenossen, euch, ihr fremdländischen Führer in allen Lagern: „Wer nicht mit uns ist, ist wider uns!“ [...]
Bei den Schwimmern, Ruderern usw. zeigt sich das gleiche Bild. So schrieb zum Beispiel die im Auftrage des deutschen Ruderverbandes herausgegebene „Wassersport-Korrespondenz" im August 1925: „Woher kommt es, daß nach dem Kriege Zuchtlosigkeit und Vergnügungssucht in der heranwachsenden Jugend in so erschreckendem Maße zunehmen, dass die Sterblichkeitsziffern steigen, die Geburtenziffern aber abnehmen und überall Genusssucht und Schiebertum in unserem armen Vaterland sich breitmachen? Das sind die Segnungen der `glorreichen Revolution´ und des durch sie vorbereiteten Schandvertrages von Versailles." [...]
Der bürgerliche Sport, der sich gerne als neutraler Sport zu geben versucht, ist individualistisch eingestellt. Er kann, wie wir gezeigt haben, gar nicht anders, als jene Züge zu zeigen, die uns auch aus dem übrigen Weltbild des Kapitalismus entgegenblicken. Das Ganze der Gesellschaftsordnung und der Klassen, die sie stützen, offenbart sich auch in ihrer Teilerscheinung, im sportlichen Betrieb.
Mit der gleichen Notwendigkeit nun, mit welcher der von den kapitalistischen Klassen geführte und geförderte Sport individualistisch ist, zeigt der Sport des Proletariats die entgegengesetzte Tendenz. Der Arbeitersport kann nicht individualistisch sein, ohne sich selbst aufzugeben, er ist in seinem inneren Wesen kollektivistisch.
Der bürgerliche Sport ist unermüdlich bestrebt, Spitzenleistungen einzelner zu erreichen, während der Arbeitersport, als ein Teil der allgemeinen proletarischen Bewegung, sich andere Ziele setzen muss. Das Ziel des proletarischen Sportes ist die Ertüchtigung der Massen. Dieses Ziel kann nicht dadurch erreicht werden, dass einzelne Sportler
einen oder einige Muskel so lange trainieren, bis dieselben, hypertropisch entwickelt, eine Spitzenleistung ermöglichen. Was der Arbeitersport erstrebt und erstreben muss, ist die allgemeine harmonische Durchbildung des ganzen Körpers. Denn die Trainierung einzelner Körperteile, ... erfolgt durch die einseitige Fabriksarbeit ohnedies in einem mehr als genügenden Maße. ... Ebenso wie die ganze moderne Arbeiterbewegung beruht auch der Arbeitersport, als einer ihrer Teile, auf der Masse der proletarischen Menschen. Er lehnt natürlich sportliche Spitzenleistungen nicht ab, sondern wird sie im Gegenteil immer begrüßen und bereitwilligst entwickeln helfen. Er glaubt aber, dass sie auf dem Boden des Massensports sich zwangloser entwickeln können. Die guten Durchschnittsleistungen der Masse scheinen ihm die natürliche und zweckentsprechende Grundlage, der Ausgangspunkt weiterer sportlicher Entwicklung zu sein.
Der verschiedenartigen Wertung der individuellen Spitzenleistung liegt nicht irgend eine zufällige Gedankenkonstruktion, sondern eine mit Notwendigkeit aus der Natur der Dinge erwachsene verschiedenartige Zielsetzung zugrunde. [...] Die Zukunft des Arbeitersports muss sich deshalb von der Rekordhascherei des bürgerlichen Sports ganz von selbst immer weiter entfernen. Man glaube nicht, dass es nur Äußerlichkeiten sind, die diese beiden Sportrichtungen voneinander trennen und ihre Zusammenarbeit hindern. Das Bürgertum kann gar nicht jenen Sportbetrieb entwickeln, den die Arbeiterklasse braucht. Beide Klassen verfolgen - ob bewusst oder unbewusst ist nicht entscheidend - auch im Sport ihre Klassenziele. Deshalb hat eines Tages die reinliche Scheidung der beiden Bewegungen kommen müssen und deshalb wird auch in der Zukunft jede ihren eigenen Weg gehen. [...]
Auf dem Helsingforser Kongreß der Sozialistischen Arbeiter-Sport-Internationale hat der Schweizer Delelegierte Dr. Steinemann ... folgendes Bekenntnis scharf formuliert: „Der Sport ist für den Sozialisten nicht Selbstzweck, er muß der Schaffung einer sozialistischen Kultur dienen."
Es gilt, „die Durchdringung der Massen mit dem Gedanken, daß nicht das Einzelwesen, sondern die Gesellschaft als Ganzes Trägerin und Schöpferin der Kultur ist".
Mit diesen Leitsätzen, die die Zustimmung des Kongresses fanden, werden dem Arbeitersport Aufgaben vom Standpunkte des Sozialismus gestellt, die scheinbar weit über sein unmittelbares Tätigkeitsfeld hinausgreifen und die doch, wie die Erfahrung lehrt, auf das innigste mit ihm verbunden sind. [...]
Coubertins soziale Ziele
Von HANS SIMON
Als Pierre de Coubertin am 2. September 1937 74jährig im Park von Lausanne plötzlich starb, hatte sich das Leben eines humanistischen Denkers, Pädagogen Diplomaten, Dichters, Historikers und „Sportfunktionärs" - oder sollte man treffender „Sportpropagandisten“ sagen? - vollendet, der als Wiedererwecker der Olympischen Spiele, als Begründer des modernen Olympismus und Schöpfer der Olympischen Spiele der Neuzeit in die Geschichte eingegangen ist. Coubertin hat seinen Zielen, der Entwicklung und Förderung des Sports sein ganzes Leben gewidmet und auch sein Vermögen geopfert.(1/S.11)
Der Sproß einer Adelsfamilie wollte - nach Studien in England (Thomas Arnold) - der französischen Jugend unter den Bedingungen der III. Republik ein neues Gesicht geben, indem er Schülersportvereine und Wettkämpfe ins Leben rief, also den Sport als immanenten, neuen Bestandteil der Erziehung in die tägliche Praxis einzuführen versuchte. Dabei hatte er stets die ganze Jugend und die ganze Nation im Auge, nicht nur privilegierte Schichten. Es ist das Kennzeichen Coubertinscher Zusammenschau der Dinge die nationalen Begrenzungen zu überwinden. Für ihn ist die Athletik „international und demokratisch, folglich den Ideen und Bedürfnissen der Gegenwart angepaßt. Aber heute wie ehedem wird ihre Wirkung heilsam oder schädlich sein, je nach dem Nutzen, den man aus ihr ziehen, und der Richtung, in der man sie einpendeln wird. Die Athletik kann die edelsten, wie die niedrigsten Leidenschaften ins Spiel bringen; sie kann Uneigennützigkeit und Ehrgefühl genau so entwickeln wie Geldgier; sie kann ritterlich oder verderbt, männlich oder roh sein. Schließlich kann man sie genausogut verwenden den Frieden zu festigen wie Krieg vorzubereiten"(3/S.25) Diese umfassende Charakterisierung von 1894 findet sich auch in seinem politischen „Testament „1925. (4/S.144) Daß für Coubertin die gesellschaftlichen Bedingungen des Sports entscheidend sind für seine Funktion geht aus der schon 1895 gestellten Frage hervor: „In welcher modernen und den Gegenwartsbedürfnissen entsprechenden Denkordnung finden wir das ethische Gegengewicht, das den modernen Athletismus davor bewahren könnte in die Geschäftemacherei, hineingezogen zu werden und so schließlich im Schmutz zusammenzubrechen?“ (1/S.13)
Es scheint so, als hätte Coubertin schon vor 112 Jahren Probleme einiger Sportarten des Jahres 2007 vorausgesehen, wenn man die mehr oder weniger hilflosen Maßnahmen von Verbänden und Regierungen im Deutschland des 21. Jahrhunderts bedenkt. Dieser Ansicht war auch seine Biografin Eyquem: „Coubertin ist ein Dichter, er lebt in der Phantasie, er träumt zugegeben, aber er ist auch ein Mann der Tat. , Er experimentiert seine umfassende Intelligenz wägt das Wirkliche inmitten
der Gegenwart ab und errät bisweilen die Konturen der Zukunft." (1/S.115)
So war für ihn „die kleine Republik des Sports eine Miniaturdarstellung des demokratischen Modellstaates.“ Er wollte beides miteinander verbinden, fand jedoch nicht die Mittel und Methoden, weil er übersah, dass es keine gleichen Bedingungen für die Menschen in der Klassengesellschaft gab und schrieb 1919: „Einst war die sportliche Betätigung der gelegentliche Zeitvertreib der reichen und untätigen Jugend. Dreißig Jahre lang habe ich mich bemüht sie zu einem gewohnten Vergnügen auch für das Kleinbürgertum werden zu lassen. Nun muß noch das Leben der proletarischen Jugend von der Freude am Sport durchdrungen werden, weil sie das billigste Vergnügen, das dem Prinzip der Gleichheit am besten entsprechende, das wirksamste gegen den Alkohol und das produktivste an beherrschten und kontrollierten Energien ist. Alle Sportarten für alle!"(1/S.14f) Hier zeigte sich der liberale Demokrat, der an die Vernunft appellierte und zugleich von den Stadtverwaltungen forderte, mehr Sportplätze zu schaffen oder wenigstens kleine Wiesen als Spielfelder auszuweisen, für ein Sportprogramm auch Gebäude zur Verfügung zu stellen.
Es ging ihm um die Sportmöglichkeiten , also die materiellen Bedingungen für den Sport. (3/S.131f) und diese Bedingungen waren für die Arbeiterklasse unzureichend weil die bürgerliche Ordnung „die Unterwerfung des Individuums, auf seine Eingliederung in Verfügbarkeit der vier Kräfte, auf die sich die besitzende Klasse stützt: Imperialismus, Militarismus, Plutokratismus und Klerikalismus.“ (1/S.108) Eine derartige Abhängigkeit des Einzelnen von den herrschenden Mächten läßt ihn zu der Folgerung kommen „die kapitalistische Gesellschaft ruht nur noch auf Heucheleien."(1/S.108)
Damit wendete sich Coubertin direkt der Arbeiterklasse zu, allerdings vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Bildung. Daher stellte er die Frage: „Ist es überhaupt damit getan, die Privilegien der oberen Schichten abzuschaffen, müßte man nicht zur Vervollständigung der Reformen jetzt nicht vielmehr der Arbeiterklasse diese Privilegien einräumen?" (1/S.66) Zweifellos hat diese Frage, die Coubertin für sich bejahte, eine logische Folge, weil die „Arbeiterklasse, die von den Besitzenden keinerlei Unterstützung erfährt, in Gesetzen nach Hilfe sucht und verlangt, daß ihr auf Kosten anderer geholfen werden soll." (1/S.67)
Hat diese Überlegung Coubertins angesichts der Situation der Arbeiterjugend an den deutschen Universitäten, die sich hohen Studiengebühren und Bittgängen zu den BAFÖG-Büros gegenübersieht, nicht hohe aktuelle Bedeutung? Coubertin forderte die Gründung von Arbeiteruniversitäten, an denen auch eine breite historische Bildung vermittelt wird (1/S.95), die die Verdienste und Fehler jeder Nation beim
Namen nennen soll. So wird der Chauvinismus, rückgedrängt der „weltweiten Aufruhr auszulösen“ (1/S.97) droht. 1891 lud Coubertin führende Politiker an die Sorbonne ein, um über die Arbeiteruniversitäten zu beraten, darunter auch den Sozialisten Jean Jaures. Er riet, dafür die praktischen und am wenigsten aufwendigen Organisationsformen zu untersuchen und die Fächer und Studiengebiete auszuwählen, „die zu einer Universitätsbildung der Arbeiter am geeignetsten sind“ (1/S.111). Im Jahre 1921 erschien die Schrift „Die Arbeiteruniversitäten“, die von den Arbeiterstudenten selbst geleitet werden sollten als ein Instrument des Ausgleichs der Bildungsmöglichkeiten. 1922 und 1923 veröffentlicht Coubertin zwei weitere Arbeiten zu diesem Thema und eine eigene Charta der Arbeiteruniversitäten (1/S.112f). In Lausanne regte er an, im „Haus für das Volk" die Universität zu realisieren und veröffentlichte 1933 ein Vorlesungsverzeichnis für Übungen in Physik, Chemie, Medizin, Sozialökonomie, Rechtswissenschaft, Geschichte, Kunstgeschichte, Gewerkschaftsbewegung, Fremdsprachen (1/S.114). Er setzte auf pädagogische Reformen und forderte das Proletariat auf „auf das Absolute als Ziel und auf Gewaltanwendung als Mittel zu verzichten" und erläuterte: „um der verderblichen Gewaltanwendung zu entrinnen, die sein Anliegen zum Scheitern verurteilen könnte, muß man das Proletariat in einen Bildungsstand versetzen, durch den es gegen sich selbst ausreichend Abwehrkräfte entwickeln kann, um der noch so berechtigten Empörung und der ganz offensichtlichen Ungerechtigkeit entgegenzustehen, damit es endlich in Beharrlichkeit, aber mit Ruhe seine eigene Aufwärtsentwicklung verfolgen kann." (1/S.109f) So blieb Coubertin gänzlich in den Vorstellungen und Rahmenbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, die er bessern wollte, in der er der Arbeiterklasse Gleichberechtigung verschaffen wollte. Ja, er maß ihr geschichtliche Kräfte zu, als er 1922 in dem Artikel „Zwischen zwei Gefechten - vom Olympismus zur Arbeiteruniversität" erklärt: „Ich setze große Erwartungen in die Arbeiterklasse. In ihrem Schoß ruhen wirkungsvolle Kräfte. Sie scheint mir zu großen Taten fähig." (1/S.115) Schon früher, im Jahre 1920 anläßlich der Eröffnung des olympischen Kongresses in Antwerpen betonte Coubertin, daß die Proletarier die Mehrheit der Bevölkerung darstellen und forderte deshalb, auch der proletarischen Jugend „kostenlos oder fast kostenlos den Weg zur Anleitung und Übungsmöglichkeit im Sport“ frei zu machen.(4/S.132)
Zahlreiche Vorschläge und Vorstellungen Coubertins in der Olympischen Geschichte sind realisiert oder weiterentwickelt worden; die sozialen Ziele harren in wesentlichen Teilen noch ihrer Verwirklichung. Coubertins Erben in aller Welt bleiben ihnen verpflichtet,
Zumal er auch Olympiasieger geworden war. 1912 im Kunstwettbewerb mit seiner „Ode an den Sport“ (Unter den Pseudonymen Georges Hohrod und Martin Eschbach eingereicht.) Deren letzte Strophe lautete:
O Sport Du bist der Friede!
Du schlingst ein Band um Völker,
Die sich als Brüder fühlen in gemeinsamer Pflege
Der Kraft, der Ordnung und der Selbstbeherrschung.
Und Charaktereigenschaften anderer Völker
Schätzen und Bewerten
Sich gegenseitig messen, übertreffen, das ist das Ziel:
Ein Wettstreit in dem Frieden.
(4/S. 105f)
Literaturverzeichnis
1. Eyquem, Marie-Therese :Pierre de Coubertin - ein Leben für die Jugend der Welt. 1972 Dortmund Schopp Verlag
2.Coubertin, Pierre de :Einundzwanzig Jahre Sportkampagne (1887 -1908) 1974 Ratingen Henn Verlag
3. Coubertin Pierre de :Olympische Erinnerungen. 1984 Berlin Sportverlag
4.Ullrich, Klaus :Coubertin - Leben, Denken und Schaffen eines Humanisten.1982 Berlin Sportverlag
5.Eichel, Wolfgang :Zum Gedächtnis Pierre de Coubertins. Theorie und Praxis der Körperkultur 12 (1963) H.1
WER WAR DER AMATEUR?
Von WERNER STENZEL
Umfragen sind heutzutage „in“. „Beiträge zur Sportgeschichte“ folgte diesem Trend und gab eine Umfrage unter drei deutschen Jugend-Mannschaften in Auftrag. Wir hatten zunächst B-Jugend-Mannschaften im Sinn, mussten dann aber feststellen, dass die Alrersgruppen in den verschiedenen Sportarten unterschiedlich sein können. Bei den Fechtern werden 12 bis 13jährige unter „B-Jugend“ geführt, in der Leichtathletik 15 bis 17jährige. So entschieden wir uns für Sportler der Geburtsjahrgänge 1990/1991 und zwar im Fußball, im Turnen und in der Leichtathletik. Um den Aufwand in Grenzen zu halten, ließen wir nur zwei Fragen stellen: „Glaubst mit wenigen Worten erklären zu können, was ein Amateur ist?“ und „Gibt es noch Amateure?“
Befragt wurden 53 Personen. Die erste Frage wurde von allen Befragten mit „Nein“ beantwortet, die zweite von 48 - also 91 Prozent - mit „Nein“. Hätte man die Frage Nicht-Sportlern gestellt, wäre das Resultat mit ziemlicher Sicherheit noch weit negativer ausgefallen.
Statthaftes Fazit: Im Jahr 2007 interessiert der Begriff „Amateur“ kaum noch jemanden!
Der „Grosse Brockhaus in einem Band“ 2003 kam mit 18 Worten aus, die zudem noch an der Grenze der Fragwürdigkeit lagen: „Amateur (frz. `Liebhaber´) der, jemand, der eine Beschäftigung nur aus Liebhaberei betreibt; im Sport durch A(mateur) -Statut definiert, im Spitzensport umstritten.“ 1)
Diese Auskunft ist schlicht falsch.
Wer auf der IOC-Website in der Rubrik „Olympische Bewegung„ nach dem „Amateurparagrafen“ fragt, erhält die Antwort „no result“ und wer dann die Anfrage auf „Amateur“ reduziert, erhält 24 Antworten. Die erste nennt den dreifachen kubanischen Box-Olympiasieger Teofilo Stevenson und den aber nur, weil das Suchsystem bei den Ehrungen, die der Internationale Boxverband ihm erwies auf den Zusatz stieß: „damals unter dem Namen Internationale Amateur Box Association bekannt“.
Kurzum: Nicht nur deutsche Sportler der Jahrgänge 1990/1991 sind ziemlich ahnungslos, nicht einmal das Internationale Olympische Komitee hält es für nötig, darauf hinzuweisen, welche Rolle der Amateurbegriff in der olympischen Geschichte spielte.
Wer versuchen wollte, allein die Debatten in Sessionen des IOC oder auf Olympischen Kongressen bis 1981 in Stichworten wiederzugeben, müsste sich auf mehrere Protokollbände einrichten. Deshalb gilt es, sich kurz zu fassen.
Am 18. Juni 1894 begannen in der Pariser Sorbonne die Arbeitssitzungen des ersten Olympischen Kongresses, der die Frage klären sollte, ob und unter welchen Voraussetzungen die antiken Olympischen Spiele wieder
ins Leben gerufen werden sollten. Die Schlußsitzung des Kongresses am 23. Juni 1894 nahm einstimmig den Bericht der Kommission an, die die Frage der Zukunft der Spiele klären sollte. Deren Entschließung umfasste sieben Punkte:
„1. Die Olympischen Spiele sollen entsprechend den Bedingungen der modernen Zeit wiederentstehen.
2. Außer im Fechten sollen nur Amateure zugelassen sein.
3. dem mit der Organisation der Olympischen Spiele beauftragten internationalen Komitee soll das Recht zustehen, Personen von der Teilnahme auszuschließen, die seinen Bedingungen nicht entsprechen.
4. Kein Land soll sich durch ein anderes vertreten lassen dürfen, und in jedem Land sollen Auscheidungen zur Teilnahme an den Olympischen Spielen durchgeführt werden, damit auch wirklich die wahren Meister daran teilnehmen.
5. Folgende Sportarten sollen nach Möglichkeit bei Olympischen Spielen durchgeführt werden: Leichtathletik, verschiedene Ballspielarten, Eislauf, Fechten, Boxen, Ringkampf, Pferdesport, Schießen, Turnen und Radsport. Außerdem soll ein Mehrkampf unter dem Begriff `Fünfkampf´ eingeführt werden. Anläßlich der Olympischen Spiele sollte außerdem ein Preis für Alpinismus vergeben werden, womit die größte Leistung der vergangenen 4 Jahre ausgezeichnet werden kann.
6. Die ersten Olympischen Spiele sollen 1896 in Athen und die zweiten 1900 in Paris abgehalten werden, danach alle vier Jahre in einer anderen Stadt der Welt.
7. Da die Olympischen Spiele ohne die Unterstützung der Regierungen nicht gelingen können, wird das internationale Komitee jegliche Anstrengung unternehmen, öffentliche Unterstützung zu erhalten.“2)
Das ist also die Geburtsurkunde der Olympischen Spiele und die Bedingung, dass nur Amateure daran teilnehmen dürfen, ist der zweite von sieben Punkten, was deutlich macht, welche Bedeutung, dieser Bedingung beigemessen wurde.
Und wer wurde ein Amateur? Und warum wurde bei den Fechtern eine Ausnahme gemacht?
Die Amateurklausel wurde ebenfalls in der Sorbonne beraten und in der ersten Ausgabe des Bulletins des Internationalen Komitees der Olympischen Spiele abgedruckt: „Amateursportler ist jeder, der nie an Wettkämpfen teilgenommen hat, die allen offenstanden; der nie für Geld oder für einen Geldpreis, gleich welcher Herkunft, besonders, wenn es sich um Eintrittsgelder handelte, an einem Wettbewerb teilgenommen hat; der nie gegen Profisportler angetreten ist und der nie in seinem Leben Sportlehrer oder bezahlter Trainer war.“3)
Britische Delegierte hatten, der Amateurformel der britischen Ruder-Association folgend, sogar vorgeschlagen, dass Arbeiter nicht als
Amateure anerkannt werden könnten, weil sie „ihre Verrichtungen mit den Händen ausübten“, doch wurde dieser Vorschlag von der Mehrheit als eine Herausforderung der Demokratie abgelehnt, was man als Schritt „zum Abbau des Klassenbewußtseins im Sport“4) bewertete.
Die in keinem weiteren Protokoll mehr erwähnte Ausnahme im Fechten, resultierte aus der unverhohlenen Sympathie der Kongressdelegierten für das Fechten im allgemeinen, das als Teil des studentischen Lebens betrachtet wurde. Ohne Fechtlehrer aber wäre diese studentische Gewohnheit nicht realisierbar gewesen und um sie nicht zu verprellen, wurde schon 1896 ein Florettwettbewerb für „Fechtmeister“ und einer für „normale“ Fechter ausgetragen. Gleiches geschah in Paris 1900, wo man allerdings die nach langen Erörterungen beschlossene Amateurregel grob verletzte und im Florett einen Wettkampf austrug, in dem Amateure und Fechtmeister aufeinandertrafen. Der erst 16jährige Kubaner Ramon Fonst wurde Olympiasieger im Amateur-Florett und Zweiter im „gemischten“ Wettbewerb. Der französische Sieger Albert Ayat kassierte 3000 Franc. Für lange Zeit, der einzige olympische Geldpreis!
Der Streit um angeblich verletzte Amateurbestimmungen beherrschte von nun an die olympische Geschichte. Einer der spektakulärsten Fälle war die Disqualifikation des Leichtathletik-Zehnkampfsiegers von 1912 Ian Thorpe (USA), der angeblich vor den Spielen bei einem Baseballmatch Geld kassiert hatte. Der US-amerikanische Protest, der zu seiner Disqualifikation führte, dürfte jedoch weniger auf die Sorge um die Einhaltung der Amateurregeln zurückzuführen sein, als auf den Unwillen der herrschenden Öffentlichkeit, einen Indianer als den Helden der Spiele feiern zu sollen.
Immer wieder wurden Anläufe genommen, um eine verbindliche Amateuregel des IOC zu verabschieden, doch scheiterten die meisten Versuche nicht zuletzt an den unterschiedlichen Regeln der Sportverbände und am Unvermögen eine auch nur halbwegs Variante zu finden, die sich wirksam kontrollieren ließ.
Im Juli 1914 feierte das IOC in den gleichen Hörsälen, in denen es die Erneuerung der antiken Spiele beschlossen hatte, den 20. Jahrestag dieser so erfolgreichen Initiative. Aber am 28. Juni war in Sarajewo der österreichisch-ungarische Thronfolger ermordet worden und so stand die Tagung bereits im Schatten des Ersten Weltkriegs und selbst das vom Baron de Coubertin inszenierte glanzvolle Programm vermochte diese Schatten nie zu vertreiben. Wieder konnte man sich nicht auf eine verbindliche Amateurklausel einigen und beschloss: Zu den Spielen sollen nur Sportler zugelassen werden, die den Amateurbestimmungen ihrer Fachverbände entsprechen. Eine sehr dehnbare Lösung.
1925 verabschiedete sich Coubertin vom IOC und man arrangierte ihm zuliebe in Prag einen Pädagogischen und einen Olympischen Kongress.
Wieder stand auch die Amateurfrage auf dem Programm und der kluge Coubertin dämpfte die aufkommenden Hoffnungen, das nun schon drei Jahrzehnte schwelende Problem aus der Welt schaffen zu können und prophezeite: „Man darf sich nicht mit der Erwartung schmeicheln, eine Formel zu finden, die auf alle anwendbar und allen angenehm ist. Es wäre bereits ein großer Fortschritt, wenn man Direktiven geben könnte, die in einer Richtung weisen, um so aus dem Sumpf herauszukommen, in dem man lange steckte. Die Charta des echten Amateurismus kann nur dann verfasst werden, wenn man sich über die Prinzipien einig ist, die den Text tragen müssen.5)
Jeder Buchstabe verriet Coubertin, der weder ein Hehl aus der Wahrheit machte, die er treffend als Sumpf bezeichnete, noch Illusionen über eine mögliche Einigung hegte. So kam es denn auch. Die beschlossene Formel lautete: „Zur Teilnahme an den Olympischen Spielen kann nicht zugelassen werden:
1. Wer in seiner oder einer anderen Sportart Berufssportler ist oder gewesen war,
2. Wer Vergütungen als Entschädigung für Verdienstausfall erhalten hat.“6)
Zum ersten Mal hatte man nur entschieden, wer nicht teilnehmen durfte, im Grunde ein Trick mehr in dieser Frage, denn kaum jemand glaubte damals, dass man je erfahren würde, ob ein Athlet irgendwo „Vergütungen“ kassiert hatte.
So ging Coubertin und hinterließ den „Sumpf“.
1932 widmete das inzwischen zur klassischen Sport-Literatur zählende Beckmann-Standard dem Amateurthema eine ganze Druckseite, ein Beweis mehr, wie verworren die Situation war. Hier einige Auszüge: „Amateur; nach den Bestimmungen der meisten Sportverbände ist ein Sportler entweder A(mateur) oder Berufssportler, eine Zwischenstufe wird nicht anerkannt. ... Die Scheidung in A(mateur) und Berufssportler wird dadurch erschwert, daß in einer Reihe von Sportzweigen für A(mateur) mehr Möglichkeiten zu Wettkämpfen und öffentlichem Auftreten bestehen als für Berufssportler, so daß ein offener Übertritt zum Berufssportlertum möglichst vermieden wird. Die Sportverbände setzen die Bedingungen fest, unter denen jemand als A(mateur) gilt; sie sind bei den einzelnen Sportzweigen verschieden. Die Verbände gestatten regelmäßig den Ersatz tatsächlicher Auslagen auf Reisen zu Sportveranstaltungen. Ob auch ein Ersatz von Gehaltsausfall stattfinden darf, ist noch nicht einheitlich entschieden. Nach den A(mateur) -Bestimmungen der Olympischen Spiele ist dies unzulässig, die FIFA (Fussballverband) gestattet es jedoch innerhalb gewisser Grenzen. ... Bei der deutschen Turnerschaft erfolgt die Leistung der Reiseauslagen in natura. ... Der DRA (Deutscher Reichsausschuss) bemüht sich um eine Vereinheitlichung der
A(mateur) -Bestimmungen: es soll ein Ersatz des Lohnentganges nur bei längerer Dauer und bei einer für den Sportler bestehenden gesetzlichen Unterhaltspflicht erfolgen. Selbständige und in staatlichen Diensten stehende Sportlehrer gelten als A(mateur) ... Wer wegen materieller Gegenleistung den Verein wechselt, verliert die A(mateur)-Eigenschaft, wer dazu verleitet, wird ausgeschlossen. Eine Rückkehr zum Amateurtum ist nach einer gewissen Frist möglich. Den A(mateur) ist der Verkauf von empfangenen Ehrenpreisen verboten, z. T. finden sich bes. Verbote, mit den Leistungen als Sportsmann Reklame zu treiben. Der Handel mit Sportartikeln ist jetzt den A(mateur)en meist gestattet. ... Heute wird zur Begründung der Scheidung angeführt, daß ein Kampf zwischen Berufssportlern und A(mateur) wegen der größeren Schulung der Berufssportler ungleich sei, und daß auch der Berufssportler nicht der eigentlichen Idee des Sportes diene. Sei doch diese Idee die Vervollkommnung des Körpers um des Körpers willen oder um des Menschen willen, aber nicht wegen irgendwelcher Nebenzwecke. ... Als A(mateur) wird im Eislauf nicht anerkannt, wer 1. irgendeine sportliche Leibesübung erwerbsmäßig selbst betrieben hat (ausgenommen sind Turn- und Fechtlehrer); 2. das Schlittschuhlaufen um Geld ausgeübt oder gelehrt hat. Die Reise- und Aufenthaltskosten dürfen seitens des eigenen oder des ausschreibenden Vereines oder Verbandes rückerstattet werden. Dabei darf bloß die Eisenbahnfahrt zweiter Klasse oder die Schiffahrt erster Klasse, bei Nachtfahrten Schlafwagen, sowie ein Betrag für Verköstigung und Nächtigung vergütet werden, der aber 20 schwedische Kronen pro Tag nicht überschreiten darf. ...7)
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der endlose Streit fort. Er erreichte sogar einen neuen Höhepunkt bei den ersten Nachkriegsspielen im Winter 1948 im schweizerischen St. Moritz. Aus den USA waren zwei Eishockey-Mannschaften angereist. Die eine war von der American Hockey Association (AHA) nominiert, doch beschuldigte der Präsident des NOK der USA (AOC), Avery Brundage, die AHA der Kooperation mit den Profiligen und forderte die Teilnahme der AOC-Mannschaft. Das IOC beriet Tage und Nächte und beschloss, beide Mannschaften nicht zuzulassen. Die Schweizer ignorierten diese IOC-Entscheidung und gestatteten der attraktiveren A.H.A.-Mannschaft die Teilnahme. Das danach mit vollendeten Tatsachen konfrontierte IOC verkündete eine dementsprechende „Entscheidung“: „Unter der Bedingung, dass die A.H.A. im Gesamtergebnis nicht berücksichtigt wird, werden den drei erstplazierten Mannschaften Medaillen und Urkunden ausgehändigt. Die Internationale Eishockey-Liga wird vom IOC künftig nicht mehr als das für die Kontrolle des Amateur-Eishockeysports internationale Organ angesehen.“ Bei der Eröffnungszeremonie marschierte die AOC-Mannschaft in die Arena, beim Turnier spielte das A.H.A.-Team.
schlug zum Beispiel Italien mit 31:1, verlor aber am vorletzten Tag gegen die CSR 3:4, kam damit nicht unter die letzten drei und ein Jahr später strich man sogar den vierten Rang, sodass die Mannschaft mit fünf Siegen und der Höchsttorzahl von 86 Treffern in den Statistiken unplaziert blieb. Das IOC hatte sich durchgesetzt, sah sich aber schon bald mit einer noch ärgeren Affäre konfrontiert.
Bei den Sommerspielen 1948 in London entdeckte der französische Oberst Hector, Sekretär der Internationalen Reitervereinigung eine Unteroffiziersmütze auf dem Kopf des schwedischen Dressursreiters Gehnäll Persson und ging der Sache nach, denn nach den Regeln des Verbandes durften in solchen Wettbewerben nur Offiziere starten. Es stellte sich heraus, dass der Unteroffizier Persson durch ein königliches Dekret für die Dauer der Spiele zum Leutnant befördert worden. Das IOC tagte auch diesmal pausenlos, doch die Reitervereinigung blieb hart und Persson wurde disqualifiziert. (Er revanchierte sich 1952 mit dem Sieg in der Mannschaftswertung.)
Nach der Rücktritts-Ankündigung des schwedischen IOC-Präsidenten Edström im Jahr 1949 rückte der US-Amerikaner Avery Brundage immer mehr in den Vordergrund. Er richtete 1950 ein Rundschreiben an alle IOC-Mitglieder, das den Vierbuchstabentitel „Stop“ trug und die wohl nachdrücklichste Aufforderung war, auf die Amateurregel nicht zu verzichten. Sein Kernsatz: „Geschäfte bleiben Geschäfte, und Sport bleibt Sport. Es ist unmöglich, beides zu vermischen!“8)
Von nun an wurden Brundage-Rundschreiben zur Gewohnheit. Gleich nach den Spielen 1952 in Helsinki - auf der dortigen IOC-Session war er zum neuen Präsidenten gewählt worden - schrieb er im September 1952 einen sechs Seiten langen Brief an alle IOC-Mitglieder. Darin las man: „In der materialistischen Zeit, in der wir leben, wird ein mehr oder weniger konstanter Druck ausgeübt, um das Niveau des Amateur-Sports herabzudrücken. Das kann nur Unheil heraufbeschwören.“9)
Ein Jahr später bewog er das IOC Artikel 25 der Olympischen Regeln um den Satz zu ergänzen: „Kein Berufssportler bzw. kein aktiv mit dem Berufssport in Verbindung stehende Person oder Organisation kann zum Mitglied eines Nationalen Olympischen Komitees gewählt werden.“10) Alles Schritte, die die Kommerzialisierung des Sports vereiteln sollten, aber letztlich ohne Effekt blieben.
Dann kam das Thema „Staats-Amateure“ auf, das vor allem in Vorwürfen gegen die Sportorganisationen der sozialistischen Länder gipfelte. In der Bundesrepublik Deutschland wurde bekanntlich eine aufwändige Kampagne gegen angebliche Verstöße gegen die Amateurregeln in der DDR geführt. Vor allem Athleten, die die DDR verlassen hatten, wurden sogar von Willi Daume animiert solche Verstöße zu beeiden. Die notariellen Erklärungen schickte das NOK der BRD serienweise an das
Büro des IOC in Lausanne. Dessen damals amtierender Kanzler Otto Mayer machte aus seinem Unbehagen gegenüber dieser Denunziantenpraxis kein Hehl und ermunterte mich in einem persönlichen Gespräch einmal: „Sorgen Sie dafür, dass wir Gegendarstellungen bekommen und die Siegel der Notare sollten größer sein, als die unter den Briefen aus der BRD!“
Brundage in einer Presseinformation aus dem Jahr 1953: „Die Frage der `Staatsamateure´ existiert bereits seit mindestens 20 Jahren in den Beratungen des IOC. Vor dem Zweiten Weltkrieg, also lange vor der Entstehung des Eisernen Vorhangs, hat sich das IOC gegen die Methode, Sportlern Hilfsgelder zu zahlen, gewandt. Wir sind der Meinung, dass es `Staats-Amateure`(die wohlgemerkt keinesfalls Amateure sind) zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gibt.“11)
Bei dieser Aktivität war es nicht überraschend, dass Brundage bald in den Mittelpunkt heftiger Medienattacken geriet. Im Dezember 1953 veröffentlichte er im IOC-Bulletin (Nr. 43) einen Brief an die Journalisten in aller Welt: „Ich gebe zu, dass ich unduldsam gegenüber Profisportlern bin, die versuchen als Amateure aufzutreten, ebenso wie ich keine andere Form von Unehrlichkeit, Betrug und Schwindel dulde. Jeder Sportler, der von seiner Regierung Subventionen erhält oder einer Sonderbehandlung unterliegt, um Sport treiben zu könne, ist genau so wenig ein Amateur wie ein Student der Vereinigten Staaten, dem eine Universitäts-Institution Geld oder eine Sonderbehandlung fürs Fußballspielen gewährt.“ 12)
Damit ist hinreichend belegt: Avery Brundage war der letzte IOC-Präsident, der aus Überzeugung für den „reinen Amateur“ eintrat und allen Ernstes daran glaubte, dass die schon 1894 umstrittene Amateurregel noch durchzusetzen sei. Sein Standpunkt gipfelte in der zweifellos unumstittenen Feststellung: „Da der Sport ein Spiel ist, kann er nicht zum Beruf werden. Der sogenannte Berufssport kann keinesfalls Sport sein, sondern bleibt eine Art Ausbeutung des Vergnügens.“12)
Niemand leugnet heute mehr, dass Berufssport ökonomisch betrachtet, eine Industriebranche ist, aus marxistischer Sicht auch mit Ausbeutung verbunden ist.
Brundage-Nachfolger Lord Killanin verteidigte mit viel Umsicht die Reste der olympischen Amateurprinzipien ohne Illusionen daran zu knüpfen. IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch lieferte die Olympischen Spiele widerstandslos dem Kommerz aus. Die ersten Spiele, die während seiner Präsidentschaft ausgetragen wurden - 1984 in Los Angeles - waren die ersten hemmungslos auf dem vom Markt ausgetragen wurden. Als die Manager, die das Geschäft besorgten, sogar den Fackellauf „verkauften“ weigerten sich die empörten Griechen, das Feuer im antiken Olympia entzünden zu lassen und wurden nur durch Samaranch und dessen
juristischer Konstruktion, wonach der olympische Hain dem IOC untersteht, daran gehindert.
1981 wurde der Amateurparagraf endgültig aus dem olympischen Regelwerk gestrichen.
2007 ist kaum noch jemand imstande, den Begriff des Amateurs zu definieren.
1) Der große Brockhaus; Leipzig 2003
2) Norbert Müller; Von Paris bis Baden-Baden; Niedernhausen 1981
3 ) Ebenda
4) Ebenda
5) Ebenda
6) Ebenda
7) Beckmanns Sport-Lexikon; Leipzig-Wien 1933
8) Otto Mayer; A travers les anneaux olympiques; Genf 1960
9) Ebenda
10) Ebenda
11) Ebenda
12) Ebenda
DER FEIERTAG - AUS SICHT DER ANDEREN
Von KLAUS HUHN
In Berlin und Leipzig war gefeiert worden, Frankfurt (Main) meldete: „Totengedenken“. Der das „klarstellte“, heißt Michael Reinsch, verdient seinen Lebensunterhalt bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und tut
seit eh und je viel, damit man dort mit ihm zufrieden ist. Ich erinnere mich noch dunkel, als er damit begann, im DDR-Sport Spuren sozialistischer Verworfenheit aufzuspüren. Fand er keine, erfand er sie. Das erste Mal begegneten wir uns, als er angereist war, um den bunten Lack von der Friedensfahrt zu kratzen. Er gab sich als „Kumpel“ und enthüllte den FAZ-Lesern hinterher, dass sich auf den Friedensfahrtstraßen Rennfahrer aus der UdSSR und der DDR im Sattel handfeste Prügeleien lieferten, wenn sie nicht gerade ums Gelbe Trikot kämpften. Dass die BRD Jahre lang ein Startverbot für das Rennen dekretiert hatte, erwähnt er nie mit einer Silbe. Irgendwann nach 1990 wollte er dann den „Überläufer“ Schur porträtieren, wie er als Tourist zur Tour de France kam, für Reinsch seine „Endstation Sehnsucht“. Ich machte damals den Preis: Eine Flasche besten französischen Weißweins für ein 15-Minuten-Gespräch. Er maulte, zahlte, trollte sich. Die Story gehörte zu seiner Endlos-Serie „Wie der DDR-Sport unterging“ und an der strickt er noch heute. Wenn ihm - was schon mal unterläuft - nichts mehr einfällt, kramt er DDR-Zigarettenbilderalben aus und verwendet sie als Quellen.
1998 feierten DDR-Sportfunktionäre den 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Sportausschusses. Er signalisierte der FAZ: „Veteranen setzen sportlichen Klassenkampf fort“. Neun Jahre später beging man den 50. Jahrestag der Gründung des DTSB, viele Veteranen waren noch immer da und - was Reinsch sichtlich erboste - vom DDR-Sport war trotz seiner unendlichen Zigarettenbildergeschichten noch immer die Rede. Also hängte er sich ans Telefon, hoffte den früheren Generalsekretär des DDR-Ringerverbandes, Erhard Richter, der heute den DTSB-Seniorenverband leitet, mit rüden Fragen zu provozieren, titelte seine Story „Der `Freundeskreis´ lässt einen Verstorbenen hochleben“ und fabulierte im gewohnten Zigarettenbilderalbum-Stil: „Richter verweigert am Telefon wütend Auskunft. `Es gibt keine Geburtstagsfeier´, schimpft er. `Der DTSB ist vor siebzehn Jahren abgewickelt worden.´ In der Tat reduzierte die letzte DDR-Regierung mit ihrer Sportministerin Cordula Schubert die Unterstützung der staatlichen Sportorganisation rigoros.“ Das ist „Geschichts“aufarbeitung a la FAZ-Reinsch pur. „Stasi“ und „Doping“ folgen umgehend: „Mehr als ein sentimentales Kaffeekränzchen dürfte die `festliche Veranstaltung´ werden, zu der der 76 Jahre alte Richter und Genossen geladen haben. Vor wenigen Wochen erst machten sie Schlagzeilen, als sie dem Eiskunstlauftrainer Ingo Steuer, der wegen des Verschweigens seiner Stasi-Tätigkeit aus dem Verband und aus der Bundeswehr geworfen worden war, den Flug zur Weltmeisterschaft nach Tokio bezahlten.“ Viertelwahrheiten sind Reinschs Leidenschaft. Er unterschlägt, was mancher wissen könnte: Steuer betreute seine Schützlinge dank eines Rechtsstaat-Gerichtsurteils bei den Olympischen Winterspielen und danach auch bei den
Weltmeisterschaften. Allerdings hatte Schäuble die Flugkosten zur WM nach Tokio gestrichen und die hatten dann die Senioren - im Sinne des Rechtsstaats - beim Eisbeinessen gesammelt.
Um ein „Band“ zwischen Richter und der Stasi zu knüpfen, blätterte er diesmal nicht im Zigarettenbilderalbum, sondern - der technische Fortschritt marschiert - surfte im Internet: „der einstige Generalsekretär des Ringerverbandes der DDR ist heute auch Vorsitzender der AG Sport in der als Selbsthilfeorganisation von Stasi-Offizieren gegründeten `Gesellschaft für rechtliche und humanitäre Unterstützung´ e.V. (GRH). Als solcher beharrt er auf der Überlegenheit des sozialistischen Sports à la DTSB, wie auf der Internetseite der GRH nachzulesen ist. `Aus dem schweren Anfang gelangte der Sport der DDR zur Weltspitze. Da die Sportler der BRD-Alt oft hinterherliefen, weniger gut sprangen oder schwammen, wurde nach 1990 die Stasikeule geschwungen. ...“ Für Reinsch und andere: Der erste Satz des GRH-Statuts lautet: „Die GRH ist eine Organisation, die in Verwirklichung der Grundsätze eines sozialen und demokratischen Staatswesens mit politischen und juristischen Mitteln im Rahmen des Grundgesetzes der BRD, in Übereinstimmung mit den internationalen Vereinbarungen über die Bürger- und Menschenrechte in der Öffentlichkeit wirkt.“
Vielleicht mit sich und dem Telefonat unzufrieden, eskalierte Reinschs Anti-DTSB-Stimmung: „... wie nur ... eben in einer Diktatur möglich, trieben sie die Effektivität der Medaillenproduktion auf die Spitze: von der massenhaften Talentsuche über das personalintensive Training bis zum zynischen Einsatz von Hass und Dopingmitteln...“
Man möchte Reinsch anraten: Dann doch lieber Zigarettenbilderalben. Denn: Wer strebt nicht nach Effektivität in der Medaillenausbeute? Wer betreibt die Talentsuche nicht massenhaft? Wer verzichtet auf personalintensives Training? Wann wurde wo „Hass“ in der DDR zur Leistungssteigerung verwendet - so das möglich sein sollte? Und sollte Reinsch die Dopinggeständnisse der letzten Wochen in der FAZ überlesen haben? Oder die Mitteilungen über die Höhe der dafür aufgewandten Honorare.
Sollte jemand noch die Frage stellen wollen, ob Michael Reinsch an jenem Vormittag die Zusammenkunft anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung des DTSB wenigstens besucht hat, um sich - unter Journalisten gemeinhin üblich - selbst ein Bild zu machen, müsste man ihm antworten: Nein.
Muss er auch nicht, denn: Er weiß fast alles1).
Am Rande: Er ist nicht der einzige in der Branche. Da wäre zum Beispiel noch Holger Schück. Wer sich informieren will, in welchen Sportarten der sich selbst als kundig preist, wirft einen Blick in das jährlich verbreiteten Sportjournalisten-Taschenbuch und liest dort: „Sportpolitik, Profiboxen,
Gesellschaftspolitik, Audio-Features.“ Wer ihn im Bereich „Sportpolitik“ testen wollte, stieße vielleicht auf den Pressedienst des „Deutschen Olympischen Sportbundes“ (2.5.2007), dem der DTSB faktisch 1990 beigetreten worden war. Unter dem anspruchsvollen Titel „Hintergrund und Dokumentation“ schrieb er dort: „Es war ein Jubiläum, das offiziell nicht gefeiert wurde.“ Fragt man sich: Wer hätte es denn „offiziell“ feiern sollen? Und fände nirgends eine Antwort. Schück aber weiß: es wurde „...von einigen Hardlinern und Ewiggestrigen in einer `festlichen Veranstaltung´ in Berlin-Marzahn begangen.“ Diese Unbelehrbaren! Schück jedenfalls weiss: „Diese so genannte Massenorganisation, die ganz im Dienste der SED und ihrer Herrscher-Clique stand, war weit davon entfernt mit einem autonomen Status die wahren Interessen der Sporttreibenden zu vertreten.“
Genug davon. Ich habe noch nie Schücks Profiboxberichte gelesen. Dürftiger könnten die nicht sein.
Bliebe noch abzurunden, dass auch „Spiegel-Online“ dem Ereignis Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Auch da reicht ein Satz: „Er sollte auf sportlichem Weg den Klassenfeind besiegen.“
Der Autor vergaß anzufügen: Er tat es auch!
Und wir konstatieren schlicht: Glückwünsche von Reinsch, Schück & Co wären peinlicher gewesen. Ihr Hass zeugt von anhaltender DTSB-Langzeitwirkung...
Fußnote:
1) Was Reinsch offensichtlich nicht weiß ist, wie sich die „Vereinigung“ 1990 vollzog. Darüber hatte „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe 40/1990 (S. 235 f) ausgiebig berichtet: „Das erfolgreichste Sportsystem der Welt wird mit der Vereinigung demontiert. Mit Unterstützung aus Bonn treten die westdeutschen Sportführer in der DDR wie Kolonialherren auf und interessieren sich nur für medaillenversprechender Spitzenathleten. Deren Trainer werden vergrault, viele arbeiten bereits im Ausland.
Der Mann im grauen Arbeitskittel schaufelt bedächtig Gartenabfälle in die Schubkarre. Noch Mitte August wurde Horst Freitag bei der Weltmeisterschaft in Moskau als einer der erfolgreichsten Trainer der Welt gefeiert. Jörg Damme, der nebenan Rasen mäht, hatte dort Gold im Trapschießen gewonnen. Zwischen den Rabatten gärtnert das Erfolgsduo nur noch, um die Schießanlage in Hoppegarten in `ordentlichem Zustand´ zu übergeben.
Von den Schützenbrüdern aus dem Westen hat Freitag, der von Januar an arbeitslos ist, bisher nur Zynisches gehört. Er dürfe, so das Angebot, im vereinten Deutschland allenfalls Honorartrainer werden: für 4000 Mark - im Jahr.
Wie Freitag ergeht es vielen: Spitzentrainer aus der DDR sind im Westen allenfalls zu Dumpingpreisen. Je näher die für den 14. Dezember terminierte Sportvereinigung rückt, desto deutlicher wird, dass das von Innenminister Wolfgang Schäuble propagierte `Zusammenwachsen in vernünftiger Weise´tatsächlich ein skrupelloser Anschluss ist.
Zwar gibt es keine offiziellen Vorgaben, doch alle westdeutschen Verbandsfürsten treten nach demselben Muster wie Kolonialherren auf. Sie ließen die 11000 angestellten DDR-Funktionäre und -Trainer auf die Straße werfen und winken jetzt denjenigen gnädig mit Planstellen, die Wohlverhalten zeigen.
An der Einheit interessiert die Sportführer nur zweierlei: die medaillenversprechenden Spitzenathleten aus den, so das Ost-Berliner Sportecho `Billimärkten der DDR´und zusätzliche 120 Millionen Mark Steuergelder aus Bonn. Mit `äußest großzügiger Hilfe´, lobt der Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB), Hans Hansen, ermöglicht der Bundeskanzler die Ausdehnung ihrer Macht auf Feindesland. ... Schon bald, prophezeien Experten, würden die für den Westen typischen Probleme wie Planlosigkeit, Postenhuberei und Mißwirtschaft auch das erfolgreichste Sportsystem der Welt zerstört haben. ...
Angesichts des zu erwartenden olympischen Edelmetalls bedienen sich auch jene Funktionäre ungeniert `vom Fleisch des Opferlamms´, so die Ostberliner Junge Welt, die jahrelang über den DDR-Sport `nur die übelsten Spekulationen´ (Sport, Zürich) verbreiteten. Bei der Leichtathletik-Europameisterschaft in Split steuerte etwa Westpräsident Meyer auf den DDR-Kugelstoßer Ulf Timmermann zu. `Guten Tag, Meyer mein Name´, ging er den verdutzten Athleten an, `ich bin demnächst ihr Präsident und wollte Ihnen auch zur Goldmedaille gratulieren.´
In allen gesamtdeutschen Verbänden werden die bundesdeutschen Machthaber im Amt bleiben. Keiner, klagt DDR-Schwimmpräsident Wilfried Windolf, `will seine Position aufgeben.´ Ihm bot sein West-Kollege Bodo Hollemann den Posten des vierten Vizepräsidenten an, ohne Stimmrecht. Statt über Integration diskutiert Hollemann lieber darüber, wer die beiden Volvos des DDR-Verbandes lenkt und wem ein Autotelefon installiert wird. ...
Im engen Schulterschluß mit den Funktionären dürfen sich auch die treu ergebenen Bundestrainer sicher auf ihren Posten fühlen So hat der ehemalige Postbote Horst Bredemeier den Vorzug als gesamtdeutscher Handball-Nationaltrainer vor dem anerkannten Diplomsportlehrer Klaus Langhoff erhalten. Der Westdeutsche, so begründeten die Präsidien ihre Entscheidung, habe einen gültigen Vertrag. Der war allerdings erst elf Wochen zuvor bis 1992 verlängert worden. ...
Die im alten System gehätschelten DDR-Athleten haben die Weststrategie durchschaut. Bei der Volleyball-WM in China trat das Frauen-Team im
letzten Spiel gegen Taiwan mit Trauerflor am Oberschenkel an. Die ohnmächtige Wut der Sportler richtet sich gegen die ´Zerstörung eines ausgeklügelten Sportsystems...
Viele prominente Trainer gehen lieber ins Ausland, als sich von Westlern abkanzeln zu lassen. ... Andere Nationen sind hingegen versessen auf die Ost-Spezialisten. ... lnteresse zeigen die Westdeutschen dagegen an schnell verwertbarem technischen Material. Die Bobfahrer freuen sich auf die weltweit führenden Ost-Schlitten, die Radfahrer erprobten bereits die Karbonräder. Und die 37 243 Sportanlagen der DDR wurden akribisch auf ihre Tauglichkeit untersucht. ... `Weil wir immer besser waren´, vermutet Schießtrainer Freitag in dieser Vereinnahmungsstrategie `einen Racheakt´. Denn der DDR-Sport-Sport wird generell als nicht finanzierbar abqualifiziert , über die Effizienz des eigenen Systems gar nicht erst nachgedacht. `Die tun alle so´, erregt sich der ehemalige DSB- Generalsekretär Karlheinz Gieseler über die Chuzpe seiner westdeutschen Funktionärskollegen, als ob wir das Gelbe vom Ei hätten.´" 14
WIE DIE OLYMPIA-AUSSCHEIDUNGEN 1964 VERLIEFEN
Es erreichte uns der Leserbrief eines Abiturienten, der sich mit einer Arbeit über die gesamtdeutschen Olympia-Ausscheidungen
für Tokio 1964 plagt. Er soll vor allem die „von der SED verfolgten politischen Ziele im Sport der DDR“ untersuchen. Jens H. fand in der Literatur kaum Hinweise, was den 19jährigen bewog, die Redaktion um Auskunft zu bitten. Wir hielten es für angeraten, ihm nicht nur mit einem Brief zu antworten, da wir bestätigt fanden, dass das Thema von den gut besoldeten „Aufarbeitern“ der jüngeren „deutschen Sportgeschichte“ 17 Jahre lang ignoriert worden war.
Zur Vorgeschichte: 1955 hatte das IOC mit Mehrheit entschieden, bei künftigen Olympischen Spielen eine Mannschaft beider deutscher Staaten starten zu lassen. (Die IOC-Mitglieder der BRD hatten gegen den Vorschlag votiert, blieben damit aber bei der Minderheit.) Ab 1956 fanden Ausscheidungen zwischen den Sportverbänden beider Länder statt. Da die Bundesrepublik gefordert hatte, dass das Land, das die Mehrheiten dieser Mannschaften stellt, auch den Chef de Mission nominiert - und das IOC ihr zustimmte -, gewannen die Ausscheidungen bald an Brisanz. Die BRD stellte die Mehrheit in Cortina d´Ampezzo, Melbourne (jeweils 1956), in Squaw Valley, Rom (1960) und bei den Winterspielen 1964 in Innsbruck. Eine völlig neue Situation hatte sich nach der Schließung der DDR-Grenzen am 13. August 1961 ergeben.
1962
14.September
Der Westberliner Rundfunksender RIAS II überträgt eine Diskussion Daumes mit Westberliner Schülern, die ihm auch folgende Frage stellen: „Würden Sie die gesamtdeutsche Mannschaft auch dann in Kauf nehmen, wenn dazu Verhandlungen notwendig sind und auch Ausscheidungskämpfe?"
Daume: „Um eine gesamtdeutsche Mannschaft zu bilden, muss man natürlich miteinander, sprechen und muss Ausscheidungen austragen, die auf Grund gesetzlicher Bestimmungen im Augenblick überhaupt nicht möglich sind."
8. Dezember
Grauer Regen treibt über den Genfer See. In den Eilzügen, die an seinen Ufern verkehren, haben die Schaffner längst die Heizungen eingeschaltet. Hoch über den Dächern von Lausanne, in der ehrwürdigen Villa „Mon Repos" klappert Frau Zangghi auf ihrer Schreibmaschine. Kommt ein Besucher, plaudert sie mit ihm. Vier Sprachen beherrscht sie perfekt und
kann notfalls auch verläßliche Auskünfte geben über den 1937 verstorbenen Begründer der modernen Olympischen Spiele, Baron de Coubertin, denn der hatte sie in den frühen dreißiger Jahren eingestellt und Jahre hindurch hatte sie seine Post erledigt und später auch seinen Nachlass umsichtig verwaltet. (An ein Olympisches Museum war damals noch nicht zu denken.)
Konferenzen, wie die, die an diesem Tag im kleinen Sitzungssaal des IOC stattfindet, sind für sie Routine. Sie weiß, dass Kanzler Otto Mayer irgendwann die teppichbelegte Villentreppe hinaufkommen und ihr ein Kommunique diktieren wird. Danach wird sie die Nachrichtenagenturen in Genf anrufen und ihnen den Text durchsagen.
Am Mittag läßt sie die vielen Anrufer wissen, sie sei skeptisch, ob es überhaupt ein Kommunique geben würde. Otto Mayer, der sonst den Tag in seinem Juweliersalon im Zentrum Lausannes zu verbringen pflegt, hat ihr schon am Morgen angedeutet, dass es wieder „Ärger mit den Deutschen“ geben dürfte. Aber dann war er doch zusammen mit seinem Bruder Albert - Oberbürgermeister von Montreux und IOC-Mitglied für die Schweiz - in ihr Büro gekommen und hat ihr einen Text diktiert, einen Text, mit dem Otto Mayer, wie er versichert, nie gerechnet hatte
Die Vorgeschichte jener Sitzung hatte faktisch am 13. August 1961 begonnen, als die DDR ihre Westgrenze schloss und die Sportorganisation der BRD 72 Stunden später verkündete, dass sie jeglichen Sportverkehr mit der DDR abgebrochen habe. Der Präsident des NOK der BRD Willi Daume - einer der Herren, die nun im IOC-Konferenzsaal saßen - hatte am 16. August 1961 im Düsseldorfer Parkhotel erklärt: „Wir können und wollen nicht weiter mit politischen Funktionären zusammentreffen und so tun, als sei nichts geschehen. Ich bin sicher, dass unser Beschluss die einzige Sprache ist, die die Zone versteht.“
Am 7. September 1961 hatte er dem Abbruch im Sender RIAS die Forderung folgen lassen, dass die DDR durch das IOC zum „Aggressor“ erklärt werden sollte, eine Forderung, die von den BRD-Medien zwar lärmend begrüßt, aber von den zuständigen Instanzen ignoriert wurde.
Die sportliche Blockade der DDR wurde 1962 demonstriert, als man den BRD-Schwimmern untersagte, an den Europameisterschaften in Leipzig teilzunehmen und die Ausscheidungen für die gesamtdeutsche Mannschaft zu den Leichtathletik-Europameisterschaften in Belgrad im Ausland (Prag und Malmö) erzwang.
1963 wurde die Frage aktuell, wo man angesichts dieser Situation die Ausscheidungen für die Olympiamannschaften in Innsbruck und Tokio 1964 austragen sollte? Daume entschloss sich zur „Vorwärtsstrategie“ und stellte neun Forderungen auf, die von der DDR-Seite akzeptiert werden müsste, ehe überhaupt eine gemeinsame Mannschaft ins Auge
gefasst werden könnte. Punkt 9 lautet: „Das IOC übernimmt das Patronat über die Mannschaft. Es führt auch die auf NOK-Ebene notwendigen Verhandlungen möglichst an seinem Sitz in Lausanne durch.“ Damit sollten Verhandlungen auf deutschem Boden von vornherein ausgeschlossen werden.
Das IOC-Oberen ließen sich in der Regel von niemandem Bedingungen diktieren, entschieden aber, eine Sitzung nach Lausanne einzuberufen, auf der es zur ersten „Wieder“-Begegnung zwischen den NOK-Präsiden-ten der BRD und der DDR kommen und der weitere Weg nach Innsbruck und Tokio konzipiert werden sollte.
Die sollte am 8. Dezember um 9 Uhr beginnen. Die Teilnehmer: Eine vom IOC nominierte Verhandlungsdelegation der IOC-Mitglieder Otto Mayer (Schweiz), Mohammed Taher (Ägypten), der allerdings seit seiner Flucht aus Kairo an der Seite des ägyptischen Königs nach den Regeln als Staatenloser gar nicht mehr IOC-Mitglied sein konnte, aber von Präsident Brundage (USA) gern als „Sonderbotschafter“ eingesetzt wurde, und dem IOC-Kanzler Otto Mayer.
Um 9 Uhr konnte man nicht beginnen, da zwei Herren noch fehlten: Daume und Taher. Sie erschienen mit einer halben Stunde Verspätung kurz nacheinander und hatten unterschiedliche Entschuldigungen. Taher klagte, dass sein Zug mit Verspätung eingefahren sei und Daume behauptete, der Taxifahrer habe nicht gewusst, wo das IOC seinen Sitz habe. Die von allen - vor allem natürlich von den Journalisten aus DDR und BRD - mit einiger Spannung erwartete erste Begegnung zwischen Daume und Schöbel, verlief - trotz Daumes Ankündigung mit den Leuten aus der „Zone“ nie mehr zu verhandeln -, völlig normal. Daume begrüßte den Leipziger Verleger so herzlich, als hätte es nie Probleme zwischen ihnen gegeben.
Danach verlief der Vormittag ergebnislos.
Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sowohl der Exil-Ägypter als der bundesdeutsche NOK-Präsident gelogen hatten, als sie ihre Verspätungen erklärt hatten.
Tatsächlich hatte Daume nämlich Mohammed Taher schon vor seinem Aufbruch in der BRD in Genf angerufen und ihn um eine Begegnung noch vor der Sitzung auf dem Bahnsteig in Lausanne gebeten. Dort schlug er ihm vor, bei der Tagung zwei getrennte deutsche Mannschaften für Innsbruck und Tokio zu empfehlen. Der vorsichtige Taher dachte jedoch nicht daran, Daumes Empfehlung vorzutragen. Angesichts seiner persönlichen Situation als Staatenloser hielt er es für viel zu riskant, sich mit diesem Vorschlag ins Zentrum des olympischen Polit-Geschehens zu katapultieren. Daumes Motiv war die Hoffnung, mit dieser Variante auf einen Schlag seine Probleme zu lösen: Eine IOC-Empfehlung befreite ihn von der Notwendigkeit, in Bonn zwei Mannschaften rechtfertigen zu
müssen und Ausscheidungen auf deutschem Boden auszutragen und damit den Sportverkehr wieder aufzunehmen. Als er begriff, dass er mit Taher nicht rechnen konnte, offenbarte er in der ersten Pause Otto Mayer seinen Vorschlag. Der nahm ihn maßlos überrascht zur Kenntnis, erkannte aber sofort die einmalige Chance, sich als derjenige profilieren zu können, der endlich die „deutschen Querelen“ aus der Welt geschafft hatte.
In der Mittagspause weihte er seinen Bruder ein, der die Situation ähnlich einschätzte. Dann begab er sich zu Frau Zangghi und diktierte ihr die „IOC-Empfehlung“, künftig zwei deutsche Mannschaften - unter einer Flagge - starten zu lassen.
Die Nachmittagssitzung endete schnell. Die wartenden Journalisten waren sicher, dass die Verhandlungen gescheitert waren und glaubten ihren Ohren nicht trauen zu können, als Albert Mayer ihnen den Text vorlas: „Anläßlich einer Beratung, die am 8. Dezember 1962 am Sitz des IOC in Lausanne zwischen einer Delegation des IOC, der die Herren Seine Exzellenz Mohammed Taher, Albert Mayer und IOC-Kanzler Otto Mayer angehörten, und den Vertretern der NOK West- und Ostdeutschlands stattfand - für Westdeutschland die Herren Willi Daume, Bernhard Baier, für Ostdeutschland die Herren Dr. h.c. Schöbel und Helmut Behrendt -, beschlossen die Vertreter des IOC, der Tagung des Exekutivkomitees des IOC, die am 8. Februar 1963 in Lausanne zusammentreten wird, folgende Vorschläge zu unterbreiten:
1. Zu den Olympischen Spielen, die 1964 in Tokio und Innsbruck stattfinden, werden Westdeutschland und Ostdeutschland jeweils ihre eigenen Mannschaften aufstellen und entsenden, die von ihren nationalen Verbänden ausgewählt werden und den vom IOC vorgeschriebenen Regeln unterworfen sind.
2. Die deutschen Mannschaften werden, ebenso wie 1960, unter ein und demselben Symbol (Fahne, Emblem) und ein und derselben Hymne erscheinen.
3. Die NOK der beiden Deutschlands haben bis zum 15. Januar 1963 Zeit, der Kanzlei des IOC ihre Zustimmung mitzuteilen.
4. Diese Vorschläge treten erst nach ihrer Billigung durch das Exekutivkomitee in Kraft.
Diese Lösung ist die logische Konsequenz der Schwierigkeiten, die gegenwärtig der Bildung einer völlig einheitlichen Mannschaft entgegenstehen. Sie wird der Sache des olympischen Geistes besser dienen."
Die erste Frage der Journalisten lautete verständlicherweise: „Was hat Willi Daume dazu gesagt?"
Otto Mayer: „Er hat zugestimmt, sofort und ohne Vorbehalt!"
Die Nachrichtenagenturen kabelten die Sensation in die Welt: Künftig zwei deutsche Olympiamannschaften!
Kaum jemand konnte sich die Zustimmung Daumes erklären, wobei nur wenige bedachten, dass er damit auch einem anderen Risiko aus dem Wege gehen konnte: Kam es zu einer Mannschaft, die wie die vorangegangenen durch Ausscheidungen entstünde, würde auch wieder die von der BRD durchgefochtene Regel gelten, dass die Seite den Chef de Mission stellt, die über die Mehrheit im Team verfügt. Sollten aber Ausscheidungen nach den relativ klaren deutlichen Überlegenheiten der BRD in Melbourne (141:37) und Rom (194:133) für Tokio einen DDR-Vorteil ergeben, war zu befürchten, dass DTSB-Präsident Manfred Ewald diese Funktion übernahm. Dessen Mitgliedschaft im Zentralkomitee der SED könnte Bonner Politiker dazu bringen, Daume die Alleinschuld anzulasten. Er könnte dafür verantwortlich gemacht werden, dass ein Kommunist die gesamtdeutsche Mannschaft anführte.
9. Dezember
Am Morgen stieg Willi Daume in Frankfurt/Main aus dem Schlafwagen aus Lausanne und gab wenig später folgende Erklärung ab: „Die Herren der Lausanner IOC-Delegation verhehlten nicht ihren Eindruck, dass die Bildung gesamtdeutscher Olympiamannschaften nach dem Muster von 1960 unter den gegenwärtigen Umständen der menschlichen Verständigung zwischen den deutschen Sportlern eher abträglich sein würde. Die Unzahl der notwendigen Verhandlungen, die erkennbar von der anderen Seite mit immer stärkerer politischer Provokation geführt werden würden, die notwendigen Ausscheidungen in diesem schwierigen Klima ... all das ergab den Vorschlag des IOC einer kleinen Lösung für 1964 ... Zunächst mal müssen sich bis zum 15. Januar 1963 die beiden deutschen NOK zu dem Vorschlag erklären. Hier sehe ich auf der sowjetzonalen Seite schon einige Schwierigkeiten, denn das politische Sandkastenspiel geht so nicht auf. Man hat keine permanenten Verhandlungen, mit denen man die Mauer gesellschaftsfähig machen oder andere politische Absichten verfolgen kann.“
10. Dezember 1962
Willi Daume gab der „Welt“ folgendes Interview:
„`Die Welt´: Herr Daume, als Ergebnis Ihrer Beratungen mit den Vertretern des Internationalen Komitees hat sich die Möglichkeit ergeben, dass 1964 zwei deutsche Olympiamannschaften unter gemeinsamer Flagge an den Spielen in Tokio und Innsbruck teilnehmen werden.
Daume: Man kann nicht sagen, dass sie gut ist, aber sie ist eine meines Erachtens akzeptable Lösung unter den geplanten Umständen. Sie würde uns der endlosen strapazierenden Verhandlungen entheben, wobei dies
jedoch nicht das Entscheidende sein sollte. Aber auch die Lausanner IOC-Delegation ließ sich von solchen Erwägungen leiten.“
14.Dezember
In der „Welt“ erschien die folgende Nachricht: „Mit dem Vorschlag des IOC, dass an den Olympischen Spielen zwei deutsche Mannschaften teilnehmen sollten, wird sich voraussichtlich das Bundeskabinett befassen. Das erklärte der Sprecher der Bundesregierung, Staatssekretär von Hase, in Bonn.“ Die Bundesregierung fordert Daume im Ergebnis dieser Beratung auf, sich umgehend nach Chikago zu begeben und den IOC-Präsidenten Avery Brundage zu einer Korrektur des Lausanne-Vorschlags zu bewegen. Der Termin der Daume-Reise wurde geheimgehalten.
18. Dezember
In Berlin tagte das NOK der DDR und beauftragte Dr. Heinz Schöbel, dem IOC das Einverständnis des NOK der DDR zu der IOC-Regelung mitzuteilen.
1963
13. Januar
Das NOK der BRD verabschiedete in Frankfurt(Main) eine Entschließung, in der es hieß: „Der Präsident des IOC, Avery Brundage und das deutsche IOC-Mitglied, Willi Daume, trafen sich am 7. Januar 1963 in Chikago, um die Frage der deutschen Olympiamannschaft für 1964 eingehend zu überprüfen. Dabei ergab sich, dass der Lausanner Vorschlag nicht in Übereinstimmung mit den Regeln und gültigen Beschlüssen des IOC gebracht werden kann. ... Das NOK begrüßte ... diese Klarstellung des IOC-Präsidenten und entschied sich einstimmig für die Bildung der gesamtdeutschen Olympiamannschaft 1964 auf dieser Grundlage.“
Auf der dieser Beratung folgenden Pressekonferenz log Daume: „Zudem habe ich, das möchte ich mit allem Nachdruck betonen, in Lausanne keine Zustimmung gegeben. Leider sind viele Mißverständnisse aufgetreten. Aber wissen Sie. Das ganze ist doch ein Pokerspiel.“ („Die Welt“ 14.1.1963) Die Erklärung Daumes brüskierte Albert und Otto Mayer, was sie bewog, mir als Korrespondentem des „Neuen Deutschland“ in einem persönlichen Gespräch die Details mitzuteilen. Otto Mayer dazu noch über Daumes „Ausrede“ wegen der Verspätung: „Als Daume sagte, dass der Taxifahrer das IOC nicht gefunden habe, wusste ich, dass er log. Es gibt keinen Taxifahrer in Lausanne, der die Adresse des IOC nicht weiß.“
20. Januar
IOC-Kanzler Otto Mayer wurde von der Stuttgarter Sportnachrichtenagentur ISK (Internationale Sportkorrespondenz) befragt, wie er die Erklärung Willi Daumes aufgenommen habe, dass die Lösung von Lausanne für ihn „vom ersten Augenblick an unannehmbar" gewesen sei. In der sich aus seiner Antwort ergebenden Nachricht heißt es: „Maier erklärte `Ich bin mehr als überrascht, daß sich Herr Daume so geändert hat. Er war damals bei der Lausanner Zusammenkunft mit dem Kompromissvorschlag getrennter deutscher Mannschaften ganz einverstanden, und er machte nur zur Bedingung. daß sich sein NOK am 12. Januar in Frankfurt anschließt. Ja, der Vorschlag geht sogar auf Herrn Daume selbst zurück! Er unterbreitete ihn mir am 8. Dezember, während der Verhandlungspause. Daraufhin bat ich in der Mittagspause meinen Bruder Albert Maier, den Schweizer IOC-Delegierten, die Kompromißlösung mit zwei deutschen Mannschaften auszuarbeiten, die dann bei der Nachmittagsbesprechung bekanntgegeben wurde. Ich komme sonst mit Herrn Daume sehr gut aus, aber diese Schwenkung kann ich nicht verstehen. Man kann doch heute nicht so und morgen so denken! Ich weiß nicht, ob auf den westdeutschen NOK-Präsidenten von irgendeiner Seite ein Druck ausgeübt worden ist."
6. Februar
In Lausanne fand eine Zusammenkunft des IOC-Präsidenten mit beiden deutschen NOK-Präsidenten statt, bei der entschieden wurde, dass die Mannschaften für 1964 nach den gleichen Prinzipien wie die der Jahre 1956 und 1960 aufgestellt werden. Aufkommende Streitfragen entscheidet der IOC-Präsident. Die notwendigen Verhandlungen müssen auf deutschem Boden stattfinden. Damit war der Abbruchbeschluss von Düsseldorf faktisch außer Kraft gesetzt.
9. März
Im Westberliner Hotel Hilton wurde ein 19-Punkte-Protokoll unterschrieben. Punkt 12: „Die Führung der gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft liegt in den Händen der beiden NOK-Präsidenten..." Sie sind also völlig gleichberechtigt.
27. März
Willi Daume erklärte in einer Rede in Mannheim: „Wir können auf die Dauer nicht unseren Aktiven, zum Beispiel Hetz, erklären: Als anständiger Staatsbürger musst du auf einen Start in Leipzig und damit mutmaßlich auf drei Europameistertitel verzichten; um ihm ein anderes Mal zu sagen: Als guter Staatsbürger musst du jetzt in Leipzig zur Ausscheidung für die
gesamtdeutsche Olympiamannschaft antreten. Das versteht das Sportvolk nicht, und das macht es auch auf die Dauer nicht mit."
28. Mai
Die Vertreter der beiden deutschen Fußballverbände trafen sich in Eisenach und vereinbarten, zwei Ausscheidungsspiele in Karl-Marx-Stadt (15. September) und Hannover (22. September) zu bestreiten. Daume verweigertw seine Zustimmung und verlangtde vom westdeutschen Fußballverband, das zweite Spiel nicht in Hannover, sondern Berlin-West auszutragen.
20. August
In Lausanne erklärte IOC-Präsident Brundage bei einer Beratung mit beiden deutschen NOK: „Ich werde keine Konzentration von Ausscheidungen in Westberlin zulassen!" Daume gab daraufhin seinem Fußballverband Order in Hannover anzutreten.
1964
5.April
Bei den Ausscheidungen im Judo (4.4.1964/Lübeck und 5.4.1964/Rostock) qualifizierten sich 1 Judoka der DDR und drei der BRD.
10. Mai
Im Basketball wurden zwei Ausscheidungsspiele ausgetragen: In Osnabrück (7.5.1964) triumphierte die DDR 81:53, in Berlin mit 77:60. Im Olympiaqualifikationsturnier in Genf erreichte die DDR Platz sieben und konnte sich damit nicht für Olympia qualifizieren.
24. Mai
In zwei Ausscheidungsspielen setzte sich die DDR 3:1 (16.5.1964 / Magdeburg) und 1:1 (Wuppertal) durch. Damit qualifizierten sich 11 DDR-Wasserballspieler für Tokio.
31.Mai
In Westberlin fanden nach Ausscheidungen in Westberlin (28.5.1964), Schwerin (29.5.1964 und 30.5.1964) die letzten fünf Finalkämpfe der Olympiaausscheidungen im Boxen statt. Es qualifizierten sich 6 Boxer aus der DDR und 4 Boxer aus der BRD.
3. Juni
Was der siebenjährige Wallach Oleander mitten auf dem Parcours der Ausscheidungen der Springreiter im Westberliner Olympiastadion vollführte, wird so schnell niemand vergessen: Nach einem Gewaltritt durch zusammenstürzende Hindernisse warf er seinen Reiter ab und stürmte dann wildschnaubend durch das weite Oval. Erst als er seinen Pfleger im Marathontor wahrnam, beruhigte er sich. Die Fehlerpunkte, die auf Oleanders Konto zu buchen waren, summierten sich zu einer dreistelligen Summe.
Der tiefere Grund für den Ausbruch des Wallachs lag darin, daß die Olympia-Ausscheidung der Reiter einem Vorgaberennen glichen. Vergeblich hatten sich die Reiter bemüht, einen westdeutschen Vorteil auszugleichen: Die DDR war nicht Mitglied der internationalen Reitsportföderation und demzufolge durften ihre Reiter an keinem offiziellen internationalen Turnier teilnehmen. Selbst als ein Turnier in Warschau stattfand, wurde ihnen der Start verwehrt. Das Reglement der internationalen Reitsportfäderation besagte, daß nur anerkannte Mitgliedsverbände bei solchen Turnieren starten dürften. Die DDR-Reitsportler waren offiziell Mitglied der FEI gewesen und wieder ausgeschlossen worden, als der bundesdeutsche Vertreter im obersten Organ der FEI, Graf Rothkirch, den Antrag auf Ausschluss gestellt hatte. Der „Anlass“: Bei einem Turnier in Stockholm hatten die Veranstalter trotz des Protestes des bundesdeutschen Botschafters beide deutsche Flaggen gehisst. Der Botschafter wandte sich mit einer Beschwerde an Bonn, Bonn ließ Graf Rothkirch wissen, was er zu tun habe, und wenig später standen die DDR-Sportler vor versiegelten Toren und der Präsident der FEI, Prinz Bernhard der Niederlande, erklärte unmissverständlich: „Solange ich Präsident der FEI bin, wird die DDR nie Mitglied. Das widerspräche meiner politischen Auffassung."
So musste Oleander auf den Parcours ohne zu wissen, wie es dort zugeht.
Es qualifizierten sich beim Springreiten 4 Aktive der BRD, keiner aus der DDR.
20.Juni
Die Ausscheidungen im Gewichtheben fanden am 5. Juni in Mannheim und am 20. Juni in Leipzig statt. Es qualifizieren sich 4 Aktive aus der DDR, 3 Aktive aus der BRD.
28. Juni
Die DDR-Fußballelf qualifiziert sich in Warschau im Entscheidungsspiel gegen die UdSSR mit 4:1 für Olympia. Zuvor hatte sie die Ausscheidungs spiele gegen die BRD 3:0 (15.9.1963/Karl-Marx-Stadt) und 1:2 (22.9.1963/Hannover) absolviert und danach die vom IOC anberaumten Qualifikationsspiele gegen die Niederlande 1:0 (14.3.1964/Den Haag) und
3:1 (28.3.1964/Rostock) und gegen die UdSSR 1:1 (31.5.1964/Leipzig) und 1:1 (7.6.1964/Moskau) bestritten. Damit qualifizieren sich 20 DDR-Fußballspieler für Tokio.
4. Juli
Die besten Turner beider deutscher Verbände kämpften in Essens Gruga-Halle um die Tokiofahrkarten. Bei den Frauen war die „schlechteste" aus der DDR noch vor der besten aus der BRD.
Den Leipziger DHfK-Turner Klaus Milbradt versuchte man während die Ausscheidungen „abzuwerben“. Das wurde auch in anderen Sportarten getan: Von den rund 2000 DDR-Sportler, die während der Ausscheidungen in die Bundesrepublik reisten, kehrten 1997 in ihre Heimat zurück. Ein Gewichtheber und zwei Radsportler wechselten die Seite.
Bei den Ausscheidungen der Turner (4./5.7.1964/Essen und 25./26.7.1964 in Magdeburg) qualifizierten sich 4 Turner aus der DDR, 2 Turner aus der BRD, die auch 1 Ersatzmann stellte. Bei den Frauen (27./28.6.1964/Wolfsburg und 18./19.7.1964/Schwerin) stellte die DDR 8 Olympiateilnehmerinnen.
Bei den Ringer-Auscheidungen in Hof wurde der von beiden Verbänden eingeladene rumänische Schiedsrichter Trajan Staicu als „Kommunistenschwein!" beschimpft. Der Präsident des bundesdeutschen Ringerverbandes, Lippold, kam dazu, hatte aber nicht den Mut, die Randalierer zur Ruhe zu bringen.
Bei den Ausscheidungen im klassischen Ringen (1.7.1964/Zwickau und 4.7.1964/Hof) qualifizieren sich 3 DDR-Ringer und 5 Ringer der BRD.
Im Freistil (15.7.1964/Dortmund und 18.7.1964/Leipzig) 2 DDR-Ringer und 6 aus der BRD
5. Juli
Die Hockeymannschaft der DDR hatte das vierte und letzte, alles entscheidende Spiel 2:2 beendet, damit fuhr die Hockeymannschaft der DDR nach Tokio. Dem Rückspiel in Jena ging eine Kontroverse voraus. Der bundesdeutsche Hockeypräsident Reinberg monierte die Plakate, auf denen die Mannschaften des „Deutschen Hockeysportverbandes (DDR)“ und des „Deutschen Hockeybundes (BRD)“ angekündigt waren. Wegen der beiden Staatsbezeichnungen erwog Reinberg nach Rücksprache mit Daume, seine Mannschaft nicht antreten zu lassen. Am Ende besann er sich jedoch. Die DDR-Auswahl triumphierte mit 1:0, was ein drittes Spiel nötig machte. Das fand am 1. Juli - einem Mittwoch - ebenfalls in Jena statt. Der Westberliner „Telegraf“ hatte bereits am 26. Juni gemeldet, dass die bundesdeutsche Mannschaft erst verspätet anreisen dürfe: „`Für die Nacht zum Dienstag sind sämtliche Betten in Jena belegt. Wir bitten
daher, die Mannschaft erst im Laufe des Dienstags in Jena anreisen zu lassen.` Dieser Bescheid ist mehr als deutlich und legt die Absicht der Zonen-Funktionäre klar zutage.“ Der Westberliner „Abend“ meldete am Tag des Spiels: „Meldungen wonach die Mannschaft nicht früher einreisen durfte, weil keine Quartiere in Jena vorhanden seien ... sind aus der Luft gegriffen. Der DHB hielt den Dienstag als Anreisetermin für angemessen.“
Dieses dritte Spiel gewann die DDR 1:0, das vierte endete 2:2, womit sich die DDR-Mannschaft für Tokio qualifiziert hatte.
Im Hockey qualifizierten sich damit 18 DDR-Spieler, im Straßenradsport 2 DDR-Fahrer und 3 BRD-Fahrer
4. August
Einer winkte ab, als man ihm das Protestformular zur Unterschrift vorlegte. Zwei Wochen vorher war er mit seiner Hochseejacht in den Hafen von Warnemünde eingelaufen, während einige seiner Angestellten seinen Drachensegler für die erste Ausscheidungs-Regatta rennfertig machten. Der Hamburger Bugsierreeder Schuchmann ließ seine Umwelt spüren, daß er es fast als Entgegenkommen betrachte, bis nach Warnemünde gekommen zu sein. Diese Haltung änderte sich ein wenig, als er sich dort mit Seglern maß, deren Namen ihm das erste Mal begegneten, als er sie auf den täglichen Ergebnislisten vor seinem las.
In Travemünde, bei der zweiten Ausscheidungsregatta, hoffte er, wie andere, die Vorsprungspunkte der DDR-Segler wettmachen zu können. Es wurde nichts daraus. Am Ende kam jemand auf die Idee, einen Vermessungsprotest gegen die DDR-Drachenboote einzureichen. Bugsierreeder Schuchmann unterschrieb ihn und startete tags darauf zur nächsten Wettfahrt, die ihm nicht viel mehr Punkte eintrug als die vorangegangenen. Als die Entscheidung gefallen war, formulierte einer einen neuen Vermessungsprotest. Er machte die Runde, Schuchmann unterschrieb nicht. Er betrachtete sich als im Wettkampf bezwungen, warf die Leinen seiner Jacht los und segelte davon.
Eine westdeutsche Zeitung hatte nach der letzten Regatta geschrieben: „Bisher saßen in den deutschen Olympiabooten Gentlemen und nicht Arbeiter und Bauern. So ändern sich die Verhältnisse!"
Im Segeln (Ausscheidungen 19.-26.7.1964/Warnemünde und 1.-8.8.1964/Travemünde) qualifizierten sich 8 DDR-Segler und 5 BRD-Segler.
9. August
Die Ausscheidungen im Modernen Fünfkampf fanden vom 12.-16.7.1964 in Halle/Leipzig statt und vom 5.-9.8. in Warendorf. Es qualifizieren sich 2 DDR- und 2 BRD-Fünfkämpfer.
Zwischenstand der für Tokio qualifizierten Athleten Mitte August: DDR 89 - BRD 38.
Mitte August begannen denn auch in der bundesdeutschen Presse Alarmsirenen zu heulen. Die Hamburger „Zeit“ wurde am deutlichsten: „Voller Sorge blicken wir auf Tokio, aufgewühlt, aufgeschreckt ist fast jeder von uns von den für das ganze Land beschämenden Resultaten jener Wettkämpfe, in denen sich bisher ganz deutlich die Überlegenheit der ostdeutschen Gesellschaftsordnung gezeigt hat. Zwar sind wir alle Deutsche, zur Olympiade aber schicken wir lieber Ratzeburger als Magdeburger. Tokio dürfte für uns gewissermaßen ein Stalingrad oder wenigstens ein Waterloo werden. Man hat, was fast noch schlimmer ist, im kalten Krieg eine Schlacht verloren.“
Diese Zeilen erschienen in einer der führenden Zeitungen der BRD, die die Zwischenergebnisse der Olympia-Ausscheidungen als Ausweis der „Überlegenheit der ostdeutschen Gesellschaftsordnung“ ausgab. Wohlgemerkt: man zitierte keinen der SED-Politbüro-Beschlüsse, die die heutigen Historiker so gern in ihren dicken Bänden verbreiten!
Die Stuttgarter „Sport-Illustrierte“ - das damals führende Medium der Sportpublizistik - widmete den Zwischenergebnissen zwei umfangreiche Untersuchungen, wie es zu solchen Ergebnissen überhaupt hatte kommen können und begann: „Im gesamtdeutschen Kräftemessen um die Flugkarten nach Tokio hat die Mannschaft der Zone einen kaum mehr einzuholenden Vorsprung. ... Vorwürfe werden laut. Gegen die Sportler, gegen deren Funktionäre, gegen die Bundesregierung. ... Es war fast immer derselbe Vorgang nach jeder neuen Ausscheidung, nach jedem neuen Reinfall. Man zählte die Häupter seiner Lieben, ... man verglich, hie Ost, hie West, und immer bekam man eine Rechnung präsentiert, die einfach unglaubwürdig erschien ... Diesmal waren die anderen besser. ... Der westdeutsche Sport hat versagt, nicht nur so, sondern mit Pauken und Trompeten.“ Das böte der anderen Seite „Material“ für eine „These“, der Willi Daume schon 1958 in einem Brief an den DTSB widersprochen hatte: „`Wie in totalitären Staaten Höchstleistungen gezüchtet werden, ist hinlänglich bekannt. ... Es imponiert uns nicht.` Im Sommer 1964 imponierte es doch. ... Der westdeutsche Sport hat sich mit einer neuen und zugleich für ihn unbequemen Situation abzufinden: Mit dem Plus in den gesamtdeutschen Ausscheidungen ist die Sowjetzone nach fast zwölfjährigem Querfeldeinrennen an ihrer sportlichen Endstation Sehnsucht angekommen. ... `
27. August
Die Ausscheidungen im Wasserspringen fanden in Köln (19./20.8.1964) und Rostock (26./27.8. 1964) statt. Es qualifizierten sich 6 DDR-Springerinnen und Springer und 3 aus der BRD.
30. August
Die Ausscheidungen im Schwimmen fanden in Magdeburg (21./22.8.1964) und Dortmund (28./30.8.1964) statt. Es qualifizieren sich 27 DDR-Athleten und 18 der BRD
Am gleichen Tag endeten die Ausscheidungen der Leichtathleten (22.8.1964/Westberlin) in Jena (29./30.8.1964) mit dem Resultat, dass 58 DDR-Aktive bei Olympia starten werden und 47 aus der BRD.
Am gleichen Wochenende fielen auch die Entscheidungen im Rudern in Berlin-Grünau und Duisburg-Wedau. Die DDR stellte 4 Aktive für Tokio, die BRD 22.
17. September
Die Ausscheidungen im Kanu wurden in Berlin-Grünau (10.9.1964), Magdeburg (12.9.1964) und in Duisburg-Wedau (17.9.1964) ausgetragen. Das Resultat: DDR 2, BRD 12.
Nachdem die Bahnradfahrer verspätet die Ausscheidungen absolvierten, ergab sich der Endstand von 194:183 zugunsten der DDR. Die DDR stellte damit auch den Chef de Mission und nominierte erwartungsgemäß Manfred Ewald.
DIE ANDERE SEITE:
In der Bundesrepublik Deutschland fehlte es bislang fast völlig an „Aufarbeitungen“ zu diesem Abschnitt der Sportgeschichte. Die nach 1990 erschienenen Veröffentlichungen befassten sich zwar fast ausschließlich mit der DDR aber die „Themen“ beschränkten sich auf „Doping“ auf die angebliche Vernachlässigung des Breitensports, oder der Bevorzugung medaillenträchtiger Sportarten. Einzig der renommierte und wegen seiner toleranten Sachlichkeit geschätzte Prof. Arnd Krüger (Göttingen) hatte bereits 1975 in seinem Buch „Sport und Politik“ diesen Zeitabschnitt behandelt: „Mit dem Mauerbau schuf sich die DDR die ökonomische Basis für die vorher immer nur beteuerte staatliche Selbständigkeit. Indem ihre Bevölkerung, und vor allem die besonders qualifizierte, nicht mehr einfach dem Land den Rücken kehren konnte, war sie gezwungen, sich stärker mit der DDR als ihrem Staat zu identifizieren. Die folgenden Jahre waren durch weitere internationale Entspannungsversuche gekennzeichnet, die es der westdeutschen Regierung schwer machten, weiter ihren harten Kurs gegen die DDR aufrechtzuerhalten. So normalisierte sich das deutsch-deutsche Verhältnis in zunehmendem Maße und nahm nachbarschaftliche Dimensionen an. Beide Seiten benutzten im Sport die etwas ruhiger werdende Zeit zum Ausbau und zur Befestigung der inneren Verhältnisse. Hierzu gehörten im Westen auch
die von der Studentenbewegung ausgehende Diskussion um vermehrte Demokratisierung.
6. 1. Gesamtdeutscher Sportverkehr: Das Ende der Gemeinsamkeit
Zur Vorbereitung auf eine gemeinsame Mannschaft für die Olympischen Spiele von 1964 waren 16 NOK- und 96 Verbands-Verhandlungen notwendig. Diese nie erlebte Fülle zeigt, wie hart von Anfang an von beiden Seiten um jeden Zentimeter Vorteil gerungen wurde.
Den Auftakt machte der Internationale Leichtathletik-Verband, dessen Politik durch die enge personelle Verbindung mit dem IOC (sein Vorsitzender Lord Bourghley ist Vize-Präsident des IOCs) immer gut koordiniert war. Er bestand auf einer gemeinsamen - oder gar keiner - Mannschaft für die anliegenden Europameisterschaften in Belgrad. Beide Seiten konnten und wollten von ihrer harten Position nicht zurück. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts konnte es jedem DDR-Sportfunktionär passieren, daß er beim Betreten der BRD verhaftet würde. Bundesdeutsche weigerten sich, hinter den Stacheldraht und die Mauer zu fahren. So kam es zu der peinlichen Situation, die deutschen Ausscheidungen in Prag und Malmö abzuhalten.
Der Mayer-Kompromiß
In der Sorge, daß sich die Fronten weiter verhärten würden und es unmöglich werden könnte, eine deutsche Mannschaft zu den nächsten Olympischen Spielen zu entsenden, griff der IOC-Kanzler Mayer (Schweiz) ein. Er lud beide Seiten zu einend Gespräch in die Schweiz.
„Das IOC ist der Ansicht, daß die übernommenen Verpflichtungen noch immer gültig sind. Angesichts dieser feststehenden Tatsache erscheint es uns als unerläßlich, daß die Vertreter der beiden deutschen Olympischen Komitees innerhalb kürzester Frist zusammenkommen, um die im Hinblick auf die Vorbereitung und Bildung dieser gemeinsamen Mannschaft für die Spiele in Innsbruck und Tokio festzulegenden Modalitäten zu beraten." (Zitiert nach Gieseler: Sport als Mittel; a.a.O.,S. 65)
Das NOK (Ost) stimmte zu. Daume lehnte ab:
„Zugleich mit der Errichtung der Mauer ist nämlich das ganze Territorium der sowjetischen Besatzungszone hermetisch vom übrigen Deutschland abgeriegelt worden. Es liegt für den gesunden Menschenverstand auf der Hand, daß ein politisches Regime, das sein Territorium zur Abwendung der Massenflucht seiner Bevölkerung brutal absperrt und zur Sicherung Todesstreifen anlegt, den Fluchtweg des gesamtdeutschen Sportverkehrs nicht offen lassen kann, und es hat das natürlich auch nicht getan. ... Was die Verhandlungen über die Bildung und Entsendung der Mannschaften anbetrifft, so scheint der jetzige Zeitpunkt der denkbar ungeeignetste dafür zu sein.“ (Ebenda) Erst im Dezember 1962 trafen sich beide Seiten in Lausanne wieder. Um die festgefahrenen Gespräche doch noch zu einem Kompromiß zu führen, machte das Schweizer IOC-Mitglied Albert
Mayer den Vorschlag, beiden Seiten getrennte Mannschaften zuzugestehen, die jedoch wie bisher dieselbe Fahne und dieselbe Hymne haben sollten. Die DDR stimmte begeistert zu, hatte sie doch so ein weiteres Stück Selbständigkeit und internationale Anerkennung gewonnen.
Entsetzt flog Willi Daume, der inzwischen im NOK (West) die Nachfolge von Halts angetreten hatte, nach Chicago, um Avery Brundages Rat einzuholen. Noch einmal konnte der große alte Mann der olympischen Bewegung das Rad der Geschichte zurückdrehen. Er wies mit seiner Vollmacht als IOC-Präsident darauf hin, daß der Kompromiß-Vorschlag für das IOC unannehmbar sei, da er geltenden IOC-Beschlüssen zuwiderlaufe. Brundage gab noch einmal Daume recht und bekam dafür zum letzten Mal eine gesamtdeutsche Mannschaft. Beide Seiten stimmten schließlich zu." ... Bevor es aber zu den Spielen von Innsbruck und Tokio kam, wurde mit aller Härte um jeden Platz in der Mannschaft gerungen. Im Winter wie im Sommer fiel die Entscheidung aufgrund der Mannschaftssportarten: Der knappe Erfolg der Eishockeymannschaft der BRD sicherte die 68 zu 49-Mehrheit im Winter, Erfolge im Hockey und Fußball der DDR die 192 zu 182-Mehrheit im Sommer. ... Während die Olympia-Ausscheidungen veranstaltet wurden, war jeglicher anderer Sportkontakt mit der DDR nicht statthaft, da die Düsseldorfer Beschlüsse als Reaktion auf den Mauerbau noch immer in Kraft waren und auch die anderen NATO-Staaten auf Bonner Drängen die Einreise von DDR-Bürgern, also auch Sportlern verweigerten. Zu Wettkämpfen zwischen Deutschen konnte es legal in dieser Zeit nur im neutralen Ausland kommen.“
(Die Dokumentation wurde von Klaus Huhn zusammengestellt.)
DIE UNVERGESSENEN USA-LÄNDERKÄMPFE
Von KLAUS HUHN
Leichtathletik-Länderkämpfe gehörten in den USA nie zum sportlichen Alltag. Vor dem zweiten Weltkrieg und in den ersten Jahren nach Kriegsende fand man kaum gleichwertige Gegner und zudem
begeisterten sich die „Stars“ nur selten für die Idee, eigene Glanzleistungen in einer „Mannschaft“ abzuliefern.
Die ersten Verabredungen für die viele Schlagzeilen liefernde Länderkampfserie mit der UdSSR wurden im Olympischen Dorf der Spiele 1956 in Melbourne ausgerechnet auf einem Gipfel des Kalten Krieges getroffen. Die Ereignisse in Ungarn und um den Suez-Kanal hatten die Weltlage verschärft und auch dazu geführt, dass Antikommunisten in aller Welt vom IOC den Ausschluß der UdSSR von den Spielen gefordert hatten. IOC-Präsident Avery Brundage (USA) lehnte begründungslos ab. Einige Länder hatten sich derart engagiert, dass ihnen keine Chance für eine Umkehr blieb. So beorderten die Niederlande ihre bereits nach Australien gereiste Mannschaft zurück, die Schweiz sagte ab. In dieser aufgeheizten Atmosphäre sorgte die sowjetische Mannschaft im Olympischen Dorf für von vielen begrüßte demonstrative Treffen. So besuchte ein Aufgebot sowjetischer Leichtathleten die australische Mannschaft in ihrem Quartier und eine andere Gruppe lud US-amerikanische Athleten zum Frühstück ein. Dem Generalsekretär des US-amerikanischen Leichtathletikverbandes, Dan Ferris, blieb nach Brundages Reaktion keine andere Wahl, als die Einladung der sowjetischen Mannschaft anzunehmen. Ich könnte bezeugen: Man ließ sich das russische Frühstück schmecken. Ferris hielt sogar eine Rede, in der er die Hoffnung aussprach, dass Sport ein nützliches Mittel bleiben möge, die Freundschaft zwischen beiden Ländern zu fördern. In dieser Frühstücksrunde entstand auch die Idee, künftig Leichtathletik-Länderkämpfe auszutragen. Der erste fand bereits 1958 in Moskau statt und endete nach dramatischem Verlauf mit 172:170 für die Gastgeber. Auch im Rückkampf (1959 in Philadelphia) triumphierte die UdSSR mit 175:167. Die Vergleiche wurden zur Gewohnheit und bis in die achtziger Jahre ausgetragen. Allerdings verloren sie zunehmend an sportlichem Wert, weil die besten USA-Athleten zu dieser Zeit längst von Managern betreut wurden, die die Verträge ihrer Schützlinge entsprechend der finanziellen Offerten für alle Starts der Saison abschlossen. Da die Veranstalter der Länderkämpfe keine Startgelder garantierten, rückte auf US-amerikanischer Seite immer mehr die zweite Reihe in die Mannschaft und der ursprüngliche Reiz eines harten Vergleichs ging zunehmend verloren. 1981 triumphierte die UdSSR in Leningrad im 22. Vergleich mit 204:178 (Männer: 105:118, Frauen: 99:60) und danach ließ auf beiden Seiten das Interesse deutlich nach.
Allerdings hatte sich im Vorfeld der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles das Olympische Komitee der USA dafür engagiert, die Nationalmannschaft wieder in Bestbesetzung antreten zu lassen. Den Funktionären ging es nicht nur darum, die nötige vorolympische Stimmung zu erzeugen - da die Spiele die ersten „privat“ organisierten der
olympischen Geschichte waren, musste diesem Aspekt schon aus Selbsterhaltungstrieb besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden -, sondern auch um Teamgeist zu fördern und vor allem Athleten jener Disziplinen an Wettkampfatmosphäre zu gewöhnen, die international kaum in Erscheinung traten und deshalb auch nicht auf Startofferten für europäische Sportfeste hoffen konnten. Dass die Wahl bei der Suche nach einem neuen ebenso attraktiven wie starken Gegner auf die DDR fiel, spricht für das internationale Ansehen der DDR-Leichtathletik, löste aber in den USA auch politisches Unbehagen aus. Doch der Leichtathletikverband blieb bei seiner Entscheidung und ließ bereits 1981 wissen, dass man zwei Vergleiche gegen die DDR austragen werde.
So kam es am zweiten Juli-Wochenende 1982 - also vor 25 Jahren - in Karl-Marx-Stadt zum ersten Aufeinandertreffen beider Mannschaften. Es gab zahlreiche Vorbesprechungen, in denen die Details vereinbart wurden. So forderte der USA-Verband eine Wertung nach seinen Wünschen. Man bestand beim offiziellen Resultat auf einer addierten Punktzahl des Männer- und Frauenvergleichs, offenbar darauf spekulierend, dass man so eine Niederlage vermeiden konnte. Niemand im USA-Verband machte sich Illusionen über die Chancen der Frauenmannschaft und setzte darauf, dass die Männer den Frauen-Rückstand ausgleichen und einen Gesamt-„Punktsieg“ sichern könnten. So kam es zu der in der Historie der Leichtathletik-Länderkämpfe relativ seltenen „Gesamtwertung“. Dabei war den USA-Offiziellen klar, dass die Medien nicht darauf verzichten würden, getrennte Wertungen zu publizieren. Für die eigene Bilanz aber wollte man einer Niederlage gegen die DDR aus dem Wege gehen. Dass dieses Streben völlig unpolitisch gewesen sein sollte, lässt sich auch heute wohl kaum behaupten. Dass die so rührigen „Aufarbeiter“ des DDR-Sports, die keinen Tag vergehen lassen, ohne neue „Beweise“ dafür zu präsentieren, wonach jeder Schritt der DDR-Sportführung einen politischen Hintergrund aufwies, zum Beispiel diesen eindeutig politischen Aspekt des USA-Verbandes noch nie erwähnten, illustriert einmal mehr das Anliegen dieser Historiker. Gleiches gilt auch für die in letzter Minuten auf dringlichen USA-Wunsch akzeptierte Regelung: Es gibt keine Doping-Kontrollen!
Fast 75 000 Zuschauer erlebten dann im Karl-Marx-Städter Ernst-Thälmann-Stadion den mit 35 Punkten Vorsprung erkämpften DDR-Gesamtsieg. Fast jeder fünfte DDR-Athlet erzielte persönliche Bestleistungen! Die Frauen bereiteten dem USA-Aufgebot mit 105:52 Punkten ein Waterloo. In 15 Entscheidungen gab es 13 DDR-Siege, darunter neun Doppelerfolge! Die Frauen legten damit auch das Fundament für den Triumph in der Gesamtwertung: 207,5:172,5. Die USA-Männer hatten den sensationellen Gleichstand nach dem ersten Tag noch in einen 18-Punkte-Vorsprung verwandeln können, da die DDR-
Männer am zweiten Tag nur vier Siege erzielten. USA-Cheftrainer Sam Adams nannte den Vergleich hinterher „eines der größten Leichtathletikfeste“.
Wie ernst die Yankees den Vergleich genommen hatten, mögen zwei Episoden belegen. Die eine: Der Verband hatte den 42jährigen Hammerwerfer Ed Burke überredet, nach zwölfjähriger Wettkampfpause in die Arena zurückzukehren. Er war der älteste Teilnehmer des Länderkampfes und hatte schon 17 Jahre zuvor 1964 bei den Olympischen Spielen in Tokio den siebenten Platz belegt. Er bereitete sich gründlich vor und erreichte in Karl-Marx-Stadt mit 73,72 m eine neue persönliche Bestleistung, die ihm den zweiten Platz eintrug.
Die andere: Am späten Abend des ersten Tages forderte die US-amerikanische Mannschaftsführung das Zielfoto des 100-m-Laufs der Männer an, doch galt das Interesse weniger dem Sieger des Fabelzeitlaufs Calvin Smith als dem Duell um den dritten Rang zwischen Olaf Prenzler (3.) und Mike Miller (4.). Nach intensivem Studium des Fotos bestanden die Gäste darauf, beide Sprinter auf den dritten Rang zu setzen und die Punkte zu teilen! Zu diesem Zeitpunkt hatten sie den Gesamtvergleich bereits abgeschrieben, wollten nun aber um jeden Preis wenigstens den Männerkampf gewinnen. Spätestens da war klar, daß die Gäste selbst auf halbe Punkte Wert legten.
Um Haaresbreite hätte sich dieser 100-m-Männer-Lauf sogar einen Platz in der Liste der Sprint-Weltrekorde gesichert. Der 21jährige Calvin Smith - ein Student aus Alabama - unterbot den Weltrekord, den Jim Hines bei den Olympischen Spielen 1968 in der mexikanischen Höhe mit 9,95 s erzielt hatte, um vier Hundertstelsekunden! Er wurde jedoch nicht anerkannt, weil die Rückenwindgrenze um ein Minimum überschritten worden war. Damals wurde der Rückenwindwert noch mit einer Stopuhr und einer Windtabelle ermittelt und dabei kam man auf die rekordvereitelnden 2,1 m/s. Die DDR-Kampfrichter hatten strikte Order bekommen, alle Werte und Messungen pingelig genau vorzunehmen, um den Gästen keinen Vorwand zu Einsprüchen oder Protesten zu geben. Als aber das Rückenwindergebnis mitgeteilt wurde, schüttelten die US-Amerikaner ungläubig die Köpfe - soviel Exaktheit war ihnen nie zuvor begegnet. Einer der renommiertesten USA-Leichtathletik-Journalisten sagte hinterher zu mir: „Ihr hättet Euren Karl Marx für die Ewigkeit in die Weltrekordlisten bringen zu können. Dass ihr darauf verzichtet habt, werden wir nie begreifen.“
Der umjubelte Auftakt des Duells war der 400-m-Hürdensieg des Cottbusers Uwe Ackermann gewesen, der in der DDR-Rekordzeit von 48,50 s die beiden US-Amerikaner Andre Phillipps und David Patrick auf die Plätze verwies. Eine Glanzleistung vollbrachten auch die beiden 10.000-m-Läufer Werner Schildhauer und Jörg Peter. Schildhauer über
die Taktik: „Wir hatten nach der namentlichen Meldung der USA zunächst auf schnelles Tempo am Beginn gesetzt. Die Hitze machte uns einen Strich durch diese Rechnung. Als der eine der beiden US-Amerikaner abfiel, war zu befürchten, daß sich der andere auf unser Tempo einstellen würde, um am Ende durch einen Spurt den Doppelsieg zu gefährden. Deshalb verschleppte ich das Tempo, Jörg Peter sicherte sich ausreichend Vorsprung und ich kam mit meinem Zwischenspurt noch nach vorn.“
Zum Auftakt des zweiten Tages entschied im 20-km-Gehen ein Zielfoto(!) über den zweiten Rang zugunsten des Berliners Michael Bönke, der den verzweifelt „spurtenden“ USA-Meister Sharp auf den dritten Rang verwiesen hatte.
Ganz am Rande: In der Broschüre, die der USA-Verband zu Saison-Beginn herausgebracht hatte, war die DDR dem amerikanischen Leichtathletikfan mit den Worten vorgestellt worden: „In den 33 Jahren ihrer kurzen Geschichte ist sie zu einer der bedeutendsten Industrienationen der Welt aufgestiegen.“
Im Juni 1983 fand im Olympiastadion von Los Angeles der Rückkampf statt. Ersten Ärger gab es bei der Anreise. Man hatte vereinbart, dass jede Seite die Reise bis zur ersten Landung im Gastgeberland selbst finanzierte. Für die USA war das Schönefeld, für die DDR New York. Schon im Vorfeld des Rückkampfes war dem USA-Verband klar geworden, welche Kosten durch die Finanzierung des Flugs New York-Los Angeles auf ihn zukamen. Man biss in den sauren Apfel, wollte aber um keinen Preis auch noch den Flug für die DDR-Journalisten bezahlen. Als damaliger Präsident des DDR-Sportjournalistenverbandes wurde ich auf dem Flughafen in New York damit konfrontiert, dass wir den Flug selbst bezahlen müssten. Es handelte sich für uns um eine Fabelsumme. Ich ließ mich nicht schockieren und kündigte eine etwa ebenso hohe Rechnung für den Autobustransport der US-amerikanischen Journalisten von Schönefeld nach Karl-Marx-Stadt und zurück an. Mein Gesprächspartner glaubten ihren Ohren nicht zu trauen und wandte ein, dass die Distanzen doch gar nicht zu vergleichen wären. Ich antwortete: „Ist es meine Schuld, wenn man das im amerikanischen Erdkundeunterricht nicht lernt?“ Zudem kenne man offensichtlich die gepfefferten DDR-Tarife für Luxusbusse nicht. Grollend händigte man uns die Flugkarten aus, aber noch Jahre später nutzte der Präsident des USA-Verbandes jede Begegnung mit mir, um mich an meine „Schulden“ zu erinnern.
Wie ernst die Gastgeber den zweiten Vergleich am 25. und 26. Juni 1983 nahmen, belegt folgendes Beispiel. Der US-Amerikaner Tom Petranoff hatte am 15. Mai den drei Jahre alten Speerwurf-Weltrekord auf 99,72 m verbessert und war über Nacht in aller Munde, zumal man ihm nun
zutraute, als erster Speerwerfer der Welt die 100-m-Marke zu übertreffen. Als er mitteilte, dass er am Länderkampf nicht teilnehmen könne, weil er schon vor Monaten einen Vertrag für einen Wettkampf in Edinburgh unterschrieben habe, suchte man lange in den Flugplänen, bis man eine Verbindung für ihn am späten Nachmittag fand. Also wurde das Speerwerfen der Männer von 16.50 Uhr auf 14.10 Uhr vorverlegt und Petranoff aus dem Stadion zum Flugplatz gefahren. Mit 94,62 m gewann er denn auch den Wettbewerb und ließ den Berliner Detlef Michel um 54 Zentimeter hinter sich. (Der revanchierte sich drei Monate später bei der Weltmeisterschaft mit einem Sieg über Petranoff.)
Neuen Ärger bescherte die Pressekonferenz am Tag vor dem Auftakt. Sachlich ging es noch bei der Befragung der DDR-Sprinterin Marlies Göhr zu, deren Duell mit Evelyn Ashford mit großer Spannung erwartet wurde. In Montreal 1976 war die damals 19jährige US-Amerikanerin über 100 m Fünfte geworden. Vier Jahre später, verbot ihr USA-Präsident Jimmy Carter den Start bei den Olympischen Spielen in Moskau. Als „Ersatz“ schickte man sie zu einem Meeting nach Kanada, wo sie sich entnervt in einer Bar hemmungslos vollaufen ließ und beim Aufbruch zusammenbrach. Beim Karl-Marx-Städter Länderkampf hatte sie gefehlt, weil sie einen Vertrag für einen Start in Paris erfüllen musste. So wurde dem Aufeinandertreffen der beiden in Los Angeles mit Spannung entgegengesehen. Marlies antwortete auf die Frage nach ihren Erwartungen gelassen: „Ich bin gut vorbereitet und hoffe auf ein großes Rennen.“ (Sie gewann denn auch.) Danach ergriff der Hochspringer Dwight Stones das Wort. Der Ex-Weltrekordler - 1972 und 1976 olympischer Bronzemedaillengewinner - versicherte, man werde die DDR garantiert schlagen und wählte dafür den im Amerikanischen üblichen Ausdruck „burn“, was landläufig übersetzt soviel heißt, wie „wir machen sie fertig“ und wörtlich übersetzt: „Wir brennen sie ab!“ Die Ankündigung löste bei den DDR-Athleten verständliche Empörung aus und wurde auch von vielen USA-Athleten als unpassend empfunden. Die amerikanische Mannschaftsleitung demonstrierte dennoch ihre Sympathie für Stones, in dem sie ihn die Flagge ins Stadion tragen ließ. Jeder der US-amerikanischen Athleten hatte ein kleines Geschenk für einen DDR-Athleten, doch Stones zog mit seinem wieder hinaus - niemand hatte sich von ihm beschenken lassen wollen. Bei der kleinen Party, die dem Länderkampf folgte, schenkte ihm ein DDR-Läufer - ich verzichte auf den Namen, um ihm Schwierigkeiten zu ersparen - ein halbes Briefchen Streichhölzer mit den Worten: „Damit Du was zum Anzünden hast!“ Stones spürte, dass er auch in seiner Mannschaft völlig isoliert war und erkundigte sich, bei wem er sich für die Bemerkung entschuldigen sollte. Alle hoben die Schultern.
Die Reaktion war deshalb so eindeutig, weil die USA auch den zweiten Länderkampf gegen die DDR verloren hatten. Die DDR-Frauen gewannen mit 100:56, die Männer unterlagen mit 97:125, was einen DDR-Sieg mit 197:181 ergab. Der erste Tag hatte mit der Disqualifikation von drei DDR-Athletinnen durch USA-Kampfrichter erkennen lassen, wie man das Resultat zu beeinflussen gedachte. Ulrike Bruns wurde beschuldigt Brenda Webb gerempelt zu haben. Als Ulrike den Kampfrichtern ihren Unterschenkel vorwies, der deutlich den Abdruck von Spikes erkennen ließ, wurde die Disqualifikation aufgehoben und statt Bruns Gabriele Meinel bestraft, aber auch diese Entscheidung musste annulliert werden wie die Disqualifikation der 400-m-Hürden-Siegerin Ellen Fiedler. Die DDR musste am zweiten Tag ohne Marita Koch antreten, die sich beim Einlaufen verletzt hatte.
Auch wegen der Interviews nach den Wettkämpfen gab es Ärger. Nach den ersten Disziplinen hatte jemand im Pressezentrum verkündet: „Die Ostdeutschen kommen nicht zu den Interviews.“ Eine Rückfrage ergab, dass der zuständige Funktionär vergessen hatte, ihnen Bescheid zu sagen. Von da an kamen zwar alle DDR-Athleten, aber immer weniger Gastgeber, weil viele von denen nach ihren Niederlagen keine Lust verspürten, sich auch noch befragen zu lassen.
Da die USA nach dem ersten Tag mit acht Punkten in Führung lagen, hatte sich die DDR-Mannschaft am Sonntagvormittag zu einem „Krisengipfel“ getroffen. Werner Schildhauer erklärte sich bereit, nach seinem 10.000-m-Sieg am ersten Tag auch noch die 5.000 m zu bestreiten und sicherte hinter Kunze die Punkte für den zweiten Rang.
Zum Höhepunkt des Länderkampfs wurde das Kugelstoßen der Männer. Mit seinem zweiten Versuch erzielte der US-Amerikaner Dave Laut 21,78 und auch DDR-Rekordhalter Udo Beyer hielt das für die Entscheidung. „So weit war ich 1983 noch nicht gekommen und außerdem hatte ich Probleme mit meinem Knöchel. Trotzdem wollte ich nicht passen und legte alles in den vierten Versuch. Der Stoß war nicht einmal optimal. Meine ideale Abstoßhöhe lag für meine Verhältnisse zwischen 2,20 m und 2,22. Es waren aber höchstens 2,15 m. Als ich aus dem Ring trat, sah ich, dass sie hinter der letzten Linie gelandet war.“ Und dann feierten ihn die Zuschauer für den neuen Weltrekord von 22,22 m - und die Mannschaft für kaum erwartete fünf Siegpunkte!
DIE TOUR VON GARIN BIS CONTADOR
Von KNUT HOLM
Am 1. Juli 1903 erschien in einer Pariser Zeitung ein reißerischer Leit-artitel, der mit den Worten begann: „Mit dem mächtigen Elan, den Emile Zola in seinem Roman `La Terre´ seinem Bauern gibt, lanciert `L’Auto´ als
Zeitung mit avantgardistischem Mut heute das größte Rennen der Welt mit den prächtigsten, unerschrockensten Athleten. Während 2400 Kilometern werden sie auf staunende Faulpelze am Wegesrand treffen, die sich ihrer Bequemlichkeit schämen und aufgeweckt werden von der Kraft und der unbezähmbaren Energie dieser außergewöhnlichen Männer.“
Das war natürlich eine maßlose Übertreibung, denn tatsächlich hatte `L’Auto´ wochenlang Freiwillige für dieses Abenteuer suchen müssen und tat das mit Appellen wie: „Die Teilnehmer der Tour de France können versichert sein, dass sie unterwegs nicht mehr Geld brauchen, als wenn sie zu Hause blieben. Und vergesst nicht, dass jeder, der etwas leistet, für seine zehn Francs Startgeld hohe Preise gewinnen kann. Zauderer, gebt Eure Meldung ab.“
Schließlich trommelte der „L’Auto“-Besitzer 60 Rennfahrer zusammen, die sich in die Sättel schwangen und eine große Schleife durch Frankreich radelten. Sie begründeten die „Tour de France“. Der Sieger hieß Maurice Garin und fuhr einen Vorsprung von drei Stunden vor dem Zweiten heraus.
Gut 104 Jahre später, am 25. Juli 2007, schmückte die Pariser Zeitung „France Soir“ ihre Titelseite mit einer reißerischen Todesanzeige, in der das Ableben der Tour der France mitgeteilt wurde: „im Alter von 104 Jahren verstorben nach schwerer Krankheit.“
Diese Übertreibung konnte sich durchaus mit der des Jahres 1903 messen. Der Unterschied ist den technischen und ideologischen Veränderungen des verflossenen Jahrhunderts zuzuschreiben, die - wie man weiß - keineswegs immer als Fortschritt zu deklarieren ist. Wenn wir mit dem technischen Wandel beginnen, wäre festzustellen, dass damals Streckenposten vom nächstgelegenen Telegrafenbüro den Stand des Rennens kabelten und die Tour heutzutage ein Unternehmen ist, das im Juli einen Umsatz von 150 Millionen Euro und einen Gewinn von 15 Millionen Euro verbucht.
Die auf Schock zielende „Todesanzeige“ war jedoch weniger irgendwelchen fatalen Ereignissen zuzuschreiben, als dem Niveau der Medien des Jahres 2007. Dazu gehört: Die wenigsten Journalisten könnten noch eine Antwort darauf geben, wer Emil Zola war und erst recht nicht, was er schrieb. Die moderne Atmosphäre ist geprägt von Horror, an der Seine wie an der Spree, wo die „Berliner Zeitung“ schrieb, die Tour 2007 sei „im Dopingsumpf versackt“.
Um nicht auch in den Verdacht des Übertreibens zu geraten, zitieren wir zu Beginn einen durchdachten Kommentar der „Saarbrücker Zeitung“, die am 26. Juli 2007 - also drei Tage vor dem Finale der angeblich beerdigungsreifen Tour Wulf Wein eher wirklich aktuelle Fragen stellen ließ: „Es gab Zeiten, da kämpften die Hüter der Olympischen Idee mit aller
Kraft gegen die Teilnahme von Berufssportlern bei ihren Spielen. Dieser Kampf wurde bekanntlich verloren. Längst treten bei Olympia so genannte Amateure gegen echte Profis an. Vom Wesen her ist Sport, der als Vollzeitjob ausgeübt wird (ob von Radfahrern, Fußballern oder Wintersportlern), mit einer ganz normalen Arbeit zu vergleichen. Es geht darum, durch möglichst großen - und effizienten - Einsatz seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wir wissen alle, dass es in der Berufswelt zwar klare Regeln gibt, an die sich die Beschäftigten zu halten haben. Wir kennen aber alle auch Beispiele, wo der eine oder andere die bestehenden Vorgaben außer Kraft setzt, wenn es denn seinem beruflichen Fortkommen dient.
Insofern spricht viel dafür, dass möglicherweise gar nicht so wenige Profis Doping praktizieren, weil sie denken, ohne solcherlei Sportbetrug ihren Job zu gefährden. Wer vorne oder oben mithalten möchte oder sogar muss, weil der Arbeitgeber das einfordert, ist potenziell gefährdet. Selbstverständlich muss das niemand billigen, selbst wenn man das vielleicht sogar könnte. Es ist gut und richtig, wenn sich die Sportverbände für einen aktiven Kampf gegen Doping entscheiden, um keine Wettbewerbsverzerrung zuzulassen.
Das Phänomen der geplanten und vorsätzlichen Regelverletzung wird es aber vermutlich trotz noch rigoroserer Kontrollen weiter geben.
Möglicherweise hat der Sport sozusagen seine Seele verkauft, als er, in immer mehr Sparten und Disziplinen eine ungehemmte Kommerziali-sierung zuließ. Sport als Ware folgt halt anderen Gesetzen als Sport, der nur aus Spaß an der körperlichen Bewegung betrieben wird. Sportfunktionäre und Sportpolitiker, die nach jedem Dopingfall ein hartes Durchgreifen und eine hohe Strafe für den Betreffenden fördern, sollten lieber wieder mehr über den Sinn, Zweck und Anspruch des Sports nachdenken. Ketzerisch gefragt: Braucht die Welt den Profisport in seiner heutigen Ausprägung? Muss der Sportbetrieb eine Geldvermehrungsma-schine für diverse Interessenvertreter sein? Braucht die Welt den Profisport in seiner heutigen Ausprägung? Muss der Sportbetrieb eine Geldvermehrungsmaschine für diverse Interessenvertreter sein? Die entscheidenden gesellschaftlichen Kräfte könnten nach einer tief gehenden Grundsatzdebatte ja durchaus zum Entschluss kommen, den sportlichen Wettstreit künftig neu zu organisieren: bescheidener, was den Geldeinsatz betrifft, und wieder amateurhafter in dem Sinne, dass dort zwar Berufene antreten, dies aber nicht zu ihrem Beruf machen. Das mag ein Wunschtraum sein und bleiben, aber als positive Utopie hat die Idee allemal einen großen Charme.“
Damit wäre der Unterschied zwischen 1903 und 2007 im Grunde hinreichend erklärt, weshalb die „Saarbrücker Zeitung“ Beifall für diese
charmante und vor allem konkrete Analyse des Untergangs des Sports im Kommerzsumpf verdient.
Vor allem, wer Urteile wie die „Berliner Zeitung“ fällt, sollte Zahlen nicht ignorieren. Vor dem Start zur Tour de France 2007 waren in London von den 189 startenden Fahrern Blutproben verlangt und untersucht worden. Während der 20 Etappen wurden jeweils 8 Kontrollproben entnommen, was summa summarum mindestens 349 Proben ergibt. Davon waren zwei - die der Fahrer Winokurow und Moreni - positiv. Das würde 0,57 Prozent entsprechen und die würden kaum reichen für die Vokabel „Doping-Sumpf“. Wer Vergleiche kennen will: In den letzten zwanzig Jahren lag diese Quote bei etwa 3,4 Prozent.
Diese Zahl mag gefälscht gewesen sein. Wer das feststellen will, käme nicht umhin, sie zu kontrollieren. Sie könnte auch dadurch irritierend sein, dass man im Wettlauf zwischen Kontrollen und Neuentwicklungen der Pharmaindustrie immer wieder scheiterte, aber das wäre nicht der Tour an sich anzulasten, sondern denen, die jährlich mit ihr 15 Millionen Euro Gewinn machen, aber die Kontrollen gewissenlos vernachlässigen. Mithin: Mit einer Todesanzeige oder dem Vorwurf „Sumpf“ zu akzeptieren, ließe sich die Frage nach dem Wert der Tour nicht beantworten!
Es beginnt damit, dass jeder Medizinstudent im dritten Semester den Tour-Chefs verraten könnte, dass man den Gipfel des Tourmalet - 2114 m über Meereshöhe - nicht mit Tee oder Buttermilch in der Trinkflasche hinauffahren kann. Das wussten übrigens schon die Teilnehmer der Tour 1910, als der Tourmalet das erste Mal auf dem Streckenplan stand und - was schwer wiegt - die Fahrradindustrie noch keine Gangschaltungen kannte. Damals war die Doping-Auswahl noch mager. Man eiferte dem olympischen Marathonsieger von 1904 nach, dessen Trainer zum Arsen gegriffen und nach den Spielen auf einer wissenschaftlichen Konferenz die Dosis preisgegeben hatte. Später kamen andere Mittel in Mode, „Masseure“ avancierten zu „Insidern“ der neuen Branche, die auch bei den spektakulären Sechstagerennen gefragt waren.
Dann sah sich die Tour mit einem Ultimatum der Firmen konfrontiert, die inzwischen den Radsport finanzierten und sich eines Tages weigerten, ihre Stars in Nationaltrikots die Tour bestreiten zu lassen. Sie zahlten und forderten die entsprechende Gegenleistung. Die Währung lautete „Werbung“. Ein Mailänder Wurstfabrikant zum Beispiel engagierte Stars und verdreifachte in einem Sommer seinen Umsatz. Sein Gewinn war beträchtlich, zumal die zuständigen Lebensmittelkontrolleure eines Tages feststellten, dass er Fleischabfall in die Därme presste.
Lange blieben die Tour-Direktoren ihrem Prinzip, die Tour nur Nationalmannschaften bestreiten zu lassen treu, aber als ein italienischer Konzern damit drohte, das französische Radsportidol Jacques Anquetil zu engagieren und dann nicht bei der Tour starten zu lassen, warfen sie das
Handtuch. Fortan fuhren Fabrikmannschaften. Damit verloren die nationalen Verbände ihre Kontrollmöglichkeiten. (Wir kommen auf diesen Fakt noch zurück.)
1959 stießen französische Zollbeamte auf Dopingpillen für den Luxemburger Charly Gaul. Der hatte die Tour 1958 gewonnen. Der Fall wurde „notiert“.
1966 fanden die ersten Dopingkontrollen bei der Tour de France statt.
Ein Jahr später - also vor 40 Jahren - starb der Brite Tom Simpson am Mont Ventoux (1912 m). An der letzten Steigung - acht Prozent! - versuchten ihn der Franzose Poulidor und der Spanier Jimenez abzuhängen. Simpson wollte nachsetzen, fuhr plötzlich kreuz und quer von einem Straßenrand zum anderen, stürzte. Er soll geschrieen haben: „Setzt mich wieder auf mein Rad!“ Andere Zeugen erinnerten sich an seine Rufe „Weiter, weiter!“ Als der einzige Arzt der Tour-Karawane eintraf, war Simpson schon klinisch tot. Man flog ihn ins Krankenhaus nach Avignon, wo man die Diagnose bestätigte. Seitdem konnte man lesen, dass er an einem Doping-„Cocktail“ gestorben sei: Amphetamine, Alkohol, Betäubungsmittel. Jahre später platzierte man an der Stelle, an der er gestorben war, einen bescheidenen Gedenkstein. Der Sockel ist ständig mit Utensilien vollgestellt. Es sind viele Rennfahrertrinkflaschen darunter und die sollen daran erinnern, dass er gar nicht am Doping starb. An jenem Tag waren über 40 Grad Hitze gemessen worden und im Grunde war er verdurstet. Damals galt noch die Regel, dass die Rennfahrer nur vier Trinkflaschen bei sich haben durften ausschließlich von Zuschauern mit zusätzlichen Getränken versorgt werden durften. Das Motiv für diese Bestimmung war, dass man den Begleitfahrzeugen unterstellte, die Fahrer beim Zureichen der Flaschen zu „ziehen“. An jenem Hitzetag hätte diese Bestimmung annulliert werden müssen, aber die Tour-Direktoren dachten nicht daran.
Ob das der Grund dafür war, dass man am 40. Jahrestag von Simpsons Tod den Mont Ventoux umfuhr?
Die Staatsanwaltschaft, die den Fall untersuchte, stellte die Ermittlungen im September 1968 ein. Als man später die Ergebnisse der Untersuchung überprüfen wollte, war der Bericht spurlos verschwunden.
1969 gewann Eddy Merckx seine erste Tour de France. Er war nach der 16. Etappe des Giro d’Italia mit positivem Dopingbefund für vier Wochen gesperrt worden, aber nach zehn Tagen wurde die Strafe aus „Mangel an Beweisen“ aufgehoben. Er konnte bei der Tour starten und gewann sie.
1975 ergab eine Dopingkontrolle beim Italiener Felice Gimondi einen positiven Befund. Er wurde zu 1000 Schweizer Franken Strafe verurteilt und vom fünften auf den sechsten Rang der Gesamtwertung gesetzt.
Bei der Friedensfahrt finden sich im gleichen Jahr im § 25 des Reglements die Sätze: „In Anbetracht der schweren Gefahren, die die
Verwendung von Dopingmitteln mit sich bringt, ist deren Verabreichung verboten. ... Die Veranstalter werden pro Etappe den 1. bis 3. und fünf durch das Los ermittelte Rennfahrer sowie den Träger des Gelben Trikots kontrollieren ... Im Falle eines positiven Befundes wird der Rennfahrer sofort vom Rennen ausgeschlossen und muss unverzüglich auf Kosten seines Radsportverbandes die Heimreise antreten. Gleichzeitig muss er alle in der betreffenden Etappe gewonnenen Preise zurückgeben.“ Für die Bestrafung war der nationale Radsportverband und die Internationale Föderation (UCI) zuständig.
1978 erschien der belgische Träger des Gelben Trikots der Tour de France, Michel Pollentier, zur Dopingkontrolle mit einem nicht zu geschickt versteckten Beutel Fremdurin und wurde disqualifiziert.
1983 wurden die Franzosen Rodriguez, Bazzo und Clerc, ebenso wie der Niederländer Zoetemelk des Dopings überführt und disqualifiziert worden.
1987 verließ Dietrich Thurau wegen einer Sehnen-Entzündung die Tour de France. Fünf Tage später wurde mitgeteilt, dass er des Dopings überführt worden sei.
1988 erreichte die Tour einen Doping-Rekord: 18 positive Befunde. Darunter war auch der Gesamtsieger Pedro Delgado. Dass weder er noch die meisten anderen Dopingsünder bestraft wurden, bewirkte eine Entscheidung der Tour-Direktion: Das entdeckte Dopingmittel stünde zwar auf der Liste der verbotenen Mittel, die das Internationale Olympische Komitee führt, nicht aber auf der Liste der UCI. Niemand konnte die Frage beantworten, warum das Tour-Labor nach dem Mittel „Provenicid“ überhaupt gesucht hatte.
Der neunfache Etappensieger des Jahres 1996 Dschamolidin Abduschaparow (Russland) wurde 1997 nach der zweiten Etappe wegen eines positiven Befunds ausgeschlossen.
1998 erschütterte der Festina-Skandal die Tour. Die Mannschaft verließ die Tour, andere zogen sich vorsichtshalber zurück. Von 21 gestarteten Mannschaften wurden am Ziel nur noch 14 gezählt.
2002 wurden neun Fahrer zwei Tage vor dem Auftakt ausgeschlossen, darunter Jan Ullrich und der Italiener Ivan Bazzo. Man warf ihnen vor, Kunden des spanischen Arztes Eufemiano Fuentes, gewesen zu sein, der angereichertes Eigenblut injiziert haben soll. Juristisch blieb der Sachverhalt ungeklärt, zumal nie nachzuweisen war, dass Fuentes überhaupt tätig geworden war. Drei Tage vor dem Ende der Tour wurde eine Dopingprobe des US-Amerikaners Floyd Landis genommen, die jedoch nicht kontrolliert wurde, weil das Labor am Wochenende pausierte. So wurde Landis von den Tour-Direktoren in Paris offiziell zum Sieger erklärt und 48 Stunden später traf die Mitteilung ein, dass die Dopingprobe einen positiven Befund ergeben hatte. Bislang wurde die Siegerehrung nicht korrigiert.
Noch undurchsichtiger waren die 2007 getroffenen Entscheidungen. Die schon erwähnten Winokurow und Moreni wurden wegen positiver Befunde ausgeschlossen. Der Spanier Iban Mayo wurde nach dem Finale als 16. der Gesamteinzelwertung gestrichen. Niemand vermochte zu erklären, wie es kommen konnte, dass das Resultat der am 24. Juli entnommenen Probe erst nach Ende der Fahrt, also am 30. Juli vorlag. Sechs Tage für eine Untersuchung..? Allerdings lag wieder ein Wochenende dazwischen, was darauf schließen läßt, dass die Tour-Praxis an Wochenenden die Kontrollen einzustellen, auch 2007 praktiziert wurde. Damit hätte sich die Zahl der nachgewiesenen positiven Befunde im Jahr 2007 auf drei erhöht, der Prozentwert also auf 0,86 Prozent. Auch das wäre noch kein Wert, der die Begriffe „Dopingsumpf“ oder „gestorbene Tour“ rechtfertigen würde.
Bliebe noch der spektakulärste Fall, nämlich der des Dänen Michael Rasmussen.
Erste Feststellung: Der Mann musste während der Tour 2007 insgesamt 14 Mal zur Dopingkontrolle. Nicht eine einzige Untersuchung ergab ein positives Resultat. Nach den Regeln der Tour de France gab es also keine rechtliche Handhabe, ihm mitzuteilen, dass er sein gelbes Trikot ausziehen und seinen Koffer packen müsste.
Zur Vorgeschichte: Die Wirkung des kreuzgefährlichen und strikt verbotenen Blutdopings lässt sich auch auf durchaus erlaubte konventionelle Weise erzielen, in dem man in extremer Höhenlage trainiert, wo der menschliche Körper in der dort sauerstoffärmeren Luft zusätzliche rote Blutkörperchen entwickelt. Wer nach solchem Training aus extremer Höhe auf Meereshöhe zurückkehrt, ist allen konventionell Trainierenden überlegen und hat gegen auch keine Regel verstoßen. Im Gegensatz zu dem, der sich rote Blutkörperchen injizieren ließ oder die Zahl seiner roten Blutkörperchen durch eine Blutinfusion erhöht. Um für Dopingkontrolle auch in den Trainingsperioden erreichbar zu sein, schreibt das internationale Antidopingreglement vor, dass jeder Athlet ein halbes Jahr im Voraus mitteilen muss, wo er sich aufhält, damit ihn die Dopingkontrolleure erreichen können. Gegen diese Regel verstieß Rasmussen und wurde deshalb verwarnt. Zweimal, wie der dänische Radsportverband versicherte und ihn deshalb ausschloss. Nach Auskunft des zuständigen dänischen Radsportfunktionärs bedeutete das keine Sperre für Rasmussen, denn der Rennfahrer fuhr ja für eine niederländische Firmenmannschaft und mit einer Lizenz des Radsportverbands Monacos, wo Rasmussen einen Wohnsitz habe. Der Ausschluss galt nur für Rasmussens Berufung in die dänische Mannschaft für die Weltmeisterschaft. Tatsächlich - so versicherte Rasmussen - habe er in mexikanischer Höhe trainiert und die dortige Adresse seinem Verband nicht mitgeteilt. Diese Erklärung akzeptierte die
Leitung der Tour de France am 20. Juli und am 24. Juli. Am 25. Juli entschied - so die vorliegenden Informationen - der niederländische Rabo-Bank-Vorstand, Rasmussen aus der Mannschaft zu entlassen, was wiederum seinen Ausschluss von der Tour zur Folge hatte.
Man feuerte ihn. Am Abend des 25. Juli um 23.10 Uhr - also 88 Stunden vor dem Tour-Finale - floh er. Die „Begründung“ für den Ausschluss von der Tour hatte der italienische Fernsehjournalist Davide Cassini geliefert, früher ein mittelmäßiger Profirennfahrer. Er sei Rasmussen, versicherte Cassini, im Juni in den Dolomiten beim Training begegnet. Er habe ihn zwar kaum erkannt, weil er in einer Regenjacke steckte, aber er glaube schon, dass es Rasmussen gewesen sei. Das genügte, um den Dänen der Lüge zu bezichtigen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ schloß aus der Cassini-Mitteilung: „Der Kletterer hatte sich für die betreffende Periode aus seinem Wohnort am Gardasee nicht abgemeldet - die Kontrolleure trafen ihn jedoch nie an. Zunächst hieß es - auch von ihm und Rabobank - Rasmussen habe sich im Monat vor der Tour in Mexiko aufgehalten. ... Das Versteckspiel gehörte bei Rasmussen bekanntermaßen zur täglichen Arbeit, die nach seinem Etappensieg vom Aubisque im Toursieg zu münden drohte. `Und es gibt Leute, die von allem wussten´, zürnt Tourchef Prudhomme, `die UCI zum Beispiel wusste alles, aber sie hat es uns nicht gesagt.´“
Prudhomme hat bislang keine Fakten für diese Behauptung präsentiert. Auch nicht für die Behauptung, dass der Tour-Sieger Contador des Dopings verdächtig sei. Da hat sich mit dem Heidelberger Franke, der sich schon als „Chefermittler“ in Sachen „DDR-Doping“ aufgespielt hatte. Nun versicherte er laut „Financial Times Deutschland“ (30.7.2007): „Ihn zum Tour-Sieger zu erklären, ist nach Frankes Worten `der größte Schwindel der Sportgeschichte´ erklärte Franke im ZDF-Morgenmagazin. Contador wird immer wieder mit den Listen des spanischen Arztes Eufemiano Fuentes in Verbindung gebracht. Laut Franke `hat es aber in der jüngsten Zeit einen Vertrag gewissermaßen gegeben von der internationalen Radsportunion UCI und den spanischen Justizbehörden, die das alles vertuscht haben und einfach gelogen haben. ... Spanien habe sich hier das `größte Ding aller Zeiten geleistet´ sagte Franke. Es sei ihm gelungen, sich in den Besitz der Unterlagen zu bringen. ... Rückendeckung für den umstrittenen Tour-de-France-Sieger gab es dagegen in der spanischen Heimat. ... Er ist ein verurteilter Sieger in einer verurteilten Tour de France schrieb `El Pais´. Die Sportzeitung `As´befand: `Alberto Contador ist der König der Hoffnung und das Symbol des neuen Radsports . Mit ihm beginnt eine neue Ära. Nach diesem Sieg beginnt eine neue Ära. Nach diesem Sieg sollte der Radsport wieder ein Sport ohne Verdächtigungen und ohne Chemie sein.´“
Ob die Tour 2007 eine neue Ära eröffnet, muss mancher als fragwürdig empfinden, auch wenn er nicht daran denkt dem „France Soir“ und seiner Todesanzeige zu glauben.
Andreas Klöden zum Beispiel, Dritter der Tour 2006, war Fünfter, als er nach der 15. Etappe am 24. Juli ausscheiden musste, weil der Kapitän seiner Astana-Mannschaft, Alexander Winokurow wegen eines positiven Dopingbefunds disqualifiziert worden war und damit die Mannschaft aus der Teilnehmerliste gestrichen wurde. Er lag 5:34 min hinter Rasmussen und alle räumten ihm reelle Chancen ein, zumindest wieder aufs Siegerpodest zu gelangen. Nur fünf der zwanzig Etappen lagen noch vor ihm, als man ihm die Startnummer abnahm.
Klöden war kurz vor dem Start zur Tour ausgiebig von „WELT Online“ (4.7.2007) interviewt worden, wobei der Stil des Fragestellers nicht ahnen ließ, dass er - wie Klöden - aus der DDR stammte, aber der Lausitzer ließ sich nicht verdrießen.
„WELT ONLINE: Herr Klöden, erst am Mittwoch haben Sie die vom Radsport-Weltverband UCI als Startberechtigung für die Tour de France erforderliche Antidopingerklärung unterschrieben. Warum haben Sie so lange gewartet?
Andreas Klöden:Weil wieder einmal über die Köpfe der Sportler hinweg eine Entscheidung getroffen worden ist. Ich bin in einem Alter, wo ich keine Lust habe, wie eine Schachfigur hin und her geschoben zu werden. Ich wollte einfach noch ein wenig provozieren.
WELT ONLINE: Warum?
Andreas Klöden: Weil man sonst mit seinem Unmut nicht erhört wird. Ich bin bei der Tour de Suisse gefahren, als Journalisten plötzlich mich zu dieser Antidopingerklärung befragen wollten. Ich wusste von nichts. Ich dachte, ich bin im falschen Film, als ich hörte, dass ich mein Jahresgehalt zurückzahlen müsste, wenn ich gedopt habe Sicher muss viel passieren im Radsport hinsichtlich Doping. Doch kann man nicht auch unverschuldet in einen Dopingfall rutschen? Zum Beispiel durch kontaminierte Nährstoffe? Oder weil eine Dopingrobe manipuliert worden ist? Als Strafe muss dann ein Jahresgehalt zurückgezahlt werden. Da gibt es keine Verhältnismäßigkeit. Ich habe eine Familie, wir müssen doch von irgendetwas leben. Ich kann nicht von heute auf morgen etwas unterzeichnen, was aus einer 24-Stunden-Schnellschussbesprechung heraus beschlossen wurde und womit ich mich vollständig jemandem ausliefere. Ich fühle mich erpresst, finde das sittenwidrig und menschenunwürdig.
WELT ONLINE: Haben Sie sich mit Anwälten beraten?
Andreas Klöden: Sicher habe ich mir rechtliche Informationen eingeholt, falls der Fall X eintreten sollte. Wissen Sie, ich habe bei jeder Dopingkontrolle Angst. Nicht weil ich irgendetwas Verbotenes genommen
habe, sondern weil ich denke: Hoffentlich gehöre ich nicht zu den ein, zwei Prozent, bei denen eine Kontrolle spinnt. Dann stehe ich da wie ein Eimer und muss teuer dafür bezahlen.
WELT ONLINE: Sie hätten die Ehrenerklärung ja gar nicht unterschreiben müssen.
Andreas Klöden: Doch, denn ich will ja bei der Tour starten, also habe ich keine andere Wahl. Außerdem habe ich ja nichts zu verbergen. ...
WELT ONLINE: Wann werden wir Ihre Dopingbeichte zu hören bekommen?
Andreas Klöden: Meine? Ich brauche keine abzulegen. ...
WELT ONLINE: Das zu glauben, fällt sehr schwer. ... Sie sind ... jahrelang von den inzwischen entlassenen Freiburger Ärzten Lothar Heinrich und Andreas Schmid medizinisch betreut worden. Sie kamen tatsächlich nie mit Doping in Berührung?
Andreas Klöden: Nein, nein und nochmals nein. Ich bin in der DDR groß geworden und habe mich vom elften Lebensjahr an in jeder Altersklasse immer wieder bis zur Spitze durchgearbeitet. Ich war nicht irgendwann da, weil ich etwas in mich hineingepumpt habe. Nein, es ging langsam Schritt für Schritt, systematisch und kontinuierlich und ohne Doping. Trotzdem wird man ständig an den Pranger gestellt und denen gleichgestellt, die erzählen, wie sie jahrelang betrogen haben. Das macht mich fertig. ...
WELT ONLINE: Bei den Dopinggeständnissen kam auch heraus, dass die Fahrer auch deshalb gedopt haben, weil sie wussten, dass sie durch die Kontrollen nicht erwischt werden.
Andreas Klöden: Soll ich mich auch noch darum kümmern, dass die Labore bessere Kontrollmethoden erfinden? Ich kann doch nur anbieten, mich rund um die Uhr kontrollieren zu lassen - mehr geht nicht. Wenn alle den Profiradsport so betreiben würden wie ich, wäre er auch sauber.
WELT ONLINE: Dann könnten Sie aber 200 Kilometer nicht mehr so schnell fahren wie bisher?
Andreas Klöden: Das ist doch Blödsinn. Ich reiße mir das ganze Jahr den Hintern auf. Ich fahre wöchentlich etwa 1000 Kilometer, pro Jahr kommen rund 40.000 Kilometer zusammen. Wenn ich einen Schnitt von 30 km/h fahre, habe ich teilweise einen Durchschnittspuls von 100, aber nur, weil ich so bedingungslos und zielgerichtet trainiert habe. ... Wenn 21 oder 30 Radsportler gedopt haben, kann das doch nicht heißen, dass alle das tun. Wenn in Deutschland Neonazis leben, ist doch nicht jeder Deutsche automatisch ein Nazi. Es gibt Fahrer, die sagen sich, okay, ich riskiere Doping, um dorthin zu kommen, wo ein Jan Ullrich oder ein Michael Schumacher oder ein Boris Becker gestanden haben. Doch das brauche ich nicht. Ich bin nicht der Typ Sportler, der das Rampenlicht sucht. Ich möchte in Ruhe durch Berlin und Konstanz laufen und mein Leben leben. Ich will Rad fahren, will trainieren. Ich habe mein Hobby zum Beruf
gemacht, weil ich damals in der DDR bei der Friedensfahrt zugeschaut habe und das alles faszinierend fand. Es macht mich stolz, dass ich Radprofi geworden bin. ...
WELT ONLINE: Haben Sie Kontakt zu Jan Ullrich?
Andreas Klöden: Warum soll ich mich von ihm distanzieren, was mir ja einige zum Vorwurf machen? Es gibt Indizien, die wirklich erdrückend sind und gegen ihn sprechen. Wenn er überführt wird, muss ich mit ihm ein ernstes Wort reden, denn dann hat er auch mich angelogen. Aber ich bin der Meinung, selbst wenn er den Mist gebaut hat, ändert das nichts an unserer Freundschaft. Weil er mich enttäuscht hat, soll ich ihn verstoßen? Nein, so bin ich nicht erzogen. Das wäre der falsche Weg. Ich mag ja nicht Jan Ullrich, weil er der Toursieger von 1997 ist. Ich kannte ihn ja schon viel früher. Er ist ein sympathischer Kerl, der eigentlich ehrlich ist und mir immer die Meinung ins Gesicht sagt, was ich sehr schätze.
WELT ONLINE: Warum haben Sie sich der Presse verweigert?
Andreas Klöden: Weil ich so viel Unsägliches über mich gelesen habe. ... Es widert mich an. Ich habe keinen Bock mehr, ständig über etwas zu reden, mit dem ich nichts zu tun habe. Also sage ich lieber gar nichts. Dadurch habe ich wenigstens den Frieden mit mir selbst wieder gefunden...
WELT ONLINE: ... und freuen sich jetzt auf die Tour de France?
Andreas Klöden: Freuen? Das war einmal. 2001, vor meiner ersten Tour, war ich schon drei Wochen vorher wahnsinnig aufgeregt und konnte gar nicht erwarten, dass es endlich losging. Wie ein kleiner Junge habe mich gefreut, als ich in Paris angereist bin. Jetzt empfinde ich es wie eine Strafversetzung, bei der Tour zu starten. In letzter Zeit hatte ich mich völlig abgeschottet, habe den Internetzugang gesperrt, keine Zeitung, kein Videotext gelesen, damit ich den Kopf freibekomme für die bevorstehende Aufgabe. Jedes Jahr habe ich der Tour entgegengefiebert. Jetzt sitze ich hier und sage mir: `Scheiße, jetzt geht der ganze Dreck wieder los.´ Denn ich bin mir sicher, dass es bei der Tour weniger um Sport gehen wird. Ich aber habe keine Lust, während meiner Arbeit, die schon schwer genug ist, mich auch noch über irgendwelche Dopingfälle zu unterhalten. Das ist ein Horrorszenario.
WELT ONLINE: Würden Sie die Tour verlassen, wenn Sie das alles zu sehr nervt?
Andreas Klöden: Das ist nicht auszuschließen. Ich muss sehen, wie sich alles entwickelt, ob ich dann noch abschalten kann oder nicht. ...
WELT ONLINE: Wollen Sie die Tour de France gewinnen?
Andreas Klöden: Vorbereitet darauf bin ich. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, obwohl ich mir gut vorstellen kann, dass der diesjährige Gewinner nicht so viel Freude am Sieg haben wird, wie einer aus den 90er Jahren, als noch alles Friede, Freude, Eierkuchen war.“
25 Tage später wurde Andreas Klöden wieder interviewt. Es war nach dem Tag, an dem er die Tour unfreiwillig verlassen musste.
„Herr Klöden, was war Ihre Reaktion, als vergangenen Dienstag bekannt wurde, dass es bei Ihrem Teamkollegen Alexander Winokurow eine positive A-Probe gibt?
Andreas Klöden: Es war ein Schock für mich. Marc Biver kam zu mir ins Hotelzimmer und ich konnte schon an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass irgendwas nicht stimmt. Als er mir dann sagte, dass Wino nach dem Zeitfahren positiv gestestet worden sei, konnte ich es zuerst überhaupt nicht glauben.
Was haben Sie dann gemacht?
Andreas Klöden: Marc sagte mir auch direkt, dass wir die Tour nicht zu Ende fahren würden. Ich habe mich gefühlt wie benebelt. Eine Mischung aus Wut und Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich bin zunächst ziellos hin und her gelaufen, habe geflucht und immer wieder zu mir selbst gesagt, das kann einfach nicht wahr sein. Neun Monate hatte ich mich ausschließlich auf die Tour vorbereitet und dafür auf vieles verzichtet. Meine Familie musste ich oft alleine zurück lassen. Ich habe nach meinem Sturz jeden Tag die Zähne zusammengebissen und weiter gekämpft, um in Paris anzukommen. Auch wenn der Gesamtsieg außer Reichweite schien, hatte ich zumindest noch gute Chancen auf das Podium. ...
Als die Meldung über Alexander Winokurow publik wurde, spielten sich dramatische Szenen vordem Team-Hotel ab...
Andreas Klöden: Ja, innerhalb weniger Minuten wurde das Hotel von Journalisten, Fotografen und Kameraleuten umlagert. Als dann kurze Zeit später die Polizei eintraf, dachte ich, ich wäre im falschen Film. Ich wurde an die Wand gestellt und durchsucht. Sie können sich nicht vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man behandelt wird wie ein Schwerverbrecher. ...
Jan Ullrich steht unter Doping-Verdacht, Mattias Kessler wurde bereits wegen seines positiven Befundes vom Team entlassen und nun wurde auch Alexander Winokurow positiv getestet - alles Leute aus Ihrem direkten Umfeld. Da kann es einem schwer fallen zu glauben, sie seien sauber...
Andreas Klöden: Das ist ja genau mein Problem. Ich bin in diesem Jahr so oft getestet worden wie nie zuvor, insgesamt vierzehn Mal. Ich ... unterziehe mich freiwillig jeder Kontrolle, die gemacht wird. Ich hatte noch nie in meiner Karriere einen `Missed-Test´ (versäumten Test), gebe immer korrekt und rechtzeitig meine Aufenthaltsorte an und wurde von den Kontrolleuren stets angetroffen. In meinem Vertrag habe ich mich bereit erklärt, bei Bedarf eine DNA-Probe abzugeben. Ich habe nie gedopt und würde es auch nie tun. Jeder der Fälle, die sie gerade genannt
haben, war und ist für mich ein bitterer Schlag ins Gesicht. Alle beteuern dennoch ihre Unschuld. Ich weiß heute nicht mehr, was ich glauben soll.
Wie beurteilen Sie die derzeitigen Vorkommnisse bei der Tour?
Andreas Klöden: Wenn ich höre, wie Herr Clerc, Organisator der Tour de France sagt, dass die UCI der Tour schaden zufügen und sie zerstören wolle, habe ich den Eindruck, dass wir Fahrer nur die Marionetten in diesem offensichtlichen Machtspiel sind.“
Ein Kommentar zu dieser emotionalen Offenbarung wäre in jedem Fall deplatziert. Hier hat ein Rennfahrer seine Meinung gesagt und man sollte sie einfach zur Kenntnis nehmen.
Denn: Nicht die Tour-Manager, die 1903 das erste Rennen organisierten und auch nicht die, die mit stattlichen Gehältern das Rennen des Jahres 2007 arrangierten sind die Hauptpersonen, sondern die Aktiven.
Das gilt für alle, von Maurice Garin bis Alberto Contador.
Und es gilt auch für die, die nie in die Schlagzeilen gerieten und selbst für die, die zum Doping griffen, um zu schaffen, was die Henry Desgrange - Tour-Direktor 1903 - und Christian Prudhomme - Tour-Direktor 2007 - von ihnen verlangten. Nicht, um sportliche Höchstleistungen von ihnen zu fordern, sondern, um ihren Gewinn zu sichern...
ZITATE
IN SOTSCHI ROLLT DER RUBEL SCHON
Moskau - Der Startschuss liegt zwar noch weit in der Zukunft, doch die Wettkämpfe haben schon begonnen. Lange bevor 2014 in dem russischen Schwarzmeerkurort Sotschi die Olympischen Spiele ausgetragen werden, haben findige Unternehmer bereits jetzt die umgerechnet mindestens neun Mrd. Euro im Visier, die der russische Präsident Wladimir Putin und die Privatwirtschaft dort investieren wollen.
Am wildesten geht es derzeit auf dem Immobilienmarkt zu. „Let the Gains begin", „lasst die Gewinne sprudeln", schreibt die Moskauer Alfa Bank zur Olympia-Entscheidung. ...
Kostete im vergangenen Jahr der Quadratmeter in Sotschi noch 1800 Dollar, ist er inzwischen nur noch für 4000 Dollar zu haben. Zum Vergleich: In der Hauptstadt Moskau, dem bislang mit Abstand teuersten Pflaster Russlands, liegt der Quadratmeterpreis im Durchschnitt bei 4070 Dollar.
In weiser Voraussicht haben Immobilienentwickler aus Moskau, St. Petersburg und den erdölreichen Regionen vor der Olympia-Entscheidung in großem Stil Grundstücke erworben. „Das war eine Lotterie, bei der sie das Glückslos gezogen haben", schreibt die Zeitung RBK Daily. Ein freier Markt ist das Geschäft mit den Grundstücken indes in Sotschi nie gewesen. Wer nicht über Beziehungen zu städtischen oder regionalen Beamten verfügte, ging leer aus.
Leidtragende der jüngsten Entwicklung sind vor allem die Einheimischen. So schrieb die Zeitung „Kommersant", Tausende von ihnen würden von ihren Grundstücken vertrieben, um Investoren Platz zu machen. Gegen diese Zwangsumsiedlung hat sich die Bürgerinitiative „Institut kollektiven Handelns" gebildet. „Einfachen Sterblichen werden bescheidene städtische Wohnungen im Tausch gegen ihren Grund und Boden geboten. Wenn sie Glück haben, bekommen sie eine symbolische Ausgleichszahlung", sagt Olga Mirjasowa, Sprecherin der Bürgerinitiative.
Ähnlich dubios verlaufen die Bauarbeiten im Nationalpark, wo die Skiwettbewerbe stattfinden sollen. Postfaktum werden Ausnahmegenehmigungen in Gegenden erteilt, in denen nichts gebaut werden darf. Der russische Rechnungshof stellte 2006 bei einer Untersuchung fest, dass von 18 bereits begonnenen Bauprojekten im Nationalpark lediglich fünf über die gesetzlich vorgeschriebene ökologische Expertise verfügten. ...
Die Stadt scheint auf Gold gebaut zu sein. So sind die Preise für Grundstücke rund um die Imeretinskaja-Bucht, in der das Olympia-Stadion, das Olympische Dorf und alle Hallen errichtet werden sollen, auf bis zu 800 Dollar pro Quadratmeter gestiegen. Bislang war die Gegend wertloses Sumpfland. ... Experten sehen vor allem Bedarf bei Hotelneubauten, Einkaufszentren sowie Wohnungen - so ist der Bau von einer Mio. Quadratmetern neuen Wohnraums geplant. „Jetzt ist die Stunde der Spekulanten” ...
Jens Hartmann in “Die Welt” 9.7.2007
WIMBLEDON UNTER DACH
LONDON. ... „Wimbledon ist und bleibt eine der profitabelsten Sportveranstaltungen der Welt", sagt der neue Geschäftsführer des All England Club, der einstige Manchester-United-Manager lan Ritchie. Da fällt kaum ins Gewicht, dass 2007 die Zuschauerzahlen im Horrorklima von London SW 19 leicht zurückgingen. Rund 15 000 Besucher weniger als in der Vorsaison passierten in den beiden vergangenen Wochen die gut gesicherten Tore des All England Lawn Tennis and Croquet Club. Dafür schnellten die Verkaufszahlen in den Devotionalienshops kräftig in die Höhe. Was blieb den regengeplagten Zuschauern in den ewigen Zwangspausen auch anderes übrig, als die vielen Geschäfte auf der Anlage nach Souvenirs zu durchstöbern?
Unter der Direktion des neu bestallten Bosses Ritchie hat der Klub inzwischen seine ohnehin nicht, zu knappe Geschäftstätigkeit noch einmal kräftig ausgeweitet: Hinter dem betulichen, Erscheinungsbild an der Church Road, hinter dem Idyll von der britischen Gartenparty verbirgt sich mehr denn je eine hochtourige Geldmaschine, die weit über das Areal im idyllischen Südwesten der britischen Hauptstadt hinausreicht. Ähnlich wie die großen englischen Premier-League-Klubs wie Manchester United oder FC Chelsea sind die Wimbledon-Manager auf den boomenden Geschäftsplätzen in Asien und dem Mittleren Osten präsent - in Regionen also, von denen der Klubpräsident Tim Philipp sagt, „dass sie geradezu tennisverrückt sind und Stars wie Roger Federer absolut verehren".
Lange vor den Spielervereinigungen ATP und WTA hat Wimbledon die großen Potenziale insbesondere im Megamarkt China entdeckt, schon vor zwei Jahren verkaufte der Klub dort an mehr als zwanzig Franchiseunternehmer die Rechte für Wimbledon-Shops. Auch in Japan, in Südostasien und im arabischen Raum will der All England Club die Marke Wimbledon geschäftstüchtig etablieren und damit jenes Potenzial ausschöpfen, das durch einen neuen Tennisaufbruch und eine moderne Turnierinfrastruktur wie in Schanghai, Peking, Singapur, Bangkok, Dubai oder Doha frei geworden ist. ... Tradition hin, Tradition her: wenn's ums liebe Kleingeld geht, ist Wimbledon auf der Höhe der Zeit. Und so wird denn vom Jahr 2009 an auch ein Dach den Centre-Court vor den Kapriolen des Wetters schützen und den Spielbetrieb wenigstens im berühmtesten Tennistheater der Welt garantieren. „Wir müssen für unsere Fernsehpartner ein Programm ermöglichen, wir wollen aktuelle Bilder zeigen und keine Konserven", sagt der Manager Ritchie, der hofft, dass auch auf den europäischen Kernmärkten in Zukunft wieder größere Nachfrage nach Bildern aus Wimbledon herrschen wird.
Stuttgarter Zeitung, 9.7.2007
DIE BAYER AG STREICHT...
Bislang stand sie für die große Leverkusener Leichtathletikvergangenheit. 1972 siegte Heide Rosendahl zweimal bei den Olympischen Spielen in München, zuerst im Weitsprung und dann als Schlussläuferin der 4x100-Meter-Staffel, die die DDR-Staffel in Schach hielt, weshalb sie endgültig zur populärsten Leichtathletin der Bundesrepublik avancierte. Fortan personifizierte Ecker-Rosendahl, wie sie seit ihrer Hochzeit 1974 heißt, neben Willi Holdorf, dem Zehnkampf-Olympiasieger von 1964, die große Geschichte der Leichtathletik unter dem Bayer-Kreuz. Seit 1953, als der legendäre Trainer Bert Sumser für den Werksklub einen der weltweit besten Leichtathletikvereine aufbaute, förderte der Chemiekonzern großzügig diese Sportart - mit großem Erfolg. Vor allem im Hochsprung (Ulrike Meyfarth, Heike Henkel, Martin Buß) war Bayer stets Weltspitze.
Heute steht Heide Ecker-Rosendahl aber auch für die Zukunft. Die allerdings ist fraglicher denn je. Vor vier Wochen hat die Bayer AG, wie es im nüchternen Wirtschaftsdeutsch hieß, „ihr soziales und sportliches Engagement im Umfeld der deutschen Standorte neu strukturiert und einen dreistufigen Plan verabschiedet". Ein darin enthaltener Satz sorgte für Entsetzen in den Gesichtern vieler Funktionäre, Sportler und Trainer: „Im Profisport wird sich Bayer ab Sommer 2008 ausschließlich auf Fußball konzentrieren und sich aus der Sportwerbung in den Bereichen Basketball, Handball, Volleyball und Leichtathletik mittelfristig zurückziehen." Die dort eingesparten Gelder, rund 3,5 Millionen Euro jährlich, sollen „stattdessen in die Bildung junger Menschen investiert werden". Die Förderung des Breitensports sei nicht betroffen, versicherte der Konzern.
Die Profifußballer erhalten weiterhin 25 Millionen Euro jährlich, zusätzlich wird die Bay-Arena demnächst für rund 56 Millionen Euro modernisiert. Die Leichtathleten werden indes noch bevorzugt, ihre Förderung wird erst ab 2009 gekürzt, dann finden in Berlin die Weltmeisterschaften statt. „Bis dahin läuft die Galgenfrist", sagt Joachim Strauss, Abteilungsleiter Leichtathletik im Gesamtverein TSV Bayer Leverkusen 04. „Die fehlenden Einnahmen machen rund 20 Prozent unseres Etats aus", erklärt Strauss. Diese Lücke soll nun die 60-jährige Ecker-Rosendahl schließen. „Sie koordiniert die Sponsorensuche", sagt Strauss.
„Das Paradies des Sports macht dicht", schrieb der „Kölner Stadt-Anzeiger". Doch der Aufschrei hielt sich seltsamerweise in Grenzen. Selbst bei den Volleyballern in Wuppertal oder den Handballern in Dormagen, die nun gezwungen sind, ihren Leistungssport alleine zu finanzieren, gab es keine lautstarken Proteste - obwohl es fast unmöglich ist, diesen Verlust innerhalb einiger Monate zu kompensieren. Diesen Klubs droht nun das Schicksal des einstigen Fußball-Bundesligisten Bayer 05 Uerdingen, dem der Konzern 1995 die Mittel strich und der heute in der Oberliga herumkrebst. ... Klartext gegen die Zementierung
der Monokultur des Fußballs spricht als eine der wenigen Heide Ecker-Rosendahl. „Die Entwicklung jetzt ist deprimierend", sagte sie dem Tagesspiegel. „Ich verstehe nicht, wie man nur auf Fußball setzen kann und gar nicht mehr auf olympischen Sport. Das wäre doch eine große Imagewerbung. Offenbar habe ich weniger zur Werbung beigetragen als Bernd Schneider."
Erik Eggers in Der Tagesspiegel, 8.7.2007
Null Toleranz auch für die
Vergangenheitsbewältigung
Die Enthüllungen der Praktiken von Sportmedizinern an der Freiburger Universität offenbaren eine jahrzehntelange Tradition ärztlicher Dopingunkultur. Die Machenschaften der Männer im weißen Kittel haben sich nicht im luftleeren Raum entwickelt. Früh schon hat der bundesdeutsche Sport, die Zusammenarbeit mit Ärzten gesucht, die etwas vom Sport verstanden und deren Betreuung von Athleten in wissenschaftlicher Hilfen mündete. Im Wettkampf der Systeme war die Unterstützung durch Mediziner sehr willkommen. Sie sollten dazu beitragen, die Spitzensportler in Hochform an den Start zu bringen. Der Heilungsprozess bei Verletzungen und Infekten sollte beschleunigt werden. Denn den Athleten ging und geht es darum, möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen, um bei großen Meisterschaften oder gar bei Olympischen Spielen starten zu können. Und dieSportverbände waren und sind daran ebenfalls interessiert. Das alles war und ist legitim.
Allmählich gefiel sich eine Reihe von Sportmedizinern darin, gezielt zur Leistungssteigerung und damit zu Titeln und Medaillen von Athleten beizutragen. Die Faszination, die Grenzen physischer Leistungsfähigkeit auszuloten, führte zu Überschreitungen sportlicher Spielregeln und ärztlicher Gebote. Den Sportmedizinern an der Freiburger Universitätsklinik kam dabei unter Leitung des vor sieben Jahren verstorbenen deutschen Olympia-Arztes Professor Joseph Keul eine Schlüsselrolle zu. Der ebenfalls in Freiburg ansässige Professor Armin Klümper, der lange Jahre auch von den Medien als Heilsbringer der Spitzensportler gefeiert wurde, zog geradezu Prozessionen von Athleten an. Sie versprachen sich von ihm rasche Genesung und Wiedererlangen einer guten Verfassung. Klümper und andere Ärzte waren nicht zimperlich, spritzten Leistungssportler mit Cortison fit oder begannen in den sechziger und siebziger Jahren, das Wundermittel Anabolika zur
Rehabilitation und mehr und mehr zur gezielten Steigerung der Leistungen einzusetzen.
Die Hormongaben wurden anfangs ähnlich bedenkenlos konsumiert wie heute das nicht nachweisbare Mittel Kreatin, das den Stoffwechsel der Muskeln und damit den Energiehaushalt begünstigt. Die Attraktivität der anabolen Steroide erhöhte sich in dem Maße, wie sie dazu beitrugen, den Athleten in ungeahnter Weise zu Fortschritten zu verhelfen. Damit entpuppten sich die Anabolika als ein Dopingmittel, das zudem erhebliche gesundheitliche Schädigungen und vor allem bei Athletinnen verheerende Persönlichkeitsveränderungen zur Folge hat. Mit dem Verbot der Anabolika im Jahre 1974 hielt die doppelbödige Moral im bundesdeutschen Spitzensport Einzug. Offiziell wurde Doping gegeißelt. Inoffiziell sahen nicht wenige Verantwortliche in den Sportverbänden zur Seite, wenn Athleten sich in Freiburg und anderswo von Sportmedizinern auf, die Sprünge helfen ließen oder sich selbst Dopingmittel beschafften und einnahmen. Darüber hinaus wurde den Sportlern, manchmal sogar in Besprechungen von Nationalmannschaften gar nicht so selten bedeutet, dass sie schon zu Anabolika greifen müssten, wenn sie international Chancen haben wollten. Eine Reihe von Heim- und Bundestrainern arbeitete zum Beispiel in der Leichtathletik mit ihren Athleten systematisch mit Anabolika, ohne dass sie von der Verbandsführung daran gehindert wurden.
Drastische Warnungen vor dem Grassieren des Dopings und seinen Folgen für den Hochleistungssport, wie sie Ende der sechziger Jahre in Zeitungsartikeln von der Heidelberger Diskuswerferin Brigitte Berendonk, der Frau des heutigen Anti-Doping-Kämpfers Professor Werner Franke, formuliert wurden, fanden kaum Widerhall. Im Westen Deutschlands ging es darum, sich nicht zu sehr gegen den aufstrebenden DDR-Sport zu blamieren. Da wollte man bis in die Politik hinein die eigenen Erfolge nicht kritisch hinterfragen.
Erstmals provozierte der Dopingskandal bei den Olympischen Spielen von Montreal 1976 einen Aufschrei in der Öffentlichkeit. ... Bundesdeutsche Sprinterinnen beschuldigten ihren Bundestrainer, ihnen Testosteron verabreicht zu haben. Insider berichteten davon, dass im Bundesleistungszentrum der Gewichtheber in Egelsbach bei Darmstadt Anabolika-Präparate offen herumgelegen hätten. Und schließlich kam die unappetitliche Geschichte von der Luft heraus, die Schwimmern, darunter dem Weltmeister und späteren NOK-Präsidenten Klaus Steinbach, während der Spiele von Montreal in den Darm gepumpt wurde. ... Pikanter Weise hatte das Bundesinnenministerium die luftige Maßnahme mit 260.000 DM finanziert. ... Die jetzt einsetzende Vergangenheitsbewältigung wird zeigen, ob die Anzeichen, dass der BAL
und sein Nachfolgegremium BL (Bereich Leistungssport) den Begriff der Substitution (zu) großzügig ausgelegt haben, sich bewahrheiten.
Mit einer verbal eindrucksvollen Grundsatzerklärung, die 1971 in Baden-Baden verabschiedet wurde, formulierten der Deutsche Sportbund (DSB) und das Nationale Olympische Komitee (NOK) die ethischen Werte für einen humanen Leistungssport. Damit wurde die Öffentlichkeit wirkungsvoll beruhigt. Im Nachhinein sieht es so aus, als wenn die feierliche - von Willi Daume gesteuerte - Inszenierung eine Alibiveranstaltung war. So sehen es jedenfalls Insider, die damals zum engen Kreis der Sportführung zählten. Heute wissen wir, dass nach dem starken Tranquilizer von Baden-Baden im bundesdeutschen Sport munter weiter gedopt wurde. Und es wird Licht in das Dunkel zu bringen sein, in welcher Weise die Leistungsmanipulation von Verantwortlichen des organisierten Sports begünstigt wurde. Selbst auf den hoch angesehenen, die ethischen Wert des Sports beschwörenden Willi Daume könnte ein Schatten fallen. Ihm wird in Sachen Substitution von Kennern der Szene eine gewisse Großzügigkeit nachgesagt. Dies stützt auch ein Vorfall, von dem kürzlich Manfred von Richthofen Kenntnis gab. Der spätere DSB-Präsident empfahl als Vorsitzender der Anti-Doping-Kommission des Deutschen Sportbundes, Keul wegen entsprechenden Belastungsmaterials nicht als Leitender Arzt der Olympiamannschaft der Spiele von Barcelona 1992 zu nominieren. Darauf hin habe ihn der NOK-Präsident „rausgeschmissen“ und den Freiburger Sportmediziner durchgesetzt.
Nach der Wende 1989 stand das Erschrecken über das flächendeckende Doping der DDR mit seinen inhumanen Methoden im Vordergrund der öffentlichen Betrachtung. Erst allmählich richtet sich der Focus auf das Doping im Westen Deutschland das in einigen Zirkeln betrieben wurde und in dem einige Sportmediziner eine fatale Rolle gespielt haben. Die Leichtathletin Birgit Dressel ist nur das spektakulärste Todesopfer der pharmakologischen Leistungsmanipulation durch Ärzte. In einem Klima feuchtheißer Heuchelei konnte sich auch im Westen Deutschlands Doping von Anabolika über Epo bis hin zu Wachstumshormonen ausbreiten wie ein Pilzgeflecht. „Null Toleranz“ ist die Devise, die sich der olympische Sport auf seit Fahnen geschrieben hat. Das muss auch für das Aufarbeiten der Dopingvergangenheit des bundesdeutschen Sports gelten.
Steffen Haffner, Olympisches Feuer; 3/2007
BEGRENZUNG DER AUTONOMIE DES SPORTS
Ein Sportler kann sein Selbstbestimmungsrecht nur ausüben bei der an-fänglichen Auswahl der Sportart, ist dann aber faktisch von seinem Mo-nopolverband abhängig; da zudem das Demokratieprinzip im Sport nicht gewahrt ist und auch wohl kaum effektiv durchgesetzt werden kann, be-steht eine Ungleichgewichtslage im Sinne der Rechtsprechung des Bun-desverfassungsgerichts zu den Schranken der Privatautonomie. ... Die besondere Problematik des Sportrechts besteht daher darin, unter Wahrung der Autonomie - der sport-typischen Besonderheiten - des Sports die Rechte vor allem der Sportler und der Sportvereine aber auch der Außenstehenden zu sichern. Dieses Erfordernis hat zu einer Ver-schärfung der Kontrolle der Verbandsregeln und -Entscheidungen durch staatliche Gerichte geführt, ein Vorgang, der noch keinesfalls abgeschlos-sen ist. Insbesondere bleibt die Grenzziehung zwischen dem berechtigten Streben des Sports, sein Leben, d.h. seine Regeln im weitesten Sinne selbst zu gestalten, selbst durchzusetzen und Streitfälle in der für den Sportbetrieb gebotenen Eile und sportnah" selbst zu entscheiden, und den gleichfalls berechtigten Forderungen der einzelnen Athleten und ge-gebenenfalls auch Vereine und unteren Verbände auf Teilhabe am Sport, auf Schutz ihrer finanziellen und beruflichen aber auch rein persönlichen Interessen eine wohl immerwährende Aufgabe des Sportrechts. Erschwert wird die Lösung dieser Aufgabe durch die Tatsache, dass der Sport mit seinen Internationalen Verbänden als einer der ersten globali-sierten privaten Akteure kaum von einzelstaatlichen Rechtsordnungen und Gerichten generell und effektiv kontrolliert werden kann, zumal die einzelstaatliche Kontrolle die Gefahr in sich birgt, die wünschenswerte und für den Sport geradezu existenzielle Einheitlichkeit zu fragmentieren. Auch dies ist eine Aufgabe, die das Sportrecht mit dem allgemeinen Wirtschaftsrecht teilt.
Fritzweiler, Jochen et al.: Praxishandbuch Sportrecht. München 2007, Abs. 31-33
Rezension
ZUR GESCHICHTE DER DHfK
Von HANS SIMON
Eine ganze Reihe von Professoren, Dozenten und Mitarbeitern haben 17 Jahre nach der Abwicklung der DHfK einen relativ umfassenden Überblick über die Tätigkeit und die Struktur der Hochschule vorgelegt. In zwei Hauptteilen - a) Leitung, Arbeitsbeziehungen und Ausbildungsaufgaben - und b) - Lehre, Forschung und Wissenschaftsentwicklung - legen 29 Autoren die umfangreiche Beschreibung und zugleich Dokumentation einer vierzigjährigen Erfolgsgeschichte vor. Die politisch gewollte Abwicklung der Hochschule gehört wahrlich nicht zu den Ruhmesblättern einer Geschichte des deutschen Sports und der Geschichte des Anschlusses der DDR an die BRD. Indes sind Tatsachen nun einmal nicht zu ignorieren. Und dazu gehört diese vorliegende Arbeit. Die DHfK hat auf dem Gebiet der Sportwissenschaft internationale Geschichte geschrieben und erfolgreich Sportlehrer, Trainer und Sportwissenschaftler aus- und weitergebildet. Sie hat in Theorie und Praxis beachtliche Ergebnisse vorzuweisen.
Der erste Teil über mehr als 200 Seiten ist in 20 Kapitel unterteilt. Ein Gesamtüberblick im historischen Kontext steht an dessen Anfang. Ihm schließen sich solche zu den Institutionen der Hochschule an, dem Senat und Wissenschaftlichen Rat, der Fakultät für Sportmethodik, den Sektionen .Weitere Kapitel behandeln die Zusammenarbeit mit dem DTSB und die internationalen Wissenschaftsbeziehungen. Der Funktion der Verwaltung und der Hochschulbibliothek sind eigene Kapitel gewidmet. Es folgen ausbildungsspezifische Abschnitte zur Trainerausbildung, und zu Anforderungen an Trainer im
Leistungssport sowie zur Ausbildung der Schulsportlehrer, Leitungsspezialisten, Diplomsportlehrer bzw. Militärsportkader - sowie für Massensport, zur Aus- und Weiterbildung ausländischer Sportfachexperten, zum Fernstudium, zur Facharztausbildung für Sportmedizin, zum Wissenschaftlichen Nachwuchs, zur Hochschulsportgemeinschaft und zu den Studien- und Lebensbedingungen der Studierenden.
Auf diese Weise wird dem Leser die innere Struktur und ihre Funktionsweise, die vielgestaltige Aus- und Weiterbildung, verbunden mit der Darstellung wichtiger Ergebnisse nahegebracht. Insofern vermitteln sie einen Einblick in die Hochschul- und Sportpolitik der DDR. Die Kapitel sind untergliedert (Zwischentitel) und mit jeweiligem Literatur- und Quellenverzeichnis versehen.
Der Teil 2 zielt darauf, Lehre Forschung und Wissenschaftsentwicklung auf annähernd 240 Druckseiten zu vermitteln. Er muss allerdings gewisse Überschneidungen in den ersten beiden Kapiteln (Von der Volksschule zu akademischen Graden und Studienpläne ) zu Teil 1 hinnehmen. Das nächste Kapitel über die Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Arbeit leitet über zur Vorstellung wichtiger Fachgebiete in der Ausbildung:
Bewegungslehre, Biomechanik, Allgemeine Theorie des Trainings, Sportmedizin und Naturwissenschaften, Wissenschaftsdisziplinen Leitung, Wintersport, Wasserfahrsport und Touristik, Ästhetik des Sports einschließlich ihrer wissenschaftlichen Erträge.
Einige wichtige Forschungsrichtungen und Projekte werden vorgestellt. Sie bilden den wesentlichen Teil der fachspezifischen Untersuchungsrichtungen Behandelt werden: Forschung im Nachwuchsleistungssport, Sichtung und Eignung im Nachwuchs-Leistungssport, Physische Entwicklung der jungen Generation, Sportsoziologie, Volkssportforschung, Internationale Forschungsgemeinschaft Aktive Freizeitgestaltung, Entwicklungskonzepte für sportmethodisch orientierte Disziplinen, Entwicklungskonzeption Zweikampfsportarten 1980-1990.
Die einzelnen Kapitel sind nach einem gemeinsamen Grundschema aufgebaut, sie enthalten meist auch historische Aspekte des jeweiligen Gegenstandes und die Wissenschaftsergebnisse. Zweifellos unterscheiden sich die Kapitel sowohl in ihrem Umfang als auch in ihrem Anspruch Es hätte den Herausgebern auch wohlangestanden, wenn sie auf Vorarbeiten für diesen Band in Gestalt der Arbeiten z.B. von Karsten Schumann (50 Jahre DHfK) und der DDR-Sportgeschichte (2002) u.a. verwiesen hätten. Es ist weder ein Kuriosum noch ein Beleg für Nostalgie wenn hier - 17 Jahre nach ihrer Totsagung - der Hochschule ein würdiges Denkmal als Meilenstein der Sportwissenschaft gesetzt wird. Das Buch kann allen Sportwissenschaftlern nur als unerläßlich empfohlen werden. Es bietet jedem Interessierten einen hohen Informationsgehalt, weist wichtige Ergebnisse der interdisziplinären Forschung u.a. im Nachwuchsleistungssport aus. Überhaupt ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit eines der Geheimnisse der Sportwissenschaft in der DDR. Aus aktuellem Anlaß sei dieses Buch auch allen Interessenten auf den Gebieten der Wissenschafts- Kultur- Sozial- und Bildungspolitik, in Sonderheit der Gesundheitspolitik empfohlen, um sich der Erkenntnisse und Erfahrungen einer „vergessenen" Wissenschaftseinrichtung zur Bewältigung aktueller Probleme der Bundesrepublik Deutschland zu bedienen. Mancherorts scheint man dabei schon auf dem Wege zu sein, wie der in Nebensätzen mitgeteilte Sachverhalt, daß an der Trainerakademie des DSB in Köln promovierte und habilitierte Hochschullehrer der DHfK als Leiter bzw. Stellvertreter tätig geworden sind, oder die neue Erfolgsgeschichte des Kanu-Sportverbandes der maßgebliche Funktionen mit DHfK-Absoventen besetzt hat. Wenn alle Wissenschaftsdiziplinen ihre Geschichte und Ergebnisse vorstellen könnten, wäre ein weiterer Band leicht zu füllen.
Den Autoren und ihren zahlreichen Zuarbeitern aus den Reihen der Hochschullehrer und Mitarbeiter gebührt Dank und Anerkennung im Namen der Sportwissenschaft und des Sports in aller Welt.
Deutsche Hochschule für Körperkultur 1950 - 1990 Entwicklung, Funktion, Arbeitsweise; Hrsg.: Lehmann, Kalb, Rogalski, Schröter ;Wonneberger; Meyer & Meyer, Aachen 483 S.; 2007
ines Humanisten.1982 Berlin Sportverlag
5.Eichel, Wolfgang :Zum Gedächtnis Pierre de Coubertins. Theorie und Praxis der Körperkultur 12 (1963) H.1
Wie die “Sportkunst” in der DDR entdeckt wurde
Von GÜNTER WITT
Da veröffentlicht eine Jemand ein Buch mit dem Titel „Sport in der bildenden Kunst der DDR"1) und erklärt dann auf 415 Seiten, dass es so etwas gar nicht gegeben hätte. Denn in der DDR ging es seinerzeit doch nur um „Sportkunst". Und daran sei ein gewisser Günter Witt schuld, „der als ehemaliger Initiator der Sportkunst die Thematik bis heute dominiert...".2) Er - so will sie wissen - „bezeichnete die bildkünstlerische Darstellung sportlicher Aktivitäten als `Sportkunst´“.3) Und das soll er angeblich schon 1969 in seinem Buch „Sport in der Kunst"4) verkündet haben. Das behauptet jedenfalls die Autorin Britta Schmid in ihrer Dissertation, die sie als Buch veröffentlichte. Aber nichts davon ist wahr, denn man kann Seite für Seite in diesem von ihr zitierten Buch nachlesen und wird nichts dergleichen entdecken. Und vorweg genommen: Man wird es auch in allen meinen anderen Publikationen zu dieser Thematik nicht finden.
Und dennoch verwendet die Autorin ohne jeden Beweis diesen unsinnigen, angeblich in der DDR gängigen Begriff „Sportkunst" munter als Leitbegriff für Titel und Texte von Kapiteln ihres Buches. Durch ihre indoktrinierende, den Gegenstand ihres Buches ideologisierende Betrachtungsweise wird der Wert ihrer eifrigen Sammlung von Fakten für das Thema fragwürdig. Dieser Versuch einer kunstwissenschaftlichen Analyse wird von einer kulturpolitischen Agitation überschattet, die sich vor geradezu lächerlichen Phrasen nicht scheut.
Kennzeichnend für die Willkür ihres Umgangs mit der Thematik ist die Tatsache, dass sie nicht einmal prüfte, ob nicht andere Autoren - beispielsweise in der alten Bundesrepublik - den Begriff „Sportkunst" gebraucht hätten. Ich schaute deshalb bei Kurt Graßhoff (Paderborn) nach, der unzählige Artikel in „Olympisches Feuer" und in „Olympische Jugend" zum Thema „Kunst und Sport" veröffentlichte und den ich wegen seines speziellen Fachwissens und seiner Aufrichtigkeit sehr schätzte,
wenngleich wir nicht in jeder Hinsicht gleicher Meinung waren. Kurz vor seinem Tod, vor zwei Jahren, hatte er mir ein großes Paket mit den Kopien aller seiner Veröffentlichungen zu diesem Thema geschickt. Wie also hatte er zu diesem fraglichen Begriff gestanden? In seinem ganzen umfänglichen Werk fand ich zwar die Titel „Sportkunst und Sportgrafik in Stuttgart"5), „Sportkunstwerke des Berliner Bildhauers Wilfried Fitzenreiter"6), „Sportkunst in der DDR"7), aber auch den Artikel „Kunst und Sport in der DDR"8), für den er seinen speziellen Anlass hatte. Ich erinnere mich daran, dass wir später in unseren beiden Begegnungen auch darüber gesprochen hatten. Es ging darum, dass 1985 ein Peter Kühnst mit seinem Büchlein „Sport und Kunst - Sporting Art in der DDR"9) versucht hatte, „Sporting Art" - wie Graßhoff formulierte - „als selbständige Kunstgattung hochzustilisieren." Begriffe wie „Sportkunst" oder „Sporting Art" waren für Graßhoff kunsthistorischer Unsinn. Und er ärgerte sich noch Jahre später, dass er unbedacht selbst „Sportkunst" in einigen Artikeln gebraucht hatte. Denn ein Begriff wie „Sportkunst" ist für die Kunstwissenschaft schon immer bedeutungslos gewesen, und wird er wie immer auch gebraucht empfindet man ihn als etwas Einengendes und Gering Man fragt sich nun, inwieweit sich die Autorin dessen bewusst war und ob denn niemand von den zahlreichen in der Danksagung Genannten sie auf diesen Unfug aufmerksam machte. Oder war der Begriff „Sportkunst" absichtlich gewählt worden, um das Werk von bildenden Künstlern in der DDR, die sich mit dem Thema Sport befassten, generell abzuwerten ? Wollte man etwa Verantwortliche auf dem Gebiet des Sports und der Kunst in der DDR damit nur verleumden? Dann allerdings hat alles nichts mehr mit Wissenschaft zu tun, sondern mit bloßer Agitation und ideologischem Eifer.
Die Bemühungen um das Zusammenwirken von Kunst und Sport in der DDR, die sich in den sechziger Jahren auch in der bildenden Kunst zu entwickeln begannen, hätten nicht zu bemerkenswerten künstlerischen Ergebnissen geführt, wenn diese mit „Sportkunst" - von wem auch immer - etikettiert worden wären. Das hätte die Maler, Grafiker und Bildhauer irritiert und beleidigt, aber nicht interessiert, sich diesem Phänomen Sport zu nähern und in einer Vielfalt von individuellen Gestaltfindungen darzustellen. Aber der Sport gab der bildenden Kunst unendlich viele Impulse und sie wurde zum Wegbegleiter des Sports. Das Bild, das sie im Verlauf von Jahrzehnten vom Sport zeichneten, trug nicht etwa nur die Züge seiner Idealisierung und Verklärung, sondern setzte auch Zeichen, die auf negative Seiten des Sports wie Gigantismus, Brutalisierung, Kommerzialisierung, Ideolatrie und andere seinem humanistischen Geist widersprechenden Fehlentwicklungen aufmerksam machen. Die bildende Kunst war der Schönheit und der Wahrheit gleichermaßen verpflichtet.
Die Autorin hat sich weniger auf diese Realität konzentriert, als sich beispielsweise fleißig zu bemühen, ihren möglichen Lesern die für sie schreckliche Mitteilung zu servieren, dass es in der DDR fast nur Auftragskunst für die Maler, Zeichner und Bildhauer gegeben hätte. Wird nun der Leser vor Grauen erschrecken, oder wird er mit Recht „Na und?" sagen? Denn er weiß, was Britta Schmid nicht wissen will (oder darf?): Seit es bildende Kunst gibt, gab es den Auftrag an Künstler, ob von Päpsten oder Fürsten oder anderen Geldgebern. Man stelle sich vor, wenn das nicht gewesen wäre, wie kahl und öde wären die Städte, die Kirchen und Schlösser. Und die Kunstgeschichte weiß darüber zu berichten, dass es auch damals durchaus nicht immer Übereinstimmungen zwischen Auftraggebern und -nehmern gab.
Und noch ein Hinweis für die Autorin: Willi Daume stellte fest „dass es doch vielfältige Wechselbeziehungen zwischen Sport und Kunst gibt, eigentlich sogar eine gewisse Verflechtung. Der Sport wurde zum Auftraggeber für die Kunst, zum Mäzen."10).Wie würde sie sich drehen und wenden, wenn sie diese und andere gleichartige Positionen erklären müsste? Denn rückblickend war es für die bildenden Künstler und die Institutionen des Sports der DDR kein Frevel, wenn sie sich von der Idee des Begründers der Olympischen Spiele der Neuzeit, Coubertin, anregen ließen, weil er überzeugend verkündet hatte, dass der Sport Auftraggeber und Gegenstand der Kunst zugleich sei Und heute spricht man, nicht nur in ganz Deutschland, von Sponsoren und ist froh und glücklich, wenn es sie gibt. Wovon soll ein Künstler denn schon leben? Es ist erbärmlich, wenn ein Kunstwissenschaftler dieses Thema ernsthaft in Frage stellt, nur weil man es im Falle der Kunst in der DDR offenbar so von ihr verlangte.
Eine weitere Frage drängt sich beim Lesen des Buches von Britta Schmid auf. Warum werden keine Meinungen über den „Sport in der bildenden Kunst der DDR" von Leuten zitiert, die als Besucher aus der BRD oder aus dem Ausland Werke in Ausstellungen oder in Galerien der DDR kennen gelernt hatten?
Nehmen wir als Beispiel den Eindruck, den Harald Pieper nach seinem Besuch in der Galerie der DHfK äußerte: „Wer dabei jetzt an Prachtwerke muskelstrotzender und zielstrebiger Helden und Aktivisten des Ostblock-Realismus der 50er und 60er Jahre denkt, findet sich nur noch zum Teil bestätigt. Auch in der sportlichen Kunstszene hat sich ausgewirkt, was Experten schon lange behaupten und wonach die DDR-Kunst auf eigenen Füßen steht und vor allem souverän geworden ist. Da wird munter experimentiert und phantasiert aber vor allem handwerklich gekonnt gearbeitet. Die sportlichen Kunstbanausen und die kulturellen Sportbanausen der Bundesrepublik müßten eigentlich vor Neid erblassen."11)
Gleichermaßen ignoriert die Autorin auch das positive Echo auf Ausstellungen „Sport in der bildenden Kunst der DDR“ in vielen Städten Europas, von Moskau und Budapest, von Paris bis Athen, schließlich auch 1991 mit Werken der Galerie der DHfK in Städten der Bundesrepublik Deutschland wie Recklinghausen, Düsseldorf und Stuttgart. Das Publikum, die offiziellen Vertreter der Länder und Städte, bekannte Kunstwissenschaftler, die Presse, der Rundfunk äußerten vorwiegend ihren positiven, überraschten Eindruck von dieser Präsentation von Werken der bildenden Kunst. Ja selbst ein Filmteam der BBC London nahm Kunstwerke dieser Ausstellung für ihren dann viel beachteten zweiteiligen Film „Visions of Sport" auf. Hätte die Autorin diese Tatsachen nicht verschwiegen, würde das Buch dem Leser gewiß ein differenziertes statt schablonenhaftes Bild geboten haben. Aber offenbar wollte man es so haben.
Deshalb werden vermutlich auch solche Tatsachen zurück gehalten wie das auf Anregung und mit Unterstützung des IOC 1983 in Leipzig vom NOK der DDR veranstaltete Symposium „Kunst und Sport" der Vereinigung der Europäischen Nationalen Komitees (ENOC). Mit großem Interesse besuchten die Teilnehmer auch die Galerie „Sport in der bildenden Kunst" der DHfK. Den allgemeinen Eindruck der Diskussion und des Galeriebesuches gibt ein Bericht wieder: Der DDR-Sport und speziell die DHfK Leipzig „konnte eine respektable Bilanz ziehen, denn die Intensität und Kontinuität, mit der Organisationen des Sports und staatliche Einrichtungen in der DDR seit fast drei Jahrzehnten die Verbindung von Kunst und Sport fördern, sind in der Tat beeindruckend".12)
Wäre es nicht interessant und wichtig gewesen, wenn die Autorin diese Tatsachen in der zeitlich parallel verlaufenden Entwicklung der Beziehung von Kunst und Sport in der Bundesrepublik untersucht und beschrieben hätte? Für die Gegenwart und Zukunft wäre das ohne Zweifel von außergewöhnlicher Bedeutung.
Die Autorin verliert sich im Verlauf ihrer Abhandlung immer wieder in Wissenschaftsgebiete wie Politik, Kulturpolitik und Ästhetik, die die Kunsttheorie nur tangieren. Und natürlich findet sie ein Objekt für die negative Kritik, wie zu erwarten ist es die „Ästhetik des Sports".13) Dass es auch andere Positionen als ihre gab wird verschwiegen. Als Beispiel könnte u.a. Herbert Haag genannt werden: „Die Tatsache, daß das Werk von WITT bereits 1982 in der DDR erschienen ist, läßt diese Gesamtkonzeption und diese systematischen Analyseversuche des Zusammenhangs von Sport und Ästhetik noch mehr zu einer Herausforderung für weitere Forschungen auch im Bereich 'Sport und Ästhetik' werden".14) Sein Urteil läßt eine der Wissenschaft eigenen
Sachlichkeit ohne jede Voreingenommenheit erkennen, also eine Haltung, die der Autorin fremd zu sein scheint.
Unbegreiflich ist schließlich der Bildteil des Buches, denn 71 ausgewählte Abbildungen der Kunstwerke von Künstlern der DDR (und von Bildern einiger Künstler aus anderen Ländern und aus der Vergangenheit) werden nur in Schwarz-Weiß geboten. Man könnte annehmen, dass für den enorm hohen Buchpreis von 45,00 € ein Verlag doch wohl farbige Abbildungen liefern könne, wie vergleichsweise Bücher diesen Genres allgemein beweisen. Ist die Ursache nun in der Kalkulation der Editionskosten zu suchen oder kann man vermuten, dass der Bildteil dem Betrachter absichtlich eine trübe Stimmung bei der Betrachtung der Bilder als Ergänzung zum Text offeriert werden soll? Mit Kunstwerken so umzugehen, besonders mit der Malerei, ist schlicht geschmacklos.
Zusammenfassend drängt sich der Schluss auf, dass die Autorin dieses Buches zwar emsig um die Sammlung von Fakten bemüht war, auf die sie ihr obskures Konzept zu stützen können glaubte. Aber die von ihr erdachte oder ihr offenbar vorgeschriebene Konstruktion eines nie existierten Phänomens namens „Sportkunst" in der DDR darzustellen, muss einfach scheitern, weil sie - simpel gesagt - eine Lüge ist. Für eine ehrliche, aufrechte Zusammenarbeit und ernsthafte wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas „Sport in der bildenden Kunst in der DDR" ist eine solche Darstellungweise nicht nur ungeeignet sondern schädlich, nicht zuletzt, weil sie das Werk unzähliger, bildender Künstler, die in der DDR wirkten, verhöhnt. Eine solche Entgleisung in der wissenschaftlichen Publizistik kann nicht einfach nur als Meinungsverschiedenheit abgetan werden, denn es geht um pauschale Diskriminierungen von Künstlern, die nicht einfach hingenommen werden können.
Die beiden letzten Sätze ihres Textes setzen der Arroganz der Autorin die Krone auf: „Das Ende der DDR läutete auch das Ende ihrer Sportkunst ein. Im vereinten Deutschland hat diese Kunst, die aus der Systemkonkurrenz heraus geboren wurde, ihre Funktion verloren." 15) Wer gibt ihr das Recht einer solchen ikonoklastisch anmutenden Folgerung aus ihrer Abhandlung ?
Das Gegenteil ihrer Schlussfolgerungen würde einen Sinn haben. Das setzt aber die eigene Bereitschaft voraus. Denn: „Vieles - auch und gerade in der Kunst und im Sport - hat sich in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich entwickelt. Nichts scheint deshalb wichtiger zu sein als gegenseitiges Kennen- und Verstehenlernen. Berührungsängste und Vorurteile, leider zu oft noch unverantwortlich geschürt, hindern nicht selten das Aufeinanderzugehen."16)
ANMERKUNGEN
1) Schmid, Britta; Sport in der bildenden Kunst der DDR; Taunusstein 2004,
2) Ebenda; S. 25
3) Ebenda; S. 20 /21
4) Witt, Günter; Sport in der Kunst, Leipzig 1969;
5) Graßhoff, Kurt; Sportkunst und Sportfotografie; Olympische Jugend 31/1986 S. 18/19
6) Graßhoff, Kurt; Sportkunstwerke des Berliner Bildhauers Wilfried Fitzenreiter, Olympische Jugend 12/1986: S. 18/19
7) Graßhoff, Kurt; Sportkunst in der DDR; Olympische Jugend 32/1987; S.18/19
8) Graßhoff, Kurt; Kunst und Sport in der DDR, Olympische Jugend 31/1986; S. 18 / 19
9) Kühnst, Peter; Sport und Kunst - Sporting Art in der DDR; Edition Deutschland Archiv 1985;
10) Daume, Willi; Katalog „Anfänge des Sports - Holzstiche des 19.Jahrhunderts"; München1987 S. 3
11) Pieper, Harald; Süddeutsche Zeitung; 5.10.1983
12) Lämmer, Manfred; Symposium „Kunst und Sport"; Deutsches Sportmuseum; Nr. 3/4 1983, S. 2
13) Witt, Günter; Ästhetik des Sports. Versuch einer Bestandsaufnahme und Grundlegung; Berlin 1982
14) Haag, H., Strauß, B.G. u. Heinze, S; Theorie- und Themenfelder der Sportwissenschaft; Schorndorf, 1989, S. 94 - 123
15) Schmid, Britta; Sport in der bildenden Kunst der DDR, Taunusstein 2004; S. 335
16) Witt, Günter; „In Abwicklung ?" Deutsches Sportmuseum Leipzig 1991; 4/5; S. 1 / 8
DAS RENNSTEIGLAUF-„PORTRÄT“
Von HASSO HETTRICH
Nach „Laufend unterwegs“ (2004) und „Superlative zwischen Elbe und Oder“ (2005) hat der Sportjournalist Klaus Weidt, Mitinitiator der DDR-Meilenbewegung und ausgewiesener Kenner der Laufbewegung und ihrer Entwicklung im Osten Deutschlands einen neuen Titel vorgelegt. „Laufend auf dem Rennsteig" befasse sich mit der Geschichte und Faszination des GutsMuths-Rennsteiglaufs, der bedeutendsten Crossprüfung in Europa. Wer wissen möchte, wann der Rennsteig das erste Mal erwähnt wurde, wann Luther ihn überquerte oder wer ihn zwecks Vermessung erstmalig erwanderte und seit wann der GutsMuths-Rennsteiglauf immer wieder Tausende magisch anzieht, wird in der exakt recherchierten Zeittafel fündig. Selbstverständlich werden zunächst historische Wurzeln offengelegt, die Urväter und das von ihnen Geleistete vorgestellt. Die Vorläufer, die Test- und Vorbereitungsrennen werden genannt und schließlich über „Die Ersten 1973 - 1989" berichtet. Treffend wird die Entwicklung des Rennsteiglaufs in jenen Jahren als die „Vom Quartett zum Tausendfüßler“ bezeichnet und mit der Feststellung abgeschlossen:
"Was leider aus jenen Maien-Zeiten nicht übrig geblieben ist - die sportärztliche Untersuchung, ohne die kein Läufer an den Rennsteig-Start gehen konnte." (S. 36) Und dann „Die Neuen 1989 - 2007“: Wanderpremiere (1989), Halbmarathon (1992), Kinderlauf seit 1993 (später Juniorcross), Rollstuhlfahrer (1994), Etappenlauf (1996), Staffellauf (1999) und, und... Man erfährt wann erstmalig mehr als 10.000 Teilnehmer dabei waren, wer gewissermaßen die „Rennsteigkönige“ sind und vor allem auch vieles über all jene, die dieses Lauf- und Wanderfest jedes Jahr im Mai vorbereiten und organisieren, über die „Leute im Vorder- und Hintergrund“. Geschichten, Erinnerungen und Kuriositäten, alle Sieger, die „Superteilnehmer - 30 x und öfter dabei" (nach insgesamt 34 Rennsteigläufen) und die Sprüche. Selbst die „Kinder des Rennsteigs“, Landschaftsläufe, die begeisterte Rennsteigläufer begründeten, werden aufgelistet, ob Harzgebirgslauf, Jenaer Kernberglauf, Belziger Burgenlauf, Schweriner Fünf-Seen-Lauf oder Zittauer Gebirgs-Lauf und, und... Alles in allem ein Kompendium im Midi-Format, das durch viele, viele aufschlussreiche Daten und Fakten, Geschichten und Erlebnisse die Faszination des Rennsteiglaufs erahnen lässt.
Klaus Weidt. Laufend auf dem Rennsteig. Berlin 2007, 128 S. - Vertrieb:
REISEZEIT GmbH, Lohmühlenstr. 65, 12435 Berlin, Preis 5, 00 Euro
MOTORISIERTE ZEITREISE 1957-2007
Von HORST SCHOLTZ
Anlässlich des Gründungsjubiläums des ADMV blickt der Autor auf ein halbes Jahrhundert und zieht Bilanz in einem außerordentlich attraktiven Band, der nicht nur über die Geschichte einer der erfolgreichsten deutschen Motorsportorganisationen Auskunft gibt, sondern auch über die Geschichte der Organisationen des Motorsports in Deutschland informiert und dabei deutlich macht, dass nicht auf den Kontext verzichtet werden kann und der Leser die Entwicklung des ADMV in den historischen Zusammenhängen erkennt. Natürlich wird umfassend über das Geleistete informiert, über Tiefen und Höhen, in Wort und Bild, gestützt durch eine Fülle an Daten. Eine „Ewige Bestenliste" des ADMV für die Zeit von 1957 bis 1990 gehört ebenso dazu wie eine Übersicht über die vom ADMV ausgeschriebenen Disziplinen. Und Darlegung der Höhepunkte: die Welt- und Europameister des ADMV 1957-1990, die Mitglieder der siegreichen Trophy- und Silbervasenmannschaften von 1963-1987 und eine vollständige Meistertafel der nationalen Titelträger sowie die Sieger und Platzierten der ADMV-Meisterschaften seit 1991 sowie die ADMV-Sieger bei deutschen Meisterschaften nach 1991. Das alles und eine Fülle von Fotos und Übersichten ergänzen die exakt recherchierten Berichte und
die Stories über bemerkenswerte Ereignisse. In einer der Stories wird über die Garnison Elstal der sowjetischen Streitkräfte berichtet, die den Status eines ADMVMotorsportclubs innehatte und dessen Motorsportler Fahrerausweise und -lizenzen des ADMV erhielten, um an nationalen Rennen in der DDR teilnehmen zu können. Selbstverständlich dürfen in solch einer Sportart nicht die Partner aus der Wirtschaft und dem Fahrzeugwesen fehlen. So werden alle Firmen, Unternehmen, Betriebe und Einrichtungen genannt, die direkt an der Produktion bzw. der Bereitstellung von Motortechnik für den ADMV beteiligt waren, zum Beispiel das Automobilwerk Eisenach (AWE), das Motorradwerk Zschopau, die Firma Melkus in Dresden oder die Firma .MAVO" Reinke in Kleinmachnow und auch der DTSB und das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport, die jährlich Mittel für Importe zur Verfügung stellten. Der Leser kann sich schließlich über die Ortsclubs des ADMV und über alle Rennstrecken von einst und jetzt (1957-2007) informieren.
Harald Täger.. Zeitreise 1957-2007. 50 Jahre ADMV. Berlin 2007, 152 S.
Gedenken
Prof. Dr. paed. Gerhardt Hoecke
18. Juni 1931 - 26. März 2007
Nach langer Krankheit vollendete sich das Leben von Professor Dr. sc. paed. Gerhardt Hoecke, das auch ein Leben für den Schwimmsport war. In Erfurt als Sohn eines Bäckermeisters geboren, legte er 1949 die Reifeprüfung ab und nahm eine praktische Tätigkeit im Funkwerk Erfurt auf. Das Funkwerk delegierte den aktiven Schwimmsportler 1950 an das Institut für Lehrerbildung in Erfurt. Nur kurze Zeit später wurde Gerhardt Hoecke an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena immatrikuliert. Hier studierte er zunächst zwei Semester Physik, bevor er sich für Pädagogik und Körpererziehung entschied. 1954 legte er sein Staatsexamen in diesen beiden Fächern ab. Auf Grund seines Engagements und seines Könnens im Schwimmsport wurde er von der damaligen Direktorin des Instituts für Körpererziehung, Elli Tetschke, die sich besonders für Schwimmen und Wasserspringen einsetzte, als Assistent angefordert und 1954 als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingestellt. Im Unterricht von Elli Tetschke hatte Gerhardt Hoecke schon vorher Aufgaben als Hilfsassistent übernommen. So schrieb sie an die Parteileitung der Universität: „Herr Hoecke gehört zudem zu meinen engsten fachlichen Mitarbeitern. Ich beschäftigte ihn schon als studentische Hilfskraft in meinem Fachgebiet Schwimmen, er schrieb die Hausarbeit für das Staatsexamen bei mir, er trat als wissenschaftlicher Assistent nur in meinem Dienstbereich des
Schwimmens ein, ich förderte ihn in den zwei Jahren seiner Tätigkeit auf das wärmste." Nach der Ablösung von Elli Tetschke als Direktorin im Herbst 1956 übernahm Gerhardt Hoecke kurzfristig das Fachgebiet Schwimmen einschließlich der Vorlesungen. 1958 wurde er offiziell Lektor für Schwimmsport. Zusammen mit Hans Weckel und später auch Manfred Möller baute er diesen Bereich am Institut für Körpererziehung zu einem in der ganzen DDR geschätzten Lehrbereich aus. Anfangs war er außerdem mit Hans Weckel im Wasserfahrsport tätig und organisierte 1957 eine der ersten größeren Wasserwanderfahrten mit Sportstudenten verschiedener Hochschulen von Potsdam durch Westberlin zur Müritz und zurück mit Gig-Doppelvierern. Nachdem das Jenaer Institut 1960 von Dr. phil. Willi Schröder als Direktor übernommen worden war, begann eine schrittweise Neustrukturierung, bei der Gerhardt Hoecke von Beginn an in führender Position mitarbeitete. Im Rahmen der Studienreform erhielt das Institut eine neue Struktur. Es wurden vier Abteilungen gebildet: die Abteilung für naturwissenschaftliche Grundlagen der Körpererziehung unter Leitung von Dr. paed. Wolfgang Gutewort, die Abteilung für gesellschaftswissenschaftliche Grundlagen der Körpererziehung unter Leitung von Dr. paed. Lothar Köhler, die Abteilung Theorie und Praxis der Sportarten unter Leitung von Gerhardt Hoecke und die Abteilung Methodik des Sportunterrichts unter Leitung von Dr. paed. Horst Götze. Damit war Gerhardt Hoecke nicht nur für die gesamte Ausbildung der Studenten in Theorie und Praxis der Sportarten zuständig, sondern auch für die trainingswissenschaftliche Ausbildung und deren Weiterentwicklung. 1966 verteidigte Gerhardt Hoecke seine Dissertation zum Thema „Untersuchungen zur Organisation und Methodik des Anfängerschwimmunterrichts in Ferienkursen". In diese Zeit fiel auch die Übernahme von Leitungsfunktionen in der Zentralen Studienplankommission der DDR für die Neufassung der Sportlehrerausbildung im Rahmen der 3. Hochschulreform. Diese Tätigkeit war mit entscheidend für die Wahl des Themas seiner Habilitationsschrift „Trainingswissenschaftliche Aspekte im Sportlehrerstudium", die er 1980 verteidigte, in einer Zeit (1975-1985), in der er die Sektion Sportwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Direktor leitete. Der bereits 1978 eingereichte Antrag des Rates der Sektion zur Berufung zum ordentlichen Professor für Theorie und Methodik des sportlichen Trainings wurde mit dem Abschluss der Habilitation als außerordentliche (a. o.) Professur bestätigt. Große Verdienste erwarb sich Gerhardt Hoecke um das Schulschwimmen. Er hatte 1968 mit Dr. Manfred Möller und Dr. Hans Weckel im Auftrag des Volksbildungsministeriums den zentralen Arbeitsausschuss Schulschwimmen gegründet sowie seine Forschungsergebnisse u.a. als Leiter des Autorenkollektivs und Autor der Schrift „Theorie und
methodische Probleme des Schwimmens" in der für die universitäre Sportlehrerausbildung herausgegebenen Reihe „Studienmaterial zur Sportwissenschaft" publiziert. Von 1972 bis 1992 war er in vielen nationalen und internationalen Leitungsgremien des Schwimmsports ehrenamtlich tätig, im Technischen Komitee der Europäischen Schwimmliga (LEN) und des Weltschwimmverbandes (FINA), als Mitglied der Jury zu den Schwimmwettkämpfen der Olympischen Sommerspiele 1976, 1980, 1984, 1988 und 1992 sowie als Gründungspräsident des Thüringer Schwimmverbands. Ab 1991 bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand im Jahr 1994 arbeitete Prof. Dr. Hoecke noch am Institut für Sportwissenschaft, wurde aber lediglich als wissenschaftlicher Mitarbeiter entlohnt. Nach dem Tode seiner Frau hielt ihn nichts mehr in Jena. Er zog zu seiner Tochter nach Magdeburg, wo er nach einem Unfall verstarb.
Hans-Georg Kremer und Werner Riebel
WILLI LANGHEINRICH
9. November 1922 - 1. Juni 2007
Begonnen werden sollen diese Zeilen mit einem Satz von Brecht: „Die kein anderes Leben außer dem ihrigen fördern, leben nur ein schwaches Leben.“ Mit diesem Zitat ist für Willi Langheinrich hinreichend erklärt, dass er kein schwaches Leben gelebt hat. Er hatte dieses Leben dem Sport der DDR verschrieben und wenn der heute noch von den Obrigkeitsmedien emsig verleumdet wird, bekundet das nur, was Männer wie er geleistet haben. Willi Langheinrich wurde selten laut, spektakuläre Auftritte sah man von ihm nie. Dass er im Alter seine Freizeit dem Angeln widmete, bekräftigt diese Feststellung. Willi pflegte zu kommen, zu hören, zu denken und zu entscheiden. An seinem Grab erinnerte man sich einer seiner Aktionen, die in die deutsche Sportgeschichte eingehen wird. Als an der Ostseeküste die ersten Hochseewerften entstanden, Schlosser und Schweißer zu Scharen ins malerische Rostock zogen, wurde dort eines Tages auch nach einer attraktiven Fußballmannschaft gefragt. Westwärts der Elbe kam der Handel mit Fußballspielern damals in Gang, aber daran war am Ostufer nicht zu denken. Willi, damals Vorsitzender der Sportvereinigung Empor, übernahm es, die im Erzgebirge nur die dritte Geige spielenden Fußballer aus Lauter zu überreden, auch nach Rostock zu ziehen. Als er dort ausstieg, waren es nur neun, die restlichen hatten es sich unterwegs anders überlegt und waren noch ausgestiegen. Beim ersten Spiel saßen 30.000 auf den Tribünen und feierten das 0:0 der „Neu“-Rostocker. Eigentlich hätten sie ihm im Rostocker Stadion noch vor der Bundesliga eine Tafel widmen sollen, aber die die Geschichte „aufarbeitenden“ Historiker nutzten den Ortswechsel fortan als ihr
Paradebeispiel für unmenschliche DDR-„Menschenreglementierungen“. Und Willi Langheinrich als einen der dafür verantwortlichen Prototypen. Er konnte damit leben, denn er wusste auch, wie hart es den anderen ankam, DDR-Athleten hinterherzuhecheln und bei Siegerehrungen die Hymne hören zu müssen. Willi war Präsident des Boxverbandes der DDR, Vorsitzender des Berliner DTSB-Bezirksverbandes und und und. Als der 50. Jahrestag der Gründung des DTSB gefeiert wurde, kam er im Rollstuhl in den Marzahner Saal und war glücklich, diesen Tag miterleben zu können.
Erhard Richter
Joachim Fiebelkorn
9.Mai 1926 - 8. Juni 2007
Als er die Welt schon verlassen hatte, langte sein Brief bei mir an:
„Meine lieben Freunde Gerhard, Günther, Hans, Helmuth, Klaus und Lothar!
Dieser Brief wird aus ungutem Grund geschrieben und nicht grundlos ohne Datum gelassen.
Ich bin in einem Alter angelangt und in einen gesundheitlichen Zustand versetzt, in dem der Gedanke an den Abschied nahe liegt. Ich aber möchte euch noch einige Worte sagen, bevor es dazu zu spät ist. Das erste und mir wichtigste Wort heißt DANKE! Ich danke euch dafür, dass ihr mich aufgelesen und in euren Kreis genommen habt. Die Stunden mit euch gehören zu den schönsten meiner späten Jahre. Außerhalb meiner Familie, in deren Mitte ich glücklich sein kann, fehlte mir über lange Jahre der eigentliche Sinn meines Lebens, die journalistische Arbeit.
Dann kamt ihr mit eurem Angebot zur Mitarbeit und plötzlich war da wieder etwas, ein Lebenszweck, ein Ziel, für das ich mit den mir eigenen Fähigkeiten nützlich werden konnte.
Ihr könnt nur ahnen, was es für mich bedeutete, meine Gedanken zu unserem Leben, zur Vergangenheit, zur Gegenwart und vielleicht auch ein wenig zur Zukunft mitteilen, aufschreiben und gedruckt lesen können.
Die Lust, Wissen aufzunehmen und nützlich anzuwenden, hat mich nie verlassen. Ich habe auch von euch gelernt und das Gelernte anzuwenden versucht, immer mit dem Wunsch verbunden, damit auch euch ein wenig helfen zu können.
Ich will hier nicht über nur scheinbar verlorene Zeiten meditieren, über unsere fröhlichen und bitteren Vergangenheiten, über frühere Erfolge und endlich böse Niederlagen. Ich will euch aber meine Überzeugung sagen, das alles, was wir an Wissen und Erkenntnissen aufschrieben, auch
unsere Irrtümer, nicht nur für unsere Zeit Gültigkeit hat. Vergesst jedoch nicht, dass dazu unabdingbar die kritische Sicht, die Suche nach Ursachen und Folgen unserer Fehler gehört. Es wird vor allem den Kommenden nützlich sein, die nach neuen Wegen suchen werden und unsere Erfahrungen brauchen. Unsere Ideen, so unzulänglich und auch falsch wir sie in die Tat umzusetzen versuchten, werden nicht mit uns sterben. Eines Tages wird unsere Erde anders sein oder sie wird nicht mehr sein.
Nun sage ich euch lebt wohl, habt Dank für alles, was ihr mir gegeben habt. Alle meine guten Wünsche für euch und eure Familien.
Euer Freund
den ihr Jofi nanntet.“
Ich hatte ihn noch einige Tage vor seinem Tod besucht, an seinem Bett gesessen, mit ihm über die Feier in Marzahn geplaudert, bei der der 50. Jahrestag der Gründung des DTSB begangen worden war. Er hatte sie schon nicht mehr besuchen können, wollte aber bis ins letzte Detail alles erfahren.
Trotz dieses Interesses deutete schon manches darauf hin, dass ihn der Lebensmut zu verlassen drohte. Dabei ließ sein Händedruck noch die alte physische Kraft spüren. Wir kamen übrigens mit unseren Themen nicht ans Ende. Es blieb da vieles, was er noch bereden oder beschreiben wollte. Vermutlich aber war der Brief, der uns nach seinem Tod erreichte, da schon geschrieben...
So ließ er uns irgendwie sprachlos zurück und es blieb als Ausweg nur, seinem „letzten Wort“ eine „allerletzte Antwort“ folgen zu lassen, auch wenn die ihn nicht mehr erreichte:
Lieber Jofi,
ein Leben lang für Überraschungen gut, bliebst Du Dir bis ans Ende dieses Lebens treu. Bewegt habe ich Deine Zeilen mehr als einmal gelesen. Das von Dir in Versalien gesetzte „Danke“ muss ich zurückgeben: auch ich verdanke Dir viel.
In der vorletzten Ausgabe der „Beiträge“ hattest Du über unsere gemeinsame Reise 1956 nach Melbourne geschrieben und auch über den letzten Abend im „deutschen“ Klub, als das Orchester plötzlich die Walzerweisen abrupt abbrach und „Deutschland über alles“ in den Saal schmetterte. Es war vorher vereinbart worden war, dieses gemeinsame Treffen der Athleten aus BRD und DDR von allem freizuhalten, was Streit auslösen könnte. Ich fand nach dem Ende der DDR im Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik in Bonn die damaligen Berichte des Botschafters aus Canberra und darin auch ein Papier, in dem sich
einer der Diplomaten stolz rühmte, die Hymnenintervention arrangiert zu haben.
Wir waren an jenem Abend zusammen mit dem australischen Hafenarbeiter und Kommunisten Freddi Broch nach Hause gefahren und hatten noch so lange miteinander geredet, dass die Sonne schon über dem Yarra aufstieg, als wir endlich ins Bett fielen. Als ich Deinen Brief in Händen hielt, kehrte jene Nacht Abschnitt um Abschnitt in meine Erinnerung zurück. Von jenem bundesdeutschen Wortbuch kamen wir zu unseren Lebenswegen und also auch zu unseren Erfahrungen im Umgang mit den „anderen“.
Du erzähltest, wie Du in den Krieg gezogen warst, um Hitler den Krieg zu gewinnen, wie Sturmangriffe, Trommelfeuer und Verwundung Dich verändert hatten. Wie Du deshalb nach der Heimkehr von den Fronten die Antifa-Jugend im US-amerikanischen Sektor mit aufgebaut, Dich dem 1949 gegründeten Deutschen Sportausschuss angeschlossen hattest, schon bald stellvertretender Chefredakteur des „Sportecho“ wurdest und Ärger mit irgendwelchen Betonköpfen hattest. Ich erzählte Dir, wie ich als 15jähriger an eine Flugabwehrkanone geriet und nach Kriegsende in Neukölln in der antifaschistischen Jugend aktiv war. Wir hatten die Gründung der DDR erlebt und oft gemeinsam den Kampf um ihre Rechte im Sport. Und nun hockten wir auf Bettkanten am äußersten Zipfeln des anderen Endes der Welt, waren an jenem Abend Ritter von Halt begegnet, dem letzten „Reichssportführer“, der er inzwischen schon wieder war. Auch wenn man den Titel des Titels geändert hatte - der Erbe war der gleiche. Das gab uns zu denken.
Wir sind uns danach noch oft begegnet, wir haben danach noch viel gemeinsam in Angriff genommen und zu Ende gebracht. Du hattest Ärger mit „Betonköpfen“. Manches Mal saßen wir beisammen und erörterten, welchen Schaden sie unserer gemeinsamen Sache zufügten, waren uns aber auch einig, dass es keine irreparablen Schäden waren.
Als unser Uraltkumpel Werner Cassbaum Dich zum Fernsehen holte, gerieten unsere Arbeitsplätze schon geographisch weiter auseinander, aber nach 1990 spielten Entfernungen keine Rolle mehr, sondern nur die Haltung. Und da entdeckten wir im Handumdrehe, dass wir die „Alten“ geblieben waren, dass sich an unserer Gesinnung nichts geändert hatte, seit jener Nacht am Yarra. So wie 1945 begannen wir wieder geistige Trümmer beiseite zu räumen, hatten es nicht leicht dabei, waren aber unverdrossen. Während die Verbreitung der Unwahrheit stattlich honoriert - offiziell „gefördert“ - wurde, grübelten wir lange, ehe wir eine „Geschichte des DDR-Sports“ gemeinsam mit Freunden und Genossen herausbringen konnten. Du warst ebenso dabei, wie im Kreis des Vereins „Sport und Gesellschaft“ oder der Autoren der „Beiträge“.
Nun hast Du uns verlassen. Saint-Exupery schrieb einmal: „Nichts kann den verlorenen Gefährten je ersetzen. Alte Kameraden kann man sich nicht künstlich schaffen. Nichts wiegt den Schatz so viele gemeinsamer Erinnerungen auf, nichts das gemeinsame Erlebnis so viele böser Stunden, die Zerwürfnisse, die Versöhnungen und die Augenblicke, in denen das Herz warm wurde.“
Treffenderes fiel mir in der Stunde des endgültigen Abschieds nicht ein!
Klaus

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Beiträge zur Sportgeschichte Heft 27/2008
INHALT
// OLYMPISCHE SOMMERSPIELE PEKING 2008
3 Olympische Nachklänge
Klaus Huhn
15 Wie die BpB ihr China-Bild vermittelte
Dokumentation
19 Peking 2008 – Olympia und der Weltsport
Helmut Horatschke
25 Wie Olympia laufen lernte
Hans Simon
// DOKUMENTATION / DISKUSSION
29 Nützlicher Gedankenaustausch
Julius Feicht
40 Noch Probleme mit Pfeil und Bogen
Stefan Lehmann
45 40 Jahre Dresdner SG für Versehrte
Hermann Dörwald
49 Wir mischen uns ein
Ehrhard Richter
52 „Reporter“ Karl Mundstock (†)
59 Wie starb Albert Richter wirklich?
Renate Franz
// ZITATE
75 Abschied in der Lombardei
Die vorzeitigen Sieger
Gedanken über den Ruhm
Zwischen Gischt und Galle
Die Berliner Polizei will nicht mehr
// REZENSIONEN
84 H.-F. Oertel/K. Otto (Hg.): Unser Olympiabuch Peking 2008
Olympia auf Hochglanz
Werner Stenzel
86 Klaus Huhn: Strahlendes Olympia und steinerne Gesichter
Das andere Olympia-Buch
Werner Stenzel
// GEDENKEN
88 Lothar Köhler
(th)
90 Bruno Baade
Erhard Richter
91 Walter Kirchner
Günter Erbach
93 Günther Herschel
Hermann Dörwald
95 Irene Salomon
Klaus Huhn
OLYMPISCHE SOMMERSPIELE PEKING 2008
OLYMPISCHE NACHKLÄNGE
Von KLAUS HUHN
Als die XXIX. Olympiade schon einige Tage hinter sich hatte und die Spiele, mit denen ihr Beginn von der Welt in Peking gefeiert worden war, vorüber waren, mochten Optimisten glauben, dass der mit tausenden Kameras und zehntausenden Laptops – Fotoappa-rate und Schreibmaschinen sind längst in den Museen – geführte Feldzug gegen diese Spiele „ausklingen“ würde. Man rechnete zwar mit schaurigen Nachbetrachtungen und einigen Schlagzeilen liefernden „Enthüllungen“, aber irgendwie eben auch mit einem Ende. Die nächsten Spiele würden in London stattfinden, wo man schon 1908 und 1948 Olympia gefeiert hatte, und man begann zu spekulieren, ob vielleicht jemand auf die Idee kommt, den Mara-thonlauf wie vor 100 Jahren im Garten des Buckingham-Palastes zu starten. Das geschah damals dort, damit die königlichen Prinzen das Ereignis aus der Nähe erleben konnten, ohne dass sie in die Stadt gekutscht und an irgendeiner Ecke etwa stinkige Straßenluft einatmen müssten. 2012 aber könnte man damit daran erinnern, dass dort der erste Marathonlauf der Geschichte gestartet worden war, der über die heute noch verbindliche Distanz von 42,107 km führte.
Aber die Hoffnungen der Optimisten trogen. Die Kreuzzügler rit-ten auch nach dem Pekinger Finale unverdrossen weiter gen China und Olympia. Vielleicht sind sie am Tag, da dieses Heft erscheint irgendwo in der Wüste angelangt, wo angeblich Uiguren gefoltert werden oder haben sich über steile Bergpfade nach Tibet durchge-schlagen. Dass damit zu rechnen sein muss, verriet mir ein Justus Krüger, der 48 Stunden nach dem Erlöschen des olympischen Feuers in der „Berliner Zeitung“ das Anti-Peking-Feuer wieder an-blies. Der Mann gilt als „Experte“. Im Juli 2008 hatte er aus Peking Details über Unruhen in Südkorea berichtet, die dort ausgebrochen waren, als die Regierung die Importsperre für US-amerikanisches Rindfleisch aufgehoben hatte, und davor aus der mongolischen Hauptstadt druckreife Einzelheiten über dort angeblich protestie-rende Bürger geliefert. Nun also hatte er eine Art olympisches
Schlusswort nach Berlin gemailt, lange nachdem der wohl kompe-tentere belgische Chirurg und gewählter Präsident des Internatio-nalen Olympischen Komitees, Jacques Rogge, der Welt seine Bi-lanz präsentiert und unter anderem mitgeteilt hatte: „Wir haben Stunden erlebt in den letzten zwei Wochen, die wir für den Rest unseres Lebens nicht vergessen werden. Es war eine lange Reise, seitdem wir 2001 entschieden hatten, die Spiele nach China zu bringen, aber es kann nun keinen Zweifel mehr daran geben, dass wir die richtige Entscheidung getroffen hatten.“ Eine Rekordzahl von 204 Ländern der Welt nahm an den Spielen teil, von denen 87 Medaillen gewannen. Die Athleten stellten mehr als 40 Weltrekorde auf und erzielten mehr als 120 Olympische Rekorde.
Rogge hatte dem Präsidenten des Organisationskomitees Liu Qi den Goldenen Orden des IOC und 19 freiwilligen Helfern – von 1,5 Millionen – den silbernen Orden überreicht.
Das war die erste nacholympische Stichwortbilanz.
Der folgte jene von Justus Krüger: „Frau Ouyang gehört zum Nachbarschaftskomitee in der Chrysanthemengasse. … Von ihrem Beobachtungsposten aus hat die gestrenge Großmutter das Ge-schehen auf der Kreuzung fest im Blick … Zwei Wochen hat China ein Spektakel ohnegleichen in Szene gesetzt. Die minutiös durch-geplante Schau – eine Parade, die unter dem Titel Best of Totalita-rismus hätte laufen können – war beeindruckend. Doch jenseits der grandiosen Imponierarchitektur war von Chinas Hauptstadt eben-sowenig zu sehen, wie vom Alltagsleben ihrer Bewohner. … Auch die Öffentlichkeit war im Grunde nicht erwünscht. Die Behörden forderten die Pekinger gar auf, während der Veranstaltungen zu Hause zu bleiben. … So still wie während der Spiele war es in der Metropole nie. … denn es ging ja nicht um ein Fest für Peking. Ziel war eine perfekt gestylte Medienschau, um die Fernsehbevölke-rung zu Hause und im Ausland zu beeindrucken. … Bei den Olym-pischen Spielen in der eigenen Stadt blieben die Bürgersteige hochgeklappt.“
Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, ein Anti-Peking-Medienschreihals – die Differenzen sind unüberlesbar. Als dritter Zeuge sei Willi Lemke aufgerufen, von 1981 bis 1999 Manager des Bundesligafußballklubs SV Werder Bremen, danach bis 2007 Senator der Bremer Bürgerschaft – erst für Bildung und Wissenschaft, dann für Inneres und Sport – und seit 2008 Sonder-
berater der UN für Sport, mit Sitz beim UNO-Generalsekretär in New York.
Der erklärte in einem Interview (FAZ.Net 22.8.2008): „Diese Olympischen Spiele … waren grandios. Als ich von der Eröffnungs-feier zurückkam und die rollenden Panzer im Fernsehen sah, war das eine bittere Enttäuschung. Noch im vorigen Jahr hatte ja die UNO-Generalversammlung auf Antrag Chinas die übliche Resolu-tion zur Waffenruhe während der Spiele verabschiedet.“ Auf die Frage, was er als „Sportpolitiker“ der UNO vom IOC erwarte, stellte er klar: „Es ist nicht in der Verantwortung des IOC, dass die olym-pische Waffenruhe verletzt worden ist, sondern es ist in der Ver-antwortung der Vereinten Nationen und der betroffenen Staaten. Ich habe das Gefühl, dass wir das IOC überfordern.“
Recht deutliche Worte, die vor allem für Klarheit über die Kompe-tenz des IOC sorgen und sich vor allem wohl an diejenigen richte-ten, die die olympischen Tage pausenlos benutzten, um Jacques Rogge zu attackieren.
Lemke entging der FAZ-Frage nicht: „Mit den Spielen in China verband sich eine innenpolitische Entwicklung des Landes. Sie wa-ren gerade zwölf Tage in Peking, haben sich die Hoffnungen aus ihrer Sicht erfüllt?“ Er antwortete auch in diesem Fall präzise: „Die Spiele haben eine immense innenpolitische Wirkung. Ich konnte jeden Tag erleben, wie stolz die Chinesen waren. Es gab eine un-geheure Zahl an freiwilligen Helfern, deren Stolz ich gespürt habe. Alles war perfekt organisiert. Diese Spiele haben das Selbstbe-wusstsein Chinas unheimlich gesteigert. … Vor 22 Jahren war ich das letzte Mal in China mit Werder Bremen. Ich habe dieses Land nicht wiedererkannt. Damals war es das graue China Mao Tse-Tungs und überhaupt nicht geöffnet. Jetzt war ich an den ver-schiedensten Orten, in Stadtteilen und auf Märkten, wo man nur Chinesen trifft , habe mit chinesischen Studenten diskutiert, die mir frei ihre Meinung gesagt haben – auch zu schwierigen politischen Fragen. Jeder von ihnen hatte Internetzugang und auch Kontakte ins Ausland. Ich sehe die Entwicklung absolut positiv und sie wird auch nicht mehr gestoppt werden können. Deswegen stehe ich ganz klar hinter dem IOC und sage, es war hundertprozentig rich-tig, die Spiele dorthin zu vergeben. … Kritik an der chinesischen Führung ist natürlich erlaubt, aber ich meine, sie muss in einer an-gemessenen Weise stattfinden.“
Wiewohl das gute alte deutsche Wort „Aller guten Dinge sind drei“ lautet, soll doch ein vierter Zeuge aufgerufen werden: Gerhard Schröder. Der Ex-Bundeskanzler ist bekanntlich seit seinem Rück-tritt in der Wirtschaft engagiert und vertrat deren Meinung in einem Artikel in der „Zeit“ (30/2008): Schon der Titel ließ keine Zweifel aufkommen: „Warum wir Peking brauchen“ – „Als Bundeskanzler bin ich jedes Jahr einmal nach China gereist. Nun, seit dem Ende meiner Amtszeit, bin ich drei- bis viermal im Jahr in China. ... Ich empfinde diese Gespräche als großes Geschenk, denn sie entwi-ckeln sich stets zu interessanten Diskussionen, bei denen ich noch mehr über das Land lerne, die meinen Blick auf China schärfen und mich zugleich in meiner Überzeugung bestärken, dass wir China als Partner brauchen. ... Alle, die das Land kennen, wissen, dass wir dieses Ziel nicht durch öffentliche Anklage Chinas, son-dern nur durch vertrauensvolle Zusammenarbeit erreichen werden. ... Wer über China redet, muss anerkennen, dass das Land in den vergangenen drei Jahrzehnten rund 400 Millionen Menschen aus bitterster Armut und Hunger befreit hat.
Großen außenpolitischen Schaden … hat in China das soge-nannte Asienstrategie-Papier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hervorgerufen, das … mit seiner aggressiven antichinesischen Rhetorik die Politik und die Gesellschaft in China irritiert, man kann durchaus auch sagen: brüskiert hat … Wir müssen China also als einen Partner auf Augenhöhe betrachten und einen vertrauensvol-len und fairen Dialog mit dem Land führen, … Welcher Anlass bie-tet hierbei größere Chancen als die Olympischen Spiele in Peking? Sie sind ein wichtiges Signal für China und für die Welt. … Spiele 2008 werden also nicht nur ein großartiges Sportereignis, sie sind auch eine politische Chance.“
Das ließ die Frage aufkommen: Für wen eine Chance?
Für die gegenwärtige Obrigkeit der Bundesrepublik Deutschland mit ziemlicher Sicherheit nicht, denn die sah offensichtlich ihre „Chance“ in der Konfrontation zu China. Klartext: Sie setzte auf den von Thomas Mann zur „Grundtorheit der Epoche“ erklärten Anti-kommunismus und hielt die Olympischen Spiele in Peking für eine ideale Gelegenheit ihn frisch zu lackieren.
Bundespräsident Köhler – das erste bundesdeutsche Staats-oberhaupt, das eine Olympiamannschaft verabschiedete – gab den Olympioniken mit auf den Weg: „Ein besonders genauer, manch-
mal kritischer Blick richtet sich in solchen Zeiten auf das Gastge-berland.“ Und er fügte dem „kritischen Blick“ eine Formulierung hinzu, die durchaus zu einer außenpolitischen Kontroverse hätte führen können: „Sie als Sportler mögen ein wenig darunter gelitten haben, dass die Diskussionen über die Menschenrechtslage in China und Tibet die Gespräche über den Sport zeitweilig überlagert haben.“
Einzig mögliche Schlussfolgerung: Der deutsche Bundespräsi-dent wollte damit andeuten, dass Tibet nicht zu China gehört!
Kanzlerin Merkel ließ mehr als einmal mitteilen, dass sie nicht zur Eröffnung der Spiele nach Peking reisen würde, was auch nur als massiver Affront gegenüber den Gastgebern der Spiele aufgefasst werden konnte, zumal sie während der Fußball-Europa-meisterschaft immer Zeit gefunden hatte, sich auf den Tribünen der Fußballstadien ins Bild zu setzen.
Dafür schickte die Bundesregierung fast täglich ihren „Menschen-rechtsbeauftragten“ Nooke vor die Mikrofone, ein „Bürgerrechtler“, der sich seit 1990 in jeder Funktion – sogar im Treuhandaufsichts-rat – als nützlich erwiesen hatte und nun einmal mehr seine „Eig-nung“ unter Beweis stellte. Schon im März war er nach einem Auf-tritt im Südwestrundfunk mit der an das IOC gerichteten Drohung zitiert worden: „Künftig sollten die Spiele nicht mehr in Ländern ausgerichtet werden, die `auf massive Weise´ die Menschenrechte verletzen.“ Und – weil er vielleicht geglaubt hatte, dies müsse noch „ergänzt“ werden – hatte er hinzugefügt, es müsse auch „über den Fehler des Internationalen Olympischen Komitees diskutiert wer-den.“
Am 16. März 2008 hatte er gegenüber dem „Tagesspiegel“ wis-sen lassen: „Sicher kann es Situationen geben, in denen es un-möglich wird, in einem Land Olympische Spiele abzuhalten.“
Dann schickte die Bundesregierung Nooke sogar nach Peking.
Ein deutscher „Menschenrechtskämpfer“ in China – musste das nicht unwillkürlich an den Boxeraufstand von 1900 erinnern, als Kaiser Wilhelm II bei der Verabschiedung des deutschen Expediti-onskorps unter dem Kommando des Grafen Waldersee, die denk-würdigen Worte sprach: „Eine große Aufgabe harrt eurer, ihr sollt das schwere Unrecht, das geschehen ist, sühnen. Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen … gebt an Manneszucht aller Welt ein Beispiel.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ über die Mission des Nooke-Waldersee: „Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, hat die chinesische Führung aufgefordert, während der Olympischen Spiele friedliche Proteste gegen die Menschen-rechtspolitik zuzulassen. … Gleich nach der Rückkehr nach Berlin gab Nooke dem chinesischen Dissidentenblatt „The EpochTimes Deutschland“ ein ausführliches Interview: „Ich wollte mir ein Bild vor Ort machen, wie es aussieht und ein bisschen auch die Stim-mung in der Stadt kennenlernen. Ich habe auch mit Menschen-rechtlern, mit Leuten aus der Wissenschaft und Kirchenvertretern gesprochen. Ein weiterer Grund war, dass mich der Deutsche Olympische Sportbund zu einem Besuch des Olympischen Dorfes und des Deutschen Hauses in Peking eingeladen hatte. …“ (Dar-über hatte sich der DOSB wohlweislich ausgeschwiegen.)
Auf die Frage, wie „offiziell“ die Reise war, antwortete er: „… ich bin ganz offiziell als Menschenrechtsbeauftragter der deutschen Bundesregierung gereist.“ Gefragt, warum er die Eröffnungsfeier nicht besucht habe, gab er zur Antwort: „Weil ich glaube, dass für mich andere Sachen wichtiger waren und es nicht unbedingt sein muss, dass man als Menschenrechtsbeauftragter im Stadion mitju-belt.“
Dann wurde er auch noch gefragt, ob ihn die Situation in Peking an sein Leben in der DDR erinnert habe, worauf er erwiderte: „Na-türlich funktionieren Diktaturen ähnlich. … Man will erst gar nicht Luft ranlassen … Das war genauso in der DDR…“
Noch weit gröberes Kaliber als die Politiker luden die Medien. Es wäre indes Papier- und Geldvergeudung, sich um eine „Enzyklo-pädie des Medien-Kreuzzugs gegen Peking“ zu bemühen.
Typisch dafür, wie eng die Reihen der Antikommunisten ge-schlossen waren, war der Fall des Olympiaveteranen der Medien-branche Dieter Hennig von der Sportnachrichtenagentur sid. Er war als Leiter der Olympiaredaktion in Peking nominiert worden und das IOC hatte ihn zusammen mit vier Kollegen aus anderen Län-dern ausgesucht, um in Peking einen Teilabschnitt des Fackellaufs zu absolvieren. Jens Weinreich, der einst seine Sportjournalisten-laufbahn in der renommierten „Jungen Welt“ begonnen hatte, spä-ter in Leipzig an der Universität studierte, die den Namen Karl Marx trug und nach der Rückwende alle Eignungstests für die neue „Ordnung“ brillant bestand, bezichtigte ihn von Peking aus – auch
wegen der Beteiligung am Fackellauf – einer zu „chinafreundlichen“ Berichterstattung, was den neuen Inhaber der Agentur bewog, ihn noch vor dem Auftakt der Spiele aus Peking abzuziehen. Eine üb-lere Denunziation kennt der Olympiajournalismus kaum! (Unvor-stellbar, welche Vokabeln Weinreich für den Verein „Sport und Ge-sellschaft“ gefunden hätte, der im Vorfeld der Spiele bekanntlich die chinesische Botschaft in Berlin konsultiert und den Kulturatta-ché zu Vorträgen nach Berlin und Leipzig eingeladen hatte.)
Dass der gleiche Weinreich vom „Spiegel“ eine halbe Stunde vor der Abschlussfeier mit seinem „Fazit“ aufgeboten wurde, rundet das Bild ab. Der Titel lautete: „Rogge macht Kotau vor Chinas Regime“. Hier einige Zitate aus dem Text: „`Es gibt keinen Zweifel daran, dass wir mit Peking die richtige Entscheidung getroffen haben´, sagte IOC-Präsident Jacques Rogge. … Jacques Rogge hat vor zwei Wochen gesagt, die `Magie der Spiele´ werde Kritik verstum-men lassen. Er hat den Chinesen vertraut, in megateuren Sport-stätten vor handverlesenem Publikum, unterstützt von einem Heer Sicherheitsbeamter und einer halben Million Volunteers, sogenann-ten freiwilligen Helfern, perfekte Bedingungen für die TV-Übertragungen zu liefern. Dem IOC und der Kommunistischen Par-tei der Volksrepublik China kam es nur auf eins an: auf die Macht der Bilder. … So werden Heldenepen geschaffen. … Rogge vertei-digt die Chinesen und die IOC-Entscheidung für Peking seit sieben Jahren, bis zur Selbstverleugnung. Er ließ sich von den KP-Führern um Hu Jintao am Nasenring durch die Manege führen. … Es ist Diktatoren nie schwer gefallen, reibungslose Olympische Spiele zu organisieren. Das liegt in der Natur der Sache.“
Ein Kommentar erübrigt sich!
Das gilt auch für das „allerletzte olympische Aufgebot“ der „Berli-ner Zeitung“, die Afrika-Expertin Maritta Tkalec, die 96 Stunden nach dem Finale auf die Idee kam, die Zahl der Medaillen ins Ver-hältnis zur Bevölkerung der betreffenden Länder zu setzen und die Volksrepublik China auf Platz 68 der Länderwertung und Deutsch-land auf Rang 38 befördert. Ergo: Die Deutschen waren viel besser als die Chinesen!
Das erinnerte mich an einen Spaß, den ich mir 1956 in Australien mit einem bundesdeutschen Diplomaten erlaubt hatte. Der hatte mich zum Bier eingeladen und wollte mich ein wenig aushorchen. Wie denn die DDR die „Überlegenheit“ des Sozialismus in Mel-
bourne nachweisen wolle, da doch bundesdeutsche Athleten längst mehr Medaillen errungen hätten. Ich gestand ihm, dass wir die Zahl der DDR-Athleten so niedrig gehalten hätten, um mit Hilfe einer Prokopfwertung besser abschneiden zu können, als die BRD. Dem Diplomaten blieb für Sekunden die Luft weg. Vierzig Jahre später stieß ich im Archiv des Auswärtigen Amtes der BRD auf den ver-schlüsselten Brief, den er noch in der gleichen Nacht nach Bonn hatte funken lassen. Und ich fand auch den Abschlußbericht des Botschafters v. Groll, in dem der die Zahl der Medaillen analysiert und geschrieben hatte: „Damit war der sowjetzonalen Propaganda die Möglichkeit genommen, durch arithmetische Spiegelfechtereien an Hand der Medaillenverteilung die Überlegenheit der volksdemo-kratischen Gesellschaft nachzuweisen.“
Diesmal ging`s ums Gegenteil und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen: Mein „Joke“ von 1956 funktionierte auch 2008 noch…
Eine ernsthafte sportliche Bilanz hätte viele Facetten. Sie würde viele Details erfordern. Obwohl die Medaillenbilanz von Peking in allen Medien nachzulesen war, wiederholen wir sie hier und haben viele Motive dafür. Wir stellen sie denen der Spiele vor zwanzig Jahren in Seoul gegenüber. Der Vergleich macht zum einen deut-lich, wie sehr sich die politische Landschaft seit 1988 geändert hat, offenbart aber vor allem, welchem Wandel die sportliche Geogra-phie unterlag. Dazu muss nichts „erklärt“ werden – die beiden Ta-bellen bieten dem sportlich Interessierten hinreichende Gelegen-heit, eigene Schlüsse zu ziehen.
2008
1988
LAND
G
S
B
T
LAND
G
S
B
T
VR China
51
21
28
100
UdSSR
55
31
46
132
USA
36
38
36
110
DDR
37
35
30
102
Russland
23
21
28
72
USA
36
31
27
94
Großbrit.
19
13
15
47
Südkorea
12
10
11
33
BRD
16
10
15
41
BRD
11
14
15
40
Australien
14
15
17
46
Ungarn
11
6
6
23
Südkorea
13
10
8
31
Bulgarien
10
12
13
35
Japan
9
6
10
25
Rumänien
7
11
6
24
Italien
8
10
10
28
Frankr.
6
4
6
16
Frankr.
7
16
17
40
Italien
6
4
4
14
Ukraine
7
5
15
Niederl.
7
5
4
16
Großbr.
5
10
9
24
Jamaika
6
3
2
11
Kenia
5
2
2
9
Spanien
5
10
3
18
Japan
4
3
7
14
Kenia
5
5
4
14
Australien
3
6
5
14
Weissrl.
4
5
4
19
Jugosl.
3
4
5
12
Rumänien
4
1
3
8
CSSR
3
3
2
8
Äthopien
4
1
2
7
Neuseel.
3
2
8
13
Kanada
3
9
6
18
Kanada
3
2
5
10
Polen
3
6
1
10
Polen
2
5
9
16
Norwegen
3
5
2
10
Norwegen
2
3
-
5
Ungarn
3
5
2
10
Niederl.
2
2
5
9
Brasilien
3
4
8
15
Dänem.
2
1
1
4
Tschech.
3
3
0
6
Brasilien
1
2
3
6
Slowakei
3
2
1
6
Finnland
1
1
2
4
Neuseel.
3
1
5
9
Spanien
1
1
2
4
Georgien
3
0
3
6
Türkei
1
1
-
2
Kuba
2
11
11
24
Marokko
1
-
2
3
Kasachst.
2
4
7
13
Österr.
1
-
-
1
Dänemark
2
2
3
7
Portugal
1
-
-
1
Mongolei
2
2
0
4
Surinam
1
-
-
1
Thailand
2
2
0
4
Schwed.
-
4
7
11
Nordkor.
2
1
3
6
Schweiz
-
2
2
4
Argent.
2
0
4
6
Jamaika
-
2
-
2
Schweiz
2
0
4
6
Argentin.
-
1
1
2
Mexiko
2
0
1
3
N.Antillen
-
1
-
1
Türkei
1
4
3
8
Chile
-
1
-
1
Simbabw.
1
3
0
4
Indonesien
-
1
-
1
Aserbaid.
1
2
4
7
Iran
-
1
-
1
Usbekist.
1
2
3
6
Jungf-Ins.
-
1
-
1
Slowenien
1
2
2
5
Kostarika
-
1
-
1
Bulgarien
1
1
3
5
Peru
-
1
-
1
Indon.
1
1
3
5
Senegal
-
1
-
1
Finnland
1
1
2
4
Belgien
-
-
2
2
Lettland
1
1
1
3
Mexiko
-
-
2
2
Belgien
1
1
0
2
Djibouti
-
-
1
1
Domin.R.
1
1
0
2
Griechenl.
-
-
1
1
Estland
1
1
0
2
Kolumbien
-
-
1
1
Portugal
1
1
0
2
Mong. VR
-
-
1
1
Indien
1
0
2
3
Pakistan
-
-
1
1
Iran
1
0
1
2
Philipp.
-
-
1
1
Bahrain
1
0
0
1
Thailand
-
-
1
1
Kamerun
1
0
0
1
Panama
1
0
0
1
Tunesien
1
0
0
1
Schwed.
0
4
1
5
Kroatien
0
2
3
5
Litauen
0
2
3
5
Griechenl.
0
2
2
4
Trinid.+T.
0
3
0
3
Nigeria
0
1
3
4
Irland
0
1
2
3
Serbien
0
1
2
3
Österr.
0
1
2
3
Algerien
0
1
1
2
Bahamas
0
1
1
2
Kirgist.
0
1
1
2
Kolumb.
0
1
1
2
Marokko
0
1
1
2
Tadschik.
0
1
1
2
Chile
0
1
0
1
Ekuador
0
1
0
1
Island
0
1
0
1
Malaysia
0
1
0
1
N.Antillen+)
0
1
0
1
Singapur
0
1
0
1
Sudan
0
1
0
1
Südafrika
0
1
0
1
Vietnam
0
1
0
1
Armenien
0
0
6
6
Taipei
0
0
4
4
Afghanist.
0
0
1
1
Israel
0
0
1
1
Mauritius
0
0
1
1
Moldaw.
0
0
1
1
Togo
0
0
1
1
Venezuel.
0
0
1
1
Ägypten
0
0
1
1
+) Ein Protest gegen die Disqualifikation war bei Redaktionsschluss noch nicht entschieden.
Um diesen Vergleich zu vertiefen, fügen wir ihm die Medaillensta-tistik der olympischen Kernsportart, der Leichtathletik hinzu:
2008
1988
USA
7
9
7
23
USA
13
7
5
25
Russland
6
5
7
18
UdSSR
10
6
10
26
Jamaika
6
3
2
11
DDR
7
10
10
27
Kenia
5
5
4
14
Kenia
4
2
1
7
Äthiopien
4
1
2
7
Bulgarien
2
1
1
4
Weißruss.
1
3
3
7
Italien
1
1
1
3
Kuba
1
2
2
5
Australien
1
1
-
2
Australien
1
2
1
4
CSSR
1
1
-
2
Großbrit.
1
2
1
4
Rumänien
1
1
-
2
Ukraine
1
1
3
5
Finnland
1
-
1
2
Belgien
1
1
-
2
Marokko
1
-
1
2
Norwegen
1
1
-
2
Portugal
1
-
-
1
Polen
1
1
-
2
Großbrit.
-
5
2
7
Italien
1
-
1
2
BRD
-
1
3
4
Neuseel.
1
-
1
2
Brasilien
-
1
1
2
Bahrain
1
-
-
1
Jamaika
-
2
-
2
Brasilien
1
-
-
1
Senegal
-
1
-
1
Estland
1
-
-
1
VR China
-
-
1
1
Kamerun
1
-
-
1
Djibouti
-
-
1
1
Panama
1
-
-
1
Frankr.
-
-
1
1
Portugal
1
-
-
1
Kanada
-
-
1
1
Rumänien
1
-
-
1
Schweden
-
-
1
1
Slowenien
1
-
-
1
Schweiz
-
-
1
1
Tschech.
1
-
-
1
Türkei
-
2
-
2
Bahamas
-
1
1
2
Marokko
-
1
1
2
Ecuador
-
1
-
1
Frankr.
-
1
-
1
Kroatien
-
1
-
1
Lettland
-
1
-
1
Sudan
-
1
-
1
Südafrika
-
1
-
1
Trinid.+To
-
1
-
1
VR China
-
-
2
2
BRD
-
-
1
1
Finnland
-
-
1
1
Griechenl.
-
-
1
1
Japan
-
-
1
1
Kanada
-
-
1
1
Litauen
-
-
1
1
Nigeria
-
-
1
1
Aus deutscher Sicht wäre hier anzufügen, dass dies das schlech-teste Abschneiden bei Olympischen Spielen seit 104 Jahren
wobei dieser Vergleich noch einer Ergänzung bedarf: In 12 der 17 ausgetragenen Wettbewerbe hatten die gastgebenden USA-Athleten jeweils alle drei Medaillen errungen. Der auf eigene Kos-ten nach St.Louis gereiste Ire Thomas Kiely – Großbritannien hatte sich bereit erklärt, ihm die Reisekosten zu erstatten, wenn er für die Briten an den Start gehen würde, was er ablehnte – holte die Goldmedaille im Zehnkampf und der Deutsche Paul Weinstein Bronze. So müsste man einen „Vergleich“ mit 1904 gewagt nen-nen, da die Möglichkeiten für die weltbesten Athleten nach St. Louis zu reisen, sehr begrenzt waren, während das IOC für die Reise nach Peking an bedürftige Länder Zuschüsse zahlte. Des-halb dürfte die Feststellung erlaubt sein, dass deutsche Leichtath-leten noch nie in der Geschichte der Olympischen Spiele so schlecht abschnitten, wie 2008 in Peking. Ich verzichte auch da-rauf, mich zu den gleich nach den Spielen ausgebrochenen und oft mit heftigen Formulierungen geführten Kritiken zu äußern. Allein die Tatsache, dass im Vorfeld der Spiele zwei renommierte Leicht-athletiktrainer nur wegen ihrer DDR-Vergangenheit aus der Mann-schaft ausgeschlossen werden sollten, ließ erkennen, welchen Wert man auf deren Erfahrungen legt. Dass man im Vorfeld auch ständig Behauptungen verbreitete, die angeblichen Dopingverge-hen in der DDR galten oder Mitarbeit am DDR-Geheimdienst als Untaten deuteten, ließ erkennen, dass auch in nächster Zukunft nicht mit einer fundierten Nutzung von DDR-Erfahrungen zu rech-nen ist.
Beenden wir diese olympischen „Nachklänge“ schon deshalb mit mit einem weisen Wort Coubertins: „Olympische Spiele feiern, heißt, sich auf die Geschichte zu berufen. Sie ist es auch, die am besten den Frieden sichern kann. Von den Völkern zu fordern, ei-nander zu lieben, ist lediglich eine Art Kinderei. Ihnen abzuverlan-gen, sich zu respektieren, ist durchaus keine Utopie; aber um sie zu respektieren, muss man sich zunächst einmal kennenlernen.“
Das war es, was Coubertin im Sinn hatte, als er die Tradition der modernen Spiele begründete und das war es auch, was alle, de-nen die Spiele
Wie die BpB ihr China-Bild vermittelte
Die Ziele der BpB sind präzise formuliert und werden auch im In-ternet verbreitet: „Die Bundeszentrale für politische Bildung unter-stützt alle interessierten Bürgerinnen und Bürger dabei, sich mit Politik zu befassen. Ihre Aufgabe ist es, Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festi-gen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken. So steht es im Erlass des Bundesministeriums des Innern. Und so wird es Tag für Tag in Bonn und Berlin umgesetzt.“
Im Vorfeld der XXIX. Olympischen Spiele in Peking ließ die BpB „Themenblätter im Unterricht/Nr. 69“ mit dem Titel „Olympialand China“ verbreiten. Das Heft umfasst die „Lehrerblätter 01 – 02 – 03 – 04“ Dann folgten die „Kopiervorlagen „KO1 und KO2“ und 31 doppelseitige Arbeitsblätter im Abreißblock „Arbeitsblatt A“ und „B“, die an die Schüler einer Klasse verteilt werden sollten – damit sich bereits halbwüchsige Bürgerinnen und Bürger mit Politik befassen. Der dazugehörige Lieferschein/Rechnung war ausgestellt von der „bpb Bundeszentrale für politische Bildung c/o IBRo Versand-service GmbH, Kastanienweg 1, 18184 Roggentin“. Der Einzelpreis war auf dem Lieferschein mit 0,00 € angegeben.
Der Text auf Lehrerblatt 01 lautete: „Im Jahr 2001 hat das Inter-nationale Olympische Komitee (IOC) der Hauptstadt Chinas den Zuschlag für die Durchführung der Olympischen Sommerspiele 2008 gegeben. Seitdem verstärken sich weltweit die Diskussionen darüber, ob die Wahl politisch klug war. Eine Frage steht im Mittel-punkt: Werden die Spiele dem Land nicht nur sportliche Triumphe, sondern auch Fortschritte bei den Menschenrechten bringen?“
Fortsetzung auf Lehrerblatt 02: „Dürfen die Olympischen Spiele mit ihrem hohen ethischen Anspruch in einem Land stattfinden, in dem die Todesstrafe nicht nur im Gesetz vorgesehen, sondern auch häufig vollstreckt wird? Über 1300 Menschen werden in Chi-na jährlich hingerichtet, mehr als in dem Rest der Welt zusammen. Andere systematische Menschenrechtsverletzungen stehen weni-ger im Blickpunkt und können hier nur angerissen werden:
- in den Arbeitslagern sitzen nach vorsichtigen Schätzungen rund 200.000 Menschen ein,
- 100.000 Bauern wird jährlich Land ohne Kompensation weg-genommen, wenn sie protestieren, droht Verhaftung oder auch der Tod.
- Ethnische Minderheiten wie die Tibeter oder die Uiguren wer-den unterdrückt…“
„Diese und viele weitere Aspekte … führen zu der … Frage nach einem möglichen Boykott der Spiele. …“
Auf dem an die Schüler zu verteilenden „Arbeitsblatt A“ war die 22jährige chinesische Studentin Liu Lin abgebildet, von der ein Originalzitat wiedergegeben wurde: „Ich bin sehr stolz auf China – ich hoffe, dass die Olympischen Spiele 2008 sehr schön werden…“
Daneben waren auf einem briefmarkengroßen Bild ein Mann und eine Frau in Arbeitskluft mit Schutzhelmen zu sehen, die einen mit Backsteinen beladenen gummibereiften Karren eine ansteigende Straße hinaufzerren. Bildunterschrift: „Für den Bau des Olympia-stadions in Peking werden häufig Wanderarbeiter angeworben. Das Foto zeigt Bauarbeiten rund um das `Vogelnest´ genannte zentrale Olympiastadion.“
Die Aufgabe A für die Schüler nach dem Erhalt eines der 31 Blät-ter, lautete: „Schreiben Sie einen kurzen Dialog der beiden Arbeiter (siehe Foto rechts) zum Thema `Welche Bedeutung haben die Olympischen Spiele für mein Leben?`“
Die Aufgabe B: „Schreiben Sie einen vergleichbaren Dialog aus Sicht von zwei Studenten oder Journalisten oder Partei-funktionären.“
Auf dem „Arbeitsblatt B“ wurde in der 5. Aufgabe, die den Schü-lern zu stellen ist, eine Karikatur gezeigt, die den Blick auf eine Stadionlaufbahn bietet, auf der ein Polizist – mit Schlagstock – ei-nen Zivilisten jagt. In Höhe des Ziels steht ein Galgen, über dem ein Schild mit dem olympischen Symbol und der Aufschrift „Peking 2008“ hängt. An der rechten Bildseite steht ein weißhaariger Herr, von dessen Jacke die Aufschrift „IOC“ leuchtet und der dem neben ihm stehenden Chinesen sagt: „Wir erwarten von Ihnen natürlich noch gewisse Veränderungen.“
Schüler-Aufgabe A, die die Schüler lösen sollten, lautete: „Auf welches Problem spielt der Karikaturist an? Was will die Karikatur ausdrücken. Meint der Funktionär des IOC (Internationales Olym-pisches Komitee) seine `Erwartung´ ernst? Welche
Schüler-Aufgabe B: „Wie sehen die Reaktionen der Menschen in China auf diese `Einmischung von außen´ aus? Wählen Sie hierzu drei unterschiedliche Personenkreise aus (z.B.: Parteifunktionäre, Menschenrechtler, Sportler, Journalisten, Häftlinge)!“
Die 6. Aufgabe bot den Schülern sieben Möglichkeiten, Voraus-setzungen für die Vergabe Olympischer Spiele zu bestimmen. Sie sollten davon fünf ankreuzen und damit entscheiden: „In einem Land sollten nur dann Olympische Spiele stattfinden, wenn…
0. die Sportler optimale Wettkampfbedingungen vorfinden.
0 die Todesstrafe abgeschafft ist
0 alle Veranstaltungen bei uns live und während des Tages im Fernsehen zu sehen sind.
0 Lückenlose Dopingkontrollen stattfinden.
0 Meinungsfreiheit garantiert ist.
0 50 Prozent der Eintrittskarten kostenlos sind und verlost wer-den
0 die Arbeitsbedingungen den Standards in Deutschland angegli-chen sind.“
An folgenden Feststellungen käme man nicht vorbei:
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland lässt seine Bür-ger eine Institution finanzieren, die über das Innenministerium Ein-fluß auf den Schulunterricht nimmt.
Aufgrund der im Grundgesetz verankerten Kulturhoheit der Län-der ist das Schulwesen Sache der Länder, eingeschränkt lediglich durch die Aufsicht des Staates über das gesamte Schulwesen (Ar-tikel 7 Grundgesetz)
Diese „Aufsicht“ bezieht sich nicht auf die Gestaltung des Unter-richts. Der denkbare Hinweis, dass es sich bei der kostenlosen bpb-Offerte um ein Angebot des Innenministeriums handelt, zu dessen Nutzung weder Schulen noch Lehrer verpflichtet wären, ist nicht stichhaltig, weil im Grunde alle „Angebote“ des Bundesin-nenministerium mit seinen moralischen und auch seinen politi-schen Pflichten übereinstimmen müssten. Niemand kann also leugnen, dass eine solche Initiative eines deutschen Bundesminis-teriums im Hinblick auf die Austragung Olympischer Spiele in ei-nem anderen Land mit den Pflichten der Bundesregierung gegen-über seinen Partnern in aller Welt
Zum Beispiel zum Bild der beiden „Wanderarbeiter“. Nichts deu-tet darauf hin, dass sie tatsächlich zu den Erbauern des „Vogelnes-tes“ gehörten, auch weil nicht vorstellbar ist, dass dieses Stadion aus von Hand herangeschleppten Backsteinen gemauert wurde.
Wo immer dieses Foto entstanden sein mag – kindliche Phanta-sie zu mobilisieren, um herauszufinden, welche Bedeutung die Olympischen Spiele für das Leben der beiden haben, muss zwangsläufig bei Kindern Emotionen auslösen, die in der Regel kaum chinafreundlich sein dürften.
Bei der Karikatur sind die Motive völlig eindeutig. Es handelt sich um eine gegen China und das IOC gerichtete politische Karikatur, also purer antichinesischer Antikommunismus. Die an die Schüler gerichtete Frage erinnert an die Frage nach der Summe von 1 + 1. Sie im Auftrag des deutschen Innenministeriums an Schulen zu verbreiten, ist auch nicht vergleichbar mit Medienkommentaren.
Ähnliches gilt für die „Testfragen“ an die Schüler. Die Frage, ob Spiele nur in einem Land stattfinden sollten, dass Live-Übertragungen „während des Tages“ garantiert, ist beispiellos, denn: Jeder halbwegs den Lernstoff beherrschende Schüler, kennt die durch die Längengrade bedingten Zeitunterschiede rund um die Welt. Also kämen künftig nur mehr Länder für Olympische Spiele in Frage, die auf dem Längengrad Deutschlands liegen. Noch ärger ist die Frage, ob Olympische Spiele nur mehr an Länder vergeben dürfen, deren „Arbeitsbedingungen den Standards in Deutschland angeglichen sind“. Die einzige Schlussfolgerung wäre: Bevor das IOC eine Bewerbung für die Austragung Olympischer Spiele über-haupt entgegennimmt, hätte Deutschland zu prüfen, ob die Ar-beitsbedingungen im Bewerberland denen in Deutschland glei-chen! Die „Beiträge zur Sportgeschichte“ sind nicht dafür zuständig das Internationale Olympische Komitee über maßlose politische Einmischungsversuche in seine Entscheidungen zu informieren, aber die deutschen IOC-Mitglieder wären moralisch, vor allem aber durch die Olympische Charta verpflichtet, mit Nachdruck wegen dieser Aktion zu intervenieren.
Der Leser muss nicht darauf hingewiesen werden, dass dieser Versuch, deutsche Schüler politisch zu missbrauchen, zu den
Peking 2008 – Olympia und der Weltsport
Von HELMUT HORATSCHKE
Sport war in der Antike und ist auch in der Gegenwart ein gesell-schaftliches Phänomen, das in den Olympischen Spielen seinen glanzvollen Höhepunkt findet.
In den letzten zwanzig Jahren haben sich Kräfte dieser Spiele bemächtigt, denen nicht der Sport, sondern das große Geschäft mit dem Sport am Herzen liegt. Das globale internationale Kapital, an der Spitze Medien- und Sportartikelkonzerne, haben die Spiele für ihre Profitinteressen erschlossen. Das IOC hat sich an die Spitze dieser Vermarktungsstrategie gesetzt und kassiert heute 2,5 Milli-arden Dollar aus Übertragungs- und anderen Rechten. Diese Ver-markter bestimmen das Wettkampfprogramm einschließlich des Zeitplanes, damit die einflussreichsten Sender ihre Übertragungen in die günstigste Zeit legen und hohe Summen für Werbeeinnah-men berechnen können.
Die Vermarktung gewinnträchtiger Sportarten einschließlich des Erfindens neuer Sportarten, bei denen die Showwirkung im Vor-dergrund steht, hat eine lange Geschichte und ihren Ursprung in Nordamerika und Westeuropa. Sie wurde zum Bestandteil kapita-listischer Globalisierungsstrategie.
Diese Bestrebungen blieben nicht unwidersprochen. 1981 be-schloss der olympische Weltkongress, dass Olympische Spiele auch in Zukunft Amateuren vorbehalten bleiben sollen. Unter Bruch dieser Entscheidung wurde unter Führung von IOC-Präsident Sa-maranch nach 1990 Olympia für den Berufssport geöffnet. Ein olympischer Weltkongress hat nicht mehr stattgefunden.
Für die ausrichtende Stadt und das Land bleibt die Aufgabe, den Spielen einen festlichen Rahmen zu geben, erstklassige Sportan-lagen mit modernster technischer Ausrüstung zur Verfügung zu stellen, für perfekte Wettkampforganisation, Unterkunft, Verpfle-gung, Transport, Sanitätsdienst, Presse- und Fernsehzentrum zu sorgen und die städtische Infrastruktur den Anforderungen der Spiele anzupassen. Man muss der VR China und ihrer Hauptstadt Peking bescheinigen, dass sie alle Aufgaben bis hin zum Bau ei-nes riesigen Flughafenterminals und von U-
die Leistungsfähigkeit des ganzen Landes überzeugend unter Be-weis gestellt hat. Und das alles zu einer Zeit, da das Land mit einer verheerenden Erdbebenkatastrophe und schweren Überschwem-mungen konfrontiert war.
Es ist bekannt, dass die USA und ihre NATO-Partner die VR Chi-na nicht lieben und sie gerne nach jugoslawischen Beispiel zerstü-ckeln und beherrschbar machen möchten. Dazu dienen politische und geheimdienstliche Mittel ebenso wie von außen gesteuerte Unabhängigkeitsbewegungen, Aufstände und eine monatelange Kampagne der internationalen Medienkonzerne. Mit allen Mitteln wurde versucht, die Spiele in Peking für diese unolympische Politik zu missbrauchen und Menschenrechte einzuklagen, die sie selbst täglich mit Füßen treten. Protestierer für westliche Kameras muß-ten allerdings aus dem Ausland eingeflogen werden. Es ist eine Frechheit, die VR China auch noch aufzufordern, für derartige uno-lympische Machenschaften Gesetze des Landes außer Kraft zu setzen. Die einfachsten Anstandsregeln für Gäste gegenüber dem Gastgeber sind diesen Leuten, einschließlich deutscher Fern-sehreporter, offensichtlich unbekannt.
Im Weltsport stehen sich heute zwei Richtungen gegenüber:
- Einerseits die Förderung des Sports einschließlich des Leis-tungssports als Anliegen der Gesellschaft, von seiner ge-sundheitsfördernden Massenwirkung bis zur Vorbildrolle und nationaler Repräsentanzsportlicher Leistung,
- andererseits das Abqualifizieren des allgemeinen Sports zur Privatsache und die Auslieferung des Leistungssports an pri-vatkapitalistische Vermarkter. Nichtgewinnträchtige Sportar-ten werden von den Medien zu „Randsportarten“ degradiert und bestenfalls noch als Randnotiz erwähnt. Die Folgen die-ser verhängnisvollen Privatisierung des Sports sind statistisch belegt: Bewegungsarmut, Übergewicht, lebenslange Gesund-heitsschäden als Massenerscheinung und immer mehr beim Baden ertrunkene Kinder.
Diese von gegensätzlichen Bestrebungen gekennzeichnete Lage des Welsports spiegelt sich auch bei den Olympischen Spielen wi-der.
Die Zahl der Länder, deren
den Neulingen im Medaillenspiegel gehören vor allem Länder aus Asien, Afrika und Lateinamerika.
Berücksichtigt man ausschließlich den Medaillenspiegel, hat sich in den letzten 20 Jahren das Leistungspotential des Weltsports deutlich in Richtung Asien und zu Lasten von Europa verschoben (Asien – plus 12,4 Prozent, Europa – minus 20,9 Prozent). Auch Lateinamerika, Australien/Ozeanien und Afrika haben Zuwachs zu verzeichnen.
Unter allen teilnehmenden Ländern ragt der Gastgeber dieser Sommerspiele, China, mit insgesamt 100 Medaillen, davon 51 Goldmedaillen, und einer Leistungssteigerung um 60 Prozent ge-genüber den 2004 in Athen erzielten Ergebnissen deutlich heraus.
Eine positive Bilanz können auch Großbritannien, Kenia, Jamai-ka, die USA, Kanada, Armenien und Frankreich ziehen, eine nega-tive Rußland, Griechenland, Japan, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Kuba, Österreich und Südafrika.
Die Medaillenbilanz allein reicht aber sicher nicht aus, um das tat-sächliche Leistungspotential einzuschätzen, wie die Bilanz von Ku-ba zeigt, das Rang 28 in der Länderwertung der errungenen Me-daillen belegt. Denn nach einer Wertung der erreichten Ränge un-ter den ersten 6 jeder Disziplin belegt es insgesamt Platz 12.
Was die Leistungen vor allem im Schwimmen und in der Leicht-athletik letztlich wirklich wert sind, bleibt vermutlich ein Geheimnis der für 8 Jahre eingefrorenen Dopingproben. Bisher war man aller-dings noch damit befasst, die Ergebnisse von Sydney 2000 zu kor-rigieren.
Der deutsche Standort wurde bereits mit der Auswahl des Fah-nenträgers bestimmt: Dirk Nowitzki, Olympianeuling aber reichster ausländischer Profi in ausländischen Diensten.
Erklärtes Ziel des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) war es, nicht schlechter als in Athen 2004 zu sein. Man wollte Rang 6 in der Medaillenwertung, mindestens 49 Medaillen und da-von 13 Goldmedaillen erreichen. Mit 16 Goldmedaillen und Rang 5 in der Länderwertung feiert man unüberhörbar die Umkehr des seit Jahren zu beobachtenden Abwärtstrends. Betrachtet man aber nicht nur und ausschließlich den Medaillenspiegel, sondern bezieht in eine Punktwertung die Ränge 1-6 ein, liegt Australien noch vor Deutschland und eine Trendumkehr oder wie Michael Vesper,
auch nicht bestätigen. Vielmehr hält der Abwärtstrend offenbar wei-ter an. (Tab. 1)
OS Rang Goldm. Med.ges. Pkt. 1-6 % ges.Pkt.
1988 / DDR 2 37 102 638,0 12,2
1988 / BRD 4 11 40 290,0 5,6
1992 3 33 81 545,5 9,6
1996 3 20 65 476,0 8,0
2000 5 13 56 408,6 6,2
2004 6 13 49 345,5 5,2
2008 5 16 41 310,0 4,7
Tab. 1: Deutsche Ergebnisse bei den Olympischen Spielen 1988 – 2008 (Spalte 2 – Rang in der Medaillenwertung, 3 – Zahl der Goldmedaillen, 4 – Medaillen insge-samt, 5 – Punkte für die reichten Platzierungen 1-6, 6 – prozentualer Anteil an der zu vergebenden Gesamtpunktzahl)
Betrachtet man außerdem den seit den Olympischen Sommer-spielen 1996 nachzuweisenden Punktverlust (Tab. 1, Spalte 5) der deutschen Mannschaft (1996 -12,7 %, 2000 – 14,2 %, 2004 – 15,4 %, 2008 – 10,3 %) wird zumindest darauf hingewiesen, dass jeder Gesamtwertung auch eine der Komplexität sportlicher Leistungs-entwicklung angemessene Ergebnis- und Ursachenanalyse vo-rausgehen sollte.
Gute Leistungen wurden erreicht im Pferdesport, Hockey, Kanur-ennsport und Kanuslalom, im Fechten und Wasserspringen. Leis-tungssteigerungen können die Sportarten Turnen und Segeln nachweisen. Hervorragende Einzelleistungen sind im Gewichthe-ben, im Judo, Triathlon, Modernen Fünfkampf und Radsport / Mountainbike vollbracht worden. Im Schwimmsport ragen allein die Leistungen von Britta Steffen heraus.
Die Leistungsmisere der deutschen Olympiamannschaft 2008 äußert sich
 in der Leichtathletik - eine Bronzemedaille und Rang in 38 der Länderwertung,
 im Schwimmen, außer Britta Steffen nicht besser als die Leich-athletik,
 im Rudern - vom 2. Platz auf den 13. Rang der Länderwertung
 im Straßenradsport - bei 4 Disziplinen nur ein 6. Platz,
 im Boxsport - seit 1948 erstmalig ohne eine Medaille,
 im Tennis, Badminton und Bogenschießen - jeweils ohne ein zählbares Ergebnis,
 im Basketball, Handball, Volleyball und Wasserball jeweils mit Nullrunde.
Insgesamt glanzlose Spiele für jene Sportarten, in denen Profiställe und Sponsoren das Sagen haben und die zum Teil erst unmittelbar vor Olympia ihre Akteure aus dem In- und Ausland zusammenrufen können. (Tab. 2)
Die Ursachen für den weiteren Abwärtstrend sind vielschichtig. Sie beginnen beim Zustand des deutschen Schulsports, einer Ta-lentfindung und -gewinnung als Zufallsergebnis, den horrenden und weiter steigenden Kosten pro Platz an den Sportgymnasien, die von den Eltern getragen werden müssen, einem dominierenden Einfluss einer sich verselbständigenden Profiszene, deutschen Länderföderalismus und Vereinsmeierei bis zu einer staatlichen Sportförderung, die den erfolgreichen Verband belohnt und dem er-folglosen die Mittel weiter kürzt. Wesentlich auch eine Unterschät-zung der Rolle vollakademisch ausgebildeter Sportfachleute vom Schulsport bis zu den Führungsetagen des deutschen Sports.
Die fehlende Bereitschaft, Sport nicht als privates, sondern als gesellschaftliches Problem zu begreifen und die Unfähigkeit zu ef-fektiver Organisation sind die deutschen Grundprobleme.
China hat aller Welt gezeigt, wie es geht!
SPORTART
DISZ.
MEDAIL.
Platz 4.–6.
P.
R.
Leichtathl.
47
0 – 0 – 1
1 – 4 – 2
17
38
Turnen
14
0 – 1 – 1
3 – 0 – 0
18
6
Gymn.
2




Tramp.
2
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0-
0

Schwimmen
34
2 – 0 – 1
1 – 2 – 0
25
5
Springen
8
0 – 1 – 1
1 – 1 – 1-
15
5
Synchron
2




Wasserb
2
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0
0

Radsport B.
10
0 – 1 – 1
1 – 2 – 0
16
5
….Straße
4
0 – 0 – 0
0 – 0
….M.Bike
2
1 – 0 – 0
0 – 0 – 0
7
2
….BMX
2
0 – 0 –0
0 – 0 – 0
0
-
Rudern
14
0 – 1 – 1
3 – 0 – 2
20
13
Kanu-Rsp.
12
2 – 2 – 3
1 – 1 – 0
41
1
Kanu-Slal.
4
1 – 0 – 0
0 – 0 – 1
8
2
Segeln
11
0 – 0 – 1
1 – 0 – 0
7
12
Boxen
11
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0
0
-
Ringen
18
0 – 1 – 0
0 – – 1
6,5
18
Fechten
10
2 – 0 – 0
0 – 3 0
20
3
Judo
14
1 – 0 – 0
0 – – 1
8,5
7
Taekwondo
8
0 – 0 – 0
0 – – 1
1,5
22
Gewichth.
15
1 – 0 – 0
0 – 0 – 0
7
5
Schießen
15
0 – 1 – 3
0 – 0 – 0
17
9
Bogensch.
4
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0
0
-
Tennis
4
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0
0
-
Tischtennis
4
0 – 1 – 0
0 – 0 – 0
5
3
Badminton
5
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0
0
-
Triathlon
2
1 – 0 – 0
0 – 0 – 1
8
2
Pferdesport
6
3 – 1 – 1
1 – 1 – 1
36,5
1
M. Fünfk.
2
1 – 0 – 0
0 – 1 – 0
9
1
Basketball
2
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0
0
-
Fußball
2
0 – 0 – 1
0 – 0 – 0
4
5
Handball
2
0 – 0 – 0
0 – 0 – 0
0
-
Hockey
2
1 – 0 – 0
1 – 0 – 0
10
1
Volleyball
4
0 – 0 – 0
0 – – 1
2
-
Baseball
1




Softball
1




GESAMT
302
16–10-15
14–16–8
310
Wie Olympia laufen lernte
Von HANS SIMON
Wer die Geschichte der Olympischen Spiele studiert, erfährt schon bald, dass sie ihre liebe Mühe hatten, „das Laufen zu ler-nen“. 1896 in Athen gaben sich die griechischen Sportfunktionäre – die wenigen, die es damals schon gab – alle Mühe, die Wettbe-werbe nach den ihnen bekannten Regeln abzuwickeln. 1900 in Pa-ris waren die Spiele eine ziemlich belanglose Unterabteilung der Weltausstellung und wurden demzufolge auch von deren Mana-gern in Szene gesetzt und kontrolliert. Vier Jahre darauf in St. Louis inszenierte man rein amerikanische Spiele, was Coubertin bekanntlich bewog, zu Hause zu bleiben. Die Spiele von 1908 in London darf man deshalb die ersten nennen, deren Wettbewerbe strikt nach – den britischen – Regeln ausgetragen wurden und selbst vor heutigen Kriterien bestehen könnten.
Das vielleicht überzeugendste Beispiel dafür dürfte der Marathon-lauf gewesen sein, dessen Report in dem 800 Druckseiten umfas-senden Offiziellen Bericht der Spiele auch die vorher an alle Teil-nehmer ausgegebenen Regularien enthält.
Dazu wäre auch zu bemerken, dass die Streckendistanz dieses Laufs am 24. Juli 1908 die noch heute verbindliche ist: 42,195 km ist. Zuvor war sie genau vermessen worden. So war jeweils sowohl für 1896 als auch für 1900 und 1904 eine Distanz von „um die 40 km“ angegeben. In London ging man bei der Vermessung gewis-senhaft vor, und zwar vom Ziel zum Start. In Eton hatte man die 40-km-Marke erreicht. Der Start aber sollte an der Ostterrasse des königlichen Schlosses in Windsor erfolgen. So kam eine gute Mei-le, exakt zwei Kilometer hinzu. Da das Ziel im Stadion vor der kö-niglichen Loge platziert werden sollte, wurden noch einmal 195 m hinzugefügt. Daraus ergaben sich 42,195 km, die übrigens erst ab 1928 als verbindliche Marathonstrecke galten.
Die schon erwähnte „Ausschreibung“ gab dennoch eine andere Streckenlänge an. Ich zitiere: „Der Marathonlauf (Von Windsor Castle zum Olympiastadion in Shepherd‟s Bush, wo 385 Yards auf der Aschenbahn bis zum Ziel unterhalb der königlichen Loge zu
genüber der königlichen Loge nach links. Die Totaldistanz beträgt 26 Meilen und 385 Yards oder 42,263 Kilometer.)“
Dieser Angabe folgt im hinterlassenen Bericht die Liste der Offi-ziellen. Hauptschiedsrichter war Lord Desborough. Ihm zu Seite standen 7 Schiedsrichter, 3 Zeitnehmer, Protokollanten und Offizi-elle, darunter der Bürgermeister von Windsor, außerdem 7 Ärzte und schließlich 6 Gepäckstewards.
Der Liste folgte der Streckenplan, der für jede Meile einen kon-kreten Punkt angab. Zum Beispiel: „Meile 8: Long Bridge, Uxbridge Moor … Meile 16: Auf der Pinner Road, gegenüber der Penhurst Villa … Meile 22: Unweit des Sechzig-Meilen-Steins im Stonebridge Park“.
Danach kam eine angesichts der damals noch so strengen Ama-teurregeln verblüffende „Werbe“-Mitteilung: „Der Verband nimmt mit großem Dank die Freundlichkeit der folgenden Firmen zur Kenntnis, die Autos für die Offiziellen stellten: S. F. Edge Ltd., The Car Supply Co.,Ltd. (A.J.Pinto Leete)…“
„DIE FOLGENDEN INSTRUKTIONEN WURDEN AN ALLE TEILNEHMER AUSGEGEBEN.
Der letzte Zug für Teilnehmer und Offizielle fährt 1.03 p.m. von Paddington.
Der Lauf wird nach den Regeln der A.A.A. ausgetragen.
Der Verband wird so weit als möglich für sanitäre Einrichtungen an der Strecke sorgen, übernimmt aber keine Verpflichtung, wes-halb die Teilnehmer veranlassen müssen, dass sich ihre Betreuer um die Versorgung kümmern müssen.
KLEIDUNG – Die folgenden A.A.A.-Regeln müssen strikt einge-halten werden – Jeder Teilnehmer muss komplette Kleidung von der Schulter bis zu den Knien (einschließlich Jersey-Ärmel bis zu den Ellbogen und lockere Hosen mit Slips) tragen. Jeder Teilneh-mer ohne korrekte Kleidung wird von der Teilnahme ausgeschlos-sen.
Die Teilnehmer werden aufgefordert, die linke Seite der Straße zu benutzen.
GEPÄCK – Die Teilnehmer müssen ihre Kleidung in einer Hand-tasche unterbringen und diesen Beutel bis 2 p.m. beim Gepäckwa-gen aufliefern. Jeder Beutel wird nummeriert und dem Betreuer ein Gepäckschein ausgehändigt. Dieser
wird und wenn er beim nächsten Hotel mit Umkleidemöglichkeiten abgeladen wird. Ein Spezialwagen folgt dem Rennen, das die Läu-fer befördert, die aufgegeben haben. Umkleidemöglichkeiten sind vorbereitet bei der Great Western Eisenbahn, Bahnhof Windsor, wo die Verantwortlichen freundlicherweise alle Warte- und Toilet-tenräume zur Verfügung gestellt haben.
STRECKE – Teilnehmer und Betreuer finden in den folgenden Hotels Möglichkeiten, sich zu waschen etc.
Iver Heath „The Crooked Billet‟
Uxbridge “King‟s Arms Hotel”
Ruislip “The Poplars”
“ “The George Hotel”
Harrow “Roxborough Hotel”
Sudbury “The Swan”
ERFRISCHUNGEN AN DER STRECKE – Die Oxo Company hat
Offizielle Lebensmittellieferanten benannt und wird die folgenden Produkte kostenlos für Teilnehmer zur Verfügung stellen: Oxo Ath-leten-Thermosflaschen mit Oxo für den sofortigen Verbrauch: Oxo heiß und kalt, Oxo und Soda, Reispudding, Rosinen, Bananen, Soda und Milch. Stimulanzmittel werden für den Fall von Kollapsen bereitgestellt. ANMERKUNG – Kölnisch Wasser und Schwämme werden von den OXO-Vertretern bereitgehalten, die in speziellen Erfrischungsständen an folgenden Positionen zu finden sind:
Ruislip „The Poplars“
Harrow „Railway Bridge“
Sudbury “The Swan”
Harlesden “Jubilee Clock Tower”
Umkleidemöglichkeiten im Stadion im Raum 28 für alle Teilneh-mer.“
Es folgte die Liste der 75 angemeldeten Teilnehmer.
„BAHNFAHR-MÖGLICHKEIT – Der Spezialzug für Teilnehmer und ihre Freunde verlässt Paddington 1.03 p.m. und erreicht Wind-sor 1.27 p.m.
DIE REGELN DES MARATHONLAUFS
1. Der Marathonlauf über 42 Kilometer wird gelaufen auf einer von der Amateur Athletic Association markierten Strecke auf öffent-lichen Straßen und endet auf der Laufbahn des Stadions, wo ein
2. Jeder Teilnehmer muss mit seiner Anmeldung ein medizini-sches Zeugnis einschicken, dass ihm die körperliche Fitness für die Teilnahme bescheinigt und muss sich außerdem vor dem Start ei-ner medizinischen Untersuchung durch den offiziellen Arzt oder von vom Britischen Olympischen Komitee ausgesuchten Ärzten un-terziehen.
3. Ein Teilnehmer muss augenblicklich das Rennen beenden, falls ihn ein Mitglied des medizinischen Stabes dazu auffordert.
4. Kein Teilnehmer darf am Start oder während des Rennens ir-gendwelche Drogen entgegennehmen oder einnehmen. Eine Ver-letzung dieser Regel führt zur sofortigen Disqualifikation.
5. Die Position jedes Teilnehmers am Start wird durch Los ent-schieden. Wenn die Zahl der Teilnehmer zu groß ist, um von einer Linie zu starten, werden zwei oder mehr Linien gebildet.
6. Jedem Teilnehmer werden zwei Betreuer zugestanden, die auf der Brust und auf dem Rücken die Startnummer des Teilnehmers tragen müssen.
7. Die Betreuer müssen sich während des Laufs hinter dem von ihnen betreuten Läufer bewegen oder so weit vor ihm, dass sie ihm keinen Schrittmacherdienst leisten können. Eine Verletzung dieser Regel führt zur Disqualifikation des Teilnehmers.
8. Betreuern wird es nicht erlaubt, den Start zu erleben. Sie müs-sen sich in einer Betreuerhalle in Windsor acht Kilometer nach dem Start aufhalten und können sich dort zu ihren Schützlingen gesel-len, wenn die diesen Punkt passieren. Vor dem Ziel im Stadion müssen die Betreuer ihre Schützlinge verlassen und durch eine spezielle Tür ins Stadion gehen. Kein Betreuer darf die Laufbahn betreten.
9. Jeder Teilnehmer, dessen Betreuer einen anderen Teilnehmer behindert wird disqualifiziert.
10. Jeder Teilnehmer muss seinen Betreuer selbst aussuchen.
11. Wenn ein Teilnehmer das Rennen
DOKUMENTATION / DISKUSSION
Nützlicher Gedankenaustausch
Von JULIUS FEICHT
Wir hatten in Heft 23 (Herbst 2006) einen Auszug aus Ju-lius Feichts Memoiren „Ich erinnere mich noch gut“ veröffent-licht, der ein breites Echo fand. In der renommierten Schwimm-Fachzeitschrift „DFSS Masters“ war eine Rezensi-on erschienen, auf die Feicht eine Antwort schrieb. Danach formulierte er einen ausgiebigen „Nachtrag“ zu den Kommen-taren und Anmerkungen, die ihn erreichten. Im Anschluss an die diesjährigen deutschen Senioren-Meisterschaften in Sin-delfingen – dort errang Feicht drei Titel - bat er die „Masters“-Redaktion auch diesen Nachtrag zu veröffentlichen. Die Ver-antwortlichen willigten ein und eröffneten damit eine Diskus-sion, wie sie im deutschen Sport bislang ohne Beispiel war. An dieser Stelle veröffentlichen die „Beiträge“ den „Nachtrag“ und auch den „Masters“-Vorspann im Wortlaut.
„Als uns folgender Beitrag in die Redaktion flatterte, wussten wir nicht so recht, wohin damit, Leserbrief, Historie, Buchbesprechung (die Rubrik Politik haben wir in der DFSS-INFO nämlich nicht). Er-staunt hat uns auch die neuerliche Zuschrift des Autors, denn in der letzten Ausgabe erhielten wir seine Zuschrift, in der er sich ehr-lich zu freuen schien, dass wir sein Buch gelesen und rezensiert haben. Offenbar siegte der Druck der Kommentare und Anmerkun-gen über die in der letzten Ausgabe geäußerte Altersweisheit.
Wir fragten uns, ob wir das richtige Forum für eine solche Veröf-fentlichung mehr politischer als sportlicher Natur seien – ebenso wie bei der Buchbesprechung, denn das Buch enthält politische wie sportliche Aussagen.
Nachdem sich Jule aber soviel Arbeit gemacht hat, taten wir ein Übriges, lasen den Text ein und formatierten ihn. Seien Sie aber versichert, dass keines unserer Redaktionsmitglieder jemals
Julius Feicht: Nachtrag
zu meinem Buch („Ich erinnere mich noch gut…“), den Kom-mentaren und Anmerkungen, die mich seitdem erreichten.
Zum einen: Niemand muss fürchten, dass ich einen dritten Band meiner Memoiren in Angriff nehme. Zum anderen: Es hat sich eini-ges angesammelt an Kommentaren und Bemerkungen, die mich bewegten. Dabei geht es vor allem um meine Haltung zur DDR. Die DDR und ihre Vergangenheit ist 18 Jahre nach ihrem Unter-gang zu einem Pro-Contra-Dauerthema geworden und da sich der Bundespräsident in den letzten Tagen gleich zweimal zu Wort mel-dete und die Bürger vor einer „Verklärung“ der DDR warnte, fühlte auch ich mich von ihm angesprochen. Er hatte mich ermuntert, nicht zu schweigen.
Das erste Echo zu meinen Erinnerungen war die Buchbesprechung in „DFSS Masters“ gewesen. Ich habe die Worte, die die beiden Verfasser darin dem Thema Sport und Politik gewidmet hatten, nicht gezählt, aber niemand konnte übersehen, dass Polemik den Vordergrund beherrschte. Man strapazierte das beliebte Bild, auf dem die DDR den Sport nur benutzt hatte, um damit Politik treiben zu können. Wer aber den heutigen bundesdeutschen Sport „unpoli-tisch“ nennen will, sollte sich flugs die „Anleitung“ beschaffen, die die Bundeszentrale für politische Bildung im Frühsommer 2008 al-len deutschen Lehrern anbot. Kernsätze: „Gerade der Sport und insbesondere der Fußball hat es - vor allem während der großen internationalen Turniere - immer wieder geschafft, ein Nationalgefühl bei Fans und Zuschauern zu wecken bzw. zu stärken. ... Baustein 4: `Wir´ werden Europameister! - Fußball und Nationalbewusstsein (Worin besteht die Faszination der Fußball-EM bzw. WM? Fußball schafft >nationales< `Wir´-Gefühl...)”.
Dies aber nur am Rande. Zunächst wäre festzustellen, dass Sport immer Teil der menschlichen Gesellschaft war und bleiben wird. Versteht man unter Sport nur Körperbewegungen dann wird ignoriert das der Sport, ebenso wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche des Lebens, Vorstellungen und Ziele der jeweiligen Ge-sellschaft reflektiert. Deshalb kann es ebenso wenig unpolitischen Sport geben, wie etwa eine unpolitische Wirtschaft oder unpoliti-sche Finanzen. Schwimmen an sich ist unpolitisch. Erst wenn man das
verbinden, kann es zu einer politischen Angelegenheit werden.
Nächster Punkt: Welche Bedeutung eine Regierung dem Sport und der Körpererziehung beimisst und wie sie ihre Vorhaben reali-siert, wird an ihren Gesetzen und Verordnungen erkennbar. Es ist ein rein objektives Gesetz, das Richtung, Interessen und Inhalte der Köpererziehung einschließlich der geistigen Erziehung durch die Politik, also die Regierenden bestimmt wird. Hier werden Inte-ressengruppen die von der Politik installiert wurden – Sammelbe-griff Lobbyisten - wirksam.
Die Einheit von Politik und Körpererziehung war schon in der griechischen Antike zu entdecken, aber auch auf anderen Erdtei-len. Den Hellenen dienten die Olympischen Spiele auch als Mittel der Erziehung von Athleten, die notfalls im Krieg nützlich sein konnten. Von den alten Griechen ist bekannt, dass sie mit dem Ur-teil „Er kann weder schwimmen noch lesen!“ einen ungenügend gebildeten Menschen kennzeichneten. Hier ist die Verbindung zwi-schen der physischen und der geistigen Bildung durch Literatur nachgewiesen. Bei den Hellenen galt, wer Kämpfen sollte, musste schwimmen können! Also wurden bereits in der Antike kampfstar-ke, körperlich trainierte Athleten auch zur Eroberung und Unterdrü-ckung anderer Länder und Völker missbraucht.
Das blieb nicht auf Europa begrenzt. In Japan hatte mich mal ein Mitglied des Präsidiums des Japanischen Schwimmverbandes über die Entwicklung des Schwimmsportes in Japan informiert. Den fragte ich nach den Samuraikriegern und erfuhr, dass die für die Überwindung von Festungsgräben speziell ausgebildet worden waren, damit sie die mit und ohne Schwerter überwinden konnten.
Die Preußen reformierten die Kampf-Ausbildung ihrer Soldaten auch durch Ernst von Pfeel, preußischer Ministerpräsident und Kriegsminister. Er errichtete 1810 in Prag und danach in der Nähe der Oberbaumbrücke in Berlin 1817 eine Flussbadeanstalt. Hier entstand eine spezielle Schwimmschule für die Ausbildung der Soldaten. Er sorgte dafür, dass auch Zivilisten dort trainieren durf-ten. Nach der Literatur sollen etwa 70.000 Militärangehörige und Zivilisten hier schwimmen gelernt haben. Überliefert ist auch, dass Schuljungen - nie Mädchen und Frauen - die die Spree hin und zu-rück überquerten, ohne „abzusaufen“, ein „Diplom der Schwimm-kunst" erhielten. Pfeel war übrigens derjenige
ser hielt. Er hatte die Bewegungen des Froschs als eine Art Vorbild deklariert. Es war die Grundlage für den Schwimmunterricht in Mili-täranstalten
Pfeel hinterließ viele Aufzeichnungen über das Schwimmen. Über die Angst vor dem Sprung ins Wasser notierte er: „Viele zo-gen ein langsames Hineingleiten vor, um den Kopf vor dem Unter-tauchen zu bewahren, andere sahen trübsinnig hinunter wie in„s Grab, und wurden blass und blässer …und einer schlug sogar ein großes Kreuz über sich, um christlich zu enden.“
Mir sind aus der Sowjetunion noch Schwimmbewegungen be-kannt, die ich nach 1945 bei sowjetischen Soldaten beobachtet ha-be. Diese Schwimmbewegungen ähnelten sehr dem früher auch in Deutschland bekannten Bewegungen des Seitenschwimmens. Äl-teren Schwimmern ist vielleicht noch bekannt, dass es ein Schwimmen mit der Bezeichnung „Hand über Hand“ gab, wobei die Hände wie beim Kraulschwimmen, die Beine aber in einer Art Kriechstoß bewegt wurden.
Das Schwimmen hatte auch bei der Ausbildung der Soldaten in der faschistischen Wehrmacht eine bedeutende Rolle gespielt. Aus eigenem Erleben kenne ich die „Kampfschwimmer“, einen speziel-len Kleinkampfverband. Wie ich bereits in meinen Erinnerungen geschrieben hatte, gehörte ich zu diesen „Kampfschwimmern“, hat-te aber das Glück nicht mehr zum Kampfeinsatz zu kommen. Übri-gens gab es in anderen Ländern auch solche Einheiten, die vor-nehmlich für Einsätze hinter der Front, bei der Versenkung von Schiffen, Sprengung von Brücken und Schleusen eingesetzt wur-den...
Der Einsatz von Schwimmern bei kriegerischen Handlungen ba-siert auf der physikalischen Erkenntnis, dass der menschliche Kör-per an der Wasseroberfläche bleibt. Ein Einsatz im Krieg setzte das Training von Schwimmbewegungen voraus, die im sportlichen Vergleich nicht benötigt wurden. Zur Ausrüstung der Kampf-schwimmer zählten spezielle Schwimmanzüge, Schwimmflossen, Atemgeräte für längeren Unterwasseraufenthalt und Unterwasser-sprengkörper.
Kampfschwimmer wurden auch nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt. So in Vietnam und im Irak-Krieg. Die USA begannen damit, Delphine zu trainieren und
se Flüchtlinge, So beklagten US-amerikanische Zeitungen 2006, dass Takoma, angeblich einer fähigsten Minensucher im Irak-Krieg spurlos im Golf verschwand.
Soviel zum kriegerischen Missbrauch des Schwimmsports.
Solche Vorwürfe wurden allerdings nie gegen die DDR erhoben, was sich leicht erklären lässt: Die DDR führte nie Krieg!
Nach Kriegsende war in der sowjetischen Besatzungszone alli-ierten Befehlen folgend der faschistische Reichsbund für Leibes-übungen (NSRL) verboten worden. Auch einige Sportarten waren als Kampfsportarten untersagt. Das führte zu mancherlei Verwir-rung. Boxen zum Beispiel war als Kampfsportart verboten, aber die Manager der Profiboxkämpfe beriefen sich darauf, dass es sich bei ihren Veranstaltungen eher um Varietè handele, was von der im Hinblick auf den Profisport ahnungslosen sowjetischen Administra-tion akzeptiert wurde. Nicht gestattet wurden von der sowjetischen Besatzungsmacht auch zonenweite Wettkämpfe. So gab es Schwimmwettkämpfe zunächst nur im kommunalen Rahmen. Erst im Lauf der Zeit entstand im Zusammenhang mit der Konstituie-rung einer Sportorganisation (Deutscher Sportausschuss) in der sowjetischen Besatzungszone eine Sektion Schwimmen, die als Vorläufer des Schwimmverbandes der DDR zu betrachten ist. Da-nach konnte mit dem umfassenden Neuanfang des Schwimm-sports begonnen werden. Es ging wohlweislich keineswegs nur um Wettkämpfe. Von Anfang an spielte der hohe gesundheitliche Wert des Schwimmens für die Gesundheit der Bevölkerung eine ent-scheidende Rolle. Dieses Bemühen war umso schwieriger, da von den wenigen in der sowjetischen Besatzungszone vorhandenen Hallen- und Freibädern auch noch einige den Bombenangriffen der Westmächte zum Opfer gefallen waren. Dass angesichts dieser Si-tuation bereits Anfang der 50er Jahre der obligatorische Schwimm-unterricht an den Schulen eingeführt wurde, verdient Hochachtung. Der Schwimmverband der DDR - damals offiziell die Sektion Schwimmen - erhielt die Möglichkeit in Verbindung mit dem Minis-terium für Volksbildung Lehrkräfte für den Schwimmunterricht aus-zubilden. Später wurde nicht nur das Unterrichtsalter an den Schu-len auf die unteren Alterklassen ausgedehnt, sondern auch die Verbreitung des Vorschulschwimmens gefördert, wobei das Minis-terium für Gesundheitswesen eine
den gesellschaftlichen Organen und den Parteien die gesundheitli-chen Aspekte des Sportes, besonders des Schwimmens, nach-drücklich gefördert.
Die verbindliche Losung „Jeder Mann an jeden Ort einmal in der Woche Sport“ wurde bald auf „mehrmals in der Woche Sport“ aus-gedehnt. Bei den imponierenden Turn- und Sportfesten spielte das Schwimmen eine gravierende Rolle.
Man muss sich bei denen, die ständig die DDR als „verklärt“ ausgeben daran gewöhnen, dass die Verbreitung des Schwimm-sports weder Losung noch Parole blieb. Regierung, Parteien und Massenorganisationen sorgten vereint dafür, dass „Schwimmen für alle“ zur Realität wurde - Tatsachen an denen man mit billigen Sprüchen nicht vorbei kommt. Diese Maßnahmen haben auch da-zu geführt, dass die Bevölkerung dieses Anliegen unterstützte. Die so oft strapazierte Behauptung, dass sich die Bevölkerung in der angeblich ungeliebten Gesellschaft in Nischen – auch „Schwimm-Nischen“ – floh, ist schlicht absurd. Und selbst, wenn die Bevölke-rung das Schwimmen aus „Protest“ gegen das „System“ förderte, würde niemand leugnen können, dass es sich um einen begrü-ßenswerten und der Gesundheit dienenden „Protest“ handelte, der von allen Seite nur zu begrüßen war. Einige Betriebe errichteten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zumindest kleine Schwimmhallen, in denen Kinder im Schwimmen unterrichtet wer-den konnten. Und wenn – wie man ständig belehrt wird – die DDR-Wirtschaft angeblich schon in den achtziger Jahren „zusammenge-brochen“ war, reichte die Potenz der volkseigenen Betriebe immer-hin noch dazu, auch Mittel aufzubringen, die dazu beitrugen, Kin-dern das Schwimmen beizubringen. Dass in der DDR auch in vie-len Sportarten internationale Spitzenleistungen angestrebt wurden – für viele gab es auch olympische Medaillen –, wäre höchstens zu verurteilen, wenn sich alle Welt inzwischen entschlossen hätte, künftig auf Rekorde zu verzichten. Aber weltweit Glanzleistungen anzustreben und der DDR anzulasten, dass sie dies mit aus-schließlich politischen Motiven tat, lässt die Absicht erkennen und verstimmt.
Vor allem aber: In der DDR hatte man erkannt, dass der Volks-sport die Quelle des Leistungssports ist. Der Volkssport war vor al-lem ein enormer
Teil der Volksgesundheit werden ließ. Die Frage kann nicht um-gangen werden, welche Chancen heute ein Arbeitsloser hat, sich ohne Arzt um seine Gesundheit zu kümmern? Wie könnte ein Hartz-IV-Empfänger seine sportlichen Ambitionen finanzieren? Wä-re er ein Spitzenschwimmer oder gar ein Fußballstar, wäre er stän-dig von Managern umringt, die ihm anböten, ihn mit beträchtlichen Gagen zu vermarkten. Die Kluft zwischen arm und reich wird auch im Sport täglich größer.
Wundert sich jemand, dass ich als Ex-Bürger der DDR von dem Staat, dem man mich „beitrat“ erwarte, dass er den gesundheitli-chen Nutzen des Schwimmens – vom Kleinkind bis ins hohe Le-bensalter, für Kranke wie Gesunde – allen ermöglicht, wie das die DDR zustandebrachte? Man sagt mir, dass die DDR „hoffnungslos“ verschuldet war. Ich will mich nicht zu den Schulden des Staates äußern, in dem ich jetzt lebe, aber wie brachte es ein derart ver-armter Staat zustande, dass alle Kinder kostenlos schwimmen ler-nen konnten? Auf die Frage weiß kaum jemand eine schlüssige Antwort. Man sagt mir, dass ich in einem „Unrechtsstaat“ lebte. Immer blieb allen das Recht, gesund zu leben und auch zu schwimmen, wenn ihnen das Spaß machte. Man sagt mir, dass wir alle „eingemauert“ waren. Man mag es als zynisch bezeichnen, wenn ich mir erlaube, zu erwähnen, dass man innerhalb dieser Mauern gesund leben konnte und niemand eine „Tafel“ suchen musste, auf der man ihm Mahlzeiten servierte, deren Verfallsdatum so nahe lag, dass die Discounter sie aussortieren mussten. Die Rezensenten meines Buches hatten geschrieben: „Dem Leser aus dem westlichen Deutschland, dem die Erziehung und Denkweise der DDR fremd ist, fällt eine Kritiklosigkeit gegenüber dem Regime auf. Jule Feicht hatte als Funktionär des DSSV der DDR das Privi-leg zu reisen. Er beschreibt seine Reise nach Kuba 1965: `Abends, manchmal auch um Mitternacht, lag ich im Wasser auf den Rü-cken, machte Toten Mann und betrachtete den sternklaren Nacht-himmel. Hier sah ich zum ersten Mal bewusst das Kreuz des Sü-dens´.
Und dann folgte die Frage der Inquisitoren: „Ob er hierbei auch einmal an seine Landsleute, eingemauert in der DDR gedacht hat?“
Und als ich das las, kam mir in den Sinn: Woran mag ich damals wirklich gedacht haben, denn ich wollte Frau Reinhard und Herrn
Waschhof doch eine ehrliche Antwort geben. Ich könnte zum Bei-spiel daran gedacht haben, was die Bundesrepublik Deutschland bewogen haben mochte, ihren Bürgern zwar das Reisen zu erlau-ben, aber auch den mörderischen Boykott Kubas durch die USA zu unterstützen? Oder dachte ich daran, dass meine bundesdeut-schen Trainerkollegen vielleicht gerade ein paar hundert Kilometer entfernt in Florida am Strand „Toten Mann“ machten? Oder dass ich beim Blick auf den Stern des Südens an die Ureinwohner Ku-bas dachte, die von den Eroberern ermordet worden waren und nicht ahnen konnten, dass die, die nach ihnen auf dieser Insel leb-ten von den USA ausgehungert werden sollten? Das klingt auch wieder zynisch? Was glaubt man, wie zynisch die Fragen der Re-zensenten klangen. Zynismus schwindet nicht, wenn man ihn täg-lich wiederholt.
Erwähnen muss ich vor allem noch, dass ich in einem Land leb-te, das nie einen Krieg führte. Welches Land könnte das noch von sich behaupten?
An Freiheit soll es in der DDR gemangelt haben, warf man mir vor. Ich kannte einen bundesdeutschen Kollegen recht gut, der un-längst zu Grabe getragen wurde. Er hieß Oskar Nolze, war Schwimmtrainer in Bonn und wurde durch Haftbefehl in der BRD gesucht, weil er sich für einen freien Sportverkehr zwischen beiden deutschen Staaten eingesetzt hatte. Das wurde ihm als illegale Fortsetzung der Tätigkeit der durch Urteil des Bundesverfassungs-gerichts verbotenen KPD ausgelegt und um nicht einige Jahre im Knast zuzubringen, floh er. Wohin? In die DDR“
Ja, wenn die Geschichte der beiden deutschen Staaten „aufge-arbeitet“ werden sollte, dann müsste man es gründlich tun. Man kann keine 100-m-Disziplin gewinnen, wenn man nur 50 m schwimmt,
Ich war und bin ein aufgeschlossener Mensch auch heute noch mit 86 Jahren. Ich wiederhole: Mir ging es bei der Darlegung mei-nes Lebens um die Beschreibung einer zweifellos bewegten Zeit. Das tat ich zugegebenerweise nicht in dem Stil, in dem dies BILD täglich tut. Möglich, dass die Gewöhnung an BILD den Blick meiner Rezensenten trübte. Dass jemand mein Buch las und zuweilen ei-ne andere Meinung als ich empfand, gilt für jedes Buch. Immer werden sich Erfahrungen von Lesern von denen der Autoren unter-scheiden, aber mit Sprüchen aus BILD wird man solchen Mei-
nungsunterschieden nicht beikommen können.
Es blieben noch einige Vorwürfe, die sie gegen mich erhoben, ohne sie zu belegen: 1. Ich hätte den „Schießbefehl“ nicht erwähnt. Welchen? Etwa den, der Zollbeamte an der bundesdeutschen Westgrenze dazu brachte Kaffeeschmuggler zu erschießen, was schon am 1. Oktober 1952 in der Sitzung des Bundestages in Bonn erörtert worden war? Oder den, der dazu führte, dass Menschen nach 1990 an der Grenze zwischen Polen und der BRD zu Tode kamen? Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Jeder To-te oder Verletzte an einer Grenze ist zu bedauern, aber dies allein der DDR anlasten zu wollen, ist Demagogie!
2. Sie unterstellen, ich sei in der DDR „degradiert“ und „geschasst“. Ich bedanke mich für ihr Mitgefühl mit einem DDR-Opfer, aber ich war keins!
3. Sie unterstellen, ich habe der DDR „nachgeweint“. Stimmt nicht. Ich bin allerdings auch nicht bereit, die DDR nachzuverleumden.
4. Sie versichern, ich hätte Positives für die Menschen ge-tan, die unter den Bedingungen wie ich in der DDR gelebt haben, in dem ich eine gute Arbeit im Schwimmsport für Jung oder Alt leistete. Ich danke Ihnen, kann aber nicht umhin im gleichen Atemzug festzustellen: Der Sozialismus, ein in der ganzen Welt verbreitetes Ideal, setzt sich das Ziel, das Leben für die Menschen lebenswerter zu machen. Das ist nicht ein-fach. Bert Brecht schrieb über den Kommunismus: „Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig./ Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit./ Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen / Wir aber wissen: / Es ist das Ende der Verbrechen. … Es ist das Einfache / Das schwer zu machen ist.“ Das halte ich für kluge und treffende Worte – kein Wunder bei Brecht.
Ich habe den Kapitalismus in meiner Kindheit erlebt, den Faschismus mit den Millionen von Toten, das Elend das die-ser auch über das Deutsche Volk gebracht hat, die DDR und jetzt die Bundesrepublik, die bei ihrem Beginn enorme Start-hilfe, nicht uneigennützig, vom amerikanischen Kapital erhal-
ten hat. Und nun sollten Sie mir gestatten, das ich mich für das, was mich meine Lebenserfahrungen lehrten, entscheide. Oder darf ich das nicht? Zumal Sie ja dieser Gesellschaft auch anlasten, dass in ihr „beileibe keine idealen Bedingun-gen herrschen“.
Ganz zum Schluß noch eine Bemerkung zur „sportlichen Langlebigkeit“. Ich habe sowohl in amerikanischer wie in sow-jetischer und australischer Fachliteratur gelesen, das eine sportliche Langlebigkeit bis zum Leistungszenit, nach 8 bis 10 Jahren erreicht, und darüber hinaus gehalten werden kann. Was dann noch möglich ist, hängt vornehmlich, vom persön-lichen Wollen, dem Gesundheitszustand, nicht physischen und psychisch ausgebrannt zu sein und natürlich von den Lebensbedingungen ab. Ich spreche nicht von der Möglich-keit einer sportlichen Langlebigkeit unter guten finanziellen Möglichkeiten, bei denen die sportliche Langlebigkeit ihre ökonomische Grundlage im Elternhaus hat oder unter den Voraussetzungen eines „Schwimmprofis“. Zu meiner Zeit galt schon der Schwimm-Meister am Beckenrand als Profi. Ich kenne sowohl die Leistungen von Dawn Fraser, Roland Matthes die über mehrere Olympische Perioden an der Welt-spitze schwammen. Und ich kenne auch die Leistung der amerikanischen Schwimmerin Dara Torres (40), die neun Monate nach der Geburt ihrer Tochter in Berlin 2007 beim Weltcup die 100 m Freistil in 0:52,79 schwamm.
Von den heutigen Voraussetzungen sprach ich schon. Im Staat mit sozialistischen Grundzügen ist die sportliche Lang-lebigkeit nur dann gewährleistet, wenn der Staat die Persön-lichkeitsentwicklung der Schüler und Schülerinnen ökono-misch garantiert. Nicht nur ökonomisch: Die DDR sicherte den sportlichen Repräsentanten einen hohen Bildungsgrad und der wiederum ist Voraussetzung für erfolgreiche berufli-che Tätigkeit. Ich leugne nicht, dass es in der BRD viele zah-lungskräftige Sponsoren gibt, aber Zuzahlungen sichern noch keine berufliche Entwicklung. Sportliche Langlebigkeit ist vor-
nehmlich eine Frage der ökonomischen Voraussetzungen.
Wenn es auch immer wieder schwerfällt, Vergleiche BRD und DDR zu ertragen, kann ich nicht darauf verzichten, da-rauf zu verweisen, dass durch den obligatorischen Schul-schwimmunterricht etwa 96 % der Kinder in der DDR das Schwimmen erlernten. Vergleichszahlen stehen nicht zur Ver-fügung, dürften aber kaum darüber liegen.
Und Doping? Auch die Zeit, da man DDR-Ärzte vor Gerich-te zerrte und lauthals behauptet wurde, die DDR habe ihre Erfolge allein ihrer – natürlich von der „Stasi“ dirigierten – Pharmaindustrie zu verdanken, ist längst vorüber. In den 18 Jahren seit dem Untergang der DDR habe ich unzählige Do-pingskandale erlebt, aber kaum einen spektakulären Prozess gegen diejenigen, die sie inszeniert hatten. Bundesdeutsche Konzerne, deren Athleten darin verwickelt waren, strichen ih-re Zahlungen und niemand warf ihnen vor, wider die Moral gehandelt zu haben. Deshalb: Verzichtet bitte auf Eure Vor-würfe und Anklagen und Denunziationen. Auch Antikommu-nismus nutzt sich ab.
Oder ich zitiere besser Albert Einstein: „Es ist leichter ein Atom zu zertrümmern als eine vorgefaßte Meinung.“
Ende Juni 2008
Nachsatz der Redaktion „DFSS Masters“: Wie wahr! Hier-mit möchten wir die Diskussion um dieses Thema beenden und wenden uns wieder dem Masters-Schwimmsport und dessen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu.
Die Redaktion
Noch Probleme mit Pfeil und Bogen
Von STEFAN LEHMANN
Was kaum jemand glauben mag: 18 Jahre nach dem Zusammen-schluss der beiden deutschen Staaten gibt es noch Sportarten, de-ren Verbände sich bis heute nicht vereinigt haben. Das gilt zum Beispiel für die Bogensportler dieses Landes. Vielleicht sollte man noch anmerken, dass „Bogenschießen“ schon von 1900 bis 1920 zum olympischen Programm gehörte – 1904 sogar eine der ersten Sportarten war, die Frauen, damals offiziell „Damen“, zuließen – und seit 1972 wieder im olympischen Programm zu finden ist. In-des: Ich befasse mich weniger mit den olympischen Medaillen die-ser Sportart, als mit dem Geschehen in deutschen Landen und bin ziemlich sicher, dass nur wenige die Situation, die oft sehr diffizil war, kennen.
Erwähnt werden muss als erstes: In der DDR hatten sich die Bo-gensportler, wie in vielen anderen Ländern weltweit, in einem eige-nen Sportverband organisiert. Eine Ausnahme bildete die BRD.
In den 50er Jahren gab es an vielen Orten der DDR Interessierte, die sich für das sportliche Bogenschießen begeisterten. Sie bilde-ten eines Tages eine Interessengemeinschaft und schließlich im Oktober 1959 den Deutschen Bogenschützen-Verband (DBSV).
Der Verband wurde sofort Mitglied im Deutschen Turn- und Sportbund und war dort von nun an für alle Belange des Bogen-sports zuständig. 1961 erfolgte die Aufnahme in die internationale Bogensportorganisation, die Fédération Internationale de Tir à l'Arc (FITA). In den 60er Jahren nahmen DDR-Sportler an zahlreichen internationalen Meisterschaften teil. Die Sportart entwickelte sich zügig und der Verband war völlig selbständig.
Allerdings ließ ihn die Entscheidung des DTSB, die verschie-denen Sportarten unterschiedlich zu fördern in die „Kategorie II“ geraten, was zur Folge hatte, dass die DDR in den 70er und 80er Jahren nicht mehr an Welt- und Europameisterschaften teilnahm. Dieser Beschluss, der verständlicherweise nicht unseren Beifall fand, ist in der jüngsten Vergangenheit so oft von Unbeteiligten kommentiert und erörtert worden, dass ich darauf verzichte, darauf einzugehen. Ungeachtet dieser Entscheidung hatte sich der natio-nale Wettkampfbetrieb intensiv entwickelt und besonders im Kin-
der- und Jugendbereich war es uns gelungen, vielfältige Formen der Leistungsvergleiche zu gestalten, die mit großer Unterstützung von Betrieben und zuständigen Einrichtungen zu einer beachtli-chen Resonanz der Sportart führten. Kinder- und Jugendver-gleichswettkämpfe wurden organisiert und ein Jugendverbands-pokal für Bezirksauswahlmannschaften ausgetragen. Ähnliches gilt für den Erwachsenenbereich, in dem ein umfangreiches Wett-kampfsystem bis hin zu einer gut funktionierenden Oberliga einge-richtet worden war.
Unter großen Anstrengungen war auch gemeinsam mit der Sportartikelindustrie an einer immer umfangreicheren Bereitstel-lung der Sportgeräte gearbeitet worden. Den Besten konnten auch Ausrüstungen zur Verfügung gestellt werden, die dem internationa-len Standard entsprachen. Der Unterschied zur BRD offenbarte sich vor allem darin, dass dort die Funktionäre des Deutschen Schützenbundes (DSB) das Sagen hatten. Sie „vertraten“ generell auch die Bogensportler. Dass der Bogen gar keine Waffe ist und bei Schützen und bei Bogensportlern sowohl die Material- als auch die Wettkampfbedingungen grundverschieden sind, wurde nicht in Rechnung gestellt.
Da der Bogensport – wie schon erwähnt – seit 1972 wieder zum olympischen Programm gehört, flossen seitdem wieder Fördermit-tel, die dem DSB gut taten.
Aber die allgemeinen Regeln des Schützenbundes, die für die verschiedenen Waffen gelten, galten – bis auf die direkten Wett-kampfregelungen –, auch für die Bogensportler. Jede Änderung, die zum Beispiel durch die internationale Bogenschützenföderation FITA beschlossen wird, muss in der BRD erst durch den Gesamt-sportausschuss des Deutschen Schützenbundes genehmigt wer-den, ehe sie wirksam werden kann. Dass der Verband „selbstver-ständlich“ von Schützen dominiert wird, liegt auf der Hand.
Und damit wird auch dem Laien klar, was sich tat, als die DDR in die Bundesrepublik Deutschland eingegliedert wurde: Auch das Sportsystem der BRD war für das Beitrittsgebiet verbindlich. Eine der Schlussfolgerungen lautete: Jede Sportart wird im DSB und im NOK künftig nur mehr durch einen, nämlich den westdeutschen Verband vertreten. Und damit galt für uns: Dies ist im Fall der Bo-gensportler der Deutsche Schützenbund. Beide Verbände waren aber selbständige Mitglieder in der FITA.
Im Oktober 1990 entsandte der DBSV eine Mannschaft zu den FITA-Weltmeisterschaften im Feldbogenschießen nach Göteborg. Es traten dort also plötzlich zwei deutsche Nationalmannschaften an. Die FITA entschied, dass für sie nur der nationale Verband Mit-glied sein kann, der auch die Disziplin im Nationalen Olympischen Komitee vertritt. Alles weitere sollte im Land geklärt werden. Und damit strich die FITA ohne weitere Begründung den DBSV aus ih-rer Mitgliederliste. Aber der DBSV ging nicht unter!
Es hatte unmittelbar nach der Öffnung der Grenze Kontakte zwi-schen Bogensportlern beider deutscher Staaten gegeben. Bundes-deutsche Bogensportler erkannten sehr schnell, dass mit der Exis-tenz eines weiterhin selbständigen Bogensport-Verbandes mit DDR-Tradition für sie eine Chance bestehen würde, der Schlinge des Deutschen Schützenbundes zu entkommen.
So entstand der Entschluss, den DBSV als bundesweiten Ver-band zu etablieren. Die logische Folge: In einigen westlichen Bun-desländern wurden neue Landesverbände des DBSV gebildet. Die Neugründung als „Deutscher Bogensport-Verband 1959 e.V.“ als Nachfolger des DBSV der DDR fand am 2. März 1991 in Rüssels-heim statt. Dieser Deutsche Bogensport-Verband entwickelte sich zunehmend zum gesamtdeutschen Verband, der inzwischen über Landesverbände in 13 von insgesamt 16 Bundesländern verfügt. (Der Deutsche Schützenbund ist immer noch nach seinen traditio-nellen Regionen organisiert.)
Die inzwischen über 5.000 Mitglieder des Bogensport-Verbandes betreiben ihren Sport in einem Wettkampfprogramm, das sie selbst entwickelt haben. So wurde bereits 1992 mit Erfolg eine Bundesli-ga auf der olympischen 70-m-Distanz entwickelt. Der Deutsche Schützenbund zog ein paar Jahre später mit einer Bundesliga in der Halle nach. Der DBSV ist dank seiner halbjährlich stattfinden-den Sportausschussberatungen in der Lage, schnell auf Verände-rungen und Wünsche zu reagieren, und diese umzusetzen. So gibt es nach Altersklassen getrennte Deutsche Meisterschaften. Dabei kann das Programm nach den Wünschen der Aktiven gestaltet werden, und auch kleinere Vereine haben die Chance, eine Deut-sche Meisterschaft auszurichten. Darüber hinaus gibt es Deutsche Meisterschaften in Disziplinen, die der Deutsche Schützenbund gar nicht anbietet und bisher auch kein Interesse zeigte, diese zu ent-wickeln. Bereits Anfang der 90er Jahre fanden Gespräche mit füh-
renden Vertretern des Deutschen Schützenbundes statt, auch weil der Deutsche Sportbund endlich eine Einigung der beiden Verbän-de gefordert hatte. Der Vorschlag, einen eigenständigen Bogen-sportverband unter dem Dach des Schützenbundes zu etablieren, wurde aber kategorisch abgelehnt, vielleicht weil man befürchtete, dass andere Sparten im Schützenbund dem Beispiel folgen und die Funktionäre an Einfluss verlieren könnten. Immerhin wurde verein-bart, dass es keinerlei Diskriminierungen von DBSV-Mitgliedern im Deutschen Schützenbund im Fall einer Doppelmitgliedschaft geben dürfe. Das hat sich aber wohl noch nicht bis in alle Landesverbän-de herumgesprochen, denn bis heute gibt es durchaus „Aktivitäten“ im Schützenbund gegen DBSV-Mitglieder, und zwar in den ver-schiedensten Variationen. Zum Beispiel wird dabei der Umstand ausgenutzt, dass Fördermittel der Landessportbünde (LSB) nur über deren Mitgliedsverbände verteilt werden.
In den neuen Bundesländern, wo zumeist die DBSV-Landes-verbände ordentliche Mitglieder in den Landessportbünden sind, geschieht das so gut wie nie. Übrigens wurde auch der Landesver-band des DBSV in Rheinland-Pfalz inzwischen in den Lan-dessportbund mit allen Rechten und Pflichten aufgenommen. In Baden-Württemberg erzwang der DBSV-Landesverband durch Ge-richtsentscheid, als Mitglied in den Landessportbund aufgenom-men zu werden. In Hessen dagegen wurde der Antrag auf Auf-nahme des DBSV-Landesverbandes in den LSB Hessen mit mas-siven Angriffen des Hessischen Schützenbundes auf die Bogen-sportvereine beantwortet. Dort gab es in der Vergangenheit inten-sive Bestrebungen, Sportlern und Trainern die Förderung zu ent-ziehen, wenn sie an DBSV-Veranstaltungen teilnehmen.
Es gibt aber auch durchaus positive Entwicklungen. So haben in den letzten Jahren Gespräche beider Leitungen stattgefunden, um die Zusammenarbeit im Interesse unserer Sportart effektiver zu gestalten. In beiden Lagern geschieht das zwar nicht ohne Wider-stände, aber man kommt voran. So wurden vom Deutschen Schüt-zenbund auch meine internationalen Aktivitäten als Kampfrichter unterstützt – durchaus bei Kenntnis meiner Aktivitäten im DBSV. Ebenso wurden bei den Weltmeisterschaften im Bogenschießen 2007 in Leipzig die Bogensportler des DBSV mit einbezogen. So wurde diese WM zu einer der bestorganisierten der letzten Jahre. Eine Einladung des Vorstandes des DBSV führte zu fruchtbaren
Gesprächen und neuen Vereinbarungen. Dabei soll nicht ver-schwiegen werden, dass deren Realisierung allerdings auf sich warten lässt. Der Schützenbund geht natürlich immer davon aus, dass er allein die Nationalmannschaften zu internationalen Meis-terschaften entsendet, muss aber dabei oft die Vielfalt des Wett-kampfprogramms des DBSV berücksichtigen. Hinzu kommt, dass der DSB nur ungern auf die Fördermittel, die es für olympische Disziplinen gibt, verzichtet. Außerdem kann er über das Bogen-schießen Jugendliche gewinnen, was ihm bei den Waffen das Ge-setz verbietet. Oder: Die sich international entwickelnde Wett-kampfform des Bogenlaufens (eine Art Sommer-„Biathlon“) wird in Abstimmung mit dem DSB durch den DBSV organisiert.
2005 entsandte der DBSV eine Auswahlmannschaft zum Europa-Cup nach Holland, nachdem der 1. Europa-Cup ein Jahr zuvor durch unseren Sportverband in Berlin ausgerichtet worden war.
Es gibt also wieder Entwicklungen aufeinander zu. Der Bogen-sport findet in der Bevölkerung in den letzen Jahren zunehmendes Interesse, wobei das olympische Bogenschießen nicht im Vorder-grund steht. Das traditionelle Bogenschießen auf Scheiben und auch auf Tierscheiben im Gelände findet ein sehr reges Interesse. Wir merken das bei den entsprechenden Wettkämpfen und Deut-schen Meisterschaften des DBSV auf diesem Gebiet. Viele Bogen-sportler, die vorher nur Mitglied des DSB waren, fanden so den Weg zum DBSV.
Diese Tatsache bestärkt uns in dem Willen, weiter konsequent für die Interessen der Bogensportler zu wirken. Bis zu einer Vereini-gung ist es aber noch ein langer und steiniger Weg, auch weil sich der Deutsche Schützenbund vornehmlich für Aktivitäten begeistert, von denen er Vorteile für sich erwartet.
Wir gehen aber davon aus, dass es sich lohnt, unsere Bemühun-gen fortzusetzen. Dabei ist und bleibt der umfangreiche und gut or-ganisierte Wettkampfbetrieb das wichtigste, denn nur damit können wir die Sportlerinnen und Sportler überzeugen. Ebenso wichtig ist es, weitere Funktionäre der Landessportbünde und des DOSB da-von zu überzeugen, dass der DBSV mit seinen Möglichkeiten un-verzichtbar für die Entwicklung des Bogensports in Deutschland ist, und die damit erreichte Breite auch zu der erwünschten internatio-nalen Spitze führt.
40 Jahre Dresdner SG der Versehrten
Von HERMANN DÖRWALD
Am 13 Mai 1969 fand im Festsaal der Bezirksdirektion der Deut-schen Post Dresden die Gründungsfeier der ersten eigenständigen Sportgemeinschaft Versehrte Dresden (SGV) statt. Eingeladen hat-te dazu der Bezirksfachausschuss Versehrtensport Dresden (BFA), der als Gäste den Vorsitzenden des DTSB-Kreisvorstandes, den Referenten für Körperkultur und Sport beim Rat der Stadt Dresden und den Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Blindenverban-des (ADBV) begrüßen konnte. Grußadressen zu dieser Grün-dungsfeier hatten übersandt: der Vorsitzende des FDGB-Bezirksvorstandes Dresden, der ADBV-Stadtvorstand, der Direktor des Sportmedizinischen Rehabilitationszentrums Kreischa sowie das Präsidium des Deutschen Verbandes für Versehrtensport (DVfV) und die BSG Chemie Leipzig.
Die SGV Dresden war an diesem Tag als eine Sportgemeinschaft im DTSB gegründet worden und wurde finanziell unterstützt vom FDGB-Kreisvorstand und vom Rat des Bezirkes Dresden, Abtei-lung Gesundheitswesen. Das heißt, die SGV war insofern eigen-ständig, da kein Trägerbetrieb verantwortlich war und damit auch keine finanziellen Mittel aus einem Kultur- und Sozialfonds zur Ver-fügung standen wie in den Betriebssportgemeinschaften (BSG). Die Leitung der SGV lag in den bewährten Händen des Sport-freundes Herbert Winkler, Mitarbeiter im DTSB-Bezirksvorstand. Als förderndes Mitglied begleitete Frau Prof. Dr. Herforth, Rektorin der Technischen Universität Dresden (1965-1968) und Mitglied des Staatsrates der DDR, die SGV. Es nahmen zunächst fünf Sektio-nen ihre Arbeit auf: Gymnastik der Blinden-Frauen, Körperschule und Gehschule für Beinamputierte, Schach für Blinde, Leichathletik und Schwimmen, vorerst nur für körperbehinderte Kinder.
Die Eigenständigkeit der SGV und damit ihr Modellcharakter für die weitere Entwicklung des Sports waren entscheidend dafür, dass der Gründung eine längere Vorgeschichte vorausgegangen war. Als ich im Dezember 1959 zum Vorsitzenden des Bezirks-fachauschusses (BFA) Versehrtensport berufen wurde, waren die Sportgruppen der Gehörlosen und der Blinden durch ihre Sozial-verbände, den Allgemeinen Deutschen Gehörlosenverband
(ADGV) und den Allgemeinen Deutschen Blindenverband (ADBV), gut organisiert in Sektionen der Nichtbehinderten in Betriebssport-gemeinschaften etabliert. Die körperbehinderten Sportler waren nur in kleinen Sportgruppen oder als Einzelsportler Mitglieder in den BSG, zum Beispiel die Schwimmer und Sitzballer bei der BSG Lo-komotive Dresden oder der BSG Einheit Dresden-Mitte. Leichtath-leten, Tischtennisspieler und Kegler trainierten mit nicht Behinder-ten in verschiedenen Sportgemeinschaften.
Ab 1960 bemühte sich der BFA Versehrtensport Dresden, insbe-sondere Körperbehinderte für den aktiven Sport zu gewinnen. Trotzdem sank aber ihre Mitgliederzahl von ca. 280 auf 178 im Jahr 1967 und damit auf den bis dahin tiefsten Stand. Die Entwick-lung schien zu stagnieren. Außerdem lehnten es manche Betriebs-sportgemeinschaften ab, weitere Versehrtensportgruppen aufzu-nehmen, da ihre Kapazitäten für eine Erweiterung des Sportbetrie-bes ausgeschöpft waren. Infolge dieser Situation stellte sich der BFA Versehrtensport Dresden das Ziel, eine eigenständige Sport-gemeinschaft für Versehrte zu gründen, als ein Modell für territorial organisierte Sportgemeinschaften für Versehrte, zum Beispiel in den Kreisstädten des Bezirkes Dresden. Nach mühevoller Kleinar-beit und mehreren Verhandlungen mit verschiedenen staatlichen und gewerkschaftlichen Organen und den Vorständen des DTSB konnten trotz „Pro und Kontra“ die Voraussetzungen für solch eine eigenständige SGV geschaffen werden, wie wir sie schließlich in Dresden gründeten. Und das obwohl nicht nur viele Fragen zu klä-ren waren, sondern zunächst auch eine konsequente Ablehnung unser Vorhaben beinahe verhindert hätte. Gefragt wurde zum Bei-spiel: Ist die Gründung solch einer SG überhaupt mit dem Statut des DTSB vereinbar? Woher sollen die finanziellen Mittel kommen – ohne Trägerbetrieb? Wer soll die Sektionen, die Sportgruppen der Versehrten betreuen?
Aber die SGV wurde schließlich – trotz aller Einwände – unter-stützt von allen verantwortlichen Organen und Institutionen ge-gründet und die vollbrachten Leistungen konnten sich sehen las-sen. Zu den sportlichen Höhepunkten im Leben der Sportgemein-schaft Versehrte Dresden gehörten im ersten Jahrzehnt ihres Be-stehens u.a. 1974 der Leichtathletik-Länderkampf DDR – CSSR. Der Nationalmannschaft gehörten damals von der SGV Hermann Dörwald, Helmut Falz, Claus Günther, Horst Köbisch, Jochen Le-
derer, Christian Schlicke als Aktive an und Herbert Winkler als Mannschaftsleiter sowie Hans Franke als Betreuer. Der Sieg der DDR-Mannschaft öffnete den Weg für die Teilnahme an den II. Weltspielen der Behinderten 1975 in Saint Etienne / Frankreich. Die kleine Mannschaft bestand aus drei Leichtathleten, drei Schwimmern und drei Tischtennisspielern – darunter Christian Schlicke und Hermann Dörwald von der SGV Dresden. Beide Ath-leten der SGV errangen in der Leichtathletik Goldmedaillen und mit der 4x50-m-Staffel im Schwimmen noch eine Silbermedaille. Seit 1975 wird zudem jährlich mit Versehrten von Banik Ostrava ein Städtekampf im Tischtennis, Kegeln und in der Leichtathletik aus-getragen.
Das erfolgreichste Spartakiadejahr erlebte die SGV 1977. Die Dresdner sorgten für eine der größten Überraschungen und sieg-ten bei der Spartakiade der körperbehinderten und sehgeschädig-ten Kinder und Jugendlichen im Wettbewerb der Bezirke des Lan-des und verwiesen die sieggewohnten Mannschaften der Bezirke Berlin und Leipzig auf die Plätze.
Schon nach dem ersten Jahrzehnt ihres Bestehens konnte die SGV Dresden stolz auf das insgesamt Erreichte zurückblicken. Denn sie hatte – trotz aller Zweifel und Zweifler – nachgewiesen, dass sie mit mehr als 200 Mitgliedern in acht Sektionen lebensfähig war und neben dem Wettkampfsport durch vielfältige Angebote auch den Breitensport förderte. So konnte – zum Beispiel – mit Hil-fe von Herrn Dr. med. Pätzug eine Sportgruppe für Querschnittsge-lähmte gebildet werden, die dann als Sektion Rollstuhlsport in der SGV wirkte. Ende 1989 gehörten der SGV insgesamt 260 Mitglie-der an.
Nach 1990 veränderte sich der Status der SGV. Sie wurde einge-tragener Verein mit neuer Satzung. Nun wurde das Angebot erneut erweitert durch Möglichkeiten für den Rehabilitationssport. Unter der Leitung von Dr. med. Dutschke wurde eine Herzsportgruppe gebildet, die inzwischen die mitgliederstärkste Sportgruppe der SGV ist, deren spezielle Bewegungsprogramme durch Fachvorträ-ge begleitet und ergänzt werden. Später kam außerdem eine Selbsthilfegruppe für Tumorpatienten dazu, in der vor allem Frauen unter Anleitung einer Physiotherapeutin an der Wassergymnastik und an speziellen Gymnastikprogrammen teilnehmen.
Auch der Wettkampfsport in der SGV konnte nach 1990 erneut
seine Leistungsfähigkeit nachweisen. Christa Gebhardt errang bei den Europameisterschaften im Tischtennis die Silbermedaille und 1992 bei den Paralympics in Barcelona die Bronzemedaille in ihrer Schadensklasse. 1995 bei den Europameisterschaften in Däne-mark wurde sie Vizeeuropameisterin im Einzel und im Doppel und 1997 war sie Sportlerin der Stadt Dresden.
An den Leichathletik-Weltmeisterschaften der Behinderten 1998 nahmen von der SGV Sven Conrad und Annett Kadner teil, die Vi-zeweltmeisterin im Speerwerfen der Armamputierten und noch im selben Jahr zur Behindertensportlerin der Stadt Dresden gewählt wurde. Für die Paralympics 2000 nominierte der Deutsche Behin-dertensportverband (DBS) wiederum Sven Conrad und Annett Kadner sowie zusätzlich Siena Christensen, die im Kugelstoßen die Bronzemedaille errang.
Die SGV Dresden erwarb sich außerdem Vertrauen und Ansehen durch die Ausrichtung von sportlichen Großveranstaltungen, zum Beispiel durch die DDR-Meisterschaft Leichathletik des DVfV 1973, die Deutsche Seniorenmeisterschaft des DBS 1996, die deutsche Meisterschaft im Sitzball des DBS 2003 oder das Länderpokaltur-nier im Sitzball des DBS 2008.
1994 hatte Herbert Winkler nach 25jährigem erfolgreichen Wirken seinem Nachfolger Torsten Roscher die Leitung der SGV überge-ben. Die Mitgliederzahl war weiter angewachsen, neue Sektionen waren gebildet und 1998 die Sitzballer des Dresdner Sportclubs (DSC) von der SGV übernommen worden, so daß im Jahr 2000 mehr als 500 Mitglieder unserer Sportgemeinschaft angehörten, in-zwischen sind es 474 Mitglieder. Und zurückblickend auf die 40 Jahre des Bestehens der SGV ist es sicher nicht vermessen fest-zustellen: Dank des systematischen und zielorientierten Wirkens aller, der Aktiven, der Übungsleiter und Verantwortlichen, ist sie zu einem Zentrum des Behinderten- und Rehabilitationssports in Dresden geworden.
Wir mischen uns ein
Von ERHARD RICHTER
Es hieße Eulen nach Athen zu tragen, wollte man hier den Weg und die Erfolge des Freundeskreises der Sport-Senioren beschrei-ben. Ein Jubiläum ist der Anlass, eine knappe Bilanz zu ziehen.
Als das Licht in der Storkower Straße (viele Jahre Sitz des Bun-desvorstandes des DTSB) ausging und viele verdienstvolle Sport-funktionäre und Trainer über Nacht auf der Straße standen, ent-stand jener Freundeskreis, dem heute 145 Sportfreundinnen und Sportfreunde angehören.
Bewahrenswertes sollte erhalten werden und vor allem wollten wir uns in schweren Stunden gegenseitig unterstützen, um unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen den richtigen Weg zu finden. Nicht alle, die einst im DDR-Sport tätig waren, ka-men zu uns. Bei manchem waren Enttäuschung und Resignation stärker als die Sympathie für eine Gemeinschaft der Gemeinsam-keit, andere wechselten sogar die Seiten. Unsere Devise: „Runter die Hände und hoch den Kopf“ bewährte sich. Heute besteht unser Freundeskreis nahezu 19 Jahre. Olympiasieger gehören ihm an, Weltmeister, Trainer, Wissenschaftler, Sportfunktionäre, auch viele Kolleginnen und Kollegen, die rund um die Uhr jene „kleinen Dinge" erledigt hatten, ohne die der DDR-Sport nie groß geworden wäre.
Für die erste Herausforderung unseres Freundeskreises sorgte das von der Regierung Kohl verabschiedete Rentenüberleitungs-gesetz, das uns grobe finanzielle Hiebe versetzte. Rentenkürzun-gen waren mit dem Vorwurf der „Staatsnähe" motiviert worden. Zu-gegeben, wir standen der DDR nahe und hatten unsere Arbeit mit viel Einsatz geleistet. Die Abstrafung aber ließen wir uns nicht bie-ten. In Briefen, Eingaben, Widersprüchen und Klagen bei den So-zialgerichten kämpften wir im Rechtsstaat ums Recht und noch heute ist es nicht erfüllt.
Nach dem Rentenstrafrecht wurde die Dopingkeule geschwun-gen. Gerichte wollten durch Schuldsprüche der Welt weismachen: Die DDR hatte ihre sportlichen Triumphe nur Pillen zu verdanken, die man den Athleten in die Frühstücksmilch gerührt hatte. Allen Ernstes wurde die Rückgabe der Olympiamedaillen gefordert, und Rekorde sollten annulliert werden. BRD-Instanzen, mobilisiert von
der Bundesregierung, verpulverten Millionen Steuergelder für diese juristische Kampagne gegen den DDR-Sport. Hunderte Juristen und Kriminalisten sollten in den Zentren des Leistungssports Do-ping-Beweise aufspüren. An 800 ehemalige Leistungssportler wur-den Fragebögen verschickt in der Hoffnung, dass sie Trainer oder Mediziner denunzieren. Das war einmalig in der deutschen Justiz-geschichte! Ermittelt wurde am Ende gegen 900 Trainer, Ärzte und Sportfunktionäre. Hausdurchsuchungen fanden statt und schließ-lich wurden neun Prozesse inszeniert. Sieben Prozesse dauerten nur wenige Stunden. Insgesamt fällten die Gerichte 18 Freiheits-strafen mit Bewährung und 33 Geldstrafen. Bei keinem dieser Pro-zesse konnte der gerichtsmedizinische Beweis eines Körperscha-dens nachgewiesen werden.
Der Gutachter Prof. Rietbrock aus Lemgo verwahrte sich sogar in einem Brief an den Vorsitzenden Richter, Bräutigam, gegen das Vorgehen des Gerichts und erklärte, dass Feststellungen in der Ur-teilsbegründung im Widerspruch zu seinem Gutachten stünden.
Die Vertreter unseres Freundeskreises halfen zusammen mit an-deren Instanzen die Wahrheit über diesen Kreuzzug zu verbreiten.
Die Pflege der Sport-Geschichte und die Würdigung verdienstvol-ler Sportler waren weitere Betätigungsfelder unseres Freundes-kreises. In zwei Veranstaltungen zum 100. Geburtstag und zum 60.Todestag der Ermordung Werner Seelenbinders wurden in Ber-lin-Neukölln Werner Seelenbinders gedacht. Das Bezirksamt Neu-kölln wurde überzeugt, nach fast 50 Jahren die Rückbenennung des Sportparks in „Werner-Seelenbinder-Sportpark" vorzunehmen. Mit dem Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf konnte die Rückbenen-nung der Schwimmhalle in „Helmut-Behrendt-Schwimmhalle“ er-wirkt werden.
Vor breiter Öffentlichkeit wurde der 50. Jahrestag der Gründung des DTSB zu einem Höhepunkt unserer Arbeit.
Solidarität bewies unser Freundeskreis mit dem Eiskunstlauftrai-ner Ingo Steuer aus Chemnitz. Nach jahrelanger Hetzjagd, wegen seiner IM-Tätigkeit, sperrte ihm das Innenministerium der Bundes-regierung jegliche finanzielle Unterstützung. Reisekosten musste er aus der eigenen Tasche bezahlen. Die Angehörigen des Freun-deskreises sammelten 900,00 Euro, um ihm den Flug nach Tokio zur Weltmeisterschaft zu finanzieren.
Gegenwärtig konzentriert sich unser Freundeskreis, gemeinsam
mit der Arbeitsgruppe Sport der GRH, auf die inhaltliche, materielle und teilweise finanzielle Unterstützung der bestehenden Sportmu-seen in Frankfurt(O.) und in Kleinmühlingen. Das Friedensfahrt-museum in Kleinmühlingen konnte am 24. November 2007 seine Pforten öffnen. Über 1.000 Gäste wohnten der feierlichen Eröff-nung bei. In diesem Haus wird die Geschichte der Friedensfahrt umfassend gewürdigt. Horst Schäfer und auch Gustav-Adolf Schur gehören zu den Gründungsvätern und Hausherren.
Im Aufbau befinden sich Sportmuseen in Berlin-Marzahn, Leipzig (das einst in Leipzig vorhandene zentrale Sportmuseum des DTSB fiel 1990 dem Abwicklungswahn zum Opfer) und Strausberg. Wir sehen unsere Aufgabe darin, Bewahrenswertes zu erhalten, und die wahre Sportgeschichte der DDR zu dokumentieren.
Zur Öffentlichkeitsarbeit gehört die Herausgabe des Informa-tionsorgans „Der Sport-Senior“. (Bisher 41 reguläre Ausgaben und sieben Sonderdrucke) mit einer Gesamtauflage von knapp 25.000 Exemplaren.
Schließlich soll auch noch erwähnt werden, dass zum Programm unseres Freundeskreises Vortragsveranstaltungen, Wanderungen, Ausflüge und inzwischen traditionelle gesellige Zusammenkünfte gehören. Für viele wurde der Freundeskreis so zur Begeg-nungsstätte, zu einem Forum des Gedankenaustausches, der ge-genseitige Hilfe und der Gemeinsamkeit. So soll es auch künftig bleiben.
„Reporter“ Karl Mundstock (†)
Am 31. August starb, 93 jährig, der Schriftsteller Karl Mundstock. Der in der fortschrittlichen deutschen Literatur hoch angesehene Autor hatte eine Leidenschaft: Radsport. So kam es, dass er 1965 als Kommentator zum Friedens-fahrt-Reporterteam des „Neuen Deutschland“ stieß und ein „Tagebuch“ schrieb. Wir erinnern an den überzeugten Kom-munisten mit einigen seiner damaligen Texte.
„Es war einzigartig; es war einmalig! Ich hab„ gefroren wie ein, junger Hund, aber ich hab„ zu unserm Bürgermeister gesagt: Max, wir bleiben draußen, bis wir zusammenbrechen.“ Der das sagt, ist einige Jahre älter als ich, einige Jahre älter in der Partei, einer aus der unübersehbaren Kette ehrenamtlicher Helfer, die von der Idee „Friedensfahrt“ aus ihrem Alltag in den ungewöhnlichen Rausch dieses ungewöhnlichen Rennens gerissen worden sind. Freilich, diese Worte habe ich ihm im Laufe unsres Gesprächs herausge-lockt, denn er spricht nicht von sich, Walter Hase, Parteisekretär von Mittelherwigsdorf, in der Uniform der Freiwilligen Feuerwehr, Mitglied des Elternbeirates auch und, ich hab„s vergessen, wovon noch.
Er nennt nur, die Namen der andern, darum sei sein Name für al-le genannt. Bis in die späte Nacht haben sie gegen den Sturm um ihren Triumphbogen gekämpft. Endlich hatten sie ihn mit starken Seilen gesichert, nahmen eine Mütze voll Schlaf und wurden am frühen Morgen aus den Betten geholt: Windschief stand der Bogen über der Straße. Von da an gab es keine ruhige Stunde mehr. Die Sachen, kaum getrocknet, waren im Nu wieder pitschnaß auf dem Leibe, Genosse Hase nahm sich einen Tag seines Jahresurlaubs und stand „bis zum Umfallen, frierend wie ein junger Hund“.
So spielte im Stadion von Königs Wusterhausen das Orchester der Grenztruppen unverdrossen in strömendem Regen. So kämpf-te ein junger Volksarmist mit der Regenplane, die der Wind ihm immer wieder entreißen wollte, kippte ein anderer das Wasser aus den Stiefeln, wrang die Socken aus. „Häng sie auf, der Wind pustet sie trocken“, frozzelten seine Kameraden. So öffnete die Besat-zung einer Feuerwehr einen Gully; und fegte und schob um die
Wette, denn von oben kam es herunter, als habe der Himmel ein Meer angestaut und plötzlich alle Deiche weggerissen. Und sie alle tun, als sei der verbissene Kampf mit dem Unwetter ein Spaß.
Der junge Kradfahrer unsrer Volkspolizei lächelt jedesmal, wenn er sich umschaut, mögen Wind und Regen sein rotes Gesicht noch so sehr peitschen. Auf der Strecke nach Bautzen eine Rote-Kreuz--Helferin und ein Roter-Kreuz-Helfer, bibbernd, unter einer Decke, einander erwärmend: Stiftet die Friedensfahrt junges Liebesglück?
Halb erstarrt steigt Klaus Ullrich vom Motorrad in den Wagen, um den neuen Stand des Rennens von seinen Notizzetteln abzutippen. Er berichtet vom unverwüstlichen Rudi Kirchhoff: „Wenn der bei dem Mistwetter wenigstens über die freien Flächen wegbrausen würde, nee, da nimmt er eine Hand vom Lenker, hält sie an den Mund und dreht den Kopf: `Schlechtet Wetter heute, wat?´“
***
Nach all dem Regen und Sturm endlich Sonne, heiterer Himmel. Es geht hinab und hinab. Der Tacho zeigt hundert Stun-denkilometer an. Vier Minuten hinter dem Feld sind wir abgefahren. Mir wird unheimlich. Zwanzig Kilometer schon jagen wir hinter den Fahrern her, erreichen das steilste Stück der Abfahrt. Warnschilder mit Totenköpfen am Straßenrand: Höchste Gefahr! Der Wagen bremst. Es geht in eine Stadt hinein. Die letzte scharfe Kurve, und dort steht Piessens, der Belgier. Schlüsselbein gebrochen. Er steigt in den vorsorglich bereitgestellten Krankenwagen. Ein Arzt ist bei ihm. Heute morgen noch rief mir Piessens zu: „Ca va!“ („es läuft gut“). Das sind die kleinen Tragödien vor den Kulissen der jubeln-den Zuschauer, unter dem Lächeln eines blauen Himmels.
Unter blühenden Apfelbäumen, zwischen saftgrünen Wiesen geht es nach Teresin hinein. Die Zuschauer stehen in dichtgedrängten Spalieren, vom ersten Hause an bis zum letzten... Keine Lücke mehr, in die sich jemand hineinzwängen kann.
Schlote rauchen, die eines neuen Chemiewerkes, nicht der Men-schenöfen des KZ Theresienstadt. Wer im vorbeisausenden Pulk hat Zeit, daran zu denken, daß dort, wo abseits der Straße ein Gar-ten voll Rosenstöcke grünt, auch einst Schilder mit Totenköpfen standen: „Es wird ohne Anruf scharf geschossen!“ Kilometer weiter ein Richtungsschild: Lidice. Die Jagden des Rennens gestatten nur
eine flüchtige Minute lang sich zurückzuerinnern, was in Lidice ge-schah. An der Straße Kinder, mit bunten Tüchern, mit Blütenzwei-gen. Dann in Prag auf einem Sockel der erste sowjetische Panzer, der in die Stadt eindrang, die Verbrechen von Theresienstadt und Lidice zu sühnen, die Straßen freizuräumen, auf denen die Frie-densfahrt rollt. Und auch hier die Spaliere der Menschen, von Bei-fall brausend, jedes Stückchen freier Fläche ausfüllend.
Und wieder frage ich mich: Ständen sie hier wegen eines beliebi-gen Rennens Schulter an Schulter, Brust an Rücken in den Orten und an den Kreuzungen der Landstraßen, von Cinovec bis Prag, wie Mauern rechts und links entlang den Chausseerändern, den Bürgersteigen, von den Bordschwellen bis zu den Fassaden anei-nandergepreßt, so daß niemand in ein Haus hineingelangen kann? Welch herzbewegende Macht besitzt das eine Wort: Frieden.
***
Nach sieben Etappen ist es mir noch immer nicht gelungen, der Organisation verlorenzugehen. Schuld daran ist die Kennziffer, die komischerweise Evidenznummer heißt und überall aufgedruckt und angehängt ist. Vergessen hat man nur, sie allen von Stab und Troß auf den Rücken zu heften, wie den Fahrern die Startnummern. Das untrügliche Kennzeichen des „Directeur“ ist es, die Hände in den Hosentaschen zu verpacken. Man stelle sich vor, der Götterrat, genannt Jury, verlautbarte durch den Sprechfunk: „Monsieur le Di-recteur, s„il vous plait, nehmen Sie die Hände aus den Hosen-taschen.“ „Evidenznummer K 201, Hände aus den Hosentaschen“, klänge weniger kompromittierend.
Auch Dank dem „Informator“, der Broschüre, die angeblich alles enthält, was der Teilnehmer wissen muß, blieb ich der Organisation bis jetzt noch erhalten, obwohl mein Directeur allmorgendlich be-hauptet, „Du weißt ja wieder nicht, was los ist. Ich stelle fest, du hast den Informator wieder nicht gelesen.“ Ich hatte, daran lag es.
Das schmälert nicht den unschätzbaren Wert des in vier Spra-chen gehaltenen Informationsblattes als Gedächtnisstütze für die eingespielte, inmitten eines bunten Chaos, worin du verloren war-test, mit der Präzision eines Hochleistungsautomaten arbeitenden Organisation. Sie ist dank einem Heer freiwilliger Helfer so voll-kommen, daß ich es erst nach der 6. Etappe schaffte, mich zur
Siegerehrung durchzuschmuggeln. Diese findet im Speisesaal der Mannschaften beim Abendessen statt. Jeder Teilnehmer hat je-doch ein großes Abzeichen BPW mit einem Schildchen, das seine Funktion bezeichnet, und die Ordner am Saaleingang wiesen mich dem Speiseraum für die Presse zu. Die Rennfahrer (nicht „Radfah-rer“), wie im Informator zu lesen steht - Radfahrer bin ich zu Hause mit meiner „Mühle“ - die Rennfahrer würden keinen Bissen in Ruhe kauen können, stürzte sich der Mückenschwarm der Presseleute auch noch beim Abendessen auf sie.
So sind wir bei der wichtigsten Person angelangt, der Verpfle-gungsministerin Lilo. Sie hat mich bisher immer satt gekriegt, und das will allerhand heißen. Man bekommt von ihr einen Block mit den Abschnitten für sämtliche Mahlzeiten, Lebensmittelpäckchen und Hotelzimmer von Berlin bis Warschau. Das einzige, was man zu tun hat und nicht versäumen darf: den Seesack mit der Evi-denznummer bis acht Uhr morgens auf den Flur zu stellen. Im üb-rigen heißt es warten. Am ersten Tag ist das chaotische Gewimmel auf dem Vorplatz des Hotels interessant, am dritten hat man her-ausbekommen, daß trotz der Anarchie alles wie am Schnürchen läuft, und am fünften hat man eine Nase dafür, wann wirklich losge-rast wird.
***
Dresden. VEB Herrenmode. Die Trikolore ist aufgezogen. An den Fenstern die Köpfe der Frauen; und Mädchen. Maurice Beriet, Spaßvogel der französischen Equipe steigt auf einen Elektrokar-ren, setzt sich die Mütze des Fahrers auf. Während der Tour durch die Fabrikräume reißt er immer wieder ab und muß „herange-schleppt“ werden. Er setzt sich an die Nähmaschine. Überläßt die jedoch bald wieder der Schneiderin. Seine Nähkunst reicht offen-sichtlich nicht aus. Dafür hat er, um so mehr „Zwirn in den Beinen“. Er kam in Dresden als fünfter der Etappe durch das Ziel.
Oft werden die französischen Freunde angehalten. Tüchtige Bri-gaden haben ihre Tagebücher zur Hand. Mehr noch bleiben sie von sich aus stehen. Kreischen, juchzen - eine Eidechse schlängelt sich über das Band. Monsieur Puguette von der Sportzeitung L'Equipe - in der Friedensfahrerfamilie mit seinem roten Peugeot altbekannt - ist diesmal der Spaßvogel. Galant überreicht er die bei
der Begrüßung empfangenen Rosen, der erschreckten Zuschnei-derin. Nach den Blondinen schauen sie aus, die übermütigen jun-gen Arbeiter, Bauern und Angestellten aus Paris, der Normandie, der Bretagne, der Cote d„Azur.
Im Klubraum. Die Mademoiselles, die zum Lohn für ihre Leistun-gen ausgewählt sind, an der Begegnung teilzunehmen, sehen aus wie frisch vom Friseur gekommen. Der Raum erweist sich als zu klein. Stühle werden zwischengeschoben. „Sur les genoux“ („auf den Schoß“), ruft Maurice. Geschenke werden überreicht, Be-stecke mit den Wappen der Etappenstädte. Die französischen Freunde geben Wimpel mit ihren Namenszügen. Dann werden Au-togramme eingeholt. Nicolas und Svertvaeger haben ihren festen Preis - einen Kuß (auf die Wange). Auf dem Flur wird getanzt. Desvages in seinem blauen Olympiadreß räkelt sich im Sessel, Beine ausgestreckt, schon ganz Miteigentümer eines solchen Be-triebes. Papa Oubron, Vater der Equipe, spricht: „…uns fehlen Sonne und Wärme. Bei euch haben wir sie gefunden, durch ihre Liebheit, durch den Charme der jungen Damen.“
„Il faut aller“, es ist Zeit aufzubrechen. Aber noch läßt man die Freunde nicht hinaus. Die Lehrlinge bitten sie zu sich. Papa Oubron (er war dereinst viermal Weltmeister im Querfeldein) läßt anfragen, ob die „chers amies“ der Mannschaft die Mützen enger nähen möchten. Von allen Lippen ein einziges „Jaa!“ Zum unwider-ruflichen Abschied findet Papa Oubron Worte, die ins goldene Buch der Friedensfahrt gehören: „Ihr jungen Menschen vertretet die Zukunft eures Landes. Alle meine Wünsche sind mit Euch, und ich umarme Euch.“
***
Eisiger Winter war. Auf dem Appellplatz eines Wehrmachtslagers in Polen waren die deutschen Soldaten im Karree angetreten. In der Mitte ein Galgen, aus rohen Balken gezimmert. Ein scharfes Kommando. Die Hacken knallen zusammen. Scharfer Ostwind. Die hinteren Reihen vernehmen nur Wortfetzen von der peitschenden Stimme: „...rasseschänderisches Verhältnis ... Verrat an Führer und Reich ... aus der Wehrmacht ausgestoßen...” Ein junger Deut-scher in Uniform ohne Rangabzeichen, Hände auf dem Rücken ge-fesselt, wird von Feldgendarmen einen Podest hinaufgestoßen. Ei-
ner legt ihm die Schlinge um den Hals. Das Verbrechen des Ge-hängten: Er liebte eine Polin.
Schwedenzelt aus Sperrholzplatten. Bullernder Kanonenofen. Jemand erzählt: „Rabenschwarz war das Aas. Eine halbe Stunde hat sie noch geschrieen...” Zur Ehre des andern, des antifaschistischen Deutschlands, sei gesagt, daß der „Kamerad”, der sich in nicht wiederzugebenden Ausdrücken seiner Heldentaten beim Einfall in Polen brüstet, das Einschußloch im Rücken hatte, als er fiel. Noch aber gibt es Tausende solcher „Kameraden” im wilden Westen der Soldatenzeitungen und Landsmannschaften, und sie beziehen dort Kriegsverbre-cherpensionen.
Und nun fahren wir das Gebirge hinauf auf die polnische Grenze zu, Die Grenze. Ein Blasorchester spielt. Die Zuschauermenge klatscht, Hier winkt man nicht soviel, auch wird nicht soviel gerufen. Die Menschen an den Fenstern; auf den Dächern, am Straßenrand klatschen. Es geht eine lange Serpentine durch dichten Fichten-wald hinauf. Felder kommen. Bäuerinnen sind von der Feldarbeit herbeigekommen, lassen ihre Geräte stehen und klatschen. Eine Mutter im Frühlingskleid ruft ihren Kindern zu: „Klatscht doch, klatscht!“
Ein junges Mädchen, blond, schlank; wirft Kußhändchen. Mäd-chen in blauen Schürzenkleidern mit weißen Kragen, blitzsauber, schwenken Fähnchen mit den Farben aller am Rennen beteiligten Nationen, mit den Farben der DDR. Eine alte Frau mit abgearbeite-ten Händen windet einen Eimer aus dem Brunnen herauf, für die Fahrer der DDR. Und wenn einer unserer Jungen in einem Stadion der polnischen Volksrepublik das Podest besteigen sollte, dann werden ihm Blumen gereicht,
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Heute nehme ich nicht an Erich Hagens (Fahrer des ND-Begleitwagens. A.d.H.) wilden verwegenen Jagden teil. Ich fahre im Schlußwagen. Wir sind weit hinter dem Feld. Kein Fahrer zu se-hen. Es regnet. Wir erreichen drei Kubaner. Es geht durch eine ein-tönige Gegend einen „Pickel“ hinauf. Bei der Abfahrt holen die drei einen Dänen ein. Er hebt die Hand, steigt zu uns ein, wird in De-cken gehüllt. Schuhe und Socken werden ihm ausgezogen. Es ist
Nils Baunsoe. Oft hat Hagen ihm aus dem Fenster zugerufen „Mach los, Nils!“ In Berlin hat er versichert: „Einen Etappensieg ho-le ich mir.“ Er humpelt. Eine Knieverletzung.
Nach ihm steigt der Kubaner Torres ein. Dann Fischer, der Elekt-romonteur aus Luxemburg. Fischer leidet unter Hämorrhoiden. „Im vergangenen Jahr, weißt du“, erzählte er, „hatte ich auf der ersten Tour ein geschwollenes Knie, bin aber nicht gleich ausgestiegen und konnte fast die ganze Saison hindurch nicht fahren.“ „Du bist DDR?“ fragte er mich und plaudert weiter. „Ich habe am Ruhetag mit der DDR-Mannschaft trainiert. Sie haben es schwer. Alle fahren gegen sie, hängen sich an die weißen Trikots, lassen sie nicht vor-bei.“
Noch ein Kubaner steigt ein, Lizano. Noriega „kurbelt“ allein. „Er gibt nicht auf, wir kommen im Dunkel im Stadion an“, sagt Nils. Fi-scher beugt sich zu mir vor: „Die Friedensfahrt ist einmalig. So et-was gibt es nicht zum zweitenmal auf der Welt. Auf der Tour de l„Avenir, wenn da die ersten Fahrer durch sind, gehen die Leute nach Hause. Hier stehen sie und klatschen, bis der letzte durch ist.“
Wir kommen zur Prämie. Der Schlußwagen holt die Schilder und Transparente ein. Als wir Noriega wieder erreichen, sucht Nils ihn durch Gesten zum Einsteigen zu bewegen. Er schüttelt den Kopf, hat sogar ein Lächeln übrig. Zwischen zwanzig und dreißig Stun-denkilometern trudelt er vor uns her zum Bufett. Nils öffnet die Tür, ruft: „Komm herein!“
Noriega winkt ab. Er fährt auf den letzten 15 Kilometern ein Ren-nen sozusagen hinter Motoren. Aber nicht regelwidrig. Drei Miliz-Kräder und ein Blaulichtwagen brausen voraus, räumen für ihn die Straßen ins Stadion frei. 19.45 Uhr treffen wir ein.
Wie starb Albert Richter wirklich?
Von RENATE FRANZ
Die Kölner Autorin Renate Franz hatte 1998 ein Buch im Herman-Josef-Emons-Verlag-Köln unter dem Titel „Der ver-gessene Weltmeister – Das rätselhafte Schicksal des Rad-rennfahrers Albert Richter“ veröffentlicht, das sich mit dem Leben und Sterben des Radweltmeisters von 1932 Albert Richter befasste. Wir hatten dazu im Heft 19 (Herbst 2004) ein Gespräch mit ihr veröffentlicht. Wir hatten die Hoffnung, dass der weitgehend ungeklärte Tod Richters irgendwann von zuständigen Instanzen „aufgearbeitet“ würde, erfuhren aber, dass sich in dieser Hinsicht wenig getan hat, konkret nichts. Um noch einmal an Albert Richter zu erinnern, veröf-fentlichen wir im folgenden mit Einverständnis der Autorin das Vorwort und die letzten beiden Kapitel des Buches.
VORWORT
Im August 1990 zeigte die ARD die Dokumentation `Auf der Su-che nach Albert Richter – Radrennfahrer´ von Raimund Weber und Tilmann Scholl. Andreas Hupke und ich waren fasziniert von der Lebensgeschichte des fast vergessenen Kölner Bahnradprofis, der 1932 Weltmeister der Amateurflieger wurde, in den folgenden Jah-ren zur Weltelite der Berufssprinter gehörte und 1940 unter myste-riösen Umständen im Gefängnis von Lörrach ums Leben kam.
Wir recherchierten und erfuhren, daß es in Köln weder eine Stra-ße noch eine Gedenktafel noch irgendeine andere bleibende Erin-nerung an Albert Richter gab - außer seinem Grab auf dem Ehren-felder Friedhof. Nach monatelangen Überlegungen stellten wir im Oktober 1991 den Bürgerantrag, die damals noch in Bau be-findliche Radrennbahn in Köln-Müngersdorf nach dem vergesse-nen Sohn der Domstadt zu benennen.
Was wir damals nicht wußten: Schon wenige Wochen nach der Ausstrahlung des Films hatten zwei begeisterte Radsportler, Jür-gen Kissner und Werner Schleicher, den ersten Schritt getan und bei der Sportverwaltung der Stadt Köln die Benennung der Rad-rennbahn nach Albert Richter angeregt - und waren abschlägig be-schieden worden. Dem jetzt gestellten Bürgerantrag, über den hin-
gegen der Rat der Stadt Köln zu entscheiden hatte, wurde stattge-geben: Im Juni 1995 beschloß der Hauptausschuß, der neuen Sportstätte den Namen Albert Richters zu geben. Im April 1996 wurde die `Albert-Richter-Bahn` offiziell eingeweiht, die letzte Ru-hestätte des Sportlers ein Jahr später zum Ehrengrab der Stadt Köln erklärt.
Im Laufe der Jahre, in denen wir bei Politikern, Funktionären und interessierten Bürgern für diesen Bürgerantrag geworben hatten, entstand bei uns die Idee, ein Buch über Albert Richter zu verfas-sen. Denn die Benennung des Radstadions nach dem Kölner Sportler verlangte unserer Meinung nach die Beantwortung man-cher Frage: Wer war Albert Richter? Wie und warum starb er?
Diese Dokumentation, die über Jahre recherchiertes Informati-onsmaterial und die Ergebnisse zahlreicher Gespräche mit Zeit-zeugen zusammenfaßt, möchte Antworten auf diese Fragen ge-ben. Sie erzählt nicht nur Stationen aus dem Leben Albert Richters, sondern vermittelt auch ein packendes Kapitel der Kölner Stadt- und Radsportgeschichte - eine Zeit, in der der Radsport die Mas-sen faszinierte wie heute Fußball oder Tennis.
Während dieser radsportverrückten Ära in den 30er Jahren ge-hörte Albert Richter zu den Stars der Renn-Ovale - als Sieger bei zahlreichen Bahnklassikern und als Weltmeister. Doch Starallüren waren ihm fremd: Er galt als ein ausnehmend liebenswürdiger und bescheidener Mann.
Richter stand den Nationalsozialisten kritisch gegenüber, und er wagte es, in seinem persönlichen Umfeld Widerstand gegen das Regime zu leisten. Nach seinem Tod schrieb das damalige Organ des Deutschen Radfahrer-Verbandes `Der Deutsche Radfahrer´ voller Häme: `Sein Name ist für alle Zeit in unseren Reihen ge-löscht.´
Wie konnte es geschehen, daß dieser vernichtende Urteilsspruch der Nationalsozialisten über Jahrzehnte hinweg seine Wirkung be-hielt? Die Recherchen gestalteten sich schwierig: Persönliche Do-kumente Albert Richters sind rar. Es existiert zwar ein Nachlaß bei einem Privatsammler, dieser ist uns jedoch nicht zugänglich ge-macht worden. In den Akten des NS-Staates taucht Richters Name nach unseren Erkenntnissen kaum auf. Wichtige Akten der Gesta-po in Köln und Lörrach wurden vernichtet. So waren wir hauptsäch-lich auf die Aussagen von Zeitzeugen angewiesen, die sich jedoch
oftmals befangen zeigten. Betroffenheit und Schuldgefühle standen da - mehr als 50 Jahre nach Richters Tod - dem Wunsch nach Auf-klärung über geschehenes Unrecht im Wege. Wir waren immer wieder gefordert, eine mitunter schier unmögliche Unterscheidung zwischen Tatsachen und Legendenbildung zu machen.
Köln, im September 1998, Renate Franz
WIE STARB ALBERT RICHTER WIRKLICH?
Das abschließende Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft Lörrach aus dem Jahr 1967 stand auf tönernen Füßen: Die Juristen hatten sich mit dem allzu Offensichtlichen zufriedengegeben, Fragwürdigkeiten ignoriert. Die untersuchenden Beamten in Lörrach beschränkten sich im wesentlichen darauf, den von Ernst Berliner gegebenen Hinweisen zu folgen, ohne dabei eigene Er-mittlungswege zu gehen. Sie taten das Mindeste, mehr aber auch nicht.
Als problematisch ist die kritiklose Übernahme von Behörden-Dokumenten aus der NS-Zeit anzusehen. Daß selbst amtliche Pa-piere in höherem Interesse manipuliert gewesen sein könnten, lag für die bundesdeutschen Staatsdiener rund zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs offenbar nicht im Bereich des Möglichen.1) Zudem hatte sich eine Reihe von Widersprüchen und Ungereimtheiten ergeben.
1) Am 14. September 1966 machte die Kriminalaußenstelle Lörrach in einem ersten Bericht die bemerkenswerte Feststellung: `Da die Einlieferung in der Gerichtshaftliste vermerkt wurde, kann - was aber nicht sicher ist -, angenommen werden, daß der Genann-te entweder ausgeschrieben war oder ein Haftbefehl vorlag.´
2) In der Todesmeldung des Amtsgerichts an das Lörracher Standesamt vom 4. Januar 1940 stand, Albert Richter sei am 2. Januar 1940 zwischen 20 und 22 Uhr ums Leben gekommen. Das Standesamt übernahm diese Zeitangabe.2) Im Gefangenenbuch aber war als Todeszeit 9 Uhr 30 am nächsten Morgen angege-ben3).
Das bedeutet entweder, daß Richter am 3. Januar morgens tot aufgefunden worden war und dann festgestellt wurde, daß er schon rund zwölf Stunden tot war - oder, daß die zeitliche Lücke zwischen Richters letzter Begegnung mit dem Vollzugsbeamten und seiner wirklichen Todeszeit geschlossen werden mußte.4)
3) In der Meldung des Amtsgerichts vom 4. Januar fehlt die An-gabe zur Todesursache. Erst in der standesamtlichen Urkunde vom 12. Januar 1940 ist `Tod durch Erhängen´ angegeben. In der Rubrik `Todesfälle´ des `Lörracher Standesamtsberichts´ aber taucht Albert Richter gar nicht auf.
4) Auffällig ist die Struktur des Zeugen-Aufgebots: Diejenigen Personen aus Richters persönlichem und sportlichem Umfeld, die etwas über seinen Tod und einen möglichen Verrat gewußt haben könnten, wurden gar nicht oder nur ansatzweise befragt - wie Jo-hann Richter, Mathias Gasper oder Kurt Stoof.
Weitere mögliche Zeugen aus Lörrach befanden sich nach eige-nen Angaben just um die Jahreswende 1939/40 gar nicht dort. Die drei Justizbeamten, die damals im Lörracher Gefängnis Dienst hat-ten, konnten sich an den `Vorfall´ Albert Richter nicht mehr erin-nern.
Ist das wahrscheinlich bei einem so prominenten Toten? Wenige Tage nach seinem Tod war in vielen deutschen Zeitungen zu le-sen, daß Richter nach der Verhaftung wegen Devisenvergehens Selbstmord begangen habe. Kann das an den direkt Beteiligten gänzlich vorbeigegangen sein?
Schließlich blieben nur die drei Zeugen übrig, denen durch Do-kumente nachgewiesen werden konnte, daß sie mit dem Fall Rich-ter persönlich befaßt gewesen waren: die beiden Kriminalbeamten sowie der Amtsarzt. Der eine Polizeibeamte konnte sich an nichts erinnern, die beiden anderen bezeugten, daß Richter Selbstmord begangen habe: Sonst hätte der eine, der Polizeibeamte, versucht, den Schuldigen zu ermitteln, der andere, der Arzt, sich geweigert, die Todesursache `Selbstmord durch Erhängen´ zu beurkunden - so ihre Behauptung.
Aber hatten die beiden Männer 1966 überhaupt eine andere Möglichkeit, als ihre Berichte aus dem Jahr 1940 zu bestätigen, ohne sich im Zweifelsfall selbst zu belasten?
Der Polizeibeamte, der nach eigenen Angaben Richters Leich-nam in der Zelle gesehen hatte, hatte den Rang eines Kriminal-oberassistenten. Damit war der damalige Leiter der Lörracher Ge-stapo, Kriminal-Kommissar Georg Wilhelm Hahn, vom Rang her sein Vorgesetzter. Es scheint unwahrscheinlich, daß der Kriminal-oberassistent sich den Befehlen des Kriminal-Kommissars wider-setzt hätte, zumal die beiden seit 1939 offiziell derselben Behörde
angehörten: der Sicherheitspolizei unter Reinhard Heydrich.
Zwischen beiden Behörden gab es unübersehbare Verbindungen in Form einer `kameradschaftlichen Bürokratie´. Diese Kamerade-rie war seit 1936 Gesetz: Die Funktion der Polizeibehörden als Hilfsorgane der Gestapo war festgeschrieben.6) Auf diese Koopera-tion der Polizeidienststellen war die zahlenmäßig eher schwach besetzte Gestapo angewiesen: `Besonders die Kripo ist im Gefolge der politischen Ausdehnung kriminalistischer Zwecke zu einer Art von polizeilichem Appendix der Gestapo geraten.´7) Noch stärker verwoben mit der Gestapo waren die Behörden der Grenzpolizei.
Der Amtsarzt des Staatlichen Gesundheitsamtes Lörrach, gleich-zeitig Vertrauens- und Gefängnisarzt, war seit Mai 1933 Parteimit-glied.8) Es ist kaum denkbar, daß die Nationalsozialisten ihn an-dernfalls in dieser wichtigen Position toleriert hätten - als Arzt eines Gefängnisses im Grenzgebiet, durch das allein während der Kriegsjahre rund zehntausend Gefangene geschleust wurden9) und wo, nach Aussage eines Gefängnisbeamten, `Selbstmorde an der Tagesordnung waren´. Es scheint undenkbar, daß dieser Arzt die Möglichkeit gehabt hätte, eine Gefälligkeits-Urkunde zu verweigern - noch undenkbarer, daß er dies über fünfundzwanzig Jahre später der Justiz gegenüber zugegeben hätte.10)
5) Laut Aussage von Richters Bruder Josef war sein Leichnam voller Blut. Das Sakko war am Rücken durchlöchert, von Schüs-sen, wie Josef Richter folgerte. Auch Walter Lohmann hatte ausge-sagt, von Schußwunden zu wissen.
Johann Richter hatte zudem berichtet, der Leichnam seines Soh-nes habe Würgemale aufgewiesen.
6) Die Behörden wollten den Leichnam nicht an die Familie her-ausgeben. Später revidierten sie ihre Entscheidung, untersagten der Familie aber, den Sarg zu öffnen.
7) In der reichsweiten und in der internationalen Presse wurden mehrere Versionen der Todesursache veröffentlicht. Zunächst hieß es lediglich, Richter sei `aus dem Leben geschieden´, dann war von einem Ski-Unfall die Rede, später, Richter sei auf der Flucht erschossen worden. Erst als die Verhaftung Richters publik wurde, verbreitete NS-Radsportführer Viktor Brack persönlich die Version des Selbstmordes. Schon in den ersten Meldungen ohne Namens-nennung aber war von Selbstmord durch Erhängen die Rede ge-wesen.
Was hat sich in der Nacht von Dienstag, den 2. Januar 1940, auf Mittwoch, den 3. Januar 1940, ereignet? War Albert Richter über seine Verhaftung so verzweifelt, daß er Selbstmord beging? Wurde er in seiner Zelle von Angehörigen der Gestapo mißhandelt und in den Selbstmord getrieben? Oder wurde er aus der Zelle geholt, in die Gestapo-Zentrale von Lörrach, der südlichen `Villa Aichele´ ge-bracht, dort gefoltert und umgebracht?
Direkt nach Kriegsende rief die französische Besatzungsmacht eine politische Abteilung bei der Lörracher Kriminalpolizei ins Le-ben, um die Gefangenen-Mißhandlungen im Amtsgerichtsgefäng-nis und in der Gestapo-Stelle zu untersuchen. 1947 kam es zum Prozeß gegen einen Richter und gegen drei ehemalige Beamte des Gefängnisses von Lörrach. In der Verhandlung wurde ausge-sagt, daß das Lörracher Gefängnis während des Krieges Durch-gangsstation für mehr als zehntausend Häftlinge gewesen sei, von denen viele anschließend in Konzentrationslager geschafft wurden. Drei der Angeklagten wurden zu jeweils zehn, sechs und vier Jah-ren Haft verurteilt.11)
Mitglied der Untersuchungs-Abteilung in Lörrach war Paul Herbs-ter, während der NS-Zeit Mitglied einer SPD-Widerstandsgruppe. Als alter Mann berichtete er einem Journalisten, er habe Kenntnis von dem Todesfall Albert Richter. Er wisse, daß die Familie den Sarg in Lörrach abgeholt habe: `Albert Richter war schwer geschla-gen und mit drei Schüssen getötet worden.´12) Es ist unklar, woher Herbster diese detaillierten Informationen hatte.
Herbster verfügte allerdings über gute Kenntnisse darüber, was in der Lörracher Zentrale der Gestapo vorgegangen war. In einem Rechtsstreit vor der Entschädigungskammer des Landgerichts Karlsruhe sagte er 1963 aus: `Die Gestapo bediente sich in der Gestapostelle selbst (also in der südlichen Aichele-Villa) in ver-schiedenen Fällen eines `Schlägers´, und zwar war dies Herr Jo-hann Niesin. (...) Meiner Meinung nach war Herr Niesin nicht ganz zurechnungsfähig (... ). Er (...) wurde von Fall zu Fall von der Ge-stapo beigezogen, um nach Alkoholgenuß die Häftlinge zu trak-tieren. (...) Diese Tätigkeit des Herrn Niesin wurde von der Gesta-postelle dann angefordert, wenn mit üblichen Vernehmungsmetho-den ein Geständnis nicht zu erreichen war.´13)
Daß die Verhörmethoden der Gestapo in Lörrach über unkontrol-lierte Prügel weit hinausgingen, mußten die Nachbarn der `Villa Ai-
chele´ nach 1945 erkennen. Hermann Glatt, ein Sozialdemokrat, betrat die Villa nach dem Abzug der französischen Soldaten zu-sammen mit einem Anwohner. Im Keller, dessen Fenster mehrfach abgedichtet waren, fand Glatt Daumenschrauben, Streckgeräte und mechanische Peitschen. Ein Bekannter berichtete ihm, er habe nachts immer wieder Schreie aus Richtung der Villa gehört. Nach dem Besuch der Villa liefen Hermann Glatt `die Tränen über die Wangen´14).“
Ein besonders grausamer Mitarbeiter der Gestapo in Lörrach war Hans Trops, der wegen seiner Brutalität auch bei Kollegen gefürch-tet gewesen sein soll. Vor Kriegsende erschoß Trops drei polni-sche Fremdarbeiter, eine 25jährige Frau, die aus politischen Grün-den in Lörrach inhaftiert war, sowie mutmaßlich einen weiteren Po-len, der tot im Park der Villa Aichele aufgefunden wurde.15)
Obwohl die Taten von Trops in Lörrach bekannt waren - er wurde nach dem Krieg vom Tribunal Superieur in Rastatt zu lebenslanger Haft verurteilt -, machte sich die Staatsanwaltschaft 1966 nicht die Mühe, seine eventuelle Verstrickung in den Fall Richter zu überprü-fen.16) Auch die Beamten, die in den ersten Nachkriegsjahren we-gen Gefangenenmißhandlung von einem Militärgericht in Lörrach zu hohen Haftstrafen verurteilt worden waren, wurden 1966 nicht noch einmal überprüft.17) Die Spuren von Gestapo-Angehörigen waren allerdings schwer zu verfolgen: Die Gestapoleute stammten in der Regel nicht aus Lörrach und wurden häufig ausgewechselt; die Akten waren vernichtet.
Wurde Albert Richter im Gefängnis oder bei der Gestapo in Lörrach Opfer der üblichen brutalen `Sonderbehandlung´ für Flüchtlinge und deren Helfer? Richter wäre nicht der einzige, der dies nicht überlebt hat.
Handelte es sich bei dem Tod von Albert Richter um einen kalku-lierten Mord der Nationalsozialisten an einem gefeierten Sportler, der sich als `Vaterlandsverräter´ erwiesen hatte?
Oder hatte das NS-Regime schon längere Zeit auf einen Fehltritt des politisch unbequemen Richters gewartet, um seiner - öffentlich gerechtfertigt - habhaft werden zu können?
Die Rätsel um Albert Richters Tod bleiben ungelöst.
Unbestreitbar ist jedoch: Albert Richter mußte seine Zivilcourage und seine Hilfsbereitschaft gegenüber Menschen, die im Hitler-Deutschland verfolgt worden waren, mit dem Leben bezahlen.
1) Seit 1933 waren die bürgerlichen Rechte soweit aufgehoben, daß ein `ziviler Ausnahmezustand´ herrschte, an den nicht die Kriterien eines Rechtsstaates an-gelegt werden konnten, wie es 1966 offensichtlich geschah. vgl. Nitschke, Peter: Polizei und Gestapo, in: Gestapo. Mythos und Realität, hrsg. v Gerhard Paul u. Klaus-Michael Mallmann, Darmstadt 1996, S. 308.
2) Bestand Stadtarchiv Lörrach.
3) Zentrale Stelle der Justizverwaltungen in Ludwigsburg, AZ. Sta. 420 AR 802/66.
4) Gegen die erste Annahme spricht, daß Gefängnisinsassen meist lange vor 9 Uhr 30 geweckt wurden, in der Regel zwischen 6 und 7 Uhr.
5) vgl. Bosetzky, Horst; Heinrich, Peter: Mensch und Organisation, Köln 1989, S. 182ff.
6) vgl. Nitschke, S. 312
7) Nitschke, S. 316.
10) Im späteren `Entnazifizierungsverfahren´ wurde diesem Arzt allerdings zu-gebilligt, er habe Maßnahmen des Dritten Reiches sabotiert und `aktiven´ Wider-stand geleistet. Staatsarchiv Freiburg, Personen-Dossier. Dazu muß angemerkt werden, daß in den der Verf. vorliegenden Akten über im Lörracher Gefängnis tä-tige Personen diese in der Regel zunächst von Zeugen beschuldigt wurden, über-zeugte Nationalsozialisten gewesen zu sein, diese Vorwürfe aber im Laufe der Jahre mithilfe von `Persilscheinen´ immer stärker und mitunter auch recht un-glaubwürdig entkräftet wurden.
Badische Zeitung, 17. Oktober 1947.
12) Göckel, Wolfgang: Lörrach im Dritten Reich, Schopfheim 1990, S. 24. Der Verfasser selbst hat mit Paul Herbster gesprochen, der inzwischen verstorben ist. Gockel konnte nicht bestätigen, daß Herbster selbst den Leichnam Richters gese-hen hat, hielt dies zudem für unwahrscheinlich.
13) Stadtarchiv Lörrach HA AZ 0264.
14) Göckel, S. 24
15) vgl. Göckel, S. 24.
16) vgl. Göckel, S. 49f.
17) Badische Zeitung, 27. Oktober 1947.
EPILOG
`Sein Name ist für alle Zeit in unseren Reihen gelöscht´, schrieb der `Deutsche Radfahrer´ am 10. Januar 1940 in einer offiziellen Notiz zu Albert Richters Tod. Bis zum Jahr 1944 erschien diese Radsportzeitung - zuletzt immer dünner und in immer größeren Abständen -, und Albert Richter wurde dort tatsächlich nicht mehr erwähnt. Als um die Jahreswende 1942/43 Walter Rütt und Fredy Budzinski öffentlich diskutierten, wer der beste Sprinter aller Zeiten gewesen sei, fielen die Namen aller Spitzenfahrer der 30er Jahre wie Michard, Gerardin, Merkens, Derksen und van Vliet – der von Albert Richter jedoch nicht.1) Einige Monate später schrieb Bud-
zinski unter der Überschrift `Die Meister vom Rhein´: `Ich habe alle Kölner Rennfahrer gekannt (...)´ und zählte sie auf - von Günther über Steffes bis Schorn. Allein Richter fehlte auf seiner Liste.2)
Es waren andere Namen, die in den Kriegsjahren das schütter gewordene Renngeschehen dominierten: Die Helden hießen nun Walter Lohmann, Jean Schorn, Jupp Merkens - zwei Steher und ein Schrittmacher.3)
Albert Richter und sein Schicksal schienen vergessen. Die Rad-sportfunktionäre der Nachkriegszeit engagierten sich nicht für das Gedenken an den ehemaligen `König der Flieger´ - denn das hätte bedeutet, sich mit der eigenen Rolle in den Jahren zwischen 1933 und 1945 auseinandersetzen zu müssen.
Der erste Präsident des BDR nach dem Krieg, Hans A. Müller, wollte für frischen Wind im wiedergegründeten Verband sorgen. Doch sein Elan verpuffte rasch: Schon zwei Jahre nach seiner Wahl, 1950, legte er das Präsidentenamt nieder. Damit endete der Neubeginn im deutschen Radsport, und die alte Riege ergriff wie-der das Zepter in `ihrem´ Verband. Müllers Nachfolger wurde Kurt Kühn, schon von 1933 bis 1945 Fachwart für Hallenradsport. Vor-sitzender des süddeutschen Landesverbandes wurde Heinrich Braun, der diese Funktion auch schon vor 1945 innegehabt hatte und dafür 1940 mit dem Ehrenbrief des Nationalsozialistischen Reichsbundes für Leibesübungen (NSRL)4) ausgezeichnet worden war.
Und welche Art von Vergangenheitsbewältigung hätte man von einem Mann wie Gerhard Schulze erwarten können? Über Schul-ze, 1955 bis 1959 Präsident des Bundes Deutscher Radfahrer und Neu-Begründer der `Bundesehrengilde´, hatte Ernst Berliner nicht ganz unzutreffend geschrieben, daß `der jetzige BDR-Präsident Führer der Nazi-Mädels war´.5) Fünfzehn Jahre vor seinem Amts-antritt als Vorsitzender einer demokratischen Sportorganisation in einem vermeintlich neuen Deutschland schrieb Schulze, zu dieser Zeit Reichsjugendfachwart des NSRL, im `Deutschen Radfahrer´ unter der Überschrift: `Der Radsport im Vierjahresplan der Hitler-Jugend´: `Heute erkennt jeder Deutsche, daß der unerschöpfliche Lebensquell für die Sicherstellung des Nachwuchses im deutschen Sport einzig und allein in der HJ verankert ist. (...) Wir schaffen in der Dreieinheit Körper, Geist und Seele denjenigen deutschen Menschen zum einigen Schutz und unvergänglichen Ruhme des
Großdeutschen Reiches.´6)
Schließlich gab es noch den ehemaligen `Reichsbundlehrer´ und überzeugten Parteigenossen Walter Rütt, dem wie dem Steher Walter Lohmann, ebenfalls ehemaliges Mitglied der NSDAP, auch nach dem Ende des Dritten Reiches auf deutschen Rennbahnen zugejubelt wurde. Weitere Nationalsozialisten der ersten Stunde wurden Verbandstrainer, Ehrenvorsitzende von Bezirken, geehrt mit zahlreichen silbernen und goldenen Verdienstnadeln.
Wie kam es zu dieser `Wiedergeburt der alten Kräfte´? Nachdem der Sport im Nationalsozialismus politischen Zielen untergeordnet worden war, sollte er nach Ende des Dritten Reiches nicht mehr `politisch´ sein. Er sollte nun den Menschen neue Orientierung bie-ten. Bundespräsident Theodor Heuss etwa nannte die Sportvereine `Heimat für die Seele´. Das hatte aber auch zur Folge, `(...) daß man in den neuen Vereinen bei manchem Mitglied und Funktionär geflissentlich >übersah<, daß er einer nationalsozialistischen Gruppierung angehört hatte. Mit der Vergangenheit wollte man sich aber nicht mehr allzu sehr und allzu lange befassen.´7) Übersehen wurde dabei auch, daß es bei Sportlern wie Funktionären unter-schiedliche Verhaltensweisen im Nationalsozialismus gegeben hat-te, die von Duldung bis Mittäterschaft, von stiller Verweigerung hin bis zu aktivem Widerstand gereicht hatten.
Durch diese unpolitische Haltung entstand schließlich eine kurio-se Situation: Sportler, die schon im Dritten Reich als Helden gefei-ert worden waren, blieben auch weiterhin im Bewußtsein der Men-schen - solche aber, die von den Nationalsozialisten geächtet wor-den waren, blieben weiterhin vergessen.
Die Erinnerung an Albert Richter sollte erst nach einiger Zeit kurz aufleben. Die erste Folge einer Serie über verstorbene Kölner Sportler befaßte sich mit ihm, im Juli 1947 wurde auf der Riehler Bahn ein `Albert-Richter-Preis´ ausgefahren, und in den 50er Jah-ren richtete sein Verein, der RC Arminius, ein Straßenrennen zu seinem Gedenken aus.
Fredy Budzinski, der jetzt als freier Journalist arbeitet, bewahrte sich auch nach dem Krieg sein Janus-Gesicht, das er während des Nationalsozialismus getragen hatte:
Er forderte zwar nie eine offizielle Aufklärung von Richters Tod, bezeichnete ihn aber in scharfen Worten als Mord. 1946 verfaßte er einen Artikel über Richter für das Rennprogramm der Radrenn-
bahn Neukölln, deren Miterbauer er war. Anlaß war der `Preis Al-bert Richter´, der in Neukölln ausgefahren wurde.8) In diesem Arti-kel schreibt Budzinski: `Wenn der Sportring Neukölln heute bewußt dem Schlußsatz der offiziellen Notiz zuwider handelt: >Sein Name ist für alle Zeit in unseren Reihen gelöscht< dann will er damit klar-stellen, daß der Name Albert Richters nie gelöscht worden ist und nie gelöscht werden wird, weil die Rennfahrer in ihm nicht nur ein Opfer des Nazismus, sondern einen Märtyrer erblicken.´9)
Wie die Vergangenheitsbewältigung im Fall Richter aussah, zeigt folgender Artikel aus dem `Radsport´, der an dessen 46. Geburts-tag erinnerte: `Auf der Suche nach einem Sportler, dessen menschliche Stärken sich würdig seiner sportlichen Leistungen zeigten, begegnen wir Albert Richter (...)´. Weiter wird der verstor-bene Rennfahrer gerühmt wegen seiner `beispielhaften sportlichen Erfolge´, seiner Bescheidenheit, seiner Zurückhaltung: `Jene, die ihn gekannt, sehen ihn noch vor sich: den athletischen Körper, blond, mit blauen Augen, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Soh-le. Daß Richter unter mysteriösen Umständen ums Leben gekom-men war, wurde verschwiegen. Sein Stern, der `so hell und klar aufleuchtete´, sei `jäh verloschen´, so die verklärende Umschrei-bung eines ungeklärten Todes.10)
Mit der Zeit aber erlosch die Erinnerung an Albert Richter ganz. Nur sein Grab auf dem Ehrenfelder Friedhof erinnerte schließlich noch an den ehemals gefeierten Weltmeister. Den Kölnern außer-halb der Radsportszene war Albert Richter nach dem Krieg bald kein Begriff mehr. Jupp Merkens, Bruder von Toni Merkens, hatte 1955 eine Erklärung dafür, als er meinte: `( ...) man vergesse Al-bert Richter nur deshalb, weil man ihm vorwerfe, er habe gegen das Gesetz verstoßen und könne der Jugend daher nicht mehr als Vorbild dienen´.11) Merkens selbst machte zusammen mit dem Fahrrad-Fabrikanten Karl Altenburger den Versuch, das Rätsel um Richters Tod zu lösen. Die beiden Männer fuhren nach Lörrach, ließen sich alle amtlichen Unterlagen zeigen und waren anschlie-ßend vom Selbstmord Richters überzeugt, `denn Justizamtmann Baumgartner bestätigte, daß die Einträge im Gefangenenbuch auch in jener Zeit den Tatsachen entsprachen´.12)
Albert Richter wurde nie rehabilitiert. Tatsächlich war das Gegen-teil der Fall. Karl-Heinz Pfister, ein Kölner Rennfahrer der 50er Jah-re, weiß noch: `Von Albert Richter wurde hier in Köln nie gespro-
chen wie von einem Prominenten. Der wurde behandelt wie ein Krimineller.´ Diese Erfahrung mußte auch Richters Nichte Gudrun Herrmann machen. Auf einer Feier wurde sie von einem Verwand-ten ihres zukünftigen Mannes gefragt: `Sind Sie die Nichte von dem Feigling, der sich umgebracht hat?´ Der einzige Versuch sei-ner Heimatstadt, Albert Richter öffentlich zu ehren, endete schon im Ansatz: Als im Frühjahr 1960 die Wege auf dem Gelände am Müngersdorfer Stadion benannt werden sollten, stand zunächst auch ein `Albert-Richter-Weg´ auf der Vorschlagsliste des Sport-amtes - und tatsächlich auch ein `Toni-Merkens-Weg´. Die FDP ging noch einen Schritt weiter: Sie schlug nur Namen von Rad-sportlern wie Günther, Arend, Robel, Rütt und Schmitter für die Stadionwege vor. Am Ende blieb von allen Radsportler-Namen le-diglich Peter Günther übrig. Der Name Albert Richter war gestri-chen worden.
Mit Vorliebe bewahrt wurde die Erinnerung an antifaschistische Sportler dagegen im Osten Deutschlands und in der späteren DDR.13) In der Sportgeschichte der DDR nahm dementsprechend der kommunistische Ringer Werner Seelenbinder einen be-sonderen Platz ein. Während des Dritten Reiches illegal politisch tätig, wurde er im Februar 1942 von der Gestapo inhaftiert und im September 1944 vom `Volksgerichtshof´ zum Tode verurteilt. We-nige Wochen später wurde das Urteil mit dem Fallbeil vollstreckt.
Aber auch die Erinnerung an Albert Richter wurde gepflegt. Im Jahr 1951, anläßlich der III. Weltfestspiele der Jugend und der Studenten, fand in Halle an der Saale die Einweihung einer `Albert-Richter-Kampfbahn´ statt, zu der auch Johann Richter eingeladen war.13) Außerdem gab es in Halle noch eine Betriebssportgemein-schaft `Motor Albert Richter´. Im gleichen Jahr wurde in Schwerin eine weitere Radrennbahn nach Richter benannt. Die sowjetische Besatzung hatte den sogenannten `Burgseesportplatz´ zur Nut-zung freigegeben. Die Bahn wurde `Albert-Richter-Kampfbahn´ ge-nannt. Über Jahre war sie Austragungsstätte für Radrennen und andere Veranstaltungen. Ende der 50er Jahre mußten die mor-schen Holztribünen sowie die Bahn demontiert werden. Heute wird der Platz für den Schul- und Breiten-Sport genutzt und ist eine be-liebte Sportstätte. Im Sportgebäude hängt noch heute eine Ehren-tafel zur Erinnerung an Albert Richter.15)
In Zeesen, einem kleinen Ort südlich von Berlin, wurde das dorti-
ge Kinderheim auf Betreiben seines damaligen Leiters nach Albert Richter benannt. 1974 schraubten die Mitarbeiter das Namens-schild des `Kreiskinderheimes Albert Richter´ schweren Herzens ab: Das Heim wurde aufgelöst, unter anderem wegen der maroden Substanz des historischen Gebäudes. Das Kinderheim befand sich im dreihundert Jahre alten `Gut Zeesen´. Dieses Herrenhaus ge-hörte in den 20er und 30er Jahren dem jüdischen Bankier Dr. Ernst Goldschmidt, dessen Sohn es 1934 auf Druck der Natio-nalsozialisten verkauft hatte. Der neue Inhaber hieß Gustav Gründgens, von nun an diente die `Gründgens-Villa´ der deutschen Schauspieler-Elite, darunter Gustav Knuth, Elisabeth Flickenschildt und Paul Henckels, als Wochenendrefugium. Szenen zu `Effi Briest´ mit Gründgens‟ Ehefrau Marianne Hoppe in der Hauptrolle sind hier gedreht worden.16)
Auch mehrere Bücher über Albert Richters Leben erschienen in der DDR. Der frühere Radsportler Karl Wagner schrieb in den 50er Jahren unter dem Pseudonym Karl Plättke das Kinderbuch `Die letzte Kurve´. Der naiv gehaltene Roman über das Leben Albert Richters basierte offensichtlich in weiten Teilen auf Angaben Ernst Berliners, der auch das Nachwort schrieb.
Im Frühjahr 1969 wurde der Jugendroman »7 Jahre eines Renn-fahrers« von Herbert Friedrich veröffentlicht. Friedrich wertete für dieses Buch Tages- und Radsportzeitungen von 1932 bis 1940 aus und rundete die Fakten mit dichterischen Elementen ab. Das Buch wurde ins Lettische, Tschechische und Holländische übersetzt. Später erhielt Friedrich den Auftrag, das Drehbuch zu einem drei-teiligen Film über das Leben Richters zu schreiben; dieses Projekt wurde aber abgebrochen, weil man `im Olympiajahr (...) keinen Film über einen Berufssportler machen´ wollte, so Friedrich.
Auch der Journalist und ehemalige Rennfahrer Adolf Kliman-schewsky widmete ein Kapitel seines Buches `Der vergessene Weltmeister´ aus dem Jahre 1955 Albert Richter; 1959 verfaßte er für die `Radsport-Woche´, das Organ des Deutschen Radsport-Verbandes (DDR), eine Serie über das Leben des Weltmeisters von 1932. Anlaß war ein Zusammentreffen mit Ernst Berliner wäh-rend der Weltmeisterschaften im gleichen Jahr in Amsterdam. Die Serie basierte auf alten Berichten aus dem `Illus´ und dem `Deut-schen Radfahrer´ sowie den Erzählungen Ernst Berliners.
1960, zum zwanzigsten Todestag Richters, kam Klimanschewsky
nach Köln, um die Eltern Richter zu besuchen. Er kaufte sich vier verschiedene Lokalzeitungen und war bestürzt, keine einzige Zeile über den berühmten Sohn der Stadt zu finden. Klimanschewsky fragte sich: `Ist Albert Richter in seiner Heimatstadt vergessen?´17) Er besuchte Richters Grab auf dem Ehrenfelder Friedhof und legte einen Kranz nieder. Auf dem Grabstein befand sich ein Porträt Richters, das Jef Scherens nach belgischer Sitte 1955 hatte anfer-tigen lassen. Die Kosten für die Anbringung übernahm der Kölner Radsport-Veranstalter Peter Kanters, der Richter noch in seiner Jugend gekannt hatte. Auf dem Grabstein ist zu lesen `Wer Dich gekannt, vergißt Dich nie´.
Adolf Klimanschewsky Engagement war es auch zu verdanken, daß Albert Richters Porträt 1965 auf einer Sonderbriefmarke der DDR in der Reihe `Ermordete Sportler´ erschien, mit der auch Werner Seelenbinder, die Hockeyspielerin Käte Tucholla, die 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde, sowie andere Sportler, die den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen waren, geehrt wurden.
Im wiedervereinigten Deutschland steht der Bund Deutscher Radfahrer auch heute noch in der Tradition kritikloser Rückschau. Im offiziellen Pressedienst des BDR vom Februar 1997 sind unter der Überschrift `Bundesvorsitzende und Präsidenten des BDR´ wie selbstverständlich auch die `Verbandsführer´ des DRV aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 aufgeführt, obwohl der BDR in dieser Zeit formal gar nicht existierte.18) In den Jahren 1937 bis 1945 übte die-ses Amt Viktor Brack aus, jener Mann, der als Oberdienstleiter in der `Kanzlei des Führers´ die `Aktion T 4´ und damit den Mord an etwa 120.000 behinderten Menschen organisierte.19) Er wurde in Nürnberg zum Tode verurteilt und 1948 in Landsberg durch den Strang hingerichtet. Dieser Reichsradsportführer Viktor Brack war es, der Richters Tod öffentlich als Selbstmord auslegen ließ.
Ernst Berliner blieb es beschieden, einen würdigen Nachruf auf Albert Richter zu verfassen. In den Nachkriegsjahren schrieb er Richters Eltern: `Es ist ein großer Verlust für Sie, auf Albert jetzt verzichten zu müssen, auch ein großer Verlust für Deutschland, ich meine für das neue, freie Deutschland, denn kein anderer als Ihr Sohn Albert wäre berufener gewesen, die sportlichen Beziehungen international wieder herzustellen. Gelegentlich der letzten Rennen hier sprach ich mit Scherens, van Vliet, Gerardin u.s.w. Diese kön-nen sich immer noch nicht beruhigen. (...) Auch die Austragung ei-
nes >Weltmeister Albert Richter-Erinnerungsrennen< in diesem Frühjahr in Zürich zeugt dafür, daß man Ihren Sohn nicht nur als Sportsmann, sondern auch seine freie, antifaschistische Auf-fassung zu würdigen versteht.´21)
1) DR, 23. Dezember 1942, DR, 27. Januar 1943.
2) DR, 19. Juli 1943.
3) Steherrennen waren zu dieser Zeit `in´, der Sprint war `out´, auch wenn dort ein neuer Star zunächst die Szene dominierte: Gerhard Purann, ein junger, gut-aussehender Mann. Uber ihn schrieb Budzinski nach dem Krieg: `Purann war ein erbitterter Gegner Hitlers und machte keinen Hehl daraus, auch nicht als Soldat. Es geht das Gerücht, Purann sei >wegen Zersetzung der Wehrmacht< erschos-sen worden.´ Budzinski, Fredy: Manuskript, verfaßt für eine Schweizer Radsport-zeitschrift, ca. 1948.
4) Der NSRL war seit 1938 der Dachverband des deutschen Sports. Mit seiner Gründung wurde die Gleichschaltung des deutschen Sports abgeschlossen.
5) Berliner, Ernst: Brief an Adolf Klimanschewsky, 1. Dezember 1959.
6) DR, 27. November 1940.
7) Grupe, Ommo: `Der neue Weg im deutschen Sport´, in: Die Gründerjahre des Deutschen Sporthundes, hrsg. v. Deutschen Sportbund. Wege aus der Not zur Einheit. Bd. 2. Schorndorf 1991.
8) Mit am Start war auch Otto Ziege, späterer Sportlicher Leiter der Sechs-Tage-Rennen in Dortmund und Berlin. Der `Preis Albert Richter´ wurde in Neu-kölln mehrmals ausgefahren.
9) Budzinski, Fredy: Die Wahrheit über den Tod Albert Richters, Programm für das Stadion Neukölln, 13. Oktober 1946, S. 4. Dieser Artikel unterscheidet sich von dem vorliegenden Manuskript aus dem `Archiv Budzinski´erheblich.
10) Radsport, 14. Oktober 1958.
11) BZ, 5. Januar 1955.
12) Radsport, 11. Januar 1955.
13) Sportler, die in der Zeit des Nationalsozialismus ums Leben gekommen wa-ren, wurden allerdings häufig als Märtyrer verherrlicht und im Kalten Krieg zu poli-tischen Zwecken mißbraucht. Bei dieser diametral entgegengesetzten Bewäl-tigung der deutschen Sportvergangenheit bestätigte Deutschland die Historiker-These von einem Land mit `doppelter Vergangenheit´ (Jäckel 1991), mit `zweierlei Vergangenheit´ (Kleßmann 1992) oder von den `zwei Staaten mit auseinanderge-drifteten historischen Schicksalen´ (Habermas 1993); nach: Spitzer, Giselher: Ak-tuelle Konzepte zur Zeitgeschichte des Sports, in: Sozial- und Zeitgeschichte des Sports, Heft 3/1994, S. 56-75.
14) Das Renn-Oval befand sich auf Armeegelände und war nach Abschluß der Spiele für den freien Sportverkehr nicht zugänglich. Später wurde die Bahn nur noch für das Nachwuchs-Training genutzt, weil sie für offizielle Wettkämpfe nicht geeignet war; inzwischen ist sie abgerissen worden.
15) Schulverwaltungs- und Sportamt der Stadt Schwerin, Brief an die Verf., 22. September 1995.
16) Nach dem Krieg war in `Gut Zeesen´ vorübergehend die sowjetische Militär-
kommandatur einquartiert. Gründgens soll damals auf eine Zurückerstattung sei-nes Eigentums verzichtet haben. 1974, nach der Auflösung des Kinderheims, wurde das Gut als Ferienheim vom DDR-Außenministerium genutzt. 1991 besetz-te eine links-alternative Gruppe die Villa, die mit Billigung des Goldschmidt-Erben bis heute dort wohnt. Mehrfach wurden die Besetzer von Angehörigen der rechten Szene tätlich angegriffen. Rudolf Goldschmidt und der Adoptivsohn von Gründgens prozessieren um den rechtmäßigen Besitz des Gutes. Vgl. Porsch, Paul: Nachtrag zur Geschichte des Gutes Zeesen von 1900 bis heute, Manuskript, Zeesen 1991; Riess, Gurt: Gustav Grundgens, Hamburg 1965, S. 164ff.; Der Spiegel, 10. Juli 1995; Berliner Zeitung, 10. November 1997; Märkische Allgemei-ne Zeitung, 8. Januar 1998.
17) Radsport-Woche, 8. März 1960.
18) rad-press, 2/1997, S. 5. In diesem Zusammenhang muß die Frage gestellt werden, ob der BDR 1984 zu Recht sein 100jähriges Bestehen gefeiert hat. Streng betrachtet besteht dieser Verband erst seit seiner Wiederbegründung im Jahre 1948, würde also 1998 erst 50 Jahre alt. Von 1933 bis 1948 hat der BDR nicht existiert. Diese Zweifel sind auch im Hinblick auf das Alter der `Bundeseh-rengilde´ angebracht, `deren Hauptanliegen die Traditionswahrung im Radsport´ ist (rad-press, 1/1998, S. 32). Sie beging im Erscheinungsjahr dieses Buches, 1998, ihren 100. Geburtstag. Die `Traditionswahrung´ gilt jedoch nicht der Zeit des Nationalsozialismus, die zwar `mitgezählt´, aber ansonsten als nichtexistent be-handelt wird. So klafft bis heute in den Lebensläufen der Jubelartikel zu Geburts-tagen und Jubiläen ihrer Mitglieder zwischen 1933 und 1945 zumeist eine zweck-dienliche biographische Lücke. Der kritiklose Umgang mit der eigenen Geschichte ist natürlich nicht nur dem BDR eigen, sondern auch anderen deutschen Sport-verbänden.
19) Die Tarnbezeichnung `T 4´ war benannt nach der Adresse der Euthanasie-Zentrale, die in einer Berliner Villa in der Tiergartenstr. 4 untergebracht war. Diese Villa hatte zuvor jüdischen Besitzern gehört, die enteignet worden waren.
20) Vgl. Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hrsg. v. Wolfgang Benz, Her-mann Graml u. Hermann Weiß, Stuttgart 1997, S. 825. In keiner der Publikatio-nen, die Viktor Brack erwähnen, wird auf seine Rolle als Reichsradsportführer ein-gegangen. Der Grund ist wahrscheinlich die Aktenlage - meines Wissens gibt es keine Dokumente über Bracks Tätigkeit als Reichsradsportführer außer seinen Aufrufen im `Deutschen Radfahrer´.
21) Budzinski, Fredy: Aktennotiz zum Tode Albert Richters, mitgeteilt in einem früheren Brief von Manager Ernst Berliner, o.D., Archiv Budzinski.
ZITATE
Abschied in der Lombardei
Kitzbühel - Eigentlich wollte Hans-Michael Holczer schon zu Wo-chenbeginn die Nachricht verbreiten. Doch dann tauchte mal wie-der ein vermeintlicher Geldgeber auf. Es sollte der allerletzte sein. Noch am Mittwoch bestätigte der Herr einen Termin für Donners-tag, 16 Uhr. Eine Stunde später sagte er wieder ab. „Dann war es endgültig klar“, sagt Holczers Ehefrau Renate, sie ist Anteils-eignerin der H-S-M Holczer Radsport-Marketing GmbH. Deren Premiumprodukt wird jetzt also definitiv vom Markt verschwinden - Team Gerolsteiner löst sich auf und fährt am 4. Oktober in der Lombardei sein letztes Rennen. …
Vor zehn Jahren startete die Mannschaft unter dem streitbaren Unikum Dieter Koslar (inzwischen verstorben) als Team Cologne in Köln, ehe Holczer den Laden übernahm. In diesem Jahr gewann Stefan Schumacher beide Zeitfahren bei der Tour de France, der Österreicher Bernhard Kohl zudem als Gesamtdritter das Bergtri-kot. Nie ist Holczers Team erfolgreicher gewesen. Es hat alles nichts genutzt.
„Mich wundert schon, dass keiner den Mut besitzt, sich für so ein Produkt, das quasi für Null zu haben war, zumindest zu interessie-ren“, sagt Holczer, 54. Nachdem der bisherige Sponsor 2007 den Ausstieg bekanntgab, blieb Zeit zur Akquise. Doch spätestens „in der zweiten Ebene“ von Unternehmen sei die Ampel auf Rot ge-sprungen, berichtet Holczer, der „sogar teilweise von Zusagen“ ausgegangen war. Doch die Dopingskandale haben das Ge-schäftsklima massiv eingetrübt. „Wir sind in keinen der bekannten Skandale verwickelt“, betont Holczer, aber „trotz bester Referen-zen“ sei keine Firma zu überzeugen gewesen.
Am Mittwochabend informierte Holczer seine rund 60 Angestell-ten vom Aus, per Telefon oder E-Mail. Stefan Schumacher, der am Samstag bei der Vuelta in Spanien startet, erreicht die Botschaft erst Donnerstagmittag, er sagt: „Es ist sehr schade, dass es so kommt, denn nach unserer Super-Tour war ich mir sicher: Das wird kein Problem.“ War es letztlich aber doch, „der Radsport ist eben in der Krise, besonders in Deutschland“, sagt Sportchef Christian Henn, 44. …
Ein Teil von Holczers Truppe wird nun zum künftig einzigen deut-schen Team Milram wechseln. „Möglichst viele“ wolle er einbauen, sagt Teamchef Gerry van Gerwen, der sich mit Holczer treffen wird. Er finde dessen Abschied aus dem Peloton „schade, und das
meine ich so“, versichert der Holländer; er spricht von einer „mora-lischen Pflicht, möglichst viele Leute, nicht nur Fahrer, zu überneh-men“. Van Gerwen, der Milram derzeit von Italien nach Dortmund umsiedelt, hat bereits dem italienischen Betreuerstamm gekündigt. … Von den Profis wurden zuletzt Fothen, Wegmann, Schumacher oder auch Kohl genannt, wobei der umworbene Österreicher zu teuer ist, wie van Gerwen einräumt: „Ich sage es mal diplomatisch: das war eine überraschende Summe.“ … Holczer ist … erstmal Privatier, … Zunächst einmal wird er jedoch den Betrieb auflösen, bei einem „Rampenverkauf“ Ende Oktober …
Süddeutsche Zeitung, 29.8.2008
Andreas Burkert
DIE VORZEITIGEN SIEGER
An „Experten“ war bei dieser Fußball-EM kein Mangel! Sobald Nachmittag und Abend in Sicht kamen, marschierten sie in Reih und Glied vor die Kameras, wenn der Morgen graute, las man von Bodensee bis Rügen, was sie glaubten mitteilen zu müssen, weil der normale Fußballkonsument doch gar nicht wusste, was eine echte Chance ist und ob A. oder X. die Flanke in der 63. Minute ge-fühlvoller hätten schlagen sollen und erst recht die in der 72. Minu-te, ganz zu schweigen von der in der 91. Minute. Und das tagaus, tagein.
Übrigens: Lange bevor das Finale angepfiffen wurde, ließen Leu-te, die sich gern im Hintergrund halten, wissen, dass sie längst ge-wonnen hätten. Und es bedurfte keines „Experten“, um zu erfah-ren, wie hoch sie gewonnen hatten. Der Fußball-Schuhfabrikant adidas versicherte schon nach einer Woche Fußball-EM – also zu einem Zeitpunkt, als noch nicht einmal die Viertelfinals feststanden – dass er mehr Gewinn erzielt habe, als im WM-Jahr 2006. Im Ver-gleich zur EM 2004 sei der Umsatz um mehr als 50 Prozent ge-stiegen. Zu den Profitmargen gehörte auch der offizielle EM-Ball „Europass“, woraus folgert, dass jeder Pass auf den EM-Fußballfeldern – ob er das Tor traf oder nicht – bei Adidas als Ge-winn verbucht wurde. Auf einer Pressekonferenz in Wien sagte Vorstandschef Herbert Hainer: „Damit sind wir - sportlich ausge-drückt - nicht nur eine Runde weiter, sondern bereits jetzt Gewin-ner der EM“. Niemand stellte die Frage, was daran denn sportlich
ausgedrückt sein könnte, aber in dieser Branche meldet sich kein “Experte” zu Wort, um knapp und klar zu sagen: Der Profit erzielt die Tore, ganz gleich wer gewinnt und wer verliert.
Adidas rechnete mit Einnahmen durch Fußballprodukte um die 1,2 Milliarden Euro, was ein neuer Rekord wäre. Der Umsatz soll “währungsbereinigt” um knapp 10 Prozent, der Überschuss um mindestens 15 Prozent zulegen.
Nicht beteiligt an diesen stattlichen Gewinnen sind die Frauen und Mädchen, die die Trikots und Bälle nähen und sattlern. Die ho-cken in weit entfernten Ländern in stickigen Hütten und spürten nichts von der Stimmung, die die Fußballfans in Euphorie versetzte und jubeln und natürlich auch einen guten Schluck nehmen ließ.
Vor rund eineinhalb Jahren hatte das Pfarrzentrum St. Magdale-na in Herzogenaurach daran erinnert. Herzogenaurach ist das Städtchen, in denen die Zentralen von Adidas und Puma beheima-tet sind und in dem ein rühriger alter Herr namens Bernhard Nix stolz darauf ist, dass er sich seit 35 Jahren für die Belange der drit-ten Welt einsetzt. Der “Spiegel” meldete im November 2006: “Kaum ein Herzogenauracher nervt die beiden Konzerne so nach-haltig wie Nix: Mal demonstriert er vor der Firmenzentrale, mal schiebt er eine Flut von Protestpostkarten wegen unmenschlicher Arbeitsbedingungen an. ... Wahrscheinlich brauchte es genau so jemanden wie ihn, einen gebeugten Mann mit zwei Hörgeräten, bei dem Kritik so klingt, als erzählte er Kindern ein Märchen, um Adi-das und Puma an ihrem fränkischen Stammsitz erstmals an einen Tisch mit ihren härtesten Kritikern zu bringen: der Christlichen Initi-ative Romero (CIR), dem deutschen Arm der `Clean Clothes Cam-paign´ (zu deutsch: Kampagne für `saubere´ Trikots). ...“
Die beiden Konzerne hatten clevere PR-Manager entsandt, die daherredeten, als wären sie besorgte Entwicklungshelfer und so ta-ten, als sei man in den Firmenbüros bis tief in die Nacht damit be-schäftigt, die Sorgen derjenigen zu mindern, die in der Ferne für den Reichtum in Herzogenaurach sorgen und als ob in den Kon-zernbüros allen Ernstes darüber nachgedacht wird, wie die Nähe-rinnen von ihrem Verdienst Reichtümer ansparen könnten. Aller-dings hatten sie damit nur wenig Erfolg. Der Mann von der CIR, sprach Klartext: „Von 157 Dollar, die eine Adidas-Näherin in EI Salvador bekommt, kann sie nichts zurücklegen!” Im Gegenteil, versicherte er, die reichen nicht einmal, um ihre Familien über die
Runden zu bringen. Für ein Leben in Würde – so habe das Amt für Statistik in El Salvador errechnet - brauche eine normale Familie 687 Dollar. Einer der PR-Manager rühmte die Unternehmen allen Ernstes: „Wir sorgen dafür, dass die Leute warme Mahlzeiten be-kommen.“ Dem entgegnete der CIR-Repräsentant, dass der Adi-das-Chef ein Jahresgehalt von 4,17 Millionen Euro kassiert. Ich bin kein “Experte”, konnte aber mühelos ausrechnen, dass eine Nähe-rin in El Salvador dafür 2213 Jahre arbeiten müsste...
Nein, über solche Probleme verlor kein “Experte” während der EM auch nur eine Silbe und wenn mir jemand entgegenhalten woll-te, dass das doch auch verdammt wenig mit der Fussball-EM zu tun hat, müsste ich ihn fragen, was Adidas dann wohl bewogen haben mochte, während der EM im Spielort Wien eine Pressekon-ferenz zu arrangieren und dort stolz die Gewinne zu verkünden?
Natürlich erzielten auch andere Gewinn. Jene deutschen Instan-zen zum Beispiel, die den Österreichern für die “Sicherheit” der EM zur Hand gingen. Die Bundestags-Fraktion Die Linke hatte im Bun-destag danach gefragt. Kurioserweise konnte man die Antwort bis-lang nur in der “taz” lesen und nicht im ND. Also: 1.700 deutsche Polizisten waren gegen entsprechende Zahlungen gen Österreich in Marsch gesetzt worden. Außerdem lieferte Deutschland – Sie le-sen richtig – “Häftlingskäfige”, die in Heiligendamm erprobt worden waren und dort heftige Proteste auslösten. In die hatte man De-monstranten gesperrt, bei Dauerbeleuchtung und ohne halbwegs solide Versorgung. Und weiter auf dieser Liste der Sicherheits-Utensilien für friedliche Fußballspiele: Jagdbomber und Hub-schrauberstaffeln für die Luftraumüberwachung. Und endlich auch noch die Daten von knapp 3.000 Personen, die nach Süden ge-funkt worden waren und und niemanden auf die Idee kommen lie-ßen, dass das – wäre der Absender ein anderer gewesen – ein spektakulärer Fall für die Birthler-Behörde gewesen wäre.
Leipzigs Neue
Klaus Huhn
GEDANKEN ÜBER DEN RUHM
In der ersten Reihe hatten Horst Köhler und der Bundesinnenmi-nister Wolfgang Schäuble Platz genommen. Das ließ keine Fragen aufkommen, wie dieses Ereignis einzuordnen war: Die Bundesre-
publik Deutschland eröffnete in der Vor-Pfingsten-Woche ihre „Hall of Fame“, zu deutsch „Halle des Ruhms“, in der fortan die Bilder von 40 deutschen Sportlern zu sehen sein werden. Jenen 40, die – gebilligt sogar vom Bundespräsidenten -, von nun an angeblich die Ruhmreichsten sein sollen. Als die Feier zu Ende war und die Pappstelen mit den Bildern im früheren Berliner Zeughaus zusam-mengeräumt worden waren, folgten in den Medien einige Diskussi-onen. Die einen merkten – mit milder Kritik – an, dass fünf der vier-zig Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Um den guten Ruf des einen der fünf, den des früheren Sechstagefahrers Gustav Kilian, zu erhärten, wurde ein früherer Fernsehreporter zitiert, der versi-chert hatte, Kilian sei „der Auszeichnung ohne Einschränkung wür-dig“. Was den Plappermann prädestinierte, das zu behaupten, wurde nicht mitgeteilt. Einer der vierzig war der Kommunist und Olympiavierte im Ringen von 1936, Werner Seelenbinder. Der war von den Nazis zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Seine Urne wurde während der ersten antifaschistischischen Kundge-bung nach Kriegsende 1945 am Stadion Neukölln beigesetzt. Drei Jahre später liess der Westberliner Senat das Grab eingittern und wer fortan Blumen niederlegen wollte, musste einen Antrag stellen und das Gitter öffnen lassen. Das auf seinen Namen getaufte Sta-dion wurde rückbenannt. Erst als Willy Brandt Regierender Bür-germeister in Westberlin war und davon durch Zufall erfuhr, wurde das Gitter entfernt. Nun also gelangte Werner Seelenbinder doch noch zu den Ruhmwürdigen. Nur ein paar Handbreit entfernt von ihm prangte das Bild des Josef Neckermann. Von dem wusste der Festredner des Tages, Thomas Mergel (48), Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel und Professor für Europäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin laut „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mitzuteilen: Er „profitierte in den dreißiger Jahren von der Arisierung jüdischen Vermögens.“ Noch einmal: Diese Worte prägte ein bundesdeutscher Professor für „Neuere Allgemeine Geschichte“. In Gegenwart des Bundespräsi-denten nannte er den Holocaust schlicht eine „Arisierung jüdischen Vermögens.“ Noch einmal muss das unfassbare Wort wiederholt werden: „Arisierung“. So hatten die Nazis ihren mörderischen Um-gang mit der jüdischen Bevölkerung tituliert und so geriet der Be-griff nun in die Halle des Ruhms des deutschen Sports.
Niemand erfuhr, wie wer diese 40 Ehrwürdigen ausgesucht hatte. Eine Antwort lautet: Die sogenannte Deutsche Olympische Gesell-schaft hatte letztes Jahr eine Umfrage veranstaltet, Namen vorge-geben und einige Pünktchenlinien freigelassen. Diese Gesellschaft hat schon lange ihren Sitz in Frankfurt/Main. So wundert es wohl auch niemanden, dass unter den vierzig Geehrten nur ein einziger DDR-Sportler war: Roland Matthes. Der sicher zu Recht, aber un-fassbar wie man keinen weiteren finden konnte. Selbst Altbundes-deutsche wunderten sich zum Beispiel, dass Gustav-Adolf Schur fehlte. Dass der – im Gegensatz zu dem schon erwähnten Kilian – nie Mitglied der NSDAP gewesen war, allerdings für die deutschen Sozialisten in die Volkskammer der DDR und in den Bundestag der BRD gewählt worden war, könnte die Entscheidung beeinflusst ha-ben.
Auch war niemand auf die Idee gekommen, Willibald Gebhardt in die Halle des Ruhms aufzunehmen, und zwar möglichst in die aller-erste Reihe. Der hatte 1896 dafür gesorgt, dass Deutschland an den ersten Olympischen Spielen teilnahm. Man hatte der Mann-schaft das Fahrgeld gestrichen, er sammelte es auf dem Weg nach Athen! Man hatte die Athleten als „Landesverräter“ beschimpft, er sorgte dafür, dass sie – ob mit oder ohne Medaille heimkehrend – in Deutschland als Helden gefeiert wurden.
Es fiel wohl nicht leicht, die echten Ruhmes-Helden zu finden…
Leipzigs Neue
Klaus Huhn
ZWISCHEN GISCHT UND GALLE
BERLIN. Cathleen Rund ist am Dienstag und Mittwoch im Hafen der kroatischen Küstenstadt Dubrovnik in die Adria gesprungen. Dort kämpfen die Freiwasserschwimmer über 5, 10 und 25 Kilo-meter um Europameistertitel: eine schöne Umgebung, um in die Schwimm-Geschichte einzugehen. Das hatte Cathleen Rund schon geschafft, bevor sie beim Fünf-Kilometer-Rennen am Dienstag „eine Stunde Vollgas" gab - und Achte wurde. ... Rund sieht dies als persönlichen Erfolg. Aber der Erfolg impliziert Kritik. Rund wird im November 31 Jahre alt. „Sie ist eine SchwimmOma", sagt Oliver Großmann. Er ist in Wiesbaden nicht nur ihr Trainer, sondern auch ihr Lebenspartner. Und weil sich Cathleen Rund selbst als
Schwimm-Oma sieht, beschäftigen sie Fragen, die sie an den deut-schen Schwimmsport stellt, an die Strukturen, an den Verband. „Was ist da falsch gelaufen?" Und: „Es ist an der Zeit, dass die Leute aus ihren Kakerlakenlöchern kommen." Rund meint die jungen Schwimmer, diejenigen, die ihr längst Konkurrenz hätten machen müssen.
Ein Großteil von Runds Leben hat sich im Schwimmbecken abgespielt, beim SC Dynamo Berlin, beim SC Berlin. 1996 gewann sie in Atlanta eine olympische Bronzemedaille über 200 Meter Rücken, 1997 wurde sie Europameisterin. Auch ihre Mutter Evelyn Stolze war Schwimmerin: Olympiateilnehmerin 1972, Europameisterin 1970; ihr Vater Peter war Wasserballer.
Rund musste erst lernen, sich im offenen Wasser durchzuwühlen. Im Pulk zu schwimmen, wo zwischen Gischt und Galle gezwickt, geboxt, gezogen und gehalten wird, am Mittwoch wurde sie 22. über zehn Kilometer. Sie hatte ihre Karriere nach Olympia 2000 in Sydney schon beendet, sich an den Rand gestellt, als Trainerin ausbilden lassen. Zurück ins Wasser brachte sie 2006 das hessische Fördermodell, die Sportfördergruppe der hessischen Polizei. „Ein Vorzeigeobjekt für ganz Deutschland", findet Großmann, „das sind Rahmenbedingungen wie früher in der DDR." Als Polizeikommissar-Anwärterin hat Rund Garantie auf Übernahme in den gehobenen Beamtendienst. Die Sicherheit gibt ihr Stärke: „Ich weiß, dass ich was Besonderes mache, was Eli-täres und ich habe ein System, das mir Unterstützung gibt."
Rund sagt, sie habe nach der Maschinerie des DDR-Systems auch andere Bedingungen kennengelernt: in Biberach, wo sie mit acht Mann auf der 25-Meter-Bahn ohne Wellenkillerleinen schwamm, beim SC Wiesbaden. Das Strukturproblem, das sie in Deutschland sieht:
„Jeder versucht, um Wasserfläche zu kämpfen. Nichts ist systematisiert, nichts verzahnt. Die Basis der Ausbildung wird in den Vereinen gelegt. Die schaffen es bis zu den Jahr-gangsmeisterschaften, aber weiter fehlt das Know-how."
Kommende Woche tagen die Trainer des Deutschen Schwimm-verbandes (DSV) in Göttingen, um die schwachen Ergebnisse bei Olympia zu analysieren. Via Sportbild schimpft Thomas Rupprath über die Struktur des DSV und die Ahnungslosigkeit von Präsidentin Christa Thiel. Peking hat gezeigt, dass der DSV im
Becken nicht mit der Weltspitze konkurrieren kann. Die deutschen Meisterschaften der vergangenen Jahren haben gezeigt, dass es in vielen Disziplinen am ambitionierten Nachwuchs fehlt.
Im kleinen Kosmos Wiesbaden versucht Rund der Entwicklung entgegen zu wirken. In ihrer Trainingsgruppe gilt sie als Vorbild. „Wenn sie einen grünen Badeanzug trägt, tragen die Mädels auch Grün, wenn sie zum Frühstück ein rohes Ei isst, essen das die Mädels auch", sagt Cheftrainer Großmann. Rund findet aber, von den Kindern sei keines mehr bereit sich zu quälen. „Sie sitzen da und hoffen, dass ein großes Stück Brot vorbei kommt, auf das sie sich stürzen können."
In Berlin sei das früher anders gewesen. Damals, sagt sie, hätten in Berlin zehn Leute Weltniveau gehabt, „da warst du mit Bronze der Arsch". Und heute? Da habe man ein tolles Bad in Berlin, acht Mann auf acht Bahnen, und Totenstille. Britta Steffen ragt heraus, natürlich. Seit ihren zwei Goldmedaillen von Peking sowieso. „Gold bei Olympia ist toll, aber was ist das wert, wenn dafür ein ganzes Bundesland zu Grunde geritten wird?" fragt Rund. Was sei ein Cheftrainer wert, der sich nur um Stars und Sternchen kümmert? ....
Berliner Zeitung 11.9.2008
Karin Bühler
DIE BERLINER POLIZEI WILL NICHT MEHR...
Die Berliner Polizei ist nicht länger bereit, mit tausenden Beamten Fußballspiele der dritten oder vierten Liga zu schützen. Sollten die Vereine ihre gewalt bereiten Fans nicht in den Griff bekommen, droht die Polizei deshalb mit Spielabsagen. „Rechtlich gibt es keine Bedenken, ein Risikospiel zu verbieten“, heißt es in einer Exper-tise, die zwei leitende Beamte verfasst haben. Polizeivizepräsident Gerd Neubeck sagte dem Tagesspiegel, dass durch die Einsätze bei Risikospielen „erhebliche Ressourcen gebunden werden, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden“. In diesem Jahr gab es bereits vier als „Risikospiel“ eingestufte Begegnungen, die von bis zu 1001 Polizisten gesichert werden mussten - alle in der Drit-ten Liga. Neubeck forderte die Vereine auf, „mehr in die Sicher heit zu investieren“. Also mehr Ordner mehr Einflussnahme auf Prob-lemfans und mehr Sicherheit in den Stadien.
Doch in den Gesprächen mit den Vereinen gebe es kaum Fort-schritte, „ein zähes Ringen“, kritisierte Neubeck.
Die Polizei hat errechnet, dass in der vergangenen Saison alleine für den 1. FC Union 4095 Polizisten gtit 28000 Stunden lang im Einsatz waren. Die Kosten für Berlin „belaufen sich auf die schlich-te Summe von 1,1 Millionen Euro“, heißt es in dem Aufsatz der Spitzenbeamten. Damit schluckt Union etwa ein Drittel der Ge-samtausgaben für den Fußball. Insgesamt kosteten die Polizeiein-sätze in der Saison 2007/2008 gut 3,5 Millionen Euro, heißt es in der Antwort der Innenverwaltung auf eine Anfrage des grünen Ab-geordneten Benedikt Lux. Zwei Jahre zuvor lagen die Kosten noch bei 4,4 Millionen Euro. Die Zahl der Hooligans, die bei der Polizei in der „Kategorie C“ und somit in der gefährlichsten Stufe registriert sind, habe sich „deutlich verringert“, so die Innenverwaltung. Sie sank von 275 auf 140 Männer, die sich auf vier: Vereine (Hertha, Union, Dynamo und Tennis Borussia) verteilen. Die Zahl der nächstniedrigeren „Kategorie B“ stieg demzufolge von 780 auf 940 Personen.
Bereits vor einem Jahr hatte Polizeipräsident Glietsch erwogen, die Einsatzkosten von den Vereinen zurückzufordern. „Es ist dem Steuerzahler auf Dauer nicht zuzumuten, dass Fußballspiele dieser Art mit derart hohem Aufwand polizeilich begleitet werden müs-sen“, hatte Glietsch vor dem Spiel Union gegen Dresden gesagt. Dazu kommen noch die Kosten der Bundespolizei, die bei Risiko-spielen ebenfalls mit mehreren hundert Beamten die An- und Ab-reise sichert.
Von der Idee, den Vereinen die Kosten in Rechnung zu stellen, ist die Polizeiführung abgerückt. Dies sei politisch nicht durchsetz-bar, sagte Neubeck. Stattdessen wird jetzt mit Spielverboten ge-droht - als schärfstes Mittel. Möglich seien auch ein Spiel ohne Zu-schauer oder eine Verlegung in ein sicheres Stadion.
Der Tagesspiegel 1.9.2008
Andre Görke und Jörn Hasselmann
REZENSIONEN
Olympia auf Hochglanz
Der Verlag das Neue Leben steht seit 2000 an der Spitze der
deutschen Olympia-Buch-Rangliste und hat 2008 diese Position schon mit dem Erscheinen mit Bravour verteidigt, noch ehe mögli-che Rivalen überhaupt auf der Bildfläche der Buch-Ladentische er-schienen. Den Herausgebern Heinz Florian Oertel und Kristin Otto wurden zwar noch keine Peking-Medaillen überreicht, aber verdient hätten sie es allein für ihren Leitartikel, dessen Titel „Peking war eine gute Entscheidung“ und den Kernsatz: „Die Erwartungen je-ner, die für diese Spiele nur außerordentlich schlechte Prognosen bereithielten, sind eindeutig enttäuscht worden.“
Als nächstes sollte wohl Sybille Bock genannt werden, die im Im-pressum für grafische Gestaltung genannt wird – ebenfalls medail-lenreif!
Als „Chefredakteur“ fungierte Volker Kluge und auch er hat sich unbestritten olympischen Lorbeer verdient, wenn auch in diesem fall auf Abstriche nicht verzichtet werden kann. Seine mit der Mah-nung „Zurück auf den richtigen Weg“ überschriebene, vornehmlich dem Fackellauf gewidmete olympische Mini-Enzyklopädie enthält manch fragwürdige Passage. Liest man zum Beispiel: „Dass Hitler die 1936er Spiele für seine Propaganda nutzte, ist sicherlich kon-sensfähig“, muss man schon fragen, wer solchen Konsens (Zu-stimmung) akzeptiert haben könnte. Ähnliches gilt für die Passage: „Der Ausschluß der ‚Mittelmächte„ von den Spielen 1920 ... wurde vom IOC gutgeheißen und als gerechte Strafe angesehen, die sich für Deutschland noch um 1924 verlängerte.“ Mag Kluge sich vor-stellen, was sich in Antwerpen 1920 zugetragen hätte, wenn deut-sche Sportler dort an den Start gegangen wären? Kluges Vor-schlag, olympische Fackelläufe auf einen „kurzen, nämlich richti-gen Weg zurückzuführen“ berücksichtigt nicht, wer die fackeln trägt. 1984 kauften sich Gangsterbosse in den USA das Fackelträ-gerrecht, was auch kaum zu akzeptieren war, aber in der „freien Welt“ nicht auf Kritik stieß.
Die Autoren des Buches alle aufzuzählen ist kaum möglich. Die meisten sind Fachleute auf ihrem Gebiet, was das eine oder ande-re Fehlurteil nicht ausschließt. Hartmut Scherzer, der über das Bo-xen schrieb, über die Kubaner: „Dass Fidel Castro dieses Fiasko noch erleben musste: Seine Boxstaffel kehrte ohne Gold von Pe-king nach Havanna zurück. Das sportliche Aushängeschild der Re-volution ist empfindlich zerkratzt worden. ... Keiner der fünf Olym-piasieger von Athen war noch dabei.“
Hartmut Scherzer weiß es natürlich besser und Chefredakteur Kluge hätte es ihm sagen sollen: Die meisten jener Athen-Sieger wurden in die BRD geschmuggelt, um dort die Profiställe zu ver-stärken. Fidel Castro hat die Spiele übrigens ausgiebig am Fernse-hen verfolgt, auch kommentiert und schrieb über die Boxer: „Kuba hat weder jemals einen Athleten noch einen Schiedsrichter gekauft. Ich bin nicht verpflichtet, bezüglich der Mafia Schweigen zu bewah-ren. Was sie mit unseren jungen Boxern taten, um die Arbeit derje-nigen zu vollenden, die sich dem Raub von Athleten aus der Dritten Welt widmen, war kriminell.“
Gunnar Meinhardt interviewte den Ringertrainer Wolfgang Nit-schke und ließ sich von ihm seine Erlebnisse in China schildern. Was er schlicht unterschlug: Nitschke war DDR-, dann Bundestrai-ner und wurde wegen „Stasi“-Anwürfen gefeuert. Den Job in China hatte ihn die Weltringer-Föderation verschafft.
Hartmut Scherzer schrieb auch über den Radsport und behaupte-te: „Das ... ‚Streckenprofil„ ... machte das 245-km-Rennen zum schwersten seit 1896.“ Fachleute könnten einwenden, dass zumin-dest das 1912 vornehmlich auf Karrenwegen ausgetragene 320 km lange Einzelzeitfahren um den Mälarsee nach wie vor die härteste Radsportprüfung der olympischen Geschichte bleibt.
Das alles ändert nichts an den hohen Noten für dieses Buch!
Werner Stenzel
H.F. Oertel/K. Otto: Unser Olympiabuch Peking 2008. Berlin 2008, 240 S.; Preis: 19,90 Euro
Das andere Olympiabuch
Das Spotless-Taschenbuch zum Thema Peking verzichtet de-monstrativ auf bunte Bilder, bietet nicht einmal eine Liste der Sie-ger. Aber es befasst sich intensiv mit der Frage, wie „Deutschland“
mit den XXIX. Spielen umging. Autor Klaus Huhn, der auf 17 miter-lebte Spiele verweisen kann, beginnt seinen Report mit acht Epi-soden. Die Fakten findet man in anderen Olympiabüchern kaum. Zum Beispiel dass einer der deutschen Journalisten einem Kolle-gen wegen seiner vom IOC empfohlenen Teilnahme am Fackellauf in Peking eine zu „chinanahe“ Haltung vorwarf, was dazu führte, dass man ihn noch vor der Eröffnung der Spiele nach Hause beor-derte.
Das Buch besteht aus zwei Kapiteln. Das eine behandelt ausgie-big die Ereignisse in Mexiko 1968, als die beiden Sprinter Tommie C. Smith und John Wesley Carlos bei der Siegerehrung des 200-m-Laufs für die Menschenrechte der Afroamerikaner in den USA demonstrierten, gleich danach aus der USA-Mannschaft ausge-schlossen wurden und auf IOC-Weisung das olympische Dorf ver-lassen mussten. Im Grunde entschied das IOC an diesem Tag , nie mehr politische Demonstrationen in olympischen Stätten zuzulas-sen.
Das zweite Kapitel – Kern des Buches – behandelt die Haltung der Deutschen gegenüber Olympia und stellt klar, dass schon die Sportorganisationen des Kaiserreiches entschieden hatten, die I. Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen zu boykottieren. Das Motiv: Die Idee für die Spiele stammte von einem Franzosen! Der Boykott scheiterte allein an dem Engagement eines Berliner Chemikers, der alle Drohungen ignorierend eine Mannschaft for-mierte – sämtliche Mitglieder wurden von ihren Sportverbänden ausgeschlossen –, mit ihr nach Athen reiste und auf den dritten Rang in der Medaillenwertung kam.
Dass es 2008 keinen deutschen Boykott gab, dürfte vor allem den deutschen Konzernen zuzuschreiben sein, die nicht bereit wa-ren, die antikommunistische Haltung der Bundesregierung ihren Profitinteressen zu opfern. Ex-Bundeskanzler Schröder begründete diese Haltung überzeugend und wird ausgiebig zitiert.
Die Bundesregierung aber blieb bei ihrer Haltung, setzte den „Beauftragten für Menschenrechte“, Nooke, als eine Art „Stoßstür-mer“ ein und schickte ihn schließlich sogar nach Peking, wo er – wie die Kanzlerin – demonstrativ die Eröffnungsfeier boykottierte und dafür im olympischen Dorf für die von der Bundesregierung proklamierten „Menschenrechte“ agitierte. Selbst der Bundespräsi-dent wurde im Hinblick auf die Spiele aktiv.
Man muss nach all dem Klaus Huhn zustimmen: Olympia ist be-wahrenswert – auch vor der deutschen Politik!
Werner Stenzel
K. Huhn: Strahlendes Olympia und steinerne Gesichter. Berlin 2008, 95 S.; Preis: 5,95 Euro
GEDENKEN
Dr. paed. Lothar Köhler
17. November 1925 – 25. Mai 2008
Meine erste Begegnung mit Lothar Köhler hatte mit Sport nichts zu tun. Als Diensthabender beim Rat des Kreises Klingenthal musste ich ihn, den Kreisschulrat, an einem Novembertag 1980 in-formieren, dass drei Jungs aus dem Kinderheim „Tannenmühle“ in Erlbach ausgerissen waren. Dass sich 28 Jahre später der Kreis eben an jenem Kinderheim schließen sollte, ahnte damals keiner von uns, denn es war vor allem der Skisport, bei dem sich unsere Wege kreuzten. Skisport in der DDR schien ohne Lothar Köhler nicht denkbar.
Als Neulehrer für Geschichte und Sport hatte er zu Beginn der 1950er Jahre an der späteren August-Bebel-Schule in Klingenthal
mit ehemaligen Sportlern wie Otto Warg, 1932 der Jüngste in der deutschen Mannschaft für die Holmenkollenspiele, einen Lehrplan entwickelt, der auf die Skisport-Ausbildung an den Schulen in den Mittelgebirgsregionen ausgerichtet war. Dass der Klingenthaler 1954 zum Vorsitzenden der Kinder- und Jugendkommission des Deutschen Skiläuferverbandes (DSLV) berufen wurde, war deshalb kein Zufall. Ebenso wenig sein weiterer Weg im Skisport: 1974 wurde er zum Präsidenten des DSLV gewählt, ab 1976 war er Mit-glied des Komitees Nordische Kombination des Internationalen Skiverbandes (FIS).
Kreisschulrat blieb er weiterhin, und an Arbeit mangelte es im All-tag nicht. In 16 Städten und Gemeinden des knapp 38.000 Ein-wohner zählenden Kreises Klingenthal gab es 12 Polytechnische Oberschulen (POS), dazu eine Kinder- und Jugendsportschule (KJS) und eine Erweiterte Oberschule (EOS), in Markneukirchen eine Lernförderschule. Allein in die Jahre 1975 und 1983 fielen Schulneubauten in Erlbach und Schöneck, in Tannenbergsthal und Klingenthal. Auch das Kinderheim „Tannenmühle, 1921 in einer still gelegten Knochenmühle eingerichtet, wurde ab 1975 erstmals um-fassend rekonstruiert.
Rückblickend fragt man sich manchmal, woher nahm Lothar Köh-ler, selbst Vater von vier Kindern, die Zeit. Als DSLV-Präsident kümmerte er sich weiterhin um die Organisation des Internationa-len Damenskirennens in Mühlleithen. Es war die international er-folgreichste Skisportveranstaltung in der DDR. Wer die Beratungen des Organisationskomitees erlebte, lernte seinen Arbeitsstil ken-nen: kein langes Palaver, konkrete Vorgaben, knallharte Abrech-nung. Er war ein Managertyp, wo es die Arbeit erforderte, und er war ein einfühlsamer Mensch, wenn es um Kinder ging.
Das alles schien mit der Wende 1989/90 vergessen. Die neuen Politiker der Stadt verboten ihm regelrecht Auftritte in der Öffent-lichkeit. Diese Demütigung in der Heimat hat Lothar Köhler nie völ-lig verwunden. Außerhalb von Klingenthal war er weiterhin gefragt. Das Komitee für Nordische Kombination der FIS wählte ihn zum Ehrenmitglied, 1993 präsentierte er sein Buch „Die Nordische Kombination 1879-1993“.
Politisch hatte er weiterhin seine Heimat in der PDS, er unter-stützte die Bundestagkandidatur von Täve Schur, und wurde im Januar 1999 offiziell vom Kreissportbund Vogtland gebeten, sich
wieder für den Skisport der Region zu engagieren. Nach längerem Überlegen sagte er ein weiteres Engagement ab, brachte aber in den Folgejahren zahlreiche Ideen zur Aktivierung der Nachwuchs-arbeit in den Vereinen ein. Wer ihn um Rat bat, wurde nicht ent-täuscht. Auch bei internationalen Wettkämpfen an der 2006 einge-weihten Vogtland-Arena konnte man ihn wieder treffen.
Als er von seiner unheilbaren Krankheit erfahren hatte, zog sich Lothar Köhler aus der Öffentlichkeit zurück. Drei tage nach der Di-amantenen Hochzeit, die er noch bei vollem Bewußtsein erlebte, verstarb er. Sein letzter Wille, veröffentlicht in der Todesanzeige der regionalen Tageszeitung, galt dem Kinderheim „Tannenmühle“. Er bat, bei seiner Beerdigung auf Blumen und anderes zu verzich-ten, und das Geld den Kindern zu spenden. Mehr als 2.100 Euro kamen auf diesem Weg zusammen. Verwendet wird das Geld zur Feriengestaltung von Kindern, die keine Familie mehr haben.
(th)
Bruno Baade
21. Mai 1930 - 9. Mai 2008
Mit Bruno Baade haben wir einen Sportfreund verloren, der viele Jahre seines Lebens in der Sportorganisation aktiv wirkte und uns unvergessen bleibt.
Nach seiner Lehrzeit als Elektroinstallateur und der Arbeit in die-sem Beruf, in der NeptunWerft Warnemünde, nahm Bruno 1954 seine hauptamtliche Tätigkeit im Sport auf. Gemeinsam mit unse-rem unvergessenen Sportfreund Willy Langheinrich gründete er die BSG Empor Rostock, in deren Vorstand er danach tätig war.
Mit der Gründung des DTSB 1957 wurde Bruno, auch auf Grund seiner Erfolge bei der Werbung vieler Rostocker Bürger, vor allem von Kindern und Jugendlichen für die sportliche Betätigung, zum Vorsitzenden des Kreisvorstandes Bad Doberan des DTSB ge-wählt. Dank seines Engagements entstanden neue Sportgemein-
schaften und Kreisfachausschüsse 1973 folgte Bruno dem Ruf, Di-rektor der DTSB-Sportschule in Rerik zu werden. In den Jahren bis 1990, dem Auflösungsjahr der Sportschule, nutzten viele Sportver-bände des DTSB, darunter, diese Anlage für die Aus- und Weiter-bildung. So gewann die Reriker Sportschule bei Sportgemeinschaf-ten und Sportverbänden einen guten Ruf – nicht zuletzt dank Brunos Tätigkeit. Zu diesem Ruf trug bei, dass dort viele Mitarbei-ter des DTSB mit ihren Angehörigen in den Sommermonaten er-holsame, kostengünstige Urlaubstage an der Ostsee verleben konnten. Und alljährlich freuten sich die Kinder auf zwei Durchgän-ge in ihrem Ferienlager an der Ostsee.
Als 1990 das jähe Ende der inzwischen restlos abgerissenen Sportschule bescherte, legte Bruno die Hände nicht in den Schoß. Er engagierte sich in Bad Doberan für die sozialen Belange vor al-lem in Rentenfragen. Seine Verbundenheit zu denehemaligen Sportfreunden riß nie ab. Er war bis zu seinem Tod Angehöriger des Freundeskreises der Sport-Senioren, die seiner immer in Eh-ren gedenken werden.
Erhard Richter
Walter Kirchner
8. Juli 1925 - 10. Juni 2008
Heutzutage liest man in Veröffentlichungen der Linken - selbst in der deutschen Sozialdemokratie - wieder häufiger den ehrenden Begriff eines Parteiarbeiters, wenn man die Verdienste eines Men-schen kennzeichnen will, der für seine Überzeugung in den Reihen der sozialistischen Arbeiterbewegung lebenslang aktiv tätig war. Walter Kirchner war ein solcher Parteiarbeiter für die kommunisti-sche Sache in den Reihen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, ein antifaschistischer Kämpfer für die Rechte und Verbesserung der Lebensverhältnisse der einfachen Menschen.
Viele Sportfreunde haben in den vergangenen Jahrzehnten seit Ende der fünfziger Jahre Walter Kirchner als aktiven Sportfunktio-när kennen gelernt. Als politischer Mitarbeiter in der Bezirksleitung Halle, dann in der Abteilung Sport des Zentralkomitees der SED
und danach im Staatssekretariat für Körperkultur und Sport tätig, hat er an vielen sportpolitischen Entscheidungen mitgewirkt und als verlässlicher Parteiarbeiter und im Staatsapparat dazu beigetra-gen, die Gesamtentwicklung des Sports in der DDR voranzubrin-gen. Aus einer kommunistischen Arbeiterfamilie in der Niederlau-sitz stammend, hat Walter in früher Kindheit bereits Not und Ent-behrungen erlebt als auch politische Auseinandersetzungen der sich zur KPD bekennenden Eltern mit dem Faschismus. 1938 kam er nach dem Tod seiner Mutter als Vollwaise ins Städtische Kin-derheim Halle. Den Vater hatte er schon 1931 verloren.
In der Saale-Stadt konnte er eine Lehre als Bau -und Möbeltisch-ler abschließen, ehe ihn der faschistische Raubkrieg in den Ar-beitsdienst und dann als Infanterist an die Front zwang, wo er ver-wundet in englischer Kriegsgefangenschaft geriet. Von Jahresbe-ginn 1946 an als Tischlergeselle tätig, bekannte er sich dem Bei-spiel der Eltern folgend zur KPD und begann eine aktive Tä-tigkeit in der IndustrieGewerkschaft Holz und dann im FDGB. Er bewährte sich als Jugendsekretär, besuchte die Landesschule des FDGB und war dann von 1953 bis 1954 -selbst lernend und dann lehrend - an der Landesparteischule in Sachsen-Anhalt und Son-derschule für Wirtschaftsfunktionäre in Ballenstedt tätig. Es folgten drei Jahre kombiniertes Fern- und Direktstudium an der Partei-hochschule in Berlin mit dem Abschluss als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler und danach bis 1961 wurden ihm in der Bezirksleitung der SED in Halle Aufgaben im Bereich der Mas-senorganisationen und auch im Sport übertragen.
Die Entwicklung des Sports im Arbeiterbezirk Halle mit seinen Grossbetrieben, dann auf dem Lande aber auch in der Universi-tätsstadt Halle bot viele Möglichkeiten, den engen Bezug des Sports zu den Arbeits- und Lebensverhältnissen der Menschen un-ter dem Aspekt der politischen Ausstrahlung und Wirksamkeit des Sports kennen zu lernen und zu erfassen. Als er 1961 in die Abtei-lung Sport im Zentralkomitee berufen wurde, konnte er fortan diese seine politischen Erfahrungen einbringen. Er nahm sofort ein Fern-studium an der DHfK auf, das er 1965 als Diplom-Sportlehrer ab-schloss. Ab 1974 wirkte er als Abteilungsleiter für Kaderfragen im Staatssekretariat für Körperkultur bis ins Jahr 1988, ehe ein Schlaganfall seinem Berufsleben ein Ende setzte. In diesen Jahr-zehnten hat sich Walter als Mitverantwortlicher im sportpolitischen
Bereich mit ganzer Kraft für die Förderung des Sports in der DDR eingesetzt. Besonders eng war seine Beziehung zum Fußballsport und als er 1974 in Hamburg den Sieg der Nationalmannschaft über die Mannschaft der Bundesrepublik miterleben konnte, hat er das als einen Höhepunkt seines Sportlerlebens empfunden wie auch den Besuch als Tourist bei den Olympischen Spielen 1980 in Mos-kau. Natürlich fehlte er nie bei einer der sportlichen Großveranstal-tungen in der DDR. Der Sport gehörte zu seinem Leben. Walter hat sich immer als einer von vielen Mitverantwortlichen empfunden und gesehen, die mit hoher persönlicher Einsatzbereitschaft daran mit-wirkten, die vielen kleinen Aufgaben der Organisation des Sports erfolgreich zu lösen, ohne die das Große, Ganze nicht funktionie-ren konnte. Dabei war auf ihn immer Verlass. Er war verständnis-voll und immer ein zuverlässiger Sportfreund. So wird er vielen Ge-fährten dieser Jahrzehnte in guter Erinnerung bleiben.
Günter Erbach
Günther Herschel
25. März 1927 – 27. Juni 2008
Nach langer schwerer Krankheit verstarb Günther Herschel im Al-ter von 81 Jahren. Damit vollendete sich ein arbeitsreiches und verdienstvolles Leben für den Sport, insbesondere für die Leicht-athletik.
Günther Herschel war für alle, die mit ihm zusammenarbeiteten und im Sport gemeinsame Ziele verfolgten, ein Vorbild. Aufgrund seiner Sachlichkeit und seines Könnens, das er sich in seiner lang-jährigen Tätigkeit als Trainer erworben hatte, wurde er im Deut-schen Verband für Leichathletik (DVfL) ebenso geachtet und aner-kannt wie im Versehrtensportverband (DVfV).
Geboren in Marienthal, Kreis Zittau, erlernte er - nach erfolgrei-chem Schulabschluss - zunächst den Beruf eines Werkzeugma-chers im VEB Ropurwerke Zittau. Seine aktive Zeit als Leichtathlet begann in Großschönau, als er mit einer Handvoll Interessenten
eine Sektion gründete und sofort im freiwilligen Nationalen Aufbau-Werk (NAW) an den Bau der noch nicht vorhandenen Sportanla-gen ging. 1955/1956 besuchte er die Trainerfakultät der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig und war danach Trainer bei Fortschritt Weißenfels in Löbau und bei Motor Dresden-Ost, wo er die gehörlosen Leichtathleten trainierte. Seit 1958 ge-hörte er der Fachkommission Leichtathletik der Sektion Versehr-tensport bzw. ab 1959 des DVfV an und betreute gemeinsam mit Trainer Fritz Klemm aus Dresden die Auswahlmannschaften der Gehörlosen zu den Weltspielen 1961 in Helsinki und 1969 in Bel-grad.
Auch die körperbehinderten Leichtathleten des DVfV der DDR führ-te er bei den Länderkämpfen gegen die CSSR 1963 in Dresden, 1965 in Prag und 1974 in Dresden durch seine Vorbereitung und Unterstützung zum Sieg sowie die Sportfreunde Christian Schlicke und Hermann Dörwald mit persönlichen Bestleistungen zu Gold-medaillen bei den II. Weltspielen der Versehrten 1975 in Saint Eti-enne (Frankreich).
Seit 1967 arbeitete Günther Herschel als Trainer im Sportclub Ein-heit Dresden, wo er ab 1975 für die Nachwuchsentwicklung ver-antwortlich war. Zu seinen Aufgaben gehörten, die Sichtung und Auswahl bis zur KJS-Aufnahme, die Zusammenarbeit mit den Trai-ningszentren des Bezirkes Dresden und die ganzjährige Wett-kampfgestaltung mit den Höhepunkten Altersklassen-Meisterschaften und Spartakiaden. Er nahm an allen zwölf zentra-len Kinder- und Jugendspartakiaden der DDR teil, in unterschiedli-chen Funktionen im zentralen Organisationsbüro.
Unverzichtbar war Günther Herschel als Organisator von Wett-kämpfen. Eine Leichtathletikveranstaltung in Dresden war ohne ihn undenkbar. Ob kleine Abendsportfeste, DDR-Meisterschaften oder Länderkämpfe, stets waren seine Erfahrungen gefragt. Seine Spe-zialstrecke war die Zeitplanung, da machte ihm keiner etwas vor.
Nach 1990 betreute er Leichtathleten der SG Versehrte Dresden und baute zwei Topathleten für die Teilnahme an den Paralympics 1996 in Atlanta und 2000 in Sydney auf. Seine letzte große organi-satorische Aufgabe übernahm er bei der kurzfristig von Cottbus nach Dresden verlegten Meisterschaft der Senioren des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) 1996, einer Meisterschaft her-vorragender Organisation, wie die neunzig aus den alten Bundes-
ländern angereisten Athleten, Begleiter und Funktionäre überein-stimmend bestätigten.
Hermann Dörwald
Irene Salomon
12. Februar 1940 – 8. August 2008
Sie stand selten im Vordergrund, tat aber viel, wenn es darum ging, der DDR und vor allem dem Sport der DDR voranzuhelfen. Sie spielte mit Begeisterung Basketball und betrieb damit einen Sport, der eines Tages in die zweite Reihe geriet. Sie jubelte nicht, brachte aber Verständnis dafür auf, dass die DDR nicht für alle „Reihen“ die nötigen Mittel aufbringen konnte und gehörte nicht zu denen, die auf der anderen Seite krakeelten, dass die DDR nur Sport fördere, der ihr Medaillen verhieß. Aus Irene Salomons Sicht betrachtet, ergab sich daraus, dass sie sich mit einer Bronzeme-daille, errungen bei den Europameisterschaften 1966, begnügen musste.
Wohin man immer sie rief, sie kam. Sie assistierte im Roten Rat-haus dem Stadtrat für Jugend und Sport, fungierte im DTSB als stellvertretende Vorsitzende des Bezirksvorstands Berlin und über-nahm es, die Fundamente für ein DDR-Sportmuseum zu konzipie-ren, dessen Sammlung bald stattliche Ausmaße annahm. Als die DDR unterging, brauchte man auch deren Sportmuseum nicht mehr und plötzlich war Irene von Figuren umgeben, die ihre Zu-kunft in der Auslieferung aller Werte sahen. Das waren bittere Stunden für sie, die ihren Gipfel erreichten, als man sie in den übelsten Boulevardblättern bezichtigte, die Victoria – die 1900 ge-stiftete Trophäe für den deutschen Fußballmeister, die man 1949 in
den Westen hatte „fliehen“ lassen wollen – gestohlen zu haben. Auf dem Flur vor ihrer Wohnung lungerten Scharen von Journalisten Sie überstand, von verlässlichen Freunden beraten, alle Turbulenzen, wurde aber, wie so viele “abgewickelt”. Mit über fünfzig lernte sie Versicherungspolicen zu verkaufen und kämpfte ums Überleben in der angeblich „freien“ Gesellschaft. Aber immer bewahrte sie den Idealen, denen sie sich einst verschworen hatte, die Treue, gehörte zu denen, die bei Wind Wetter darum kämpften, den Palast der Republik vor dem Abriss zu bewahren und war mit von der Partie, wenn es darum ging, Literatur, die die Wahrheit über die DDR enthielt, zu verbreiten.
Klaus Huhn

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BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE
HEFT 28 / 2009
INHALT
3 Autoren
5 Sind noch Fragen?
Werner Stenzel
13 Glanz und Elend eines Pokals
Klaus Huhn
21 Es war einmal…
Klaus Ullrich
//DOKUMENTATION/DISKUSSION
23 Deutsch-deutsche Sportbeziehungen und die
„Hallstein-Doktrin“
Vorlesung Prof. Dr. Martin H. Geyer
41 Vor fünfzig Jahren: Erster Friedensfahrt-Start in Berlin
46 1924: Als Coubertin Ehrenpräsident war
57 Hinweise für „Aufarbeiter“
Erhard Richter
//REZENSIONEN
60 Über die deutsche Sportmedizin
Margot Budzisch
63 Auf den Spuren einer Legende
Klaus Huhn
// ZITATE
67 Unternehmen knausern beim Sponsoring
68 Dem Anzug geht es an den Kragen
70 Breite Front gegen den Nestbeschmutzer
71 Es gibt viel zu bereden
74 34 Medaillen im Plan
74 Stammtischredner im Bundestag
76 Zwischen Gischt und Galle
78 Worum es wirklich geht…
80 Wer kann zahlen?
// GEDENKEN
82 Manfred Paerisch
Dr. Edgar Bredow /Dr. Ulrich Pfeiffer
86 Horst Künnemann
Erhard Richter
88 Gerhard Kleinlein
Klarissa Kleinlein
90 Otto Jahnke
Alfred Heil
AUTOREN
EDGAR BREDOW, Dr. med. habil., geboren 1937, Praktischer Arzt, Facharzt für Sportmedizin, wiss. Mitarbeiter an der DI IfK 1966 bis 1969; 1988 bis 1990, Bereichsoberarzt am FKS Leipzig 1969 bis 1988. Niedergelassener Arzt ab 1991.
MARGOT BUDZISCH, Dr. sc. paed., geboren 1935, Prof. für Theorie der Körpererziehung an der Humboldt-Universität zu Berlin 1977 bis 1994
ALFRED HEIL, Präsident des DDR-Tennisverbandes, geboren 1924,
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist, Sporthistoriker. Ehrenmitglied der Europäischen Sportjournalistenunion (UEPS)
ULRICH PFEIFFER, Dr. paed., geboren 1935, Diplomjournalist, Chefredakteur der Zeitschrift „Theorie und Praxis des Leistungssports" bzw. „Training und Wettkampf" 1977 bis 1991.
HERMANN DÖRWALD, geboren 1925, Vorsitzender des Bezirksfachausschusses Versehrtensport Dresden 1957 bis 1990
ERHARD RICHTER, geboren 1929, Generalsekretär des Deut-. schen Ringer-Verbandes (DRV) 1980 bis 1986
WERNER STENZEL, geboren 1937, Diplom-Historiker
LEERSEITE
SIND NOCH FRAGEN?
Von WERNER STENZEL
Der Februar war der zweite Monat des zum „Gedenkjahr“ ausgerufenen Jahres 2009, in dessen Verlauf nach Wunsch der Obrigkeit rund um die Uhr an den 20. Jahrestag des „Mauerfalls“ und des Untergangs der DDR erinnert werden sollte. Dass in diesem Szenarium die bartalten Dopingvorwürfe eine gravierende Rolle spielen sollten, lag auf der Hand. Doch mitten in den emsigsten Vorbereitungen, kam es zu einem nicht vorhersehbaren Kurzschluss in den angeblich so verlässlichen Strukturgeräten: Ein durch Birthler-Akten angeblich überführter „Schuldiger“ war durch einen vom ZDF aufgebotenen Kronzeugen hoffnungslos belastet worden. Der Fall schien so klar wie kaum einer zuvor. Bis zu der Stunde, da sich herausstellte, dass der ZDF-Zeuge zu DDR-Zeiten im Dienste des MfS gestanden hatte!
Es ergab sich eine noch nie zuvor erlebte Konstellation: Ein – nach den heutigen Medien-Maßstäben als IM zu verurteilender MfS-Agent – fungierte plötzlich als Zeuge gegen eine Person, die angeklagt worden war, im Dienste des Unrechtsstaats DDR harmlosen, unschuldigen Athleten zwangsweise oder unter Vortäuschung falscher Tatsachen Doping verabreicht zu haben. Dass die DDR als „Unrechtsstaat“ der Hautangeklagte blieb, lag auf der Hand, aber wie sollten nun die persönlichen Anklagen formuliert werden. Beide Betroffene hatten freiwilig gehandelt – war monatelang versichert worden und konnte nun nicht über Nacht widerrufen werden. Wenn auch inzwischen Arbeitsgerichte bemüht wurden, die große politische Entscheidung konnte niemand guten Gewissens treffen, denn auf beiden Seiten begegnete man dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR und es fand sich logischerweise niemand, der bereit gewesen wäre völlig neue Kategorien zu konzipieren: MfS I und MfS II.
Selten sah man die DDR-Ankläger so hilf- und ratlos wie in dieser Situation.
Um nicht weiter anonym zu agieren, die wichtigsten persönlichen Fakten. Der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) hatte den Berliner Trainer Werner Goldmann wegen angeblicher Dopingvergehen, die obendrein über 20 Jahre zurückliegen würden – wodurch in jeder juristischen Kategorie Verjährung wirksam geworden wäre -, entlassen. Der vom ZDF aufgebotene Kronzeuge Gerd Jacobs hatte behauptet, Goldmann hätte ihm während der Zeit, da er als Kugelstoßer aktiv war, veranlasst Doping-Pillen zu
nehmen.
Die Aktion hatte zu einer in der Geschichte des deutschen Sports nahezu einmaligen Aktion geführt: Zwanzig Spitzenathleten hatten die deutsche Sportobrigkeit aufgefordert, die Treibjagd auf DDR-Trainer zu beenden.
Eine Bewertung der so entstandenen Situation kommt ohne einen Blick auf die Geschichte des Dopings nicht aus, weil die seit 1990 in Deutschland geführte Kampagne faktisch davon ausgeht, dass die DDR – um politischer Anerkennung willen – Doping im Sport zur Staatsangelegenheit erklärte und ohne jede Rücksicht auf die Gesundheit der Athleten Doping bei der Jagd nach Medaillen einsetzte.
Doping – das bestreitet im Grunde niemand – wurde seit Jahrzehnten benutzt, um sportliche Leistungen um der verschiedensten Motive willen zu steigern. Es eskalierte faktisch zu einer wissenschaftlichen Disziplin, was sich leicht belegen lässt.
Als 1904 die III. Olympischen Spiele der Neuzeit in St. Louis (USA) stattfanden, gewann dort der US-Amerikaner Thomas Hicks den Marathonlauf und sein Trainer ließ sich für seine Dopingvarianten von den Kollegen feiern. Man arrangierte sogar 1905 einen wissenschaftlichen Kongress, damit er dort die Details erläuterte. Auszüge seines Vortrags: “Der Marathonlauf zeigte vom medizinischen Standpunkt deutlich, daß Drogen für die Athleten bei einem Straßenlauf von großem Nutzen sind. Zehn Meilen vor dem Ziel waren bei Thomas Hicks Anzeichen eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs zu bemerken. Als er um ein Glas Wasser bat, verweigerte ich es ihm; ich gestattete ihm lediglich, den Mund mit destilliertem Wasser auszuspülen. Er schien sich zu erholen bis sieben Meilen vor dem Stadion. In diesem Augenblick sah ich mich gezwungen, ihm ein tausendstel Gran Strychnin mit einem Eiweiß einzuflößen. Obwohl wir auch französischen Cognac bei uns hatten, verzichteten wir darauf, ihm noch weitere stimulierende Mittel zu geben. Vier Meilen vor dem Ziel bat Hicks darum, sich hinlegen und ausruhen zu dürfen. Weil wir aus Erfahrung genau wußten, was passieren würde, wenn Thomas sich jetzt niederlegen würde, gaben wir dazu nicht die Zustimmung und empfahlen ihm vielmehr, im langsamen Schritt weiterzugehen. Als Hicks die 20-Meilen-Marke passierte, war sein Gesicht aschfahl, so daß wir ihm noch einmal ein tausendstel Gran
Strychnin, zwei Eier und einen Schluck Brandy gaben. Außerdem rieben wir seinen ganzen Körper mit armem Wasser ab, das wir in einem Boiler in unserem Automobil hatten. Nach diesem Bad erholte sich Hicks noch einmal. Die letzten beiden Meilen lief Hicks nur noch mechanisch - wie eine gut geölte Maschine. Seine Augen verloren jeden Glanz, das Gesicht war völlig blutleer, die Arme hingen schlaff herab, und Hicks vermochte kaum noch die Beine zu heben, die Knie wirkten völlig steif. Er war bei Bewußtsein, doch plagten ihn Halluzinationen. So wurde die letzte Meile zu einer einzigen Qual. Nachdem er noch zwei Eier zu sich genommen hatte, erneut gebadet worden war und einen zusätzlichen Schluck Brandy erhalten hatte, ging er mühsam die letzten beiden Hügel vor dem Ziel hinauf und schaffte es. Hicks verlor während des Rennens acht Pfund, aber nach einem ausgedehnten Nachtschlaf und einer guten Mahlzeit fand man zur großen Überraschung heraus, daß er die Hälfte der verlorengegangenen Pfunde bereits wieder zurückgewonnen hatte."
Niemand nahm damals oder später Anstoß an der Dopingpraxis und Hicks findet sich bis heute in jeder Olympiachronik als Marathonsieger.
1960 fanden die XVII. Olympischen Spiele in Rom statt und im “Offiziellen Standardwerk des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland” las man den folgenden Bericht des renommierten österreichischen Sportjournalisten Martin Maier: “Die Nachricht hing am Schwarzen Brett wie ein Resultat, und das war sie ja auch, das endgültige Resultat: 'Das Ärztekollegium der Olympischen Spiele bedauert.. .'
Um 9.31 Uhr war die dänische Mannschaft hoffnungsfroh zum Mannschaftsrennen gestartet. Um 10.24 war sie zum ersten Wendepunkt zurückgekehrt, mit allen Aussichten auf gutes Abschneiden, sie lag an vierter Stelle. Um 11.24 Uhr fielen Knud Enemark Jensen und sein Landsmann Jörgen Jörgensen vom Rad. Um 11.48 Uhr lagen sie im Krankenhaus. Und dann brauchte Knud Jensen keine Uhr mehr und keine irdische Zeitrechung. Er starb um 15.30 Uhr.
Daß die beiden Dänen zu gleicher Zeit stürzten, hatte etwas Gespenstisches. In der Gleichheit ihrer Bewegungen lag schon die Vorahnung von kommendem Unheil: als hätte beide die gleiche kalte Hand vom Rad gestreift. Und Jörgen Jörgensen war noch
einmal davongekommen. Der Tod von Knud Enemark Jensen, 23 Jahre, ist die Tragödie des Sports, der seine Grenzen nicht mehr erkennt, der nicht weiß, wann es genug ist, und der nicht mehr den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern die Leistung. Man hatte ihm ein aufputschendes Mittel gegeben, das zum Kollaps führte...“
Das erste deutsche Doping-Todesopfer war der Berufsboxer Jupp Elze, der am 12. Juni 1968 in Köln einen 15-Runden-Kampf gegen Duran bestritt, in der 15 Runde nach schweren Kopftreffern zu Boden ging und nach einer Notoperation verstarb. Die Obduktion ergab, dass man ihn mit drei verschiedenen Medikamenten – darunter Pervitin – gedopt hatte.
Dass 1990 der schon erwähnte Propaganda-Feldzug gegen den DDR-Sport begann, ist noch in guter Erinnerung. Die Legende vom „Sportwunder DDR“ sollte gründlich delegitimiert werden. Prozesse wurden geführt, die allerdings unter der Tatsache litten, dass die Gutachten der eigens aus den alten Bundesländern geholten Sachverständigen ignoriert wurden, was umso bedenklicher war, da kein Richter von sich behaupten würde, über medizinisches Fachwissen zu verfügen. In der Regel stützte man sich auf „Akten“ aus der Stasi-Unterlagen-Bearbeitungs-Behörde, von denen niemand zu sagen wusste – oder befragt wurde -, welchen medizinischen Wert sie aufzuweisen hatten. So wurde es zur Gewohnheit, dass Staatsanwälte und Verteidiger zu „Deals“ gelangten, bei denen die Angeklagten zwar Geldbußen akzeptierten, dadurch juristisch nicht als vorbestraft galten, aber dank der Zusage der Staatsanwaltschaften keine weiteren aufwändigen Prozesse zu befürchten hatten.
Als man an der Schwelle des „Gedenkjahrs“ 2009 ziemlich sicher war, die Kampagne mit dem „Fall Goldmann“ fortsetzen zu können, lieferte ausgerechnet “Sport-Bild” (06/2009) – möglicherweise nur um im Kampf um die „Quoten“ nicht ins Hintertreffen zu geraten – einen Querschläger, der die Anti-DDR-Front an einer Stelle ins Wanken geraten ließ, an der niemand damit gerechnet hatte. Titelzeile: “Der Kronzeuge war ein Stasispitzel!” Wortlaut: „Gerd Jacobs? Richtig. Er ist der Kronzeuge der vergangenes Jahr seinen ehemaligen Trainer Werner Goldmann verpfiff. ... Und jetzt entlarvt SPORT BILD diesen Gerd Jacobs, Goldmanns Verräter, ein Stasi-Spitzel. ... Sein Stasi-Geständnis ist sportpolitisch brisant.
Immerhin ist Jacobs der einzige Zeuge, auf den sich die unabhängige Kommission des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) stützte, als sie 2008 Goldmanns Entlassung empfahl. ... Die Frage lautet: Wie glaubwürdig ist eigentlich ein ehemaliger Stasi-Spitzel, wenn er seinen Ex-Trainer mit 20 Jahren Verzögerung verrät? ... Udo Steiner, der Mann, der Jacobs verhört hat, sagt: `wir sind uns dennoch sicher, dass er uns nicht angelogen hat.´”
Eine bedenkliche Erklärung für einen Mann, der zwölf Jahre im Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland agiert hatte. „Wir sind uns dennoch sicher?“ Woher bezieht ein Richter des höchsten deutschen Gerichts die Sicherheit, dass ein von ihm vernommener Zeuge ihn nicht belogen hatte? War er vereidigt worden? Hatte Richter a. D. Udo Steiner die Aussagen des Zeugen Jacobs durch andere Aussagen überprüft?
Nichts davon! Reichte es für ihn aus, dass es gegen die DDR ging? Herr Steiner demonstrierte immerhin Vertrauen zum MfS: Ein IM lügt nicht und – was noch schwerer wiegt - denunziert niemanden! Oder?
Wohlgemerkt, es geht nicht um das MfS, sondern um den Lügenkreuzzug gegen die DDR – in dem das MfS bekanntlich eine Hauptrolle spielt!
Aufschlussreiche Zwischenzeile aus “Bild”: „Jacobs lebt einsam. Er sieht seinen Ex-Trainer Erfolge feiern – und packt aus!”
Damit wäre das Motiv für die Denunziation enthüllt. Noch einmal – sozusagen zum Mitschreiben – ein IM soll zu DDR-Zeiten Kameraden verpfiffen haben und wurde deshalb als Stasitäter in “Bild” an die Wand gestellt. Nun hat er im “Gedenkjahr” einen DDR-Trainer denunziert und wird deswegen gefeiert? Die Front wankt!
Das war auch nicht mehr mit Sprüchen aus der Welt zu schaffen. Sogar die “FAZ” (2.2.2009), die bis dahin keine Gelegenheit ausgelassen hatte, der DDR die Erfindung allen Dopings vorzuwerfen, sah keine andere Möglichkeit, als zum ersten Mal auf alle Bremsen zu treten. Anno Hecker widmete dem Thema “Doper vereint Euch” einen überlangen Beitrag, der mit der Feststellung begann: “Die Stasi macht den Unterschied aus. Sie hat alles auf-geschrieben.”
Für schwerfällige Denker als Denkhilfe: Es tat sich in Ost und West das Gleiche, in Ost wurde es notiert, in West geschreddert.
Und dieser gravierenden Feststellung folgte ein bemerkenswertes Geständnis: „Das ganze staatliche Doping der DDR, Zahlen, Daten, Namen. Auch deshalb stehen Trainer wie Werner Goldmann jetzt am Pranger. Nur die Wessis nicht. Dabei war die Anabolika-Einnahme auch im organisierten Sport der freieren Deutschen weit verbreitet und Teil eines Systems.“
Man hielt den Atem an: „Teil eines Systems?“ War das nicht bis dahin Monopol der DDR gewesen,
Und ein gewisser Giselher Spitzer, der bis dahin die Trompete blies, schwieg.
Man las und staunte weiter: „Namhafte Athleten, bekannte Trainer, berühmte Ärzte, gefürchtete Kontrolleure und starke Funktionäre (sowie wohl auch einflussreiche Politiker) haben es heimlich ge-nutzt, geduldet, kaschiert, gefördert. Über die Wahrheit aber reden nur wenige.
Der Olympiasieger macht keine Umstände. Erster Kontakt, erstes Gespräch, direkte Ansage: `Nennen Sie meinen Namen?´ Nein. Denn es geht nicht um Personen, es geht um die Frage, ob es ein Doping-System gab in der Bundesrepublik. `Keine Ahnung´, sagt der Goldmedaillengewinner von 1984, `ich weiß nur eines, sie haben es alle gewusst.´ Sie? Das sind seine Kollegen gewesen, dazu der Heimtrainer, der Chef der Nationalmannschaft, der Verbandsboss. `Es war klar, dass es nicht ohne Pillen ging. Bei denen im Osten schien es etwas kontrollierter gewesen zu sein. Im Grunde waren wir auf gleichem Niveau. Was die Pillen betraf.´“
Nicht, dass man sich auf die Schenkel hauen und rufen würde: „Haben wir das nicht schon immer gesagt?“ Nein, man wusste es hierzulande und wusste auch, dass man es nicht beweisen konnte. Nun also nicht mehr nötig: Anno Hecker liefert in der FAZ das gedruckte Geständnis: „Damals im Kalten Krieg der Achtziger, als hüben wie drüben das Hohelied auf den sauberen Sport gesungen wurde. `Ich werde nicht genannt?´ Nein. `Na, dann kann ich ja sagen, dass bei der sportärztlichen Untersuchung auch geschaut wurde, ob die Leberwerte in Ordnung waren. Manchmal´, sagt der muskelbepackte Sportpensionär, `wurde ich vom Doc aufgefordert, etwas Gas rauszunehmen.´
Ärzte haben mitgemischt. Nach den offenen Plädoyers manch renommierter Sportmediziner für den kontrollierten Einsatz von Anabolika, ihren Beteuerungen, die Kraftpillen schadeten
verebbte die Debatte nach 1977 schlagartig. Athleten, die gestanden hatten, um Doping mit vereinten Kräften loswerden zu können, zogen sich, verleumdet, beleidigt und ausgeklammert von der Sportfamilie, zurück. Es blieben Grundsatzerklärungen gegen Doping, die das Papier nicht wert waren, weil der Ost-West-Konflikt die Leistungsfetischisten stützte: Medaillen brauchte das Land. Offenbar um jeden Preis.“
Das Geständnis war umfassend und so blieb gar keine andere Wahl, als es in den „Beiträgen“ abzudrucken – es ist ein Kapitel „Sportgeschichte“, zumal es nach dem Erscheinen niemand dementierte, anzweifelte, deswegen vor Gericht zog oder wenigstens irgendeinen Journalisten bezahlte, der einen „Widerruf“ formulierte. Nein, alle schwiegen und legalisierten es somit als Wahrheit!
Es ging noch weiter: „Auch im Namen der Bundesrepublik ist zum Wohle der Leistungsbilanz am Athleten geforscht worden. Olympiaarzt Professor Joseph Keul leitete in Freiburg eine 1986 begonnene multizentrale Studie über die Wirkung von Testosteron auf die Regeneration und Ausdauerleistungsfähigkeit bei Spitzensportlern. Sein bis zum Tode im Jahr 2000 von ihm vehement verteidigtes Ergebnis: `Testosteron bringt nichts.´ So antwortete auch die Bundesregierung 1991 mit Keul-Diktion auf die kleine Anfrage empörter Parlamentarier.
298.500 Mark hatte der Steuerzahler investiert, um dem Freiburger. und seinen namhaften Professoren-Kollegen Heinz Lie-sen (Paderborn) und Wilfried Kindermann (Saarbrücken) den Einsatz verbotener Substanzen im Sport im Sinne der Wis-senschaft zu ermöglichen. Schon damals zweifelten Athleten. Die eingeladenen Langläufer des damaligen C-Kaders, Stefan Alraun und Peter Schlickenrieder, verzichteten lieber auf das Honorar in Höhe von 1000 Mark: `Wir haben nicht teilgenommen, weil wir nicht ausschließen konnten, dass verbotene Substanzen einge-setzt wurden, deren Nichtwirksamkeit man zwar in der Studie beweisen wollte. Aber aus meiner Sicht stellte das ein inak-zeptables Unterfangen dar´, schreibt Schlickenrieder, heute Vizepräsident im Deutschen Ski-Verband. Einblicke in die für die Studie angefertigten Doktorarbeiten führen schon dem Laien vor Augen, warum Keuls Mitarbeiter zu keinem befriedigenden Ergebnis kamen: `Eine
eventuell positiven Testosteroneffektes ist jedoch aus methodischen Gründen nicht möglich´, heißt es in der Dissertation von Jörg-Peter Steinkemper. Zu geringe Dosierung, zu geringe Trainingsbelastung, in Saarbrücken und auch in Freiburg blieb die Antwort anscheinend offen. `Wir hatten andere Ergebnisse´, sagte dagegen Heinz Liesen in der vergangenen Woche auf Anfrage: `Aber davon wollten die Herren nichts wissen.´ Zumindest nicht offiziell. Denn Keul konnte als Gutachter doch kaum die Resultate seines eigenen Doktoranden Volker Fuchs, eines Naturwissenschaftlers, überlesen haben: `... so könnte dies (die Testosterongabe) für den Athleten (...) einen entscheidenden Vorteil bringen´, schreibt Dr. rer. nat. Fuchs in seiner Zusammenfassung von 1988 .... Hansjörg Kofink - bis er einsah, dass Anabolika den Sport beherrschten, Bundestrainer im Kugelstoßen der Frauen - ist sicher, dass die entscheidenden Damen und Herren bestens im Bilde waren: `Die Funktionärskaste wusste spätestens seit 1972 genau Bescheid. Es gibt noch genü-gend Zeitzeugen, die das bestätigen müssten.´ Tun sie aber nicht. Und so kommt Gerd Steines, Autor und einst Kugelstoßer mit Anabolika-Vergangenheit, angesichts der jüngsten Debatte um den früheren DDR-Trainer Werner Goldmann zu folgendem Schluss: `Wir kehren lieber unter den Teppich, dass in den siebziger Jahren der Bundesausschuss zur Förderung des Leistungssports` (BAL), eine Behörde des Bundesinnenministeriums, in die Sportverbände durchregierte und intern erhöhte deutsche Olympianormen durchsetzte, die nach dem Wissensstand aller Beteiligten nur mit Hilfe von Anabolika erreichbar waren. Die Politik gab die Richtung vor, ihre grauen Eminenzen vom BAL setzten sie durch, sich dabei in jeder Beziehung an der DDR orientierend.´“
Da bleibt letztlich nur die Frage: Sind noch Fragen zum Thema Doping und DDR?
GLANZ UND ELEND EINES POKALS
Von KLAUS
Die Rede ist vom Europokal der Leichtathleten und wer immer auf die Idee gekommen sein mag, dass man diesen im Jahr 1965 entstandenen und 2008 begrabenen Ereignis eine Statistik widmen müsste, hätte einen Orden verdient, ganz gleich, von wem gestiftet oder verliehen. Hannsjörg Wirz, Präsident des Europäischen Leichtathletikföderation nannte diese Veröffentlichung eine „entscheidende Publikation“ und hätte nicht übertrieben, hätte er sie „historisch“ genannt. Ich persönlich bedanke mich beim Public-Relation-Manager Patrick O`Callaghan, der der Redaktion der „Beiträge“ im Verlauf unserer „Fahndung“ eines Tages diese Statistik mit einem herzlichen Dank zumailte. Der Präsident des französischen Leichtathletikverbandes, Bernard Amsalem, erwähnte in seinem Vorwort zumindest, dass „unsere Mannschaft der Statistiker“ dieses Buch zusammengetragen hat. Also käme noch ein Mannschaftsorden hinzu!
Zugegeben es ist eine unglaubliche auf 400 Druckseiten gesammelte Kollektion von Namen und Zahlen, aber es ist auch ein beispielloses Kapitel Leichtathletikgeschichte.
Dagegen reduziert sich der Versuch, die Geschichte dieses Pokal-Wettbewerbs zu beschreiben auf eine Druckseite oder 0,25 Prozent, aber hätte man die oft dramatische Historie ausgiebig beschreiben wollen, wäre eine mehrbändige Enzyklopädie die Folge gewesen.
Also begnügen wir uns mit der knappen Einführung, die daran erinnern soll, dass der rührige italienische Leichtathletikfunktionär Bruno Zauli 1957 zum ersten Mal seine Vorstellung einer europäischen Mannschaftsmeisterschaft zu realisieren versuchte. Er nannte den Wettkampf „Sechs Nationen“ und gewann die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, die Schweiz, die Niederlande und Belgien jährlich mit Nationalmannschaften, in denen jeweils ein Athlet sein Land in einer Disziplin vertrat, gegeneinander anzutreten. 1963 tagte der damals erst im Rang eines „Komitees“ stehende europäische Verband in Rom und beauftragte eine Kommission, den von Zauli gegründeten Wettkampf in einen Europapokal umzuwandeln. Die Entscheidung sollte bei der Herbstsitzung des „Komitees“ am 16. und 17. November in Sofia fallen. Bereits im Sommer hatte die Expertengruppe Fragebogen an alle 31 europäischen Verbände
verschickt. Elf Föderationen ignorierten die Fragen, 18 votierten für den Europapokal und zwei stimmten dagegen.
Wer das war? Die BRD und die UdSSR.
Am 7. Dezember 1963 starb Bruno Zauli und als sich das Komitee im Mai 1964 traf und die Einführung dieses faktisch ersten Leichtathletik-Mannschafts-Pokals beschloss, entschied man als erstes, ihm den Namen seines Erfinders zu geben. Dann wurden die Regeln festgeschrieben und dazu gehörte eine, die in Bonn beträchtliche Empörung auslöste: Es war entschieden worden, dass zwei deutsche Mannschaften starten dürften.
Man bedenke: Diese Entscheidung fiel im Mai 1964, also lange vor den Olympischen Sommerspielen in Tokio, für die nach einer Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees noch Ausscheidungswettkämpfe für jede einzelne Disziplin ausgetragen werden mussten. Der Beschluss von Paris wurde in Bonn als das empfunden, was es war: Die erste Entscheidung des Weltsports gegen den bis dahin von vielen Verbänden faktisch akzeptierten Alleinvertretungsanspruch.
Ob die Politiker in der Bundeshauptstadt glaubten, als Ausrichter der beiden Pokalendrunden 1965 den selbständigen Auftritt der DDR noch vereiteln zu können, lässt sich nicht beweisen, lag aber nahe. Stuttgart übernahm das Männerfinale, Kassel das der Frauen und als erstes wurde der Europäischen Leichtathletikföderation mitgeteilt, dass bundesdeutsche Gesetze sowohl das Hissen der DDR-Flagge, als das Abspielen der DDR-Hmyne nicht zuließen. Die Europäische Leichtathletikföderation erinnerte sich daran, dass der Leichtathletikverband der DDR inzwischen in Tokio unter dem Namen „Ostdeutschland“ offiziell anerkannt worden war und entschieden sich für diese Variante. Da Leipzig die Austragung des Halbfinales der Frauen übernommen hatte, bedeutete das, dass die DDR-Mannschaft hinter dem Schild „Ostdeutschland“ ins Zentralstadioneinmarschieren musste. Erinnern wir in diesem Zusammenhang getrost daran, dass sich der DDR-Verband – sicher schweren Herzens - an diese Entscheidung hielt. Und vergessen wir bei dieser Gelegenheit auch nicht, dass sich die Funktionäre der IAAF daran erinnerten, als die BRD 1969 bei den Europameisterschaften in Athen die IAAF unter Druck setzen und den Start von Jürgen May für die BRD erzwingen wollten. In der entscheidenden Sitzung erhob sich einer
entscheidenden Männer der IAAF und sagte zum DLV-Präsidenten Danz: „Damit Sie es wissen, wir hatten ehrlich nicht geglaubt, dass die DDR 1965 hinter dem Schild `Ostdeutschland´ in ihr eigenes Stadion marschieren würden. Wir wussten, welche Zumutung das war. Aber die DDR hielt sich an die Regeln und nun werden Sie sich ebenso diszipliniert an die Regeln halten! May startet nicht!“
Die IAAF hatte 1965 den Briten Jack Crump als offiziellen IAAF-Delegierten nach Leipzig entsandt und der hatte damals gegenüber „Der Leichtathlet“, dem Organ des DVfL erklärt: „Der DVfl. hat seine Aufgabe völlig und in jeder Weise ausgezeichnet erfüllt. Das betrifft die herzliche Gastfreundschaft, die gute Organisation und die modernen Wettkampfbedingungen, die in der historischen Stadt Leipzig den Teilnehmern geboten wurden. Alle Frauen konnten sich an diesem Wettkampf erfreuen. Es war ein voller Erfolg !"
Bei den Männern in Stuttgart hatte die DDR den vierten Rang belegt und bei den Frauen in Kassel nach dramatischem Kampf hinter der UdSSR den zweiten Platz.
Der damalige DVfL-Präsident – und heutige DLV-Ehrenpräsident – Georg Wieczisk hatte damals den Auftakt dieses Pokalwettbewerbs mit folgenden Worten kommentiert: „Der Europacup zum Gedenken jenes Mannes, der so warmherzig um dessen Geburt bemüht war, hat seine Premiere bestanden. Das Gelingen bezieht sich auf viele Faktoren.
Wir sind mit dem sportlichen Erfolg sehr zufrieden. Es gibt wohl im herkömmlichen Wettkampfsystem der internationalen Leichtathletik keine Parallele, die so voller Spannung, Dramatik und Begeisterung die Herzen der Aktiven und Zuschauer höher schlagen läßt. Es gibt auch keine Parallele die so viel Mannschaftsgeist hervorbringt, der unmittelbar abhängig ist vom individuellen Können jedes einzelnen. Im Semifinale wie im Finale beeindruckten die erfolgreichen Nationen mit hohen Einzellei-stungen bei mannschaftlicher Geschlossenheit. … Das Gelingen der Cup-Premiere ist auch auf das Bemühen von neun euro-päischen Leichtathletik-Verbänden zurückzuführen, die als Ausrichter verstanden, die neue Form auch mit einer perfekten Organisation dem Publikum nahezubringen und damit neue Freunde für die Leichtathletik zu gewinnen. Das gilt auch für den DLV der Bundesrepublik, der beide Finales ausgezeichnet durchführte und unter den von
Ausnahme-Bedingungen (es durften im Bonner Staat keine Flag-gen und Hymnen gezeigt bzw. gespielt werden) seine Aufgaben korrekt löste wofür der außerordentliche Publikumserfolg Zeugnis ablegte. Zum Gelingen des Cups gehörte auch die erstmalige Repräsentation einer selbständigen DDR-Mannschaft bei einer offiziellen IAAF-Veranstaltung. Der Europarats-Präsident Adrian Paulen und der Ehrensekretär Arthur Takac betonten mehrmals, daß damit der IAAF-Beschluß von Tokio seine volle Bestätigung erhalten -hätte. Das sei ein Beitrag zu Verständigung und Frieden in jenem Sinne, in dem auf dem Gebiete der Politik Friedens-Nobelpreise vergeben werden, erläuterte Adrian Paulen auf einem der Empfänge. Die freundliche Atmosphäre zwischen den Athleten beider deutscher Mannschaften, endlich von der Hektik der Ausscheidungen gegeneinander befreit, beruhte auf diesen Grundlagen einer normalen, vernünftigen Lösung.
Als Präsident des Deutschen Verbandes für Leichtathletik und Mitglied des Präsidiums des Nationalen Olympischen Komitees der DDR möchte ich die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß dieses gute Beispiel, das von der Leichtathletik nun zweimal sogar auf westdeutschem Boden praktiziert, wurde, auch auf olympischer Ebene zur Lösung führt. Möge das IOC dieses Vorbild der, Ver-nunft und Realität bei der Beschlußfassung über den Antrag des NOK der DDR beachten und eine ähnliche Lösung der deutschen Frage finden wie die IAAF in Tokio, die ihre Entscheidung nicht zuletzt bei der Cup-Premiere bestätigt fand.“
Das IOC folgte bekanntlich der IAAF und entschied im Herbst 1965 in Madrid, die DDR künftig mit eigener Olympiamannschaft starten zu lassen!
Zurück zum Auftakt des nach Bruno Zauli benannten Pokals, der die Geschichte der europäischen Leichtathletik entscheidend geprägt hatte.
Auch wenn die IAAF bald darauf den Europäern nacheiferte und einen Weltcup ins Leben rief, blieb der Europapokal populär und verlor kaum an Anziehungskraft. Die Manager der großen Sportfeste, lockten die Stars mit Start- und eines Tages auch mit Preisgeldern und zweitklassige Athleten fanden schon kaum mehr reizvolle Startmöglichkeiten. Einzig beim Pokal waren sie gefragt und wurden gebraucht. Da sich der europäische Verband sich nicht nur um die attraktiven Finalrunden bemühte, sondern
und dritte „Ligen“ ins Leben rief, ergaben sich zumindest einmal im Jahr reizvolle Startchancen für Athleten aller Länder.
Um eine Vorstellung dieser Dimension zu vermitteln, sei der Pokalwettbewerb vor zehn Jahren in Erinnerung gerufen.
Die Finalrunde der Männer beendeten in Paris acht Mannschaften, die sich in folgender Reihenfolge platzierten: BRD, Italien, Großbritannien, Russland, Frankreich, Griechenland, Polen, Tschechei. In der Gruppe A der ersten Liga starteten in Lathi acht Männermannschaften, die sich folgendermaßen platzierten: Schweden, Ukraine, Niederlande, Finnland, Norwegen, Belgien, Irland, Weißrußland. In der Gruppe B lautete die Reihenfolge Ungarn, Spanien, Slowenien, Schweiz, Rumänien, Österreich, Jugoslawien und Zypern. In der Zweiten Liga, deren Staffel A im kroatischen Pula die Kräfte maß, triumphierte Kroatien vor Dänemark, der Slowakei, Lettland, Litauen, Island und Luxemburg. Die Pokalrunde der Gruppe B wurde in Tel Aviv ausgetragen. Die Reihenfolge lautete Portugal, Bulgarien, Estland, Israel, Türkei, Moldawien und Armenien. Das waren allein bei den Männern insgesamt 40 Nationalmannschaften, in denen - rein rechnerisch – 800 Leichtathleten aufgeboten worden waren. Für viele dieser Athleten – nach meiner Schätzung mehr als 600 – war es das einzige Mal im Jahr, dass sie das Trikot ihrer Nationalmannschaft trugen!
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass in der Staffel B der zweiten Liga nur sieben Mannschaften aufgelistet worden waren. Die achte Mannschaft erfüllte das Anliegen des Pokals in ganz besonderer Weise. Sie startete unter dem Namen: „Kleine Staaten Europas“. Leider führt die bewundernswert lückenlose Statistik bei den Mitgliedern dieser Mannschaft nicht die Herkunft der Athleten auf, aber zu erwähnen wäre, dass Victor Martinez im 800-m-Lauf in 1:49,09 für diese Mannschaft den zweiten Platz belegte und Angel Moreno im Kugelstoßen, Diskuswerfen, und Hammerwerfen jeweils den siebenten Platz belegte. Deren Leistungen war es auch zu verdanken, dass die „Kleinstaaten-Mannschaft“ mit beachtlichem Abstand vor Armenien auf den siebenten Rang kam.
Ähnlich imponierend waren die Zahlen bei den Frauen. Dort lautete die Reihenfolge der Finalrunde: Russland vor Rumänien, Frankreich, BRD, Italien, Großbritannien, Polen und Tschechien. In
der Gruppe A der ersten Liga (Lahti): Ukraine, Weißrussland, Finnland, Niederlande, Schweden, Irland, Belgien, Dänemark. In der Gruppe B (Athen): Griechenland, Ungarn, Bulgarien, Spanien. Schweiz, Slowenien, Jugoslawien, Türkei. Die zweite Liga ergab in der Gruppe A die Reihenfolge Norwegen, Kroatien, Slowakei, Lettland, Litauen, Island, Albanien, Luxemburg und in der Gruppe B: Portugal, Österreich, Estland, Israel, Zypern, Moldawien, Georgien, Armenien. Auch hier also 40 Mannschaften, was für beide Geschlechter 80 Nationalmannschaften ergibt.
Zu erwähnen noch: Wenn man aus dieser untersten „Staffel“ erfährt, dass die Estin Virge Naeris zwar den Weitsprung mit 6,38 m gewonnen hatte, diese Weite aber mit einem Rückenwind von 2,2 m/s erzielte, darf man daraus schließen, dass überall die Wettkämpfe höchst akribisch veranstaltet und kontrolliert wurden.
Kurzum: Wenn sich irgendwann jemand damit befassen wollte, eine Geschichte der europäischen Leichtathletik zu schreiben, wird er diesen von Bruno Zauli „erfundenen“ Wettbewerb ganz weit oben einordnen müssen. Kein anderer brachte soviel Leichtathleten aus so vielen Ländern auf die Beine!
Hier die Siegerliste:
JAHR
AUSTRAGUNGSORT
DATUM
SIEGER
1965
Stuttgart (BRD)
11./12.9.
M: URS
1965
Kassel (BRD)
11./12.9.
F: URS
1967
Kiew (URS)
16./17.9
F: URS - M: URS
1970
Stockholm (SWE)
29./30.8.
M: DDR
1970
Budapest (UNG)
29./30.8
F: DDR
1973
Edinburgh (GBR)
8./9.9.
M:URS - F: DDR
1975
Nizza (FRA)
16./17.8.
M: DDR - F:DDR
1977
Helsinki (FIN)
13./14.8.
M: DDR – F:DDR
1979
Turin (ITA)
4./5.8.
M: DDR – F: DDR
1981
Zagreb (YUG)
15./16.8.
M: DDR – F: DDR
1983
London (GBR)
20./21.8.
M: DDR – F: DDR
1985
Moskau (URS)
17./18.8.
M: URS – F: URS
1987
Prag (TCH)
27./28.6.
M: URS – F: DDR
1989
Gateshead (GBR)
5./6.8.
M: GBR – F: DDR
1991
Frankfurt (BRD)
29./30.6.
M: URS – F: BRD
1993
Rome (ITA)
26./27.6.
M: RUS – F: RUS
1994
Birmingham (GBR)
25./26.6.
M: BRD – F: BRD
1995
Villeneuve (FRA)
24./25.6.
M: BRD – F: RUS
1996
Madrid (SPA)
1./2.6.
M: BRD – F: BRD
1997
München (BRD)
21./22.6.
M: GBR – F: RUS
1998
Petersburg (RUS)
27./28.6
M: GBR – F: RUS
1999
Paris (FRA)
19./20.6.
M: BRD – F: RUS
2000
Gateshead (GBR)
16./16.7.
M: POL – F: RUS
2001
Bremen (BRD)
23./24.6.
M: GBR - F: RUS
2002
Annecy (FRA)
22./23.6.
M: BRD - F: RUS
2003
Florenz (ITA)
21./22.6.
M: FRA – F:RUS
2004
Bydgoszcz (POL)
19. /20. 6
M: BRD – F: RUS
2005
Florenz (ITA)
19./20.6.
M: BRD – F: RUS
2006
Malaga (SPA)
28./29.6.
M: FRA – F: RUS
2007
München (BRD)
23./24.6.
M: BRD – F: RUS
2008
Annecy (FRA)
21./22.6.
M: GBR – F: RUS
Bei den Männern triumphierte die BRD acht Mal, die UdSSR fünf Mal und Russland zwei Mal, die DDR sechs Mal.
Bei den Frauen war Russland vierzehn Mal erfolgreich, die UdSSR zwei mal und die DDR neun Mal.
DER „NEUE“ POKAL
In Annecy wurde der von Bruno Zauli und seinen Mitstreitern in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ersonnene Vergleich der europäischen Nationalmannschaften zu Grabe getragen. Die Trauer hielt sich in Grenzen, weil sich das Umfeld des Sports sich radikal verändert hat. Der erste Blick gilt schon längst nicht mehr der Laufbahn oder den Sprunggruben in den Stadien, sondern den Zahlen auf den von den Sponsoren ausgeschriebenen Schecks und die zweite Frage gilt den Bedingungen, die die das TV-Geschäft betreibende Managementgesellschaften diktieren. Und für die gelten ausschließlich die Quoten. Eine Leichtathletikübertragung und die damit verbundenen Werbeeinnahmen müssen Zuschauer anlocken, die keine hinterhertrabenden Langstreckler sehen wollen, sondern Weltrekorde erzielende Stars.
Und wer könnte gewonnen werden, einen Wettkampf
finanzieren, in dem eine Mannschaft der kleinen Staaten Europas an den Start geht?
Also wurden nicht nur die Zahlen der teilnehmenden Mannschaften radikal reduziert, sondern die seit Jahrzehnten geltenden Regeln der Leichtathletik den „Quoten“ angepasst.
Der Europäische Leichtathletik-Verband (EAA) sorgte für eine „Reform“, von der er sich – vor allem aber seinen Werbepartnern - mehr Dramatik und Spannung verspricht.
Jürgen Mallow, aus dem DLV-Trainerstab kündigte vorsichtig an: „Es ist ein Umdenken erforderlich. Man wird eine neue Wettbewerbsform erleben.“ Das Feld der Eliteliga wird von acht auf zwölf Nationen aufgestockt und die Ergebnisse von Männern und Männer und Frauen werden gemeinsam gewertet. Skepsis lösten allerdings die Regeländerungen aus, für die die Föderation mit den Worten warb: „Die traditionellen Regeln für die Langstrecken und die technischen Disziplinen sind zu Gunsten von Spannung und Dramatik verändert worden.“ Knapper und deutlicher formuliert: Alle möglichen Pausen wurden radikal gestrichen. Hoch- und Stabhochspringer haben insgesamt nur noch sieben Versuche, ein Läufer, der den Kontakt zu seinen Vorderleuten verloren hat, wird als Letzter aus dem Rennen genommen.
Bei einigen Meetings wurden die Neuerungen im letzten Sommer „getestet“. Die russischen Langstreckler Nikolai Chavkin, Igor Komarow und Denis Pankratow wurden im heimischen Zhukovskiy sieben, fünf und drei Runden vor Schluss des 5.000-Meter-Laufs als Letzte disqualifiziert. In einem Dreisprung-Wettbewerb in Spanien durften nach den ersten beiden Versuchen nur noch die sechs besten weiter springen. Nach dem vierten Durchgang blieben vier Athleten übrig, deren fünfter Sprung über alles entschied. So soll die Eishockey-Variante des „sudden death“ („plötzlicher Tod“) kopiert werden. Im Hoch- und Stabhochsprung sollen die Teilnehmer noch sieben Versuche absolvieren dürfen. Viele Athleten sehen in den Neuerungen keinen Fortschritt. Das aber erwarten die „Reformer“ auch gar nicht. Sie spekulieren auf den Beifall der Sponsoren!
Es war einmal…
Von KLAUS ULLRICH
Es war einmal ein Sportlehrer aus Senftenberg, der fuhr in den
wohlverdienten Sommerurlaub, beneidet wegen seines Ferienplatzes auf Hiddensee. Er schwamm in der Ostsee, sonnte sich in einer Sandburg, bis ihn eines Tages die Langeweile anfiel und er seinen Kollegen an der Polytechnischen Oberschule in Neuendorf besuchte. Die beiden kamen ins Plaudern und stießen bald auf ein gemeinsames Problem: Zu wenig Starts für ihre sportinteressierten Schüler. Der Neuendorfer litt noch mehr darunter als der Senftenberger, denn zu jedem Vergleich mußte man von Hiddensee zum Festland übersetzen oder Gäste bitten, das Schiff nach Hiddensee zu nehmen. Doch die beiden klagten nicht nur, sie hatten auch eine Idee: Fernwettkampf! Am Nachmittag des 26. September starteten in Drochow bei Senftenberg die Schüler des einen Lehrers und in Neuendorf die des anderen. Die Disziplinen waren vereinbart und eine Tabelle zum Vergleich der Leistungen ausgewählt worden. Am Abend führten die Lehrer ein Ferngespräch und der Lehrer aus Neuendorf meldete 790 Punkte. Der Lehrer in Drochow aber hatte 874 Punkte auf seinem Zettel. Das war die Geburtsstunde des Fernwettkampfs der Landgemeinden, in dem von nun an Jahr für Jahr mehr Dörfer mit ihren Mannschaften starteten. Längst nicht mehr nur die Schüler, sondern richtige Repräsentationen der Dörfer vom eben Eingeschulten bis zum 50jährigen. Als ein halbes Dutzend Jahre vorüber waren, zählte man bereits 957 Gemeinden mit 122.251 Teilnehmern!
Soviel zum Thema „vorgeschriebenes Leben in der DDR, das nur durch Parteibeschlüsse zu verändern war“. Übrigens: Als die beiden Lehrer ihren Plan fassten, war die DDR zehn Jahre alt und der „gründersommer“ ist demzufolge ein halbes Jahrhundert her.
Der Fernwettkampf wuchs weiter. Eines Tages monierte man vor, dass die Sieger eigentlich mehr als eine Urkunde verdient hätten. Eine festliche Siegerehrung mit Fanfarenstoß und Flaggenhissung fehlte. Schon aus Neugier, einmal einen Blick in diese Dörfer zu werfen, formierte die Sportredaktion „Neues Deutschland" ein „Siegerehrungs"-Kommando. Statt der bei solchen Zeremonien üblichen Mädchen wurden Olympioniken ausgewählt: Wolfgang Behrendt, der in Melbourne 1956 das erste olympische Gold für die DDR im Boxring geholt hatte und der nun zum Auftakt überall Trompete blies, dann in den Boxring stieg, um Kämpfe von Anfängern umsichtig zu leiten, danach zum Fotoapparat langte, um
die schönsten Augenblicke festzuhalten, und der schließlich noch auf den Heimtrainer stieg, um seine Kräfte mit dem Kanu-Olympiasieger Dieter Krause zu messen. Der wiederum war ein strahlender Sieger mit der kleinen menschlichen Schwäche, nicht verlieren zu können. Er hätte wohl eher einen Zahn geopfert, als Wolfgang Behrendt bei jenem Finalduell nur den Zipfel eines Sieges zu überlassen. Der Box-Olympiasieger verlor seinen Humor darüber nicht, plädierte aber für Gerechtigkeit: „Der is soville jrößer, der muß mit'n Zentna Briketts uffn Rücken fahrn!" Der Dritte im Bunde war der zweifache Lauf-Silbermedaillengewinner Hans Grodotzki, der allerorts Ratschläge für das Training junger Läufer gab.
In Schwanebeck, einem 650 Jahre alten Dorf vor Altentreptows Toren, begann die Siegertournee. In Heudeber, am Rande des Harzes, wurde sie fortgesetzt, erlebte in Bützow bei Wittenberg einen neuen Höhepunkt und endete in Döbern.
Nicht, daß überall Freude und Frohklang herrschte. In Döbern bangte der Gastwirt um seine Stammgäste. „Was soll denn das werden?" fragte er maulend, als die ersten Vorbereitungen für die Siegerehrung getroffen wurden. Der unverwüstliche Wolfgang Behrendt beruhigte ihn: ,,Nischt unjewöhnlichet, Meester. Wir reißen nur det Parkett 'raus und pflanzen Mais an. Und damit ihn' nischt kaputt jeht, kommen wir mit den Elefanten durch den Hintereingang."
Hauptgesprächsthema überall: Ob wohl in unseren Dörfern auch mal ein Olympionike geboren wird? 1972 war Ilse Kaschube in München unter den Medaillengewinnern. Geburtsort: Altentreptow.
//DOKUMENTATION/DISKUSSION
DEUTSCH-DEUTSCHE SPORTBEZIEHUNGEN
UND DIE „HALLSTEIN-DOKTRIN"
In einer Zeit, in der sich die dominierenden Medien vor allem vorgebliche „Gedenken“ widmen, erschien es uns angeraten, Passagen der Antrittsvorlesung zu zitieren, die Martin H. Geyer am 1. 6. 1994 an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln gehalten und einem Thema gewidmet hatte, dem heutzutage kaum jemand Aufmerksamkeit schenkt und erst recht nicht „gedenkt“: Dem politischen Eifer der Bundesregierung, sich in die deutsch-deutschen Sportbeziehungen einzumischen. Die bemerkenswerte Vorlesung war erweitert in Nr. 44 der „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“ (München) publiziert worden.
1. Sport und nationale Repräsentation
Der deutsche Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 hat in der populären Mythologie seit jeher mehr zur Konstituierung der Bundesrepublik beigetragen als alle großen diplomatischen Staatsaktionen der Nachkriegszeit. Noch vor der Erlangung der vollen staatlichen Unabhängigkeit konnte die Bundesrepublik über den Sport mit allen Insignien nationaler Souveränität vor der Welt auftreten: Radio, Wochenschauen, der Bildjournalismus und das frühe Fernsehen verbreiteten die schwarzrot-goldene Fahne und das Deutschlandlied, dessen dritte Strophe seit 1952 Natio-nalhymne war. Auf ihrem Trikot führten die Sportler den zum Bundesadler mutierten Reichsadler. Gesiegt hatte die bundesdeutsche „National-Elf", gefeiert wurde der Sieg Deutschlands - auch östlich der Elbe. Bürgermeister, Landräte, Minister und nicht zuletzt der in Sportkreisen beliebte Bundespräsident betonten bei der stürmisch gefeierten Rückkehr der deutschen Fußballelf, welche Bedeutung dem sportlichen Erfolg beigemessen wurde. Nach Ansicht des damaligen Präsidenten des Deutschen Sportbunds (DSB), Willi Daume, war es ein „Rummel“, der von „alle[n] möglichen Regierungsstellen und Stadtverwaltungen in trauter Gemeinschaft mit dem Schankgewerbe“ inszeniert wurde1). Im Danksagungsschreiben des Deutschen Fußball-Bunds für die Glückwünsche des Bundeskanzlers hieß es etwas ungelenk, daß das „Volk schlechthin` von der Begeisterung erfaßt worden sei. Die vielen Zuschriften aus dem anderen Teil Deutschlands galten
„Bekenntnis zur deutschen Gemeinschaft", ja die Begeisterung für den deutschen Sieg habe den „Charakter einer Volksabstimmung“2).
Es kann wenig verwundern, daß man im Ausland diese Inszenierungen des Nationalen mit gemischten Gefühlen verfolgte. Im Berner Stadion sangen die deutschen Fußballfans nicht die dritte, sondern die erste Strophe des Deutschlandlieds, daß es, wie eine Kopenhagener Zeitung kommentierte, im Radio „dröhnte` und aussah, als ob dieser Sieg den aufwiege, der 1940 bis 1945 ausgeblieben“ war. Es habe, so der dpa Überseedienst, nur noch das „Sieg Heil“ gefehlt, um die ganze Stimmung der Berliner Olympiade 1936 wieder erstehen zu lassen3). Als der Präsident des Deutschen Fußball-Bunds, der Kölner Bauunternehmer Peco Bauwens, im Münchner Löwenbräukeller wie schon wenige Tage zuvor in Lindau vor versammelten Fußballern in bester Bierlaune den „Germanengott` beschwor und in den Worten des Korre-spondenten der Londoner Times so redete, als ob die Fußballer „einen Erbfeind auf dem Schlachtfeld vernichtet hätten“, war man davon nicht nur im Ausland höchst irritiert. Der Bayerische Rundfunk unterbrach sogar die Live-Übertragung mit Tanzmusik4).
Weder der Enthusiasmus in Deutschland noch die Reaktionen im Ausland können überraschen. Die Repräsentation des Nationalen über den Sport ist mehr als nur ein für viele störender Nebeneffekt. In Verbindung mit modernen Kommunikationsmitteln ist der Sport zweifellos eines der wirkungsvollsten Medien, das die Darstellung des Nationalstaates und eines populären Nationalismus im 20.Jahrhundert erlaubt. Dabei ist es nur vordergründig ein Widerspruch, daß es dazu gerade einer weltweiten Sportbewegung bedarf, die mit zahlreichen internationalen Veranstaltungen die Bühne für diese Inszenierungen bereitstellt. Die Olympischen Spiele demonstrieren mehr als alles andere, wie sehr dieser nichtstaatliche Internationalismus von der Verknüpfung von Sport und nationaler Symbolik lebt.
[…]
So eindeutig bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 die Frage der sportlichen Vertretung des geteilten Deutschlands gelöst zu sein schien, so problematisch und umstritten war die Frage der nationalen Repräsentation damals schon in vielen anderen Bereichen des Sports. Und in den folgenden Jahren wurde dies
eher noch schwieriger: Welches Deutschland würde in Zukunft im und durch den Sport repräsentiert sein? Zwei de facto souveräne Staaten, die in unterschiedliche politische Blöcke eingebunden waren? Oder zwei Staaten, die sich auf dem vermeintlich neutralen Boden des Sports auf ihre gesamtdeutsche Identität besinnen konnten, zumal nach verbreiteter Meinung Sport nichts mit Politik zu tun habe? Und wenn man letzteres positiv beantwortete: Mit welchen Fahnen, Hymnen und Abzeichen sollten diese gesamt-deutschen Mannschaften auftreten?
Vor die Aufgabe gestellt, diese Fragen zu beantworten, schwand für die Zeitgenossen die Gewißheit von 1954. Das lag an der merkwürdigen Rolle, die der Sport in der Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen spielte. Im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen rissen die Kontakte zwischen Ost und West im Sport nie völlig ab. Sie entwickelten sich zum einen bilateral über Verhandlungen und Abmachungen zwischen west- und ostdeutschen Sportverbänden, zum anderen gab es, nolens vo-lens, Beziehungen über die einzelnen Weltfachorganisationen, deren Veranstaltungen in der Nachkriegszeit rasch zunahmen und trotz - oder vielleicht gerade wegen! - des Kalten Krieges große Popularität genossen. Daraus ergaben sich spezifische, höchst problematische Konstellationen deutsch-deutscher Beziehungen, die aus mehreren weit über das engere sporthistorische Interesse hinausweisenden Gründen von Bedeutung sind: Schon zeitgenössische Beobachter bemerkten, daß der Sport der DDR-Führung eine große Chance bot, sich international zu etablieren und das eigene System zur Schau zu stellen7). Ja, es läßt sich die These vertreten, daß sich die DDR gegenüber dem Westen als staatliches Gebilde primär über den Sport konstituierte. Das war von großer Bedeutung für die deutsch-deutschen Beziehungen. Denn aufgrund der offensiven Strategie der DDR, mittels des Sports ihre Anerkennung durchzusetzen, wurde, wie am Beispiel des Gebrauchs von Hymne und Staatsflagge zu zeigen sein wird, die Frage der nationalen Repräsentation Deutschlands aufgeworfen. Die damit verbundenen Fragen der symbolischen Darstellung nationaler Identität berührten das Selbstverständnis der Bundesrepublik, Gesamtdeutschland zu vertreten, und somit fundamentale Prinzipien bundesdeutscher Außenpolitik. In den Auseinandersetzungen um den Gebrauch
es denn auch immer um eine nationale Ortsbestimmung der zwei deutschen Staaten, die bei allen unterschiedlich motivierten Strategien der Abgrenzung gerade im Sport auf das engste aufeinander bezogen waren.
II. Die Offensive des DDR-Sports
DSB-Präsident Willi Daume führte an der Jahreswende 1955/56 in einer langen, streng vertraulichen Denkschrift für Bundesinnenminister Gerhard Schröder aus, daß die DDR gemessen mit dem „Maßstab der sportlichen Praxis [...] leider tatsächlich schon ein souveräner Staat und ebenso ganz zweifellos ein Satellitenstaat Rußlands" geworden sei. Diese nüchterne Diagnose ist schon deswegen bemerkenswert, weil die Ausgangsbedingungen der DDR auch im Bereich des Sports denkbar schlecht gewesen waren10). Erst seit 1951 wurden von Walter Ulbricht Initiativen ergriffen, in den internationalen Sportverbänden Fuß zu fassen. Dennoch konnte sich die DDR binnen weniger Jahre fest auf der internationalen Bühne des Sports etablieren, und alle Versuche, sie aus dieser Position wieder zu verdrängen, waren zum Scheitern verurteilt. Dieser Erfolg ist ganz wesentlich auf die doppelte Einbindung der beiden deutschen Sportorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene und auf die daraus resultierende Tatsache zurückzuführen, daß der sportliche „Internationalismus" dem Spielraum der westdeutschen Sportpolitik Grenzen setzte.
Die Bundesregierung stimmte mit den westdeutschen Sportfunktionären überein, daß die Isolierung der DDR auf internationalem Parkett eine Frage der „staatspolitischen Verantwortung“ sei11). Ein höchst sensibler Punkt war in dieser Hinsicht die Anerkennung durch das Internationale Olympische Komitee (IOC). In diesem exklusiven Altherrenkreis waren die Vertreter der Bundesrepublik in einer relativ günstigen Ausgangsposition: Die westlichen Staaten verfügten dort zu dieser Zeit noch über stattliche Mehrheiten; außerdem pflegten westdeutsche Sportfunktionäre vielfältige persönliche Beziehungen zu Mitgliedern des IOC, die meist in die Zeit der Olympischen Spiele 1936, wenn nicht gar schon in die Zeit davor zurückreichten. Das galt besonders für Karl Ritter von Halt, der seit 1928 Mitglied
des IOC war, eine wichtige Rolle bei der Organisation der Olympischen Spiele 1936 gespielt hatte und nicht zuletzt wegen seiner guten Verbindungen zu Exponenten der nationalso-zialistischen Führung in den Vorstand der Deutschen Bank aufgerückt war. Trotz seiner politischen Vergangenheit und anfänglicher Vorbehalte auch des Bundeskanzleramtes avancierte von Halt nach langer Internierungshaft in der Sowjetunion 1951 zum Präsidenten des 1949 neu gegründeten Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK). Diesen Aufstieg verdankte er nicht zuletzt der Freundschaft mit dem seit 1953 amtierenden IOC-Präsidenten Avery Brundage, der sich unter Be-rufung auf die Unabhängigkeit des Sports von der Politik 1936 erfolgreich gegen den Boykott der Olympischen Spiele durch die USA eingesetzt hatte12).
IOC-Entscheidungen waren und sind immer politische Entscheidungen. Das wird am Beispiel der Aufnahme Deutschlands besonders deutlich13): Frankreich erreichte 1950 die Anerkennung eines eigenständigen „NOK des Saarlandes", ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Dagegen zog sich die Aufnahme des NOK für Deutschland aufgrund von Widerständen kleinerer europäischer Staaten, der ungeklärten Position Ostdeutschlands und der Haltung des damaligen schwedischen IOC-Präsidenten Sigfrid Edström bis 1951 hin. Die DDR-Führung setzte sich dabei zunächst für ein gesamtdeutsches NOK ein. Nach den strikt ablehnenden Bescheiden der westdeutschen Sportführung gab sie im Frühjahr 1951 aber die Gründung eines eigenen NOK bekannt und forderte, sekundiert von der Sowjetunion, nun ebenfalls die Anerkennung durch das IOC". Nach kräftigen Interventionen der Bundesregierung und der Alliierten wurde aber nur das „NOK des neuen Staates mit den Namen Westdeutschland“ anerkannt, wie die gegenüber dem eigenen Selbstverständnis abweichende offizielle Bezeichnung im IOC-Bulletin lautete. Unter der Führung des westdeutschen NOK sollte eine gemeinsame Olympiamannschaft West- und Ostdeutschlands gebildet werden.
Damit war der Anspruch der Bundesrepublik, die Nation olympisch zu vertreten zwar sichergestellt. Auf der anderen Seite ließen sich nun aber Verhandlungen mit der Sportführung der DDR nicht mehr vermeiden. Wie von Halt Bundeskanzler Adenauer mitteilen
konnte, wurden die Verhandlungen über die Aufstellung einer gemeinsamen Olympiamannschaft so geführt, „daß sie ergebnislos verlaufen mußten"15). Dies und einige Ungeschicklichkeiten der DDR-Sportvertreter hatten zur Folge, daß die. westdeutsche Mannschaft mit der schwarz-rot-goldenen Fahne in Gepäck 1952 schließlich allein zu den Sommerspielen nach Helsinki reiste. Noch zu den Winterspielen in Norwegen war dem deutschen Sport bedeutet worden, daß die „allgemeine Volksstimmung“ für einen Besuch deutscher Sportmannschaften nicht
günstig sei16).
Auch ohne olympische Vertretung war Helsinki ein Erfolg für die SED-Führung. Verschiedene Weltsportorganisationen, darunter der mächtige internationale Fußballverband, nahmen danach DDR-Sportverbände auf. Wie in Bonn mit einiger Besorgnis registriert wurde, war damit in die „bisher bestandene einheitliche Front eine Bresche geschlagen“17) Tatsächlich war diese Entwicklung in der Folgezeit nicht mehr abzubremsen: 1955 war die DDR in 19 internationalen Fachverbänden, darunter in 14 sogenannten olympischen Sportarten, vertreten; 1956 und 1957 wurde die Anerkennung durch 16 weitere Verbände erreicht18). In keinem anderen nichtstaatlichen Bereich gelang der DDR, wie man rückblickend besser als damals sehen kann, so früh ein „so tiefer Einbruch“19) in die von der Bundesrepublik betriebene Politik der Isolierung. Unter diesen Umständen konnte 1955 - wenige Wochen nach Inkrafttreten der Pariser Verträge, die der Bundesrepublik die Souveränität brachten - auch die „provisorische Anerkennung“ des DDR-NOK nicht länger verhindert werden. Daß die Entscheidung des IOC in Paris fiel, war dabei nicht ohne eine gewisse Ironie. Eine „provisorische Anerkennung“ war in den Satzungen des IOC nicht vorgesehen. Sie lief darauf hinaus, daß die DDR keine eigene Mannschaft aufstellen und keinen eigenen Chef de Mission zu den Spielen entsenden konnte. Vielmehr war sie nun an bis zur Revision dieses Beschlusses 1965 an die Vertretung durch die Bundesrepublik gebunden. An komplizierten Verhandlungen über eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft kam man nun endgültig nicht mehr vorbei.
Zwar konnte die westdeutsche Sportführung froh sein, eine völlige Anerkennung DDR-Sports verhindert zu haben; denn angesichts der Stellung des IOC und Rolle des Sports im öffentlichen Leben
wäre „die Anerkennung des NOK Ost praktisch der diplomatischen Anerkennung der Sowjetzonenregierung durch eine Großmacht“ gleichgekommen20). Aber die Freude hielt sich auch im Westen in Grenzen. Gesamtdeutsche Mannschaften waren im höchsten Grad suspekt, und zwar aus Gründen, die in der Entwicklung des deutsch-deutschen Sportverkehrs zu suchen sind. Von 1951 bis 1955 war es nämlich vor allem die DDR gewesen, die sich im Zusammenhang mit ihrer deutschlandpolitischen Agitation für gesamtdeutsche, paritätisch organisierte Sportverbände und gesamtdeutsche Meisterschaften eingesetzt hatte.
Sie waren Teil der unter dem Slogan „Deutsche an einen Tisch!“ gegen die Bundesregierung und die NATO geführten Kampagne21).
Im Westen war man deshalb hin- und hergerissen zwischen stereotypen Bekenntnissen, die Kontakte zwischen Ost und West nicht abreißen zu lassen, und Befürchtungen, daß Sportveranstaltungen und zumal gesamtdeutsche Mannschaften dem Osten zur inneren „Aufweichung“ und „Infiltration“ des Westens dienen konnten.
[…]
Schließlich glaubte der DSB auch über vertragliche Abmachungen ein effektives Druckmittel gegenüber politischen Einflußversuchen der DDR in der Hand zu haben. Von größter Bedeutung war in dieser Hinsicht das Berliner Abkommen vom 12. Dezember 25). Diesem Abkommen war im September der Abbruch der gesamtdeutschen Sportbeziehungen durch den DSB vorausgegangen. Die Gründe für diesen dramatischen Schritt lagen im fortlaufenden politischen Mißbrauch des Sports und insbesondere in der Behinderung von Berliner Sportlern. Mit dem Abkommen verschaffte sich der DSB ein, wie man aufgrund späterer Erfahrungen meinte, recht wirksames Druckmittel, um die politische Instrumentalisierung einzelner Veranstaltungen zu unterbinden. Aber das Abkommen reichte sehr viel weiter Neben Bestimmungen über „parteipolitische Reden oder Ansprachen“, der Verpflichtung zur schwarz-rot-goldenen Fahne und der Anerkennung der Flaggen und Wimpel der beteiligten Sportorganisationen findet sich darin auch ein Bekenntnis zu gesamtdeutschen Mannschaften sowie - einigermaßen konträr dazu - die Empfehlung an die westdeutschen Verbände, die Anträge der DDR-Sportsektionen zur Aufnahme in die
internationalen Sportorganisationen zu unterstützen.
Das Berliner Abkommen von 1952 ist nichts weniger als der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag auf dem Gebiet des Sports: Die beiden deutschen Sportorganisationen verhandelten nicht nur miteinander, sondern schlossen auch Verträge. Der Sportverkehr war von nun an bilateral geregelt. Vereinzelt wurde zwar schon damals erkannt, daß nun auf „internationaler Grundlage (...) zwei Deutschland' erschien26). Später wurde das Abkommen aber immer wieder als Beispiel für die Blauäugigkeit der Sportführung angeführt, etwa als der DSB-Generalsekretär von Mengden 1962 dem damaligen Verhandlungsführer Daume schrieb, daß die westdeutsche Sportführung 1952 „fast den ganzen Obstgarten“ verschenkt habe, von dem sie nun „die letzten drei Bäume erbittert“ verteidige27).
Gemessen an der Logik des Kalten Krieges mochte im Berliner Vertrag in der Tat eine gewisse Naivität zum Ausdruck kommen. Auf der anderen Seite ist aber auch klar, daß Daume nicht allein stand. Wenn er die Auffassung vertrat, daß man das „sportliche West-Ost-Problem“ nicht zu politisch sehen dürfe, so sprach dieser geschickte Taktiker, der ansonsten die Berechnungen der ostdeutschen Sportführung sehr gut verstand, eine gerade unter Sportlern weit verbreitete Meinung aus28). In wenigen anderen Bereichen war die Raison des Kalten Krieges so unbeliebt wie im Sport. Die Verweigerung von Einreisevisen für Sportler aus dem Ostblock seitens der Bundesregierung stieß regelmäßig auf massive öffentliche Kritik. Wettbewerbe mit Mannschaften aus dem Ostblock, zumal in Sportarten wie Eishockey und Fußball, waren Publikumsrenner, auch wenn sie, wie 1954 in Krefeld ein Eishockeyspiel gegen eine Moskauer Mannschaft, ausgerechnet am Tag der Kriegsgefangenen“ ausgetragen wurden29).
Ausdruck reiner Blauäugigkeit war auch die Auffassung nicht, man solle doch die ostdeutschen Sektionen „in Gottes Namen“ in die internationalen Verbände aufnehmen, „denn schließlich (hätten) eben die ostdeutschen Sportler auch ein Recht, an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen“30). In Wahrheit verbarg sich dahinter das Kalkül, gesamtdeutsche Mannschaften zu verhindern.
[…]
III. Das Dilemma der „Hallstein-Doktrin«
Sport war Politik, und zwar „hohe Politik“. Diese Erkenntnis setzte sich im Winter 1955/56 auch in der Bundesrepublik durch, wenngleich zunächst aus ganz anderen Gründen als jenseits der Elbe. Um diese Zeit forderte der Bundesaußenminister vom Bundesinnenminister die Federführung in allen Angelegenheiten, in denen in Sportfragen spezifisch außenpolitische Fragen berührt wurden: Die internationalen Sportbeziehungen, insbesondere die Vorbereitung der bevorstehenden Olympischen Spiele, hätten, wie einem zunächst uneinsichtigen Innenministerium entgegengehalten wurde, „einen ausgesprochen außenpolitischen Charakter“ angenommen. Die Rückwirkungen dieser Dinge auf die allgemeinen außenpolitischen Beziehungen seien zu groß geworden 39). Aktueller Anlaß dieser Kontroverse war die Veröffentlichung der Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den Sportorganisationen der DDR und der Bundesrepublik über die Aufstellung einer gesamtdeutschen Olympiamannschaft für die Winterspiele in Cortina d'Ampezzo (Italien), von der Brentano offenbar aus der Zeitung erfuhr. Am 15. November 1955 monierte der Außenminister, daß „unsere vortrefflichen Sportsleute“, die, wie er ironisch hinzufügte, ja nach seinen Informationen weitgehend identisch seien „mit denen, die diesen Beruf schon im 3. Reich ausübten", durch diese Verhandlungen nicht nur anerkannten, daß es zwei olympische Komitees, sondern auch - weit schlimmer! - zwei deutsche Nationalhymnen gebe. Daran könne man einmal mehr sehen, wohin „technische Ost-West-Kontakte“ führten40). Für die Vertreter des Sports war die „Bestürzung" des Außenministers zunächst alles andere als verständlich; die Ergebnisse der Verhandlungen lagen ja schon länger vor, ohne daß es zu Interventionen oder Stellungnahmen gekommen wäre41). Das Arrangement der beiden deutschen Sportorganisationen war nicht nur wegen der zwei Nationalhymnen brisant. Es gab weitere Gründe, die mit der Moskau-Reise des Bundeskanzlers im September und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion zusammenhingen, einer Reise, der im übrigen zum Leidwesen der Bundesregierung eine publizistisch gut vorbereitete Einladung von Spartak Moskau an den Deutschen Fußball-Bund vorausgegangen war, die nicht mehr rückgängig zu machen war. Die deutschen Fußballer verloren ihr Spiel. Darüber, ob die
Moskaureise ein Erfolg war oder nicht, gingen die Meinungen innerhalb der deutschen Delegation auseinander. Für Außenminister Brentano und seinen Staatssekretär Hallstein war der Kanzler, der ganz auf Prestigegewinn nach innen wie nach außen setzte, zu konzessionsbereit gewesen43). Außerdem war kurze Zeit danach auch der DDR von der Sowjetunion die vollständige Souveränität übertragen worden und damit eingetreten, was die Skeptiker vorausgesehen hatten: Deutschland war künftig nun ausgerechnet in Moskau durch zwei Botschaften repräsentiert. Die eigene Politik hatte also nichts anderes als einen Präzedenzfall geschaffen, der auf die Aushöhlung des Alleinvertretungsanspruchs hinauslief.
Vor diesem Hintergrund wurde im Auswärtigen Amt zwischen September und Dezember 1955 zur Klärung der eigenen Position die sogenannte „Hallstein-Doktrin“ formuliert44)". Neu daran war nicht der Alleinvertretungsanspruch als solcher oder die Ankündigung, daß die Anerkennung der DDR als ein unfreundlicher Akt gegenüber der Bundesrepublik betrachtet würde. Das kannte man auch früher schon. Neu war vielmehr die wohl auf Außenminister Brentano selbst zurückgehende Zu-spitzung, daß die Bundesrepublik die Anerkennung der DDR mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen quittieren würde.
Anlaß zu dieser klaren Positionsbestimmung, die auf einer Botschafterkonferenz Ende 1956 getroffen wurde, waren Pläne Ägyptens und Finnlands gewesen, in Ost-Berlin eine Handelsvertretung mit konsularischen Rechten zu eröffnen. Aber während man sich in Bonn noch Gedanken über die wankelmütige Haltung vor allem blockfreier Länder machte, sah sich die Bundesrepublik plötzlich selbst auf der Anklagebank: Am 14.Dezember erklärte nämlich der Direktor der Politischen Abtei-lung des NATO-Generalsekretärs dem deutschen NATO-Gesandten in Paris, Blankenhorn, daß man bei einigen Mitgliedsstaaten, aber auch innerhalb des Generalsekretariats selbst, über die Bildung eines gemeinsamen deutschen Olympischen Komitees und die Einigung in der Hymnenfrage erstaunt sei. Wie sei es möglich, „daß die Bundesregierung einerseits von den übrigen NATO-Mitgliedern eine schroffe Ab-lehnung des Pankower Regimes verlange, andererseits sich selbst keineswegs an diese Forderungen halte"? Blankenhorn
auf solche Fragen, daß „zwischen den menschlichen Beziehungen und rein technischen Kontakten mit der Sowjetzone einerseits und allen politischen Beziehungen, die einer Anerkennung des Regimes gleichkommen würden, andererseits“ ein wesentlicher Unterschied bestehe45). Aber solchen feinsinnigen Differenzierungen traute man in Bonn jetzt wie auch in der Fol-gezeit selbst nicht. Die Vorstellung, daß bei einer olympischen Siegerehrung, an der das ganze diplomatische Corps des gastgebenden Landes teilnahm, die Nationalhymne der DDR gespielt würde, raubte nicht nur Hallstein den Schlaf. Auf einen solchen Fall warteten in seinen Augen nicht nur die Ostblockstaaten; auch im „Lager der freien Welt“ gäbe es, wie er wohl mit Blick auf England meinte, Politiker, die eine solche Manifestation nicht ablehnen würden46). Durfte es so etwas wie gesamtdeutsche Mannschaften überhaupt geben? Die Verhandlungen zwischen den beiden NOK, um die man sich vor der Moskaureise Adenauers offenbar wenig gekümmert hatte, waren plötzlich zur Staatsaffäre geworden.
Die Strategie der DDR-Führung war eindeutig. Die westdeutschen Sportfunktionäre bemerkten schon in den Gesprächen der beiden NOK einen abrupten Sinneswandel ihrer östlichen Kollegen nach Adenauers Moskaubesuch47). Das Bekenntnis zu gesamtdeutschen Vertretungen wurde aus dem Vokabular gestrichen; erst 1959/ 60 sollte es im Kontext der Vorschläge über eine Konföderation wieder auftauchen. Auch im Sport sollte nun die Souveränität der DDR klar dokumentiert werden: „Ausgehend von der Existenz zweier deutscher Staaten kann bei den Verhandlungen zwischen Vertretern der Sektion Fußball der DDR und den Vertretern des Deutschen Fußball-Bunds die Basis für die Verhandlung nur die volle Gleichberechtigung sein“, hieß es in internen Richtlinien für die Gespräche über eine gesamtdeutsche Fußballmannschaft für die Olympischen Sommerspiele in Melbourne 195648). Aufgrund der großen Leistungsdifferenzen war das, wie man genau wußte, völlig indiskutabel.
Die gleiche Strategie der Sprengung verfolgte man in den Bereichen, wo es wie beispielsweise im Tischtennis, Handball oder der Leichtathletik, noch gesamtdeutsche Sportmannschaften gab.
In der Bundesrepublik tat man sich schwerer, eine Linie zu finden. Man schwankte zwischen dem Wunsch, West- und Ostdeutsche
unter der schwarz-rotgoldenen Fahne antreten zu lassen, und fundamentalen politischen Bedenken. So begrüßten Referenten im Ministerium für gesamtdeutsche Beziehungen ebenso wie auch einzelne Abteilungen des Auswärtigen Mini Amtes 1956 die Idee der Aufstellung einer gesamtdeutschen Eishockeymannschaft. Sie würde „das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen und ihr[en] Willen zu einem einheitlichen Deutschland“ demonstrieren49). Tatsächlich schien jetzt die Stunde gekommen, die bis dahin von der DDR ausgehende Parole vom gesamtdeutschen Sport zu propagieren; denn mit gesamtdeutschen Mannschaften ließ sich Deutschland als Nation repräsentieren. Bedingung dafür war selbstverständlich, daß die Mannschaftsführer aus der Bundesrepublik stammten und man sich im Sinne der Bundesrepublik auf die nationalen Symbole einigte.
Andererseits setzte man sich mit der Schaffung gesamtdeutscher Mannschaften und mit gesamtdeutschen Meisterschaften zunächst aber doch dem Verdacht aus, mit der DDR zu „sympathisieren“: Dies war, wie von Halt 1956 mit Blick auf die Olympiamannschaft meinte, eine Form der „Verständigungspolitik"50), die es eigentlich gar nicht geben dürfe. Aber das war nicht das einzige oder gar das entscheidende Problem. Wie Karl Carstens, damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, im Zusammenhang mit der Aufstellung der erwähnten Eishockeymannschaft vermerkte, konnten die dazu notwendigen Verhandlungen „im sowjetzonalen Sinne als Beweis dafür interpretiert werden, daß das Wiedervereinigungsproblem und die mit ihm zusammenhängenden Fragenkomplexe durch direkte Kontakte zwischen Bonn und Pankow gelöst werden können“51). Das war auch die Meinung Hallsteins: Es gehe nicht an, daß die Bundesregierung einerseits mit dem äußersten Mittel, dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohe, falls ein Staat die Anerkennung der DDR in Erwägung zöge, andererseits aber den Anschein erwecke, als ob sie sich mit Vereinbarungen wie denen der beiden deutschen NOK identifiziere51).
Aus diesen Gründen wurde zunächst mit allen Mitteln versucht, die vorläufige Anerkennung des DDR-NOK wieder rückgängig zu machen53). Das entpuppte sich schnell als Illusion. Die Anstrengungen, über das diplomatische Corps und die Ver-bündeten direkt und indirekt auf IOC-Präsident Brundage und
andere IOC-Mitglieder einzuwirken54), erwiesen sich als Fehlschlag. Das gleiche gilt für spätere Versuche, den DDR-Sport in den Weltverbänden zu isolieren und auszuschließen". Das musste schon deshalb ein frommer Wunsch bleiben, weil sich im Bereich des Sports das Prinzip „zwei Staaten" schon früh durchgesetzt hatte56).
Welche Alternativen gab es? Die beiden federführenden Ministerien drängten 1956 auf den Boykott der Sommerspiele in Melbourne, der von einem Austritt aus dem IOC flankiert werden sollte. Zugleich drohte Innenminister Schröder mit der Sperrung der Subventionen für die deutsche Olympiamannschaft: Damit würde sich die Bundesrepublik demonstrativ von den Beschlüssen der beiden NOK distanzieren57). Im DSB war man entsetzt. Daume entwickelte 1956 gegenüber Innenminister Schröder ein Szenario, demzufolge sich einzelne westdeutsche Sportler über Berlin der DDR-Mannschaft anschließen würden58). Noch problematischer aber war ein anderer Punkt: Bei einem Olympiaboykott der Bundesrepublik wäre die DDR-Mannschaft mit Sicherheit allein zu den Spielen gereist; außerdem hätte dies möglicherweise die von der DDR angestrebte volle internationale Anerkennung der DDR-NOK bedeutet.
Jetzt wie auch in der Folgezeit waren es die Vertreter des Sports; die den Politikern vorwarfen, aus einem falschen Gefühl der politischen Stärke heraus die Implikationen des sportlichen „Internationalismus“ zu verkennen. Als NOK-Präsident von Halt die Vertreter einer harten Linie fragte, ob die Bundesregierung eher die Anerkennung eines selbständigen „SBZ-NOK“ und das Auftreten einer selbständigen DDR-Mannschaft bei den Olympischen Spielen oder die Teilnahme einer gesamtdeutschen Mannschaft wünsche, konnte Staatssekretär Hallstein nur antworten, daß das erstere mit allen Mitteln verhindert werden müsse und das zweite mit einem Minimum an Konzessionen notfalls tragbar sei59).
Damit war ein Kompromiß angedeutet. Neben anderen Protokollfragen einigten sich die beiden NOK für die Sommerspiele schließlich auf Ludwig van Beethovens „Hymne an die Freude“ als Ersatz für die Nationalhymne. Das war für sich genommen wiederum nicht ganz unproblematisch, denn die DDR-Sportführung, die sich bei den Winterspielen keine Hoffnungen auf eine Goldmedaille machen konnte, hatte
Beethovens „Hymne an die Freude“ nur deshalb vorgeschlagen, um das Deutschlandlied zu verhindern. Die Bundesregierung mußte nicht nur 1956 einsehen, dass gesamtdeutsche Mannschaften „noch die beste von allen schlechten Lösungen“ darstellten60) Zähneknirschend und mit einiger Verärgerung darüber, daß der Sport bei aller Bereitschaft seiner Funktionäre, mit staatlichen Stellen zu kooperieren, eigenen Gesetzen gehorchte, und nicht voll auf die außenpolitische Linie zu bringen war, machte man gute Miene zum bösen Spiel und beugte sich den Realitäten, 1956 wie 1960. Offenbar gab es 1956 aber bis zuletzt Stimmen, wohl auch aus dem Bundeskanzleramt, die einen Boykott befürworteten61)l. Noch 1960 fand man sich nur schwer mit der eingetretenen Entwicklung ab. Als Willi Daume nach einer hitzigen Unterredung Bundeskanzler Adenauer zu überreden versuchte, auf der anschließenden Pressekonferenz zu sagen, dass er bei den Olympischen Spielen in Rom eine gesamtdeutsche Mannschaft immerhin „honoriere“, konterte Adenauer mit offensichtlichem Verdruß: „Honoriert nicht! Ich würde auch nicht sagen toleriert. Ich würde sagen: das ist eine Tatsache, [und] über Tatsachen lange zu sprechen, hat keinen Zweck.“62) Er ließ keinen Zweifel daran, daß ihm die ganzen deutsch-deutschen Kontakte im Sport höchst suspekt waren.
Wie an der Debatte über die Teilnahme an den Olympischen Spiele 1956 zu sehen ist, stand Bonn, gewappnet mit der Hallstein-Doktrin, vor einem fundamentalen Dilemma: Verhandlungen mit dem DDR-Sport konnten als politische Anerkennung der DDR interpretiert werden, selbst wenn es auf Seiten der Bundesrepublik eine nichtstaatliche Organisation war, die diese Verhandlungen führte. Gesamtzdeutsche Mannschaften waren seit 1956 ein Auslaufmodell, auch wenn die Bundesregierung sie nun zunehmend als „erwünscht“ betrachtete. Das Problem war, dass sie nicht ohne weiteres zur inneren Konstituierung der Bundesrepublik paßten, wie sich zeigte, als es um die Frage von Bundeswehrangehörigen in gesamtdeutschen Mannschaften ging. Aber auch die Alternative war nicht diskutabel, denn mit getrennten Mannschaften wäre nämlich die Anerkennung der DDR auf interbnationaler Bühne noch offenkundiger gewesen. Mit anderen Worten: Es bestand die Gefahr des Scheiterns, egal welchen Weg man auch einschlug. g. Denn die „Hallstein-Doktrin“ setzte eine
radikale Trennung von Ost und West voraus, die es im Sport nicht gab.
ANMERKUNGEN
1) Bei dem Aufsatz handelt es sich um eine erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung am 1. 6.1994 in der philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Bundesarchiv Koblenz (künftig: BAK), B 106/393, Daume an Oberüber im Bundespräsidialamt, 26.6. 1956. Alfred Georg Frei, Finale Grande. Die Rückkehr der Fußballweltmeister 1954, Berlin 1994, S. 16; Arthur Heinrich, Tooor! Toor! Tor! Vierzig Jahre 3:2, Hamburg 1994; Jürgen Busche, Der Mythos von 1954, in: Aus Politik u. Zeitgeschichte B 24/94,17.6.1994, S. 13-15.
2) BAK, B 106/Nr.1824, Schreiben Deutscher Fußball-Bund an Adenauer, 15.8.1954.
3) BAK, B 106fNr.1824, dpa Überseedienst, 7.7.19'54.
4) Die Zeit, 15.7.1954; Süddeutsche Zeitung, 8.7.1954; vgl. auch Frei, Rückkehr, 5.113 f. Die Frankfurter Rundschau bemerkte anläßlich eines kritischen Leserbriefes, daß offenbar auch die Nationalmannschaft wenig von der Rede entzückt war, Frankfurter Rundschau, 15.7. 1954.
7) Hans Schimanski, Sport und Politik, Ziele und Methoden kommunistischer Sportpolitik, in: SBZ- Archiv 10 (1959), S. 370-374, hier S. 373 f.; Ulrich Pabst, Sport - Medium der Politik? Der Neuaufbau des Sports in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und die innerdeutschen Sportbeziehungen bis 1961, Berlin u.a. 1980, S.129ff. Für die Zeit seit den sechziger Jahren vgl. Gunter Holzweissig, Diplomatie im Trainingsanzug. Sport als politisches Instrument der DDR, München/Wien 1981; G. Carr, The Use of Sport in the German Democratic Republic for the Promotion of National Consciousness and International Prestige, in: Journal of Sport History, H. 1, 1974, S. 123-136; Helmut Digl, Sport und nationale Repräsentation. Spitzensport im Dienste der Politik, in: Der Bürger im Staat 24 (1974), 5.195-202; Peter Kühnst, Der mißbrauchte Sport. Die politische Instrumentalisierung des Sports in der SBZ und DDR 1945-1957, Köln 1982, S.69ff.
8) Vgl. in diesem Zusammenhang auch die anregenden Überlegungen von Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/93,16.7.1993, S.30-41.
9) BAK, B 106/Nr. 1958, Daume an Sehrüder, 26.1. 1956, S. 12.
10) Vgl. Pabst, Sport, S.71 ff.; Kühnst, Sport, S.72ff.
11) BAK, B 136/Nr. 5551, Referat 5, Gumbel, an Bundeskanzleramt (künftig Buka), 17.5. 1951: Aktenvermerk über die von dem Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen auf den 16.Mai 1951 einberufene Sitzung über die sportlichen Beziehungen zur Sowjet-Zone mit sämtlichen Leitem der insgesamt 22 Sport-Fachverbände, dem Präsidenten des DSB und den Vertretern des NOK.
12) Zum Streit über von Halt vgl. Pabst, Sport, S.177ff.; recht umfangreiche Quellen in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (künftig PA AA), Abt 2, Nr.1944; BAK, B 106/Nr.1732. Vgl. auch Arnd Krüger, Die Olympischen Spiele 1936 und die Weltmeinung Ihre außenpolitische Bedeutung unter besonderer Berücksichtigung der USA, Berlin 1972.
13) Vgl. dazu die ausführliche, sehr verläßliche Darstellung von Pabst, Sport, S.175ff., auch für das folgende.
14) Die späte Entscheidung der DDR auf Anerkennung eines eigenen NOK bedarf noch näherer Untersuchung. Eine wichtige Frage wird dabei sein, welche Rolle die Sowjetunion spielte, die aber selbst erst 1951 vom IOC aufgenommen wurde. Bedeutsam ist dieser Punkt vor dem Hintergrund der provokativen Thesen in: Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994.
15) BAK,. B 136/Nr. 5551, von Halt an Adenauer, 25.5.1951; vgl. auch Guido von Mengden, Tatsachen und Daten zur Geschichte des gesamtdeutschen Sportverkehrs, in: Jahrbuch des Sports 1959/60, S.25 - 44.
16) BAK, B 136/Nr.5551, Bundesinnenministerium (künftig: BMI) an Buka, 26.10. 1953.
17) BAK, B 136/Nr.5551, BMI an Buka, 26.10. 1953, Vermerk über Besprechung mit von Halt am 11.8. 1956.
18) Pabst, Sport, S.221.
19) BAK, B 136/Nr. 5555, Vermerk über die Besprechung Adenauers mit Sportjournalisten, 7.6.1961; vgl. auch Konrad Adenauer, Teegespräche 1959-1961, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters, Berlin 1988, S.521.
20) PA AA, Abc.2/1914, Bundesamt für Verfassungsschutz an BMI, Auswärtiges Amt (künftig. AA) und Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen (künftig: BMG), 15.5. 1954.
21) „Die Vergleichskämpfe mit westdeutschen Sportlern müssen benutzt werden, um die Fragen der demokratischen Wiedervereinigung unter die westdeutschen Sportler zu tragen ... Die Durchführung der Meisterschaften muß der Stärkung der deutschen (sic!) Demokratischen Republik dienen“, Niederschrift über die Aussprache mit dem Genossen Walter Ulbricht vom 2.11. 1955, in: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (künftig: SAPMO-BA), IV 2/18 Nr.2 Walter Kortenberg, Der Sport in der sowjetischen Besatzungszone, hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. Bonn 1954, S.25ff.; Pabst, Sport, S. 160ff.
25) Ebenda, S.154ff.
26) BAK, B 106/Nr. 1758, Kitz, BMI, an Daume, 30.1. 1953. Vgl. auch das Schreiben des Staatssekretärs im Buka an BMI, 17.12. 1952, in: BAK, B 136/Nr5551. Darin wird deutlich, daß man noch eine Woche nach dem Abkommen nicht genau über die Einzelheiten unterrichtet war
27) Zit. nach Pabst, Sport, S. 155.
28) BAK, B 106/Na 1758, Daume an Thedieck, BMG, 22.1. 1953.
29) Auf diese extrem unpopulären Einschränkungen, die offenbar auf eine Abstimmung innerhalb der NATO zurückgingen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Den Sportverbänden wurde nahegelegt, sich stärker um Kontakte mit den westlichen Staaten zu bemühen. Außerdem wurde Daume instruiert, den Verkehr mit dem Osten auf diejenigen Begegnungen zu beschränken, bei denen die deutschen Sportler wenigstens die Chance eines guten Abschneiden haben'. Sportliche Begegnungen mit den Sowjets nur um der Sensation willen seien sportlich ohne Nutzen und politisch schädlich', BAK, B 106/Nr.1957, Hagelbergen, BMI, an Daume, 11.11. 1958; vgl. auch
Pabst, Sport, S.222ff.
30) Wie Anm.28.
39)BAK, B 106/Nr.1810, Entwurf: PA AA, 604/Nr.635, Hallstein, AA, an Bleek,
BMI, 18.2. 1956, Bleck hatte in einem Schreiben vom 30.1. 1956 die Federführung für sein Ministerium beansprucht
40) BAK, B 106/Nr.1810, Brentano an Schröder, 15.11. 1955. Der Hinweis auf die „technischen Ost-West-Kontakte“ bezog sich zunächst einmal auf den Anspruch der Sportler, Fragen wie die der gemeinsamen Trikots, der Bekleidung, des olympischen Chef de Mission und eben auch der Hymnen „unpolitisch` zu lösen. Zugleich war es eine klare Absage an alle Bemühungen, über die Bildung deutsch-deutscher Gremien die Kontakte zwischen dem geteilten Deutschland zu intensivieren, wie das die Opposition wünschte; vgl. dazu auch Daniel Kosthorst, Brentano und die deutsche Einheit. Die Deutschland- und Ostpolitik des Außenministers im Kabinett Adenauer 19551961, Düsseldorf 1993, S.89.
41) Vgl. PA AA, 604/Nr. 635, von Halt an Müller-Horn, 21.2. 1956. Rückblickend kritisierte vor allem Willi Daume immer wieder, daß die Bundesregierung zunächst wenig Interesse für Fragen des Sports zeigte; BAK, B 106/Nr.1962, Daume an Hagelberger, BMI, 14.11. 1958.
42) Zur Schadensbegrenzung wurden Überlegungen angestellt, wie man zur Vermeidung eines Faux pas dem Präsidenten des Fußball-Bunds Bauwens und der Mannschaft einen geeigneten Staatsbürgerunterricht zukommen lassen könnte; BAK, B 106/Nr.1824, Bleck, BMI, an Hallstein, AA, 12.7. 1955.
43) Die beste Darstellung bei Kosthorst, Brentano, S.78ff.;. Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd.II: Der Staatsmann 1952-1967, Stuttgart 1986, S.207ff.; Josef Foschepoth, Adenauers Moskaureise 1955, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 22/86,31.5.1986, S.30-46.
44) Vgl. Kosthorst, Brentano, S.88ff. Vgl. auch Heinz Hermann Verfürth, Die Hallstein-Doktrin und die Politik der Bundesregierung gegenüber den osteuropäischen Staaten von 1955 bis 1967, Sozialwiss. Diss. Bochum 1968; Schwarz, Adenauer, 11, S.370; Hans-Peter Schwarz, Gedenkrede, in: Ge-denkfeier des Auswärtigen Amtes zum 90. Geburtstag von Staatssekretär Professor Dr. Walter Hallstcin (25. November 1991), Bonn 1991.
45) Krapf (in Vertretung von Blankenhorn) Paris (NATO) an AA, 14.12. 1955; Fernschreiben Blankenhorn an AA, 20.12. 1955 (PA AA, 700/Nr.146).
46) BAK, B 106/Nr.1810, Niederschrift über Besprechung am 6.1. 1956; AA 604/Nr.633; vgl. auch ebenda, Niederschrift über die Besprechung am 17.1. 1956 bei Herrn Staatssekretär wegen der Aufstellung gesamtdeutscher Mannschaften bei den Olympischen Spielen 1956, Abt.6.
47) Darauf weist Daume hin, vgl. Niederschrift über die Besprechung am 6.1.1956, in: Ebenda.
48) PA AA, 700/Nr.146, Richtlinien für Sowjetzonen-Sport-Delegarionen mit Sportverbänden der Bundesrepublik. Die Verhandlungen scheiterten, da die DDR-Sportvertreter u. a. eine Parität der Spieler forderten, vgl. BAK, B 106/Nr.1955, Vermerk v. 3.12. 1955.
49) PA AA, 700fNr.146, Vermerk von Referat 201, Dr. Fechter, 17.7. 1956 betr. Gesamtdeutsche Eishockeymannschaft für die Weltmeisterschaft in Moskau.
50) PA AA, 604/Nr. 633, Niederschrift über die Besprechung am 17.1. 1956 (wie Anm.46).
51) Vermerk v. 19.7. 1956 zum Vermerk von Fechter v. 17.7. 1956 (wie Anm. 49).
52) PA AA, 604/Nr.633, Niederschrift der Abt.6 über die Besprechung am 17.1. 1956.
53) Noch im Januar 1956 zeigte von Halt im Auswärtigen Amt Zweckoptimismus, die Aufstellung einer gesamtdeutschen Mannschaft für die Sommerspiele in Melbourne verhindern zu können; vgl. die Aufzeichnung von Abt. 6 über die Besprechung am 17.1. 1956, in: Ebenda. Tatsächlich wurde von Halt später vorgeworfen, von dem Führer des „Ost-NOK" eingenommen zu sein; ebenda, Vermerk v. 25.1. 1956 über Anruf von Müller-Horn am 25.1. 1956 aus Cortina d'Ampezzo. Mül ler-Horn vom AA war von Halt nach Cortina zu den Verhandlungen des IOC „zur Seelen- und Rückenstärkung“ ,zur Seite gestellt worden; vgl. ebenda, Trützschler, AA, an den Botschafter in Canberra, 21.1. 1956.
54) Vgl. PA AA, 604/Nr. 633, Vermerk Trützschlers v. 16.1. 1956 auf der Grundlage von Fernschreiben aus Washington.
55) Die Initiative ging vom Auswärtigen Amt aus, vgl. PA AA, 700/Nr.146, Ressortbesprechung am 14.10. 1958 auf Einladung des BMI; Hagelberger an Daume, 11.11. 1958 (wie Anm.29).
56) BAK, B 106/Nr.1962, DSB an Staatssekretär Thedieck, 21.5. 1958.
57) Niederschrift über die Besprechung am 17.1. 1956 (wie Anm.46).
58) BAK. B 106/Nr. 1958, Daume an Schröder, 26.1. 1956.
59) Niederschrift, 17.1. 1956 (wie Anm.46).
60) PA AA, 604/Nr. 1069, Abt. 6, Dr. Langer, Dr. Holz, Aufzeichnungen betr. Gesamtdeutsche Mannschaften anläßlich der Olympischen Spiele, 20.7. 1962.
61) Vgl. das erbitterte Schreiben Daumes an Schröder, 15.11. 1956, in: BAR, B 106/Nr. 1958; Kosthorst, Brentano, S.89.
62) BAK, B 136/Nr.5551, im Buka angefertigte Niederschrift über den Empfang der führenden Vertreter der deutschen Turn- und Sportbewegung beim Bundeskanzler, 5.8. 1960, S.27. Bundesinnenminister Schröder nahm im übrigen dieselbe Position wie Daume ein, wenn er meinte, dass es als Selbstverständlichkeit gelte, dass Rom von einer gesamtdeutschen Mannschaft beschickt würde.
63) Der Moderne Fünfkampf der DDR wurde 1958 vom internationalen Verband aufgenommen, u. a. weil das Bundesverteidigungsministerium die Ausreise von Bundeswehrsoldaten zur Teilnahme an diesem vorwiegend militärischen Kampf in Ostblockstaaten und die DDR verboten hatte, BAK, B 106/Nr.1962, Daume an Hagelberger 14.11. 1956.
Vor fünfzig Jahren:
Erster Friedensfahrt-Start in Berlin
Von KLAUS HUHN
Es ist in diesem Frühling fünfzig Jahre her, dass die Friedensfahrt zum ersten Mal in Berlin gestartet wurde. Grund genug, daran zu erinnern, zumal vieles darauf hindeutet, dass das Rennen seine Traditionen nie fortsetzen können wird.
Als Polen und Tschechoslowaken nach den ersten sieben gemeinsamen Friedensfahrtjahren „Neues Deutschland“ und dem DDR-Radsportverband den Vorschlag machten, die Hauptstadt der DDR zum ersten Mal als Startort zu wählen, war man in Berlin begeistert, sah sich aber mit einigen echten Problemen konfrontiert. Vor allem mangelte es an der nötigen Hotelkapazität. Rund 400 Teilnehmer und Begleiter für rund fünf Tage unterzubringen, war faktisch unmöglich, ohne ernste Probleme heraufzubeschwören. Dann kam jemand auf die kühne Idee, das Quartier der Parteihochschule in Pankow für den Zeitraum von der Anreise der ersten Mannschaften bis zum Aufbruch des Konvois Tage in ein regelrechtes „Friedensfahrtdorf“ zu verwandeln, doch war die Hochschulrektorin – gelinde formuliert – von dem Gedanken nicht sonderlich begeistert. Für eine Woche die Hochschulstudenten in Ferien schicken? Unvorstellbar! Und alle Bewohner der Zweibettzimmer aufzufordern, ihre Utensilien in einem der beiden Kleiderschränke unterzubringen und den anderen für die Rennfahrer aus fremden Ländern zu räumen? Ebenso unvorstellbar!
Der Autor war zufällig in der Nähe, als das deswegen von der Rektorin angerufene Politbüro zusammenkam. Der Tagesordnungspunkt war in weniger als zehn Minuten erledigt. Etwa sieben Minuten währte der Vortrag, mit dem die Ablehnung des Vorschlags begründet wurde, höchstens zwei Minuten die Darlegung der für das Vorhaben sprechenden Argumente, die verbleibende Minute verblieb dem Protokollanten, den Beschluss zu notieren: Die Teilnehmer der Friedensfahrt werden im Internat der Parteihochschule untergebracht.
Damit war der Weg frei, eine Art olympischen Dorfes in dem zwischen Rasenmatten und Kiefern faktisch mitten in der Stadt märkische Landschaft präsentierenden Objekt zu eröffnen. Als erstes wurde ein „Bürgermeister“ für das 33.000 qm umfassende „Dorf“ gesucht – und auch schnell gefunden. Kurt Edel, einer der
besten 400-m-Läufer der Nachkriegsjahre und von 1951 bis 1955 Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR schien die ideale Person zu sein und willigte auch sofort ein. Es wurden Pläne geschmiedet, die bei den Gästen den Eindruck erwecken mussten, sie seien tatsächlich Bewohner einer an „olympische Dörfer“ erinnernden Unterkunft. Dazu gehörte zum Beispiel, dass bei der Ankunft der insgesamt 18 Mannschaft nach der Begrüßung durch den „Bürgermeister“ die Nationalhymne des jeweiligen Landes gespielt wurde. Tatsächlich gelang es Kurt Edel und seinen Mitstreitern der Berliner Premiere zum Auftakt der der XII. Friedensfahrt ein besonderes Flair zu verleihen.
*
Aber schon sehr bald stellten sich Probleme ein, die niemand hatte voraussehen können. Zu den Mannschaften die erstmalig für die Fahrt meldeten gehörte Monaco. Der Masseur des monegassischen Verbandes hatte Jahre in deutschen Konzentrationslagern gelitten, von einem belgischen Kollegen während der Tour de France von der Friedensfahrt gehört und sich darum bemüht, dass sein Verband die Meldung abgab. Da Monacos erfolgreichster Profi, Vitetta – sechsfacher – Tour-de-France-Teilnehmer -, sofort bereit war, mitzumachen und die Klausel, wonach eine Mannschaft neben drei Amateuren auch drei „Unabhängige“ – Zwischenkategorie zwischen Amateuren und Profis – ihm die Teilnahme gestattete, wenn er eine „Unabhängigen“-Lizenz löste, stand der Teilnahme Monacos nichts mehr im Wege.
Bis auf eine Hürde, die kaum jemand hatte voraussehen können: Niemand wusste in Berlin, wo man die Nationalhymne Monacos auftreiben könnte. Da es durchaus denkbar war, dass die Monegassen gemeinsam mit einer anderen Mannschaft anreisten, drohte die Gefahr, dass man Monaco ohne Hymne begrüssen musste. Ein Brief an jenen inzwischen aufgefundenen Masseur, blieb ohne Antwort, aber schließlich fand man eine Variante, dass jemand ihn im Zug fragen konnte, ob ihn der Brief erreicht und er eine Platte eingepackt hatte. Er wies auf seinen Koffer und versicherte, sie dabei zu haben. Auf dem Ostbahnhof übernahm sie der unvergessene Friedensfahrt-Fotograf „Piepe“ Rowell, schwang sich auf sein Motorrad und raste nach Pankow. Dort löste er Entsetzen aus. Man hatte mit einem Tonband gerechnet und als
man endlich einen Plattenspieler aufgetrieben hatte, stellte sich heraus, dass die Platte mit einer Geschwindigkeit aufgenommen worden war, über die das Gerät nicht verfügte. Man bestürmte Nachbarn in der Gegend und als die Monegassen eintrafen, dröhnte ihre Hymne aus den Lautsprechern.
Die Gäste – bis auf den eingeweihten Masseur – waren sprachlos. Noch nie war irgendwo ihnen zu Ehren die Hymne gespielt worden!
*
Alle noch so rührigen Pläne der Initiatoren des ersten Auftakts in Berlin drohten in einem Unwetter zu versinken. Dauerregen schien keinen anderen Ausweg zu lassen, als die so gründlich vorbereitete Eröffnungszeremonie zu streichen. Die Potsdamer Wetterpropheten warnten vor jedem Optimismus und schlossen nach ihren Karten einen Wolkenbruch nicht aus.
Aber die Friedensfahrt-Organisatoren wollten nicht aufgeben. Sie setzten sich mit der Handelsorganisation HO ins Benehmen und bestellten 120 Regenumhänge, damit jeder Teilnehmer wettersicher ins Stadion gelangen konnte. Die Kosten waren nirgends geplant aber ein pfiffiger HO-Händler wusste einen Ausweg: Wenn die Eröffnung vorüber ist, schicken wir eine Schar von Verkäuferinnen auf die Zuschauerränge und bieten die Mäntel als besonderes Wetterservice an, wobei noch versichert werden könnte, dass ausgerechnet der gerade angebotene bei der Zeremonie von Täve Schur getragen worden. Als die Wolkenbruchdrohung einging, wurden noch 120 Regenschirme geordert, die dann aber zurückgegeben werden konnten – der Wolkenbruch blieb aus.
Kurz vor dem Aufbruch aus dem Friedensfahrt-Dorf wurden die Mannschaftsleiter zusammengerufen und ihnen mitgeteilt, dass die Betreuer Umhänge verteilen würden, die aber vor dem Start unversehrt zurückzugeben waren. Außerdem sollten die Rennfahrer statt der Renntrikots zunächst ihre Trainingsanzüge anziehen. Alles klappte reibungslos und die Rennfahrer waren froh, wenigstens trocken zur Etappen „Rund um Berlin“ aufbrechen zu können.
Als am Ende der Fahrt in Warschau die Mannschaftsleiter zusammenkamen, um – auch das eine bei keinem anderen Rennen übliche Gewohnheit – über den besten Etappenort zu befinden, meldete sich nach kurzer Debatte der belgische
Mannschaftsleiter zu Wort: „Liebe Freunde, mir scheint ein dringendes Wort zu Berlin nötig. Glauben sie mir, ich bin in der Welt des Radsports zu Hause, ich bin einige Male die Tour de France mitgefahren, ich denke mir auch ein Urteil über Organisation erlauben zu können. Erinnern Sie sich an den Regen in Berlin? Die Berliner Organisatoren hatten selbst mit solchem Unwetter gerechnet, niemand wurde beim Eröffnungszeremoniell naß! Das war die Spitze!“ Die Rede blieb nicht ohne Echo. Berlin erhielt die meisten Stimmen.
*
Zurück zum Tag des Auftakts. Der Belgier Rene Vanderveken meldete sich am Abend beim „Dorf-Bürgermeister“ und bat darum, vor dem Aufbruch nach Magdeburg am nächsten Morgen eine katholische Frühmesse besuchen zu dürfen. Der „Bürgermeister“ telefonierte mit Pfarrern, erkundigte sich vor allem nach den Terminen und ließ Vanderveken dann mit dem belgischen Mannschaftswagen zur Kirche chauffieren. Im Kampf um den Etappensieg mochte Täve Schur davon geträumt haben, in seiner Heimatstadt zu gewinnen. Der Sprint war hart, Vanderveken gewann, Täve wurde Vierter. Am Abend nach seinem Motiv für den Kirchenbesuch befragt, lachte Vanderveken: „Natürlich habe ich mir den Etappensieg nur selbst zuzuschreiben, aber jemand hatte mir in Belgien erzählt, wir führen in ein Land, in dem keine Kirchen mehr stünden und nun wollte ich auf Gottes Hilfe setzen und obendrein herausfinden, was man mir da erzählt hatte.
*
Die Ankunft der Italiener in Berlin war besonders gefeiert worden. Mehr als einmal waren ihnen in den Jahren zuvor die Visa einen Tag zu spät ausgehändigt worden, so dass sie nicht rechtzeitig anreisen konnten und auf die Teilnahme verzichten mussten. Der Teamchef Giovanni Proietti, legendärer Radsporttrainer und während des Krieges Kommandeur einer Partisaneneinheit hatte diesmal das römische Außenministerium im Palazzo Chigi brillant überlistet. Er hatte den Start der Friedensfahrt in seinen Anträgen auf den 26. April „vorverlegt“ und als man ihm am 28. April die Visa zynisch grinsend und mit endlosen Erklärungen für die Verzögerung aushändigte, verzog er keine Miene, steckte die Pässe in seine Mappe und fuhr mit der Mannschaft zum Flughafen.
Er wusste, dass er rechtzeitig zum Start am 2. Mai in Berlin sein würde. Übrigens hatte er ein zusätzliches Rad mitgebracht. Bei einem früheren Empfang in Karl-Marx-Stadt hatte ein Junger Pionier die Mannschaft begrüßt und mit ihr den Abend am Tisch gesessen. Nun hatte Proietti ihn eingeladen und schenkte ihm das Rad.
*
Auf der 225-km-Etappe von Prag nach Brno erkämpfte sich Täve vom Italiener Venturelli das Gelbe Trikot. Zwar triumphierte Venturelli tags darauf in Gottwaldow und jagte Täve über vier Minuten ab, aber die reichten nicht, um das Gelbe Trikot zurückzuholen. In Warschau am Ziel feierte Täve seinen zweiten Friedensfahrtsieg vor Vanderveken und Venturelli.
*
Auf den 14. Platz kam ein Rennfahrer mit dem Vornamen Pawel, der in seinem Leben schon viele bittere Stunden erlebt hatte. Als vor dem Winterpalais in Leningrad während der Belagerung deutsche Granaten krepierten und Brot so rar war wie Platin und Gold, war er elf Jahre alt. Eines Tages trugen sie seine Eltern auf einen Friedhof. Sie waren verhungert. Er wußte, daß in den Schützengräben rundum Deutsche lagen und daß Deutsche die Stadt aushungerten. Nach dem Krieg wuchs er in einem Waisenhaus auf. Er wurde nicht sehr groß, war aber stark und zäh und eines Tages ein erfolgreicher Rennfahrer. Pawel hatte den Deutschen nicht vergessen, dass sie seine beiden kleinen Schwestern und seine Eltern ermordet hatten. Aber am Ziel der Friedensfahrt sagte er auch: „Ich habe hier andere Deutsche getroffen, Deutsche, mit denen ich leben und auch befreundet sein kann.
*
Auch damals stand der Hass gegen die DDR stand schon in voller Blüte. „Das Parlament“, Organ der Bundesregierung, über die Friedensfahrt: „Das Geheimnis der zehn Millionen Zuschauer erklärt sich nicht aus der Faszination des Rennens oder dem Wunsch, für den Frieden zu demonstrieren. Da ist der Druck auf die Bevölkerung, der Veranstaltung beizuwohnen und den ausländischen Teilnehmern Friedensbotschaften auszuhändigen."
1924:ALS COUBERTIN EHRENPRÄSIDENT WAR
1924 fanden in Paris die VIII. Olympischen Sommerspiele statt. Sie wurden weder im Fernsehen übertragen noch verfilmt. Nach Schluß der Spiele erschien ein „Erinnerungswerk unter dem Patronat des Schweizerischen Olympischen Komitees“, zu dessen Autoren auch der damals offiziell als „Ehren-Präsident des IOC“ fungierende Baron Pierre de Coubertin zählte. Aus diesem „Erinnerungswerk“ zitieren wir das Vorwort Coubertins, die Einführung des Vizepräsidenten des IOC, Baron Godefroy de Blonay, einen Beitrag über die antiken Spiele und den Bericht von der Eröffnungsfeier.
Baron de Coubertin:
PER ORBEM TERRARUM
In diesen schwierigen Zeiten liegt ein besonderes Verdienst in dem kühnen Wagemut, unmittelbar nach Abschluss einer Olympiade, Publikationen wie die vorliegende herauszugeben. Diese Tat bildet ein neues Ruhmesblatt für die Schweiz. Ihre Beteiligung an den letzten Spielen war eine so vollständige und ihre Erfolge so ehren-voll, dass sie - so spät ihr Elan auch kam - gleich einen Platz unter den bedeutendsten „olympischen Nationen" einnimmt.
Zu diesem Zwecke hat sie die „weltumfassendste" aller bisherigen Olympiaden gewählt. Und diesen Charakter haben die Wettspiele von 1924 nicht nur infolge der überraschenden Beteiligung seitens der verschiedenartigsten Völkerschaften gewonnen, sondern hauptsächlich dank des edlen Sportgeistes, der unter den von allen Enden der Welt auf die olympischen Kampfplätze von Paris herbeigeeilten Kämpen herrschte. Allen denjenigen, die Gelegenheit hatten, sich ihnen zu nähern und in ihrer Mitte zu leben - statt sie von weitem zu betrachten oder nach dem Hörensagen zu beurteilen, wie gewisse übelgelaunte oder verbitterte Kritiker es taten, - drängte sich die wohltätige Macht sportlicher Kameradschaft junger Leute auf, so verschieden auch ihr geistiger Zustand oder ihr Volksideal sein mögen.
Diesen Stempel wollte ich den Olympischen Spielen bei ihrer Wiederherstellung aufdrücken: weder französisch, noch lateinisch,
noch europäisch, sondern universell. Unbekümmert um das Urteil lokaler oder beruflicher Interessengruppen, betrachte ich die Feier der VIII. Olympiade als die endgültige Weihe des erneuerten und neuzeitlichen Olympismus. Ich fühle mich daher stolz, auf der ersten Seite dieses Bandes sagen zu dürfen : Dank allen denen, die mit uneigennützigem Eifer mitgearbeitet haben, dieses schöne Ergebnis gemeinsamen Strebens zu verwirklichen.
Lausanne, den 1. November 1924.
Godefroy de Blonay:
DIE ENTWICKLUNG DES OLYMPISMUS
Die Hoffnungen, die 1895 auf die wachsende sportliche Betätigung in der ganzen Welt gesetzt wurden, sind in Erfüllung gegangen.
Durch den Olympismus, der ihn in einen praktischen und zugleich idealen Rahmen stellte, ist der Sport im Begriffe, sich zum mächtigen Hebel allgemeinen Fortschrittes zu entwickeln. Vielleicht wird er morgen eine ausgeglichenere Auffassung des Lebens vermitteln, wo der einzelne Mensch und die Nation ihre Kräfte zum Besten der Menschheit gebrauchen werden.
Vor zwanzig Jahren noch erkannten erst wenige die Vorzüge nationaler und internationaler Art dieses Sauerteiges, mit dem das Internationale Olympische Komitee den Sport in seiner Gesamtheit zu durchdringen suchte der gesunden Ausübung und dem technischen Fortschritt gymnastische und ästhetische Ideale zur Verschönerung der Übungen beizugesellen, sie der Vollendung entgegenzuführen, wo der Athlet seine körperlichen und geistigen Kräfte zur vollen Auswirkung bringen kann.
Seither ist der Horizont weiter geworden; ein gesunder Wetteifer bemächtigte sich der Bewegung. Nach den Antwerpener Spielen kam man zur Einsicht, dass »der olympische Rekord nicht in einer der Masse aufgebürdeten Ueberanstrengung besteht, sondern vielmehr eine Tat bedeutet, die für jeden zur Möglichkeit wird«.
Die Ziele des Sports sind weiter gesteckt worden: ursprünglich Entwicklung der männlichen Schönheit, hat man ihn durch kräftige und geschulte Bewegung zu
einem das körperliche und geistige Gleichgewicht fördernden Faktor erhoben, dank des beigegebenen olympischen Elements.
Im gleichen Masse, wie diese Intervention im Verlaufe von dreissig Jahren sich fühlbar machte, galt es, Etappen zu überspringen, Fehler zu vermeiden, sich vor falschen Auslegungen zu schützen und, kurz gesagt, das erzieherische Moment so weit zu pflegen, dass man den Ausgangspunkt kaum mehr zu erkennen vermag.
Die Gegenüberstellung des in seinen Anfängen mutigen aber schüchternen Jünglings mit dem aus grosser demokratischer Auswahl hervorgegangenen, vollständigen, in manchen Wettkämpfen erprobten und ausgezeichneten Athleten erbringt den deutlichen Beweis für die gemachten Gewinne.
1921 erklärten wir: »Der ideale Meister wird derjenige Athlet sein, der in einer Olympiade eine ausserordentliche Leistung physischer, moralischer und geistiger Natur vollbringt, die ihn zum Normalmenschen stempelt, den der Olympismus der Menschheit zu geben sich bestrebt.«
Es macht den Anschein, als ob wenigstens in einigen Ländern der Fortschritt die alten Disziplinen in diesem Sinne beeinflusst habe. Die Sportzweige haben, mit Rücksicht auf die erweiterten Programme, gegenseitige Anleihen gemacht, die jedem zugute kamen. Die turnerischen und militärischen Lehrkräfte haben ihren Plan ausgedehnt und Uebungen eingeschaltet, die unbestreitbar eine Bereicherung darstellen. Verbindungen sind zugelassen und schliesslich erleichtert worden, die den Athleten wie seinen Trainer belehrten.
Ein der Rasseneigenschaften bewusstes, tiefes Nationalgefühl hat diejenigen ergriffen, die bei den Spielen ihre Heimat inmitten der andern Länder zu vertreten hatten, und gleichzeitig ist im Stadion eine internationale Kameradschaft zwischen den besten Athleten entstanden.
Ohne in allzu rosigen Farben wünschenswerte Resultate zu malen, ohne die gewisse Gefahr zu verkennen, künftig vierzig oder mehr Nationen zusammenzuführen und schliesslich, ohne zu verhehlen, dass einige bedauerliche Zwischenfälle und wenig sympathische Pressemanöver vorgefallen sind, verbleibt nichtsdestoweniger die erfreuliche Tatsache, dass diese Begegnung im Jahre 1924 bei Anlass der VIII. Olympiade stattgefunden hat, und dass die beteiligten Nationen ein bleibendes und ehrenvolles Andenken davongetragen haben.
DIE OLYMPISCHEN SPIELE IM ALTERTUM
UND IN DER GEGENWART
Ueber 2800 Jahre sind es her, seit Iphitos aus dem Lande Elis und Lykurg aus Sparta die Olympischen Spiele im alten Griechenland einführten. Noch war es kein geeinigter Staat, seine Bevölkerung setzte sich aus einer Menge Stämmen zusammen. Erst um 776 v. Chr., mit der ersten gezählten Olympiade, begann die eigentliche historische Zeit, in der das Nationalgefühl erwachte.
Nicht nur den Gedanken der Förderung der körperlichen und moralischen Tüchtigkeit der freien Bürger trugen die Olympischen Spiele in sich, vielmehr verfolgten sie in der Annäherung der griechischen Stämme die Befestigung der nationalen Einigung.
In einer der schönsten Gegenden Griechenlands, in der Landschaft Elis, lag in dem von den Wellen des Alpheios und Kladeios bespülten Tal, vor den Toren der Stadt Pisa, am Fuss des Olympos- und Kronosberges, die Zeus geweihte Stätte Olympia. Während zwölf Jahrhunderten - von 880 v. Chr. bis 394 n. Chr. - strömten hier alle vier Jahre unter dem Schutz des Friede gebietenden Gottes zum friedlichen Wettkampf herbei: die Jung-mannschaft - die Blüte des Landes -, Dichter, Künstler, Gelehrte, Staatsmänner, reich und arm des griechischen Volkes.
Und nun die Olympischen Spiele selbst. Eine Olympiade umfasste vier Jahre, und je im vierten Jahr, wenn der erste Vollmond nach der Sommersonnwende - Ende Juni oder anfangs Juli - herannahte, wurden die Spiele gefeiert. Emsiges Leben erwachte da im stillen Tal von Olympia für die Vorbereitungen zum Empfang der gewaltigen Menschenmenge. Schon einige Monate vorher waren die Herolde des obersten Gottes Zeus ausgezogen. Durch die Städte Griechenlands verkündeten sie heiligen Waffenstillstand. In ernster Arbeit bereitete sich die streitbare Jugend zehn Monate vor dem Beginn der friedlichen Kämpfe auf das heisse Ringen um den Siegeskranz vor. Den letzten Monat hatten die auserwählten Besten, sowie die Rosse, die innerhalb der vorgeschriebenen Frist angemeldet werden mussten, in Elis zuzubringen, wo sie sich einer Prüfung und letzten Ausscheidung zu unterziehen hatten.
Olympia war in zwei Teile gegliedert, einen heiligen Haine- und Tempelbezirk, die Altis, und die Anlagen für die Kampfspiele.
In strahlendem Weiss leuchteten die Säulenhallen der herrlichen Marmortempel und Schatzhäuser. Am Fuss des Kronosberges aber legte man die letzte Hand an den Kampfplatz, das Stadion, zum würdigen Empfang der Kämpfer und der Gäste. In einfachem, ernstem Baustil war das Stadion, ein längliches Viereck, aufgeführt. 211 m mass die Langseite, 32 m die Breitseite, 192 m die Laufbahn, deren Boden tiefer Sand bedeckte. Teils natürliche, teils aufgeschüttete, 6 m hohe Hügel rund um die Bahn boten etwa 40000 Zuschauern Raum. Anfänglich dauerten die Olympischen Spiele nur einen Tag. Sie erstreckten sich einzig auf den Schnellauf. Später wurden die Kämpfe vermehrt und das Fest auf 5 Tage ausgedehnt. 724 v. Chr. kam der Doppellauf hinzu, 720 v. Chr. der Dauerlauf, 708 v. Chr. der Ringkampf und der Fünfkampf, 688 v. Chr. der Faustkampf, 680 v. Chr. der Wettkampf mit Viergespannen, 648 v. Chr. der Ring- und Faustkampf (Pankration), 520 v. Chr. der Lauf der Bewaffneten, 394 v. Chr. Kämpfe von Trompetern und Herolden. Die Kämpfe der Wagen- und Pferde-Rennen wurden im Hippodrom ausgetragen, im Stadion die andern. Diese hiessen gymnische Spiele, weil die Kämpfer nackt dazu antraten. Frauen durften den Olympischen Spielen nicht beiwohnen. Am jenseitigen Ufer des Alpheios lagerten sie, gewärtig der frohen oder enttäuschenden Kunde über den Ausgang der Kämpfe und das Los ihrer mitstreitenden Lieben.
Beim Anbruch des ersten Tages bewegte sich ein glänzender Festzug von Elis nach Olympia. Auf dem grossen Zeusaltar der Altis, im heiligen, dem Gott geweihten Hain, vollbrachten die Priester das offizielle Opfer. Mit Lustbarkeit und Schmaus beschloss die festlich gestimmte Menge den ersten olympischen Tag.
Am zweiten Tag fanden die Wettspiele der Knaben statt. Ernste Anforderungen wurden an ihre Leistungsfähigkeit gestellt. Die Kämpfe gliederten sich in den Lauf über die halbe Länge des Stadions, den Ringkampf, den Faustkampf, den kombinierten Ring- und Faustkampf.
Der dritte Tag war den Männerkämpfen eingeräumt. Sie begannen mit den Läufen: Dauerlauf, 12-maliges Umkreisen des Stadions (etwa 4615 m); Schnellauf über die 185 m messende Länge des Stadions; Doppellauf, einmaliges Umkreisen des Stadions (etwa 385 m). Den Läufen folgte der Ringkampf, der damals schon Kraft,
Gewandtheit und Kunst erforderte.
Roher war der nun folgende Faustkampf. Die Teilnehmer umwanden Unterarme und Hände bis zu den Fingeransätzen mit Riemen aus Ochsenhaut. Oft verstärkten sie das Riemengeflecht durch Knöpfe, Buckel aus hartem Leder, Nägel oder Metallkugeln. Dann schlugen sie nach Kopf, Gesicht, Brust und Schultern des Gegners, bis er verwundet und erschöpft sich durch Rufstrecken der Hand für besiegt erklärte.
Noch blutiger spielten sich die Szenen des Pankrations ab, einer Verbindung des Ring- und Faustkampfes. Die Kämpfer umwickelten nur die Arme bis zum Handknöchel mit Riemen.
Am Vormittag des vierten Tages kamen die Wagenkämpfe und die Pferderennen, die aristokratischen, edelsten und prächtigsten aller Spiele, zum Austrag. Die Viergespanne liefen alle zu gleicher Zeit ab und umkreisten zwölfmal den zwei Stadien langen Hippodrom.
Am Nachmittag des vierten Tages stritten die Teilnehmer am Fünfkampf (Pentathlon) um den ehrenden Kranz. Fünf Spiele: Lauf, Ringen, Springen, Diskus- und Speerwerfen, hatten sie zu bestehen.
Der fünfte Tag war der Tag der Lustbarkeit, der Opfer und Festzüge, der Schmausereien und Festgelage; Dichter und Gelehrte sprachen zum Volke. Den Glanzpunkt bildete die Bekränzung der Olympioniken, der glücklichen Sieger.
Olympias Tempel, die herrlichen Werke eines auf hoher Kulturstufe stehenden Volkes, sind in einen Trümmerhaufen zerfallen, den der Staub von dreizehn Jahrhunderten unter einer mächtigen Decke begrub, bis in den Jahren 1875 bis 1881 die Pioniere der Wissen-schaft die verschütteten Schätze Olympias aus dem fünf Meter tiefen Grab ans Licht der Sonne förderten.
Zur gleichen Zeit, da am Fuss des Olymposberges in Elis die Wissenschaft das alte Olympia rekonstruierte, regte sich eine starke Hand, den Sport von den drohenden Auswüchsen zu befreien. Opferfreudig, mit gründlichem Wissen und unbeugsamer Tatkraft ausgestattet, machte sich Herr Baron Pierre de Coubertin, der heutige Ehren-Präsident des Internat. Olympischen Komitees, an das mühevolle Werk. Seit 1888 arbeitete er an dem weltumfassenden Plan der Wiedererweckung der Olympischen Spiele, die oft sich türmenden Schwierigkeiten in zäher Ausdauer überwindend. Sechs Jahre dauerte es, bis er im Jahre 1894 einen
Kongress nach Paris einberufen konnte, der das grosszügige, für die Entwicklung des Sports bedeutungsvolle Unternehmen sank-tionierte.
Aus ihrem anderthalb Jahrtausende dauernden Schlaf sind die Olympischen Spiele zu neuem Leben erwacht. Das 1894 in Paris gewählte Internationale Olympische Komitee mit Baron de Coubertin an der Spitze verlegte das erste olympische Fest auf den klassischen Boden Griechenlands, wo es im Jahre 1896 in Athen gefeiert wurde.
Und schon dort zeigte sich, dass die Saat auf fruchtbarem Boden reiche Ernte trug. Die sportlichen Leistungen verbesserten sich zusehends; wie die Beteiligung an den Kampfspielen zunahm, so wuchs das Interesse der Massen an den Leibesübungen. Das kommt im Entwicklungsgang der olympischen Kämpfe, die, wie in ihrer Heimat, jedes vierte Jahr zum Austrag gelangen, deutlich zum Ausdruck - Athen 1896, Paris 1900, St. Louis 1904, London 1908, Stockholm 1912 - bedeutet einen Siegeszug des olympischen Gedankens.
Die «Waffenstillstand und heiligen Frieden» gebietenden Herolde ziehen nicht mehr wie im alten Hellas durch die Lande, und so konnten die auf das Jahr 1916 nach Berlin anberaumten Olympischen Spiele wegen des Weltkrieges nicht abgewickelt werden. Auch an den Kämpfen 1920 in Antwerpen und 1924 in Paris war auf olympischem Boden die Waffenruhe noch nicht vollständig hergestellt; an jenen fehlten die Vertreter des ehe-maligen Vierbundes und an diesen diejenigen Deutschlands.
Im Wechsel der Zeit haben sich Bedürfnis und Anschauung über Körperkultur geändert. Das geht am deutlichsten aus einem Vergleich des oben gegebenen Programms der alten olympischen Spiele mit dem der heutigen hervor. Das Leitmotiv aber, der innere Kern, ist der nämliche geblieben: ethische und gesundheitliche Körperkultur; Fernhaltung alles dessen, was nicht diesem Zwecke dient; Anregung des sportlichen Ehrgeizes des Einzelnen und des Wettkampfes der Völker; Erziehung zu Disziplin, Ernst und Ausdauer; Hebung der Volksgesundheit durch Heranbildung einer kräftigen Generation. Das sind die Ideale, die der olympische Wett-kampf fördert - Ideale, die jedes Kulturvolk im eigenen Interesse sollte zu erreichen suchen. Ideale auch deshalb, weil den Sieger kein klingender Lohn lockt. Eine einfache Medaille ist seine
Auszeichnung, die auch das Land des Siegers ehrt, denn nur die Besten einer Nation werden nach strenger Ausscheidung in die Reihen der olympischen Streiter aufgenommen, und das allein schon kommt einer Auszeichnung gleich.
Ein auffallendes Merkmal unterscheidet die alten von den modernen olympischen Spielen. Jenen lag die Förderung der nationalen Einigung zugrunde, diese umspannen den Erdball. Per orbem terrarum, wie der Ehren-Präsident des Internat. Olympischen Komitees sein Vorwort zu diesem Werk überschreibt. Und mit Recht, denn die modernen olympischen Spiele dienen nicht allein dem Sport als solchem, sie verfolgen intellektuelle und künstlerische Ziele. Sie wollen die Völker in allen Richtungen der Windrose sich näher bringen, sowohl durch die aktiven Kampfteilnehmer als auch durch die aus den fernsten Ländern eintreffenden Zuschauer, denen der imposante Aufmarsch der Kämpfer im Stadion und deren Wettkämpfe unter sich Art und Wesen der verschiedensten Nationen vermitteln. Und dass 1924 an den olympischen Spielen in Paris heiss und ernst gekämpft wurde, ist bei der ausserordentlich starken Beteiligung der Nationen jedem, der ihnen beiwohnte, zum Bewusstsein gelangt.
DIE FEIERLICHE ERÖFFNUNG
DER OLYMPISCHEN SPIELE
Ein klarblauer Himmel wölbte sich über der Metropole Frankreichs, als am Morgen des 5. Juli in der Notre-Dame-Kirche von Paris die religiöse Zeremonie zur feierlichen Eröffnung der Olympischen Spiele die Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees unter Führung des Präsidenten, Baron Pierre de Coubertin, die Delegierten der nationalen Verbände und zahlreiche Wettkämpfer aus allen Ländern vereinigte.
Nachdem die Chorknaben zu Ehren der seit den letzten Olympischen Spielen verstorbenen Athleten ein feierliches «De Profundis» gesungen hatten, bestieg Kardinal Dubois die Kanzel. In eindrucksvoller Lobrede feierte er den Sport als neuzeitliches Rittertum, das den Körper bildet und auch die Seele dem geistigen und religiösen Ideal immer näher bringt.
Der Tradition gemäss schloss die erhebende Feier mit dem «Te
Deum» und unter den Klängen der wundervollen Orgel von Notre-Dame verliess die Menge langsamen Schrittes das Münster, um sich zur feierlichen Eröffnung nach Colombes zu begeben. -
Das weite Rund des Stadions füllt sich mählich mit Scharen freudig erregter Zuschauer. Aus dem kosmopolitischen Gemisch ertönt babylonisches Sprachengewirr. In den Strahlen der leuchtenden Sonne erglänzen die farbenprächtigen Uniformen der militärischen Delegationen, in das offizielle Schwarz der Ehrengäste mischen sich die eleganten Toiletten der Damen. Gegenüber der Haupttribüne haben die Musiken zweier Infanterie- und eines Kolonial-Regiments und das Korps der Garde Republicaine Aufstellung genommen und lassen rassige Weisen ertönen. Mit ihnen singt ein französischer Chor und der Lehrergesangverein Prag um die Wette.
Die französische Nationalhymne ertönt; die über 30 000 Zuschauer erheben sich von ihren Sitzen und wenden den Blick zur Loge, in der Doumergue, der Präsident der Republik, erscheint, gefolgt vom englischen und schwedischen Kronprinzen und den Ministern.
Es ist 3 Uhr geworden. Die Marathonpforte öffnet sich und der Einzug der Nationen beginnt. Die französische alphabetische Reihenfolge gibt Südafrika die Ehre, den Einmarsch zu eröffnen. Dem englischen
Banner mit der Antilope folgen einige 30 Athleten in weisser Hose und grünem Rock, bejubelt ziehen sie mit gesenkter Fahne an der Ehrentribüne vorüber. Zahlreicher vertreten folgt Argentinien in blauen Blusen. Wieder erscheinen die englischen Farben, diesmal mit fünf Sternen: Australien. Nicht minder herzlich wird Oesterreich begrüsst und das folgende Belgien mit Beifall förmlich überschüttet. Brasilien grüsst mit erhobener Fahne. Sechs Athleten Bulgariens leiten zur imposanten Gruppe Canadas über. Chile erscheint mit einer kleinen Schar in Weiss, während China und Cuba auf die zu-lässige Minimalzahl beschränkt bleiben. In Sportdress schliesst die Gruppe Dänemarks an mit den Fechterinnen an der Spitze. Es folgen die Aegypter in rotem Fez, dann Ecuador, Spanien in rotem Hemd und ganz in Weiss Estlands Ringer.
Die Begeisterung wächst beim grandiosen Anblick der über 400 Vertreter aus den Vereinigten Staaten. Aus diesen zwei erlesenen Kompagnien sehen wir im Geiste schon die Sieger von morgen. Oder werden es die blonden Finnen sein, deren zahlreiche
Delegation Bewunderung erregt? Rauschender Jubel ertönt, die Tribünen erzittern: Frankreich zieht ein. Noch hat sich der Beifall nicht gelegt und schon nimmt das lange Band der blau und weiss gekleideten Engländer die Augen gefangen. Nahe an 300 Mann zählt die stolze Schar. Den 20 Griechen folgen drei braune Gestalten aus Haiti. Einen vorzüglichen Eindruck hinterlassen auch Holland und Ungarn. Ihnen schliessen sich die schwarzhaarigen Indier und die grüngekleideten Irländer an. Charakteristischer Gruss und die azurblauen Blusen verraten die Söhne Italiens. Hinter dem feierlichen Schwarz der Offiziellen schreiten Japans Athleten einher. Lettland, Litauen, Luxemburg, Mexiko und Monaco bilden die folgenden prächtigen Gruppen. In düsterm Blau tritt Norwegen auf den Plan. Auch Neu-Seeland und die Philippinen stehen nicht zurück. Polen in schmuckem Weiss und Portugiesen in schwarzem Sportkleid schliessen sich weiter an. Sechs Rumänen in Uniform gehen dem eindrucksvollen Zug der Schweden voraus. Mit dem weissen Kreuz in rotem Feld geniessen die Schweizer besondere Sympathien. Tschechoslowakei, Türkei, Uruguay und Jugoslawien bilden den würdigen Schluss des farbenprächtigen Bildes.
Unterdessen haben die Nationen auf dem grünen Plan des Stadions hinter ihren Fahnen Aufstellung genommen. Graf Clary, der Präsident des französischen olympischen Komitees, umgeben von den Mitgliedern der internationalen olympischen Behörde und den Organisatoren, tritt aus den Reihen und richtet an den Präsidenten der Republik die kurze Ansprache:
»Das französische olympische Komitee hat sich in Verbindung mit der Regierung und der Stadt Paris bemüht, das grosse Vertrauen zu rechtfertigen, das ihm durch den glorreichen Auftrag des internationalen olympischen Komitees zuteil wurde, die Spiele des Jahres 1924 durchzuführen. Wir sind bereit auf Tag und Stunde. - Der Erfolg hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen: 45 Nationen haben der Einladung Frankreichs Folge geleistet. Mehr als 7000 Wettkämpfer sind aus allen Enden der Welt herbeigeeilt und werden sich in Schnelligkeit, Kraft und Geschicklichkeit im olympischen Stadion von Colombes miteinander messen. Diese Kampfstätte wurde erbaut zur grossen Ehre des Sports, der die Geschlechter neu belebt, zur Ehre dieses Wohltäters der Menschheit und des geeignetsten Verfechters des Weltfriedens.
Herr Präsident der Republik, wir bitten Sie, die Spiele der VIII. Olympiade zu eröffnen.«
Darauf durchbricht die sonore Stimme Doumergues die lautlose Stille:
»Ich erkläre die Olympischen Spiele von Paris, die die VIII. Olympiade der neuzeitlichen Epoche feiern, als eröffnet.«
Kanonen donnern und Trompeten schmettern zur Weihe dieser feierlichen Stunde. Brieftauben verkünden die freudige Botschaft der Welt. Langsam geht das olympische Banner mit seinen fünf symbolisch verschlungenen Ringen in die Höhe und flattert in leichter Brise.
Die Fähnriche der 45 Nationen schliessen sich zu einem Halbkreis zusammen. Geo Andre tritt aus ihrer Mitte, besteigt das Podium, presst krampfhaft die Trikolore Frankreichs an die Brust und hebt den rechten Arm zum Schwur, mit ihm die Blüte der heutigen Generation.
Welch erhebenden Anblick bietet der in der Arena versammelte Stolz der Nationen, dieses auserlesene Menschenmaterial, das tausendstimmig schwört, in ritterlichem Geiste zu Ehren des Sports um die Siegespalme zu streiten.
Die Chöre stimmen ein in den Gesang der Heroen. Der lange Zug der Wettkämpfer setzt sich in Bewegung und entzieht sich durch die Marathonpforte langsam dem freudetrunkenen Auge; begeistert vom erhabenen Schauspiel zerstreut sich die Menge.
Die Olympischen Spiele sind eröffnet, der Kampf beginnt.
Hinweise für „Aufarbeiter“
Von ERHARD RICHTER
Das Jahr 2009 wurde in der BRD zum „Gedenkjahr“ erklärt, doch gedacht werden soll vor allem des Endes der DDR. Das überrascht niemanden, weil man sich in zwei Jahrzehnten daran gewöhnt hat, dass der Tag im Rundfunk, Fernsehen oder in der Zeitung mit
Behauptungen über den „maroden Unrechtsstaat“ beginnt und bei Sonnenuntergang die nächste Etappe gestartet wird. Es lohnt nicht, den Verdrehungen, Halbwahrheiten und Lügen widersprechen zu wollen oder sich gar die Mühe zu machen, sie widerlegen zu wollen, denn der nächste Morgen kommt mit Sicherheit und – siehe oben.
Wenn ich mich dennoch aufgerafft habe, ein paar Fakten über den Sport der DDR zusammenzutragen, dann nur um den wenigen an der Wahrheit interessierten „Aufarbeitern“ der Geschichte einige nützliche Hinweise zu liefern. Beginnen wir mit dem Kindersport, dem der sechs- bis vierzehnjährigen. Obwohl die noch keine Olympiamedaillen „zum Ruhme der DDR“ erringen konnten, war die DDR der alten BRD in der Förderung des Kindersports um Längen voraus. Bereits fünf Monate nach Gründung der DDR hatte der Ministerrat der DDR im Februar 1950 ein Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung verabschiedet. (Veröffentlicht im Gesetzblatt Nr. 15 vom 21. Februar 1950). Damals wurde auch die Einrichtung einer Hochschule für Körperkultur und Sport in Leipzig beschlossen, die längst den Abwicklern zum Opfer fiel. Damals war auch festgelegt worden, eine Sprungschanze in Aschberg-Mühleiten zu errichten, die Sportschule in Bad Blankenburg zu vervollständigen und Stadien in Cottbus, Frankfurt/Oder, Finsterwalde, Schwerin und Wismar zu errichten. Hinzu kamen Anlagen für Schwimmen, Eissport und Radsport. Erhärtet wurden an diesem Gesetz erkennbare Prinzip durch viele weitere Entscheidungen der Regierung, der Bezirke und Kreise und vor allem durch die Verfassung der DDR, die am 6. April 1968 beschlossen worden war.
Der Sportunterricht an den Schulen sorgte für die entscheidenden Schritte zur Förderung des Kindersportes. Dem diente auch die Zentrale Kinder- und Jugendsport-Konferenz 1961 in Leipzig, die sich mit dem außerschulischen Sport und den Schulsportgemeinschaften (SSG) beschäftigte. Drei Wochenstunden Sportunterricht lautete das Ziel, das allerdings auf Grund hier und da noch fehlender Sportanlagen nicht überall realisiert werden konnte. Schritt für Schritt gewannen die Schulsportgemeinschaften, betreut oft von an der DHfK und
anderen Hochschulen ausgebildeten Sportlehrern, an Bedeutung.
Für Alan Paton (1903 - 1988, südafrikanischer Schriftsteller, Lehrer und Apartheid-Gegner) galten Menschen als unausgebildet, wenn sie weder schwimmen noch lesen konnten. Schwimmen - in der BRD spricht man heute zurückhaltend von „Bewegung im Wasser" - gehörte in der DDR seit 1950 zum obligatorischen Sportunterricht und stand im Lehrplan aller 4. bis 6. Klassen. Da noch nicht alle dafür nötigen Schwimmhallen errichtet werden konnten, wurde der Schwimmunterricht vor allem in die Sommermonate verlegt. Hinzu kamen Schwimmlager, die von den Schulen, dem DTSB, der FDJ und volkseigenen Betrieben organisiert wurden.
Die 218-fache Handball-Nationalspielerin, Waltraud Kretzschmar, schrieb in ihrem Buch „Anders als erwartet" „...es gab kaum übergewichtige Kinder - 97 Prozent aller Zehntklässler waren gute Schwimmer." Und weiter: „Die Kinder hungerten nicht in den Schulen, Drogenkonsum, Jugendkriminalität und Kinderarmut alles Fremdwörter für die DDR."
Gab es in der DDR 1960 nur 52 Hallenbäder, so stieg die Zahl bis 1986 auf über 200. Der obligatorische und demzufolge auch unentgeltliche Schwimmunterricht begann oft in der 3. Klasse. In den folgenden zwei bis drei Jahren wurden 60 Stunden erreicht. Neben Startsprung, Tauchübung sah der Lehrplan vorrangig das Brustschwimmen und das Schwimmen in der Rückenlage vor. Das erklärte Ziel war es, das Schwimmabzeichen des Schwimmsportverbandes (DSSV) abzulegen, was den meisten auch gelang. Von den Schulabgängern der 10. Klassen waren 97 Prozent Schwimmer, von den Abiturienten sogar 99 Prozent. Höhepunkte für den Kindersport waren die Schulspartakiaden sowie die Kreis-Kinder- und Jugendspartakiaden. Beteiligten sich 1965 321.000 Kinder und Jugendliche an diesen Kreisspartakiaden, so waren es 1989 über 920.000. Wer Interesse am Leistungssport gefunden hatte, konnte sich durch Grundlagentraining in den 2.000 Trainingszentren des DTSB darauf vorbereiten. Bei drei- bis fünfmaligem Training in der Woche schufen 3.500 Kinder die Voraussetzungen für die Aufnahme an Kinder- und Jugendsportschulen.
Viele Trainingszentren boten den interessierten Jugendlichen – auch dies kostenlos - eine solide materielle Ausstattung. So standen – um nur ein Beispiel zu nennen - den Gewichthebern in
Schwedt standen drei Hebebühnen zur Verfügung. Um in den Zentren einen normalen Tagesablauf zu sichern, wurde den Jugendlichen ein warmes Mittagessen verabreicht. Drei Ruderzentren mit entsprechenden Wasserbecken sicherten in Schwedt das ganzjährige Wassertraining, Bedingungen, die heute manche Leistungszentren nicht zu bieten haben.
Zu diesen Voraussetzungen kamen zahlreiche populäre Massensportveranstaltungen, deren Zulauf beträchtlich war. Eine dieser Veranstaltungen war die in vielen Kreisen ausgetragene „Kleine Friedensfahrt", bei der Kinder, angespornt durch Vorbilder wie Täve Schur und Bernhard Eckstein die Kräfte maßen. Das begann bei den Kleinsten in Kindergärten mit Rollerrennen, während in den Schulen Radrennen ausgetragen wurden. Nicht minder populär Tischtennisturniere, die hunderte Teilnehmer zählten, Crossläufe und auch Fußball- oder Volleyballturniere in den Betrieben. Ein im November 1974 vereinbartes Sportprogramm der Gewerkschaften, der Jugendorganisation und der Sportbewegung schuf weitere Grundlagen für die Organisation solcher Veranstaltungen. Für heutige Verhältnisse unvorstellbar waren die Mitgliedsbeiträge. Sie betrugen nach Entrichtung der Aufnahmegebühr von 0,50 Pfennig für Kinder und Schüler 0,20 Pfennig. Dieser Beitrag sicherte die kostenlose Nutzung aller kommunalen und betrieblichen Sportanlagen, eine sportärztliche Untersuchung, Versicherungsschutz bei Sportunfällen und eine Fahrpreisermäßigung, die von 75 bis zu 50 Prozen reichte. Ebenso unvorstellbar heute die medizinische Betreuung der Sporttreibenden. Bereits im November 1953 hatte der DDR-Ministerrat eine jährliche Untersuchung durch Sportärzte vorgeschrieben. Um das sichern zu können wurden in allen Kreisen Praxen von Kreissportärzten etabliert. Seit 1971 wurde die staatliche Anerkennung als Sportarzt verbindlich, eine Regelung, die mit dem Beitritt der DDR annulliert wurde.
// REZENSIONEN
Über die deutsche Sportmedizin
Von MARGOT BUDZISCH
Wer heutzutage das Thema „Geschichte der deutschen
Sportmedizin“ wählt und dabei auf Anhieb erkennen lässt, dass zwar der Text schwarz-weiß gedruckt, aber nirgends in eines der vielen inzwischen zur Manie gewordenen schwarz-weiß Ost-West-Bilder abgleitet, verdient in jedem Fall Achtung und Respekt. Deshalb seien als erstes die Namen der beiden Autoren genannt: Wildor Hollmann – Köln, Prof. Dr. med., 1986-1994 Präsident der der Internationalen Gesellschaft für Sportmedizin - und Kurt Tittel – Leipzig, Prof. Dr. med., 1973-1990 Präsident der Gesellschaft für Sportmedizin der DDR. Ihr Versuch ist denn auch der erste zur Bewältigung dieses Themas in den letzten Jahrzehnten. Mediziner würden ihn mit weit mehr Hochachtung als ein Historiker würdigen, aber schon der umfassende Fakten-, Daten- und –Materialreichtum macht das Buch zu einem kaum zu übertreffenden Nachschlagwerk.
Der Text folgt – was die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft - weitgehend dem Prinzip einer Parallelgeschichte der Entwicklung der Sportmedizin in beiden deutschen Staaten und bemüht sich um eine Darstellung des Geschehens nach dem „Anschluss“ der DDR an die BRD.
Noch einmal: Für diese Leistung gebührt den Autoren Anerkennung vor allem für ihr Bemühen bei der Aufarbeitung des vorhandenen Materials. Die so entstandenen Darstellung bietet die Chance für eine wissenschafts- und sportpolitisch unumgängliche Diskussion über historische Bewertungen, den Standort, die Entwicklungsbedingungen und die Ansprüche an die Sportmedizin in Gegenwart und Zukunft zu stellen.
Dieser positive Standpunkt kann jedoch auf eine auch kritische Gesamtbewertung nicht verzichten und damit nicht auf die Feststellung, dass Darstellungen aus allgemein-historischer und sportgeschichtlicher Sicht häufig widerspruchsvoll und von subjektiven Auswahlkriterien bestimmt sind. Den Bezug zu historischen und sportpolitischen Zusammenhängen herzustellen, wird überwiegend dem Leser überlassen. Die höchst temporeiche Entwicklung der Sportmedizin im letzten Jahrhundert ist eher der konfliktreichen Entwicklung des Leistungssports als Teil der weltweiten Auseinandersetzung der politischen Systeme nach dem zweiten Weltkrieg zuzuschreiben als inneren Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaftsentwicklung. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, dass den Autoren die Erwähnung aller verfügbarer Namen mit
Titel und Funktionen wichtiger erschien als die Darstellung geschichtsbestimmender, gesellschaftlicher und sportpolitischer Faktoren, Zusammenhänge und auch Widersprüche.
Wenn für die Aufnahme in ein Geschichtsbuch über die Sportmedizin vor allem die Wahrnehmung einer Professorenstelle von Belang ist (so wichtig das auch für den Einzelnen sein mag) und weniger die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen, dann würden damit die Traditionen der Wissenschaftsgeschichte aufgegeben.
Viele Leistungssport-Interessierte werden heutzutage durch reißerische Dopingdarstellungen im Grunde ahnungsloser Journalisten dazu verleitet, sich selbst für sachkundig zu halten. In dem Buch - mit dem Anspruch einer Geschichte der deutschen Sportmedizin - wird diesem Thema sowohl in historisch-soziologischer Sicht als auch mit nötigen fachlichen Argumenten weitgehend ausgewichen, ohne am Ende mehr zu sagen als von den Medien Verbreitete. Zwar enthält dieser Abschnitt durchaus treffende Bemerkungen, doch verzichtet er zum Beispiel auf die Erwähnung der im September 1977 im Sportausschuss des Bundestages stattgefundenen Anhörung zu diesem Thema.
Dass jeder Bezug auf andere Arbeiten aus jüngster Zeit fehlt – wie zum Buch von Strauzenberg/Gürtler über die Sportmedizin in der DDR – kann nicht übersehen werden. Dazu gesellen sich Mängel bei der Behandlung der Geschichte der Sportmedizin. Ein Beispiel: Die Einordnung der persönlichen Daten von Ernst Jokl im Sinne einer Gesamtbewertung seines Wirkens (S. 30 ff) sind schwer einsehbar. Dass er sein wissenschaftliches Profil für die Sportmedizin an der Sporthochschule Köln nicht ausprägen konnte und ihm dort eine Professur verwehrt wurde, hing doch wohl mit dem antisemitischen Einfluss von Carl Diem zusammen, der als damaliger Rektor dem Rassenhygieniker und hochdotierten ehemaligen SS-Arzt Hans Hoske den Vorzug gab. Autor Hollmann, der in seiner persönlichen und wissenschaftlichen Entwicklung mit der Sporthochschule eng verbunden ist und ein bedenklich unkritisches Verhältnis zu Carl Diem offenbart, dürften die Zusammenhänge durchaus bekannt gewesen sein. Carl Diem in die Nähe eines Widerstandkämpfer gegen die Nazis (S. 45) gerückt. Als Generalsekretär des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 1936 und letzter Verantwortlicher für den
Auslandssport im NS-Reichsbund für Leibesübungen hat er mehr für die Nazis getan als manche alt eingeschriebene Parteimitglieder. (Siehe: Laude/ Bausch; Die Legende um Carl Diem; Göttingen 2000.)
Was Dr. med. habil. Hans Hoske betrifft, der in dem Buch immerhin zehn Mal erwähnt wird, so erfährt man nichts darüber, dass er 1934 Adjutant des Reichsarztes der SS und danach in der NS-Führung als Referatsleiter tätig war sowie während der gesamten Kriegszeit als Stabsarzt und Leitender Sanitätsoffizier im so genannten Ministerium für die besetzten Ostgebiete fungierte. Dass er 1950 bei der Neugründung des Deutschen Sportärztebundes Vorsitzender des Jugendausschusses wurde, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Prinzipien der Neuordnung des Sports in der Bundesrepublik, worüber die Autoren keine Silbe verloren.
Ein anderes bedenkliches Beispiel politischer Ignoranz offenbart sich bei der Behandlung der „Heilanstalt Hohen Lychen“ unter Gebhardt (S. 74). Es beginnt damit, dass sie nicht im historischen Abschnitt der Zeit des Faschismus zu finden ist, sondern in einem Abschnitt mit der irritierenden Überschrift „Orthopädisch-traumatologische Impulse für die Sportmedizin". Wenn da ohne jeden weiteren Kommentar behauptet wird, dass sich die „Heilanstalt Hohen Lychen“ unter Gebhardt „das Ansehen einer Sportheilstätte von Weltruf“ erarbeitet habe, so ist das nach allem, was über die dort stattgefundenen Menschenversuche und tödlichen Experimente an KZ-Häftlingen und sowjetischen Kriegsgefangenen durch das Ärzteteam um den Generalleutnant der Waffen SS Gebhardt bekannt wurde, nicht widerspruchslos hinzunehmen. Nicht einmal der Hinweis auf Gebhardts Hinrichtung 1948 ändert etwas daran.
Der Abschnitt über die Entwicklung der Sportmedizin in der DDR beeindruckt durch die Fülle der Fakten, kann aber Subjektivität nicht verbergen. Im Gegensatz zur BRD-Darstellung wird hier das Wirken leitender Persönlichkeiten des Gesundheitswesens wie Ludwig Mecklinger oder die Würdigung der Sportmedizin bei Jahrestagen oder Kongressen (wie „Sozialismus und Körperkultur" 1967) nicht für erwähnenswert gehalten. Bliebe festzustellen: Dem Buch fehlt – um es mit einem Satz zu sagen die helfende Unterstützung und kritische Sicht der Sportgeschichte.
(Wildor Hollmann/Kurt Tittel: "Geschichte der deutschen Sportmedizin"; Gera 2008)
Auf den Spuren einer Legende
Von KLAUS HUHN
Die Legende, um die es eigentlich geht, heißt Haile Gebrselassie und ist ein berühmter äthiopischer Langstreckenläufer und weltweit den meisten, die je Laufschuhe schnürten, ein Begriff. Zuvor gilt es jedoch, dem Autor des Buches einige rühmende Worte zu widmen: Klaus Weidt. Er gewann nie eine olympische Medaille, stand nie in überfüllten Stadien auf einem Siegerpodest und erwarb sich dennoch beachtlichen Ruhm beim Streben, möglichst viele Menschen dafür zu gewinnen, – auch um ihrer Gesundheit willen -, selbst zu laufen. Vor allem in „Neufünfland“, - Begriff vieler Spaßvögel für das Terrain, das früher die Deutsche Demokratische Republik umfasste – war er vielen gut bekannt. Der profilierte Sportjournalist gehörte schon seit Mitte der siebziger Jahre zu den „Pionieren“ der Laufbewegung in der DDR und hatte deren wichtigste Fakten in dem schon 2006 erschienenen „Handbüchlein“ „Laufend im Osten unterwegs“ publiziert:“ Größte Ausdauer-Aktion `Eile mit Meile´ - 20. April 1974: Beginn der `Meilenbewegung´ in der DDR mit den Angeboten 1974 m Lauf, 400 m Schwimmen, 4.000 m Wandern, 8.000 m Radwandern (alle Disziplinen kombinierbar). Die erste Aktion lief bis zum 7. Oktober 1974 und erzielte 27.796.094 Meilen. Es gab Trikots, Meilenabzeichen und Urkunden.
Initiatoren: die Volkssportkommission der Sportjournalisten-Vereini-gung der DDR (Otto Janke, Horst Mempel, Günter Teske, Klaus Weidt, Helmut Wengel). Organisatoren: Zentrales Meilenkomitee (Vorsitz Geher-Olympiasieger Christoph Höhne) und Bezirks-Meilenkomitees.
Auf der Bühne eines Berliner Klubhauses waren 48 prall gefüllte Säcke aufgebaut. An sich kein besonders attraktiver Schmuck für eine Großveranstaltung, die zum Teil von Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde. Doch diese `Dekoration´ war einmalig und ungemein wertvoll. In ihr verbargen sich Tausende und Abertausende von Leistungspässen, die nicht weniger als
27.796.094 erreichte Meilen im Jahr 1974 registriert hatten - laufend, schwimmend, wandernd zurückgelegt. Eine Zahl, die für das Guinnessbuch der Rekorde reif gewesen wäre - doch wer dachte damals schon daran? Die Verursacher dieses ungewöhnlichen Rekordes waren DDR-Sportjournalisten. Unzufrieden mit der damaligen Sportpolitik, die den Breitensport im Osten Deutschlands vernachlässigte, knobelten sie an einer Idee, die das Laufen zwar in den Vordergrund stellen, andere Ausdauersportarten jedoch nicht vernachlässigen sollte. Grundgedanke war, viele neu für den Sport in der Freizeit zu gewinnen. Daher konnte jeder kombinieren, so oft er wollte: z.B. 1974 Laufmeter mit 4 Wanderkilometern oder 400 Meter im Schwimmbecken. Mit Unterstützung von Sportwissenschaftlern waren die entsprechenden `Meilenweiten´ fixiert worden. Und der Erfurter Sportredakteur Helmut Wengel steuerte schließlich den Slogan bei, der ein Ohrwurm werden sollte: `Eile mit Meile´.
Was ebenfalls einmalig war: Alle Sportredaktionen der DDR - gleich ob bei Zeitungen, Zeitschriften, Funk oder Fernsehen angesiedelt - engagierten sich vom 20. April bis 7. Oktober jenes Jahres für diese Idee. Die abgedruckten "Meilenpässe" wurden im wahrsten Sinne des Wortes zum Renner und über die Sportressorts der Medien an das Meilenkomitee nach Berlin gesandt. Dieses musste sich bald eine Wohnung mieten, um einerseits all die sich füllenden Säcke zu stapeln, andererseits die eingehenden Preise aufzubewahren. Mehr als 1.000 Präsente, gestiftet von Betrieben und Institutionen, kamen zusammen - vom Wochenendhaus bis zum Regenschirm. Während die meisten an Teilnehmer, die 25 Meilen und mehr erreichten, verlost wurden, verblieben 50 Sonderpreise für rührige Helfer, die vor Ort vieles organisierten. Einer von ihnen hieß Karl-Heinz Emmrich, der sich mit dem Heidelauf von Bad Düben verdient gemacht hatte. Die Dübener Begeisterung war so groß, dass die Stadt eine Straße zum `Meilenweg´ umtaufte. Das Moped, das der Lauforganisator von Berlin mitzunehmen hatte, machte bald unter dem Namen `Meilen-Mofa´ seine Runde. Das Wochenendhaus erhielt mit Post Karl-Marx-Stadt (früher und heute Post Chemnitz) eine Laufgemeinschaft, die zu den ältesten des Ostens zählt. Und wer weiß noch, dass Dr. Hans-Georg Kremer, einer der Rennsteiglauf-Väter, eine Reise nach Moskau gewann? Übrigens in Begleitung
von Charlotte Mehlhom aus Delitzsch, die als "MeilenOmi" bekannt wurde...
Die letzten Meilen wurden übrigens weder gelaufen, noch geschwommen, noch gewandert sondern - getanzt. Eben dort in Berlin-Lichtenberg, im großen Saal, unterhalb der aufgetürmten 48 Säcke mit ihren fast 28 Millionen Meilen. Eine tolle Abschlussveranstaltung, von einer rührigen Sportgemeinschaft um Hasso Hettrich auf die Beine gestellt. Es waren aber, wie sich bald herausstellte, nur die letzten Meilen von 1974. In den folgenden Jahren eilte man mit Meilen unverdrossen weiter. Von der Jubiläums- über die Freundschafts-, Olympia- und Fest-Meile. Was jedoch wichtiger als all die Namen und Längen war: Das Ausdauerlaufen in der DDR hatte Anstöße erhalten, die neue Lauftreffs, Laufzentren, Laufgruppen und Laufveranstaltungen zwischen Stralsund und Suhl in Bewegung setzte.“
Nach 1990, als der Kommerz auch im Laufsport die Zeichen setzte, traf man Klaus Weidt bei vielen nützlichen Veranstaltungen, irgendwann auch hinter den Schaltern von Reisebüros, die Laufwilligen Gelegenheit boten, an den Lauf-Höhepunkten in aller Welt teilzunehmen.
Und nun wieder unter den Buchautoren, diesmal als Beschreiber der „Legende“ Haile Gebrselassie, den er auf dem Umschlag sogar als „Wunderläufer“ tituliert. Dabei belegt das Buch vor allem, dass er das nicht ist. Eher ein Talent mit enormem Willen, das – und darin liegt der besondere Wert des Buches – seinen Rum nicht hemmungslos zu Millionen vermarktete, sondern viel tat, um die oft bittere soziale Realität seiner Heimat zu bessern. In einem Interview gibt er viele Auskünfte über seine Vorstellungen, wie man Lebensnöte überwinden kann.
„Eines, was wir wirklich brauchen, ist das: Jeder muss etwas opfern. Mit `opfern´ meine ich..., ich will dir ein Beispiel geben. Vor vier- oder fünfhundert Jahren wurde in Bahir Dar eine Brücke über den Nil gebaut, die `portugiesische Brücke´, die haben viele Menschen unter unsäglichem Leiden errichtet. Doch sie haben es geschafft. Manchmal muss man etwas hingeben, um etwas zu gewinnen. Alle, vom Präsidenten bis zum kleinen Mann, müssen etwas abgeben, für die Ärmsten, für das Land. Ohne solche Opfer kein Erfolg und kein Fortschritt.“ Auf die Frage „Warum ist Äthiopien eins der ärmsten Länder?“ antwortet er: „Dafür gibt es
viele Gründe. Ein Beispiel wieder: Für den Kaffee aus dem `Land des Kaffees" wird vom Ausland kaum etwas bezahlt. Ein Kaffee, der ein einzigartiges blumiges Aroma hat. 700.000 Kleinbauern-Familien leben von ihm, und viele gehen bankrott, können ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken. Das größte Problem aber ist, dass viele Bauern ihr Land nicht besitzen, es gehört dem Staat, und da investieren sie nicht. Das sollte international verändert werden. Viele Entwicklungsprojekte kranken daran, dass die Planer aus den reichen Ländern irgendetwas Teures verkaufen wollen. Wir brauchen Hilfe für wichtige, grundlegende Dinge. Ich sage es oft so: Die Menschen bei uns brauchen nicht den Fisch, sondern sollen wissen, wie man ihn fängt. Ich bin Ehrenbotschafter der Vereinten Nationen geworden. So fahre ich, wenn es die Zeit zulässt, ins Land und halte Vorträge vor jungen Leuten, einerseits zu Aids, andererseits zu meiner Karriere. Denen will ich ein Vorbild sein, will ihnen klar machen, dass auch sie vieles erreichen können, durch harte Arbeit, durch Training. Wo es notwendig und nützlich ist, gebe ich auch Geld. Es ist so, alles was ich tue, soll für mein Land sein.“
Klaus Weidt; Der Wunderläufer Haile Gebrselassie, Böttingen 2008, 192 S. ;9,90 €
Klaus Weidt; Laufend im Osten; Berlin 2005, 176 S.; 5 €
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Unternehmen knausern beim Sponsoring
Ob Hertha BSC Berlin seinen Stürmer-Star Andrej Woronin
behalten darf, ist eine Frage des Geldes. Doch das ist beim Fußball-Bundesligisten knapp. Der Vertrag mit dem Hauptsponsor, der Deutschen Bahn, läuft im Sommer aus. Bahnchef Hartmut Mehdorn will ihn offenbar zu den derzeitigen Konditionen nicht verlängern. Rund zwei Mio. Euro an Sponsoring-Einnahmen würden für Hertha dadurch wegfallen. Den aus Liverpool geliehen Woronin fest nach Berlin zu holen, rückte so in weite Ferne. „Andrej ist im Moment unbezahlbar für uns", sagte Hertha-Spieler Arne Friedrich. Dabei sind die Berliner gerade durch die Tore des Ukrainers an die Tabellenspitze gelangt.
Bröckelnde Einnahmen von Sponsoren setzen den Sport massiv unter Druck: Die Geldgeber werden laut einer Studie des Marktforschungsunternehmens Pilot in diesem Jahr nur 2,6 Mrd. Euro in den Sport investieren - rund 300 Mio. Euro weniger als im vergangenen Jahr. „Die globale Wirtschaftskrise hat den Sponsoringmarkt voll erwischt", sagt Marktforscherin Christine Angenendt. Neun von zehn befragten Unternehmen berichten von einem negativen Einfluss der Finanzkrise auf diesen Bereich. Zwar wollen zwei Drittel der Sponsoren ihre Verträge verlängern. Doch plant nur jede siebte Firma, ihr Budget für Sportsponsoring zu erhöhen.
Auch eine gestern vorgestellte Studie der Freien Universität Berlin hat ergeben, dass die Sponsorensuche für die Vereine schwieriger wird. Die Wirtschaftskrise erhöhe den Druck in den Unternehmen, den Nutzen ihrer Werbung zu begründen, heißt es in der Studie. „Vorbei sind endgültig die Zeiten, in denen ein Vorstands-vorsitzender aus seiner persönlichen Vorliebe heraus entschieden hat, welcher Verein gesponsert werden soll und welcher nicht", sagt Studienleiter Stefan Wengler. …
Laut einer Untersuchung der Sponsoringberatung Sport + Markt sparen die Unternehmen aber vor allem bei kleinen Sportvereinen. Vielfach betroffen sind Verträge im Wert von 200.000 bis 800.000 Euro.
Aber auch größere Klubs, die international nicht als Werbeträger auftreten, sind für Konzerne kaum noch attraktiv. Der Essener Mischkonzern Evonik will sich im Sommer als Hauptsponsor des Zweitligisten MSV Duisburg zurückziehen. Zwei Mio. Euro gehen den Duisburgern damit pro Jahr verloren. Auch die zugesagten acht Mio. Euro für einen Stadionneubau in Essen will der Energie-
konzern neu überdenken. …
„Dass der Rückgang des SportSponsorings nicht noch stärker aus-fällt, liegt daran, dass viele Verträge noch länger als ein Jahr gelten", sagt Marktforscherin Angenendt. Das hilft auch jenen Bundesligavereinen, deren Stadien von krisengeschüttelten Banken gesponsert werden. So gilt der Vertrag von Eintracht Frankfurt mit der Commerzbank für die eigene Spielstätte noch bis 2015. Auch das Stadion des Hamburger SV trägt den Namen einer Bank, die in Not geraten ist: Der Vertrag für die HSH-Nordbank-Arena läuft bis 2013. Doch schon 2010 hat die Landesbank die Option, den Vertrag zu kündigen - im Sommer steht die Entscheidung an. …
Während Fußball, Golf und BiathIon als die drei begehrtesten Sportarten unter Werbetreibenden noch auf einen halbwegs schadlosen Ausgang der Krise hoffen können, steht der Radsport schon als der große Verlierer fest - wenngleich aus anderen Gründen. „Radfahren war vor wenigen Jahren noch eine der beliebtesten Sportarten für Sponsoren", sagt Angenendt. „Wegen der zahlreichen Doping-Affären hat dieser Sport aber massiv an Ansehen verloren."
Handelsblatt; 12.3.2009,
Mathias Pee
Dem Anzug geht es an den Kragen
BERLIN - Fast acht Jahre hatte der Weltrekord des russischen Olympiasiegers Alexander Popow Bestand: 21,64 Sekunden für 50 Meter Freistil, aufgestellt in Sydney 2000 Dann kam der Australier Eamon Sullivan im Speedo LZR Racer und schlug nach 21,28 Sekunden an. Ihm folgten weitere Schwimmer mit ähnlichen Hightech-Anzügen, und mittlerweile rangiert Popow nur noch auf Platz 20 der Bestenliste.
108 Weltrekorde wurden in der vergangenen zwölf Monaten seit Einführung der umstrittener Schwimmanzüge aufgestellt. Umstritten deshalb, weil der Kampf der Verbände und Ausrüster um leistungsfördernde Materialien einem Wettrüsten im Chlorwasser gleicht „Mit Ästhetik hatte Schwimmen zu letzt nur noch wenig zu tun. Es gehe vor allem um Kraft", hat Olympiasieger Michael Gross bemerkt.
In einer Sitzung in Dubai befasse sich der Weltverband Fina … mit der Kleiderordnung. Die Flut der Weltrekorde hat die Regelhüter auf den Plan gerufen, weitere spektakuläre Entwürfe sollen ver-boten werden.
Vor Jahresfrist tauchten die ersten Profischwimmer mit Anzügen und integrierter Kapuze ins Wasser ab. Die wie schnittige Tau cheranzüge anmutenden Modelle werden wohl nicht das Prüfsiegel der Fina erhalten. Aber die Entwicklung geht auch nicht zurück zu den Ursprüngen. Die Zeit, als Mark Spitz in knapper Badehose 1972 siebenmal olympisches Gold gewann, ist genauso passewie in der Formel die Ära der Turbomotoren. Es gilt jedoch als sicher, dass die Fina die Anzüge künftig von einer technischen Kommission abnehmen lässt. Der schwedische Professor Jan.Anders Manson von der Eidgenössischen Technischen Hochschulen hat auf Grundlage einer Studie festgelegt, was erlaubt sein soll und was nicht. Auf einem Treffen mit den 16 Bademodenherstellern in Lausanne Mitte Februar gab die Fina erste Richtlinien bekannt. Der Schwimmanzug der Zukunft soll nicht weiter als bis zu den Knöcheln reichen, Nacken und Arme bleiben komplett unbedeckt. Hersteller dürfen den Athleten nicht ei-nen Anzug maßschneidern. Auch soll die Verwendung von Neopren, das Luftpolster begünstigte, verboten werden. … Demnach soll der Auftriebseffekt der Anzüge nicht mehr als 100 Gramm betragen dürfen, und die künstlichen Häute sollen nicht stärker als ein Millimeter sein. Auch soll es untersagt werden, mehr als einen Anzug zu tragen. … „Der deutsche Schwimmverband hat die Entwicklung etwas verschlafen", gibt Bundestrainer Dirk Lange zu, der seit knapp einem halben Jahr im Amt ist. Anders als in den USA, Südafrika oder Italien hätte der DSV zuwenig Wert auf die Arbeit mit den künstlichen Häuten gelegt. Die Athleten murrten über Chancenungleichheit. Höhepunkt war die Meuterei von Helge Meeuw und Thomas Rupprath bei der Kurzbahn-EM in Rijeka. Aus Protest gegen die Bekleidung und Ausrüster Adidas traten sie in veralteten Badehosen an. Der fränkische Ausrüster kündigte daraufhin den Vertrag mit dem DSV, seither liegen die Vertragspartner im Rechtsstreit.
Erste Lehren aus dem Olympiajahr hat der DSV schon gezogen. Er bestellte die neuesten Schwimmanzüge und ließ verschiedene Modelle im Institut für Angewandte Trainingswissenschaften in
Leipzig testen. … Bundestrainer Lange geht aber davon aus, dass technisierte Wettstreit um Bestzeiten bald vorbei ist. Er prophezeit: „Die Anzahl der Weltrekorde wird mit dem neuen Reglement zurückgehen."
Die Welt; 12.3.2009;
Robert Dunker
Breite Front gegen den Nestbeschmutzer
(spg)/zz. Ausgerechnet Dwain Chambers. Ausgerechnet jetzt. Der britische Sprinter hat am Wochenende den Leichtathletik-Europameisterschaften in Turin zusammen mit dem deutschen Weitspringer Sebastian Bayer (Europarekord mit 8,71 m) den Stempel aufgedrückt. Der 30-Jährige lief am Samstag über 60 m im Halbfinal in 6,42 s Europarekord und wurde tags darauf in 6,46 s überlegen Europameister. Damit machte Chambers beste Werbung für seine am Montag erschienene Autobiografie mit dem Titel „Race Against Me“.
Chambers nimmt im Buch kein Blatt vor den Mund, er rechnet mit sich und seinem ehemaligen Umfeld schonungslos ab. Er nennt Dopingsünder und kritisiert die Scheinheiligkeit prominenter Athleten und Funktionäre. Gehörig sein Fett bekommt Sebastian Coe ab. „Er hat mich oft einen Betrüger genannt, und doch ist er der Mann, der zehn Jahre lang eine aussereheliche Affäre hatte“, schreibt Chambers über den von der Queen zum Lord geadelten 1500-m-Olympiasieger von 1980 und 1984 und Organisationschef der Olympischen Spiele 2012 in London. Und für seine Landsfrau Christine Ohuruogu, die nach einjähriger Sperre 400-m-Weltmeisterin und -Olympiasiegerin werden durfte, hat er den folgenden Seitenhieb übrig: „Einen Test zu verpassen, kann als Nachlässigkeit durchgehen, zwei zu verpassen, ist fast unverzeih-lich, aber drei zu verpassen, zeigt, dass ein Athlet keinen Fokus hat oder jemand schlicht den Kontrolleuren ausweicht.“ Chambers gewährt zudem detaillierten Einblick in seine Dopingpraktiken, die im Zuge des Skandals um das kalifornische Balco-Labor 2003 aufflogen. „Ich fühlte, mich wie ein Junkie“, schreibt Chambers. Der Medikamentenmix habe ihm Panikattacken, schlaflose Nächte und Bauchkrämpfe beschert, manchmal habe er sich wie ein Epileptiker am Boden gewälzt. Chambers ist seit 2006 wieder startberechtigt,
zur Leichtathletik kehrte er aber erst nach wenig erspriesslichen Abstechern zum American Football und Rugby zurück.
Sein Turiner Comeback wirft Fragen auf. Verdächtig ist vor allem die Tatsache, dass der gedopte Chambers vor seiner Sperre eine Bestzeit von 6,54 aufwies. In Turin unterbot er diese Marke gleich dreimal, teilweise sehr deutlich. Auf die Leistungssteigerung angesprochen, sagte Chambers der „Welt am Sonntag“: „Das zeigt, dass ich Doping schon früher nicht gebraucht hätte. Man muss einfach Geduld haben.“ Die schwierigen Jahre hätten ihn hungrig gemacht und noch mehr motiviert, hart zu arbeiten.' Wegen des Inhalts seiner Biografie droht Chambers nun aber Ärger vom Weltverband IAAF In englischen Zeitungen wurde am Sonntag ein IAAF-Funktionär mit der Aussage zitiert, man wolle prüfen, ob Chambers mit seinem Buch den Sport in Verruf bringe. Wenn dem so sei, müsse der Sprinter mit drastischen Massnahmen rechnen. Zudem will die IAAF den Briten bis zur Rückzahlung der gedopt erlaufenen 200.000 Franken Preisgeld von den Meetings fernhalten. Chambers jedoch bezeichnet sich als zahlungsunfähig. Nichts mehr verloren hat er ferner an Olympischen Spielen. Die Statuten des Britischen Olympischen Komitees kennen gegenüber Dopingsündern kein Pardon, wer einmal erwischt wurde, darf nie mehr an Olympia teilnehmen. Aber auch an gewöhnlichen Meetings scheint Chambers trotz seinem Europarekord weiterhin unerwünscht zu, sein. Auf Skandalautoren kann die darbende Leichtathletik gut verzichten.
Neue Zürcher Zeitung;10. 3. 2009
Es gibt viel zu bereden
Die Begrüßung war herzlich. Bewegt klopfte Peter Börner seinem alten Schützling bei der Ankunft im Maritim-Motel in Halle auf die Schulter. Vor knapp 30 Jahren hatte er Horst-Peter Strickrodt als Trainer das Box-Abc vermittelt. Mittlerweile ist Strickrodt promovierter Anwalt und seit Anfang des Jahres Sportdirektor des deutschen Boxverbandes. Börner ist Präsident des Landesboxver-bandes Sachsen-Anhalt und Cheforganisator des Chemiepokals. Das Turnier in Halle in dieser Woche ist die bedeutendste Amateur-Boxveranstaltung der Republik - und damit zwangsläufig auch ein Krisengipfel.
Das deutsche Amateurboxen befindet sich seit Jahren im Ab-wärtstrend, internationale Erfolge liegen lange zurück. „Ich habe viele Termine hier am Rande des Turniers“, sagt Strickrodt. „Wir sprechen mit allen Trainern, Mitarbeitern und unseren Boxern.“
Es gibt viel zu bereden. Nach dem olympischen Tiefschlag von Peking, wo alle vier deutschen Kämpfer schon in der ersten Runde gescheitert waren, wurde die Notbremse gezogen. Helmut Ranze, zuvor Cheftrainer und Sportdirektor in Personalunion, räumte seinen Stuhl. Er ist nun Sportkoordinator. Einen Chefcoach gibt es nicht mehr. Strickrodt soll als Sportdirektor die Karre aus dem Dreck ziehen.
Der einst erfolgreichste deutsche Amateur und Profi, Henry Maske, hat den K.o. in Peking kommen sehen. „Wer nah dran ist am Amateurboxen, war sicher nicht überrascht“, sagt er. „Andere Län-der haben enorm aufgeholt.“ Ex-Weltmeister Sven Ottke sieht vor allem hausgemachte Probleme. „Die Strukturen bei uns sind veraltet. Man muss ganz einfach neue Wege gehen.“ Genau die will Strickrodt nun beschreiten Und da „neue Wege neue Köpfe verlangen“, so der Sportdirektor, suche man nach einem kompetenten Disziplintrainer. Von ihm werde mehr erwartet , als in der Halle zu stehen und mit den Boxern im Ring zu arbeiten. Strickrodt fordert, sich mehr wissenschaftlicher Maßnahmen und Methoden zu bedienen. Die Schaffung einer neuen Stelle als Diagnosetrainer soll dabei die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis bilden. Nur: Einen geeigneten Fachmann hat der Verband noch nicht gefunden.
Strickrodt fordert, die Sportler wieder in den Mittelpunkt der Ver-bandsarbeit zu rücken. Auch finanziell. „Wir brauchen zwingend ein sauberes Management. Das Geld muss bei den Athleten ankommen und nicht in der Verwaltung.“ Ein leidiges Problem, das Sven Ottke noch aus seiner Aktivenzeit kennt. „Ich hatte damals den Eindruck, dass den Funktionären egal war, was im Ring passiert. Hauptsache
sie können reisen. Die Einkleidung war da der Höhepunkt.“
Einige Posten sieht er auch heute als überflüssig an. „Wozu braucht man einen Sportkoordinator?“, fragt er in Anspielung auf die Position von Helmut Ranze. „Für das Geld sollte man lieber ei-nen fähigen Trainer einstellen oder einen Ernährungsberater. Auf dem Gebiet kann man sicher noch einiges rausholen. Die Sport her
sollten nicht zu kurz kommen.“
Für Henry Maske ist besonders wichtig, dass „die ganzheitliche Entwicklung des Sportlers im Mittelpunkt steht. Schule und Ausbil-dung müssen großes Augenmerk geschenkt werden.“ Zugleich warnt der Olympiasieger von 1988 vor einem zu schnellen Wechsel ins Profilager. „Vielen jungen Sportlern fehlen die Grundlagen, sie sind technisch nicht ausreift.“ Dass sie dennoch dem Lockruf des Geldes nachgeben, liegt für Ottke auf der Hand. „Als Amateur kann man nichts verdienen.“
Doch Geld allein ist es nicht. Deshalb will Strickroth auch im menschlichen Bereich eine neues Denken einführen. „Den Leuten das Vertrauen zu gehen, dass sie hei uns gut aufgehoben sind“. lautet sein Credo. Er will versuchen, die früheren Stützpunkte in Berlin und Schwerin wiederzubeleben. Die gerieten unter Ranzes Regie ins Abseits. „Wir haben gemerkt, dass die familiäre Bindung gerade bei den jungen Boxern eine große Rolle spielt.“ Eine konsequente Zentralisierung, wie sie früher angestrebt wurde, sei deshalb nicht immer machbar.
Angesichts solcher Ideen sieht Maske „die deutschen Amateurbo-xer auf einem guten Weg“. Kurz vor dem Chemiepokal hat er die Athleten im Vorbereitungscamp in Hennef besucht. Auch Strickrodt ist zuversichtlich: „Ich kann nicht versprechen, dass es 2012 in London einen Goldregen geben wird. Aber ich hin optimistisch, dass es gute Ansätze gehen wird.“
Frankfurter Rundschau; 6.2.2009
Petra Szag
34 Medaillen im Plan
Berlin (sid)-Die deutschen Wintersportler sollen bei den Olympischen Spielen in Vancouver erfolgreicher sein als 2006 in Turin. Die SportBild berichtet, dass in den bislang geheimen Zielvereinbarungen, die der Deutsche Olympische Sportbund (DOSE) mit den Fachverbänden festlegt, 34 Medaillen angepeilt werden. In Italien hatte es 29 gegeben. Am 11. Februar hatte sich im Bundestag-Sportausschuss an den Vereinbarungen ein Streit entzündet. DOSB-Generaldirektor Michael Vesper weigerte sich,
Übersichten der Verbände zu präsentieren. Der Sportausschuss-Vorsitzender Peter Danckert (SPD) forderte mehr Transparenz, schließlich müsse der Ausschuss die Mittel für den Sport verantworten. Bekannt war, dass der DOSB in Vancouver wie in Turin den ersten Platz in der Nationenwertung belegen will. 2012 bei den Sommerspielen in London peilt die deutsche Mannschaft eine Platzierung unter den ersten Fünf an. Im einzelnen sehen die Medaillenvorgaben angeblich so aus: Die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft soll sechs Medaillen gewinnen (in Turin waren es drei), der Deutsche Skiverband 15 (statt 18), der Bob- und Schlittenverband neun (Turin: sieben), der Snowboard Verband Deutschland zwei (Turin: eine) und die Deutsche Eislauf-Union und der Deutsche Curling-Verband jeweils eine (in Turin waren beide Verbände leer ausgegangen). Von der deutschen Eishockey-Auswahl werden keine Wunder erwartet. Der Eishockey-Bund zieht ohne Edelmetall-Vorgaben los.
(Süddeutsche Zeitung; 26.02.2009)
Stammtischredner im Bundestag
BERLIN taz „So. Und jetzt noch ein Pils!" Das hat Peter Rauer nicht gesagt. Hätte aber gepasst Der CDUIer ist stellvertretender Vorsitzender des Sportausschusses im Bundestag. Eine Woche nach dem Aschermittwoch legte er im hohen Haus einen veritab len Wirtshausauftritt hin. Seine Tirade gegen die Deutsche Fußball-Liga (DFL) und für mehr Solidarität mit den kleinen Klubs kam gut an bei seinen Kollegen Man spendete Beifall. Der Ausschuss hatte unter anderen der Generalsekretär des Deutscher Fußballbunds, Wolfgang Niersbach, und den Geschäftsführer der DFL, Christian Seifert, eingeladen. Sie sollten sich äußern über den wachsenden Unmut unter den Amateurklubs.
Die beschweren sich seit Wochen über den Spielplan der DFL der in der nächsten Saison ein Bundesliga-Sonntagsspiel vorsieht, das bereits um 15.30 Uh angepfiffen wird und sich etwa mit den Partien der Bremen-Liga überschneiden würde. Reiner Grundmann, Präsident des Gelsenkirchener Stadtteilklubs SC Schaffrath, der am Wochenende eine Spieltagsabsage in der Kreisliga und eine Demo organisiert hatte, war auch geladen und machte deutlich, wie wichtig jede verkaufte Bratwurst für einen Verein ist, der im Jahr
mit 50.000 Euro kalkuliert. Wenn sonntags die Bundesliga kickt, würden nicht nur die Zuschauer wegbleiben, auch die Spieler kämen „zumindest in Gewissensnot" und würden sich im Zweifel vielleicht für Premiere entscheiden - oder ins Stadion eines Bundesligisten gehen. Seine Rolle an diesem Tag: das Herz des Fußballs. Die Rolle von Seifert: die seelenlose Kommerzmaschine.
Was für eine Vorlage! Im sicheren populistischen Reflex richteten Abgeordnete aller Fraktionen über den DFL-Mann. SPD-Obfrau Dagmar Freitag sagte zu Seifert: „Was mir an ihrem Vortrag völlig gefehlt hat, ist der emotionale Zugang zum Sport." Bratwurst- und Kuchenbuffetnostalgie. Der Grüne Winfried Hermann hat grundsätzliche Probleme mit der Anzahl der Fußballübertragungen. Und dann müsse er auch noch „schlechten Fußball" sehen. Das passte nicht direkt zum Thema, ist aber ganz gut angekommen. Und darauf kam es schließlich an: gut anzukommen. Denn mehr als wohlfeile Appelle formulieren kann die Politik in dem Fall nicht. Die DFL macht ihre Geschäfte und ist heilfroh, dass sie nach dem Einspruch des Kartellamtes gegen den Megavertrag mit der Leo-Kirch-Firma Sirius doch noch etwas mehr Geld (412 Millionen Euro pro Jahr) für die Übertragungsrechte akquirieren konnte als aktuell. „wir
können da gar nichts machen'; sagte DFB-General Niersbach. Der
Grundlagenvertrag, in dem die Zusammenarbeit mit der DFL geregelt ist, wird im April geändert. Bis dato ist dort der Sonn-tagnachmittag als Spieltermin für die Amateure reserviert. Das geht nun nicht mehr. Der DFB, der 3 Prozent aller TV-Einnahmen der Liga kassiert, hat sich der DFL zu fügen. Er ist ein schwacher Interessenvertreter für die kleinen Klubs, die seine Basis bilden.
Mehr als den starken Max markieren können die deutschen Sportpolitiker auch nicht. Darauf ein Pils - und eine Bratwurst am Sonntag bei einem der 80.000 Fußballspiele, die jedes Wochenende unter dem Dach des DFB ausgetragen werden!
(taz Berlin; 6.3.2009; Andreas Rüttenauer)
Zwischen Gischt und Galle
BERLIN. Cathleen Rund ist am Dienstag und Mittwoch im Hafen der kroatischen Küstenstadt Dubrovnik in die Adria gesprungen. Dort kämpfen die Freiwasserschwimmer über 5, 10 und 25 Kilo-
meter um Europameistertitel: eine schöne Umgebung, um in die Schwimm-Geschichte einzugehen. Das hatte Cathleen Rund schon geschafft, bevor sie beim Fünf-Kilometer-Rennen am Dienstag „eine Stunde Vollgas" gab - und Achte wurde. Sie ist nach Peggy Büchse erst die zweite Deutsche, die sich sowohl im Becken als auch im Freiwasser für eine Meisterschaft wie EM, WM oder Olympia qualifiziert hat. Sogar für alle drei Strecken.
Rund sieht dies als persönlichen Erfolg. Aber der Erfolg impliziert Kritik. Rund wird im November 31 Jahre alt. „Sie ist eine Schwimm-Oma", sagt Oliver Großmann. Er ist in Wiesbaden nicht nur ihr Trainer, sondern auch ihr Lebenspartner. Und weil sich Cathleen Rund selbst als Schwimm-Oma sieht, beschäftigen sie Fragen, die sie an den deutschen Schwimmsport stellt, an die Strukturen, an den Verband. „Was ist da falsch gelaufen?" Und: „Es ist an der Zeit, dass die Leute aus ihren Kakerlakenlöchern kommen." Rund meint die jungen Schwimmer, diejenigen, die ihr längst Konkurrenz hätten machen müssen.
Ein Großteil von Runds Leben hat sich im Schwimmbecken abge-spielt, beim SC Dynamo Berlin, beim SC Berlin. 1996 gewann sie in Atlanta eine olympische Bronzemedaille über 200 Meter Rücken, 1997 wurde sie Europameisterin. Auch ihre Mutter Evelyn Stolze war Schwimmerin: Olympiateilnehmerin 1972, Europameisterin 1970; ihr Vater Peter war Wasserballer.
Rund musste erst lernen, sich im offenen Wasser durchzuwühlen. Im Pulk zu schwimmen, wo zwischen Gischt und Galle gezwickt, geboxt, gezogen und gehalten wird, am Mittwoch wurde sie 22. über zehn Kilometer. Sie hatte ihre Karriere nach Olympia 2000 in Sydney schon beendet, sich an den Rand gestellt, als Trainerin ausbilden lassen. Zurück ins Wasser brachte sie 2006 das hessische Fördermodell, die Sportfördergruppe der hessischen Polizei. „Ein Vorzeigeobjekt für ganz Deutschland", findet Großmann, „das sind Rahmenbedingungen wie früher in der DDR." Als Polizeikommissar-Anwärterin hat Rund Garantie auf Übernahme in den gehobenen Beamtendienst. Die Sicherheit gibt ihr Stärke: „Ich weiß, dass ich was Besonderes mache, was Eli-täres und ich habe ein System, das mir Unterstützung gibt."
Rund sagt, sie habe nach der Maschinerie des DDR-Systems auch andere Bedingungen kennengelernt: in Biberach, wo sie mit acht Mann auf der 25-Meter-Bahn ohne Wellenkillerleinen schwamm,
beim SC Wiesbaden. Das Strukturproblem, das sie in Deutschland sieht:
„Jeder versucht, um Wasserfläche zu kämpfen. Nichts ist systematisiert, nichts verzahnt. Die Basis der Ausbildung wird in den Vereinen gelegt. Die schaffen es bis zu den Jahr-gangsmeisterschaften, aber weiter fehlt das Know-how."
Kommende Woche tagen die Trainer des Deutschen Schwimm-verbandes (DSV) in Göttingen, um die schwachen Ergebnisse bei Olympia zu analysieren. Via Sportbild schimpft Thomas Rupprath über die Struktur des DSV und die Ahnungslosigkeit von Präsidentin Christa Thiel. Peking hat gezeigt, dass der DSV im Becken nicht mit der Weltspitze konkurrieren kann. Die deutschen Meisterschaften der vergangenen Jahren haben gezeigt, dass es in vielen Disziplinen am ambitionierten Nachwuchs fehlt. …Rund fin-det, von den Kindern sei keines mehr bereit sich zu quälen. …In Berlin sei das früher anders gewesen. Damals, sagt sie, hätten in Berlin zehn Leute Weltniveau gehabt, „da warst du mit Bronze der Arsch". Und heute? Da habe man ein tolles Bad in Berlin, acht Mann auf acht Bahnen, und Totenstille. Britta Steffen ragt heraus, natürlich. Seit ihren zwei Goldmedaillen von Peking sowieso. „Gold bei Olympia ist toll, aber was ist das wert, wenn dafür ein ganzes Bundesland zu Grunde geritten wird?" fragt Rund. Was sei ein Cheftrainer wert, der sich nur um Stars und Sternchen kümmert? Viele Talente sind schon aus Berlin abgewandert. Die Trainer arbeiten nicht Hand in Hand. Weder in Berlin noch sonstwo im DSV. …
Berliner Zeitung; 11.09.2008;
Karin Bühler
Worum es wirklich geht…
Das “Handelsblatt” (7.1.2009) beschrieb die Jahreswende-Situation der deutschen Sportanhänger mit knappen Worten: “Augen reiben, Glotze an, Vierschanzentournee” und fügte – kein Wunder beim “Handelsblatt” – die Einschaltquote des Neujahrsspringens hinzu: 6,4 Millionen Zuschauer. Keine Silbe über die Haltungsnoten der dominierenden Springer, sondern einzig die Feststellung, dass die guten Plätze Martin Schmitts die Geschäfte angekurbelt haben. Das wurde unverblümt mitgeteilt: “Es war eine gute Tournee - für
den 30-jährigen Comeback-Springer einerseits, für die Geldgeber andererseits.” Die Hauptsponsoren hätten sich “äußerst zufrieden” gezeigt. Spätestens durch diese Feststellung erfuhr man, dass es wirklich nicht um die Haltungsnoten ging - noch präziser: um die sportliche Leistung -, sondern im Grunde nur um den finanziellen Gewinn oder Verlust
Die “Leipziger Volkszeitung” (07.01.2009) zitierte Schmitt mit den Worten: `Die Tournee lief nahezu optimal für mich. Ich bin sehr glücklich, dass ich mich wieder in der Weltspitze etablieren konnte´. ... im TV stiegen die Einschaltquoten auf nahezu acht Millionen Zuschauer. Beste Argumente, wenn im Mai über den Ver-marktungsvertrag für die Tournee verhandelt wird, der den beiden deutschen Orten Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen pro Jahr etwa 950.000 Euro einbringt.
„Je populärer, spektakulärer und aus deutscher Sicht erfolgreicher die Tournee ist, desto bessere Verträge gibt es", erklärte Hörmann.” Nein, Hörmann ist nicht irgendein Marketingmanager, sondern der Präsident des Deutschen Skiverbandes und auch für den rangieren offensichtlich die Quoten und die Konten weit vor den Noten der Springer.
Das schon erwähnte “Handelsblatt” vermeldete auch noch präzise Daten über die die Springer und die Schanzen als Litfassäulen verwendenden Unternehmen: “Eine `sensationelle Veranstaltung´, attestiert Jürgen Steinberger, Marketingmanager von Tirol Werbung, den Machern der Vierschanzentournee. `Wir gehen da-von aus, dass wir im nächsten Jahr wieder als Hauptsponsor dabei sind.´ Keiner der sechs Hauptsponsoren schließt derzeit ein neues Engagement aus. Bei Milka zieht man ein Resümee jedoch erst nach dem Ende der kompletten Skisaison. Die Marke sponsert auch das deutsche Alpin-Skiteam. `Bereits jetzt eine Aussage über nur einen Baustein unseres Kommunikations-Mixes zu treffen, ist unmöglich - obwohl die Versuchung durch das gute Abschneiden von Martin Schmitt und die dadurch wieder entflammte Skisprung-Euphorie groß ist´, sagt Milka-Marketingdirektor Urs-Peter Schmidt. `Unsere hohen Erwartungen werden in dieser Saison wohl übertroffen.´ Auch der Vermarkter IMG Sports Media sieht sich gestärkt aus der diesjährigen Tournee hervorgehen: `Wir haben gute Aussichten, alle Sponsoren zu halten´, sagt IMG-Ge-schäftsführer Matthias Pietza. Titelsponsor Jack Wolfskin und die
Hauptsponsoren Viessmann und Liqui Moly bleiben der Tournee ohnehin zumindest bis zur nächsten Saison erhalten.” Dann erst bewertet man die Springer – aber auch nur nach der Profitnote: “Deutsche Erfolge bringen TVQuote - auf diese schlichte Formel lässt sich die Vierschanzentournee bringen. Mit seinem Podestplatz in Innsbruck und dem Gesamtrang vier hat sich Martin Schmitt sehr respektabel aus der Affäre gezogen. Das ambitionierte Auftreten der deutschen Athleten könnte auch dem Deutschen Skiverband (DSV) zu neuen Höhenflügen verhelfen. Schmitt gehört wieder zur Weltspitze - auch ohne Sieg. Ab Mai handelt der Verband einen neuen Vermarktungsvertrag für die Saison 2010/11 aus. Vor allem der Sympathieträger aus dem Schwarzwald beschert dem DSV nun die sportliche Grundlage für eine lukrative Vermarktung. `Wenn es bei der Tournee gut läuft und wir Erfolge haben, dann stärkt das natürlich unsere Verhandlungs-position´, sagt DSV-Marketingchef Stefan Krauß, ein ehemaliger Skiprofi. `Mit dem Abschneiden der deutschen Springer sind wir sehr zufrieden. In den Verhandlungen um die Vermarktungsrechte wollen wir unseren Status Quo verbessern."
Im Klartext: Der DSV will mehr Geld durch die Springer eintreiben lassen!. “Die Agentur IMG, die das Traditionsspringen schon seit 18 Jahren vermarktet, besitzt das Erstverhandlungsrecht. Gegenwärtig ist ein Hauptsponsoring-Paket nach Angaben des IMG-Geschäftsführers Matthias Pietza für rund eine halbe Mio. Euro zu haben. `Die Summe kann aber über weitere wesentliche Werbemittel wie die Startnummer in den höheren sechsstelligen Bereich gehen.´ Das Preis für das Namensrecht liege `im siebenstelligen Bereich´, sagt Pietza.
Die Forderung des DSV nach noch höheren Erlösen ist nicht unbe-rechtigt. Schließlich haben die Fernsehzuschauer die Vierschanzentournee wiederentdeckt.”
Nun wissen Sie, lieber Leser, also: Sollten auch Sie die Tournee im Fernsehen verfolgt haben, haben Sie sich um den Aufschwung der deutschen Werbeindustrie verdient gemacht haben und heutzutage muss schließlich jeder mithelfen die zahlreichen Kapitalismus-Krisen zu überwinden, selbst, wenn er dabei nur vor dem Fernseher sitzt.
Wohlgemerkt: Im Jahre 2009 vor dem Fernseher sitzt und dort nebenbei auch rund um die Uhr mit medialem Polit-
Nachhilfeunterricht bedient wird. Ich muss Sie nicht darüber aufklären, wie das vonstatten geht, denn – so sie nicht ausschalten – erleben Sie es täglich.
Dass in Oberhof ein großes Biathlon-Fest gefeiert worden war, entging kaum jemandem, aber die Berliner “taz” hatte als Berichterstatter jemanden engagiert, der wiederum wenig über die Trefferquote der Biathleten zu vermelden wusste, aber dafür der Öffentlichkeit mitteilte: “Einheimische Pensionsbesitzer schimpfen über den Dilettantismus der Stadtverwaltung und den alten SED- und Stasi-Filz, besonders in den Oberhofer Sportstrukturen.”
So wären denn die “brennenden Fragen der Gegenwart” auch im Sport wieder einmal benannt.
Finden Sie sich gefälligst damit ab, dass da keine Zeit mehr bleibt, Sie über die Haltungsnoten der Springer ins Bild zu setzen.
Leipzigs Neue; 12.1. 2009
Klaus Huhn
Wer kann zahlen?
Letzte Woche diskutierte der Bundestag im Plenum Probleme des Sports. Gesine Lötzsch trat zwar als „Ersatzfrau“ der erkrankten Linken Katrin Kunert an, bohrte aber in den Wunden der Koalition. „Durch Kooperation mit Wirtschaft und Medien sollen ergänzende Finanzierungsquellen zur Förderung von Breiten- und Spitzensport erschlossen werden“, zitierte sie aus den Absichtserklärungen der Regierung und bezweifelte, „ob zum Beispiel der notleidende Autobauer Opel im Augenblick für ein solches Anliegen besonders aufgeschlossen ist“. Völlig zu Recht prophezeite sie, daß Sponsoren des Sports ihre Budgets zusammenstreichen werden und in dieser Hinsicht keine rettenden Vorschläge der Bundesregierung zu entdecken seien.
Dann kam sie auf die eigentliche Sport-Misere der Gegenwart zu sprechen: „Schauen wir uns einmal die soziale Herkunft von Spitzensportlern an. Weniger als zehn Prozent sind Arbeiterkinder, mehr als die Hälfte Kinder von Angestellten ... Es werden also nicht nur Hartz-IV-Kinder vom Leistungssport abgekoppelt, sondern auch Kinder von Minijobbern, schlecht bezahlten Leiharbeitern...“ Das mißfiel dem CDU-Abgeordneten und Reck-Exweltmeister Eberhard Gienger, der erbost ein „unfassbar“ dazwischenrief.
Lötzsch parierte: „Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds, Thomas Bach, wies auf dem Integrationsgipfel der Kanzlerin Anfang November darauf hin, daß immer mehr Menschen ihren Vereinsbeitrag nicht zahlen können.“ Da schwieg Gienger.
Fazit: Erfreulich fundierte Fakten der Linken, leere Sprüche der Regierenden und der geschmacklose Zwischenruf eines Mannes, der am Reck einst einen Salto erfand und heute im Bundestag mäßige Abgänge turnt. Abschließend forderte Lötzsch die Bundesregierung auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Finanzierung des Breitensports und des Leistungssports in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise abzusichern. „Weitere Fehlstarts der Bundesregierung können wir uns alle nicht leisten.“
junge Welt; 11. 12. 2008
Klaus Huhn;
// GEDENKEN
Prof. Dr. med. habil. Manfred Paerisch
18. Juli 1921 - 24. November 2008
Es mag eine Ironie des Schicksals sein, dass der universelle Geist dieses weit über die nationalen Grenzen hinaus bekannten und beliebten Physiologen, Arztes, verehrten Hochschullehrers, sportwissenschaftlichen Forschers und langjährigen Mitgliedes verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften in der Zwenkauer Heliosklinik erst erlosch, als seine physischen Reserven restlos aufgezehrt waren. Er wusste wie nur wenige im medizinisch-
physiologischen Bereich, wie die Steuerung und Regelung des Betriebs der Skelettmuskeln funktioniert und beeinflusst werden kann, und büßte doch in den letzten Jahren seines langen Lebens die eigene Mobilität durch einsetzende Organschwächen, Krankheiten und Traumata immer mehr ein.
Der 1921 in Dresden geborene Manfred Paerisch, emeritierter Ordentlicher Professor für Physiologie, gehört ohne Zweifel zu den Ausnahmeerscheinungen in verschiedenen Disziplinen der deutschen medizinischen Wissenschaften. Man muss ihn für die Moderne wohl als einen der wenigen „Universalgelehrten" seines Fachgebietes würdigen, doch hätte er selbst dieses Prädikat aus fachlicher Bescheidenheit strikt von sich gewiesen.
Bereits nach seinem Medizinstudium während der Kriegsjahre 1939/45 in Berlin, Würzburg, Prag und Wien und seiner Promotion 1944 bei Prof. E. Gohrband in Berlin entdeckte der junge Arzt frühzeitig seine Neigung zu einer weiten naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise des tierischen und menschlichen Lebens. Als er im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945/48 an der Universitätsfrauenklinik und an der Klinik für Innere Medizin in Harburg tätig war, nutzte er die Gunst der Stunde und vertiefte sich in das Studium der Physik. Es lag daher nahe, dass er sich später ganz auf das Fach der Physiologie festlegte und die Sensomotorik immer mehr zu seinem Kernthema erkor. Mit solchen Intentionen arbeitete er ab 1951 am Physiologischen Institut der Universität Leipzig bei Prof. Bauereisen und auch bei dein Internisten Prof. Bürger, war 1956 der erste Leiter des neu gegründeten Instituts für Physiologie an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DIIfK) in Leipzig und initiierte ab 1969 als Professor in der Abteilung bzw. später im Labor für Physiologie des neu gegründeten Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport (FKS) bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1986 zahlreiche Forschungsprojekte und ihre Umsetzung im Training von Hochleistungssportlern. Im Schwimmen und in der Leichtathletik hatte er im Zeitraum vor den Olympischen Spielen 1960 und 1964 zeitweilig den Status eines Verbandsarztes inne. Sein besonderes Augenmerk galt dabei den Schnellkraftleistungen von Sportlern.
Er war als nimmermüder Ideengeber mit seiner typisch interdisziplinären Sicht im zuweilen hektischen Forschungsbetrieb bekannt, was Nurspezialisten zuweilen als belastend empfanden.
Bei der Betrachtung, Untersuchung und Aufklärung biologischer Funktionsweisen bevorzugte er immer stärker biokybernetische Denkweisen und trug damit zur Weiterentwicklung von Modellvorstellungen und zur Aufklärung von Funktionsprinzipien biologischer Systeme bei. Paerisch kam es in der von ihm geleiteten praxisorientierten sportwissenschaftlichen Forschungsarbeit immer darauf an, seine Mitarbeiter auf der Basis theoretischer Erkenntnisse zu praktischen Ableitungen zu motivieren und zu befähigen und aus konkreten Untersuchungsergebnissen auch Beiträge zur Weiterentwicklung der Theorie zu leisten. Einige wenige Beispiele sollen das belegen: Bei der Untersuchung der sensomotorischen Übertragungsfunktionen (Folgeregelverhalten) zwischen visuellem Analysator und motorischer Antwortreaktion einer Extremität definierte er als Gütefaktoren die Schnelligkeit, die Genauigkeit und die Zuverlässigkeit, wobei in der Praxis einerseits Maximalkriterien (Schnelligkeit oder Genauigkeit) und andererseits Optimierungen zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit und das über eine längere Zeit (Zuverlässigkeit) eine Rolle spielen. Große praktische Bedeutung hatte die mechanografische Untersuchung des muskulären Reiz-Antwort-Verhaltens auf transkutane elektrische Reize. Auf dieser Grundlage wurde die Elektromyostimulation (EMS) im Leistungssport eingeführt und in der Rehabilitation weiterentwickelt. Paerisch erwarb für die Einführung schmaler Impulse in der Größenordnung von Mikrosekunden mehrere Pa-tente.
Bedeutsam für Training und Wettkampf war die Ableitung myoelektrischer Erscheinungen bei definierten motorischen Kraftleistungen mittels OberflächenElektromyographie (EMG-Leistungsdichtespektrum). Davon profitierten besonders die Maximal- und Schnellkraftsportarten und auch die Kampfsportart Judo. Die EMG-Multifunktionsableitungen dienten auch zur Kontrolle sportlicher Techniken. Die Judoka der DDR zum Beispiel erzielten auf der Basis dieser gesamten Forschungsarbeiten bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau auf ganzer Breite herausragende Erfolge.
Manfred Paerisch wusste um seine wissenschaftliche Heimat, und er schätzte sie. Bei der Gedenkveranstaltung im Jahr 2000 zu „50 Jahre DHfK" bemerkte er dazu: „Es wird wohl keinem Physiologen
in der Welt je wieder die MögIiglichkeit zu einer so breit gefächerten wissenschaftlichen Arbeit gegeben werden, wie das damals in der DDR der Fall war. Dieses Urteil wiegt umso schwerer als es von einem ideologischen Querkopf stammt, der 1949 aus dem `Westen´ kam und Mensurnarben vom Säbelfechten im Gesicht trägt“.
Von seiner Lebensphilosophie her war er unzweifelhaft ein Weltbürger, der Wertorientierungen unterschiedlicher Kulturen in sich aufnahm. Seine humanistische Weltanschauung blieb auch im hohen Alter vor allem rational geprägt, von den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beeinflusst, doch sympa-thisierte er auch mit südostasiatischen religiösen Sehnsüchten nach einem friedlichen Zusammenleben der Menschheit auf dieser Erde. 1993 folgte er einem Ruf aus Kapstadt, wo der Emeritierte eine zeitlich begrenzte Gastprofessur wahrnahm.
Seine letzte Monografie (Ecce caro musculorum. Schkeuditz 2003), mit der er noch einmal zu seinem sensomotorischen Kernthema, der Steuerung und Regelung des Betriebs der Skelettmuskeln, resümierend zurückkehrte, zeugt zugleich davon, dass er auch im hohen Alter noch wissenschaftstheoretisch und wissen-schaftsphilosophisch auf dem neuesten Stand war. Die Erkenntnisse der modernen Quantenphysik und ihre Konsequenzen (Paradigmenwechsel), die im Einsteinjahr 2005 zur Sprache kamen, kannte er im Detail und berücksichtigte sie. Mit Sorge verfolgte er innerhalb der Medizin den dynamischen Trend zu immer größerer Spezialisierung, ohne dass diese Spezialisierung zu einem adäquaten Erkenntnisfortschritt in der einheitlichen Ganzheit der medizinischen Disziplinen führt. Das machte er auch an der Tatsache fest, dass sich innerhalb der „divergierenden Medizin" kaum jemand intensiv mit Funktion und Arbeitsweise des Antriebs der Skelettmuskulatur beschäftigt Deshalb lautet sein Vermächtnis für die junge deutsche Wissenschaftlergeneration, speziell die in der Medizin, vor allem über die offenen Fragen nachzudenken und sich dabei von den noch immer vorherrschenden Denkklischees zu entfernen.
Dr. Edgar Bredow /Dr. Ulrich Pfeiffer
Horst Künnemann
1. August 1925 - 11. September 2008
In vielen Jahren gemeinsamer Arbeit, so im SC Frankfurt/Oder, im Bezirksvorstand Frankfurt/Oder des DTSB und später im Freundeskreis der Sport-Senioren, lernte ich Horst als einen engagierten und stets einsatzbereiten Sportfunktionär kennen. Seine parteiliche Haltung, sein Bekenntnis zu den humanistischen Zielen von Körperkultur und Sport prägten sein Wirken.
Schon im Elternhaus waren ihm Begriffe wie Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung nicht fremd. Nach seiner beruflichen Ausbildung (1940 - 1943) als Former musste er bereits in jungen Jahren zum Arbeitsdienst und in den Krieg ziehen. Von 1944 bis 1948 erlebte Horst vier Jahre seiner Jugend in britischer
Kriegsgefangenschaft. Diese Erlebnisse, der Einfluss seiner Eltern und von Freunden formten seine politische Haltung. Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft war er Umschüler und Traktorenschlosser. Aber bereits 1950 führte ihn sein Weg in die demokratische Sportbewegung. Wichtige Stationen waren dabei die Arbeit im Bördekreis Wanzleben als Jugendsekretär, als Vorsitzender des Komitees für Körperkultur und Sport, als Lehrer an der DTSB-Schule in Biesenthal und schließlich als Stellvertretender Vorsitzender der Sportvereinigung Chemie in Halle.
Mit seiner Ehefrau Ingrid folgte er 1960 dem Ruf, in den Bezirk Frankfurt/Oder zu ziehen. Hier leitete er den SC Frankfurt/oder, war in der Bezirksleitung Frankfurt/Oder der SED für den Sport verantwortlich und wurde 1970 zum Vorsitzenden des Bezirksvorstandes des DTSB gewählt. In fast 18-jähriger Tätigkeit führte er den Bezirk mit seinem Leitungskollektiv, dem auch ich angehörte, zu beachtlichen Erfolgen bei der Organisierung des Sportes zwischen Oder und Spree. Ein erfolgreich absolviertes Studium an der DHfK Leipzig gab ihm das theoretische Rüstzeug für seine Tätigkeit.
Eine schwere Krankheit beendete seine aktive Laufbahn in der sozialistischen Sportorganisation, in der er auch drei Jahre als ehrenamtlicher Präsident an der Spitze des Ringer-Verbandes der DDR stand.
Weitere gesundheitliche Rückschläge stoppten zwar seinen Tatendrang, aber nie verlor er den Glauben, für eine edle Sache gelebt und gearbeitet zu haben. Bis zu seinem Tod war Horst ein aktiver und vor allem ein diskussionsfreudiger Angehöriger des Freundeskreises der Sport-Senioren, der sein Andenken in Ehren bewahren wird.
Erhard Richter
Gerhard Kleinlein
24. April 1925 – 23. Dezember 2008
Er war ein musischer Mensch, schwärmte für Beethoven, beherrschte Klavier und Geige, aber er war auch ein Kämpfer, der wusste, dass es darum ging, Menschen zu überzeugen. Vielleicht wurde er deshalb Journalist, als er den Hitlerschen Okkupationsfeldzügen glücklich entkommen war. Er begann seine Laufbahn im „Berliner Verlag“ und als 1948 die antifaschistische Sportbewegung gegründet wurde, gehörte er zu denen, die mit der unseligen Vergangenheit brechen und die erste dem Frieden verschworene deutsche Sportbewegung stabilisieren wollte. Er wurde Sportredakteur der „BZ am Abend“ und sah sein Lebensziel nicht darin, sich für Fußballkommentare feiern zu lassen, sondern junge Menschen für den Sport zu gewinnen. Seine Idee war es, den „Berlin-Lauf“ für Schüler ins Leben zu rufen und den zu einem
denkwürdigen Großereignis werden zu lassen. Dann erschien sein Gesicht auf dem Bildschirm. Er war der „Hauptschiedsrichter“ der in ihrer Dauerpopularität später von keiner TV-Serie mehr erreichten Kindersportsendung „Mach´s mit, mach´s nach, mach´s besser,“ in der Schulen miteinander wetteiferten. Ausländische Fernsehstationen kauften ganze Staffeln, dieweil die durch keine Spektakelregisseure inszenierte Stimmung der Sendung selbst im fernen Wladiwostok Jung und Alt begeisterte. Berufen hatte man ihn für diese Rolle als Pressechef des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, eine Funktion, in der er sich in den schweren Jahren des Aufstiegs der DDR-Sportler viel internationales Ansehen erwarb und durch seine sachliche aber konsequente Haltung zu überzeugen wusste. Er berichtete über zehn Olympische Spiele, war aber auch in nicht olympischen Sportarten zu Hause. So, als er in den fünfziger Jahren eine Tauchoperation in der Adria leitete, damit Hauptdarsteller eines DEFA-Films wurde und zwei Bücher schrieb. Auch bei den Journalisten-Trabrennen in Karlshorst sah man ihn im Sulky erfolgreich. Gerhard führte mit seiner Frau Klarissa und seiner Tochter Kristiane eine länger als vier Jahrzehnte währende glückliche Ehe. Als er – schon von Krankheiten geplagt – 2005 eine Donau-Schiffsreise unternahm, begegnete ihm in Wien ein österreichischer Kollege, der in seinen Anfängerjahren bei Gerhard praktiziert hatte und dem 80jährigen nun versicherte, von ihm alles gelernt zu haben, was ihn in Wien zu einem ungemein populären Journalisten hatte werden lassen.
Gerhard Kleinlein ist in seinem Leben oft geehrt worden. Hoch verdient war die „Goldene Feder“ des DDR-Journalistenverbandes oder die „Goldene Kamera“ des DDR-Fernsehens, Auszeichnungen, die heute kaum mehr erwähnt werden dürfen. Kleinlein war einer der unvergessenen Pioniere des DDR-Sports und wenn es je jemand wagen sollte, eine „Hall of Fame“ des DDR-Sports zu gründen, hätte er dort einen sicheren Platz!
Klarissa Kleinlein
Otto Jahnke
2. November1924 - 15.November 2008
Das war sein Weg an unserer Seite: Ende 1946 aus Kriegsgefangenschaft nach Mecklenburg entlassen, fand Otto Jahnke schnell zur FDJ und ging als "junger Mann für alles" in der Verwaltung von Grabow auch daran, erste Möglichkeiten für Sport und Spiel der Jugend im vom Krieg gezeichneten Ort zu schaffen. In der kleinsten Gemeinschaft, mit den unsäglichen Schwierigkeiten dieser unmittelbaren Nachkriegszeit, begann so sein Wirken für unsere sich entwickelnde demokratische Sportbewegung, das später mit der jahrelangen Funktion des stellvertretenden Chefredakteurs der Tageszeitung "Deutsches Sportecho" seine Erfüllung fand. Pressereferent im Landessportausschuss von Mecklenburg, zugleich Volkskorrespondent für mehrere Sportredaktionen, Vorsitzender einer ländlichen Sportgemeinschaft und aktiver Boxsportler, später
Bezirksredakteur von "Deutsches Sportecho" in Schwerin, dazu journalistische Qualifikation in Leipzig und sportfachliche an der Zentralschule des DTSB - das waren die wichtigsten Zwischenstationen Otto Jahnkes auf seinem Weg von Grabow nach Berlin.
Stets blieb Otto sich und unserer Sportbewegung in einem treu: als unermüdlicher Propagandist und Organisator des Jugendsports in unserem Land, als Helfer mit Wort und Tat bei der Entwicklung der Sportgemeinschaften in den Betrieben, als zielstrebiger Agitator des Sports für Alle. Scherzhaft und wohl auch etwas wehmütig, vor allem aber treffend hat er - als er in Rente ging - mir einmal gesagt: „Gewiss war ich stets auf der Schattenseite des Sportjournalismus tätig, aber ich habe das immer gern getan.“
Und in der Tat: Die „Sonnenseite“ sportjournalistischer Tätigkeit, das von Lesern wie Redaktionen allwöchentliche Jubeln und Klagen über Sieg oder Niederlage im Leistungssport, das Kommentieren und Berichten von Welt- und Europameisterschaften, auch die ständigen Wechselbäder von Lob und Tadel für Spieler und Trainer in den Fussballclubs, das alles war nur selten die Sache Ottos. Er berichtete anschaulich über gelungene Dorfsportfeste und Kreisspartakiaden. Er ging zu den Sportgemeinschaften und half denen bei der Beseitigung von Schwierigkeiten. Veranstaltungen wie "Wir suchen den stärksten Lehrling", "Dein Herz dem Sport" und sportliche Treffpunkte unter dem Motto "Jedermann an jedem Ort.." waren seine Erlebnisse, von denen er berichtete und die er kommentierte Die Mitglieder und tausende ehrenamtliche Funktionäre, Übungsleiter und auch Sportlehrer waren ihm für diese publizistischen Aktivitäten dankbar, achteten und ehrten ihn. Unauffällig, wie er gelebt hatte, ging er: Sein letzter Wunsch war es, dass seine Urne in aller Stille im Kreis seiner Familie und engsten Freunde beigesetzt wurde.
Als streitbarer Journalist für den Volkssport vor allem bleibt Otto unvergessen. Als engster Freund und Genosse bleibt er mir unersetzbar.
Alfred Heil

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1
BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE
HEFT 29/ 2009
INHALT
3 Autoren
//DOKUMENTATION/DISKUSSION
4 Zu Problemen der Sportwissenschaft aus der Sicht eines
Sportsoziologen
Klaus Rohrberg
28 Das Grab Seelenbinders
Zitat aus dem ND vom 15. 8. 1966
33 Ehrung
Zitat aus der „Frankfurter Rundschau“ vom 18. 8. 1986
33 Rehabilitierung eines Grabes
Zitat aus „Beiträge zur Sportgeschichte“ Nr. 19
35 Über die „Zählweise“ von Turnfesten
Klaus Huhn
37 Das Sportfest der Jugend 1949
Günther Wonneberger
45 Mafia im Amateurboxen?
Karl-Heinz Wehr
57 Eishockey-Lehren
Joachim Ziesche
2
// LITERATUR
60 Gereimtes über Ungereimtes
Walter Meier
68 Kein Wunder
Klaus Ullrich (Huhn)
//REZENSIONEN
73 Eissport in Oberhof
Jan Knapp
74 „Auf Skiern durch Sachsen“
Jan Knapp
// ZITATE
76 Weiter so
Letzter Amateur ging k.o.
„Stasi“ bis an Grab
Rekord-Fakten
Leichtathletik-Splitter
„Sensationsfund”
Wie es wirklich war...
Radschlägers Erbe
Schäubles Geständnisse
// GEDENKEN
91 Hans Schuster
93 Helmut Schulze
95 Dietrich Denz
96 Horst Schmude
3
AUTOREN
KLAUS HUHN, Dr. paed., geboren 1928, Sportjournalist, Sporthistoriker. Eh-renmitglied der Europäischen Sportjournalistenunion (UEPS).
JAN KNAPP, geboren 1948, Schäfergehilfe, Fachlehrer für Staatsbürgerkun-de und Geschichte, Leiter der Thüringer Wintersportausstellung Oberhof.
GÜNTER KURTZ; geboren 1932, Sportjournalist.
WALTER MEIER, geboren 1927, Neulehrer, Sportstudium, Berufsschullehrer, 1954 Studentenweltmeister im Zehnkampf, 1956 Olympiasechster im Zehn-kampf, 1958 Europameisterschaftsdritter im Zehnkampf.
ULRICH PFEIFFER, Dr. paed., geboren 1935, Diplomjournalist, Sportredak-teur der „Leipziger Volkszeitung“ 1961 bis 1970, Chefredakteur der Zeitschrift „Training und Wettkampf' 1977 bis 1991.
ERHARD RICHTER, geboren 1929, Generalsekretär des Deutschen Ringer-Verbandes (DRV) 1980 bis 1986.
KLAUS ROHRBERG, Dr. sc. paed., geboren 1932, Prof. für Geschichte und Theorie der Körperkultur an der Pädagogischen Hochschule Zwickau und der Universität Chemnitz/Zwickau 1985 bis 1994.
KARL-HEINZ WEHR, geboren 1930, Generalsekretär der Internationalen Amateur-Box-Assoziation (AIBA) 1986 bis 1998.
GÜNTHER WONNEBERGER, Dr. phil., geboren 1926, Prof. für Geschichte der Körperkultur 1967 bis 1991 an der Deutschen Hochschule für Körperkul-tur (DHfK) Leipzig, Rektor der DHfK 1967 bis 1972, Präsident des Internatio-nal Committee for History of Sport and Physical Education (ICOSH) 1971 bis 1983, Mitglied der DVS.
JOACHIM ZIESCHE, geboren 1939, Studium an der DHfK, Diplomsportleh-rer, 200 Eishockey-Länderspiele für die DDR.
4
DOKUMENTATION/DISKUSSION
Zu Problemen der Sportwissenschaft aus der Sicht eines Sportsoziologen
Von KLAUS ROHRBERG
Vom Autor bearbeitete Auszüge eines Vortrags auf der Jahrestagung des Vereins „Sport und Gesellschaft“ am 31. März 2009 in Leipzig
Das gewählte Thema „Zu Entwicklungs- und Legitimationsproblemen der Sportwissenschaft“ soll klarstellen, dass mein Beitrag nicht einen Versuch darstellen kann, die gegenwärtige Entwicklung der Sportwis-senschaft in Deutschland umfassend einzuschätzen.
Eine solche umfassende Einschätzung würde wohl infolge der inzwi-schen erreichten Ausdifferenzierung der Sportwissenschaft und ange-sichts dessen, was heute alles unter diesem Namen offeriert wird, schwierig sein und ein eigenständiges Untersuchungsvorhaben dar-stellen.
Hinzu kommt, dass mir bislang keine befriedigende wissenschaftli-che Bestimmung des Gegenstandes der Sportwissenschaft bekannt ist. Die banale Aussage, ihr Gegenstand sei der Sport, könnte nach WILLIMCZIK lediglich der Ausgangspunkt für eine Gegenstandsbe-stimmung sein, wobei auch darüber, was Sport ist und was nicht, ebenfalls nur sehr unterschiedliche und widersprüchliche Auffassun-gen existieren (Willimczik 1992, 449).
Daher werde ich mich, auch entsprechend dem Namen und dem An-liegen unseres Vereins, vor allem auf die sozialwissenschaftlichen Disziplinen konzentrieren und hier wieder exemplarisch auf die Sportsoziologie, deren Entwicklung ich durch langjährige Mitglied-schaft und Mitarbeit am ehesten einzuschätzen vermag.
Anlässlich von Jubiläen der Deutschen Vereinigung für Sportwissen-schaft haben sich DIGEL (zum 25jährigen 2001) und KURZ (zum
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30jährigen 2006) in ihren Vorträgen mit der Entwicklung der Sportwis-senschaft befasst. Ich werde mich bei meinen Ausführungen auf diese Einschätzungen stützen, die ich als sachlich, sachkundig, kritisch und immer noch aktuell ansehe. Mit der Einschränkung allerdings, dass für beide Autoren eine DDR-Sportwissenschaft anscheinend nicht existier-te. Verwunderlich wirkt auch, dass KURZ auf die Ausführungen von DIGEL überhaupt nicht Bezug nimmt.
Ich möchte folgende zwei Fragstellungen in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen:
1. Welche Probleme zeigen sich gegenwärtig in der Beziehung zwi-schen Sportwissenschaft und Sportpraxis?
2. Welche Probleme sind gegenwärtig bei der eigenen wissenschaft-lichen Profilierung der Sportwissenschaft erkennbar?
1. Zur Beziehung zwischen Sportwissenschaft und Sportpraxis
Die Sportwissenschaft versteht sich ihrem Wesen nach als eine an-wendungsorientierte Wissenschaft. Dazu gibt es allgemein Überein-stimmung. Diejenigen Sportwissenschaftler, die sich in der letzten Zeit mit dem Verhältnis von Sportwissenschaft und Sport beschäftigt ha-ben, sehen diese Beziehung aber als nach wie vor nicht optimal ge-staltet an (u. a. BALZ 2002; DIGEL 2002; GRAS/RIGAUER/ROHR-BERG 2007). So stellte DIGEL fest: „Sehen wir genauer hin, so zeigt sich, das das Verhältnis zwischen Sport und Wissenschaft offensicht-lich brüchig ist. Nach wie vor kann man sich den Sport ohne Wissen-schaft und die Wissenschaft ohne den Sport vorstellen; …“. Die Grün-de hierfür werden von den Autoren sowohl auf Seiten des Sports als auch der Sportwissenschaft selbst gesehen.
Für die Sportwissenschaft in der DDR galt, wie für die sozialwissen-schaftliche Forschung allgemein, die Praxis als Ausgangspunkt, Ziel und Kriterium wissenschaftlicher Forschung (BERGER/WOLF 1989, 16). Die Sportwissenschaft in der DDR entstand, anders als in der BRD, aus den Anforderungen der Gesellschaft und des Sports, wis-senschaftliche Analysen und entsprechende Vorgaben für die plan-mäßige Gestaltung des Sports bereit zu stellen. Diese Anforderungen
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hat sie auch nachweisbar erfüllt (GRAS/RIGAUER/ROHRBERG 2007). Im Unterschied hierzu, und das prägte ihre Entwicklung, konsti-tuierte sich die Sportwissenschaft in der BRD an Hochschulinstituten, die um ihre Anerkennung im System der Wissenschaften bemüht wa-ren (WILLIMCZIK 1992, 453).
Aus der Sicht der Praxis wird die Bedeutung der Sportwissenschaft für die Sportentwicklung, sofern sie denn überhaupt anerkannt wird, hinsichtlich der einzelnen sportwissenschaftlichen Disziplinen erfah-rungsgemäß recht differenziert eingeschätzt. Die Praxisrelevanz sol-cher Disziplinen, wie Trainingslehre, Biomechanik, Sportmedizin und Sportpsychologie wird im Allgemeinen deutlich stärker positiv bewer-tet, als die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie zum Beispiel der Sportsoziologie. Das hat zur Folge, dass sich die zu-erst genannten Disziplinen nicht nur einer höheren Wertschätzung und Inanspruchnahme seitens der Sportpraxis, sondern auch einer stärke-ren Förderung durch die entsprechenden sportlichen und staatlichen Einrichtungen erfreuen können. Das war und ist ein von den Vertretern der Sozialwissenschaften wiederholt beklagter Umstand, auch früher in der DDR. Hier war die Sportsoziologie an wissenschaftlichen Analy-sen maßgeblich beteiligt, hatte aber andererseits um ihre volle Aner-kennung als Lehr- und Prüfungsfach in der Sportlehrerausbildung zu kämpfen (ROHRBERG 2008). Offensichtlich ein generelles Problem, denn auch DIGEL kritisiert in seinem Beitrag, dass sich das Interesse an wissenschaftlicher Beratung seitens des DSB (jetzt DOSB) in den letzten Jahren vorrangig auf Erkenntnisse für technisches Handeln be-grenzt habe und notwendige Diskussionen über sozial- und kulturwis-senschaftliche Themen des modernen Sports nur eine marginale Rolle spielten (DIGEL 2002, 5).
Die Sozialwissenschaften des Sports vermögen durchaus „praxis-wirksam“ zu werden und durch Aufdeckung und Aufklärung auf die Sportentwicklung Einfluss zu nehmen. So vermag die Sportsoziologie gemäß ihres Charakters als allgemeine sozialwissenschaftliche Theo-rie des Sports (RIGAUER), die Sportentwicklung kritisch zu beobach-ten und realistisch zu beschreiben, Zusammenhänge, Bedingungen,
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Trends und Ursachen aufzudecken und zu erklären, auf erkannte Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen und schließlich Empfeh-lungen zur Veränderung zu erarbeiten. Während in der DDR-Sport-soziologie die Praxiswirksamkeit als ein anerkanntes Prinzip galt, wur-de in der Sportsoziologie der BRD das Verhältnis von Sportsoziologie und Sportpraxis teilweise unterschiedlich bewertet und wiederholt auch kontrovers diskutiert. Der Sportsoziologe HEINEMANN schrieb: „Der Versuch, sportsoziologische Forschung an eine ‚Praxis„ zu binden, ist (…) kaum praktikabel und vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wenig sinnvoll; …“ (1978, 62 nach GRAS/RIGAUER/ROHRBERG 2007, 59). Im Gegensatz hierzu standen die Auffassungen von LÜSCHEN und RIGAUER und anderen Vertretern einer angewandten Sportsoziologie. So forderten LÜSCHEN und WEISS: „Die Soziologie des Sports sollte zur sozialen Praxis des Sports beitragen“ (1976, 13 nach GRAS/RIGAUER/ROHRBERG 2007, 60). In diesem Zusammen-hang sei auch auf die vor einigen Jahren in der Zeitschrift „Spectrum der Sportwissenschaften“ kontrovers geführte Diskussion zwischen BETTE (1999) als Verfechter einer stärkeren „Selbstbezüglichkeit“ der Sportsoziologie anstelle von „Fremdbezüglichkeit“ einerseits und RÜTTEN (1999) als Vertreter einer „angewandten Sportsoziologie“ andererseits verwiesen. Inwiefern die Sportwissenschaft von der Pra-xis als nützlich anerkannt wird, hängt natürlich auch von der Wissen-schaft selbst ab. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass die Sport-wissenschaft ihre Ergebnisse in einer Sprache präsentiert, die die Pra-xis auch verstehen kann. Dazu gehört des Weiteren, dass sich die Sportwissenschaft auch den für die Praxis wirklich bedeutsamen und aktuellen Themen der Sportentwicklung zuwendet, anstatt sich bei der Themenwahl von individuellen Vorlieben oder kommerziellen Interes-sen leiten zu lassen.
„Es sind nämlich leider immer mehr Wissenschaftler, die zwar an sportwissenschaftlichen Instituten arbeiten, sich jedoch in ihrer Lehre und Forschung vom Sport ab und teilweise ziemlich abseitigen und opportunistischen Fragestellungen zugewandt haben, die nicht zuletzt ihren eigenen materiellen Interessen genügen“ (DIGEL 2002, 4).
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Die Sportsoziologie in Deutschland hat sich allerdings in den 90er Jahren und auch anfangs dieses Jahrtausends noch durchaus den gesellschaftlich und sozial relevanten Themen der Sportentwicklung zugewandt. Als Beleg hierfür kann unter anderem neben entsprechen-den Publikationen auch auf die Themen ihrer Jahrestagungen (DVS, DGS) verwiesen werden. Allerdings beschränkten sich die dortigen Konferenzbeiträge überwiegend auf Zustands- und Trendbeschrei-bungen, die zwar auch hier und da mit kritischen Hinweisen auf Prob-leme der Sportentwicklung verbunden wurden, in denen aber eine ra-dikale Kritik an unübersehbaren, den Sport schädigenden Tendenzen und ein Bezug auf deren gesellschaftliche Ursachen weitgehend fehl-te. Diesbezüglich postuliert DAHMER für die Soziologie:
„Soziologische Erklärungen sind hingegen solche, die die sozialen Faktoren hinter den Fakten aufdecken, also die gesellschaftliche Ge-nealogie der >Gegebenheiten< rekonstruieren und auf diese Weise Möglichkeiten ihrer Revision erschließen“ (2001, 16).
- „Die heute schreibenden, lehrenden und forschenden Soziologen - … - haben sich freilich (in ihrer übergroßen Mehrheit) längst von dieser Aufgabe dispensiert.“ – „Der typische Soziologe von heute ist ein poli-tisch desengagierter Spezialist, selbst wenn er gelegentlich mit >Poli-tikberatung< sein Geld verdient“ (ebd., 17).
Seit einigen Jahren lassen die Themen der Jahrestagungen der Sportsoziologen allerdings eine Abwendung von gesellschaftlichen Problemen des Sports und eine Zuwendung zu den Komplexen „Kör-per - Gesundheit - Bewegung“, verbunden mit einer mehr psychologi-sierenden Betrachtungsweise sportlicher Phänomene erkennen. Diese Tendenz äußert sich auch in der Umbenennung der DGS-Sektion So-ziologie des Sports in eine „Sektion Soziologie des Körpers und des Sports“.
Einige Beispiele von Vortragsthemen aus der gemeinsamen Jahres-tagung mit der DVS-Sektion 2005 mit dem Rahmenthema „Körper – Bewegung – Sport“ möchte zur Verdeutlichung meiner Einschätzung hier nennen: „Der Körper als Erlebnisraum und Erfahrungswelt“, „Tanz – Körper – Erfahrung“, „Vom Spielraum des Leibes“ und ähnliche
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Themen, die nach meiner Einschätzung weniger mit Sportsoziologie und mehr mit Sportpsychologie, Motorik oder Sportpädagogik zu tun haben und eine Ausweitung und Verlagerung des Gegenstandes der Sportsoziologie bedeuten, einer Sportsoziologie, die nach RIGAUER die „allgemeine sozialwissenschaftliche Grundlage der Sportwissen-schaft“ sein sollte (2001, 31). Diese geschilderte Tendenz scheint nicht nur auf die Sportsoziologie zuzutreffen, sondern ein Trend in der Sportwissenschaft insgesamt zu sein. Dazu DIGEL: „Folgt man einer Gruppe von Kollegen…, so sollte die Sportwissenschaft in Bewe-gungswissenschaft, Gesundheitswissenschaft oder Körperwissen-schaft umbenannt werden“ (2002, 5). Eine solche Tendenz halte ich für die Profilierung der Sportwissenschaft und der Sportsoziologie we-nig dienlich, auch nicht für höhere Wertschätzung seitens der Sport-praxis, und auch DIGEL bezeichnet sie als „kontraproduktiv“. Sie kann unter Umständen zur Selbstaufhebung der Sportsoziologie beitragen.
Die erwähnte Tendenz zur psychologischen Erklärung gesellschaftli-cher und sozialer Probleme ist ja gegenwärtig nicht nur in der Sportso-ziologie feststellbar, sondern stellt eine allgemein beobachtbare Ten-denz dar, auch in der populärwissenschaftlichen Abhandlung gesell-schaftlicher und sozialer Probleme in den Medien, wie zum Beispiel Aggression und Gewalt. Der Soziologe DAHMER stellt fest: „Naturalis-tische oder psychologistische Pseudoerklärungen gehören zum eiser-nen Bestand der zeitgenössischen Ideologie“ (2001, 16). Die Gründe dafür sind offensichtlich.
Neben der angesprochenen Tendenz zur Abwendung von gesell-schaftlichen Themen ist des weiteren zu beobachten, dass Wortmel-dungen seitens der „Kritischen Sportsoziologie“, die in den 60er und 70er Jahren in der Sportwissenschaft in Westdeutschland noch eine beachtliche Rolle spielten (GRAS/RIGAUER/ROHRBERG 2007, 77-78), selten geworden sind beziehungsweise total fehlen. Und KRÜ-GER bezeichnete unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des So-zialismus in Europa dann auch eine an MARX orientierte „Kritische Sportsoziologie“ schlichtweg als heute „ausgedient“ (1998, 102).
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Eine Sportsoziologie aber, das ist meine Position, die darauf verzich-tet, die Sportentwicklung kritisch zu beobachten, Mythen zu entzau-bern, gesellschaftliche Zusammenhänge und Hintergründe aufzude-cken, Prognosen zu wagen und Empfehlungen zu geben und, wo not-wendig, auch „Gegenfeuer zu entfachen“ (BOURDIEU 1988), macht sich nur noch mehr selbst überflüssig. Bezogen auf die Sportsoziologie hat LÜSCHEN (2005) eine sehr ernüchternde Bilanz gezogen: „Das, was im besten Sinne eine Angewandte Sportsoziologie hätte sein können und dabei ebenfalls die Methodologie Angewandter Soziologie beeinflussen hätte können, ist im Ergebnis (…) eine Sportsoziologie für Sportsoziologen geworden, die darüber hinaus nicht mehr von gro-ßem praktischen Interesse ist“ (2005, 204 nach RIGAUER 2007, 74/75).
Zu den Ursachen für die festgestellte unbefriedigende Akzeptanz der Sportwissenschaft und der Sportsoziologie gehört auch, dass sich in der Forschung und Lehre eine Beliebigkeit der gewählten Fragestel-lungen beobachten lässt. Untersucht wird, was einzelne Sportwissen-schaftler für interessant (DIGEL 2002, 4) oder medienwirksam erach-ten oder wofür sich Interessenten und Sponsoren finden. Eine syste-matische, abgestimmte, auf die Bedürfnisse und Probleme des Brei-tensports und des Schulsports orientierte Forschung gibt es nicht (GRAS/RIGAUER/ ROHRBERG 2007), und kann es meiner Auffas-sung nach auf Grund der „Länderhoheit“ auch nicht geben. Das hat auch DIGEL in seinem Beitrag kritisch angesprochen (2002, 13) wenn er feststellt: „Aus der Theorie der Leibeserziehung und des Schul-sports ist die Sportwissenschaft entstanden. Doch heute scheint es so zu sein, dass die Themen des Schulsports der Sportwissenschaft ab-handen gekommen sind.“ Interdisziplinär angelegte Untersuchungen, wie wir sie in der DDR wiederholt durchgeführt haben sind unter den Bedingungen der Konkurrenz zwischen den Institutionen und den Wis-senschaftlern kaum denkbar. Auch langfristig angelegte Untersuchun-gen nicht, wie zum Beispiel die von mir und meinen Mitarbeitern durchgeführte Längsschnittanalyse zur Entwicklung der Motivation im Schulsport von der 6. bis zur 10. Klasse, über sechs Jahre hinweg in
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den gleichen Schulklassen. Die an den Universitäten vorgenommenen Stellenkürzungen und die Besetzung mit nur kurzzeitig befristeten Stel-len im Mittelbau werden derartige Längsschnittuntersuchungen zusätz-lich kaum möglich machen.
Bei seiner Bilanzierung des Beratungsnutzens der Sportwissenschaft verweist DIGEL zunächst auf positive Beispiele aus der Biomechanik, Sportpsychologie, Sportökonomie und auch der Sportsoziologie (mit ihren Vereins- und Verbandsstudien), um dann kritisch anzumerken: „Doch neben dem Nützlichen … hat die organisierte Sportwissenschaft viel zu oft Forschungsergebnisse offeriert, die zwar auf die Praxis aus-gerichtet zu sein scheinen, von den Praktikern aber als wenig hilfreich und nützlich bezeichnet werden“ (2002, 9).
Kritisiert wird auch, dass oftmals die Praxis nur die Probanden stellt, ohne dass die Forschungsergebnisse an die Praxis zurückgemeldet werden (ebd.) oder die in den Ergebnisdarstellungen in den Medien zum Ausdruck kommende Banalität mancher sportwissenschaftlicher Forschungen beispielsweise in solchen Überschriften, wie „Kinder se-hen fern und treiben Sport“ usw. DIGEL: „Liest man diese Artikel ge-nauer, so könnte man annehmen, die Sportwissenschaft beschäftige sich mit Fragestellungen, deren Beantwortung auch am Stammtisch möglich wäre“ (2002, 7).
Und er hält es für problematisch, wenn „Befunde als neue Erkennt-nisse ausgegeben werden, über die man schon seit mehreren Jahr-zehnten verfügt“ (ebd.).
Ein weiteres Problem der Entwicklung der Sportwissenschaft, wel-ches bereits meinen zweiten Schwerpunkt betrifft, sehe ich im weitge-henden Fehlen eines öffentlichen sachlichen wissenschaftlichen Dis-kurses. Ich habe den Eindruck, dass gegenwärtig unter dem Konkur-renzdruck die eigene Profilierung manchen Sportwissenschaftlern mit-unter wichtiger erscheint, als die Kenntnisnahme des Anderen. Ein weiteres Problem bei der Entwicklung der Sportwissenschaft sehe ich im Umgang mit der Sportwissenschaft der DDR. Allein auf dem Gebiet der Sportsoziologie, wo ich das am besten einschätzen kann, könnte man anhand zahlreicher Veröffentlichungen von Kollegen aus dem
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Westen eine gegen elementare Normen wissenschaftlichen Arbeitens verstoßende Ignoranz nachweisen. Ein Beispiel: Da findet eine Exper-tenanhörung vor der Kommission „Sport“ der KMK (10.06.1999) zu dem Thema „Der sportschwache Schüler“ statt. In den Literaturver-zeichnissen der dokumentierten Beiträge der Professoren BALZ, BREHM und ERDMANN findet man, wie üblich, nicht einen Literatur-hinweis auf die in der DDR durchgeführten wissenschaftlichen Unter-suchungen. Dabei habe ich selbst bereits 1965 zu diesem Thema und über die Ursachen der Leistungsschwäche und über die Ergebnisse eines zweijährigen erfolgreichen Experiments zur Förderung leistungs-schwacher Schüler an der PH Potsdam promoviert (ROHRBERG 1965) und nachfolgend darüber wiederholt in verschiedenen Zeitschrif-ten publiziert. Was zu dieser Veranstaltung vorgetragen wurde, ging in keiner Weise über den damals bereits erzielten Erkenntnisstand zu diesem Thema hinaus. Dabei heißt es doch so schön in den vom Hauptausschuss und vom Vorstand der DVS beschlossenen „Berufs-ethischen Grundsätzen für Sportwissenschaftler/innen“: „Insbesondere sind Sportwissenschaftler/innen bei allen ihren wissenschaftlichen Vorhaben verpflichtet, den jeweiligen Forschungsstand sorgfältig und umfassend zur recherchieren und zu berücksichtigen“ (2003, 4).
2. Zur wissenschaftlichen Profilierung der Sportwissenschaft
Wenn man die Sportwissenschaft als eine angewandte Wissenschaft versteht, so wäre als erstes Kriterium ihrer Profilierung im System der Wissenschaften, wie dargelegt, deren Praxisrelevanz anzusehen. Aber als zweites, ebenso bedeutsames Kriterium ihrer Reife sollte jedoch zugleich die Herausbildung ihres eigenständigen Wissenschaftsge-bäudes bewertet werden.
Eine Vernachlässigung der Wissenschaftsentwicklung im engeren Sinne vermindert das Ansehen einer Wissenschaft im System der Wissenschaften und in der Öffentlichkeit. Das gilt zum Beispiel auch für die Akzeptanz der Sportsoziologie innerhalb der Soziologie und im öffentlichen Diskurs aktueller Fragen des Sports. Eine Vernachlässi-gung der eigenen Wissenschaftsentwicklung, also die Weiterentwick-
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lung ihrer Begriffe, Theorien und Methoden behindert außerdem eine effektive Analyse und Beratung der Praxis. Darauf wurde bereits hin-gewiesen.
Verallgemeinernde Aussagen über den Stand der Wissenschafts-entwicklung oder gar der Theoriebildung in der Sportwissenschaft zu treffen, ist insofern problematisch, als die Sportwissenschaft auch heu-te noch ein mehr oder weniger bestehendes Nebeneinander von wis-senschaftlichen Disziplinen darstellt, die sich mit verschiedenen Fra-gen des Sports beschäftigen. Für KURZ stellt dies die Frage nach der Identität der Sportwissenschaft dar, „das heißt um das, was sie im Zu-ge ihrer Entwicklung, im Wandel der Zeit als gleiche erkennen lässt und von anderen Wissenschaften unterscheidet“ (2007, 70). Und KURZ resümiert weiter: „Die Sportwissenschaft hatte (und hat bis heu-te) keinen eigenen, ihre Identität begründenden Zugang zu ihrem Ge-genstand, der sich in eigenen, einheimischen Begriffen, in spezifischen Methoden oder gar Theorien gezeigt hätte“ (ebd.).
In engem Zusammenhang mit der Identität der Sportwissenschaft sieht KURZ die Frage nach ihrer Einheit, „um das, was ihre Disziplinen und Forschungsfelder bei aller Unterschiedlichkeit so miteinander ver-bindet, das es Sinn macht, von ihr im Singular als einem kohärenten Etwas zu sprechen“ (ebd.). Auf eine eher gegenläufige „zentrifugale Bewegung“ in der Sportwissenschaft wies schon GEBAUER auf dem 10. Sportwissenschaftlichen Hochschulkongress in Oldenburg hin, in-dem er feststellte, dass die sportwissenschaftliche Forschung sich auf die Mutterwissenschaften zu bewege und im Zentrum, der sozialen Sportpraxis, so gut wie keine Theoriebildung erfolge (1993, 39). In die-sem Zusammenhang sei an die in der DDR-Sportwissenschaft in früheren Jahren veröffentlichten Überlegungen zur Struktur der Sport-wissenschaft erinnert, welche das von KURZ und GEBAUER aktuell angesprochene Problem damals bereits diskutierten. Eine integrative Rolle wurde von ihnen der „Theorie der Körperkultur“ zugewiesen (STRANAI 1962; ERBACH 1964), die sie aber nach meiner Auffas-sung in der Folgezeit nicht realisieren konnte. In der Realität muss heute eher eine anhaltende Tendenz zum Auseinanderdriften der
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Sportwissenschaft konstatiert werden, die einerseits sehr wohl im Zu-sammenhang mit der für junge Wissenschaften kennzeichnenden Ausdifferenzierung und Spezialisierung zu sehen ist, die aber auch auf wissenschaftsexterne Bedingungen zurückzuführen wäre. Eine dieser Bedingungen stellt der „Arbeitsmarkt“ dar. Kaum ein sportwissen-schaftliches Institut kann es sich heute noch leisten, wie früher aus-schließlich Sportlehrer für die Schule auszubilden. Vielmehr müssen sie um ihrer Existenz willen erweiterte Ausbildungsprofile anbieten (Sporttherapeuten, Sportmanager, Sportökonomen, Sportanimateure usw.), wodurch die Einheitlichkeit der Lehre immer mehr in Frage ge-stellt wird.
DIGEL kritisiert im genannten Beitrag zu Recht, dass gegenwärtig viel zu oft eine theorielose Forschung betrieben wird, ein „empirischer Aktivismus“ herrsche, die „Ordnungskräfte der Theorie“ nicht zum Tra-gen kämen und somit „Grundregeln des wissenschaftlichen Handelns“ verletzt würden (2002, 7). Auch RIGAUER stellt fest, dass in der Frei-zeitsportforschung eine „theorielose Empirie“ betrieben wurde (2007, 74), die infolgedessen ohne nennenswerte Erträge für die Theoriebil-dung geblieben wäre.
Viele empirische Untersuchungen beschränken sich dann auch mehr oder weniger auf bloße Zustandbeschreibungen. Mit Blick auf ähnliche Tendenzen in der Soziologie sprach KÄSSLER einmal treffend von ei-ner „bloße(n) analytische(n) Beschreibung des Wirrwarrs“ (1996, 29), eine Aussage, die auf manche Sport- und Freizeitanalysen durchaus zuzutreffen scheint.
Empirische Untersuchungen sollten also niemals ohne theoretisch fundierte Hypothesen durchgeführt werden. Die Hypothesen müssen außerdem den sorgfältig recherchierten bisherigen Erkenntnisstand zum betreffenden Untersuchungsgegenstand zum Ausgangspunkt nehmen. Das ist ein an sich normaler Standard wissenschaftlichen Ar-beitens, der aber heute in der Sportwissenschaft mitunter, ja sogar häufig gröblich missachtet wird. (An entsprechender Stelle werde ich Beispiele dafür nennen.) Denn: Keine Empirie ohne Theorie! –
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Empirische Untersuchungen ohne eine entsprechende Theorie erfol-gen blind und werden nur wenig erfolgreich sein. Schließlich entschei-den die theoretischen Voraussetzungen einer empirischen Untersu-chung auch über das Niveau der Interpretation der Untersuchungser-gebnisse. Außerdem werden erst auf dieser Basis solide Voraussagen und Empfehlungen für die Praxis möglich. So gesehen haben Theo-rien auch eine „praktische“ Bedeutung.
Wenn man über den Stand der Profilierung einer Wissenschaft und speziell über Theoriebildung nachdenken will, dann muss man sich zunächst über den Begriff „Theorie“ verständigen und zwischen Theo-riebildung im engeren und Wissenschaftsentwicklung im weiteren Sin-ne unterscheiden. Zumal der Begriff Theorie in der Sportwissenschaft oftmals unscharf gebraucht und mitunter auch volkstümlich verwendet wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn „Theorie“ als Gegenstück zur „Praxis“ gesetzt wird. Auch in der Sportwissenschaft in der DDR wurde mit dem Begriff „Theorie“ nicht immer mit gebotener Zurückhaltung und im streng wissenschaftlichen Sinne umgegangen.
Im Lexikon Soziologie (FUCHS u. a. 1988, 780) wird unter Theorie „ein System von Definitionen, Begriffen und Aussagen“ verstanden. Und als soziologische Theorie wird „ein theoretisches System, das auf einer hohen Verallgemeinerungsstufe gesellschaftliche Struktur-, Funktions- und Entwicklungszusammenhänge zu erklären vermag, in-dem es auf der Basis empirisch gesicherter Erkenntnisse, funktionale und kausale Beziehungen, Regelförmlichkeiten und Gesetzmäßigkei-ten der Strukturbildung, Funktionsweise und Entwicklungsprozesse formuliert“, gekennzeichnet (ebd., 783).
Theoretische Aussagen zum jeweiligen Gegenstandsbereich einer Wissenschaft, in unserem Falle also zum „Sport“, bilden das Kernstück des betreffenden umfassenderen Wissenschaftsgebäudes, sie stellen den höchsten Grad an erreichter wissenschaftlicher Verallgemeine-rung dar und gipfeln in der Formulierung von Gesetzmäßigkeiten, im Falle der Sportwissenschaft von regelhaften funktionalen und kausalen Zusammenhängen im Sport und im sportlichen Handeln der Menschen sowie in den Beziehungen zwischen diesen beiden Sachverhalten.
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Der für die Sportsoziologie in der DDR einstmals postulierte Anspruch, „Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung von Körperkultur und Sport“ auf-decken zu wollen (ERBACH 1965), war unter dieser Sicht ein sehr ho-her Anspruch, dem wir nur in Ansätzen gerecht werden konnten.
Theoretische Erkenntnisse können bekanntlich und auch im Rahmen der Sportwissenschaft auf zwei Wegen gewonnen werden: Erstens durch die theoretische Verdichtung und Verallgemeinerung empiri-scher Befunde, in der DDR-Sportsoziologie als der vorrangige Weg angesehen (ERBACH 1965, 960). Diese Möglichkeit der Gewinnung theoretischer Erkenntnisse wurde und wird jedoch oftmals vereinfacht betrachtet. Denn: Theoretische Aussagen können im Ergebnis empiri-scher Untersuchungen nur dann erwartet werden, wenn diese Unter-suchungen auch von vorn herein auf theoretische Fragestellungen ausgerichtet und diese in entsprechenden Hypothesen ausformuliert wurden. Als Beispiele für zielgerichtete Ansätze zu einer Theoriebil-dung im Zusammenhang mit empirischen Untersuchungen in der DDR-Sportwissenschaft könnte man die hypothetischen Vorüberle-gungen und die erzielten Aussagen über das Verhältnis von objektiven Bedingungen und individuellem Verhalten in der Sportbeteiligung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen anführen (u. a. BAUM 1965, HINSCHING/THIESS 1976, ROHRBERG 1990). Mit diesen Untersu-chungen konnten noch verbreitete biologistische Erklärungen wider-legt, vereinfachende Auffassungen über das Wesen der Bedürfnisse sowie über das Verhältnis von Bedürfnissen und Handeln korrigiert und somit Ansätze zu einer „Theorie der sportrelevanten Bedürfnisse“ erarbeitet werden.
Empirische Untersuchungen sollten auch in der Sportwissenschaft keinesfalls ohne theoretisch ausreichend untersetzte Hypothesen vor-genommen werden, sie bilden eine notwendige Voraussetzung für ei-ne wissenschaftlich anspruchsvolle Interpretation der Befunde und de-ren Ertrag für die Wissenschaftsentwicklung. Diese Hypothesen sollten selbstverständlich auch den sorgfältig recherchierten vorliegenden Er-kenntnisstand zum betreffenden Sachverhalt zum Ausgangspunkt ha-ben.
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Auch DIGEL kritisiert im angeführten Beitrag, dass gegenwärtig viel zu oft eine theorielose Forschung betrieben werde, dass ein `empiri-scher Aktivismus´ herrsche...“ (2002, 7). Gleichermaßen moniert RIGAUER, dass in der Freizeitsportforschung eine „theorielose Empi-rie“ betrieben würde (2007, 74), die infolgedessen ohne nennenswerte Erträge für die Theoriebildung geblieben wäre.
Viele empirische Untersuchungen beschränken sich außerdem mehr oder weniger auf bloße Zustandsbeschreibungen. Das bezeichnete KÄSSLER im Hinblick auf ähnliche Tendenzen in der Soziologie tref-fend als die „bloße analytische Widerspiegelung des Wirrwarrs“ (1996, 29). Eine Aussage, die auch auf manche Sport- und Freizeitanalysen durchaus zuzutreffen scheint. DIGEL kritisiert des Weiteren, dass manche empirische Untersuchungen mit ihren Ergebnissen lediglich den gegebenen Kenntnisstand der Praxis bestätigen würden oder gar wissenschaftlich banal seien. Das hat offensichtlich seine Ursachen in fehlenden oder oberflächlichen theoretischen Ausgangspositionen sol-cher Untersuchungen, kann außerdem aber auch im Zusammenhang mit dem Bemühungen gesehen werden, irgendwelchen Auftraggebern (und Finanzgebern) rasch die gewünschten empirischen Daten zur Verfügung zu stellen.
Neben der erörterten Theoriebildung auf der Basis empirischer Un-tersuchungen bildet das Bemühen um Theoriebildung durch die An-wendung von allgemeinen Theorien auf den Sachbereich „Sport“ einen zweiten, vor allem in der Sportwissenschaft der BRD beschrittenen Weg. Indem eine kritische Prüfung und Bewertung dieser „Basistheo-rien“ hinsichtlich ihrer möglichen Erklärungskraft für vertiefende oder neuartige Erklärungen von Sachverhalten, Prozessen und Zusam-menhängen im Bereich des Sports vorgenommen wird, kann dieser Weg durchaus zu Erfolgen führen.
Ein Blick auf die Entwicklung und Gegenwart der Sportwissenschaft in Deutschland zeigt, dass in der BRD die Sportwissenschaftler und Sportsoziologen bei der Bearbeitung von makrosozialen und mikroso-zialen sportwissenschaftlichen Fragestellungen je nach ihrem eigenen wissenschaftlichen Standort, manchmal auch nach der jeweiligen Ak-
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tualität einer Theorie, die verschiedensten Theorien zur Grundlage ih-rer Darlegungen gewählt haben. Eine große Vielfalt von Theorien, die von der Sportwissenschaft aufgegriffen wurden, die allein schon dadurch den Eindruck umfangreicherer theoretischer Bemühungen entstehen lässt.
Der Rückgriff auf solche unterschiedlichen Theorieansätze, kann, so-fern dieser Rückgriff auf einer wissenschaftlichen Entscheidung beruht und nicht modischen Aspekten oder gar opportunistischen Motiven folgt, wie im Falle der „Totalitarismustheorie“ (AUSTERMÜHLE), durchaus den wissenschaftlichen Meinungsstreit befördern und der Wissenschaftsentwicklung dienlich sein. Werden jedoch hinlänglich bekannte Sachverhalte aus dem Sport lediglich mit den aus diesen Theorien übernommenen Begriffen neuartig beschrieben, dann er-bringt das nach meiner Ansicht kaum neue Erkenntnisse über Zu-sammenhänge und Entwicklungen im Sport. Solche bloßen Übernah-men bilden noch keine „Theorie“, man gibt sich höchstens theoretisch! Manche dieser übernommenen Theorien, wie zum Beispiel die Indivi-dualisierungstheorie, beschreiben beobachtbare aktuelle Trends im Sport lediglich mittels der übernommenen Terminologie und Aussagen auf originale Art und Weise. Ich bin der Auffassung, dass uns die Indi-vidualisierungstheorie keine neuen Einsichten in die Entwicklungsge-setzmäßigkeiten des modernen Sports zu geben vermag, weil mittels dieser Theorie beobachtbare Tendenzen im Sport lediglich (wenn auch richtig) beschrieben werden, aber das Wesentliche der gesellschaftli-chen Veränderungen und deren Auswirkungen auf den Sport nicht er-fasst wird. Die geschilderten Trends im Freizeitsport, wie Individualisie-rung des Sporttreibens, das Streben nach Distinktion und der Hang zur Selbstdarstellung werden unkritisch als Folgen von Individualisierung in der „modernen Gesellschaft“ dargestellt, ohne diese „moderne Ge-sellschaft“ weiter zu hinterfragen und die ökonomischen und sozialen Ursachen der Vorgänge in der Gesellschaft, die mit dem schillernden Begriff „Individualisierung“ umschrieben werden, aufspüren zu wollen.
Vor einigen Jahren entdeckte nun HÄGELE (2004) auch den „Post-modernismus“ als ein „Erkenntnisprogramm, dass in der Sportwissen-
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schaft bislang keine nennenswerte Beachtung“ gefunden habe (165). In seinem Beitrag operiert er mit imponierenden Begriffen wie „Para-digma der Postmoderne“, „Komplexität und Vielschichtigkeit postmo-derner Theoreme“, „individualisierte High-Tech-Gesellschaft“ und „Epoche des Informationszeitalters“. Ohne überheblich und voreinge-nommen erscheinen zu wollen, gestatte ich mir die Frage, ob denn die heutige Gesellschaft und ihre Probleme mit solchen Begriffen wie „Postmoderne“, „High-Tech-Gesellschaft“ und Informationszeitalter“ tatsächlich analytisch ausreichend widergespiegelt werden kann, und ob solche Theorien und Begriffe nicht viel mehr das eigentliche Wesen der kapitalistischen Gesellschaft, wie es sich gegenwärtig wieder deut-lich offenbart, vernebeln, und inwiefern mit solchen Begriffen und The-orien Erscheinungen und Entwicklungen des gegenwärtigen Sports treffsicher beschrieben und erklärt werden können, sofern man das überhaupt will. Mir erscheint die Theorie von MARX mit ihren Schlüs-selbegriffen Gesellschaftsformation, Produktionsweise und Produkti-onsverhältnisse als die zu diesem Zweck besser geeignete.
In der DDR-Sportwissenschaft galt der Historische Materialismus gewollter und anerkannter Maßen als ausschließliche methodologi-sche Basis und wurde dort jeweils mit größerer oder geringerer wis-senschaftlicher Tiefe angewandt, mitunter auch nur als Banner voran-getragen. Als Beispiele für gelungene Ansätze, auf der Basis des His-torischen Materialismus eigenständige sportwissenschaftliche Theo-rieansätze zu konstruieren, möchte ich die grundlegenden sportwis-senschaftlichen Arbeiten über die Wechselwirkungen zwischen Ge-sellschaft und Sport, über die bestimmende Rolle der ökonomischen Verhältnisse, über den Zusammenhang von Sport und Arbeit, über Sport und Lebensweise, die Ansätze zur Entwicklung einer Theorie der sportlichen Tätigkeit (des Handelns), die Ansätze zu einer Theorie der sportbezogenen Bedürfnisse sowie die Erkenntnisse zum Verhältnis von Persönlichkeitsentwicklung und körperlicher Leistungsfähigkeit an-führen.
Im Zusammenhang mit der Profilierung der Sportwissenschaft er-scheint mir auch ein kritischer Blick auf das notwenig, was heute den
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Studenten der Sportwissenschaft an den einzelnen Instituten in der Lehre angeboten wird. DIGEL kritisiert diesbezüglich, dass an den sportwissenschaftlichen Instituten unter der Bezeichnung Sportwis-senschaft heute völlig unterschiedliche und oftmals abwegige Inhalte in den Vorlesungsverzeichnissen angeboten würden, darunter auch Themen, die von anderen angrenzenden Wissenschaften ebenso oder sachgerechter abgehandelt werden könnten und damit sogar die Exis-tenzberechtigung einer eigenständigen Sportwissenschaft in Frage stellen. Eine verbindliche Lehre sei, so DIGEL, offensichtlich nicht mehr konsensfähig. In der sportwissenschaftlichen Lehre könne mitt-lerweile nahezu alles gelehrt werden, was „Hochschullehrerin-nen/lehrer subjektiv als bedeutsam erachten“. DIGEL führt dazu Bei-spiele von Vorlesungsangeboten an, wie „Bildung und Bewegung“, „Bewegliche Lebendigkeit“, „Reisen mit Kindern – Reisen mit Sinnen“, „Grafik und Animation“, „Anatomie am PC und im Internet“ und der-gleichen mehr (2002, 6). Eine derartige Aufweichung des Gegenstan-des der Sportwissenschaft und Beliebigkeit der Lehre, vielleicht be-gründet mit dem Argument der Freiheit der Lehre oder einer vielseiti-gen und interessanten Ausbildung, halte ich für sehr abträglich für die Anerkennung der Sportwissenschaft innerhalb der Wissenschaften und für ihre wissenschaftliche Profilierung. Außerdem kann damit auch keine gediegene und annähernd einheitliche berufliche Vorbereitung künftiger Sportpädagogen gewährleistet werden.
Bestrebungen, den Gegenstand der Sportwissenschaft auszuweiten und aufzuweichen und diese in eine „Bewegungswissenschaft“, eine „Gesundheitswissenschaft“ oder eine „Körperwissenschaft“ umzuorien-tieren (DIGEL 2002, 5), stellen eine gegenwärtige Tendenz dar, wie sie sich in der Sportsoziologie mit der erwähnten Umbenennung der DGS-Sektion Soziologie des Sports in „Soziologie des Körpers und des Sports“ anscheinend bereits durchgesetzt hat.
Der wissenschaftlichen Profilierung der Sportwissenschaft und ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit ist nach DIGEL auch die Art der Darstel-lungen sportwissenschaftlicher Ergebnisse in den Medien, die sie mit-unter als banal erscheinen lässt, wenn in ihnen lediglich vorhandenes
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Alltagswissen bestätigt würde und diese somit auf Stammtischniveau abgleiten würden (2002, 7). Mitunter werde auch etwas als neu ver-kauft, was längst bekannt sei und lediglich unter Verwendung neuer Formulierungen und Begriffe angeboten werde (ebd., 8). Auch sinke unter dem Druck des Marktes und der Medien das wissenschaftliche Niveau der Sportwissenschaft, weil nur noch das als interessant gilt, was dem Verlangen nach Events und Sensationen nachkommt, eine Feststellung, die man anhand der Darstellung wissenschaftlicher Er-kenntnisse in TV-Sendungen nur unterstreichen kann.
Ein negatives Beispiel für den „Neuigkeitswert“ sportwissenschaftli-cher Erkenntnis und den wissenschaftlichen „Fortschritt“ in der Sport-wissenschaft sei hier angeführt: Mir liegt die Zusammenfassung des „Zweiten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts“ vor, zu wel-chem natürlich auch empirische Untersuchungsergebnisse herange-zogen wurden. Ich konnte jedoch darin gegenüber dem Erkenntnis-stand in der DDR von vor 30 Jahren keine neuen Einsichten und Er-kenntnisse feststellen. Die über Jahrzehnte gelaufenen umfassenden und international anerkannten Untersuchungen der Forschungsgruppe „Physische Entwicklung der jungen Generation“ (CRASSELT u.a. 1990) scheinen die Verfasser ebenso wenig zu kennen wie die Unter-suchungsergebnisse zur Lehrplanrealisierung und zur Lehrplangestal-tung und Lehrplanrealisierung im Schulsport aus der DDR. Oder sie vermeiden deren Erwähnung aus anderen als aus wissenschaftlichen Gründen. In beiden Fällen ist das aber kein Zeugnis für gediegenes wissenschaftliches Arbeiten und ein Verstoß gegen die erwähnten „Ethischen Grundsätze“.
Versuch einer Zusammenfassung
1. Kritische Beobachter der gegenwärtigen Situation der Sportwis-senschaft in Deutschland konstatieren übereinstimmend ein Ausei-nanderdriften ihrer speziellen Disziplinen und Lehr- und Forschungs-themen und damit eine Erosion ihrer Einheitlichkeit. Der beobachtete Verlust an Einheit und Identität der Sportwissenschaft wird sowohl auf wissenschaftsinterne Ursachen (normale Tendenz zur Ausdifferenzie-rung und Spezialisierung einer Wissenschaft) als auch auf für diese
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Gesellschaft typische wissenschaftsfremde Ursachen zurückgeführt (Spezialisierung der Ausbildungsprofile nach Arbeitsmarktinteressen, Konkurrenz zwischen den Hochschulinstituten um Studenten, ökono-mische Zwänge zur Beschaffung von „Drittmitteln“).
2. Im Zusammenhang mit der Erosion der Einheitlichkeit wird auch ein Verlust an Identität der Sportwissenschaft festgestellt, es existieren zunehmende Verunsicherungen bezüglich des spezifischen Gegen-standes der Sportwissenschaft und darüber, was eigentlich zur Sport-wissenschaft gerechnet werden kann, und was nicht dazu gehört und worin ihr einigendes Kernstück, die erforderliche theoretische Klammer bestehen könnte, die sie als eigenständige Wissenschaft unter den Wissenschaften erkennen ließe.
3. Die Beziehung zwischen Sportwissenschaft und Sportpraxis wird nach wie vor als nicht zufrieden stellend beurteilt. Die Gründe hierfür werden sowohl auf der Seite der Praxis (Unterschätzung wissenschaft-licher Beratung, Orientierung auf unmittelbar anwendbares Wissen, Vorbehalte gegenüber sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen) als auch bei der Sportwissenschaft selbst gesehen (unzureichende Aktua-lität und Praktikabilität der Erkenntnisse, eine oft unverständliche Sprache, Bereitstellung von nur scheinbar neuen Erkenntnissen). Der Hinwendung zu Praxisfeldern wie Schul- und Vereinssport fehlt es an Systematik, Langfristigkeit und Koordinierung. Ein theoretisch begrün-detes Konzept der Breitensportentwicklung konnte trotz zahlreicher empirischer Untersuchungen zu diesem Bereich bisher nicht erarbeitet werden.
4. Die Lehrangebote an den sportwissenschaftlichen Instituten sind auf Grund der genannten Bedingungen außerordentlich uneinheitlich, oft von individuellen Forschungsinteressen der Hochschullehrer be-stimmt und beinhalten mitunter auch sehr randständige Themenange-bote, so dass sich die Frage aufdrängt, was gegenwärtig eigentlich an den Hochschulinstituten unter dem Label „Sportwissenschaft“ alles angeboten wird. Eine annähernd einheitliche Ausbildung und Berufs-vorbereitung (ein für alle verbindliches „Kerncurriculum“) der Studen-ten der Sportwissenschaft kann damit kaum gewährleistet werden. Als
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geeignete Ansatzpunkte für ein solches Kerncurriculum in der Ausbil-dung würden sich nach meiner Ansicht (in Anlehnung an frühere Ent-würfe in der DDR-Sportwissenschaft) eigentlich die genuin als sport-wissenschaftliche Wissenschaftsdisziplinen entstandene, nicht primär aus anderen Wissenschaften abgeleitete „Theorie und Methodik der Körpererziehung“ und die „Trainingslehre“ anbieten, die zu einer kom-plexen integrativen Wissenschaft des Schulsports beziehungsweise Wissenschaft des sportlichen Trainings ausgebaut werden könnten, und, indem sie die Erkenntnisse vieler bisher selbständiger „Binde-strich-Disziplinen“ integrieren, die Anzahl der angebotenen Lehrdiszip-linen reduzieren könnten und die Integration der Einzelerkenntnisse nicht mehr wie bisher den Studenten überlassen würden.
5. Mehrfach wird festgestellt, dass unter den Ergebnisdarstellungen der empirischen Forschung die Zustands- und Trendbeschreibungen dominieren, dagegen aufklärende und intervenierende Texte marginal wären. Die theoretischen Voraussetzungen vieler empirischer Unter-suchungen und der dementsprechende Ertrag für die Wissenschafts-entwicklung werden als unzureichend eingeschätzt („theorieloser Em-pirismus“). Neben vorhandenen positiven Beispielen für praxiswirksa-me Untersuchungen stehen auch selbstgenügsame, die Praxis für ihre Forschungsinteressen nur benutzende Analysen ohne tatsächliche Praxiswirksamkeit. Die Wahl der Forschungsthemen erfolgt ohne Sys-tematik, Langfristigkeit und Koordination, folgt oft den individuellen Forschungsinteressen oder ist von finanzierten Projekten bestimmter Auftraggeber abhängig.
6. Von verschiedenen Autoren wird resümiert, dass mittels der von Sportwissenschaftlern aufgegriffenen und auf den Sport angewandten externen Theorien, mit der Übernahme von Begriffen und Thesen die-ser „Basistheorien“, nicht unbedingt neuartige Sichtweisen auf das Phänomen „Sport“ und originelle Erklärungen für die Sportentwicklung eröffnet werden. Mannigfaltigkeit der explizierten „Basistheorien“ er-weckt zwar den Eindruck intensiver theoretischer Arbeit, hat jedoch zur Erarbeitung einer umfassenden Theorie des Sports wenig beigetragen. Auf der einen Seite wird bemängelt, dass der sozial- und kulturwissen-
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schaftliche Diskurs zu Problemen des modernen Sports marginal sei, auf der anderen Seite wird von kritischen Beobachtern eine gegenläu-fige Tendenz zur Umorientierung der Sportwissenschaft auf die Schwerpunkte „Körper“, „Bewegung“ und „Gesundheit“ festgestellt, auch in der Sportsoziologie, die eigentlich als die allgemeine sozial-wissenschaftliche Theorie des Sports fungieren sollte.
Schlussbemerkungen
DIGEL formuliert am Schluss seiner kritischen „Beobachtungen und Urteile“ zum Stand und zu Defiziten der Sportwissenschaft einige Empfehlungen für die künftige Entwicklung der Sportwissenschaft in Deutschland.
So sollte nach seiner Auffassung über den Weg der Stärkung der DVS eine nationale sportwissenschaftliche Institution geschaffen wer-den, die sich ähnlich wie das BISp mit dem Leistungssport, mit den Bereichen Breitensport und Schulsport befassen sollte. Gewiss wäre eine solche Institution, die wissenschaftliche Untersuchungen zum Schulsport, zum Breitensport und zum Behindertensport koordiniert und fördert, angesichts der föderalistischen Zersplitterung des Schul-wesens in Deutschland nutzbringend. Aber dass im anderen Teil Deutschlands solche Institutionen erfolgreich tätig waren, sagt er nicht.
In der DDR gab es bekanntlich eine überinstitutionelle Forschungs-kooperation „Schulsportforschung“ unter Regie der Akademie der Pä-dagogischen Wissenschaften (APW) / Arbeitsstelle Körpererziehung, von der systematische Untersuchungen zum Schulsport und zur Lehr-planentwicklung geleitet und koordiniert wurden.
DIGEL tritt des Weiteren für eine moralische Rückbesinnung auf die ursprünglichen ethischen Werte und Normen des Sports ein, er nennt es eine notwendige „Rückbesinnung auf das Religiöse“ in unserer „postsäkularen Gesellschaft“ (2002,13/14) und verweist in diesem Zu-sammenhang zu Recht kritisch auf Erscheinungen im Sport, wie Re-kordsucht, Gewaltausschreitungen und Dopingbetrug. Hinsichtlich der Wirksamkeit dieses begrüßenswerten Appells ist allerdings angesichts dessen, dass sich der Sport heute fest im Griff des „Marktes“, der
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skandalsüchtigen Medien und der Politik befindet, Skepsis geboten, wie DIGEL selbst einräumt.
Auch KURZ gibt im Ergebnis seiner Einschätzungen Empfehlungen für die Stärkung der Identität und Einheit der Sportwissenschaft. Dazu hält er eine Rückbesinnung auf die ursprünglich konstituierende Be-deutung des Schulsports und der Lehrerbildung für die Sportwissen-schaft für angebracht. Außerdem sollte sich die Sportwissenschaft stärker im organisierten Sport engagieren und einmischen und „die großen Fragen der Sportentwicklung“ wissenschaftlich begleiten. Für die Hochschulinstitute und die Sportlerherausbildung fordert er ange-sichts der Ausdifferenzierung und Spezialisierung ein „Kern-Curriculum“ (2007, 76). Bei der Stärkung der Identität und Einheit der Sportwissenschaft sollten schließlich auch die Zeitschrift „Sportwis-senschaft“ durch mehr integrative Beiträge beitragen, sowie auch die sportwissenschaftlichen Tagungen und Kongresse (ebd., 77). Auch hinsichtlich des Wirksamwerdens dieser sachlich begründeten Schlussfolgerungen und Empfehlungen von KURZ bin ich nicht sehr optimistisch.
Für uns Sportwissenschaftler aus der besiegten DDR bleibt eigent-lich nur als Anliegen, die Sportentwicklung in Deutschland kritisch zu beobachten und zu bewerten und uns dort, wo es angebracht und möglich ist, im Interesse der wissenschaftlichen Wahrheit und Aufrich-tigkeit zu Wort zu melden. An Empfehlungen von uns ist erfahrungs-gemäß niemand interessiert.
Literatur
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DEUTSCHE VEREINIGUNG für SPORTWISSENSCHAFT: Ethische Grundsätze für Sportwis-senschaftler/innen. dvs-Informationen 18 (2003) 1, Beilage.
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DAS GRAB SEELENBINDERS
Der folgende Beitrag, geschrieben von Klaus Ullrich, erschien am 15. August 1966 in „Neues Deutschland“
Letzte Woche waren: es gerade dreißig Jahre her, da in Berlin die XI. Olympischen Sommerspiele mit lautem Pomp gefeiert wurden. Glanz-volles Zeremoniell und eine tadellos funktionierende Monstre-Organisation waren zu einer bunt schillernden Decke verwoben, die über die ersten schon ausgehobenen Schützengräben gespannt, den gefährlichsten Mißbrauch des olympischen Völkerfestes in der Ge-schichte verbergen sollte. Niemand bestreitet das heute mehr. Der grausame Krieg, die Konzentrationslager, der Mord an Millionen wur-den zu furchtbaren, unwiderlegbaren Beweisen.
Unter den Olympioniken, die Deutschlands unseliges Hakenkreuz in diesen Spielen vertraten, waren viele, die später auf den Schlachtfel-dern ihr Leben verloren, einige, die damals schon die Gefahr herauf-ziehen sahen, und wenige, die, gegen diese Gefahr antraten. Einer hieß Werner Seelenbinder.
Dieser Berliner Arbeiterjunge hatte sich zu einem der besten deut-schen Halbschwergewichtsringer hinaufgerungen, und welchen Ruf er international, genoss, wird allein durch die Tatsache bewiesen, dass die Herren der Berliner Spiele ihn nominierten, obwohl er 1933 zur Siegerehrung der deutschen Meisterschaften den Arm zum Gruß an den „Führer“ nicht erhoben hatte - als einziger.
Werner Seelenbinder, der auch in Europa nur wenige Gegner zu fürchten hatte, zauderte lange, ob er den deutschen Olympia-Dress anziehen sollte. Einer seiner besten Freunde saß als Zeitnehmer an der Matte in der Deutschlandhalle, als er seinen ersten Kampf bestritt. Es war ein enttäuschender Kampf. Der Lette, Bietags drückte sieben Minuten nach dem ersten Gong Seelenbinders Brücke ein und durfte sich seitdem rühmen, zu jener Handvoll Ringer zu zählen, denen das je gelang.
Mit den Verlustpunkten einer Schulterniederlage waren seine Chan-
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cen fast bis: auf den Nullpunkt gesunken. Jener Zeitnehmer-Freund folgte dem Geschlagenen in die Kabine. Er fand einen Olympiakämp-fer; der weniger am Gegner, als am eigenen Gewissen gescheitert, war.
„Wer glaubt mir, dass ich mich nicht habe kaufen, lassen?“ fragte er erregt. „Wie kann ich denen beweisen, die meine politische Entwick-lung kennen, dass ich mit dem faschistischen Deutschland nichts zu-tun habe und, dass ich: das andere, bessere Deutschland vertrete? Wenn, ich daran denke, dass unsere besten Freunde in den Zucht-häusern und Konzentrationslagern leiden, dann wirst du verstehen, dass ich die Nerven verloren habe. Als ich in der Brücke lag, hatte ich nur noch den einen Wunsch, mich hinzulegen!“
Die Freunde, rieten ihm weiterzukämpfen und so vielleicht die Sie-gerehrung zu einer Demonstration gegen das verhasste Hakenkreuz werden zu lassen.
Seelenbinder erschien zum zweiten Kampf wie verwandelt. Den Schweizer Argast warf er nach drei Minuten, gegen den Österreicher Foidl errang er nach 35 Sekunden den schnellsten Schultersieg des olympischen Turniers. Die beiden Schultersiege hatten ihn trotz der Niederlage wieder in den Kreis der Favoriten zurückkehren lassen. Er musste zum Kampf um eine Medaille gegen den Schweden Cadier an-treten. Der gewann knapp und wurde damit Olympiasieger, Seelenbin-der musste sich mit Rang vier begnügen.
Am 4. Februar 1942 wurde er in dunkler Frühe verhaftet, vier Mann hämmerten gegen seine Tür.
Am 5. September 1944 forderte ein Sondergerichtsstaatsanwalt na-mens Wittmann die Richter auf, sich „diesen Kopf, anzusehen, die Stirn, die Augen. Das ist der Staatsfeind Nr. 1“.
Gefesselt wurde er in seine Zelle zurückgeschleppt. Am 24. Oktober 1944 wurde er durch das Fallbeil hingerichtet. Eine Stunde bevor die Mörder dieses Leben auslöschten, schrieb er seinen letzten Brief: „Ich weiß, dass ich in Euren Herzen und dem vieler Sportkameraden einen Platz gefunden habe, den ich immer darin behaupten werde. Dieses Bewusstsein macht mich stolz und stark und wird mich in der letzten
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Stunde nicht schwächer finden. Also, lebt wohl. Ich weiß, ihr werdet mich nicht vergessen!“
Die letzten Worte, eines Helden, eines wahren Olympioniken.
Vor dreißig Jahren stand er auf der olympischen Matte. Jetzt eben rüstet man in der Bundesrepublik zu neuen Olympischen Spielen. In welchem Zeichen werden sie stehen? Auch im Zeichen Seelenbinders, der ein prächtiger Sportler, aber auch ein so tapferer Kämpfer für den Frieden war?
Wo ist die letzte Ruhestätte dieses Vorbildes einer ganzen Generati-on? Ich machte mich auf den Weg, sie zu suchen.
Weiß man in Westberlin überhaupt, wo seine Asche ruht?
Ich rief beim Sportverband Berlin e. V. (Telefonnummer 8879171) an und trug meine Frage vor. Eine freundliche Stimme beschied mich, zu warten. Dann die Antwort, die die Stimme verschlug: „Da müssen Sie mal beim Leichtathletikverband anrufen!“ Und nach einer kurzen Pau-se: „Oder beim Athletenverband, die haben kein Telefon, wir wissen es jedenfalls nicht.“
Ich wählte die Nummer 329532, den „Informationspavillon des Ver-kehrsamtes Berlin“. Hier werden alle Touristen beraten, hier weiß man alles über Westberlin - behauptet ein Werbespruch.
Der Name Seelenbinder war der Frau am anderen Ende Begriff. Vom Grab aber wußte sie nichts. Gehört hatte sie irgendwann, dass da jenseits der Mauer etwas war „In Westberlin ein Grab? Sicher nicht. In Ostberlin ist doch auch die Seelenbinder-Halle. Erkundigen Sie sich dort mal. Da wird auch das Grab sein!“
Blieb noch das dem Senat direkt unterstehende „Informationszent-rum Berlin“. Die Telefonistin: „Ich weiß das leider nicht, aber ich ver-binde Sie mal mit Herrn von Schröter.“
Ich wartete auf Herrn von Schröter, der sich auch bald meldete. Wörtlich seine Antwort: „Grab von Werner Seelenbinder? Das einzige, was ich kenne, ist die Seelenbinder-Halle in Ostberlin. Sonst weiß ich nichts.“
Offen blieb die Frage, ob der Senatsbeamte tatsächlich ahnungslos war oder seine Unwissenheit vorschützte.
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Werner Seelenbinders Urne war am 30. Juli 1945 als Höhepunkt des ersten großen Sportfests nach der Befreiung am Eingang zum Neu-köllner Stadion feierlich beigesetzt worden. Zur gleichen Stunde war das Stadion in Werner-Seelenbinder-Kampfbahn umbenannt worden. Und es war beschlossen worden, über der letzten Ruhestätte des Un-vergessenen ein Mahnmal zu errichten.
Das Denkmal entstand nie. Im Gegenteil. Im September 1949 be-schloss das Neuköllner Bezirksamt, der Arena wieder den Namen „Stadion Neukölln“ zu geben. Zwölf Monate später war es Seelenbin-dern Freunden schon nicht mehr möglich, seines Todestages zu ge-denken: Die Westberliner Polizei hatte alle Zufahrtsstraßen abge-sperrt, die wenigen, die sich über Hinterhöfe durchschlugen, wurden mit Gewalt davongetrieben, dem greisen Vater verwehrte man sogar, seinen Strauß niederzulegen.
Und heute? Nichts verriet die Stelle des Seelenbindergrabes. Ich fragte Passanten auf der Straße.
„Das Grab Seelenbinders? Nie gehört. Die Friedhöfe sind in der an-deren Richtung. Ja dort entlang.“
„Wie bitte soll der heißen? Nee!“
„Hier ist niemand, begraben!“'
Ein Platzarbeiter im Neuköllner Eisstadion erinnerte sich: „Dort drü-ben hinter dem Zaun ist ein Stein. Aber das ist nicht sein Grab. Und da kann man auch nicht hin.“
„Warum nicht?“
„Da muss aufgeschlossen werden. Den Schlüssel habe ich nicht.“
Schließlich konnte ich ihn überreden, mich wenigstens auf den Vor-platz zu lassen und einen Blick über den Zaun zu werfen. Ich kletterte auf einen verrosteten Fahrradständer. Zwischen den Hecken sah ich eine Kante des Grabsteins.
„Aber fotografieren dürfen Sie nicht, auf keinen Fall!“
„Warum nicht?“
„Ich bin doch auch nur ein kleiner Mann hier. Da müssten wir erst te-lefonieren. Ich darf Ihnen das nicht erlauben.“
Werner Seelenbinder war 22 Jahre zuvor hingerichtet worden, als
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Antifaschist. „Sehen Sie dieses Gesicht“, hatte der Staatsanwalt ge-keift, als er das Urteil beantragte.
Heute darf man sein Grab nicht einmal fotografieren. Ein Grab hinter Zaun und Gebüsch, ein Grab, dem man sich nur nähern darf, wenn ein Schlüssel beantragt und bewilligt wird.
„Da müßten Sie noch mal wiederkommen! Und erst muss ich über-haupt telefonieren.“
Der ,,kleine Mann“ rief in seiner Not eine Frau Ringewald im Bezirk-samt an. Sie wusste auch nicht, wo der Schlüssel war, hatte aber nichts dagegen, daß jemand das Grab besichtigte.
Zwei Tage später ein anderes Gesicht im Eisstadion.
„Ihr Kollege nicht da?“
„Welcher Kollege?“
„Er wollte mir das Grab aufschließen.“
„Es ist offen. Ich habe davon gehört, daß Sie kommen wollten und habe es heute früh aufgeschlossen.“
Der freundlich tuende Mann, der vielleicht beweisen sollte, das See-lenbinders letzte Ruhestätte doch nicht ständig hinter Schloss und Riegel war, hatte sich geirrt. Die Tür war wieder verschlossen. Er musste sie noch einmal öffnen.
Das Grab war nicht mehr so verwahrlost wie vor Jahren und man-ches änderte sich auch. Wenn sein Geburtstag oder sein Todestag näher rückten, rief die VVN beim Neuköllner Bezirksamt an. Dann wurde die Tür geöffnet. Zweimal im Jahr eine Stunde!
„Ich weiß, Ihr werdet mich nicht vergessen!“ hatte Werner Seelen-binder in seiner letzten Stunde geschrieben. Er wurde nicht vergessen. In der DDR! Alljährlich treffen sich die Ringer zum großen Gedenktur-nier, viele Straßen und die Glocke im Leipziger Stadion tragen seinen Namen, und selbst der Senatsbeamte Schröter kannte den Namen der Werner-Seelenbinder-Halle.
Vor dreißig Jahren rang er bei den Olympischen Spielen, vor 22 Jah-ren starb er auf dem Schafott, heute war er ein in Westberlin vorsätz-lich „Vergessener“, hinter Zaun, Hecke und Riegelschloss.“
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EHRUNG
Der folgende Beitrag erschien am 18. August 1986 in der „Frankfurter Rundschau“
77 deutsche Medaillengewinner der Olympischen Spiele 1936 neh-men an einem vom Nationalen Olympischen Komitee (NOK) für Deutschland organisierten Wiedersehenstreffen teil. … Als „lieben Kamerad und einen der größten Ringer in der Geschichte Deutsch-lands“ ehrte Daume den Olympia-Vierten Werner Seelenbinder an sei-ner Grabstätte im Stadion Neukölln. Daume: „Ich habe ihn als fröhli-chen Menschen und als großen Idealisten kennengelernt.” Seelenbin-der war als antifaschistischer Widerstandskämpfer im Oktober 1944 im Zuchthaus Brandenburg von den Nazis ermordet worden.
Rehabilitierung
Der folgende Artikel-Auszug von Joachim Fiebelkorn (†) ist den „Beiträgen“ Nr. 19 entnommen
Im Neuköllner Stadion an der Oderstraße fand am 2. August 2004 anläßlich des 100. Geburtstages von Seelenbinder eine Veranstaltung statt, an der führende Frauen und Männer der Verwaltung des Stadt-bezirks, des Landessportbundes Berlin und des Berliner Ringer-Ver-bandes teilnahmen. Unter anderem sprach die stellvertretende Be-zirksbürgermeisterin Stefanie Vogelsang (CDU) Worte ehrenden Ge-denkens. Auch der Sohn von Erich Rochler, eines Sport- und Kampfgefährten Seelenbinders, dessen Schweigen unter der Folter Erich Rochler wahrscheinlich das Leben rettete, ergriff das Wort. Er begann mit der bitteren Bemerkung, daß es schön sei, nunmehr zum Grabe Seelenbinders gehen zu können, ohne von Polizisten mit Poli-zei-Hunden eskortiert zu werden. Diese Zeit ist hoffentlich für immer vorbei. Während jener Veranstaltung erklärte jedenfalls Frau Vogel-sang, dass dieses Stadion künftig wieder den Namen Werner Seelen-
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binders tragen und die Umbenennung am 24. Oktober vorgenommen werden solle. Inzwischen hat das Bezirksamt Neukölln beschlossen, in einer offiziellen Feierstunde am 24. Oktober die Umbenennung vorzu-nehmen. Damit – so die „Berliner Zeitung“ in ihren Bezirksnachrichten bezugnehmend auf Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) – „wah-re der Bezirk das Andenken vieler tausend Menschen, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben lassen mussten...“
Nachzutragen wäre noch, daß die Berliner Organisation der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) ihre dritte Friedenstour am 5. September 2004 unter dem Motto „Werner Seelenbinder – Widerstand in Berlin“ durchführte. Die über etwa 25 Kilometer führende Radtour führte vom Glockenturm am Olympiastadion quer durch Berlin zum Grab von Seelenbinder am Stadion Neukölln und warb für die Rück-benennung dieses Stadions.
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Über die „Zählweise“ von Turnfesten
Von KLAUS HUHN
Das Lied „Turner auf zum Streite” ist älter als 160 Jahre, noch heute beliebt und wird niemanden vermuten lassen, dass Streit - neben dem Turnen - der Turner liebstes Anliegen sei. Jetzt indes ist ein Streit auf-gekommen, der den unter Turnern gewohnten Stil vermissen lässt. Und dabei geht es nur um simple Zahlen.
Dass 1860 in Coburg das 1. „deutsche Turnfest“ stattfand, bestreitet niemand, auch dass das 2. ein Jahr später in Berlin gefeiert wurde, wird ebenso wenig geleugnet, wie die Tatsache, dass in Leipzig das 3. ausgerichtet wurde. Hansgeorg Kling (Kassel), derzeit Präsident der Jahn-Gesellschaft hatte in der 28. Ausgabe des „Jahn-Reports“ (Mai 2009) einen Artikel überschrieben „Die bisherigen 30 Deutschen Turn-feste“, dem eine Liste folgen lassen, der 32 Feste aufführte, zwei da-von (1938 Breslau, 1948 Frankfurt) allerdings in Klammern gesetzt. Al-lerdings: Die Turn- und Sportfeste der DDR fehlten völlig.
Die Nachkriegspassage seine Betrachtung hatte er mit den Worten eingeleitet: „Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Deutschen Turnfeste durchaus ihre politische Funktion: Turnende aus der neu gegründeten Bundesrepublik zusammenzuführen. So hatte Hamburg 1953 einen hohen Erlebniswert. Wichtig war uns aber auch: die Tei-lung Deutschlands bewusster zu machen, vor allem 1968 in Berlin. Berlin war es auch, das 1987 die größte Teilnehmerzahl eines Nach-kriegs-Turnfestes aktivierte: 120.000.“ Aufschlussreich der Hinweis da-rauf, dass die Feste „die Teilung Deutschlands bewusster machen“ sollten. Auf eine Deutung dieser These verzichtete Kling.
Danach wandte er sich seiner „Neuordnung“ seiner Zählweise zu: „Umstritten ist die Zählung der Deutschen Turnfeste: Gehören die ATSB-Feste 1922 Leipzig und 1929 Nürnberg dazu? Wir meinen: ja.“
„Wir meinen“? Der Mann aus Kassel verzichtete auch in diesem Fall auf klare Turnerworte: Wer verbirgt sich hinter dem „wir“
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Kling auf dem Weg zu seinen Klammern: „War 1938 Breslau noch ein Fest der Deutschen Turnerschaft? Soweit wir sehen: nein. Soll Frankfurt 1948 offiziell als Deutsches Turnfest gezählt werden? Wohl kaum.“
Warum? Keine Antwort, keine Erklärung, schlicht eine Order! Und dann das Urteil über die DDR-Feste: „Wie geht man mit den Veranstal-tungen der DDR um? Kann man die acht Deutschen Turn- und Sport-feste des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR, die zwischen 1954 und 1987 in Leipzig stattfanden, zu den Deutschen Turnfesten rechnen? Nach weit verbreiteter Einschätzung aus ver-schiedensten Gründen: nein.“
Muss der Präsident der Jahn-Gesellschaft die „weit verbreitete Ein-schätzung“ offenbaren? Keineswegs. Muss er die „verschiedensten Gründe“ wenigstens mitteilen? Nein!
Immerhin fügte er seinem Beitrag die Liste der 30 deutschen Turn-feste an, die von nun an gelten soll. Sie beginnt mit dem Turnfest 1860 in Coburg und führt über Berlin (1861), Leipzig (1863), Bonn (1872), Frankfurt (1880), Dresden (1885), München (1889), Breslau (1894), Hamburg (1898), Nürnberg (1903), Frankfurt (1908), Leipzig (1913), Leipzig (1922/ATSB), München (1923), Köln (1928), Nürnberg (1929/ATSB), Stuttgart (1933), [Breslau (1938)]1), [Frankfurt (1948], Hamburg (1953), München (1958), Essen (1963), Berlin2) (1969), Stuttgart (1973), Hannover (1978), Frankfurt (1983), Berlin3) (1987), Dortmund/Bochum (1990), Hamburg (1994), München (1998), Leipzig (2002), Berlin (2005) 1) Es handelte sich um eine Veranstaltung des Nationalsozialistischen Fach-amtes Turnen. 2) + 3) (gemeint war Berlin-West)
Diese Liste beseitigt alle Zweifel über die Zählweise des Herrn Kling. Beim 87. Jahn-Turnfest am 21. August 2009 erwies sich allerdings, dass Kling nicht ungeteilten Beifall fand. Der Landesturnverband Sachsen-Anhalt teilte mit: „Mitglieder aus den neuen Bundesländern beklagten die Nichtanerkennung der Turn- und Sportfeste des DTSB der DDR als Deutsche Turnfeste und sahen darin eine Zurücksetzung ihres Engagements für die Sache des Turnens in der DDR. Hansgeorg Kling bedauerte sehr, dass er mit seinem
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ger Teilnehmer an den DDR-Turnfesten verletzt habe.“ „Geklärt“ wurde das Problem, in dem ein gewisser Steins empfahl, auf eine „additive Zählung“ zu verzichten, was Zustimmung gefunden haben soll. Wie diese Zustimmung herausgefunden wurde, teilte man nicht mit. Fazit: Künftig sollen Sportfeste von DTB, DT, ATSB und DTSB getrennt ge-zählt werden!
Die Redaktion der „Beiträge“ hielt es für angeraten, Auszüge eines Vortrags Günther Wonnebergers zu publizieren, den der über das Sportfest 1949 bereits 1994 auf einer Zusammenkunft des DVS gehal-ten hatte, auf der auch das Thema der Zählweise erörtert worden war.
Das Sportfest der Jugend 1949
VON GÜNTHER WONNEBERGER
Meine Ausführungen1) stützen sich auf frühere eigene For-schungsarbeiten im Rahmen der DHfK Leipzig, und auf eigene Zeit-zeugenschaft als aktiver Leichtathlet bzw. interessierter Zuschauer bei verschiedenen Veranstaltungen des Festes sowie auf neuerliche Re-cherchen.
1. Zum Festgeschehen selbst
Die damals gebrauchte Bezeichnung „Sportfest der Jugend“ war irre-führend. Sie ergab sich aus dem Sachverhalt, daß es im Rahmen ei-nes Pfingsttreffens und in zeitlicher Verbindung mit dem III. Parlament der FDJ stattfinden sollte. In Wirklichkeit war es ein von aktiven Tur-nern und Sportlern aller Altersgruppen und vieler Sparten der Demo-kratischen Sportbewegung (der SBZ) veranstaltetes Turn- und Sport-fest, das sowohl die anwesenden Teilnehmer des Jugendtreffens als auch die Bevölkerung im allgemeinen ansprechen sollte und auch an-sprach.
Das Gesamtprogramm des Sportfestes trug die Handschrift des 1. technischen Leiters des DS, Robert Riedel, der seine Vorstellungen einbrachte, die sich aus seinem Wirken in der deutschen und internati-onalen Arbeitersportbewegung vor 1933 und seinen Erfahrungen beim
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im FDJ-Sport des Jahres 1948 ergeben. Die Tatsache, daß Robert Riedel Im April 1949, also kurz vor dem Pfingsttreffen, die SBZ verließ, ändert an dieser Feststellung nichts. Unter dem neuen technischen Leiter des DS, dem Westberliner Rudi Rothkamm, wurde Riedels Kon-zeption konsequent realisiert.
Darin entsprach vieles bekannten Elementen deutscher Turnfesttra-ditionen. Auf verschiedenen Leipziger Sportplätzen waren Möglichkei-ten eigener sportlicher Betätigung für Teilnehmer und Besucher gege-ben. Annähernd 20.000 Sportler nahmen in eigenen Blöcken an den Festzügen teil, die am Pfingstsonntag aus den Stadtteilen zur großen Kundgebung ins Leipziger Zentrum zogen. Und am Pfingstmontag ze-lebrierten große Sportdelegationen aus den fünf Ländern der SBZ und Berlins einen feierlichen Einmarsch ins Stadion zur abschließenden Großveranstaltung des Sportfestes.
Im Laufe der Pfingsttage wurden Wettkämpfe und Vorführungen in vielen Sportarten, so im Turnen, Schwimmen, Handball, Fußball, Rad-sport, Tennis, Boxen, Ringen, Gewichtheber und Leichtathletik sowie Rudern durchgeführt. Großen Zuspruch fand eine „Sportschau“ in der damals neuen Messehalle 21. „In dreistündigem Programm boten die Spitzenkönner der Ostzone einen bunten Querschnitt durch des um-fassende Gebiet der Leibesübungen, bei dem sich besonders die Mus-terriege der Turner im Schauturnen an den Geräten begeisterter Beifall holte. Als Meister ihres Faches zeigten sich Pagel (Leipzig), Buch-mann (Halle), Tetzner (Altenburg), Nonnast (Halberstadt), Alfred Müller (Leuna), Lorenz (Berlin), Boll (Berlin), Schichtholz (Leipzig), Limburg (Ruhla)...“2)
Den sportlicher Höhepunkt bildete die Großverantaltung im Bruno-Plache-Stadion3) in Leipzig-Probstheida mit dem Einzug der Sportler-Delegationen, einer Begrüßungsansprache Erich Honeckers, des vom III. Parlament der FDJ wiedergewählten Vorsitzenden der FDJ, leicht-athletischen Staffelwettkämpfen und einem Fußballspiel der sächsi-schen Landesauswahl gegen eine von Helmut Schön trainierte Zonen-Auswahl, das letztere mit 1:0 gewann.
Besonderen Eindruck bei den 25.000 Zuschauern, die Tribüne und
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Wälle des Stadions dichtgedrängt füllten, hinterließen die Massen-übungen mehrerer großer Übungsverbände.
Erstmalig nach 1945 waren in der SBZ derartige Massenvorführun-gen vorbereitet worden, Die Gesamtleitung lag in den Händen des früheren Arbeitersportlers Erich Riedeberger (Leipzig).
Der Berichterstatter der Zeitung „Deutsches Sportecho“ gab die Stimmung, die im Stadion herrschte, mit folgenden Worten wieder: „Noch ehe der große Festzug seinen Einmarsch gehalten hatte, tum-melten sich die `Jungen Pioniere´ auf der grünen Rasenfläche, in leichter, luftiger Bekleidung, ungezwungen, natürlich. Den Reigen der Ländervorführungen eröffnen die Zonenübungen der männlichen Ju-gend. Zu drei großen Blocks haben sie sich formiert. Das Übungsgerät für jeden ist ein Ziegelstein, Material und Symbol des Aufbaus; Schwünge, Bewegungen und Musikuntermalung unterstreichen den Rhythmus der Arbeit, Wieder wechselt die Szenerie: Die Volkspolizei marschiert auf, kräftige, braungebrannte Gestalten. …Jedes Land hat seine besondere Eigenart, seine charakteristischen Übungsformen. Es ist schwer und es wäre ungerecht, gewissermaßen `Zensuren´ für die einzelnen Landesvorführungen zu verteilen, Jede Gruppe gab ihr Bes-tes... aber Mecklenburgs Sportler und Sportlerinnen hatten die Herzen im Flug erobert, Was sie mit den feinsten Mitteln künstlerischer Dar-stellung erreichten, war einfach wunderbar. Wie der Bauer am Boden liegt, wie er sich duckt unter der Arbeitsfron, wie er sich schließlich auf-richtet, seiner Fesseln ledig, wie er arbeitet und wie er seine Feste fei-ert, des alles stand auf so hohem tänzerischen Niveau, das verriet so viel vorbereitende Arbeit, soviel liebevolles Mühen um jedes Detail. …Den Beschluß des bunten Reigens der Vorführungen machen die Mädchen mit ihren Zonenübungen; fast 2.000 stehen auf dem Rasen, lebendige Farbtupfen, die sich im Kreise drehen, und wenn sie ihre ro-ten Tücher schwenken, dann ist es wie ein Windstoß, der durch ein Mohnfeld fährt…“4)
2. Worin bestand die Vorläuferrolle des Festes von 1949?
2.1. Im Gegensatz zu vorherigen Versuchen, Sportfeste zu organi-sieren (z.B. zu FDJ-Parlamenten 1946 und 1947 oder zu Pressefesten
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großer Zeitungen) war das Leipziger Fest, trotz seiner Einbindung in das Jugendtreffen, eine relativ eigenständige Angelegenheit des Deut-schen Sportausschusses (DS) und war komplex angelegt, wie das auf den Festen der DT und den ATSB üblich gewesen wer. Dies entsprach den Intentionen des Deutschen Sportausschusses (DS), der dieses Treffen nach den groß aufgezogenen Oberhofer Winterspielen der SBZ zum zweiten Schwerpunkt seiner Arbeit im Jahre 1949 erklärt hat-te…
2.2. Es war gelungen, für das Sportfest die Unterstützung weit gefä-cherter gesellschaftlicher Kräfte aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung zu erreichen und zwar sowohl in der SBZ generell als auch in Leipzig speziell. Dies war angesichts der wirtschaftlichen Lage (Kriegsfolgen, Demontagen, Reparationen, Anlaufschwierigkeiten der beginnenden Wirtschaftsplanung, Währungsreform von 1948) nicht selbstverständ-lich.
In den Unterlagen des DS, die bis 1990 Bestandteil des DTSB-Archivs waren, ist wenig zum „Sportfest der Jugend“ von 1949 erhal-ten. Eine Ausnahme machen Unterlagen den damaligen Wirtschaftslei-ters des DS, Alfons Staude5), aus denen hervorgeht, welche enormen materiellen und finanziellen Probleme zu lösen waren, obwohl die Deutsche Wirtschaftskommission (DWK) auf Anforderung „Freigabe-scheine“ ausstellte, Holz, Nägel und andere Baumaterialien fehlten. Sportgeräte mußten besorgt werden, Materialien für Bekleidung und Ausschmückung wurden von Staude z.T. persönlich organisiert und transportiert; mehrere Betriebe halfen großzügig. Die 3.000 benötigten Richtplatten, die für die Massenübungen der Sportler gebraucht wur-den, stellte z.B. das Jugendaktiv der Metallfabrik Hoyerswerda in einer Sonderschicht her6). Bauvorhaben, z.B. an der Deutschen Sportschule in Leipzig, drohten zu scheitern, da das zur Verfügung gestellte Mate-rial verschoben worden war. Die Leipziger Stadtverwaltung sprang hel-fend ein.
2.3. Entscheidend für die weitere Entwicklung des Sports war die Gewinnung und Qualifizierung von Funktionären, Übungsleitern und - bezogen auf die Massenübungen - von kreativen Kräften für die Ge-
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stalterkollektive.
Das Leipziger Fest war ein erster Meilenstein auf diesem Wege. Erich und Hilda Riedeberger sowie Georg Benedix übernahmen ver-antwortliche Aufgaben. Leiter und Mitarbeiter von späteren Ge-stalterkollektiven sammelten Erfahrungen in diesen Funktionen bzw. waren als Teilnehmer dabei. … Von großer Bedeutung für die zukünf-tige Sportentwicklung war die Mitwirkung von Hunderten junger FDJ-Funktionäre in der Festvorbereitung, die z.T. erstmalig mit der Sport-organisation in Berührung kamen. Viele hielten dem Sport die Treue.
2.4. Die Massenübungen von 1949, die zugleich die Grundlage für ähnliche Übungen zum Deutschlandtreffen der Jugend 1950 in Berlin und zu den Weltfestspielen der Jugend 1951 in Berlin darstellten, wa-ren der erste Zündstoff einer beginnenden theoretischen Diskussion, die nach den ersten beiden Leipziger Turnfesten (1954 und 1956) zu einer prinzipiellen Klärung drängte. Es ging um das Verhältnis körper-erzieherischer Maßstäbe zu symbolischen Schaustellungen. Zwar fan-den gestellte Bilder und Symbole sowie bildhafte Darstellungen von Arbeitsprozessen bei den Zuschauern gute Aufnahme. Spezialisten der Körpererziehung stellten aber die körpererzieherischen Werte stärker in den Vordergrund; auch bezweifelten sie beispielsweise die inhaltliche Aussage der optisch eindrucksvollen Übung der Mecklen-burger die einen von Sportlern dargestellten Traktor durch das von Sportlerinnen und Sportlern dargestellte wogende Getreidefeld fahren ließen, wobei das Menschengetreide gemäht wurde und zu Boden fiel, bevor es in Garbenbündeln wieder aufgestellt werden konnte.
Eine Konferenz des Wissenschaftlichen Rates für Körperkultur und Sport der DDR, die dann 1957 in Leipzig stattfand, versuchte in Aus-wertung bisheriger Erfahrungen einen Konsens zu finden.
Er wurde damals darin gesehen, auf die Einheit von körpererzieheri-schem Wert und Bilddarstellung zu achten, vordergründigen und ein-seitigen Symbolismus aber zu vermeiden. Die Gesamtvorführung der Massenübungen wurde als „eine Art von Kunstwerk, eine spezifisch künstlerische Disziplin der Körperkultur“ definiert.7)
2.5. Leipzig kam 1949 als Turnfeststadt, die es 1863, 1913 und 1922
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gewesen war, wieder ins Blickfeld. Mit der in Vorbereitung auf des Pfingsttreffen Anfang 1949 vom DS getroffenen Entscheidung, die zentrale Schule des DS als Deutsche Sportschule im Leipziger Rosen-tal einzurichten - sie wurde später (1950) die erste Heimstatt der DHfK - wurden die seit Jahrzehnten diskutierten Vorstellungen aufgegriffen, in Leipzig auf den Wiesen am Elsterflutbecken ein Sportforum mit ei-nem Großstadion aufzubauen. Mit der 1953 beschlossenen und zügig vollzogenen Realisierung, dieser Pläne wurde Leipzig faktisch Gast-geber sämtlicher Turn- und Sportfeste der DDR, was für die Stadt Chance, Gewinn und Last zugleich war. …
3. Das Sportfest im zeitgeschichtlichen Spannungsfeld
3.1. Wie schon angedeutete war das Fest infolge der wirtschaftlichen Lage ein gewagtes Unternehmen. Zugleich erwies es sich als nützlich, denn danach wurde der Sport zunehmend ein Planungsgröße der Ökonomie beachtet, wobei das zu dieser Zeit in den Westzonen er-reichte Niveau der Sportartikelproduktion ein ständiger Stachel im Fleische des von den Sportlern bedrängten DS war. Die zum Sportfest erkämpften „Sonderzuteilungen“ weckten große Erwartungen für die Zukunft. So waren Enttäuschungen schon vorprogrammiert, denn das Problem der ausreichenden Versorgung mit Sportartikeln war schon deshalb unlösbar, weil die entsprechende Industrie auf dem Boden der DDR nicht existierte.
3.2. Die Pfingsttage ließen den Anspruch der FDJ auf die politisch-administrative Führung des Sports deutlich werden. Von besonderem Gewicht war die vom III. Parlament der FDJ in Leipzig verabschiedete „Entschließung zur Arbeit der demokratischen Sportbewegung“.8) Sie bezeichnete die „weitgehende Förderung der demokratischen Sport-bewegung“ als „eine der Hauptaufgaben“ der FDJ. Als Ziel wurde dafür festgelegt, „allen arbeitenden Menschen die Teilnahme an einem alle Disziplinen umfassenden Volkssport zu ermöglichen“. Den Betriebs-sportgemeinschaften solle dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die FDJ werde dazu beitragen, mit Hilfe des Sports die Volksgesundheit zu heben und die sportlichen Leistungen zu verbes-sern. Deshalb werde es für erforderlich gehalten, Sportanlagen in den
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Großbetrieben und bei den Maschinen-Ausleihstationen auf dem Lan-de (MAS) aufzubauen, Kunsteisbahnen in Berlin und Leipzig zu errich-ten, ein großes Stadion in Berlin zu bauen und in mehreren Großstäd-ten Stadien und Anlagen instandzusetzen, fünf Hallenbäder zu errich-ten und ganzjährig mit Brennstoff zu versorgen, eine größere Zahl von Freibädern zu rekonstruieren, den Wasserrettungsdienst einzurichten, Turnhallen instandzusetzen bzw. ihrem eigentlichen Nutzungszweck wieder zuzuführen, die Wintersportanlagen in Aschberg-Mühlleiten auszubauen, die erhöhte Produktion von Sportmaterial einzuplanen, die Sportschulen auf bzw. auszubauen, die Ausbildung von Sportleh-rern für den Schulsport zu sichern und für Spitzensportler aller Diszip-linen eine Verordnung der DWK vom 31.3.1949 anzuwenden und sie bevorzugt mit Lebensmitteln zu versorgen. Mehrere dieser Forderun-gen konnten noch 1949 realisiert werden, andere gingen später in das 1. Jugendgesetz der DDR ein.
Der konkrete Inhalt dieser Entschließung ging zurück auf Vor-stellungen, die im DS gereift waren. Dass sie offiziell nicht vom DS, sondern durch die Delegierten der politischen Jugendorganisation der SBZ beschlossen und später vom Vorsitzenden der FDJ an die DWK, der Vorläuferin der Regierung der DDR, herangetragen wurde, spiegelt die komplizierte Lage im Sport der SBZ wieder. …
Die aus der FDJ-Politik resultierenden grundlegenden Widersprüche im Sport prägten die Jahre bis 1951; erst dann wurde die Demokrati-sche Sportbewegung von der SED zur selbständigen Massenorganisa-tion der DDR erklärt. Und erst dann war der Gedanke, nicht an die FDJ gebundene, eigenständige Turn- und Sportfeste durchzuführen, zu re-alisieren, was ab 1954 geschah.
3.3. Was die politischen Aussagen des Festes angeht, so war das Pfingsttreffen der FDJ als ganzes in die aktuelle Politik fest eingebun-den, was in Spruchbändern und Ansprachen zum Ausdruck kam. …
Aufs Ganze gesehen, blieben die sportlichen Veranstaltungen jedoch von vordergründiger aktueller Agitation frei. Die schon erwähnte An-sprache E. Honeckers zur Eröffnung der großen Sportveranstaltung im Stadion war kurz… Die Sportler sollten Kämpfer für die Einheit
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Deutschlands sowie für Fortschritt und Frieden sein.9) …
4. Zusammenfassende Wertung
Der Leiter des DS, Ernst Horn, der an die Stelle des kurz vor dem Fest abgelösten Waldemar Borde getreten war, schrieb nach dem Fest, Leipzig sei ein „Durchbruch“ gewesen; die 20.000 aktiven Sport-ler hätten in Leipzig ihr Können gezeigt und das erste Mal die gesell-schaftliche Rolle der Demokratischen Sportbewegung unter Beweis gestellt. Das Ziel sei es nun, „das sportliche Können, auf ein höheres Niveau zu bringen und mit den Besten innerhalb Deutschlands und über die Grenzen hinweg mit allen friedlichen Sportlern in Wettbewerb zu treten.“10)
Nach Auffassung des Referenten stellt das „Sportfest der Jugend“ einen ersten Versuch dar, im Osten Deutschlands Traditionen der deutschen Turn- und Sportgeschichte unter gegebenen neuen Bedin-gungen wieder aufleben zu lassen, wobei sowohl internationale Erfah-rungen, besondere solche der UdSSR und der CSR, und vor allem die entsprechenden Bemühungen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands gewirkt haben,
ANMERKUNGEN.
1) Es handelt sich um einen Beitrag, der für die dvs-Tagung „Turnen - Erziehung - Turnfeste“ (Hamburg, 19. - 21.5.1994) vorbereitet worden war. Er konnte in Hamburg aus Zeitgründen nur in gekürzter Passung vorgetragen werden. Seine Veröffentli-chung unterblieb, da kein Protokoll dieser dvs-Tagung erschien.
2) Vorwärts. Berlin v, 7.6.1949.
3) Bruno Plache (1908 - 1949): Arbeitersportler, KPD, als Antifaschist nach 1933 mehrmals in Haft, im Juni 1945 Mitverfasser des Aufrufs Leipziger Arbeitersportler zur Gründung einer antifaschistisch-demokratischen Volkssportbewegung. Ab Sommer 1945 Leiter des Leipziger Sportamtes; sein Stellvertreter war Robert Riedel (SPD), der die Leitung des Amtes nach schwerer Erkrankung Bruno Plaches übernahm und sich tatkräftig für die Unterstützung des später Invalidisierten einsetzte.
4) Deutsches Sportecho, Berlin v, 7.6.1949.
5) SAPMO - Dy 12 / DS 121,
6) Vgl.: Sächsische Zeitung. Dresden v. 31.5. 1949,
7) Theorie und Praxis der Körperkultur. Berlin 1958/2, S. 115
8) Dokumente zur Geschichte der FDJ. Bd.1 Berlin 1960, S. 231 - 233.
9) Vgl.: Sächsische Zeitung, Dresden v. 7.6.1949.
10) Tribüne, Berlin v. 21.6.1949.
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Mafia im Amateurboxen?
Von KARL-HEINZ WEHR
Der Autor war 1968 in das Exekutivkomitee der Internationalen Amateurboxförderation (AIBA) gewählt worden, 1986 wurde er deren Generalsekretär und schied 1998 aus der Föderation aus. 2009 beendete er einen persönlichen „Report”, der seine Erfah-rungen im Umfeld der den Weltsport dominierenden Gremien festhielt. Wehr gestattete uns den auszugsweisen Abdruck des Kapitels „Mafia“.
Ich hatte den Text dieses Kapitels bereits geschrieben und den Ab-schnitt abgeschlossen, als in den Medien Meldungen über Beste-chungsvorwürfe gegen IOC-Mitglieder im Zusammenhang mit der Vergabe Olympischer Spiele, besonders der von Salt Lake City, Schlagzeilen machten. Sie riefen bei mir Erinnerungen wach an ge-meinsame Fahrten mit Chowdhry (damals Präsident der AIBA) in die Bewerberstädte Olympischer Spiele. …
In meiner Eigenschaft als Generalsekretär war ich mit dem Präsiden-ten der AIBA unter anderem bei den Bewerbungskomitees von Toron-to und Melbourne, von Sydney und Atlanta, von Peking und Athen, von Manchester und Berlin. Während ich mich in erster Linie um die technischen Details der geplanten Boxturniere kümmerte, befasste sich Chowdhry vor allem mit den sportpolitischen Aspekten. Auf die-sem Gebiet war er sehr aktiv und ein gewiefter Partner. Mit seinem großen Einfluss in Asien war der Pakistani ein gern gesehener Gast in den Bewerberstädten, zumal ihm - nicht unberechtigt - der Ruf voraus-ging, ein guter Freund des IOC-Präsidenten und anderer einflussrei-cher internationaler Sportfunktionäre zu sein. Offensichtlich wirkte auch seine Tätigkeit in der erfolgreichen sportpolitischen Arbeitsgrup-pe der Firma ADIDAS. Chowdhry selbst ließ keinen Zweifel daran, dass er vor allem auf die asiatischen IOC-Mitglieder und eine Reihe Afrikaner mit Sitz und Stimme im IOC Einfluss hatte. Diese würden, wurde er nicht müde zu erklären, in seinem Sinne stimmen. Es nahm
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also nicht wunder, dass viele Leute in den Bewerbungskomitees um die Gunst des Pakistanis buhlten. Dieser versprach, wie üblich, allen alles.
… Er pflegte er seine Dienste als „hilfreicher Engel“ anzubieten, nicht ohne im gleichen Atemzug den Preis dafür zu nennen.
Besonders in Erinnerung ist mir das gemeinsame Abendessen mit den Spitzen des Bewerbungskomitees in Athen. Unter Alkoholeinfluss stehend, ließ sich Chowdhry über das IOC und seine Mitglieder aus. Er erklärte, dass ihm eine Anzahl von IOC-Mitgliedern schon für weni-ge Dollar zu Diensten wären. Mehrere Male trat ich Chowdhry unter dem Tisch gegen das Schienbein, um ein Ende der peinlichen Diskus-sion herbeizuführen. Er ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und schrie urplötzlich: „Gebt mir 50.000 Dollar, und ich bringe euch zehn Stimmen“. Zurückgekehrt ins Hotel „Grande Bretagne“, stellte ich Chowdhry zur Rede und fragte ihn, was das sollte, er arbeite doch be-reits für Atlanta. Die Studienplätze für seine Töchter in Atlanta habe er schließlich schon in der Tasche - und nun dieser Auftritt? Zynisch lä-chelnd antwortete er mir: „Das gehört zum Geschäft“. Trotz dieses peinlichen Zwischenfalls wurde angeblich dem Präsidenten der AIBA tags darauf ein Beratervertrag angeboten, der ihm monatlich 6.000 US-Dollar eingebracht hätte. Seine Reaktion darauf war: „Für diesen Betrag rühre ich nicht einmal den kleinen Finger. Andere haben mir Hunderttausende geboten.“ Zu einem Abschluss des vom Orgkomitee Athen angebotenen Vertrages ist es somit nicht gekommen.
Gilda Antzel, die an dem bewußten Abendessen teilgenommen hat-te, erzählte später, sie habe über das ungebührliche Verhalten Chow-dhrys einen Bericht an die griechische Sportministerin geschrieben. Später informierte sie darüber, dass die griechische Sportministerin, Frau Mercouri, beim IOC-Präsidenten mit einem Brief in dieser Ange-legenheit vorstellig geworden sei. Für den Präsidenten der AIBA hatte das jedoch keine Konsequenzen.
Bei den Besuchen der Bewerbungskomitees habe ich immer wieder über die abgrundtiefe Verlogenheit dieses Mannes gestaunt. Am meis-ten gefiel er sich in der Rolle des „höchstdekorierten Sportfunktionärs
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der Welt“, in der er sich mit Vorliebe feiern ließ. Dabei hatte er sich vie-le seiner Orden und Auszeichnungen selbst organisiert. Auch das fällt in die Rubrik „Mafiastrukturen in der AIBA.“
Wie beschrieben, begann alles ganz harmlos, auch das, was man landläufig unter „Mafiapraktiken“ versteht. Es fing damit an, dass bei jeder Gelegenheit über den „Meineid“ gewitzelt wurde. Als solchen be-zeichnete man den von den Kampfrichtern bei Meisterschaften zu leis-tenden Schwur, die Statuten und Regeln einzuhalten und den besse-ren Boxer zum Sieger zu erklären. In diesem Zusammenhang erfreu-ten sich Witzeleien über Jetchev (führender bulgarischer Boxsportfunk-tionär) und seine „Kampfrichter-Mafia“ besonderer Beliebtheit. Damit sollten bei einem Wettbewerb die Kampfrichterkommission und die Kampfrichter von Anfang an verächtlich gemacht werden. In den ers-ten Jahren erschien das noch als Spaß, als etwas, das nicht so ernst zu nehmen war. Doch das sollte sich ändern. …
Die entsprechenden „Geschäftsgebaren“ entwickeln sich über Jahre, so auch in der AIBA. Zu Zeiten der Präsidentschaft eines Gremaux, Russell oder Denisov wäre das undenkbar gewesen. Vor allem Rus-sell, der Offizier und Jurist, duldete keine Verletzung des Statuts und der Regeln. Deshalb erfreute er sich einer so großen Achtung.
… Schon zu seiner Zeit gab es erhebliche Auseinandersetzungen über Urteile der Kampfrichter, die teils den unterschiedlichen An-schauungen vom Boxen entsprangen, ihre Ursache aber auch im un-genügenden fachlichen Können der Richter hatten. Zuweilen wurden derartige Diskussionen vom Austragungsort einer Meisterschaft beein-flusst, denn das Verhalten des Publikums war oft entscheidend dafür, wie ein Kampf bewertet wurde. Ich erinnere mich dabei ganz beson-ders an das olympische Boxturnier in Mexiko 1968.
Ich gehe davon aus, dass es damals kaum Fälle gab, in denen schon vor dem Kampf der Sieger feststand. Die Kampfrichter jener Generation waren noch ehrenhafte Männer. Dabei bestreite ich nicht, dass es auch damals Urteile gab, bei denen Boxer Sympathiepunkte erhielten. Das war zuweilen der Fall, wenn Boxer im Ring kämpften, deren Offizielle im EC (Exekutivkomitee) bestimmte Funktionen ausüb-
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ten. Vor allem Roman Lisowski war damit belastet. So wurden den polnischen Boxern hin und wieder „freundliche“ Kampfgerichte und Ur-teile nachgesagt, hauptsächlich deshalb, weil der Vorsitzende der Kampfrichterkommission Lisowski Pole war. Aus den Erfahrungen meiner dreißigjährigen „Dienstzeit“ im EC meine ich aber, dass Lisowski dessen ungeachtet bemüht war, fair zu bleiben. Im Vergleich mit dem Bulgaren Jetchev war er auf jeden Fall ein Waisenknabe.
Deutlicher war die Tendenz bei Col. Hull ausgeprägt. … An anderer Stelle habe ich bereits über die „Auslosung“ der US-freundlichen Kampfgerichte in Los Angeles (1984) berichtet. Diese fanden im Ho-telzimmer des Mitglieds der Kampfrichterkommission der AIBA, Rolly Schwarz (USA), statt, der dem US-Boxverband angehörte und sich in seiner Tätigkeit vor allem diesem verpflichtet fühlte. Ihm stand der Vorsitzende der Kampfrichterkommission der AIBA, Syd Ashton (NZL), hilfreich zur Seite. Abgesehen von gelegentlichen Besuchen Hulls gab es niemanden, der Zugang zu diesen Auslosungen gehabt hätte. …
An dieser Stelle soll nicht noch einmal auf die Vorkommnisse in Se-oul eingegangen werden. Darüber habe ich in gesonderten Kapiteln berichtet. Seit Seoul war mir aber klar, dass ein für allemal Schluss war mit den guten Traditionen in der AIBA. Die gezielt an die Kampf-richter verteilten Geschenke, die Nachtclubbesuche, die häufig disku-tierten, aber nie eindeutig nachgewiesenen Geldzahlungen an Kampf-richter und Funktionäre - all das signalisierte den offiziellen Einzug von Methoden in die AIBA, wie sie bei der Mafia offensichtlich üblich sind. Der Mann, der das ermöglichte und förderte, war Chowdhry. Die von mir zu jener Zeit gefertigten Informationen, mit detaillierten Angaben auch von Namen, beweisen diese Feststellung nachhaltig. Unlängst las ich im Zusammenhang mit angeblichen Bestechungen von IOC-Mitgliedern eine Bemerkung über Chowdhry. in der er als einer der größten Mafiosi der internationalen Sportorganisationen bezeichnet wurde. Diesen Artikel hatte ein Journalist mit tiefem Einblick in das In-nenleben des internationalen Sports geschrieben. Es darf angenom-men werden, dass er guten Grund für diese Feststellung hatte.
Eine völlig neue Situation entstand in unserer Föderation Anfang der
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neunziger Jahre. In der UdSSR und in anderen osteuropäischen und asiatischen Ländern war die bisher bestimmende Gesellschaftsord-nung untergegangen. Die UdSSR löste sich auf, und an ihrer Stelle entstanden fünfzehn neue Staaten. Die Föderative Republik Jugosla-wien hörte auf zu existieren - aus einem Verband wurden plötzlich vier. Die CSSR zerbrach in zwei Staaten. Die Deutsche Demokratische Re-publik gab es mit dem Anschluss an die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr.
Vor allem die Veränderungen in der Sowjetunion hatten erhebliche Auswirkungen. Die Tatsache, dass zehn neue Nationalverbände in Eu-ropa und fünf in Asien gegründet und der AIBA angegliedert wurden, veränderte das Gesamtbild der AIBA, speziell der kontinentalen Föde-rationen in Asien und Europa, und es kam auch zu personellen Verän-derungen.
In vielen dieser Verbände tauchten neue Gesichter auf, darunter vie-le, die wir vorher nicht gesehen hatten. Entscheidend aber war, dass das frühere System der Finanzierung des Sportes durch den Staat nicht mehr funktionierte. Der Staat zog sich fast überall als „Förderer“ des Sports zurück. Um weiter existieren zu können, suchten die Ver-bände neue Geldgeber. Im Laufe der Jahre wurden diese auch gefun-den. Das waren Personen, die vorgaben, dem Boxen helfen zu wollen. … Mit dem Geld, das diese finanzstarken Herren, zumeist aus Wirt-schaftsunternehmen kommend, dem Boxen zufließen ließen, verban-den sie weitergehende Ziele. Zuerst einmal bereiteten sie sich auf eine baldige Übernahme der Präsidentenfunktion in ihrem nationalen Ver-band vor, wobei sie die Abhängigkeit ihrer Verbände von ihrem Geld-beutel nutzen konnten. So sind Rakhimov in Usbekistan, Makhmutov in Kasachstan, Bykov in Russland und Csötönyi in Ungarn Präsidenten ihrer nationalen Föderationen geworden. Bouchentouf in Marokko war es bis zu seinem Tode, Serban bis zu seinem Ausscheiden aufgrund wirtschaftlicher Probleme, wie es hieß. …
Über Geld zu verfügen und es für die Entwicklung des Boxens aus-zugeben heißt nun noch lange nicht, etwas mit der Mafia zu tun zu ha-ben. Eines Tages aber erklärte Ivanchenko, der es inzwischen zum
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Präsidenten seines Verbandes gebracht hatte, ganz offen: „Wer in der gegenwärtigen Situation in Russland Geschäfte machen will, muss Kontakte zur Mafia haben“. Er ließ nie Zweifel daran aufkommen, dass er solche Verbindungen hatte. Ivanchenko war zu jener Zeit reich, sehr reich…
Zweifelsohne gewann das Geld in der AIBA nach 1991/1992 enorm an Bedeutung. Bei den neuen Sponsoren handelte es sich zumeist um so genannte Neureiche, neue Kapitalisten, die durch die wirtschaftli-chen Veränderungen, die Privatisierung der Naturreichtümer ihrer Länder zu großem Reichtum gelangt waren. … Das investierte Geld sollte sich amortisieren und das möglichst schnell! Sponsoren wollen für ihre Produkte und sich selber werben. Das Äquivalent im Sport sind Medaillen, Macht und noch mehr Geld. Um all das zu erreichen, galt es, die inzwischen schon vorhandenen mafiosen Strukturen auszu-bauen. Mit der strikten Einhaltung der Statuten und Regeln waren die Ziele der neuen Geldgeber nicht zu realisieren.
Chowdhry war für die Neuen der richtige Partner. Seine Devise war ohnehin: Hier ein kleines Zugeständnis, dort eine freundliche Geste, nur lohnen muss es sich! Ein weiterer seiner Leitsprüche war: „Bei ei-nem knappen Urteil gib Deinem Freund den Sieg!“ Und Freunde hatte er viele. … Chowdhry als ein Meister der Intrige, der Manipulation und der Korruption, ließ diese Truppe gewähren, und wenn einmal etwas von den Machenschaften ruchbar wurde, bemühte er sich unter dem Vorwand, das Ansehen der AIBA schützen zu wollen, die Dinge zu ka-schieren und möglichst unter den Teppich zu kehren. …
Vielfach wurde die AIBA für Aktivitäten benutzt, die mit dem Boxen nichts zu tun hatten. Aus verständlichen Gründen werde ich bei den jetzt geschilderten Fällen keine Namen nennen und die Vorkommnisse auch nur gekürzt wiedergeben.
In Minsk fand eine Beratung mit den Präsidenten und Generalsekre-tären der neu gebildeten Boxverbände der ehemaligen Sowjetunion statt. Der Vertreter eines asiatischen Verbandes, desjenigen, der mir 6.000 US-Dollar für die Verhinderung einer Protestverhandlung über-geben hatte, lud uns eines Abends angeblich zu einem guten Freund
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ein. Pünktlich um 17.00 Uhr fuhren drei neue BMW vor unserer Unter-kunft vor. Wir, also Chowdhry, Jetchev, mein Dolmetscher und ich, wurden aufgefordert, in je einem der PKW Platz zu nehmen. Die Fahrt ging an Minsk vorbei und führte in einen Wald. Vor einem großen grü-nen Tor hielten die Wagen. Nachdem das Tor geöffnet worden und wir ins „Objekt“ gefahren waren, schloss es sich wieder. Das erste, was wir sahen, waren Uniformen. Wir waren in einer Kaserne mitten im Wald! Man bat uns in ein Haus, wahrscheinlich das Casino, wo wir an einem reich gedeckten Tisch Platz nahmen. Wenig später erschien der Hausherr in Begleitung weiterer Personen in ziviler Kleidung. Er be-grüßte uns recht freundlich, wobei sich der Anfangsdialog zwischen Präsident Chowdhry und dem Gastgeber etwa wie folgt abspielte:
Chowdhry: „Wer sind Sie?“
Gastgeber: „Irgendwer.“.
Chowdhry: „Was machen Sie?“
Gastgeber „Irgendwas.“
Chowdhry: „Wo sind wir?“
Antwort: „Irgendwo.“
Eine Antwort auf die Fragen erhielten wir den ganzen Abend nicht. Nachdem wir aufgefordert worden waren, zu essen und zu trinken, folgte - nach typisch russischer Sitte - ein Trinkspruch dem anderen. Eine große Auswahl an geistigen Getränke - Sekt, Wein, Kognak, Whisky und Wodka - sorgte bald für gehobene Stimmung. Es wurde über vieles gesprochen. Mir aber wurde die Sache immer unheimli-cher. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass der ganze Aufwand aus reiner Menschenliebe getrieben wurde, und sollte mich damit nicht getäuscht haben. Plötzlich richtete unser Gastgeber an Chowdhry die Frage, ob er in Pakistan eine bestimmte Person kenne. Der Präsident gab eine diplomatische Antwort, die alles offen ließ. Dann kam die Überraschung: Auf einmal diskutierte man über Unterseeboote, Hub-schrauber und anderes Kriegsgerät, das von unserem Gastgeber zum Verkauf angeboten wurde. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich drängte zum Aufbruch, womit ich beim Gastgeber Protest erntete. Auch Chowdhry war nicht einverstanden. Uns wurde bedeutet, man
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habe noch einen geselligen Teil mit Tanz in einem anderen Haus vor-gesehen. Ich blieb hart, und wir fuhren bald in unser Hotel zurück. Dennoch muss dieser Besuch bei Chowdhry Wirkung hinterlassen ha-ben. Monate später sagte mir einer unserer Kollegen von einem ande-ren Kontinent, Chowdhry habe ihn gefragt, ob er nicht jemanden ken-ne, der Waffen kaufen würde. …
Ein anderes Mal wurde ich angesprochen, ob ich nicht Verbindungen zu deutschen Luftfahrtuntemehmen herstellen könne. Auch wurde ich gelegentlich gefragt, ob ich Waffenverkäufe organisieren könne. … Wieder andere wollten wissen, ob wir in der Lage wären, Verbindun-gen zum Verkauf von Waffen nach Tschetchenien herzustellen.
Beispiele dafür, wie mit Geld versucht wurde, die Vergabe von Meis-terschaften zu beeinflussen, sind zur Genüge bekannt. Natürlich wurde auch versucht, Siege zu kaufen. So soll Doganeli bei den Europameis-terschaften in Vejle (DEN) dem norwegischen Boxpräsidenten, dessen Boxer gegen einen Russen boxen musste, geraten haben: „Gib dem Gegner Deines Boxers 200 US-Dollar, dann ist ihm der Sieg ganz si-cher.“ Zwei krasse Fälle von Schieberei hat der verstorbene Marco Sarfaraz aus den USA zum Besten gegeben. Bei den Weltmeister-schaften in Berlin, wo er von der AIBA als Ring- und Punktrichter ein-gesetzt war, habe ihn der Vizepräsident des türkischen Boxverbandes zu einem Gespräch gerufen und ihm erklärt, dass er am folgenden Tag als Ringrichter im Kampf Süleymanog (Türkei) gegen Urkal (Deutsch-land), einem gebürtigen Türken, amtieren würde. Von Sarfaraz, einem aus dem Iran stammenden amerikanischen Staatsbürger, erwartete er offensichtlich ein klares Bekenntnis zu seinen islamischen Brüdern. Marco war tatsächlich Ringrichter in diesem Kampf. Er verhielt sich sauber und amtierte neutral. Natürlich war klar, woher der türkische Vizepräsident schon am Vorabend des Kampfes das Ergebnis der erst unmittelbar vor dem Wettkampf vorzunehmenden Auslosung des Kampfgerichtes wusste.
Wie weit Korruption und Manipulation 1995 in Berlin schon fortge-schritten waren, soll ein weiteres Beispiel belegen: Beim Wiegen der Boxer am Morgen hörte ein deutscher Bürger, der der russischen
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Sprache mächtig war, im Wiegeraum eine Diskussion. Es ging um das Kampfgericht für einen am Abend angesetzten Wettkampf zwischen einem bulgarischen und einem deutschen Boxer. Wortführer in der Diskussion war ein Bulgare. Die Namen der sechs Unparteiischen - des Ringrichters und der fünf Punktrichter - wurden diskutiert. Als das bekannt wurde, brachte man die Diskussion dem Präsidenten des DABV, Kurt Maurath, zur Kenntnis mit der Aufforderung, Prof. Jetchev zu informieren. Leider wurde dies vom DABV-Präsidenten unterlassen, da er glaubte, der unfreiwillige Zeuge des Gesprächs habe sich ver-hört. Am Abend saßen dann tatsächlich die fünf am Morgen diskutier-ten „Unparteiischen“ am Ring. Die „Auslosung“ des Kampfgerichtes er-folgt bekanntlich unmittelbar vor dem Kampf am Ring. Der deutsche Boxer türkischer Abstammung verlor seinen Kampf umstritten. Be-kannt ist auch die Auseinandersetzung um das Resultat des Kampfes 296 zwischen Dzaurov (RUS), einem Boxer aus Tschetschenien, und dem Bulgaren Suslekov. Schon am Vorabend hatte Doganeli den Russen als Sieger vorausgesagt. Bis zum Ende des Kampfes schien er mit seiner Voraussage richtig zu liegen. Der Mann aus Tschetsche-nien führte bis etwa 10 Sekunden vor Ende des Kampfes noch mit 5:3 Punkten. Ohne Kampfhandlung erhielt der Bulgare jedoch in den letz-ten Sekunden des Kampfes plötzlich zwei Treffer gutgeschrieben, und da die 'kleinen Punkte' ihn im Vorteil sahen, gewann er den Kampf. Hinter den Kulissen begann ein Gerangel. Wie aus der russischen Mannschaft zu hören war, wollte Ivanchenko Protest einlegen. Ich in-formierte Jetchev. Tags darauf teilte mir dieser mit, meine Information sei nicht korrekt gewesen. Ein Beteiligter berichtete später über ein Treffen, das gegen Mitternacht stattfand. Daran hätten die russische Seite in Anwesenheit von Vertretern der tschetschenischen Mafia und Vertreter der bulgarischen Seite teilgenommen. Bei der Zusammen-kunft sei es um die Veränderung des Wettkampfresultats gegangen, und die tschetschenische Mafia habe unter Androhung von Gewalt die nachträgliche Disqualifikation des bulgarischen Boxers durchsetzen wollen - unter dem Vorwand, er habe unkorrekte Bandagen benutzt. Die bulgarische Seite ließ sich nicht beeinflussen und blieb konse-
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quent.
Einige Wochen vor seinem plötzlichen Tod infolge eines Herzinfark-tes gab Sarfaraz bei den Weltmeisterschaften in Budapest zum Bes-ten, wie er bei den Olympischen Spielen in Atlanta am Vorabend des Finalkampfes Somluch Kamsing (THA) gegen Serafin Todorov (BUL) zu Chowdhry gerufen wurde. Dieser habe ihn informiert, dass er als Amerikaner am folgenden Tag bei diesem Kampf im Ring amtieren würde. Chowdhry machte seine Erwartungen an Sarfaraz' Amtieren, natürlich zu Gunsten des Thailänders, deutlich. Erinnerungen an Seoul 1988 wurden wach.
Lange Zeit begnügten sich die Sponsoren - die Namen habe ich be-reits genannt - damit, die Arbeit zur Vermehrung ihres Reichtums und Ruhmes durch ihre Stellvertreter verrichten zu lassen. Später began-nen sie jedoch, selbst im EC mitzumischen oder zumindest ihre inzwi-schen erreichten Positionen auszubauen. So gesehen, gab es beim Kongress in Antalya eine nun offene Kehrtwendung Chowdhrys. Makhmutov aus Kasachstan, der noch in New York gegen Chowdhry mobil gemacht hatte, brachte es zum Vizepräsidenten der AIBA. Rakhimov, Uzbekistan, wurde EC-Mitglied. … Im VIP-Raum erklärte eines Tages der schon stark angetrunkene Chowdhry: „Rakhimov ist mein bester Freund. Wann immer ich hunderttausend Dollar brauche, bekomme ich sie von ihm!“
Ivanchenko, den die Russen noch am Vorabend der Wahl zurück-ziehen wollten, blieb EC-Mitglied, und die übelste Figur, die es bis da-hin in den unteren Chargen der AIBA gegeben hatte, Krishnapillai Thi-niganasothi aus Singapur, stieg zum EC-Mitglied auf. Es ließen sich noch eine Reihe weiterer Namen derartiger „Förderer“ des Boxsports nennen. Am besten hatte Ivanchenko erkannt, wie man die AIBA auch für persönliche Zwecke nutzen konnte. Schon bald nachdem er 1994 Mitglied des EC geworden war, beglückte er uns mit dem Plan, eine Stiftung unter dem Namen „International World Charity Fund for Pro-tecting Amateur Boxing“ zu schaffen. Das war offensichtlich eine Erfin-dung der russischen Mafia. Das Ziel dieser Institution sollte sein, in al-len Teilen der Welt eine breite Bewegung zur Förderung des Boxspor-
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tes zu schaffen. Ihr sollten Firmen, Institutionen, und Einzelpersonen angehören, die mit ihrer Zugehörigkeit zum Amateurboxsport diesen finanziell unterstützen würden. Ein solches Vorhaben war an und für sich nicht schlecht. Ivanchenko und die Leute, die hinter ihm standen, hatten aber offenbar die Absicht, der Stiftung ein umfangreicheres Be-tätigungsfeld zu geben, als sie es offen verkündeten. Der Aufbau einer solchen Organisation, aus der die AIBA komplett ausgeklammert wer-den sollte, stieß bei mir und anderen sofort auf arge Bedenken, denen sich auch Chowdhry nicht verschließen konnte. Die geplante Schaf-fung von Filialen und die Einrichtung von Konten bei verschiedenen Bankinstituten, z.B. in London, Budapest, Belgrad und Moskau, sowie die Vorstellungen bezüglich der Beschaffung finanzieller Mittel lösten großes Misstrauen aus. Trotz intensiver Bemühungen, vor allem von Ivanchenko und Doganeli, gab es im EC keine Mehrheit für den Vor-schlag. Auch Chowdhry war skeptisch. In der Zwischenzeit hatte ich die Meinung von Institutionen und Juristen eingeholt - das Ergebnis war eindeutig: „Finger weg!“.
Auf der Sitzung der Business-Kommission 1997 in Budapest war es zum Leidwesen von Doganeli vor allem das türkische Kommissions-mitglied, das sich vehement gegen den Plan Ivanchenkos aussprach. Andere folgten seinem Beispiel. Sie alle wurden von dem gleichen Ge-fühl geleitet: Da sollte eine Organisation neben der AIBA geschaffen werden - mit dem Ziel der Geldwäsche.
Nachzutragen ist, dass ich von dem Augenblick an, da ich meine Vorbehalte zur Stiftung deutlich machte, einen Feind mehr hatte, einen Todfeind sogar – Ivanchenko. … Zu jener Zeit wurden wir durch Trau-er-Nachrichten nachhaltig an die Mafia erinnert. Es kam zu einer Reihe von Morden in Russland, verübt an Leuten, die in irgendeiner Weise mit dem Boxen in Verbindung standen. Ob die Morde tatsächlich mit der Ausübung von Funktionen im Boxen zu tun hatten, konnte nie ein-deutig geklärt werden. Es gibt viele Vermutungen.
Zuerst erreichte uns die Meldung, dass der Schwiegersohn des lang-jährigen Vizepräsidenten und Ehrenmitglieds der AIBA Gordienko, er-schossen wurde. Dieser Fall war deshalb so tragisch, weil die Kugeln,
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die den jungen Mann niederstreckten, offensichtlich für seinen Schwiegervater bestimmt waren. Er war zu Besuch bei seinen Schwiegereltern, als es an der Wohnungstür klingelte. Statt des Haus-herren öffnete der Schwiegersohn die Tür und wurde durch eine Salve aus einer MPI niedergestreckt. Wenig später starb der Sohn des lang-jährigen Mitglieds der Kampfrichterkommission der EABA und AIBA, Wolodja Dadajev. Er und drei seiner Freunde fanden in einem Lokal in Moskau im Kugelhagel einer MPI den Tod. Im Dezember 1996 wurde Dadajev selbst in der Badewanne seiner Wohnung erschossen. Das geschah unmittelbar nach seiner Rückkehr von einem olympischen Solidaritätslehrgang, den er in Kirgisien im Auftrage der AIBA geleitet hatte.
Kurze Zeit darauf erreichte uns die Nachricht vom Mord an einem ak-tiven Boxer und seinem Trainer in Sibirien. Dann wurde bekannt, dass der Sohn des … Kampfrichters Koslov Opfer eines Mordanschlages geworden war.
Das alles löste große Bestürzung nicht nur in Kreisen des Boxsports aus. Bei Gelegenheit wurde uns mitgeteilt, es sei durchaus nicht er-wiesen, dass diese tragischen Ereignisse unmittelbar mit dem Boxen in Verbindung stünden. Dennoch scheint es, dass die Morde aufgrund von Handlungen der betroffenen Personen oder deren Familienange-hörigen, die mit der Unterwelt und besagter Organisation im Zusam-menhang standen, verübt wurden.
Nachzutragen wäre noch, dass Jetchev bei einem Gespräch mit ei-nem Journalisten in Bulgarien verlauten ließ, er werde künftig nicht mehr als Vorsitzender der internationalen Kommission für Ring- und Punktrichter der AIBA arbeiten. Er soll dies mit den Aktivitäten der Ma-fia begründet und angegeben haben, er sei in der Vergangenheit oft-mals zu Handlungen gezwungen worden, die er im normalen Leben nie begangen hätte.
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EISHOCKEY-LEHREN
Von JOACHIM ZIESCHE
Reden werden in den „Beiträgen“ selten publiziert, noch dazu Reden einer Geburtstagsfeier. Dies bleibt eine Ausnahme: Joachim Ziesche, der 200 Länderspiele für die DDR-Eishockey-Nationalmannschaft be-stritt, feierte unlängst seinen 70. Geburtstag, begrüßte viele Gäste und hielt auf der Feier auch eine bemerkenswerte Rede, die wir in Auszü-gen wiedergeben.
Es ist mir eine besondere Freude, die Aktivisten der ersten Stunde des DDR-Eishockeys begrüßen zu können: die Meisterspieler Blümel, Frenzel, Nickel, Buder, Kochendörffer, Zoller, Dr. Lehnigk, Franke und Zander. Dann die Meisterspieler der sechziger Jahre Plottka, Thomas, Karrenbauer, Nickel, Prusa und die Meisterspieler der siebziger Bielke, Patschinski, Frenzel, Lempio, Müller, Hiller, Beuthner, Fengler, Dr.Ziesche, Stefan Ziesche … meine ehemaligen KJS - Lehrer Frau Falley und Herrn Piede sowie die Mitschüler Herbert Böhme und Diet-er Pophal ehemaliger Europa-Meister im Wasserspringen.
Alle haben auf ihrem Gebiet dazu beigetragen, dass wir, soweit es möglich war, sorgenfrei unseren Job machen konnten. 1957 und von 1961 bis 1970 hat unsere kleine Eishockey-Gemeinde bei 6 bis 8 teil-nehmenden Mannschaften der A- Gruppe sechs mal den 5. Platz er-kämpft. 1966 wurde unsere Auswahl bei der WM in Ljubljana Europa-meisterschafts-Bronzemedaillengewinner. Unter erschwerten Bedin-gungen errangen wir 1983 in Dortmund und München den sechsten Platz. Ein Festsetzen in der Weltspitze war uns nicht vergönnt, den Anschluss an die Weltspitze hatten wir aber geschafft.
Aus einem Mittelmass, ohne Traditionen und vergleichbaren materi-ellen Bedingungen und Voraussetzungen hat es unser Eishockey zehn Jahre hindurch geschafft, den Anschluss an die Weltspitze zu halten und zu festigen. Reformen im Spielsystem, in der Trainingsmethodik, im Trainerwesen, in der Motivation und der anforderungsgerechten
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psychologischen sowie pädagogischen Führung der Spieler stellten die Eckpunkte dieser Leistungssteigerung dar. Für unsere internatio-nale Konkurrenz war es ein Rätsel, wie die DDR es innerhalb kürzes-ter Zeit schaffte, Eishockey-Länder wie Polen, Norwegen, die Schweiz, Österreich oder Italien zu überholen und nicht selten sogar die „Gro-ßen“ in Schwierigkeiten brachten.
An meinem heutigen Ehrentag ist es richtig und gut daran zu denken bzw. erinnert zu werden. An die harte und schöne Zeit, an die wunder-baren Siege aber auch an die bitteren Niederlagen. …
Liebe Freunde, Druck zum rechten Augenblick, Geduld, Behutsam-keit und vor allem sinnvolle Entscheidungen sind verlässliche Kriterien für Entwicklungsprozesse. Diese Weisheiten sind aus meiner Sicht bei der Entscheidung 1970, der fragwürdigen „Auflösung“ des Eishockeys in der DDR, an den Urhebern vorbeigegangen und sträflichst verges-sen worden. … 20 Jahre haben wir gegen innere und äußere Feinde gekämpft, um eine totale Auflösung des Eishockeys in unserem Lande zu verhindern. Alle Beteiligten in Berlin und Weißwasser haben dazu Großartiges beigetragen, um die Mission der Sportvereinigung Dyna-mo und unser eigenes Herzensbedürfnis zu erfüllen. Spott und Häme haben wir über uns ergehen lassen und ertragen müssen. Unsere Probleme wurden von vielen erkannt, Hilfe in unserem Sinne kam nur selten. … Mit erhobenem Haupt, aber nicht zufrieden, mit zwei funktio-nierenden Clubs, von den Kindern bis zu den ersten Mannschaften, sind wir in eine neue Eiszeit und Gesellschaft getreten. Das Aller-höchste das wir uns vorgenommen hatten, haben wir nach hartem Kampf geschafft, nämlich die Sportart Eishockey für unsere Kinder und Fans zu erhalten. Dank an alle, die in Berlin und Weißwasser mit gro-ßer Energie und Willenskraft daran erfolgreich mitgewirkt haben.
Es war nicht immer einfach aber trotzdem schön mit Euch zusam-men arbeiten zu dürfen. Wir können ein wenig stolz sein, dass wir von 1970 -1990, man spricht sonst immer von sieben mageren Jahren, wir kamen immer hin auf 20, im Konzert des internationalen Eishockeys auf den Plätzen 6 – 9 einkamen und in der kleinsten Liga der Welt spielten.
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Wer die Spiele der letzten WM gesehen hat, muss feststellen, dass sich Eishockey in einer enormen Schieflage befindet. 15. Platz bei 16 teilnehmenden Mannschaften der A-Gruppe ist einfach zu wenig, ent-spricht nicht unserem Anspruchsniveau und dem vorhandenen Poten-tial. Damit ist man sportlicher Absteiger und nur weil wir Ausrichter der nächsten WM sind, konnte die A-Gruppe gehalten werden. Ein Fakt, der aufzeigt, dass nach der Wende unsere Sportart nur verwaltet wur-de. Tiefgreifende Reformen in der Tainingsmethodik, in der Trainer-ausbildung, der straffen und zielgerichteten Nachwuchsförderung bis hin zur anforderungsgerechten Erziehung und sportlichen Ausbildung unserer Spieler sind nur schwer erkennbar bzw. greifen nicht.
Eine Leistungssteigerung wurde permanent verfehlt. Wer heute den Begriff Erziehung in den Mund nimmt, wird betrachtet, als käme er von einem anderen Stern. Es ist verständlich, denn Erziehung bedeutet Verantwortung und Überzeugungskraft, Zeitaufwand und Konsequenz bei den täglichen Auseinandersetzungen mit den Spielern. Liebe Freunde, Ihr kennt das Sprichwort: ein Bäumchen kann man noch bie-gen einen Baum nimmer mehr, ein wahrer Spruch wie ich finde. Ent-weder scheitern wir am eigenen System oder wir haben am rechten Ort die falschen Leute - es kann auch beides sein.
Es gibt genügend Beispiele dafür, wie man es besser machen kann. Wir haben es bei weitaus schlechteren Bedingungen gezeigt wie es gehen kann. Oder wenn man sich daran nicht erinnern möchte, kann man ja nach Finnland, in die Schweiz, nach Dänemark, Österreich und neuerdings sogar nach Ungarn schauen, die machen uns vor, wie es gemacht werden soll.
Positive Ansätze gibt es beim EHC durch die engagierte Herange-hensweise von P. - J. Lee. Ein Beispiel für die Eishockeyentwicklung in unserem Lande - wenn wir weiter die Kraft haben, Durststrecken zu überstehen, wenn alle, die Verantwortung tragen und überzeugt sind, sich dieses zur persönlichen Aufgabe zu machen, kann das ein zu-kunftsweisendes Projekt werden und unseren Club am Leben halten. Ein Anfang muß gemacht werden, warum also nicht heute?
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LITERATUR
Gereimtes über Ungereimtes
Von WALTER MEIER
Walter Meier zählte in der Frühphase des DDR-Sports zu den weltbesten Zehnkämpfern, wurde Sechster bei den Olympischen Spielen in Melbourne 1956 und holte Bronze bei den Europa-meisterschaften in Stockholm 1958. Seine Schriftstellerlaufbahn begann er 2000. Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem 2009 erschienenen Buch mit dem oben zitierten Titel.
1987 bis 2008
Zum besseren Verständnis. Ich weiß nicht, wann ich damit begann, die Neujahrsgrüße an meine Klassenkameraden in Verse zu fassen. Anfangs waren es Vier- oder Sechszeiler, und ich schrieb sie per Hand auf Glückwunschkarten, wobei es schon vorkommen konnte, daß die zuletzt geschriebenen Verse nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem Original hatten. Wann ich auf die Idee kam, diese poetischen Spiele-reien für die Nachwelt zu erhalten, weiß ich ebenfalls nicht mehr. Erst 1987 findet sich die Abschrift eines „Jahresspruchs“ in meinem Tage-buch. Später, als die Vervielfältigung per Kopiergerät das zeitaufwän-dige „Handgeschreibe“ ersetzte, sammelte ich diese Sprüche, die ich nun all denen empfehle, die Lust am Gereimten empfinden.
1987
Man rüstet auf, man rüstet ab,
man rüstet auf und nieder. Die Welt hinkt schon am Bettelstab
geradewegs ins Massengrab;
man schafft das immer wieder.
Doch hoff' ich heut' und immerdar
auf mehr Vernunft im nächsten Jahr.
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2001
Statt eines Vorworts
Unvergessen ist, was der betagte geniale Albert Einstein sagte:
„Das Weltall und die Dummheit der Menschen sind unendlich!“
Diesen Satz überdenkend, fügte er bei, daß er sich beim Weltall nicht sicher sei.
Dieses Jahr wird einst als Jahr der Schande in den deutschen Lesebüchern stehn. Hoffentlich sind dann im deutschen Lande uns're Euro-Kids dazu imstande, deutsch Geschriebenes noch zu verstehn.
Aus dem Land der Dichter und der Denker, dessen Lehrer man einst weltweit pries, machten scharlatane Staatenlenker rückgratlose Herz- und Hirnverrenker, die das letzte Ehrgefühl verließ.
Daß wir Deutsche zu den Dümmsten zählen, weiß ich nicht erst seit dem Pisa-Test. Wo sich Völker solche Männer wählen, die ihr Unvermögen kaum verhehlen, stellt man bald auch Wissenslücken fest.
Schlimm für uns sind die im Fach Geschichte. Manche Menschen lernen nie dazu, schworen Frieden vor dem Weltgerichte. Schröder machte diesen Schwur zunichte.
Die Menge schläft und schweigt. Und was machst DU?
Die Ruinen Deutschlands sind verschwunden, Bomber-Harris grinst in Bronzeguß.
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Zwangsarbeiter wurden jüngst mit runden zehn Milliarden D-Mark abgefunden. War das der Torheit letzter Schluß?
DENN: NUR DER VERDIENT SICH FREIHEIT WIE DAS LEBEN, DER BIS ZUM DRITTEN WELTKRIEG ZAHLEN MUSS!
Dieser läßt zu lange auf sich warten, Sowjet-Bösewichte gibt's nicht mehr. Deshalb zinkten unterm Tisch die harten Falken im US-Kongreß die Karten: Rot ist tot! Ein neuer Feind muß her!
Anfangs war der gar nicht leicht zu finden, denn es mußte ein ganz Schlimmer sein, um ihn selbst politisch völlig Blinden als den Weltvernichter aufzubinden; Hussein allein war da zu klein.
Auch das Planspiel mit den Jugoslawen war nichts anderes als Waffentest. Daß US-Raketen außer braven Zivilisten auch mal Panzer trafen, stellte man bedauernd später fest.
[…]
Strafe alle, die nicht Wrighley's kauen und McDonald's Einheitsfraß verschmähn! Strafe alle, die die vielen grauen vollen Filme Hollywoods nicht schauen und die deinen „way of life“ nicht geh'n.
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[…]
Just von dieser Sorte ist bin Laden. Sicher in Afghanistan versteckt, übten seine Selbstmordkandidaten, ihrem Erzfeind USA zu schaden, solcherart, daß es die Welt erschreckt.
Während noch das World-Trade-Center brannte (CNN-TV war live dabei!), wurde der bis dahin Unbekannte binnen kurzer Frist der meistgenannte Bösewicht globaler Polizei.
Welch ein Schauspiel bot sich da den geilen Fernsehgaffern in der ganzen Welt! An dem Drehbuch gab es nichts zu feilen. Horror höchsten Grades in zwei Teilen - ohne Werbespots und Eintrittsgeld!
Hei! Wie stiegen da die Einschaltquoten! Störend lief der Börsenkurs am Rand! (Wurde erst beim zweiten Crash verboten!) Niemand dachte an die vielen Toten - derart faszinierend war der Brand.
So versank, Etage um Etage, das Symbol von Größenwahn und Macht. Übrig blieben Schrott und die Blamage: Ein paar Kamikaze mit Courage hatten Goliath zu Fall gebracht!
Von den fünfunddreißigtausend Leuten, die dort täglich ihren Job versahn, hörten dreißigtausend da was läuten?
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Anders ist beileibe nicht zu deuten, daß der größte Teil dem Tod entrann.
Warum fand man unter all den Leichen, die verstümmelt in den Trümmern ruhn, keine Millionäre? Alle Zeichen deuten deutlich darauf hin: Die Reichen hatten zeitgleich anderswo zu tun.
Schlimmer noch als dieser Sturz der Tower war der Angriff auf das Pentagon. Unangreifbar, meinten die Erbauer - binnen zehn Minuten war man schlauer: Kriegsgeschrei erscholl aus Washington.
Zwar war nicht bekannt, woher sie stammten, die fanatisch, dreist und couragiert Pentagon und Zwillingstürme rammten; fest stand nur: Durch diese Gottverdammten war die Weltmacht bis ins Mark blamiert.
Was die Amis bloß aus Filmen kannten, die sie, das Volk zu schocken, drehn: Menschen, die wie Wunderkerzen brannten, ihren Tod durch Killerviren fanden; konnten sie vor eigner Haustür sehn.
Kein Triumph auf Rhein- und Elbebrücken! Keine Spur gefilmten Heldentums! Plötzlich lief der Weltgendarm an Krücken. Terroristen schlugen tiefe Lücken in den Roten Teppich falschen Ruhms.
Um die Schande schleunigst zu verdecken
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und der Schadenfreude zu entgehn, deklarierten Bush und seine Recken, sinnverwirrt, borniert und blind vor Schrecken, diesen Terrorakt zum Kriegsgeschehn.
Auf zum Kreuzzug gegen Terroristen! Fangt bin Laden, lebend oder tot! Plötzlich wußt' man, wo die »Sleeper« nisten, die verdammten Moslem-Extremisten, deren Tun die ganze Welt bedroht.
Rache! Krieg! erscholl es aus den Staaten. Krieg! kam prompt das Echo aus Berlin. Eiligst schworen vierzig Potentaten, mit Moneten, Waffen und Soldaten für den Ami ins Gefecht zu ziehn.
Welch Register wurde da gezogen? Welche Mächte waren da im Spiel, die noch schlimmer als einst Goebbels logen, Terrorakt zum Angriffskrieg verbogen. Oder war gerade das ihr Ziel?
Und nun haben Bundeswehrsoldaten, fern vom heimatlichen Paradies, wieder mal als Fußvolk auszubaden, was mit Splitterbomben und Granaten die United Airforce hinterließ.
Was in sechsundfünfzig Nachkriegsjahren keinem deutschen Oberhaupt gelang: Schröder ließ das Staatsschiff rückwärts fahren. Wo sich Eitelkeit und Dummheit paaren, ist's mir stets um Deutschlands Zukunft bang.
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Endlich darf nun Deutschland wieder schießen! Kriegt dies Land die Schnauze niemals voll? Zweimal mußte es die Kriege büßen, wurde amputiert, sogar zerrissen; statt „NIE WIEDER“ schreit es stramm: „JAWOLL!“
Diesem Volke ist nicht mehr zu helfen. Dieses Volk, so klug es tut, ist dumm; schenkt sein Gold'nes Vlies den Western-Wölfen, flieht benebelt in das Reich der Elfen, samt dem Zaubertrick Brimborium.
Habt Ihr Harry Potter nicht gelesen? Was! Ihr kennt den Stein der Weisen nicht? Schwebt Ihr nicht bebrillt auf Hexenbesen durch das Zauberland der Rowling-Wesen, wo kein Mensch von Arbeitslosen spricht?
Grämt Euch nicht, man muß das Zeugs nicht kennen, es genügt zu wissen, wer's vertrieb. Trommelfeuer aus TV-Antennen ließ selbst Kinder, die so gerne pennen, nächtlich zu den Bücherläden rennen - lesegierig, umsatzsteigernd, lieb.
Ziemlich rasch verebbte diese Welle,
weil man, statt zu lesen, lesen läßt.
Hörverlage waren prompt zur Stelle,
Profileser lasen auf die Schnelle,
Hollywood besorgte dann den Rest.
Hadert nicht mit Euren Kindeskindern, weil sie glaubten, Harry Potter sei
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einzig da, um fremdes Leid zu lindern und der Bösen Taten zu verhindern mittels Hexenspuk und Zauberei.
Unter tausend Kinderbüchern wäre „Harry“ nur von mittlerem Format, hätten es nicht Werbemilliardäre hochgejubelt bis in jene Sphäre, wo Vernunft nichts mehr zu sagen hat.
Wie man Bücher fördert, so auch Kriege. Beide sind auf gleiche Art gemacht! Stets ist es dieselbe üble Riege, die mit Attentaten und Intrige immer wieder Weltenbrand entfacht.
Da wir die Methoden nicht erkannten,
die wir doch zum zigstenmal gesehn
deshalb wird in deutschen Landen
das Jahr 2001 als Jahr erneuter Schande
in Geschichts- und Lesebüchern stehn.
Tröstet Euch, wir müssen sie nicht lesen,
bis zum Dritten Weltkrieg sind wir tot.
Irgendwann muss – ohne Zauberbesen –
Diese Welt von jener Unkultur genesen,
die vom Reich des Weltgendarmen droht.
(Das Buch Walter Meiers erschien im viademica.verlag berlin
ISBN 978 – 3 937494-46-39)
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KEIN WUNDER
Von KLAUS ULLRICH (HUHN)
Vor 35 Jahren erschien im Sportverlag Berlin der von Erich Schmitt illustrierte Titel „Kein Wunder – Unser Sport – ernst und heiter“ von Klaus Ullrich, aus dem wir Auszüge zitieren.
1954
Ein Schlafwagen steht auf einem Nebengleis des Saßnitzer Fische-reihafens. Im Kombinat wird man stutzig, als der Schaffner am Mittag des zweiten Tages um einen Eimer Kohlen bittet. Kohlen sind zwar knapp, aber im Fischkombinat haben sie Mitleid mit dem auf seine Gäste wartenden Schaffner und rücken sogar noch einen zweiten Ei-mer heraus. Der Schlafwagen steht auch am Abend noch im Hafen, denn die, die er erwartet, lassen auf sich warten.
Die Skisportmannschaft der DDR, die in Falun zum ersten Mal an ei-ner Weltmeisterschaft teilnahm, sitzt auf dem schwedischen Fähr-schiff. Und das schafft es nicht, die Packeiswand vor der Hafeneinfahrt zu durchbrechen, bis es schließlich dreht und - rückseits anstampfend - einen Spalt aufbricht, die Barriere sprengt und endlich festmacht. Frierend klettert die Mannschaft in den nun gut geheizten Schlafwa-gen. Dann wird er an einen Zug gekoppelt, der die Mannschaft zu den Meisterschaften nach Oberhof bringen wird. Im Gepäck der Mann-schaft übrigens keine Spur von Lorbeer. Im Springen Platz 50 und 64 für die DDR.
Die Trainer hocken zusammen, als der Schlafwagen durch die Nacht rollt. Einer hat eine schwedische Zeitung auf den Knien. Eine Kari-katur, auf der Kampfrichter vor einem Lagerfeuer im Mondschein frie-ren. Unterschrift: „Sie warten auf die ostdeutsche Frauenstaffel!“ Die Trainer diskutieren missmutig die möglichen Ursachen. Einer von ihnen, Hans Renner, schwört, dass man zuerst einen Ersatz für Schnee suchen müsse, um besser und vor allem länger trainieren zu können. Die anderen lächeln still. Ein Phantast. Als die Oberhofer
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Meisterschaften vorüber sind, fährt Renner nach Hause, bastelt, forscht, schneidet, klebt, probiert. Eine Plastiktafel hilft ihm auch nicht weiter. Wütend schleudert er sie in den Garten. In der Nacht regnet es. Morgens entdeckt er, daß man auf der Plaste gleiten kann, wenn man sie zuvor anfeuchtet. Renner hat den Schneeersatz gefunden! Es ist die Geburtsstunde einer großen Idee: Mattenschanzen!
Eines Tages kamen sogar Bestellungen aus dem schwedischen Falun.
1959
Es war einmal ein Sportlehrer aus Senftenberg, der fuhr in den wohl-verdienten Sommerurlaub, beneidet wegen seines Ferienplatzes auf Hiddensee. Er schwamm in der Ostsee, sonnte sich in einer Sandburg, bis ihn eines Tages die Langeweile anfiel und er seinen Kollegen an der Polytechnischen Oberschule in Neuendorf besuchte. Die beiden kamen ins Plaudern und stießen bald auf ein gemeinsames Problem: Zu wenig Starts für ihre sportinteressierten Schüler. Der Neuendorfer litt noch mehr darunter als der Senftenberger, denn zu jedem Ver-gleich musste man von Hiddensee zum Festland übersetzen oder Gäste bitten, das Schiff nach Hiddensee zu nehmen. Doch die beiden klagten nicht nur, sie hatten auch eine Idee. Die hieß: Fernwettkampf! Am Nachmittag des 26. September starteten in Drochow bei Senften-berg die Schüler des einen Lehrers und in Neuendorf die des anderen. Die Disziplinen waren vereinbart und eine Tabelle zum Vergleich der Leistungen ausgewählt worden. Am Abend führten die Lehrer ein Ferngespräch miteinander, und der Lehrer aus Neuendorf meldete 790 Punkte. Der Lehrer in Drochow aber hatte 874 Punkte auf seinem Zet-tel. Das war die Geburtsstunde des Fernwettkampfs der Landgemein-den, in dem von nun an Jahr für Jahr mehr Dörfer mit ihren Mann-schaften starteten. Längst nicht mehr nur die Schüler, sondern vom eben Eingeschulten bis zum 50jährigen. Als ein halbes Dutzend Jahre vorüber waren, zählte man bereits 957 Gemeinden mit 122.251 Teil-nehmern!
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Der Fernwettkampf wuchs sich aus. Eines Tages entdeckte man, daß die Sieger eigentlich mehr als eine Urkunde verdienten. Eine fest-liche Siegerehrung mit Fanfarenstoß und Flaggenhissung fehlte. Schon aus Neugier, einmal einen Blick in diese Dörfer zu werfen, for-mierte man ein ehrenamtliches „Siegerehrungs“-Kommando. Hauptge-sprächsthema bei den stimmungsvollen Feiern: Wird wohl aus unseren Dörfern auch mal ein Olympionike kommen? 1972 war Ilse Kaschube in München unter den Medaillengewinnern. Geburtsort: Altentreptow.
1967
In den Straßen von Mexiko-Stadt lief ein Indianer in einem Natio-naltrikot der DDR. „Habt ihr euch verstärkt?“ erkundigten sich Freunde während der vorolympischen Wettkämpfen bei der Mannschaft. Ein In-dianer im DDR-Trikot? Man hielt die Sache für einen Scherz. Doch dann kam einer und beschwor: „Ich habe ihn auch gesehen. Er soll Ramirez heißen und sogar Meister im Marathon sein. Die halbe Stadt weiß bereits, daß er ein DDR-Trikot trägt. Man hat auch schon gefragt, was man ihm für die Reklame bezahlt?“
Es war nicht üblich, DDR-Nationaltrikots zu „vermieten“. Woher also konnte er es haben? Am nächsten Morgen gestand ein DDR-Lang-streckler: „Von mir. Wir trainierten oben in den Bergen. Es wurde da abends immer sehr kühl. Da kam er in mein Zimmer und fragte mich, ob ich ihm nicht ein Trikot leihen könnte. Er müßte noch bis in sein Ho-tel laufen und sei völlig durchgeschwitzt. Ein guter Freund. Da habe ich es ihm gegeben ...“ Am nächsten Morgen klingelte das Telefon im DDR-Mannschaftsbüro: „Euer Indianer ist wieder unterwegs!“
1968
An der Tür des Hauses, in dem die Journalisten aus der DDR wäh-rend der Olympischen Winterspiele in Grenoble wohnten, hatten sie ein Schild angebracht: „Pressebüro der DDR“. Dazu die olympischen Ringe und das Staatsemblem der DDR. Da gingen Journalisten aus der BRD zum Pressechef und forderten: Das Emblem muss weg! Der
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Pressechef, ein Franzose, war anderer Meinung. Das Schild blieb. Da schritten die „Beschwerdeführer“ zur Selbsthilfe und rissen das Schild ab. Tags darauf war ein neues an der Tür. Der Fachmann konnte er-kennen, dass das Staatsemblem diesmal um Zentimeter größer war. Auch dieses Schild wurde abgerissen – und schon sehr bald durch ein neues ersetzt, und nun vermochte auch das ungeübte Auge zu erken-nen: Das Emblem wuchs. Die Schilder hatten die DDR-Journalisten bei französischen Genossen bestellt, und die hatten aus den Erfah-rungen ihrer Kämpfe zu jenen Vergrößerungen geraten. Ihr Rat erwies sich als ausgezeichnet. Als das vierte Schild abgerissen war, zerstrit-ten sich die „Attentäter“. Die einen meinten, es sei sinnlos, damit fort-zufahren, weil das Emblem immer größer werde, die anderen wollten bei ihrer Methode bleiben. Doch die, die abgeraten hatten, gewannen die Oberhand, und so blieben im Pressebüro der DDR ein halbes Dut-zend Schilder übrig ...
1971
Die Finnin Leena Jääskelinen sprach deutsch ein wenig unrund. Dennoch hörten alle aufmerksam zu, als sie im Saal des Mühlleithner Buschhauses Worte des Dankes für die blendende Organisation des traditionellen Klingenthaler Damenskirennens für die finnische Mann-schaft von einem Zettel ablas: „Liebe Freunde! Sechs Jahre sind ver-gangen, dass ich hier in Klingenthal war. Jedes Jahr hoffte ich, daß man mich wieder schicken würde. Jedesmal war ich enttäuscht, wenn mein Name nicht fiel. Einmal sollte es was werden, vor vier Jahren, aber da - sie kramte in ihrer Handtasche, was die Runde verblüffte, bis sie ein Bild hervorholte – „bekam ich eine Tochter und zwei Jahre spä-ter“ - das zweite Bild hatte sie schneller bei der Hand – „einen Sohn. Meine Tochter fragte mich oft, warum ich wieder nach Klingenthal fah-ren will. Da sagte ich ihr: Ich muss eine neue Mundharmonika einkau-fen, weil die, die ich vor sechs Jahren mitgebracht hatte, inzwischen hinüber ist. Aber ich habe auch etwas nach Klingenthal mitgebracht. Ein paar Skier für die beste Juniorin des Sportklubs Dynamo Klin-genthal. Und dann möchte ich hier auch nicht ,Lebewohl' sagen, son-
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dern `Auf Wiedersehen´.“
1972
Ein Ober kam und fragte im Auftrage einiger Gäste an den Nebentischen, ob man vielleicht einen Augenblick stören dürfe, einiger Autogramme wegen. Der Wunsch der Gäste im Café des Münchner Fernsehturms war ein wenig überraschend, denn es war weder Roland Matthes noch Klaus Köste, Wolfgang Nordwig oder Renate Stecher an der Kaffeetafel zu sehen. Wer Bescheid wußte und genau hinsah, entdeckte sogar, daß nicht ein einziger Medaillengewinner in dieser DDR-Runde saß. Denn: Mannschaftsleiter Manfred Ewald hatte ein Viertelhundert Athleten, die tapfer gekämpft, aber ohne Medaille geblieben waren, zu einer Kaffeetafel auf den Fernsehturm geladen. Man konnte von dort oben nicht erkennen, daß sich Jörg Drehmel im Olympiastadion eben anschickte, eine Medaille zu erobern, und auch Stefan Junge auf dem Wege zu olympischem Zehnkampf-Silber war. Aber - weit wichtiger - man konnte oben auf dem Turm erleben, daß in dieser Mannschaft nicht die Medaille den Menschen ausmacht. Und selbst den Münchnern an den Nebentischen muß das aufgefallen sein, denn sie ließen sich Autogramme geben, obwohl sie inzwischen dahintergekommen waren, daß die berühmtesten DDR-Sportler fehlten.
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REZENSIONEN
EISSPORT IN OBERHOF
Es ist eine gute Tradition der Oberhofer Ausstellungsmacher gewor-den, Sonderausstellungen zu zeigen. Seit 1993 waren es 19 Expositi-onen. Bedeutende Persönlichkeiten des Sports standen bisher im Mit-telpunkt, so Baron de Coubertin, Margit Schumann, Helmut Reckna-gel, Otto Griebel. In der gegenwärtigen Sonderausstellung, die ein Viertel der gesamten Ausstellung umfasst, geht es um den Eissport. Diese Exposition zeigt Breite, Vielfalt und eine erfolgreiche Geschich-te. Der Titel „Sterne auf dem Eis“ wirft die Frage der Beziehungen von Ort und Einwohner zum Eissport auf. Mit gutem Gewissen kann fest-gestellt werden, dass alle in der Ausstellung präsentierten Disziplinen auch in Oberhof betrieben wurden: Eishockey, Eisschnelllauf, Eis-kunstlauf, Eisstockschießen, Curling.
Fünf Schautafeln (70 cm x 100cm) geben Aufschluss über die Ge-schichte des Eislaufens. Attraktionen sind ein Paar Schlittschuhe von 1845, die beim Abriss eines Gasthofes in Kleinschmalkalden gefunden wurden und echte Holländerschlittschuhe, die älter als ein Jahrhundert sind. Kaum zu übersehen: Ein Foto Walter Ulbrichts auf Schlittschu-hen. Der Abschnitt Eishockey wird umrahmt von den Fahnen der BSG Einheit Oberhof und des SC Turbine Erfurt. Wer weiss schon, dass 1924 die Endrunde zur Deutschen Eishockeymeisterschaft in Oberhof stattfand?
1949 gewann Frankenhausen vor 14.000 Zuschauern das Endspiel gegen Grün-Weiß Pankow um den Pokal des Ostzonenmeisters. Ein später berühmt gewordener Schriftsteller fotografierte das Ereignis als Bildreporter: Harry Thürk. Vier Oberhofer spielten später in Mann-schaften der DDR-Oberliga und einmal gelang Oberhof sogar der Auf-stieg in die DDR-Liga und der Gewinn des Pokals der Chemiearbeiter.
Das in der Exposition die Leistungen der Erfurter Eisschnellläuferin-nen insbesondere mit Gunda Niemann-Stirnemann an hervorragender
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Stelle zu finden sind, ist selbstverständlich. Eine Schaufensterpuppe in einem Rennanzug von Daniela Anschütz-Thoms führt diese Präsenta-tion bis in die Gegenwart. Natürlich haben auch die Olympiasiegerin-nen und Weltmeisterinnen des SC Einheit Dresden ihren Platz gefun-den. Ihr Trainer Dr. Rainer Mund - ein echter Oberhofer. Eine Schauta-fel „Berlinerinnen auf schnellen Kufen“ würdigt besonders die Olympi-asiegerin von Squaw Valley, die unvergessene Helga Haase vom SC Dynamo. Das Foto vom Empfang auf dem Flughafen Schönefeld durch Ehemann und Trainer Helmut Haase sowie Tochter Cornelia lässt kaum einen Besucher gleichgültig.
Den Glanzpunkt der Sonderausstellung liefert das Eiskunstlaufen. Stargast der Vernissage am 20.Mai war die zweifache Olympische Bronzemedaillengewinnerin Manuela Groß-Leupold mit Familie. Die Kürkleider von Gaby Seyfert, Christine Errath, Anett Pötzsch und Kata-rina Witt fallen sofort ins Auge. Schautafeln informieren über deren er-folgreiche Laufbahnen. Gekrönt wird dieser Abschnitt mit der Olympi-schen Bronzemedaille von 1976, die Christine Errath als Leihgabe zur Verfügung stellte. Natürlich begegnet man auch den so erfolgreichen Trainerinnen Jutta Müller und Inge Wischnewski.
Gestalterisch interessant ist eine Spiegelfolie, die sich als Eisimitati-on 12 Meter lang durch die Ausstellung zieht und auf der Exponate des Eisstockschießen und Curlings platziert sind.
„Auf Skiern durch Sachsen“
Anlass für das Erscheinen dieses Buches war das hundertjährige Jubiläum der Gründung des sächsischen Skiverbandes. Herausgeber und maßgebliche Autoren dieses Sammelbandes mit einem Umfang von 272 Seiten sind Gerd Falkner und Klaus-Dieter Bluhm. Es ist dem Autorenkollektiv gelungen, Wurzeln des Skisports aufzuzeigen und Er-folge zu schildern. So ist in mehrjähriger Arbeit ein wertvolles Fach-buch entstanden. Dass trotz umfangreicher Darstellung der Entwick-lung des Skisports immer noch „weiße Flecken“ bleiben, bekennen die
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Herausgeber offenherzig. Der preiswerte (20 €), reichbebilderte Band wurde entscheidend geprägt von Deutschlands vielleicht bedeutends-tem Skisport-Historiker Falkner. Mit seinem Aufsatz „Die Goldenen Schneeschuhe - Pionierskisport der frühen DDR (1949-1965) hatte er erst vor einiger Zeit ein „Geheimnis“ der Erfolge des DDR-Sports gelüf-tet und internationales Aufsehen erregt.
Dass die Erfolge der Oberwiesenthaler, Klingenthaler und Zinnwal-der und der anderen Skisportler nicht vom Himmel fielen, wird in vielen Beiträgen hervorgehoben. Besonders bedeutsam erschien mir in die-sem Zusammenhang der Beitrag von Siegfried Lorenz zur Rolle der DHfK Leipzig. Vielerorts sind noch heute durch die DHfK hervorragend ausgebildete Trainer und Sportlehrer tätig. Das wirft die bange Frage auf: Was wird geschehen, wenn der letzte Absolvent der Deutschen Hochschule für Körperkultur in seinen wohlverdienten Ruhestand geht? Die im Buch enthaltene umfassende Zeittafel, beginnend mit dem Jahr 1775 gibt dem Leser eine gute Übersicht zur Entwicklung des Skisports in Sachsen. Beachtlich auch der Abschnitt „Sächsischer Skisport in der Bildenden Kunst“. Günter Witt hat dafür eine Vielzahl von Kunstwerken ausgewählt, die vielfältig und realistisch den Skisport widerspiegeln. Ich bin sicher, dass dieses interessante Buch nicht nur in Sachsen seine Leser finden wird.
(Falkner/Blühm, „Zeitreise – Auf Skiern durch Sachsen“ Meyer & Meyer Sport – 19,95 €)
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ZITATE
Weiter so
Wieder ein Erfolg für Werner Goldmann. Der Trainer, dem sich Ro-bert Harting und Julia Fischer anvertraut haben, der Diskus-Welt-meister und das wohl größte weibliche Talent Deutschlands im Diskus-werfen, erhält wieder einen Vertrag als Bundestrainer. In der öffentli-chen Diskussion steht der 59 Jahre alte Berliner allerdings weniger wegen der Erfolgsaussichten, die er den Leichtathleten eröffnet, als vielmehr wegen seiner Vergangenheit.
Eine Beschwörung war es, als der Deutsche Olympische Sportbund vor den Spielen von Peking 2008 diejenigen Trainer, die aus der DDR stammen, erklären ließ, sie hätten nie und nimmer mit Doping zu tun gehabt. Ein Blick in die einschlägige Literatur hätte gereicht, um zu wissen, dass er sie damit zur Lüge anstiftete. Goldmann traf es, als ein früherer Athlet im Fernsehen sagte, dass er von ihm, dem Trainer der Weltrekord-Diskuswerferin Irina Meszynski und des Weltrekord-Kugelstoßers Ulf Timmermann, im Jugendalter Steroide erhalten habe. Als der Leichtathletik-Verband sich deshalb von Goldmann trennen wollte, klagte der Trainer auf Weiterbeschäftigung. Schließlich arbeite-te er für den DLV seit fast zwanzig Jahren: das personifizierte „Weiter so“. Dem zu erwartenden Sieg Goldmanns vor Gericht kam der Ver-band mit einem Vergleich und einem neuen Vertrag zuvor.
Hätte sich der Verband zur Weiterbeschäftigung verurteilen lassen sollen? … Harting und seine Berliner Trainingsgruppe blieben bei ihm …Die Athleten machten sogar mit einer groben Solidaritätsadresse Schlagzeilen - doch gerade die empörenden Fehler und Unkorrekthei-ten ihres offenen Briefs gaben ihm Kredit als authentische Meinungs-äußerung.
Jürgen Grobler, als Cheftrainer im Rudern für Doping von Frauen und Männern in der DDR verantwortlich, hat zum Lohn für die Gold-medaillen seiner Ruderer vor drei Jahren den Order of The British Em-
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pire erhalten. Macht er weiter so, dürfte ihn die Königin nach den Spie-len von London 2012 zum Ritter schlagen. Ähnliches wie seinem in England tätigen Kollegen wird Goldmarin hier nicht widerfahren. Es muss reichen, dass er recht bekommen hat. Was sein Fall belegt, ist die Kurzsichtigkeit des Spitzensports: Der Blick reicht kaum weiter als bis zur nächsten sportlichen Herausforderung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.09.2009, Michael Reinsch
Letzter Amateur ging k.o.
In Mailand endeten unlängst die Box-Weltmeisterschaften der Ama-teure, jener Boxer also, denen nicht irgendein betuchter Manager pas-sende Gegner aussucht, sondern die nach einem Jahrzehnte im Sport üblichen System auf den Gegner treffen, den ihnen das Los beschert. 550 Aktive aus 133 Ländern waren angereist und stritten um die Titel. Während die Fäuste flogen, trafen die Funktionäre des einst mächti-gen Amateur-Boxverbandes (AIBA) eine Entscheidung, die man nur als Handtuchwurf einordnen kann – bekanntlich wirft ein Betreuer das Handtuch in den Ring, wenn er für seinen Schützling den Kampf auf-geben will. Mit diesem Beschluss wurde die letzte olympische Ama-teursportart abgeschafft: Künftig dürfen nun auch Profis um olympi-sches Gold kämpfen. Die weltweit viele Boxtrainer und -Übungslehrer nach allen Titelkämpfen bewegende Frage, ob die Sieger bis zum nächsten Olympiafest noch Amateure bleiben oder sich augenblicklich für die Schecks der Manager entscheiden, wurde damit von der AIBA im Sinne der Profis entschieden. Da die künftig Zutritt zu Olympia ha-ben, dürfen die Manager jederzeit jeden erfolgreichen Amateur unter Vertrag nehmen und anschließend für Olympia melden lassen. Selbst britische Zeitungen äußerten im Vorfeld der Olympischen Spiele 2012 in London massive Bedenken gegen diese Entscheidung. Boxspezia-list Alan Hubbard bezog sich auf ein im „Independent on Sunday“ ver-öffentlichtes bislang geheimgehaltenes AIBA-Protokoll, wonach bei Olympia auch auf den bisher bei den Amateuren üblichen Kopfschutz verzichtet werden soll und fünf Runden nach dem Profi-Punktsystem
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absolviert werden. Selbst auf das bisher bei den Amateuren noch übli-che Trikothemd soll verzichtet werden. Hubbard wandte sich an den langjährigen AIBA-Generalsekretär Karl-Heinz Wehr aus der DDR und bat ihn um seine Meinung zu dieser Entscheidung. Dessen Antwort: „Wahnsinn, nicht im Interesse des Sports, sondern nur im Interesse des Geldmachens!“
Junge Welt; 18.9.2009, Klaus Huhn
„Stasi“ bis ans Grab
Die erst am 3. September durch den Rennschlittenweltverband (FIL) verbreitete Nachricht vom Tod Anna-Maria Müllers am 23. August musste nicht nur betroffen stimmen, weil die Rennschlitten-Olympiasiegerin von 1972 zu den profiliertesten DDR-Winter-sportlerinnen gehörte, sondern auch weil der Weltverband in seinem Nachruf keine Silbe über einen der übelsten Skandale bei Olympi-schen Spielen verlor, der Anna-Maria Müller 1968 um eine olympische Medaille gebracht hatte. Nach der 1965 vom IOC in Madrid gefällten Entscheidung, die DDR fortan mit eigenen Olympiamannschaften star-ten zu lassen, erlebte Grenoble 1968 bei den Winterspielen deren De-büt. Die Rennschlittenwettbewerbe auf der Natureisbahn in Villard de Lans mussten wegen Tauwetters mehrmals verschoben werden. Am 11. Februar wurden die ersten beiden Einsitzerläufe gefahren, Anna-Maria Müller kam mit sechs Hunderstelsekunden Rückstand zu Ortrun Enderlein auf den zweiten Rang. Tags darauf wurden beide disqualifi-ziert - wegen angeblichen Anheizens ihrer Kufen. Die Entscheidung stützte sich auf die Aussage eines polnischen Schiedsrichters, der al-lerdings keinen Beweis dafür beibrachte. Eine Stunde nach dieser Entscheidung, erklärte der bundesdeutsche Mannschaftsleiter Richard Hartmann, dass die DDR damit den olympischen Frieden verletzt ha-be, lud alle Mannschaftsleiter in das Hotel, in dem die BRD-Mann-schaft logierte und legte dort eine Erklärung vor, die den Ausschluss der kompletten DDR-Rennschlittenmannschaft forderte. Die Mehrheit der Mannschaftsleiter lehnte es jedoch ab, die Erklärung zu unter-
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schreiben. Am nächsten Tag erschien der IOC-Präsident Avery Brun-dage (USA) in Villard de Lans und forderte vom Vorstand des Renn-schlittenverbandes Unterlagen für die angeblichen Regelverstöße. Es gab keine. Daraufhin empfing Bundage in seinem Hotel demonstrativ die drei DDR-Mädchen und versicherte ihnen seine Sympathie, da er die Entscheidung nicht aufheben könne. Anna-Maria Müller sorgte mit ihrem Sieg bei den Spielen in Sapporo 1972 dafür, dass die Verdäch-tigungen der DDR-Athletinnen auch sportlich überzeugend widerlegt wurden.
Die in Deutschland verbreitete Nachricht über den Tod Anna-Maria Müllers aber wurde 41 Jahre nach den Spielen zur Hetze gegen das MfS missbraucht. So schrieb „Neues Deutschland“ (4.9.2009): „Die Anschuldigungen stellten sich nach Auswertung von Stasi-Akten als falsch heraus.“ Diese Behauptung musste den Eindruck erwecken, als wäre das Ministerium für Staatssicherheit der DDR je in den Grenoble-Skandal verwickelt gewesen - warum hätte es sonst Akten anlegen sollen? In Kreisen früherer DDR-Sportler und Funktionäre wurde die unseriöse Darstellung mit Missfallen zur Kenntnis genommen.
Junge Welt, 10.9.2009, Klaus Huhn
Rekord-Fakten
Dieser Tage war von Agenturen die Nachricht verbreitet worden, die 400-m-Läuferin Sanya Richards (USA) habe Marita Koch (Rostock) „überflügelt“. „Begründet“ wurde das mit dem Hinweis, dass Marita Koch in ihrer Laufbahn 36 Runden-Läufe unter 50 Sekunden gewon-nen hatte und die Richards nun auf 37 gekommen sei. Hinzugefügt wurde dieser „Rekordmeldung“ zwar, dass Marita Koch noch immer den 400-m-Weltrekord (47,60 s) hält aber dem folgte der Satz „die Au-torin Brigitte Berendonk veröffentlichte in den 90er Jahren allerdings Dokumente, nach denen Koch gedopt haben soll,“ was sogar im ND kommentarlos nachgedruckt worden war. Insider verwiesen darauf: Als einziger Maßstab für die Anerkennung eines Weltrekords galt bislang das im Auftrag der Internationalen Leichtathletikföderation (IAAF) vor
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Ort ausgefüllte Protokoll. 1985 war das aus der australischen Haupt-stadt Canberra von den zuständigen Instanzen der IAAF übermittelt worden - inklusive eines negativen Dopingbefunds. Insider erinnerten auch daran, dass alle Versuche, die Rekorde von DDR-AthletInnen im Nachhinein anzufechten, in den vergangenen 19 Jahren gescheitert waren.
Junge Welt; 16.8.2009, Klaus Huhn
Leichtathletik-Splitter
Irgendwann während der Übertragung vom faszinierenden WM-Speewerfen der Frauen, unterbrach der ZDF-Reporter Poschmann seine Steffi-Nerius-Laudatio und fügte ein, dass die tolle Siegerin aus Mecklenburg-Vorpommern stamme und erst irgendwann nach Leverkusen gewechselt sei. Möglicherweise wusste er nicht, dass Sassnitz auf der Insel Rügen liegt und möglicherweise wusste er es, hielt es aber nicht für belangvoll, es in der Stunde des größten Triumphs der Steffi Nerius zu erwähnen. jW schließt die Lücke und erwähnt, dass die Weltmeisterin ihre Karriere als Volleyballerin bei Dynamo Sassnitz begann (ich habe lange gegrübelt, ob man das an die große WM-Glocke hängen darf, denn immerhin war Erich Mielke bei Dynamo der Vorsitzende und niemand weiss, ob das nicht die Birthlern aktiviert...), wo sie DDR-Schülermeisterin wurde. Weil sie für die Duelle am Netz zu klein war, schickte man sie zu den Leichtathleten der Betriebssportgemeinschaft Empor Sassnitz, wo ihre Mutter ihr das Speerwerfen beibrachte und Günter Piniak ihr erster Trainer wurde. Ja, das darf man erwähnen, denn das hatte schon Täve Schur in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Gründung des DTSB mitgeteilt und ich bin obendrein verpflichtet, das zu tun, dieweil die Sportjournalisten der DDR auf einer Jahreshauptversammlung – ohne Weisung des ZK – beschlossen hatten, künftig bei allen Olympiasiegern und Weltmeistern den ersten Trainer zu nennen. Der Beschluss wurde beim Beitritt der DDR zur BRD zu annullieren vergessen. Und weil wir einmal dabei sind: Von den Medaillen-
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gewinnern bis zur „Halbzeit” der WM kamen drei Viertel aus dem Osten. Nadine Kleinert mit Kugelstoßsilber aus Magdeburg, Rolf Bartels mit Kugelstoßbronze aus Neubrandenburg und eben Steffi Nerius. Die Bundeswehr verwies natürlich darauf, dass Nadin Kleinert in ihren Reihen als Oberfeldwebel dient und Bartels als Hauptboots-mann, vermutlich, weil es von Neubrandenburg nicht so weit ist bis zur Küste.
Weniger Jubel als diesen Medaillengewinnern gilt nach wie vor den Eintrittspreisen. Wer sich zum Beispiel entschließen sollte, heute ins Olympiastadion zu geben, müsste für einen Platz im Oberring – Fernglas nicht inklusive – 34 Euro hinblättern, für einen Platz, wo man mit einem Theaterglas auskäme 51 Euro, für einen schon guten Sitz mit guter Sicht 85 Euro und wer oberhalb der Ziellinie sitzen will, muss 153 Euro opfern. Das erscheint vielen Leichtathletikfans als zu teuer, aber der frühere Präsident des Leichtathletikverbandes, Digel, teilte Journalisten mit: „Unter dem Aspekt der Einnahmen ist der bisherige Ticketverkauf jedoch sehr gut.” Ein Herbert Zastrow vom Kölner Marktforschungs-Institut Sport und Markt nannte die Weltmeisterschaft ein „Begräbnis erster Klasse.” Wer die Preise gelassen zur Kenntnis nimmt und erfährt, dass der neue 100-m-Weltmeister Bolt für seinen Weltrekord 100.000 Dollar kassierte, von Digel erfährt, dass vor allem der „Aspekt der Einnahmen” gilt und bedenkt, dass vieles in diesem Land eher für die Reichen gedacht ist, wird das mit dem „Begräbnis” nicht zu ernst nehmen. Obendrein muss er auch in Rechnung stellen, dass die WM „nebenbei” obendrein zum Thema „20 Jahre Mauerfall” beiträgt, in dem vor den Toren des Stadions „Dopingopfer” der DDR demonstrieren und Flyer verteilen und Brillen, durch die man nichts sieht. Chefin der Demo ist die Literaturprofessorin Ines Geipel, die mal so schnell lief, dass sie zusammen mit Marlies Göhr und zwei anderen jungen Damen einen Weltrekord aufstellte, den sie sich aber streichen ließ, sodass fortan drei Damen den 4-mal-100-m-Klubstaffel-Weltrekord-Rekord halten. Göhr kommentierte den Schritt im TV mit der Bemerkung: „Ich weiß nicht, ob sie unter Profilneurose leidet.” Das fand die Geipel nicht so sehr gut, demonstriert aber weiter. Die Frau ist
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Professorin an einer renommierten Hochschule für Schauspieler, vielleicht liegt es daran...
Junge Welt; 20.8.09 Klaus Huhn
„Sensationsfund”
Zum sechsten Mal verleiht der Dopingopferhilfeverein heute die Heidi-Krieger-Medaille. Der Preis ist eine der ergreifendsten Auszeich-nungen des internationalen Sports: Andreas Krieger, staatlich aner-kanntes Dopingopfer, hat jene Goldmedaille gespendet, die er 1986, vor seiner Geschlechtsumwandlung, als Kugelstoßerin Heidi Krieger bei der EM in Stuttgart gewonnen hat.
In Berlin setzt der Dopingopferhilfeverein nach der Debatte über die Anstellung ehemaliger Dopingtrainer im deutschen Hochleistungssport Zeichen: Die Medaille geht an vier ehemalige Trainer, die sich dem Dopingsystem in Ost und West verweigert haben: Johanna Sperling aus Leipzig, eine ehemalige Rudertrainerin; Henner Misersky aus Stützerbach in Thüringen, ehemals Skilanglauftrainer beim SC Motor Zella-Mehlis; Hansjörg Kofink (Rottenburg), ehemaliger Bundestrainer für Kugelstoßen, und Horst Klehr, Apotheker aus Mainz und Gründungsmitglied der ersten Dopingkommission des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV).
Johanna Sperling, Jahrgang 1932, geht erstmals an die Öffentlichkeit. Sie hat 1963 den von ihr betreuten Ruderinnen von Doping abgeraten. ...
Johanna Sperling gab es ihren Athletinnen sogar schriftlich. Dieser Brief, den sie den Ruderinnen ins Trainingslager... der National-mannschaft nach Berlin-Grünau schickte, ist noch erhalten. Es ist ein Sensationsfund...
Berliner Zeitung; 27.08.2009, Jens Weinreich
Wie es wirklich war...
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Frage an Johanna Sperling: Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung. Woher haben Sie den Mut genommen, gegen Doping in der DDR vorzugehen?
Johanna Sperling: Das war doch kein Entgegentreten gegen das Doping in der DDR, von dem ich damals noch gar nichts wusste. ...
Deshalb haben Sie den Brief an Ihre Sportlerinnen geschrieben, um sie vor Doping zu warnen?
Es ging um die Vorbereitung auf die EM 1963 oder 1964 in Moskau, bei der ich nicht dabei war. Ich wollte den Mädchen aber noch einiges auf den Weg mitgeben. Deshalb der Brief, der aber auch andere Ratschläge, auch trainingsmethodische enthielt. Die Passage mit dem Doping beruhte auf einem Ereignis 1960 in London. Dort wurde ich Augenzeuge, wie sich Trainer im Kreise von Ruderinnen aus Berlin und Leipzig. über einen Masseur beschwerten, der an Athleten Kof-feintabletten verabreicht hatte. Dietrich Harre, damals Ruder-Trainer in Leipzig, hat sich furchtbar darüber aufgeregt. Ich wollte mit meinem Brief auch darauf aufmerksam machen, ja nichts von fremden Personen anzunehmen.
Etwas, das auf der Dopingliste stand?
Von einer solchen Liste wusste ich damals gar nichts. ...
Wurde Ihnen als Trainerin nahe gelegt oder gar befohlen. Ihren SportlerinnenDopingmittel zu verabreichen?
Ein klares Nein. Ich habe an keiner Besprechung teilgenommen, weder auf Klub- noch auf Verbandsebene, in der das Thema Doping eine Rolle gespielt hätte. ...
Gab es für Sie auf Grund Ihres Briefes, in dem Sie sich gegen Doping aussprechen, Nachteile in Ihrer Trainer-Arbeit?
Nein. Ich habe in Gesprächen immer meine Position vertreten, dass Doping gesundheitsschädigend und unfair ist. Es hat nie jemand mir gegenüber auf diesen Brief Bezu genommen...
Aber war es (Doping) denn nicht staatlich verordnet?
Mir ist nie verordnet worden, Doping zu nehmen oder zu verabreichen...
Der Dopingopfer-Hilfeverein liest aus Ihrem Brief es habe in der DDR
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schon in sehr frühen Jahren Doping gegeben ...
Dazu kann ich nichts sagen. Ich kann doch kein Kronzeuge sein und war von der Auszeichnung schon überrascht. Erst wollte ich sie nicht annehmen, ...
Warum sind Sie 1971 aus dem SC DHfK ausgeschieden?
Das hatte verschiedene, auch persönliche Gründe. Ich habe dann als Sportlehrerin im Hochschuldienst gearbeitet und war ab 1974 ein Jahr beim SC Einheit Dresden als Rudertrainerin tätig. Frauen-Rudern war für die Spiele in Montreal ins olympische Programm aufgenommen worden. Auch in Dresden habe ich nichts von der Verabreichung von Doping gemerkt. Später kam ich zum SC DHfK zurück, wo ich bis 1980 als Nachwuchstrainerin gearbeitet habe und schließlich wegen einer Krankheit aufhören musste. Ich habe nicht das Recht zu sagen, dass in der DDR gedopt worden ist. ...
Leipziger Volkszeitung, 27.8. 2009, Interview: Winfried Wächter
Schäubles Bekenntnis
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble über Doping-Aufarbeitung, Ost-Diskriminierung und die Zusammenführung zweier deutscher Sportkulturen …
Wolfgang Schäuble war Bundesinnenminister, als vor bald zwanzig Jahren die Mauer fiel. Er verhandelte den Vertrag zur deutschen Ein-heit. Seit 2005 ist er zum zweiten Mal als Innenminister im Kabinett für den Sport zuständig.
Kaum waren Sie 1972 in den Bundestag gewählt, wurden Sie Mit-glied im Sportausschuss. Hat sich Ihr Blick auf den Sport seitdem ver-ändert?
Ich war und bin sportbegeistert völlig unabhängig von der Politik. Im Lauf der Zeit ändern sich Perspektiven. Manchmal wird man schon enttäuscht. Wir Menschen neigen dazu, durch Übersteigerung alles zu gefährden. Das ist in der Finanz- und Bankenkrise nicht anders. Und das ist im Sport so. Alle wollen gewinnen. Im Zweifel sind wir alle in der Versuchung zu schummeln.
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Hat der Sport des Westens die Herausforderung angenommen, Sport zu einem Teil des Kalten Krieges zu machen?
Er war natürlich Teil des System-Wettbewerbes. Das sollte man nicht zu lange in Abrede stellen. Die gesamtdeutschen Olympiaausschei-dungen 1960 und 1964 waren ja fast spannender als die Olympischen Spiele selber, so groß war die Rivalität. Aber es war richtig, dass wir wieder und wieder gesagt haben, man kann auch unter freiheitlichen Bedingungen Schritt halten. Die DDR war uns in den Medail-lenstatistiken mit Abstand überlegen, und sie war auch im Ostblock ganz vorn. Ja, die Deutschen! Wenn sie etwas richtig machen, dann sind sie immer ganz gut, aber sie können es auch auf die Spitze trei-ben. Vermutlich gab es deshalb auch den Missbrauch mit leistungsför-dernden Mitteln. Aber es wäre falsch, alle Erfolge darauf zurückzufüh-ren und jeden Sportler in Verdacht zu bringen. Und in manchen Berei-chen waren sie trainingsmethodisch sehr gut. Außerdem wissen wir, dass es im Westen auch großen Mist gab. Als jemand, der in Freiburg studiert hat, muss ich sagen: Dass ausgerechnet die Sportmedizin der Uni Freiburg sich in einem solchen Maße hat verstricken lassen, ist schmerzlich.
Hatten Sie als Mitglied des Sportausschusses und als Innenminister eine Vorstellung vom Ausmaß der Manipulationen in der DDR?
Nein. Die Debatte kam in den siebziger Jahren auf, als man das Ge-fühl hatte, einige Sportlerinnen wirkten doch sehr männlich. Mit den anabolen Steroiden, das kam später. So eine richtige Vorstellung habe ich davon nicht gehabt. In den achtziger Jahren habe ich mich nicht mehr so intensiv um den Sport gekümmert, weil ich andere Aufgaben in der Politik und in der Regierung hatte.
Peter Danckert, der Vorsitzende des Sportausschusses, zitiert Sie in seinem Buch aus der berühmten Sportausschusssitzung vom Oktober 1977 und schreibt dann, der Sport der Bundesrepublik habe an einer Wegscheide gestanden: „Als übergeordnete Zielstellung dominierte damals hierzulande die unheilvolle sportpolitische Haltung, mit geeig-neten Strategien, wie auch immer sie auszusehen hätten, den DDR-Sporterfolgen Paroli bieten zu müssen“. Hat er recht?
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So etwas kann nur einer schreiben, der sich damals vermutlich über-haupt nicht für Sportpolitik interessiert und jedenfalls nicht wirklich Ah-nung hat. Wie man einen solchen Unsinn in Buchform veröffentlichen kann, das ist fast ein bisschen schmerzhaft. Wenn Sie die Ver-antwortlichen im deutschen Sport von damals nehmen, Willi Weyer und Willi Daume, in der Regierung Werner Maihofer - dann wissen Sie, dass das abenteuerliche Vorstellungen sind. Mit der Wirklichkeit haben sie nichts zu tun. Wahr ist, dass wir alle gesagt haben, man kann auch in einem freiheitlichen System Spitzenleistung bringen und Medaillen erringen, und wir wollen jungen Leuten die Möglichkeit bieten, wenn sie das wollen.
Dabei ist es nicht geblieben.
Es passieren immer auch Fehler. Damals stand in der Debatte gar nicht so sehr Doping im Vordergrund, sondern vielmehr Geld. In jener Zeit begann der Umbruch. Es ging darum, die Vorstellung vom reinen Amateur, die auch Elemente von Unwahrhaftigkeit hatte, aufzubre-chen. Es folgte die Debatte über sportmedizinische Betreuung.
... in der Sie sagten, man solle Doping nicht grundsätzlich verbieten, sondern von verantwortungsbewussten Medizinern vornehmen lassen, wenn man doch wisse, dass dies nicht zu kontrollieren und so auch gar nicht gemeint sei.
Gut, dass alles aufgeschrieben wird. Ich würde das nie mehr so sa-gen. Aber man darf nach dreißig Jahren auch ein bisschen klüger sein. Man sollte niemanden an Sprüchen messen, die er vor dreißig Jahren getan hat; das fällt auf den zurück, der es tut.
Wie soll der Leichtathletikverband den Sie fordern, durch Vergan-genheitsbewältigung den Fall Werner Goldmann lösen, wie der Ski-verband den Fall Frank Ullrich? Sobald sich ein Zeuge findet, steht ein Einzelfall in der Diskussion. Es war ja ganz üblich in der DDR, dass ein Trainer Dopingmittel verabreicht hat ...
Und anderswo auch. Wir dürfen die Debatte über Belastungen aus der Vergangenheit nicht so führen, dass sie auf dem Gebiet der ehe-maligen DDR als diskriminierend empfunden wird. Ganz so sauber war es in der alten Bundesrepublik auch nicht. Und man muss sehen: Es
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gibt für all dies, strafrechtlich wie sportrechtlich, Verjährungsfristen. Sie sind alle abgelaufen.
Man kann das doch nicht ignorieren!
Das tut auch niemand. Selbstverständlich kann man nicht aus öffent-lichen Mitteln Trainer bezahlen, von denen man nicht sicher sein kann, dass sie konsequent gegen Doping sind. Wer in der Vergangenheit gedopt hat, zu dem ist es schwierig, Vertrauen zu haben. Deshalb hat der Deutsche Sportbund unmittelbar nach der Einheit eine Kommissi-on eingesetzt.
... die Reiter-Kommission unter Leitung des Präsidenten des Bun-dessozialgerichtes ...
Daran war ich als Innenminister beteiligt. Nun, fast zwanzig Jahre später, gibt es die Steiner-Kommission. Ich begrüße, dass der DLV im Fall Goldmann eng mit ihr zusammengearbeitet hat. Und es gibt die Initiative von Trainern, reinen Tisch zu machen. Wenn der Sport da ei-ne Lösung finden könnte, vielleicht eine Selbstbezichtigung, die es dann erlaubt zu sagen, die Sache ist erledigt, sie liegt mehr als zwan-zig Jahre zurück, und wenn man zudem sagen kann, diese Trainer bieten die Gewähr, dass sie sauberen Sport trainieren, dann ist das in Ordnung. Wenn aber einer diese Gewähr nicht bietet, weil er aus der Vergangenheit seine Lehren nicht gezogen hat, dann kann man ihn nicht beschäftigen.
Eine Tätigkeit im DDR-Sport allein ist kein Ausschlusskriterium?
Es wäre doch absurd, wenn jemand, der irgendwann in seinem Le-ben mit Doping zu tun hatte, nie mehr als Trainer beschäftigt werden kann. Ich glaube, wir sind in der Endphase der Auseinandersetzung mit diesem Teil unserer Vergangenheit. Den Beteiligten ist allemal zu raten, die Dinge auf den Tisch zu legen. Aber dann müssen sie auch die Chance bekommen, dass man sagt: Das ist so lange her, dass es nach allen rechtlichen und sportrechtlichen Maßstäben verjährt ist.
Sie fordern, durch Vergangenheitsbewältigung nicht die Menschen zu diskriminieren. Wie beurteilen Sie Veröffentlichungen und Fernseh-auftritte von Werner Franke?
Die beurteile ich gar nicht. Aber er hat ganz unbestreitbar seine Ver-
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dienste. Und besonders seine Frau hat wohl unter einer verfälschten Konkurrenz gelitten. Beide haben einen langen Kampf geführt, und in vielen Dingen haben sie leider Recht behalten. Ich habe Franke nicht so verstanden, dass er eine Ost-West-Debatte führt.
Viele Athleten und Trainer aus der DDR-Zeit werfen ihm genau das vor.
Man kann gerade als jemand, der stolz ist auf die Erfolge der Leicht-athletik in der DDR, schwer bestreiten, dass dort in erheblichem Maße Wettbewerb verfälscht worden ist. So will ich nicht verstanden werden: dass man nicht drüber redet. Ich will schon sagen, dass es das ver-mutlich in der DDR mehr gegeben hat, aber das hat's in der Bundes-republik auch gegeben. Und wir sollten gemeinsam alles daransetzen, dass wir es in der Zukunft nicht haben. Wir wissen, dass es falsch war. Wir haben ja ganze Rekordlisten abgeschafft.
Sie waren vor zwanzig Jahren dafür, die Stasi-Akten nicht zu öffnen. Hätte das für eine friedlichere Einheit im Sport gesorgt?
Ich hatte bei einem Interview erzählt, dass das kurzzeitig eine Auf-fassung des damaligen Bundeskanzlers war, die ich zuerst teilte. Wir haben damals gesagt: Es wird so viele Verletzungen geben! Die Grundlinie unserer Denkweise war: Wichtig ist, dass wir uns auf die Zukunft konzentrieren. Den Wunsch der frei gewählten Volkskammer nach Aufarbeitung haben wir dann natürlich respektiert. Rückblickend kann man sagen, wir konnten uns das als größeres, vereintes Deutschland leisten. Und die große Aufgabe, zwei völlig unterschiedli-che Sportkulturen zu integrieren, ist gut gelungen.
Sie haben gedacht wie ein Sportler.
Ich habe lange Tennis gespielt. Da gibt es die Regel: Arger dich nicht über deinen Doppelfehler, konzentrier dich auf den nächsten Ball!
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.3.2009, Das Gespräch führte Mi-chael Reinsch
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RADSCHLÄGERS ERBE
Von Heike Drechsler war dieser Tage verblüffend oft die Rede. Erst publizierte die „Süddeutsche Zeitung“ ihre angebliche „Ab-rechnung“ mit dem DDR-Sport: „Der Leistungssport war ein Teil des DDR-Systems gewesen und ich war auch ein Teil des DDR-Systems. Wir waren Diplomaten im Trainingsanzug gewesen und mussten uns viel anhören.“ Dieweil das wohl nicht klar ge-nug formuliert erschien, fügten die Münchner hinzu: „In diesem Fall waren das Doping-Vorwürfe, die für ihre Teenager-Jahre dokumentiert waren, von denen sie aber nichts hören wollte. Sie habe sich verschlossen, sagt sie `weil ich damit nicht umgehen konnte. Ich hatte mich versteckt in meinem Sport.`“ Eine sybilli-nische Auskunft und Ursprung vieler Fragen: Hat sie gedopt? Etwa auch noch, als sie für die BRD gewann? Wer hatte wo was `dokumentiert´?
Derlei Undurchsichtigkeiten sind immer eine Startgelegenheit für Hans-Dieter Schütt (ND), der sogleich eine langsträhnig be-bilderte Betrachtung mit der Oberzeile „Worte von Heike Drechs-ler und eine Wahrheit über die DDR“ schmückte und „Ich habe mich in meinem Sport versteckt“ als Titel folgen ließ.
Denn das gab´s noch nicht! Bislang hatten sich alle, die die DDR nicht mochten, bei Schütt in „Nischen“ verhuscht, nun also die erste „im Sport“. Schütt gab sich von solcher Variante be-geistert: „Bemerkenswerte Sätze. Es sind befreite Gedanken.“ Noch eine Medaille für Heike! Aber dann schlug der Ex-jW-Chefredakteur flugs eine Hängebrücke zu irgendwelchen Micha-el-Brie-Thesen in irgendeinem Sonderheft. Heike gab das an-geblich her. Und Schütt legte nach: „Sportler zum Beispiel er-rangen Siege, Millionen Menschen freuten sich darüber, die ide-ologische Interpretation hatte mit beidem nichts zu tun, wurde
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aber zum Ein und Alles erklärt.“ Meinte Schütt etwa das „Wunder von Bern“? Kann kaum sein, denn das war fast dreißig Jahre vor Heikes WM-Debüt 1983 in Helsinki. Bern, war das nicht auch der Ort, an dem die Regierung der BRD ihrer Eishockeymannschaft verbot, aufs Eis zu gehen und gegen die DDR zu spielen – nur weil die Gefahr nicht auszuschließen war, dass die DDR-Flagge gehisst würde? Nein, das war in Genf, aber es spielt kaum eine Rolle,– siehe Schütt. Die Ideologie war überall – nicht nur in der DDR.
Der Autor wurde übrigens durch die Drechsler-Debatte in Ge-wissenskonflikte gestürzt: Mitte Juni 1988 war in Düsseldorf der einzige Leichtathletik-Länderkampf zwischen beiden deutschen Staaten ausgetragen worden. Die Gastgeber grübelten lange, was man den Siegern überreicht und entschlossen sich für einen bronzenen Radschläger. Die DDR gewann deutlich, Heike zwei Disziplinen. Bei der Siegerfeier kam Heike plötzlich in den Sinn, mir einen ihrer beiden zu schenken. Den habe ich heute noch. Nun grübele ich, haben wir uns gemeinsam „versteckt“? Soll ich ihn wegen der Ideologie zurückgeben? Wenn ja, wem?
Vielleicht treffe ich sie bei der WM in Berlin. Aber sie wird ihn auch nicht mehr haben wollen, denn der DDR-Sieg war so hoch ausgefallen (fast hundert Punkte!!!), dass kaum jemand daran erinnert werden mag.
Junge Welt 28. 7. 2009 Klaus Huhn
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GEDENKEN
Prof. em. Dr. Hans Schuster
4.Dezember 1928 - 19.September 2009
Er starb nach schwerer Krankheit kurz vor Vollendung des 81. Le-bensjahres. Weltweit hatte er sich einen exzellenten Ruf als langjähri-ger Direktor des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport in Leipzig erworben. Mit seinem Namen bleiben untrennbar verbunden die Forschung im Leistungssport der DDR und der Aufbau des For-schungsinstituts für Körperkultur und Sport als Leitinstitut dieses Zwei-ges der Sportforschung.
Nach Abschluss seines Studiums an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, der Aspirantur, einer kurzen Laufbahn als Neulehrer und sei-ner Tätigkeit im Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport der DDR in Berlin übernahm er zu Beginn des Jahres 1960 als Direktor die Leitung der Forschungsstelle der Deutschen Hochschule für Körper-kultur in Leipzig. Er trug den Hauptanteil der Initiative und der operati-ven und organisatorischen Bemühungen und Anstrengungen zur strukturellen und funktionellen Verbindung der Forschungsstelle und den medizinisch-biowissenschaftlichen Kapazitäten der DHfK 1969 zum eigenständigen Forschungsinstitut, dem FKS. Von 1960 bis 1990 - zwischendurch war er auch zwei Jahre Rektor der DHfK -, war die Leistungssportforschung fast drei Jahrzehnte lang sein Wirkungskreis. Er hat wesentlichen Anteil daran, dass dieser Bereich wie auch das Institut sich zu einem wirkungsvollen Bestandteil des Leistungssports der DDR profilierten und international ein hohes Ansehen errangen.
Folgende Schritte wurden auf diesem Weg zurückgelegt. In Auswer-tung der Olympischen Spiele in Rom wurde verstärkt die sportartspezi-fische Forschung zur wesentlichen Grundform der Forschungstätigkeit ausgebaut. Beginnend mit Leichtathletik, Turnen, Rudern und Schwimmen wurde die sportartspezifische Forschung zu Beginn der 70er Jahre auf 13 Sportarten und Disziplinen erweitert.
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Die Bearbeitung übergreifender Themen wie Talentsichtung und Auswahl, langfristige Trainingsplanung und Trainingsauswertung, un-mittelbare Wettkampfvorbereitung und Anpassung an Höhenbedin-gung bildete eine zweite wesentliche Richtung der Forschung.
In Auswertung der Olympischen Spiele in Mexiko und in Vorberei-tung auf München gewann der gesamte Forschungsprozess eine neue Qualität - in Form der interdisziplinären Forschung. Die neue Her-angehensweise setzten 17 Professoren, 100 promovierte Fachleute aus 20 wissenschaftlichen Disziplinen sowie die entsprechenden wis-senschaftlich-technischen Mitarbeiter um.
Einen weiteren die wissenschaftliche Arbeit und die Forschungstätig-keit bestimmenden Faktor bildeten die enge und vertragliche Bindung und Verflechtung des FKS mit den Praxispartnern, dem DTSB und seinen Sportverbänden. Daran hatte Hans Schuster als Direktor des FKS einen wesentlichen persönlichen Anteil. Es gehörte zur Tradition, dass er die Grundrichtungen des Zusammenwirkens der Sportfor-schung mit der Sportpraxis in Vorbereitung auf die jeweils nächsten Olympischen Spiele vor dem Plenum der Sportfunktionäre, Trainer und Sportwissenschaftler zu Beginn jedes neuen Olympiazyklus´ in Klein-machnow vortrug und zur Diskussion stellte.
Das System des FKS in der Leistungssportforschung, die wissen-schaftlichen Ergebnisse und ihre wirkungsvolle Umsetzung in der Sportpraxis, haben diesem Institut nicht nur internationale Anerken-nung verschafft, sondern auch zu gewissen Nachahmungen geführt, so in Italien, Spanien, England und Kanada. Die letzte Studiendelega-tion, die den Direktor des FKS Hans Schuster zu einem Erfahrungs- und Meinungsaustausch aufsuchte, kam 2006 aus Japan. Es hat Hans Schuster schwer getroffen, als sein Lebenswerk - das Forschungsinsti-tut -, das einmalig in der Welt war, durch die politische Arroganz ei-niger altbundesdeutscher Politiker, Sportfunktionäre und Sportwissen-schaftler aufgelöst wurde.
Wir Mitarbeiter des FKS werden unserem langjährigen Direktor ein ehrendes Andenken bewahren.
Prof. em. Dr. Alfons Lehnert
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DR. HELMUT SCHULZE
21. Dezember 1924 - 27. April 2009
Das Leben eines in der ganzen DDR bekannten Rundfunk- und Fernsehreporters der älteren Generation, der die demokratische Sportbewegung von Anfang an begleitete, das Leben von Dr. Helmut Schulze, vollendete sich 84-jährig in Leipzig, wo er geboren wurde, aufwuchs, die Schule besuchte, Handball spielte, sogar im Sattel von Rennpferden saß, studierte, zum Journalismus wechselte, im fortge-schrittenen Alter an der DHfK promovierte, jungen Journalistenkolle-gen bis 1994 handwerklich „auf die Sprünge“ half und wo er immer ganz zu Hause war. Als 1952 nach der Verwaltungsreform in der DDR die Landesrundfunkanstalten aufgelöst wurden und die meisten seiner Kollegen ihren Wohnsitz nach Berlin verlegten, beschloss der Sportre-porter von Radio DDR, auch weiterhin von seiner Heimatstadt aus zu arbeiten, weite Wege in Kauf zu nehmen. Helmut Schulze war wie die meisten seiner betagten noch lebenden Kollegen, die ihm auf dem Friedhof Leipzig-Kleinzschocher mit das letzte Geleit gaben, ein Quer-einsteiger in diesen Beruf, und er musste, was die Sportarten und Er-eignisse betraf, vom ersten Tag an immer vielseitig, immer ein Mehr-kämpfer sein. Resümierend schrieb er 1997 in einem Brief „aus Lust, Liebe und Interesse am Sport und am Journalismus“ habe er, der nach dem Krieg an der Leipziger Handelshochschule und der Universität Volkswirtschaft studiert hatte, an den Mitteldeutschen Rundfunk in der Leipziger Springerstraße geschrieben und sich wie vor ihm Werner Eberhardt als Reporter beworben. Nach zwei Probereportagen (Schwimmen und Fußball) erkannte man im Funkhaus bereits sein Ta-lent und wenig später wurde im Mai 1949 seine erste Radsportrepor-tage gesendet. Symptomatisch die Sportart, möchte man sagen, denn später begleitete keiner die „Friedensfahrt“ mit dem Mirofon so oft wie er. Zu den Höhepunkten seiner Laufbahn zählte er selbst die 12 Über-tragungen von den Olympischen Spielen. Im Winter 1956 saß er im italienischen Cortina d'Ampezzo zum ersten Mal am olympischen Mik-rofon und 1988 in südkoreanischen Seoul zum letzten Mal. Auch er
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machte zuweilen Ausflüge in das aufsteigende Medium Fernsehen. Als Helmut Schulze am 17. Mai 1952 in Leipzig in Anwesenheit von Minis-terpräsident W. Ulbricht von der Grundsteinlegung zum Neubau der DHfK live berichtete, konnte er noch nicht ahnen, dass die dann in ra-schem Tempo entstehenden Sporthallen und Lehrgebäude später auch für ihn persönlich sehr bedeutsam werden könnten, aber er spür-te frühzeitig in seiner weiteren beruflichen Entwicklung, dass der Sportreporter für seine Kompetenz auch ein solides sporttheoretisches Fundament braucht. In dieser seiner Auffassung und Berufserfahrung bestärkte ihn Prof. Dr. Meinel von der DHfK, der Anfang der 60er Jah-re die Beziehungen zwischen Körperkultur, Sport und Massenmedien im konkreten gesellschaftlichen Umfeld zu einem wissenschaftlichen Thema machte. Als Helmut Schulze 1975 selbst die Wirkung von Sportinformationen durch den Rundfunk in seiner Dissertation unter-suchte, verwies er auch auf fachliche Defizite bei den Journalisten, und das ließ ihm keine Ruhe, bis 1986 endlich in Leipzig die große Kooperation zwischen Universität, DHfK, Rundfunk und Fernsehen ge-lang. Für interessierte und talentierte Journalistikstudenten entstand das neue Lehrgebiet „Theorie und Methodik des Sportjournalismus“. Damit wurde, später international gewürdigt, Neuland beschritten.
Wenn bei einem Mann der breiten Öffentlichkeit wie Helmut Schulze zum Abschied nicht nur die Berufskollegen seiner Generation an die gemeinsame Arbeit und die damit verbundenen Erlebnisse erinnern, sondern auch die nachfolgenden Generationen seiner „Schüler“ noch einmal Danke sagen, dann vermochte er Spuren zu hinterlassen und über sein eigenes Leben hinaus wirksam zu sein.
Ulrich Pfeifer
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DIETRICH DENZ
16. April 1942 – 6. April 2009
Er starb für alle unfassbar zehn Tage vor seinem 67. Geburtstag. Noch vier Tage zuvor hatte er an der Jahreshauptversammlung der Sportjournalisten teilgenommen. Fast möchte man meinen, er hatte sich von seinen langjährigen Freunden und Kollegen verabschieden wollen, denn Dietrich Denz litt seit Jahren an einer heimtückischen Krankheit. Er war immer optimistisch, dass er den Kampf gewinnen würde, aber am 6 April verlor er ihn Er hinterlässt Frau Heike und Sohn Carsten. Ich habe mit „Didi” nicht nur einen Kollegen verloren, mit dem ich durch fast 40 Jahre verbunden war, sondern auch einen zum Freund gewordenen hilfsbereiten Menschen.
Aufgewachsen im thüringischen Schleusingen, begann er nach dem Abitur und dem Mathematikstudium seine journalistische Laufbahn als Pressereferent im damaligen Staatssekretariat für Körperkultur und Sport. Nach den Olympischen Spielen 1980 wechselte er ins Sportres-sort des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes. Nach der Wen-de war er ab August 1990 im Berliner Büro des Sportinformations-dienstes SID tätig, wo ihm bis zu seinem krankheitsbedingten Aus-scheiden im Juni 2004 auch die Leitung übertragen worden war.
Dietrich Denz erwarb sich als national wie international einen beson-deren Ruf als Boxexperte. 1972 übernahm er die ehrenamtliche Lei-tung des vom Deutschen Boxverband (DBV) der DDR herausgegebe-nen Fachorgans „Boxring”. Später übernahm er von mir auch die Funktion als Presseverantwortlicher im Präsidium des DBV der DDR und als Sekretär der AIPS-Spezialkommission Boxen. Dietrich Denz hatte als verantwortlicher Redakteur von „Boxring” wesentlichen Anteil an der Zusammenführung mit dem in Köln erscheinenden BoxSport. Den Fernsehkommentatoren Werner Schneyder und Erich Laaser stand er in der Profiära von Henry Maske bei TV-Übertragungen zur Seite. 1996 erschien sein Buch „Superstars des Sports Henry Maske”. „Didi” hat eine Lücke hinterlassen. Er wird uns fehlen.
Günter Kurtz
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Horst Schmude
27. Februar 1928 - 15. April 2009
Nahezu 60 Jahre lebte und arbeitete Horst Schmude für den Sport. 40 Jahre in der DDR und fast 20 Jahre wirkte er aktiv mit im Freun-deskreis der Sport-Senioren. Als Mitarbeiter im Kreissportausschuß Angermünde begann er 1949 seine Laufbahn im Sport. Mit seinen Fä-higkeiten und seinem Engagement legte Horst mit den Grundstein für eine erfolgreiche Entwicklung des Land- und Volkssports in der Uckermark. Horst wurde hier zum Mitbegründer der demokratischen Sportbewegung. In Gesprächen erinnerte er sich oft an den schweren Anfang: „Es waren harte, aber auch sehr schöne Jahre“. Auch später, als Horst schon längst Potsdamer und Berliner Bürger war, zog es ihn immer wieder nach Schwedt und Angermünde.
Die guten Ergebnisse seines Wirkens sollte er schon bald an andere Kreise und Regionen weitergeben. 1957 wurde Horst zum Vorsitzen-den des Bezirksvorstandes Potsdam, im gleichen Jahr, als der Grün-dungskongreß des DTSB stattfand, in den ersten Bundesvorstand ge-wählt, dem er 31 Jahre angehörte.
Im Bezirk Potsdam und später als Abteilungsleiter Organisation im Bundesvorstand erlebten wir Horst Schmude als einen umsichtigen Leiter. 1988 wurde Horst schließlich zum Stellvertretenden Vorsitzen-den der Zentralen Revisionskommission des DTSB gewählt.
Den Kontakt zur „Sport-Basis“ verlor Horst nie. Es war ihm ein Be-dürfnis auch ehrenamtlich tätig zu sein. So war er viele Jahre Vor-standsmitglied der Sportgemeinschaft Empor Berlin und später deren Ehrenmitglied.
Als 1990 die Auflösung des DTSB auf der Tagesordnung stand, gab er seinem Leben einen neuen Inhalt. Er gehörte zu den Mitbegründern des Freundeskreises der Sport-Senioren und war fast 20 Jahre im Sprecherrat tätig. Viele Jahre vertrat er die Interessen des Freundes-kreises im Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden e.V., in dem er sich insbesondere gegen Straf- und Rentenungerechtigkeit einsetzte.
Erhard Richter

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Frühjahr 2010 • Einzelheft 6.00 €
Beiträge 30
zur Sportgeschichte
In diesem Heft
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Inhaltsverzeichnis
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Autoren
M Prof. Dr. med. habil. Klaus Gottschalk
KLAUS WEIDT, Sportjournalist, Jahrgang 1936, war Vorsitzen-der der Volkssportkommission der DDR-Sportjournalisten-Vereinigung von 1971 bis 1990, Sportressortchef der Zeitung „Volksarmee“ und Chefredakteur des Fachorgans „Schwerath-let“. 1990 gründete er das Journal „Laufzeit“ und 1994 die Sport-reiseagentur „Reisezeit“. Zu seinen Büchern zählen „Laufend im Osten“, „Laufend auf dem Rennsteig“ und „Der Wunderläufer Haile Gebrselassie“.
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ETAPPENZIEL
Von KLAUS HUHN
Im Herbst 1995 erschien die erste Ausgabe der „Beiträge zur Sportgeschichte“, nun wird die Nummer 30 präsentiert - die die letzte in dieser Form sein wird.
Nein, keine der heute alltäglichen Insolvenzen führte zu dieser Entscheidung, sondern die Absicht, das „Unternehmen“ zu mo-dernisieren. Um es kurz zu machen: Die „Beiträge“ wird man künftig nur noch im Internet finden können, aber das bietet einen immensen Vorteil: Man kann mit einem Klick und einem Mini-Abo in allen bislang erschienenen Ausgaben lesen.
1991 hatte Andreas Höfer (Köln) auf dem ISPHES-Kongress in Las Palmas kühn verkündet: „So wird auch die ohne Zweifel reizvolle Aufgabe, auf der Grundlage der neuen Quellenlage ei-ne Neubewertung der politischen Bedeutung und Funktion des Sports in der DDR zu versuchen, die Historiker aus Ost und West des vereinten Deutschland, aber auch ausländische Kolle-gen, noch geraume Zeit zu beschäftigen haben.“
Neunzehn Jahre später hat man keine Mühe eine „Höfer-Bilanz“ zu ziehen: Profunden DDR-Sportwissenschaftlern wie Edelfrid Buggel wurde postmortem die Ehrenmitgliedschaft in der Internationalen Föderation aberkannt, Günter Erbach teilte man diese Entscheidung mit, als er im Koma lag und kein „Deut-scher“ wandte sich dagegen! Ostdeutsche Sporthistoriker wur-den in Scharen „abgewickelt“ und Herr Höfer widmete dieser Me-thode der „Neubewertung“ keine Silbe des Protestes. Mithin: Der Verdacht entstand, dass er schon 1991 Vorstellungen von „Auf-arbeitung“ im Sinn hatte, wie sie seitdem praktiziert wurden.
Damit nicht genug: Jüngere Kollegen wurden angehalten, die Storys von Boulevardblättern als historische Wahrheiten zu prä-
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sentieren. Ein einziges von vielleicht 3280 Beispielen: Eine Jutta Braun publizierte im Organ des Bundestages „Das Parlament“ am 14. Juli 2008 einen Beitrag „Sportler zwischen Ost und West“ und schrieb: „Im Unterschied zur Dopingproblematik ist die Ge-schichte der `Republikflucht´ von Sportlern, ihrer Motive und ih-rer Konsequenzen bislang kaum beachtet worden. Die öffentli-che Aufmerksamkeit konzentrierte sich bislang auf einige Fälle im Fußballsport in den 1970er und 1980er Jahren, wie etwa das Schicksal von Lutz Eigendorf.“
Ein Paradebeispiel für bundesdeutsche „Aufarbeitung“ Lutz Ei-gendorf kam bei einem – vermutlich durch Trunkenheit am Steu-er – selbst verschuldeten Autounfall 1983 ums Leben. Da er ein „Republikflüchtling“ war, untersuchte die zuständige Polizeibe-hörde in Braunschweig mit der höchsten Akribiestufe – und kam zu keinem anderen Ergebnis. Weil aber eine seit zwanzig Jahren mit Akten handelnde Bundesbehörde einen Zettel präsentierte, auf dem angeblich jemand vermerkt hatte, dass das MfS ihn „beseitigen“ wollte und ein „Zeuge“ behauptete, er hätte den Auf-trag gehabt, ihn zu ermorden und der WDR eine Klamotte aus-strahlte, in der das „bewiesen“ wurde, zauderte Jutta Braun kei-ne Sekunde, das „Schicksal“ von Lutz Eigendorf als Aufgabe für Historiker zu benennen.
Das ist der Stil, in dem die Höfer-Forderung realisiert wurde und mit ziemlicher Sicherheit auch morgen wieder irgendwo praktiziert werden wird.
Unsere „Beiträge zur Sportgeschichte“ konnten weder Förder-mittel erwarten – für die Verbreitung von Wahrheit über die DDR gibt es kein Geld! -, noch Honorare zahlen. Dafür konnten sich unsere Autoren rühmen, den DDR-Sport wirklich gekannt zu ha-ben. So publizierten wir in mehreren Folgen eine Chronik des DDR-Sports, später eine Geschichte, die dann beide auch in
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meinem Verlag als Buch erschienen. (Der Zufall ließ mich un-längst in eine Antiquariats-Suchliste geraten, in der für die 2002 erschienene Geschichte, die für 12.90 € verkauft worden war, 2010 immerhin 30 € verlangt wurden…)
In der ersten Ausgabe der „Beiträge“ konnte man den „Langen Weg der Victoria“ von Irene Salomon nachlesen, die Geschichte des Pokals für den deutschen Fußballmeister, der durch eine einstweilige Verfügung des DFB aus der DDR „zurückgeholt“ werden sollte und dann auf abenteuerliche Weise gestohlen wurde, spurlos verschwand und plötzlich wieder auftauchte. In Nummer 3 fand man die Resultate der Olympischen Spiele von 1896, in der vierten Ausgabe wurde ein bis dahin noch nie publi-zierter Brief Daumes an den Bundesinnenminister Schröder vom 26. Januar 1956 abgedruckt, der nachwies, wie Bonn den bun-desdeutschen Sport dirigiert hatte. Die 30-Jahre-Frist der Ge-heimhaltung dieses Dokuments war abgelaufen und der Her-ausgeber fand es im Archiv des Auswärtigen Amtes der BRD. Dort war er danach noch oft zu Gast und so wurden die „Beiträ-ge“ auch zum „Organ“ für die Veröffentlichung von Geheimdo-kumenten der BRD in Sachen Sport!
Weit mehr Aufmerksamkeit aber galt dem DDR-Sport. So war in Heft 15 (2002) ein aufsehenerregendes Interview mit dem ehemaligen DTSB-Vizepräsidenten Siegfried Geilsdorf unter dem Titel „Die Wahrheit über `Sport II´“ erschienen, in der die bis heute pausenlos verbreiteten Legenden über die – weil nicht medaillenträchtig-angeblich in der DDR nicht mehr geförderten Sportarten durch Fakten widerlegt wurden. Dass die BRD inzwi-schen längst das Stufen-Förderungssytem der DDR übernom-men hatte, was dazu führte, dass erfolglose Sportarten keinen Cent mehr erhalten, war nirgends „aufgearbeitet“ worden.
In den Jahren, in denen Gustav-Adolf Schur als PDS-
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Abgeordneter im Bundestag saß, hatte er dem Sportausschuss des Parlaments auch seinen Standpunkt zum zehnten Jahrestag der Einheit im deutschen Sport übermittelt. Nachlesen konnte man einen Auszug nur in den „Beiträgen“.
Und als zum Beispiel die Düsseldorfer Sportnachrichtenagen-tur sid Weihnachten 1999 die Tataren-Nachricht verbreitete: „Rund 30 Todesfälle hat es jährlich im DDR-Hochleistungssport gegeben“, antwortete Dr. Sigrid Funk den Legendenverbreitern mit Dokumenten und Statistiken.
Hinzu kamen in jedem Heft Zitate der Medien aller politischen Richtungen, die dem Leser die Möglichkeit boten, sich selbst ein Bild zu machen.
Eine Rubrik nahm leider mehr und mehr zu: „Gedenken“. Dort wurden Leben und Verdienste vieler renommierter Wissenschaft-ler, Trainer und Aktiver gewürdigt, deren Tod gemeinhin totge-schwiegen wurde.
Das alles wird man auch künftig in den „Beiträgen zur Sportge-schichte“ finden können – nur eben nur mehr im Internet und wer nicht über einen Zugang verfügt, hat heutzutage genügend Mög-lichkeiten, sich kundig zu machen. Die meisten noch verbliebe-nen Stadtbibliotheken bieten Gelegenheiten und notfalls reser-viert man sich eine Stunde in einem Internetcafe.
So ist das „
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Von HELMUT HORATSCHKE UND KLAUS HUHN
Dass wir zunächst den „anderen“ das Wort überlassen hat gute Gründe, denn es lehrt einmal mehr, welche Rolle heutzutage die Poli-tik spielt. Erinnern Sie sich noch, wie oft man „uns“ vorgeworfen und angekreidet hat, im Sport überhaupt und in Olympischen Spielen ganz besonders politische Aspekte zu sehen? Und das seit mindestens 1949!
Nun schreibt man 2010 und die „Süddeutsche Zeitung“ (27.2.2010) bewertete die Olympischen Winterspiele in Vancouver so: „Peking 2008 ist gerade zwei Jahre her, in Peking potenzierte sich alles, was einem widerlich vorkommt am Sport und seiner Inszenierung. Dressiert wirkende Trommler bei der Eröffnungsfeier, tapfer lächelnde Gewicht-heberinnen, winzige Turnerinnen, inhaftierte Demonstranten, abge-klemmte Internetverbindungen. Peking sollte perfekt wirken, niemand sollte unter die Oberfläche schauen, es waren die falschen Spiele, der Festakt einer Diktatur.
Die Spiele in Vancouver sind wie ein Gegengift. Gesichter erzählen die Geschichte der Spiele, Gesichter in der Menge, Gesichter von Menschen, die dabei sind. Die Frau von der Heilsarmee, die - es war einer der wenigen ganz kalten Abende in Vancouver - an der Skytrain-Haltestelle Marine Drive einen Stand aufgebaut hatte und heißen Ka-kao ausschenkte, als würden die Leute sonst erfrieren, bei zwei Grad plus.“
Und der Sportmedien-Papst Weinreich meldete in der „Berliner Zei-tung“: „Als die deutsche Teamleitung zum Olympiafazit ansetzte, war Bescheidenheit keine Zier. Einige Kostproben: `Zufrieden und wirklich glücklich´, `Respekt, großartig´, `erfolgreich, begeisternd, sympa-thisch´, so resümierte Bernhard Schwank die von ihm als Chef de Mis-sion verantwortete Dienstreise. DOSB-Präsident Thomas Bach (FDP) sprach von `glänzenden Botschaftern unseres Landes´.
Hatte der tatsächlich jene Vokabel benutzt, die so gern Walter Ul-bricht zugeschrieben worden - obwohl der nur das Mitglied des briti-schen Oberhauses
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gern jeder Pfennig begründet wurde, den die DDR für den Sport aus-gegeben hatte. Wer erinnert sich nicht noch, wie oft die „Botschafter im Trainingsanzug“ bei der „Aufarbeitung“ des DDR-Sports bemüht wor-den waren? Und nun hatte der NOK-Präsident Bach keine Hemmun-gen, auf den Trainingsanzug zu verzichten und sie zu „Botschaftern unseres Landes“ zu befördern!
Und was den bundesdeutschen Olympiaoberen auch noch am Her-zen lag, war ihre Bewerbung für die Winterspiele 2018 in München. Um die zu befördern, hatten sie den DDR-Star Katrin Witt aufgeboten, der ein kanadischer Journalist 22 Jahre vorher den Ruf „schönstes Gesicht des Sozialismus“ verliehen hatte. Wenn das keine kompakte DDR-Nostalgie ist: Den Sozialismus für München werben lassen, was dann?
Noch mehr Nostalgie gefällig? „Im Olympischen Dorf lässt Deutsch-lands Sportdachverband DOSB gleich zwei Statistiker in einem abge-dunkelten Zimmer Zahlenkolonnen auswerten. Sie haben 16 Tage lang nichts anderes getan, als Ergebnislisten zu studieren. Welche Na-tion trumpfte in welcher Sportart auf? Was lässt sich daraus für den Spitzensport ableiten?“ (Welt am Sonntag, 28.2.2010)
Hatte die DDR nicht immer die profiliertesten Medaillenzähler? Und hatte die die etwa in „abgedunkelte“ Räume gesperrt?
Übrigens hatte Weinreich dem Chef de Mission auch noch beschei-nigt: „Er lobte `taggenaue Planungen´, `exzellente Sportgeräte´ und, wie immer, das mit Bundesmitteln finanzierte Institut für angewandte Trainingswissenschaften (IAT) in Leipzig sowie die Forschungs- und Entwicklungsstelle Sportgeräte (FES) in Berlin.“ Waren das nicht von der DDR gegründete Unternehmen gewesen, die man für die Medail-lenjagd für wichtig genug hielt, um sie zu übernehmen?
In gewisser Hinsicht erleichtert stellte die „Welt am Sonntag“ noch fest: „Knapp 20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich die Ko-ordinaten des Erfolgs von Ost nach West verschoben. Nach der Wen-de profitierte der gesamtdeutsche Sport von Kaderschmieden wie der Eliteschule KJS und einer Wintersporthochburg wie Oberhof. 2002 bei
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Medaillenspiegel ein. Der ist längst passü, nun profilieren sich die Bayern als Goldschürfer mit Neuner, Riesch, Rebensburg, Sa-chenbacherStehle und Rodler Felix Loch.“
Für die „anderen“ ist die Welt also wieder im Lot, seitdem die Thürin-ger keinen eigenen Medaillenspiegel mehr führen und so kann man sich der Frage zuwenden: Was war Vancouver nun tatsächlich wert?
Noch ein letztes Urteil der „anderen“: Der „Stern titelte: „Vancouver geht in die Geschichte ein“. Nur deucht solch Urteil zu leichtgewichtig, um ernst genommen zu werden. Fast alle Veranstalter Olympischer Feste mühten sich, dass ihre Spiele in die Geschichte eingingen. Also reicht diese Feststellung als Urteil kaum aus.
In der „Begründung“ dominierte – welch Wunder! - die Politik: „Athen 2004 und Turin 2006 waren die Spiele der Teilnahmslosigkeit, Grie-chenland und Italien interessierten sich nicht wirklich für Olympia, Bil-der von leeren Arenen gingen um die Welt. Peking 2008 waren die Spiele der Politik und des Protests. Es ging um Demokratie, Men-schenrechte und Pressefreiheit, es ging bis zum Schluss um die be-rechtigte Frage, ob die Spiele überhaupt in ein Land wie China hätten vergeben werden dürfen.
Vancouver 2010 sind nun die Spiele gewesen, auf die alle sehnsüch-tig gewartet haben, Olympia-Enthusiasten wie auch Olympia-Kritiker. Es waren Spiele, die zum Kern der olympischen Idee zurückkehrten, hier fand es tatsächlich statt, das Fest der Weltjugend. Vancouver 2010 war frei von großen Debatten, von weltweitem Protest, es waren Spiele, die in die Geschichte eingehen werden.
Vancouver 2010 wird ein Leuchtturm bleiben, denn die olympische Zukunft sieht düster aus: London 2012 werden die Spiele der Angst, London gibt über eine Milliarde Euro für Sicherheit aus - so viel wie kein anderer Veranstalter je zuvor. Sotschi 2014 wird ein zweites Pe-king werden, Spiele des Zweifels, wieder wird es um Demokratie und Menschenrechte gehen, und wieder um die Frage, ob eine Diktatur überhaupt Gastgeber sein darf. …“
Man darf erleichtert feststellen, dass nicht der „Stern“ zu entscheiden hat, wo Diktaturen zu
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te, Olympische Spiele ausrichten dürfen, muss aber konstatieren, dass dies die von den Herrschenden verbreitete Meinung hierzulande wi-derspiegelt.
Beenden wir damit die Urteile der Medien-„Sterne“ der „anderen“ und nennen als erstes die knappen Fakten:
In Vancouver starteten 2.621 Teilnehmer aus 82 Ländern und zwar in 86 Disziplinen. Zum Vergleich: 1988 waren 1.430 Teilnehmer aus 57 Länder in 46 Disziplinen an den Start gegangen. Die Zunahme war auch einem ebenso wichtigen wie positiven Umstand zuzuschreiben: Außer im Skispringen, in der Nordischen Kombination, im Viererbob und im Rennschlitten-Doppelsitzer starteten in allen Disziplinen auch Frauen! Das Fazit der Experten zu den Leistungen: Die leistungsdichte nahm erneut zu, was bemerkenswert war, weil in zahllosen Pokal-Wettbewerben – zu deutsch: Cup-Serien – von den Aktiven bereits Höchstleistungen gefordert wurden. Preisgelder bewirkten das und die in allen Sportarten tätigen Sponsoren entschieden letztlich über die Schwerpunkte. Für die deutschen Teilnehmer galt: In den nordischen und den alpinen Disziplinen, im Biathlon, Frauen-Eisschnelllauf und im Rennschlittensport schob sich erfreulich viel Nachwuchs nach vorn.
Die deutsche Mannschaft erreichte nach der guten alten Plat-1-bis-Platz-6-Wertung alles in allem 210 Punkte, also haargenau die gleiche Summe wie vier Jahre zuvor in Turin, allerdings auch 35,5 Punkte we-niger als 2002 in Salt Lake City. Die neuen Bundesländer errangen 14 Medaillen, die alten 16. Im Eishockey war das schlechteste Abschnei-den seit langem zu vermerken.
Zuwachs in der Länderwertung verbuchten die USA. Norwegen, Ka-nada – kein Wunder! – und Südkorea. Einen fatalen Verlust von 40 Punkten musste Russland hinnehmen, was besonders im Hinblick auf den Schauplatz der nächsten Winterspiele Alarm auslöste und in Mos-kau ein Personalkarussel in Gang setzte. Zu den Verlierern gehörten auch Italien, Österreich und Finnland, was zweifellos im Zusammen-hang mit der wirtschaftlichen Situation jener Länder zu sehen ist.
Doch waren das nicht die wirklich gravierenden Aspekte dieser Olympischen Winterspiele, die
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schlittenpiloten Nodar Kumaritaschwili einen tragischen Auftakt erlebt hatten. Niemand vermochte zu klären, ob er auch auf einer anderen Bahn hätte ums Leben kommen können, weil es ihm an der nötigen Praxis und Erfahrung gemangelt hatte, doch die Spur führte zu einem Trend der Vancouver-Spiele, der unübersehbar und keineswegs vom IOC forciert worden war: Die Attraktivität sollte um jeden Preis erhöht werden, weil längst TV-Manager das olympische Heft in der Hand und die früher alles entscheidenden Funktionäre abgelöst haben. Der Maßstab sind nicht mehr sportliche Regeln, sondern Einschaltquoten und die wiederum sollen nicht erhöht werden, um noch mehr Olympia-Zuschauer zu gewinnen, sondern um die Gewinne des extrem einträg-lichen TV-Werbemarkts zu erhöhen. Deshalb erhielten die Planer der Rennschlitten- und Bobbahn den Auftrag, die Voraussetzungen für noch höhere Geschwindigkeiten zu schaffen, was das Risiko für weni-ger geübte Aktive erhöhen musste. Der Abfahrtslauf der Frauen maß eine Länge von 3.000 m, sorgte für eine Geschwindigkeit der Aktiven um 140 km/h und präsentierte einen Zielsprung von 60 Meter Länge!
Das hatte wiederum zur Folge, dass in allen Disziplinen höherwerti-ges, also kostpieligeres Material vonnöten war und dies wiederum nur mit noch kostpieligeren Geräten zu bearbeiten ist. Beispiel: Eine Ski-schleifmaschine wird heute für 100.000 € verkauft!
Doch solche Folgen erschöpfen die olympische Herrschaft der TV-Manager keineswegs. Katarina Witt sagte einem Journalisten: „Die Spiele haben sich verändert. Dadurch, dass sich die Welt politisch verändert hat, muss es strengere Regeln geben, was die Sicherheits-vorkehrungen betrifft. Und Olympia hat sich weiterentwickelt. Daraus ist eine große Unterhaltungsindustrie geworden, eine Mischung aus Sport und Show.“
Damit traf sie den Kern: Die Spiele wurden vom sportlichen Kräfte-messen zum einträglichen Spektakel.
Coubertin hatte am 17. April 1927 prophetisch geschrieben: „Heute, inmitten der berühmten Ruinen von Olympia, ist der Gedenkstein an die Wiedereinsetzung der Olympischen Spiele eingeweiht worden, die vor 33 Jahren feierlich
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lenischen Regierung hat die Initiative, die sie hat ehren wollen, einen Platz in der Geschichte bekommen. An Euch ist es, sie in ihr zu erhal-ten. Wir, meine Freunde und ich, haben nicht gearbeitet, um Euch die Olympischen Spiele wiederzugeben, damit Ihr daraus ein Museums- oder Kinostück macht, noch dafür, daß sich merkantile oder Wahl-interessen ihrer bemächtigen. Wir haben gewollt - eine Einrichtung er-neuernd, die schon 25 Jahrhunderte alt ist -, daß Ihr wieder Jünger der Sportreligion werden könntet, so wie die großen Vorfahren sie ver-standen hatten. In der modernen Welt, die machtvoller Möglichkeiten voll ist, die aber gleichzeitig gefährliche Entartungen bedrohen, kann der Olympismus eine Schule des Adels und der moralischen Sauber-keit begründen ebenso wie der Ausdauer und physischen Energie. Aber das wird nur unter der Bedingung sein, daß Ihr unaufhörlich Eure Vorstellung von Ehre und sportlicher Uneigennützigkeit auf die Höhe Eurer Muskelbegeisterung hebt. Die Zukunft hängt von Euch ab.“
Und diese Entscheidung – das war die wichtigste Lehre von Vancou-ver – ist nicht im Sinne Coubertins und damit auch nicht im Sinne sei-ner olympischen Ziele gefallen. Das nüchtern festzustellen, könnte manchem als Resignation erscheinen – die letzte Grenze scheint tat-sächlich erreicht!
Vor sechzig Jahren galt noch als olympisches „Gesetz“, dass folgen-de Wintersportarten ausgetragen werden sollten: Skisport, Eislauf, Eishockey, Bob, Skeleton, Curling. Nachzulesen in der 36 Seite um-fassenden 1950 vom IOC publizierten Druckschrift.
Weitere Sportarten kamen nur in Frage, wenn sie in mindestens zehn Ländern betrieben wurden. Diese Zahl wurde später noch erhöht.
Heute fragt niemand mehr danach, wie verbreitet eine Sportart ist, sondern nur noch, wie geeignet sie ist, Fernsehzuschauer anzulocken!
Ein einziges Beispiel dafür: Snowboard.
Forscht man in der Geschichte dieser unbestritten hohes sportliches Können fordernden Sportart, erfährt man: Dimitrije Milovich, ein be-geisterter Surfer, nahm 1975 in Utah die Produktion von Snowboards (deutsch: Schneebretter) auf.
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Die Stahlkanten seiner früheren Boards verschwanden. Auch Mike Ol-sen, der später die Firmen Gnu und Lib Tech gründen sollte, begann damit, Boards in seiner Garage herzustellen. 1977 produzierte Burton als erster eine Kleinserie seiner eigenen Board-Kreation, nachdem er im Vorjahr die Firma Burton Snowboards gegründet hatte. Mit 88 US$ setzte er den Preis jedoch zu hoch an, so dass sein Produkt zu diesem Zeitpunkt kein kommerzieller Erfolg wurde. Im selben Jahr mieteten Jake Burton und Dimitrije Milovich einen kleinen Stand auf einer Schneeartikelmesse.Verkaufen konnten sie kein einziges ihrer Bretter. Im selben Jahr brachte Tom Sims ein Brett mit verleimten Holzschich-ten auf den Markt. Das Problem war, dass die Benutzer solcher Schneebretter in den klassischen Skigebieten und an den Liften nicht gern gesehen waren. Sie störten die Tourismusindustrie. Eine Statistik verriet, dass sie noch 1985 in nur sieben Prozent aller US-amerikanischen Skigebiete akzeptiert wurden.
Paul Graves organisierte 1982 die erste nationale Snowsurfing-Meisterschaft in Vermont, die aus Slalom und Abfahrt bestand. Dieses Ereignis weckte das Interesse der Medien und Snowboarden war erstmals ein Thema landesweiter Berichterstattung. Die Stars Sims und Burton organisierten 1983 in ihren Heimatorten offizielle Meister-schaften, was die Anhänger spaltete: Sims integrierte dann erstmals die Halfpipe (deutsch: Halbpfeife, doppelseitig halbkugelförmige Ab-fahrten), was wiederum dazu führte, dass Teilnehmer diesen Wettbe-werb boykottierten.
1988 fanden drei Weltmeisterschaften statt, eine in Ennsdorf (Schweiz), eine in Livigno (Italien) und die dritte in Breckenridge (USA). Da die Anzahl der „Boarder“ zunahm, waren die Liftbetreiber gezwungen, ihre Pisten auch für Snowboarder zu öffnen. Um die Dis-ziplin wettkampftechnisch zu ordnen, wurde im selben Jahr die Inter-national Snowboard Association (ISA) gegründet. Bereits im darauf folgenden Jahr wurde die ISA durch die International Snowboarding Federation (ISF) ersetzt, deren Aufgabe es war, Wettkampfkriterien zu entwickeln und ein internationales Ranking zu führen. Der Versuch die Snowboarder 1994 in
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nehmen, scheiterte. Dessenungeachtet sorgten die Boardhersteller da-für, dass schon 1994 die Zulassung zu den Olympischen Winterspie-len erörtert wurde und tatsächlich beschloss das IOC – beflügelt durch die Industrie-Lobby – 1998 in Nagano ins olympische Programm auf-zunehmen. Zuvor entbrannte noch zwischen ISF und der FIS ein Streit, weil das IOC darauf bestanden hatte, dass die Teilnehmer an den Spielen sich bei FIS-Rennen zuvor qualifizieren mussten. Bei den Spielen kam es zu einem Skandal, als dem Kanadier Ross Rebagliati Marihuana im Urin nachgewiesen wurde und die Goldmedaille zu-nächst entzogen wurde. Da das Rauschmittel jedoch nicht auf der Lis-te der Doping-Substanzen stand, wurde sie ihm später wieder ausge-händigt. Der haushohe Favorit Terje Häkonsen hatte es abgelehnt, an den Spielen teilzunehmen, weil er die Regeln des IOC nicht akzeptier-te. In den neunziger Jahren expandierte der Snowboardmarkt wie kein anderer in der Sportartikelindustrie. Die Internationale Föderation ISF aber musste 2002 Konkurs anmelden. Sämtliche Aufgaben, Bewerbe und Reglements wurden von der FIS übernommen.
Heute gilt Snowboarden als Breitensport, der von einer kleinen „Glaubensgemeinschaft" auf Millionen Anhänger angewachsen ist. Der Tourismus hat diesem Trend längst Rechnung getragen und sorgte dafür, dass vielerorts den Bedürfnissen der Snowboarder Rechnung getragen wird. „Fun Parks" (deutsch: Spaß-Parks) sind überall zu fin-den und präsentieren „Rails“, „Halfpipes“, „Quarterpipes“, „Ramps“, „Cornerjumps“, „Straight Jumps“ und manches mehr.
Das Internationale Olympische Komitee beschloss 1995, Snowboar-den erstmals in Nagano 1998 in das Wettkampfprogramm aufzuneh-men. In Vancouver gab es Medaillen im „Half-pipe“, Parallel giant sla-lom“ und „Snowboard Cross“ sowohl für Männer als auch für Frauen. Die Medaillenverteilung verriet, dass man inzwischen weltweit „boar-ded: Die 18 Medaillen gingen an neun Länder, Gastgeber Kanada, die USA errangen je zweimal Gold, die Niederlande und Australien je ein-mal. Und auch diese Bilanz offenbarte, dass sich die Olympischen Spiele – siehe Katarina Witt – zur einer Mischung von
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ckelt hat. Vielleicht denkt antiquiert, wer das nicht begrüßt, aber ganz sicher sein darf man sich da nicht…
BEDENKLICHE MEDAILLENZÄHLUNG
Von KLAUS HUHN
Irgendwann im Januar des Olympiajahres hatte Michael Ves-per, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), also der ranghöchste beamtete Repräsentant des deut-schen Sports davon geredet, dass die bundesdeutsche Mann-schaft auch nach Vancouver reise, um dort Platz eins in der „ewigen Medaillenwertung“ zu erkämpfen. Noch einmal: Nicht ir-gendein Statistiker hatte dieses „Ziel“ ins Visier genommen, sondern der Generaldirektor des DOSB. Am 16. Februar 2010 hatte der Deutschlandfunk ein Interview mit Vesper ausgestrahlt, in dem ihm die Frage gestellt worden war: „Selbst über die Füh-rung im ewigen Medaillenspiegel, der seit den ersten Winterspie-len 1924 in Chamonix geführt wird, wurde schon spekuliert. Eine Diskussion, in der Vesper jetzt moderatere Töne anschlägt.“ Vesper hatte geantwortet: „Der ewige Medaillenspiegel seit den ersten Winterspielen 1924 hat natürlich eine begrenzte Aussa-gekraft, das weiß ich auch. Aber es ist so, dass Russland da im Moment vorne liegt und deutsche Olympiamannschaften in die-ser Zeit zwei Goldmedaillen weniger geholt haben. Das war eine Nebenbemerkung, die ich gemacht habe.“
Nebenbemerkung?
Es ist in vielfacher Hinsicht eine aufschlussreiche Hauptbemer-kung. Dass Vesper nach den Deutschlandfunk-Auskünften „mo-deratere“ Töne gewählt hatte, ließ darauf schließen, dass ihn jemand auf die Problematik seiner „Stürzt-Russland“-These
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achtet bei ihrer Medaillen-Variante. Im offiziellen Bericht des Bundestages über die Tagung des Sportausschusses am 21. April konnte man lesen: „In der ewigen Medaillenliste der Olym-pischen Winterspiele liege Deutschland … auf Platz eins, sagte DOSB-Leistungssportdirektor Ulf Tippelt.“ Und dann konnte man diesem Report auch entnehmen: „Vertreter aller Fraktionen be-glückwünschten die Athleten zu den gezeigten Leistungen.“
Etwa auch zum Platz eins in der „ewigen Medaillenliste“.
Der von Vesper – offensichtlich mit Billigung seines Präsiden-ten Thomas Bach – ins Spiel gebrachte erste Rang in einer „ewigen“ Liste geht davon aus, dass man die Goldmedaillen der in der Periode der Weimarer Republik, der Nazizeit, der BRD-Periode, der DDR-Zeit und der Neu-BRD-Ära schlichtweg addiert – eine Variante, die nicht nur von Historikern in Frage gestellt werden dürfte.
Die „Berliner Zeitung“ (18.2.2010) widmete diesem hochpoliti-schen Medaillenpoker einen aufschlussreichen Kommentar von Boris Herrmann: „Wenn man; der allgemeinen Nachrichtenlage glauben darf, dann hat die goldblonde Magdala Neuner am Dienstagabend mitteleuropäischer Zeit einen historischen Sieg herausgelaufen und herbeigeschossen. Mit ihrer Medaille im Bi-athlon-Verfolgungsrennen, so die Nachrichtenlage weiter, hat Deutschland den ersten Platz im ewigen Medaillenspiegel der Olympischen Winterspiele übernommen. Ende der Nachrichten-lage, die sich im Übrigen ganz nach der Deutungshoheit des Deutschen Olympischen Sportbundes richtete. Generalsekretär Michael Vesper hatte ja schon vor Beginn der Spiele im Sport-ausschuss des Bundestages von 118 deutschen Goldmedaillen bei Winterspielen gesprochen und für Vancouver das Minimalziel ausgegeben, die russischen Spitzenreiter in der ewigen Medail-
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So weit, so goldig. jetzt gilt es nur noch zu klären, von welchem Deutschland hier eigentlich die Rede ist.
In Anlehnung an den strammen Patrioten Ernst Moritz Arndt könnte man auch fragen: Was ist des Deutschen Wintersport-land? Beim Nachzählen zählt man dann erschrocken fest: Wenn es um Medaillen geht, ist Deutschland ganz selbstverständlich immer und überall - so weit die deutsche. Lunge trägt.
Als ob er das Wort Staatsdoping noch nie gehört hätte, rechnet der DOSB die 39 Olympiasieger der DDR in seine Sammlung mit ein - darüber kann man noch streiten. Aber wie selbstverständ-lich werden bei Neuners `historischem Sieg´ auch die drei Gold-plaketten von Nazideutschland mitgezählt, inklusive jener des Ski fahrenden SS-Mitglieds Franz Pfnür, mit dem Hitler so gerne auf dem Obersalzberg Sahnetorte löffelte. Wer das für legitim hält, soll streiten, mit wem er will.
Schon klar, der deutsche Sport braucht die Legitimation der Bevölkerung, um seine enormen Unterhaltskosten aus der Staatskasse zu rechtfertigen. Und es ist natürlich auch klar, dass diese Legitimation unmittelbar mit Erfolgen zusammenhängt. Gold ist die Währung der nationalen Identität.“
Hier wäre energischer Widerspruch anzumelden. Wenn die Sportführung der heutigen Bundesrepublik auf die zwischen 1933 und 1945 errungenen Olympischen Medaillen reflektiert – pikanterweise, um ausgerechnet UdSSR/Russland zu übertref-fen, um nicht den Begriff „schlagen“ zu benutzen – ist das ihre Sache, wiewohl damit ein ganz neues Kapitel deutscher Ge-schichtsschreibung aufgeschlagen würde. Wenn diese Führung aber für ihre „Bilanz“ auch die Medaillen des „Unrechtsstaats“ DDR einsammeln möchte, um die Russen zu übertrumpfen, sä-he sie sich mit der Tatsache konfrontiert, die Olympiasieger der DDR – die die Medaillen errungen
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ob sie einverstanden wären, sie für ein das Nazireich einschlie-ßendes „Deutschland“ auszugeben?
So betrachtet muss man sowohl die von Tippelt vor dem Sportausschuss des Bundestages wiederholte „Bilanz“, ein-schließlich des Sieges über Russland – ausgerechnet in so zeit-licher Nähe des 65. Jahrestages der Niederschlagung des Fa-schismus durch die UdSSR – als auch einschränkungslose Glückwünsche von Bundestags-Abgeordneten als im höchsten Grade bedenklich bewerten. Eine Entschuldigung wäre fällig!
DISKUSSION
Muskeln und
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Bei einem Rückblick auf den Volkssport der DDR-Zeit kommt man nicht umhin festzustellen, dass es oft die Medien waren, die diesen be-lebten. Während sich die oberste Sportbehörde vielmals nur in einem starren Rahmen und in spektakulären Zahlenansammlungen bewegte, initiierten Sportredaktionen immer wieder originelle Aktionen mit Lang-zeitwirkungen. Denken wir nur an das „TTT – Tischtennisturnier der Tausende“ (Berliner Zeitung), „Cross der Jugend“ (Junge Welt), die Staffelläufe der BZ am Abend, den Silvesterlauf des Erfurter „Volk“, Heinz Florian Oertels „He, he, he – Sport an der Spree“ und an den Neujahrslauf des Berliner Rundfunks-den ersten übrigens in Deutsch-land. Besonders wirksam waren die DDR-Sportjournalisten, wenn sie sich gemeinsam für bestimmte Bewegungen bewegten. An zwei möch-te ich an dieser Stelle erinnern.
Vom Rundgewicht zum „Stärksten Lehrling“
Die erste Aktion, bei der Muskeln gefragt waren, geht bis ins Jahr 1961 zurück und wurde rein zufällig gezündet. Der damalige Gewicht-hebertrainer Wilhelm Thom nahm mich von einer Sportveranstaltung in seinem etwas klapprigen Dienst-BMW mit nach Berlin und nutzte die Zeit, um mich, den frisch gebackenen Sportredakteur, für eine volks-sportliche Kraftsport-Idee zu begeistern. Thom ärgerte sich darüber, dass in der der Armee die 7,5-kg-Rundgewichte nutzlos herumlagen und schlug einen Dreikampf aus Rundgewichtstrecken, Liegestützen und Klimmziehen vor. Mein Chefredakteur war mit einer schnell gebas-telten Ausschreibung in der Zeitung einverstanden, und so riefen wir zu einem Wettbewerb „Wer ist der stärkste Mann der Volksarmee?“ auf, der am 17. Juli 1961 begann und am 31. August endete. Die Re-sonanz war überraschend groß, nur hatten wir die Rechnung ohne den Ehrgeiz der Soldaten gemacht. Es sprach nämlich bald keiner mehr über Liegestütze und Klimmziehen, sondern alle nur noch über das Rundgewicht. Die Streckungen nahmen scheinbar kein Ende. Die Jagd nach den meisten Hebungen beendete ein ehemaliger Schmied auf einem Dessauer Sportplatz. Helmut Wiech, damals 20 Jahre jung und Offiziersschüler,
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ablösenden Kampfrichtern beurkundet, ohne abzusetzen sage und schreibe 10.052mal in die Höhe. Und das in 5 ½ Stunden!
Daraufhin machten wir erst einmal eine Denkpause, die sich bis 1964 hinzog. Trainer Thom ließ nicht locker, machte neue Vorschläge, und ich ließ mich wieder zu neuen Kraftakten animieren. Mit einem Vierkampf, bestehend aus Klimmziehen, Schlussweitsprung (später Schlussdreisprung), Beugestütze am Barren und Kniebeugen mit Ge-wicht wurde in jenem Jahr eine Kraftsport-Fernwettkampfperiode ein-geläutet, die sich, mit verschiedenen Veränderungen, bis 1990 nicht nur halten, sondern auch ausbreiten sollte. Aus exakt 17.149 Teilneh-mern im Premierenjahr wurden Hunderttausende. Denn dieser Muskel-Mehrkampf blieb nicht nur in der Armee beliebt. Als sich 1970 mehrere Berufsschulen an meine Redaktion mit der Bitte wandten, diesen Wettbewerb doch auch für sie auszuschreiben, wollte ich sowohl den FDJ-Zentralrat als auch an den Vorstand der GST und das Staatssek-retariat für Berufsbildung interessieren und erreichte sogar eine Zu-sammenkunft. Als die jedoch wegen einem Kompetenzgerangel wie das Hornberger Schießen endete, bewog mich mein damaliger Chef-redakteur, doch einfach mal eine vereinfachte Ausschreibung an mög-lichst viele Ausbildungsstätten zu schicken. So suchten wir aus Tele-fon- und Branchenbücher Adressen heraus und sandten mit einem netten Begleitschreiben die Wettkampf-Idee „Stärkster Lehrling“ an rund 500 Einrichtungen. Das Resultat konnte sich sehen lassen. Mehr als 200 Schulen brachten ihre Ergebnisse ein, 16.125 Lehrlinge hatten sich beteiligt, von denen die zehn Stärksten zu einem ersten Finale 1972 nach Dessau eingeladen wurden.
Wenig später ließ der Staatssekretär für Berufsbildung einen rang-hohen Vertreter in meine Redaktion entsenden und mir als Danke-schön einen Lederkoffer überreichen. Doch was wichtiger war, es ent-stand eine Zusammenarbeit der diese Aktivitäten spontan unterstüt-zenden Sportreaktionen des „Deutschen Sportechos“, der „Jungen Welt“, des Journals „Sport und Technik“ mit meiner Zeitung. Durch diese Kooperation, die bald organisatorisch von
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sucht“ schnell im Kraftausdauer-Metier zur populärsten Aktion, die in jedem Winter die Muskeln von mehr als 100.000 Lehrlingen bewegte.
Die Suche nach den Stärksten weitete sich bekanntlich noch aus. Die weibliche Lehrlingsschar wollte nicht ausgeschlossen bleiben. Ein Berliner Sportlehrer schlug Seilspringen, Schlussdreisprung, Medizin-ballstoßen und Schwebehänge an der Sprossenwand vor. Ab Mitte der 70er Jahre wurden somit die „Sportlichsten Mädchen“ und „Sportlichs-ten Frauen“ ermittelt. Auch die Kinderzeitung „Trommel“ meldete sich und ermittelte, mit etwas einfacheren Übungen, den „Stärksten Pio-nier“. Mit 800 Schülern startete sie 1979 – zehn Jahre später waren es 149.628. Wer weiß heute noch, dass der Sieger von 1983 Ronny Weller hieß, der später als schwergewichtiger Heber bei vier Olympi-schen Spielen Medaillen errang und 1992 sogar als Olympiasieger und damit als „Stärkster Mann der Welt“ gefeiert wurde?
Schließlich stießen noch die Studenten zu diesen volkstümlichen Kraftwettbewerben, die 1990 zur Wende mit einer Gesamtanzahl von 63 Fernwettkämpfen endeten.
Das war’s dann also?
Nicht ganz. Dank der Initiative eines unermüdlichen Riesaer Sport-lehrers wurde die Kraft-Idee wieder aufgegriffen. Werner Jentsch, der bereits in seiner Heimatstadt Kraftsportturniere im Klimmziehen, Bar-renstützen, Schlussweitsprung und Kniebeugen mit Hantelgewichten organisiert hatte, nahm den muskulösen Faden aus DDR-Zeit auf, ver-anstaltete Sachsenmeisterschaften und begründete 2007 Deutsche Fitness-Titelkämpfe. Und das genau in den Fernwettkampf-Disziplinen der DDR-Zeit. Ehemals starke Lehrlinge nehmen heute dankbar daran ebenso teil wie Jugendliche, für die diese Übungen unkompliziert und trotzdem attraktiv zu sein scheinen.
2011 im Februar werden übrigens die Meisterschafts-Teilnehmer je-nen Mann ehren, der mit seinem Rundgewichtstemmen vor 50 Jahren den Kraftakt eröffnete – Helmut Wiech, inzwischen 70ährig und Rent-
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Am Auslösen einer Ausdauerbewegung der anderen Art hatte übri-gens der „Stärkste Lehrling“ einen gewissen Anteil. Im Dezember 1972 hielt ich auf der Jahreshauptversammlung der Sportjournalisten-Vereinigung einen Vortrag über den gerade zu Ende gegangenen recht erfolgreichen Versuch, Berufsschüler für das Muskeltraining zu gewinnen und berichtete über die ersten starken Lehrlinge der DDR. Meine Worte müssen gut angekommen sein, denn in der Pause kam der Präsident der Vereinigung auf mich zu, regte eine Volkssportkom-mission an und fügte dann noch im Berliner Dialekt hinzu: „Det wirste doch hinkriegen, oder?“ Ich kriegte es hin. Noch im selben Monat sammelte ich willige Kollegen für dieses neue Gremium, unter ihnen Otto Jahnke (Sportecho), Günter Teske (Berliner Zeitung), Helmut Wengel (Das Volk), Wolfgang Richter (Neues Deutschland), Horst Mempel (Fernsehfunk). Wir wurden uns schnell einig, dass unserem Lande etwas Neuartiges für den „Sport für alle“ fehlt, etwas, das Maß-stäbe setzen und Tausende bewegen sollte. Wie wir schließlich auf die Meile kam, weiß ich nicht mehr, wollten aber 1974 möglichst viele ins Laufen und zugleich ein Maß ins Gespräch bringen, das variabel zu betrachten sein konnte. Wir setzten uns mit einem der bekanntesten DDR-Sportwissenschaftler in Verbindung, mit Prof. Dr. Israel, der uns riet, diese Distanz auch für andere Ausdauerarten wie Wandern, Rad-fahren und Schwimmen umzurechnen, was er für uns auch tat. So wurden für 1 Meile 1974 m im Laufen, 4000 m fürs Radfahren, 8000 m für Wanderer (Fuß, Kanu, Ski) und 400 m für die Schwimmer ange-setzt. Ein „Meilen-Pass“ mit 25 angestrebten Meilenweiten für einen Zeitraum von einem halben Jahr konnte schnell allen Redaktionen zur Veröffentlichung zugestellt werden. Ein paar hundert Betriebe und In-stitutionen wurden mit der Bitte angeschrieben, diese neue Aktion mit Preisen zu unterstützen. Vom Wochenendhaus bis zum Schachbrett war schließlich eine Palette von mehr als 1000 attraktiven Dingen zur späteren Auslosung vorhanden, eine Anzahl, die uns selbst verblüffte. Nun fehlte noch ein zündender Slogan, den der Sportchef des Erfurter „Volk“, Helmut
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Was weltweit wohl einzigartig war und wahrscheinlich auch bleiben wird: Alle Medien, vom Fernsehen über den Rundfunk bis zur letzten Lokalzeitung, signalisierten ihre Bereitschaft, hier mitzutun. Und so veröffentlichten sie ausnahmslos am 20. April 1974 den Aufruf zur Mei-lenaktion und initiierten mit Hilfe der örtlichen Sportvereine imposante Auftaktveranstaltungen. In Berlin lief Jung und Alt um den Fernseh-turm, in Magdeburg gab Täve Schur den Startschuss zur Radmeile, in Merseburg beteiligten sich 6.000 am Ausdauer-Wochenende, 3.000 Erfurter starteten mit Roland Matthes in den Meilenfrühling, in Neu-brandenburg rüsteten sich neben den Läufern vor allem die Kanuten und Radler zum ersten Meilensammeln. Während sich der DTSB-Chef auf der nächsten Pressekonferenz sehr zurückhaltend zu dieser, nicht in seinen Stuben entstandenen Bewegung äußerte, zogen die bezirkli-chen Sportorganisationen und die örtlichen Vereine sofort mit den Sportjournalisten an einem Meilen-Strang.
Da der „Leistungs-Pass“ mit den 25 Feldern regelmäßig auf den Sportseiten veröffentlicht wurde, Rundfunk und Fernsehen nicht weni-ger häufig zur Meile animierten, blieb diese Aktion im Gespräch. Als die ersten Pakete mit ausgefüllten Pässen von den Sportredaktionen an die Volkssportkommission gesandt wurde und auch immer mehr Preise eintrafen, sah sich diese gezwungen, eine freistehende Woh-nung in der Berliner Mitte anzumieten. Hier füllten sich jene Säcke, die dann bei der Abschlussfeier unter dem Motto „Die letzte Meile wird ge-tanzt“ im Berliner Kulturhaus des Wohnungsbaukombinats Lichtenberg auf die Bühne geschleppt wurden. Das Fazit war sensationell: Es wur-den 28 Millionen Meilen zurückgelegt, ein Ergebnis, das einen Eintrag in Guinnessbuch der Rekorde wert gewesen wäre. Die Verlosung sah auch rührige Meilenorganisatoren vor. So gewann Karl-Heinz Emmrich ein „Motorfahrzeug“, dass dann nur noch „Meilen-Mofa“ in Bad Düben hieß (wo übrigens ein Straße noch heute „Meilenweg“ heißt), der Rennsteiglauf-Vater Hans-Georg Kremer erhielt eine Moskau-Reise, die er gemeinsam mit der legendären „Meilen-Omi“, Charlotte Mehl-horn, antrat und die
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Es blieb nicht bei der letzten Meile, die getanzt wurde. Nach diesem 74er Erfolg beschlossen die DDR-Sportjournalisten, „Eile mit Meile“ als “Bewegung“ weiter zu führen. Hierzu wurde ein Meilenkomitee ge-gründet, das künftige Aktionen konzipierte und bündelte. Zu den Un-terstützern zählten Dr. Klaus Hennig vom DTSB-Bundesvorstand und die Olympische Gesellschaft. Für den Vorsitz konnte mit dem Welt-klasse-Geher Christoph Höhne ein Olympiasieger und zugleich Bildre-porter gewonnen werden. „Macher“ der nun beginnenden Meilenbe-wegung blieb aber die Volkssportkommission der Sportmedien. Bis 1989 entwickelten sich so Hunderte von neuen Lauf- und Volkssport-veranstaltungen. Die Meilen-Trikots in weiß (100 Meilen), blau (500) oder gelb (1000) gingen weg wie die berühmten warmen Semmeln. Im Nachhinein kann man ohne Übertreibung feststellen, dass „Eile mit Meile“ parallel zum und mit dem GuthsMuts-Rennsteiglauf die Laufbe-wegung des Ostens maßgeblich entwickelte. Mit einer bunten Vielfalt und zugleich einem rasanten Tempo, dass dem kapitalkräftigeren deutschen Westen mit „Trimm Trab“ keinesfalls nachstand. Im Gegen-teil, mit dieser geballten Medien-Macht wurden die volkssportlichen Ausdauer-Sportarten zwischen Elbe und Oder sogar besser und nach-haltiger popularisiert und
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In der DDR Ende der 1960er Jahre fielen Einfachso- und Freizeitläu-fer schon auf. Nicht dass es keinen Sport gab - den gab es reichlich und gut organisiert an Bildungseinrichtungen, bei Betriebssportfesten, in Sportvereinen. Aber Laufen nur zur Gesunderhaltung, ohne Erster sein zu wollen und als Massenbewegung, nahm erst seinen Anfang. Die Begründung der Lauf-dich-gesund-Bewegung in der DDR Mitte des 1960er Jahrzehnts ist von dem Namen Edelfrid Buggel nicht zu trennen.
Nun ist immer ein wenig Spekulation dabei, besondere Neigungen und Leistungen eines Menschen aus seinem „Vorleben“ heraus zu bewerten. Aber es wird schon Gründe gegeben haben, dass Edelfrid Buggel sich gerade dem Laufen und beispielsweise nicht dem Schwimmen zuwandte. (…)
„Lauf dich gesund“ ... als Produktmarke heute auf den Markt ge-bracht, würde vielleicht bei einem dieser Abmahnanwälte die Augen zum Leuchten bringen in der Hoffnung auf leicht zu verdienendes Geld. Aber so einfach wäre das nicht. Angesichts der Verbreitung, die dieser Gedanke mittlerweile in der Laufbewegung (nicht nur im Osten Deutschlands) gefunden hat, dürfte es schwer fallen, die Urheberrech-te zu reklamieren.
Geburtsstunde und Organisatoren
Bevor die Idee „Lauf dich gesund“ die Massen ergriff, wurde unter diesem Motto ein Arbeitskreis gebildet. Das war am 9.Juni 1967 beim DTSB-Vizepräsidenten Dr. Edelfrid Buggel.
Ihm gehörten Vertreter des DTSB, des Verbandes für Leichtathletik, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), der Freien Deutschen Jugend (FDJ), verschiedener Presseorgane und des Deut-schen Fernsehfunks sowie Trainer und Sportlehrer an. Die Schirm-herrschaft übernahm Prof. Dr. Albert Wollenberger, Direktor des Insti-tuts für Kreislaufforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaf-ten in Berlin und Vorsitzender der Gesellschaft für Kardiologie und An-giologie der DDR. Der Arbeitskreis rief alle Bürger der DDR, gleich ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, ob
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Lauft mit uns! Haltet euch durch regelmäßiges Laufen gesund!
Natürlich waren Termin und Anlass der Konstituierung dieses offiziel-len Gremiums nicht willkürlich gewählt. Das V. Deutsche Turn- und Sportfest in Leipzig 1969 stand bevor, ein Fest für viele in vielen Sportarten, ein Fest für die Massen. Dazu bedurfte es einer Initiative, die bei möglichst vielen Bürgern Anklang fand und zu dem sportlichen Großereignis eine persönliche Beziehung herstellte.
In den 1960er Jahren gab es jedoch noch weit schwerwiegendere Gründe, die eine Gesundheitsinitiative verlangten. Wie in anderen In-dustrieländern auch stiegen in der DDR die Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems an, begründet in fehlender, mangelnder oder einsei-tiger körperlicher Belastung. Für eine gesunde Lebensweise bestand in der Bevölkerung noch relativ wenig Verständnis. Das belastete den Einzelnen, die Gesellschaft und auch die Volkswirtschaft. Laut einer Studie der Medizinischen Akademie Magdeburg war jeder vierte Er-wachsene übergewichtig. Sportlich-touristische Betätigungen, inson-derheit das Laufen, wurden von den Medizinern und Sportwissen-schaftlern als Ausgleich und Prävention angesehen, zur Wiederher-stellung bzw. Stabilisierung der Gesundheit. Lauftraining als Grundme-thode für ein modernes Gesundheitstraining war wissenschaftlich er-kannt. Nun musste die öffentliche Meinung dazu positiv beeinflusst werden unter dem Motto „Zu Fuß zur Gesundheit“.
Die Einführung der 5-Tage-Woche 1967 verlangte und bot auch mehr Möglichkeiten für aktives Sporttreiben - individuell oder organi-siert.
Es musste eine Sportart, eine Bewegungsform empfohlen werden, die leicht und überall durchgeführt werden konnte, das ganze Jahr über, wohnortnah, von der Haustür weg, in frischer Luft und möglichst ohne materielle Investitionen oder zusätzliche Kosten. Der „Sportplatz Natur“ schien dafür ideal zu sein.
Schließlich benötigte man eine Basis, die diese Initiativen trug. Diese gab es in Form von etwa 200 Sportvereinen und Sportgruppen, die das Laufen im städtischen und im dörflichen Bereich bereits pflegten.
Die
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bert Wollenberger lief regelmäßig, sommers wie winters mehrmals in der Woche. Prof. Dr. Edelfrid Buggel war als IOF-Vizepräsident selbst in dieser Sportart aktiv.
Der Aufruf fand große Beachtung, die Bewegung wurde schnell po-pulär, zumal sich .Ärzte, Künstler, Schriftsteller und leitende Staats- und Sportfunktionäre die Laufbewegung unterstützten. Sogar auf die Alt-BRD strahlte die Initiative aus: Der Deutsche Sportbund (DSB) rief 1970 mit der Losung „Lauf mal wieder“ zur „Trimm Trab Bewegung“ auf!
Die Massenbewegung
Noch im Gründungsjahr fanden drei Massengesundheitsläufe statt, die zu den ersten Höhepunkten der Lauf-dich-gesund-Bewegung wur-den. So gab es Läufe in Friedrichroda mit rund 1.000 Teilnehmern, in Berlin anlässlich des Endausscheides zum 'Für dich'-Familienwettkampf mit 250 Teilnehmern und beim Jahn-Gedenksportfest in Freyburg mit 400 Teilnehmern. Besonders aktive Gruppen bestanden in Glienicke bei Berlin, Oranienburg, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), Rabenau bei Dresden und Berlin. Im Folge-jahr fanden zwischen Januar und September etwa 650 Massenläufe statt, die Teilnehmerzahlen bis zu 1000 Aktiven aufzuweisen hatten. Es wurde geschätzt, dass in der DDR etwa 4000 Bürger regelmäßig in Gruppen liefen. Weitaus größer ist sicher die Zahl derjenigen gewe-sen, die allein, mit Familienangehörigen oder Arbeitskollegen regel-mäßig ihre Läufe durchführten, ohne irgendeiner Leitung oder Instituti-on zu bedürfen. Von den Aktiven, die das Wandern pflegten, ist dabei noch nicht einmal die Rede.
Der Auftakt mit den Massenläufen war gelungen. In allen Bezirken fanden nunmehr Gesundheitsläufe statt. Es blieb aber zunächst oft bei einmaligen Veranstaltungen, seltener kam es zu regelmäßigen Wie-derholungen. Es zeigte sich auch, dass bislang mehrheitlich die bereits aktiven Bürger an den Start gingen. Manche der organisierten Läufe wurden als Crossläufe ausgetragen, Sieger ermittelt, dadurch auf ho-hes Tempo orientiert. Diese Erscheinungen entsprachen so
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In der Folgezeit richtete sich die Aufklärung und Werbung mehr und mehr auf die Bedeutung des regelmäßigen Laufens. Der Zentrale Ar-beitskreis „Lauf dich gesund“ gab 1968 eine Broschüre heraus: Lauf dich gesund. 50 Fragen und Antworten. Ausgehend von der Fest-schreibung in der Verfassung der DDR, dass die Förderung der Kör-perkultur, des Schul- und Volkssports und der Touristik gewährleistet ist, werden darin praktische Fragen eingängig beantwortet.
In den Massenmedien kamen Ärzte und Sportwissenschaftler zu Wort, die die gesundheitlichen Vorteile regelmäßigen ausdauernden Sporttreibens, möglichst mehrmals in der Woche, für unterschiedliche Altersgruppen, Berufstätige beiderlei Geschlechts, Familien, informel-len Gruppen u.a. erläuterten. Die örtlichen Sportleitungen und Kom-munalorgane nahmen sich der Bewegung an und schafften nach und nach entsprechende Voraussetzungen, so z.B. Arbeitskreise auf kommunaler Ebene, Einrichtung von Standardlaufstrecken, Medaillen für die Teilnahme nach 50 Läufen u.ä..
Wissenschaftliche Begleitung
Als lebendiges Modell und als Institution für die wissenschaftliche Begleitung galt das Zentrum für aktive Erholung und Gesundheitssport Leipzig, in dem Wissenschaftler und Mitarbeiter der DHfK, Abteilung Volkssportforschung, arbeiteten. Sie erprobten wirkungsvolle Organi-sationsformen, führten regelmäßige Gesundheitsläufe und Sportspa-ziergänge durch, sorgten für ärztliche Beratungen und erarbeiteten An-leitungsmaterial sowohl für das praktische Tun als auch für die Wer-bung in der Republik. So entstand z.B. eine Serie handlicher Faltblät-ter zu Einzelfragen des Laufens, warum, wo, wann, wie lange Laufen empfohlen wird, was dabei zu beachten ist und wie ein Laufkalender geführt und die Selbstkontrolle des individuellen Leistungsvermögens gestaltet wird. Diese Materialien wandten sich vor allem an die noch nicht Sport treibenden Bürger, an die Anfänger und Neueinsteiger.
Der Zentrale Arbeitskreis „Lauf-dich-gesund“ koordinierte alle Grund-satzfragen zur Entwicklung der Laufbewegung. Es entstanden Emp-fehlungen für die
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für Situationsanalysen, für Rahmenprogramme und Normwerttabellen, für inhaltliche, methodische und organisatorische Probleme der Lauf-bewegung.
Massenorganisationen, örtliche Staatsorgane, gesellschaftliche Insti-tutionen und Medien waren aktiv beteiligt. (…)
1975 fiel der Startschuss zur Aktion der Sportjournalisten der DDR „Eile mit Meile“. Im selben Jahr kam es zur Gründung des Zentralen Meilenkomitees mit Geher-Olympiasieger Christoph Höhne an der Spitze. Der Grundgedanke all dieser Initiativen blieb gleich: Lauf dich gesund!
Parallel dazu schnellte landauf, landab die Anzahl der Massenläufe mit Wettkampfcharakter in die Höhe... Rennsteiglauf (heute größter Massenlauf Deutschlands), Harzgebirgslauf, Berliner Friedenslauf u.a. Jede Stadt, jeder Kreis, die sportlich etwas auf sich hielt, veranstaltet einmal oder mehrmals im Jahr ein solches Ereignis.
Das Laufen für die Gesundheit, das Joggen, Walken oder Wandern, der sportliche Spaziergang - sie sind heute, vierzig Jahre später, zu einem echten Volkssport geworden. Er wird in den Sportvereinen ge-pflegt, ist eingebunden in sportlich-kulturelle Aktivitäten vieler anderer Vereine und Institutionen, ist fester Bestandteil rehabilitativer Maß-nahmen. Und wird natürlich beworben, weil die Sportartikelfirmen sich diesen Markt nicht entgehen lassen wollen...
Vor allem aber lebt die Idee bei unzähligen von gesundheitsbewuss-ten Bürgern, die sich im Sinne der damaligen Initiatoren selbsttätig, aus Einsicht oder Freude auf den Weg begeben. Man kann sie täglich sehen, am frühen Morgen, am späten Abend, auf Waldpfaden und Parkwegen, mit oder ohne Musik im Ohr, allein oder plaudernd mit dem Partner, auf Großstadtwegen oder auf Sportplätzen.
Bewahren wir das Erbe!
Wahrheiten über den DDR-Sport bis hin zum FKS
Von HANS SCHUSTER (†)
Der Autor, zu seinen Lebzeiten einer der profiliertesten Sport-wissenschaftler der, hinterließ
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auch seine eigene Tätigkeit betraf. Sie trug den Vermerk: „Ent-wurfsfassung-unredigiert“, was uns nicht davon abhielt, die meis-ten Passagen des Textes hier abzudrucken.
Es gehört zu den Wesensmerkmalen der Menschen, dass sich in je-dem gesellschaftlichen Bereich, der massenhaft betrieben wird, ein Leistungsbereich herausbildet, sei es in der Arbeitswelt, in der Kultur, in der Wissenschaft, der Jagd oder dem Briefmarkensammeln, so eben auch im Sport, zumal im Hochleistungssport, in dem es um Spit-zenleistungen im direkten Vergleich mit anderen geht.
Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten ist im Be-reich des Sports über den Wettkampf die Leistung direkt messbar, zählbar in Punkten oder auf andere Weise. Damit können Sieger, Me-daillengewinner, Platzierte-oder eben auch Verlierer unmittelbar zu ei-nem bestimmten Zeitpunkt oder einem beliebigen Ort ermittelt werden, wie das nun mal für Politiker, Wirtschaftsmanager, Künstler, Jäger o-der Briefmarkensammler nicht gegeben ist.
Dieser Vergleich findet zudem in der Öffentlichkeit statt, von Tau-senden-Hunderttausenden direkt erlebt oder über die modernen Infor-mationsmittel an Millionen- oder einem Milliarden-Publikum als Be-standteil einer Massenunterhaltung transportiert, in dem aus normalen Wettkampfteilnehmern Stars und Superstars gemacht werden, natio-nale Helden, Idole, mit denen man sich identifizieren kann, ob einzeln oder kollektiv.
Dabei sollte unstrittig sein, dass Leistungssportler als Persönlichkei-ten Vorbildfunktionen ausüben können, denn wer sich für das Erringen von höchsten-gar Weltspitzenleistungen entscheidet, der will auch mit allen Konsequenzen die Anforderungen bewältigen, die damit verbun-den sind.
Zum anderen ist festzustellen, dass besonders der Hochleistungs-sport die Geister scheidet. Und zwar unabhängig davon, in welcher sozialen Ordnung oder Gesellschaft Menschen leben. Dafür oder da-gegen, wie weit
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sich.
Für Johannes R. Becher galt der Leistungssport als Modellfall für die Erziehung und Ausbildung künftiger Generationen, für Bertolt Brecht war der Leistungssport etwas, was dort beginnt, wo die Gesundheit endet. Extrem sarkastisch urteilte Ortega y Gasset in seiner späten Phase: Gemessen an den Aufgaben des Leistungssports ist der Mensch eine Fehlkonstruktion!
Sei es wie es sei-ein Phänomen leidet auch darunter nicht.
Aber es bietet alle Möglichkeiten für die Politik, auf diesem Gebiet zu wirken.
Das galt auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den vier Besatzungszonen, ab 1949 in den beiden deutschen Staaten. Die un-terschiedliche Entwicklung-jetzt die Geschichte beider deutschen Staa-ten-ist nun einmal das Resultat des Zweiten Weltkrieges und der Be-endigung der Herrschaft des deutschen Faschismus mit allen seinen Folgen, der Herausbildung des sozialistischen Weltsystems, dem erbit-tert geführten Kalten Krieg mit allen seinen Verästelungen in die ver-schiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche, selbstverständlich auch für den gesamten Sport, direkter und unmittelbarer für den Hochleistungs-sport mit seinen internationalen Verflechtungen.
Lässt man diese historischen Prozesse außer acht und macht das Ende der DDR zum Ausgangspunkt für die Geschichtsschreibung, so lässt man Geschichtsklitteren nicht nur breiten Raum sondern defor-miert durch ideologische Vorbehalte die objektiven Abläufe.
Ebenso ist die Entwicklung der beiden deutschen Saaten mit gegen-sätzlichen Gesellschaftsmodellen im Rahmen ihrer existentiellen Poli-tik nur als actio-reactio zu begreifen, also in ständigen Wechselwirkun-gen und niemals aus dem Verlauf in der DDR allein zu erklären, wie das heute prägend geschieht.
Die unterschiedliche Entwicklung der Sportsysteme im Nachkriegs-deutschland
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der vernichtenden Nie-derlage des Hitlerfaschismus war in
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rungsgewalt wurde von den Alliierten als Besatzungsmächte wahrge-nommen Der Alliierte Kontrollrat erließ als Gesetz Nr. 2 am 10. Okto-ber 1945 ein Verbot aller Organisationen des NS-Regimes, darunter als Nr. 43 den NS-Reichsbund für Leibesübungen, dem sämtliche deutschen Sportorganisationen angehörten. Mit der Direktive Nr. 23 vom 17. Dezember 1945 über die „Beschränkung und Entmilitarisie-rung des Sportwesens in Deutschland" wird die Auflösung der vor der Kapitulation bestehenden sportlichen Organisationen verfügt. Demo-kratische Organisationen und der Sportverkehr auf Kreisebene werden gestattet.
Damit wurde ein klarer antifaschistisch-demokratischer Kurs für ei-nen Neuaufbau des deutschen Sports vorgegeben. In allen Besat-zungszonen entbrannte ein harter Kampf zwischen Antifaschisten und allen Schattierungen restaurativer Kräfte um die richtigen Wege. Um es kurz zu machen: Während in der SBZ die antifaschistisch-demokratischen Kräfte die Oberhand gewannen, setzte sich in den Westzonen mit der Duldung und Zustimmung der westlichen Besat-zungsmächte ein Kurs der Restauration des bürgerlichen Sports durch.
Schon nach kurzer Zeit formierten sich die eigentlich aufzulösenden Vereine neu und allzu oft mit demselben Personal, das auch in der Nazizeit führende Positionen innehatte.
Dem gegenüber verlief die Entwicklung in der SBZ weitaus kompli-zierter, weil die Suche nach den geeignetesten Wegen für einen wirkli-chen Neuaufbau im antifaschistisch-demokratischen Sinne seine Zeit brauchte, Umwege und zeitweilige Fehlentwicklungen eingeschlossen.
Um diese nur allgemein skizzierte Entwicklung auf den Leistungs-sport zu fokussieren, lässt sich feststellen: Die rasche Wiederbelebung der Vereine, die fast vollständige Übernahme des Fachpersonals nicht nur der ehemaligen „Reichstrainer", der mit westlicher Hilfe früher ein-setzende ökonomische Aufschwung schufen in den Westzonen, ab September 1949 dem Staat Bundesrepublik Deutschland wesentlich günstigere Voraussetzungen zur Förderung
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Das dies bereits in dieser ersten Phase weidlich in der politischen und ideologischen Auseinandersetzung genutzt wurde ist Bestandteil der Auseinandersetzung zwischen den beiden sich immer deutlicher abgrenzenden, gegensätzlichen Gesellschaftssystemen in der BRD und der DDR.
In den Westzonen wurde die „Theorie vom unpolitischen Sport" als ideologisches Kampfmittel nicht nur propagiert, sondern umfassend als Grundlage für politisches Handeln genutzt. Zum einen war diese Theo-rie für die BRD geeignet, um die Verwurzelung einer nicht unerhebli-chen Anzahl von Sport-Funktionsträgern in der Nazi-Zeit zu verde-cken. Stellvertretend seien hier nur der letzte geschäftsführende Reichssportführer Karl Ritter von Halt als erster Präsident des NOK für „Deutschland", Guido von Mengden, und Carl Diem genannt.
Zum anderen war mit dieser Theorie ein Instrument vorhanden um jeden Schritt in der Sportentwicklung der DDR und zur Gleichberechti-gung im sich anbahnenden Sportverkehr zwischen den beiden deut-schen Staaten als politischen Missbrauch des Sports durch die „Kom-munisten" zu brandmarken.
Nachdem von westlicher Seite mit der Währungsreform 1948 und mit der Bildung des Staates Bundesrepublik Deutschland im September 1949 die Spaltung Deutschlands vollzogen wurde, die Westintegration oberste Priorität erhielt, erfolgte mit der Gründung eines „Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland" im Jahre 1950 auch für den Sport diese Spaltung, verbunden mit einem Alleinvertretungsanspruch der BRD für ganz Deutschland.
Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949, die völlig legitim als Antwort auf die Bildung der BRD und in voller Berücksichtigung der Resultate des Zweiten Weltkrieges sowie des bereits begonnenen Kal-ten Krieges erfolgte, entwickelte sich einerseits eine Politik der fort-währenden Diskriminierung der DDR und andererseits eine Politik, die dem berechtigten Streben der DDR auf Anerkennung und Gleichbe-rechtigung der beiden deutschen Staaten folgte.
Es kann nicht verwundern, dass insbesondere der Leistungssport
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nationalen Vergleich zu einem Kampffeld in dieser Auseinanderset-zung von beiden Seiten genutzt wurde.
Nachdem sich in der SBZ, später in der frühen DDR, aus dem vor-wiegend kommunalen Sport nach und nach eine finanzielle und mate-rielle Basis mit Betriebssportgemeinschaften als Hauptträger der Spor-torganisation entstanden, konnten auch erste Schritte für eine leis-tungssportliche Förderung eingeleitet werden. Der 1948 gebildete Deutsche Sportausschuß war die erste der Repäsentanz einer zentra-len Leitung, die dann zusammen mit den Zentralen Sektionen der ein-zelnen Sportarten als Vorläufer der Sportverbände die Interessen des Leistungssports der DDR international wahrnehmen konnte.
Mit der Einrichtung eines Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport im Jahre 1952, das weitgehend am sowjetischen Vorbild orien-tiert war, trat der Staat in eine weitgehende Verantwortung für die Ent-wicklung aller Bestandteile der Körperkultur und des Sports
Als gesellschaftliche Träger bildeten sich Sportvereinigungen - im Prinzip nach der Industrie- und Gewerkschaftsstruktur - heraus, die über bessere Voraussetzungen verfügten, auch das leistungssportli-che Geschehen gezielter zu organisieren.
Mit dem Aufbau der DHfK im Jahre 1950 war bereits ein bedeuten-der Schritt getan, um eine der Haupterfordernisse für den Neuaufbau des Sports, die Ausbildung und Qualifizierung einer neuen Generation des Fachpersonals in die Wege zu leiten.
Ab 1952 erfolgte die Bildung der Sportclubs als Zentren für den Hochleistungssport, die sich über viele Jahrzehnte als Ausbildungs-und Trainingszentren des DDR-Leistungsports bewährten. Ab 1953 wurden Kinder-Jugendsportschulen gebildet, um dem sportlichen Nachwuchs bessere Entwicklungschancen zu geben. Dem folgten nach und nach der Aufbau zentraler Sportschulen für Ausbildung und Training der verschiedenen Auswahlmannschaften.
Die Bildung der Forschungsstelle der DHfK im September 1956 reih-te sich in diesen Maßnahmekomplex ein. Mit der Hauptorientierung auf den
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Trainingssysteme geschaffen werden.
Was die sportlichen Ergebnisse betraf, so wurden sowohl bei der ersten Teilnahme der DDR an internationalen Großereignissen wie den II. Weltfestspielen der Jugend 1949 in Budapest und 1951 in Ber-lin bei den III. Weltfestspielen und den gleichzeitig ausgetragenen XI. Akademischen Sommerspielen erste Erfolge erzielt.
Nachdem sich in der BRD wie erwähnt das NOK mit dem anmaßen-den Titel gebildet hatte, erfolgte 1951 die Gründung des NOK der DDR.
Mit Zustimmung des IOC konnte zu diesem Zeitpunkt der Alleinver-tretungsanspruch des westdeutschen NOKs für die Olympischen Spie-le 1952 in Helsinki dadurch realisiert werden, dass den DDR-Sportlern das Startrecht in einer BRD-Mannschaft formell angeboten wurde, d.h. sie waren von der Teilnahme ausgeschlossen..
(Hinweis zum selbständigen NOK des Saarlandes ! )
Nach der Anerkennung des NOK der DDR durch das IOC im Jahre 1955 erfolgte die erste Olympiateilnahme von DDR-Sportlern im Rah-men der gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft 1956 in Mel-bourne.
Die Diskriminierungspolitik der politischen und sportlichen Führung der BRD verhinderte darüber hinaus vor allem in eher konservativen Internationalen Sportorganisationen die Aufnahme und erreichte damit den Ausschluss von DDR-Sportlern von internationalen Titelkämpfen. Dem Turnverband wurde sechs Jahre hintereinander die Anerkennung verweigert.
Als die Anerkennung der DDR-Sportverbände durch die Internationa-len Sportverbände gegen den Widerstand der bundesdeutschen Politik weitgehend vollzogen war, teils mit teils ohne die sportüblichen Zere-monien im Hinblick auf Flaggen und Hymnen, die Abkürzungs-Benennungen und die entsprechenden Wappen (Beispiel: So bestand die BRD selbst bei den Abkürzungen auf „GER“ statt „FRG“), reichte der Einfluss der Sportführung in der BRD nicht mehr aus, um diese Entwicklung im internationalen Sport aufzuhalten. Im Zuge der nun als Hallstein-
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nahm die Bonner Staatsmacht oft direkt und unverhohlen die Durch-setzung der schon längst realitätsfernen Anmaßungen durch Interve-nierung, regelrechten Drohungen gegenüber anderen Staaten, dem IOC und auch den Veranstaltern internationaler Meisterschaften.
Betroffen davon waren nicht nur die DDR-Sportler, sondern in man-chen Fällen selbst die BRD Sportler, wie bei der Eishockey-WM in der Schweiz 1963, als die Mannschaft nicht antreten durfte, um bei einer Niederlage die Respektierung der DDR-Flagge zu vermeiden. Wie aus den freigegebenen Unterlagen des Auswärtigen Amtes der BRD her-vorgeht, waren im Vorfeld der IOC-Sitzung über 40 Botschafter der BDR beauftragt worden, in den jeweiligen Ländern zu intervenieren, um die IOC Mitglieder im Sinne der Bonner Politik zu beeinflussen.
Dagegen wuchsen in der internationale Sportwelt die Vorbehalte ge-gen die realitätsfernen Positionen der BRD-Sportpolitik Das IOC ent-schied schließlich mit einem Stimmengewicht von 60 gegen 8 Stim-men die volle Anerkennung des NOK der DDR.
Welche Auswirkungen dies Beharren auf den Alleinvertretungsan-spruch der BRD hatte, lässt sich auch daran messen, das eine ganze Generation von Sportlern, Trainern und Offiziellen der DDR, die für ei-ne lange Zeit vom internationalen Sportverkehr ausgeschlossen war. Für sie war die Hallsteindoktrin nicht abstrakte Politik, sondern direk-ter, handfester Eingriff in ihre Rechte als Sportler, im internationalen Sport ihre Kräfte zu messen.
Dass die Politik der Partei- und Staatsführung der DDR auf die voll-ständige, gleichberechtigte Anerkennung als selbständiger Staat ge-richtet war und eben auch auf sportpolitischen Gebiet auszufechten war, versteht sich wohl in diesem Kontext. Das die Hallstein-Doktrin eine nicht unerheblichen Einfluss auf die Motivation im DDR Sport ausübte, mit sportlichen Höchstleistungen Aufmerksamkeit zu errei-chen, war ganz sicher nicht vorgesehen.
Im direkten leistungssportlichem Geschehen gelang es dem bundes-deutschen Leistungssport seinen Startvorsprung durch weitere vielfäl-tige Maßnahmen bis anfangs
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„sowjetzonalen" Sport nie gelingen werde, eine sportliche Spitzenstel-lung zu erreichen.
Um so größer war dann die Überraschung, als DDR-Sportler bei den deutsch-deutschen Ausscheidungen für die gemeinsame Olympia-mannschaft zu den Olympischen Spielen 1964 in Tokio die Mehrzahl der Startplätze erkämpfte und damit nach den mit dem IOC vereinbar-ten Regeln den Chef de Mission stellte: Das Mitglied des ZK der SED, Manfred Ewald.
Nicht nur in der Boulevardpresse war danach von einen „Waterloo", gar von einem „Stalingrad" für den BRD-Sport zu lesen Für BRD-Politiker war dieses Faktum schlechthin inakzeptabel.
Was war geschehen: In der DDR entwickelte sich immer deutlicher ein Gesamtkonzept für die Entwicklung von Körperkultur und Sport, das alle Bereiche des Sports einbezog und dazu führte, dass diese Aufgabe einen Verfassungsrang erreichte.
Der obligatorische und fakultative Schulsport wurde grundlegend umgestaltet, frühkindliche Bewegungsspiele in den Kindergärten ein-geführt, Universitäten, Hoch-Fach- und Berufsschulen nahmen den Sport in ihre Ausbildungsprogramme auf, der organisierte Übungs- und Wettkampfbetrieb in den Sportgemeinschaften wurde erweitert, der Freizeit- und Erholungssport gewann einen hohen Stellenwert und in diesem Kontext wurden systematisch die Voraussetzungen für den Nachwuchs- und Hochleistungssport verbessert.
Mit dem DTSB war 1957 eine einheitliche gesellschaftliche Kraft ent-standen, die in der Lage war, den Kinder- und Jugend- Sport, den Massensport, den allgemeinen Übungs- und Wettkampfbetrieb ihrer Mitglieder und eben auch den Leistungssport umfassend zu organisie-ren. Die Regierung der DDR unterstützte mit dem Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport durch staatliche Maßnahmen diese Entwick-lung.
Immer deutlicher zeichneten sich als wesentliche gesellschaftliche Funktionen des Leistungssports in der DDR ab:
a) seine Rolle im Kampf um die vollständige Anerkennung und Gleichberechtigung des Staates DDR und im Wettbewerb der beiden
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Weltsysteme
b) seine Rolle in der Entwicklung allseitig gebildeter Persönlichkeiten und als Ansporn für die junge Generation, die körperliche Leistungsfä-higkeit allgemein zu erhöhen,
c) die Förderung des Staatsbewußtseins und der Idee des Friedens und der Völkerverständigung,
d) seine kulturelle Funktion, die auch die Unterhaltung der Menschen einbezog.
Mag dies auch sehr politisch ausgerichtet klingen, so stand die DDR damit sicher nicht allein, denn der damalige Innenminister der BRD, Maihofer, erklärte am 14. November 1974 - also in einem vergleichba-ren Zeitraum - im Deutschen Bundestag: „Sport als Spitzensport ist dabei auch ein Wettstreit der Nationen und der Kontinente. Daran führt überhaupt nichts vorbei. ... Damit wird der Sport gerade heute zu einer Hauptsache der nationalen Identifikation ... und nationalen Repräsen-tation … zu einem Gradmesser für die Leistungsfähigkeit des jeweili-gen politischen Systems. ... Die staatspolitische Bedeutung des Sports können wir nicht hoch genug einschätzen."
Man konnte also seitens der DDR nicht davon ausgehen dass die BRD in diesem Wettstreit etwa zurückstecken oder die politische Be-deutung unterschätzen würde.
Kommen wir wieder an diesen Schnittpunkt für den Leistungsport der DDR Anfang der 60er Jahre zurück.
War es vorher vor allem um die organisatorischen, personellen und Ansätze in den wissenschaftlichen Voraussetzungen gegangen, so rückten nun ab diesem Zeitpunkt jene Bereiche in den Blickpunkt, die ein funktionierendes System erst ermöglichten.
Als Beispiele seien genannt:
1958: Der Politbürobeschluß vom Februar und weitere Beschlüsse erhielten immer stärker Aspekte zur Nachhaltigkeit der Entwicklung des Leistungssports.für einen längeren Zeitraum.
1961: Gründung des Instituts für Sportmedizin der DHfK mit dem Be-standteil eines Reha-Zentrums in Kreischa,
1962: Forschungs- und Entwicklungsstelle mit dem Schwerpunkt
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Wettkampfgeräte
1962: Bildung einer Leistungssportkommission des DTSB mit dem Versuch, überinstitutionellen Leitungsmechanismen in Gang zu setzen Ihr war auch ein Rat für Leistungssportforschung zugeordnet.
1963: Auf Beschluss des Sekretariats des ZK der SED werden die KJS zu Spezialschulen der Entwicklung des sportlichen Nachwuchses umgebildet.
1963: Einrichtung eines Büros zur Förderung des Sports in den Bei-trieben mit dem Schwerpunkt der sozialen Absicherung der Sportler.
1963: Bildung des Sportmedizinischen Dienstes der DDR mit dem Schwerpunkt der umfassenden sportmedizinischen Betreuung aller Sporttreibenden von der Schule bis zum Leistungssport.
1965: Beginn des Aufbaus von Trainingszentren für den sportlichen Nachwuchs als erste Ausbildungsstufe zwischen dem obligatorischen und freiwilligen Schulsport und dem allgemeinen Kinder- und Jugend-sport in den BSG.
Im gleichen Zeitraum entstehen Wissenschaftliche Zentren der ein-zelnen Sportverbände des DTSB.
Ab 1965/66 beginnen die Kinder- und Jugendspartakiaden als zent-raler Bestandteil des Wettkampfsystems im Nachwuchsleistungsport.
1967 erfolgt die Bildung der Leistungssportskommission der DDR mit der Aufgabe, alle staatlichen und gesellschaftlichen Belange in Bezug auf den Leistungssport zu koordinieren.
Später entsteht mit den Jugendwettkämpfen der Freundschaft eine Internationale Wettkampfserie für die Nachwuchsleistungssportler der sozialistischen Länder.
Mit dem Leistungssportbeschluss des Sekretariats des Zentralkomi-tees der SED vom Februar 1969 über die Entwicklung des Leistungs-ports in der DDR bis 1980 werden diese Entwicklungsschritte gebün-delt und als spezifisches Leistungsportsystem der DDR in seiner ge-genseitigen Verflechtung herausgestellt sowie Perspektiven für die weitere Entwicklung gekennzeichnet.
Systembestandteile
Kernstück des Leistungssportsystems der DDR war eine Kaderpy-
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ramide, die wie folgt aufgebaut war:
Auf der Basis des Schulsports und des allgemeinen Kinder- und Ju-gendsports entstanden Trainingszentren, Trainingsstützpunkte, in de-nen etwa 75.000 Kinder- und Jugendliche nach einem ersten Aus-wahlschritt trainierten. Das geschah bereits unter dem Aspekt, per-spektivische Ziele zu ereichen und breite Grundlagen für die spätere spezifischen Ausbildung im leistungssportlichen Training zu schaffen. Entsprechend des für die einzelnen Sportarten unterschiedlichen Zeit-punktes des Erreichens des Hochleistungsalters, waren Beginn und Ende dieser Etappe für den Altersablauf differenziert gestaltet.
Die zweite Etappe waren die Kinder- und Jugendsportschulen mit der inhaltlichen Ausrichtung auf ein Aufbautraining, das die Vorausset-zungen für das Hochleistungssporttraining schaffen sollte. Hier wurden im Durchschnitt 12.000 junge Sportler erfasst. In Sportarten mit einem niedrigen Hochleistungsalter begann in der KJS-Zeit bereits das Hoch-leistungstraining.
Die dritte Etappe war das Hochleistungstraining, in dem im Schnitt bis 3.500 Sportler in den Sportclubs erfasst waren. In der Regel waren es die Mitglieder der verschiedenen Auswahlmannhaften in den Sport-arten. Da die Zeiträume für das Erreichen des Höchstleistungsalters sowohl in Sportarten als auch zwischen Männer und Frauen z. T. recht unterschiedlich waren, wurde später noch eine Unterteilung als An-schlusstraining für den Juniorenbereich vorgenommen.
Da in der Ausbildung eines Leistungssportlers Training und Wett-kampf eine Einheit bilden, wurde neben den allgemeinen Wett-kampfsystemen ab 1965 ein spezifisches Wettkampfsystem für Nach-wuchsleistungssportler mit den Spartakiaden als Hauptbestandteil ein-geführt.
Zu einem funktionierenden modernen Leistungsportsystem gehören neben einem Athletenstamm und den materiellen Voraussetzungen für Training und Wettkampf weitere Bedingungs- oder Einflussfaktoren. Ih-re Ausprägung wird in jedem Land entsprechend der unterschiedlichen Möglichkeiten anders gestaltet sein, aber sie sind unverzichtbar.
Für die DDR als einem unter geografischen und hinsichtlich der Be-
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völkerung kleinem Land wurde dieses Bedingungsgefüge besonders effektiv aufgebaut.
Zu diesen Einflussfaktoren gehört, das Niveau der Trainer durch Aus- und Weiterbildung gezielt anzuheben. Mit der 1950 gebildeten DHfK, die sich immer stärker als eine Art „Sportuniversität" profilierte und dem FKS waren dafür die Grundlagen gegeben.
Eine gezielte, professionelle sportmedizinische Betreuung wurde durch den Sportmedizinischen Dienst der DDR wahrgenommen Des-sen Anliegen bestand vor allem darin, die Gesunderhaltung der Sport-ler zu beeinflussen, Fehlentwicklungen in der Belastungsgestaltung und im Einsatz der Trainingsmittel zu verhindern, die Möglichkeiten zur Beschleunigung der Wiederherstellung auszunutzen, bei Verletzungen oder Erkrankungen die fachspezifischen Maßnahmen einzuleiten.
Für die Forschungen zum Binde- und Stützgewebe gab es in der DDR ein spezifisches Staatsplanthema.
Ein Vorteil wurde dadurch geschaffen, dass die verantwortlichen Ärz-te bereits in der Phase der Trainingsplanung einbezogen waren und die Trainingsgestaltung regelmäßig begleiten konnten.
Da die überwiegende Mehrheit der Hochleistungssportler in keinem Land der Welt von seinen sportlichen Erfolgen „leben" kann, ist die so-ziale Komponente für seine Zeit als Leistungssportler und seine weite-re Lebensgestaltung ein besonderes gesellschaftliches Anliegen. Ent-sprechende Fördermaßnahmen gibt es in vielen Ländern der Welt, un-terschiedlich je nach den gesellschaftlichen und ökonomischen Ver-hältnissen, der Wertschätzung des Leistungsports und des Leistungs-sportlers.
In der DDR bestand beim Staatssekretariat eine Institution, die auf der Grundlage von staatlichen Vereinbarungen z.B. mit den Ministerien für Volksbildung, Hochschulwesen, der Staatlichen Plankommission und anderen Verantwortungsträgern diese Förderung realisierte.
Zu den Hauptanliegen gehörten Regelungen zur Sicherung der schu-lischen Ausbildung und des Zeitbedarfs für Training und sportliche Ausbildung, der Übergang zur direkten Berufsausbildung oder eines Hochschul-Fachschulabschlusses mit der entsprechenden finanziellen
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Unterstützung, individuelle Lösungen für die Berufstätigkeit aktiver Leistungssportler und nach Abschluss der sportlichen Laufbahn, so dass für jeden die Aussicht auf die weitere Perspektive eröffnet wer-den konnte.
Technik und Technologie
Für die Entwicklung des Leistungssport in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nahmen besonders technologische Einflussfaktoren einen zunehmend größeren Stellenwert ein. Sehen wir ab von jenen Verän-derungen, die sich an den Sportanlagen direkt vollzogen - künstliche Anlagen für einen großen Teil der Wintersportarten, den Leichtathletik- oder Schwimmanlagen - so spielte dieser Faktor eine besondere Rolle in der stetigen Verbesserung der Wettkampfgeräte.
Mit dieser Aufgabe war in der DDR besonders die Forschungs- und Entwicklungsstelle (FES) in Berlin betraut, deren ständige, innovative Weiterentwicklungen dafür sorgten, dass die Sportler der DDR stets mit exzellenten Wettkampfgeräten - Ruder- und Kanuflotten, Schlitten und Bobs, Spezialfahrrädern ausgestattet werden konnten.
Ebenso bedeutsam waren die Weiterentwicklungen in der Informati-onstechnologie, der Mess- und Untersuchungstechnik und dem wis-senschaftlichen Gerätebau. Eine zentrale Verantwortung trugen die entsprechenden Abteilungen der FST, später am FKS der übergrei-fende Bereich Automatische Informationsverarbeitung, Technik und Entwicklung (ATE) in direkter Zusammenarbeit mit anderen Einrich-tungen des Leistungssports.
Zentrale Leitung, Planung und Koordinierung
Damit das System als Ganzes und seine verschiedenen Bestandteile wirkungsvoll zusammenarbeiten konnten, war eine möglichst einheitli-che Führung der ablaufenden Prozesse unabdingbar.
Wahrgenommen wurde diese Führung auf der Grundlage der Be-schlüsse der SED und der Staatsführung durch den DSTB als gesell-schaftliche Organisation und dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport als dem Hauptträger des Bedingungsgefüges (DHfK, FKS, SMD, FES, dem Projektbüro Sportbauten, TZGA )
Die politisch-operative Verantwortung lag beim Sekretariat des
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DTSB, das zusammen mit dem Staatssekretär für Körperkultur und dem Abt. Ltr. Sport im ZK der SED das eigentliche „Machtorgan" für den Leistungssport bildete.
Etwa ab 1960 begann sich ein Planungsrhythmus zu entwickeln, der als bestimmende Größe vom Zyklus der Olympiaden bestimmt war. Aus den Analysen der Ergebnisse der jeweils zurückliegenden Olym-pischen Spiele, den Entwicklungen, die sich im Weltsport vollzogen hatten, den neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen und anderen Faktoren wurden die nächsten Ziele abgeleitet, Aufgaben be-stimmt und die erforderlichen Maßnahmen festgelegt, die als Ganzes und in den Teilbereichen zu realisieren waren. Das galt ebenso für die einzelnen Sportarten wie für die Sportverbände und die Forschungs- und Entwicklungsplanung.
Kommunikation
Einen eher „weichen“ Faktor des Leistungssportsystems der DDR, der weitgehend unterschätzt wird, ist die ausgeprägt gute Kommunika-tion zwischen allen Beteiligten. Eine der Ursachen dafür lag in der Aus- und Weiterbildung der übergroßen Anzahl von Trainern, künftigen Wissenschaftlern und einem nicht geringen Anteil des gesamten Füh-rungspersonals die sie gemeinsam an der DHfK absolvierten. Zugleich war von Anfang an eine enge Einbindung des Wissenschaftspersonals in die Leitungsorgane, sei es in zentrale Leitungen, den Führungsor-ganen der Sportverbände hergestellt worden, wie anderseits Fachex-perten der Praxis in wissenschaftsleitenden Gremien mitwirkten.
Eine zentrale Rolle kam dabei den Arbeitskreisen des DTSB zu, die nach Sportartengruppen gegliedert eine Zusammenführung von Trai-nern und Wissenschaftlern ermöglichte, um gemeinsam Erreichtes einzuschätzen, die jeweils anstehenden Probleme mit allem für und wider zu diskutieren.
Als direktes Kommunikationsmittel wurde 1963 die interne Zeitschrift „Theorie und Praxis des Leistungssports" herausgegeben, die allen im System des Leistungssports Tätigen zugänglich war und sich durch eine möglichste verständliche Sprache auch für komplizierte Sachver-halte auszeichnete.
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Das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport
Das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig war das Zentrum der Leistungssportforschung in der DDR. Es wurde am 24. April 1969 offiziell gegründet Seine Wurzeln reichen allerdings weiter zurück bis ins Jahr 1956, als im Rahmen der Deutschen Hoch-schule für Körperkultur (DHfK) eine spezielle Forschungsstelle gebildet wurde, in deren Entwicklung die Leistungsportforschung zur profilbe-stimmenden Aufgabe geworden war.
Das FKS entstand durch eine Fusion der zur DHfK gehörenden Ein-richtungen der FST und des Instituts für Sportmedizin. Betrachtet man allein nur die Größenordnung bei der Bildung mit 375 Personen, die bereits vorliegenden Forschungsergebnisse und die Erfahrungen in der Organisation der leistungssportlichen Forschung, so wird klar, dass es sich nicht um eine Neugründung handelte, sondern um das Erreichen einer neuen Qualität und Effektivität in der Leistungssport-forschung,
Es ist deshalb berechtigt, nicht schlechthin von einer Vorgeschichte auszugehen, sondern diese erste Phase der Leistungssportforschung in der DDR in einer Übersicht entsprechend zu berücksichtigen.
Zur Forschungsstelle der DHfK
Im Beschluss der Regierung der DDR vom 9. Februar 1956 „Über die weitere Entwicklung der Körperkultur und des Sports in der DDR" war die Bildung einer speziellen Forschungsstelle (FST) an der DHfK festgelegt. Wissenschaftliche Untersuchungen sollten erfolgen auf den Gebieten Geschichte und Organisation der Körperkultur in Deutsch-land, Körpererziehung der Kinder und Jugendlichen, den wissenschaft-lichen Grundlagen der Theorie, Methodik und Technik des sportlichen Trainings, der Rolle von Körperkultur und Sport als Faktor zur Festi-gung der Gesundheit und Steigerung des Leistungsvermögens sowie zur Organisation und den Methoden der ärztlichen Betreuung der Sporttreibenden.
Mit dieser breitgefächerten Aufgabenpalette begann die FST im Sep-tember 1956 ihre Arbeit - anfangs mit 10 Mitarbeitern, 10 Jahre später war die Gesamtzahl der Mitarbeiter auf 180 angestiegen. Entspre-
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chend der Aufgabenstellung erfolgte eine inhaltliche Ausrichtung auf die Gebiete Zeitgeschichte, Sport/Leistungssport, Kinder- und Jugend-sport, Arbeitsproduktivität und Sport. Hinzu kamen Arbeitsgruppen für Foto-Film und eine mechanische Werkstatt.
Im Verlaufe der weiteren Entwicklung und der sich vollziehenden Veränderung der Prioritäten zugunsten des Leistungssports wuchs be-sonders der Anteil der trainingswissentlichen Kapazitäten. 1958 wur-den sie zusammengefasst in einer Abteilung Leistungssport mit spezi-eller Ausrichtung auf die Sportarten Leichtathletik, Schwimmen, Tur-nen, Sportspiele, Wintersport und Wasserfahrsport. Im Jahr 1961 wur-de eine weitere Untergliederung in drei Abteilungen vorgenommen und mit dem Aufbau sportartspezifischer Forschungsguppen begonnen
Institut für Sportmedizin der DHfK
Der Aufbau einer Abteilung Sportmedizin an der FST wurde unter-brochen als sich durch grundlegende Änderungen in der Gesundheits-politik der DDR weitgehendere Konsequenzen für die Rolle und die Qualität der Sportmedizin insgesamt ergaben. Prävention, Prophylaxe sollten im Gesundheitswesen generell einen höheren Stellenwert er-reichen. Dazu war eine andere Größenordnung für die Forschung, die Ausbildung des entprechenden Personals und den Aufbau eines Be-treuungsnetzes erforderlich, als es die bisher bestehenden Einrichtun-gen leisten konnten.
Zudem wurde eingeschätzt, dass die sportmedizinische Forschung in der BRD einen weitaus größeren Einfluß auf die leistungssportliche Entwicklung nahm, als das in der DDR der Fall war. In einem Beschluß des Politbüros der SED vom 18. 10. 1960, der sich generell auf die Verbesserung der Sportwissenschaft in der DDR gerichtet war, wurden deshalb weitergehende Maßnahmen beschlossen.
Ab 1961 entstanden so das im Rahmen der DHfK selbständige Insti-tut für Sportmedizin, ein Reha-Zentrum in Kreischa, der Sportmedizini-sche Dienst der DDR mit zentralen Einheiten, Bezirks- und Kreis-dienststellen für die sportmedizinische Betreuung der Bevölkerung so-wie die Anerkennung einer Ausbildungsrichtung zum Facharzt für Sportmedizin. (…)
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Zu den grundlegenden Aufgaben des ISM gehörten neben den Lehr-verpflichtungen und der Bearbeitung von Forschungsthemen die Aus-bildung von Fachärzten, die Methoden-Entwicklung für fundierte wis-senschatliche Untersuchungen sowie die Qualifizierung des Personals in den Forschungsrichtungen.
Erste Forschungsfelder des Leistungsports in der FST
In den ersten Jahren seines Bestehens waren die Forschungsthe-men im allgemein abgesteckten Rahmen sehr stark von den Fähigkei-ten des einzelnen Mitarbeiters und den Grenzen der Untersuchungs-methodik abhängig, wobei die Problemstellungen zumeist zusammen mit Trainern erfasst wurden.
Zu den Themen gehörten z:B. Untersuchungen über den Einfluss der Absprungbewegung auf die Sprungweite im Skisprung, die Entwick-lung einer Meßdolle im Rudersport und eines Skirollers für das Som-mertraining der Skilangläufer - übrigens als erstes internationales Pa-tent der FST anerkannt -, die Vervollkommnung der Technik im Pferd-sprung der Turnerinnen. Weltstandsbeobachtungen in verschiedenen Sportarten wurden aufgenommen, Bewertungstabellen für die Über-prüfung des körperlichen Zustandes von Schulkindern erarbeitet.
Mit der etwa ab 1960 eingetretenen Phase, die bisherige Entwick-lung des Leistungssports mit dem weiteren Auf- und Ausbau als ein DDR-spezifisches System fortzuführen, wie das im vorigen Abschnitt charakterisiert wurde, ergaben sich für die Forschung neue Problem-stellungen. Sie machten es erforderlich und zugleich möglich, über punktuelle Schwerpunkte den Systemaspekt auch für die Forschung mit in den Mittelpunkt zu rücken. Grundlegende bzw. Sportartübergrei-fende Projekte wurden zu wesentlichen Ansatzpunkten für die weitere Forschung, deren Bearbeitung zugleich von den sportartspezifischen Gruppen mit wahrgenommen wurde. Zu den Projekten, die eine be-sonders nachhaltige Wirkung auf das Leistungsportsystem hatte, seien hervorgehoben:
Wissenschaftliche Untersuchungen zu den Zielen, Aufgaben und der Methodik, die den Programmen des Kinder- und Jugendtrainings zu-grunde gelegt werden sollten. Eine der Grundthesen war, die Ausrich-
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tung des Trainings als Bestandteil eines langfristigen einheitlichen Prozesses zu begreifen, der auf das Vollbringen sportlicher Leistungen in der Zukunft vorbereitet. Für das Nachwuchstraining wurden zwei Etappen als Grundlagen- und Aufbautraining charakterisiert, meines Wissens erstmalig in einem von der FST 1962 durchgeführten Semi-nar.
Diese wissenschaftlich begründeten Ausgangspositionen legten mit den Grundstein für einen wesentlichen Systemvorteil des DDR-Leistungssports - eine strategische Verbindung eines gestalteten Nachwuchstrainings mit dem Hochleistungstraining frühzeitig erkannt und genutzt zu haben. Das daraus erwachsende Projekt Langfristiger Leistungsausbau (LLA) blieb permanent ein Schwerpunkt der For-schung.
Eine ebenso nachhaltige Wirkung erreichte das Forschungsprojekt: Grundlagen für die Planung, Dokumentation und Auswertung/Analyse des Trainings am Beispiel mehrer Sportarten aus den Jahren 1963-64. Es kennzeichnete die Inhalte und die Planmethodik für mehrjährige und jährliche Rahmentrainingsplane in Sportarten und für bestimmte Ausbildungsetappen bis zum direkten Instrument der individuellen Traningspläne für jeden einzelnen Sportler Das tatsächlich realisierte Training war zu dokumentieren als unmittelbare Hilfe für den Trainer selbst und für übergreifende Auswertungen und Analysen. Diese In-strumente wurden ständig vervollkommnet als Bestandteil der künfti-gen Steuerung des Trainings.
1965 (?) begann eine interdisziplinär zusammengesetzte Arbeits-gruppe mit „Untersuchungen zur langfristigen und unmittelbaren Vor-bereitung auf die speziellen klimatischen und ortszeitlichen Bedingun-gen auf die XIX. Olympischen Sommerspiele in Mexiko-City“
Die dabei erzielten Ergebnisse waren die Grundlage für das spätere Forschungsfeld, das Training unter Höhenbedingungen als Leistungs-faktor für die Wettkämpfe unter N:N: Bedingungen effektiv zu nutzen.
An der FST begann das auf 20 Jahre angelegte Projekt zur physi-schen Entwicklung der jungen Generation in der DDR und das Projekt zur Eignung und Auswahl talentierter Sportler, die später vollständig
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von der DHfK weitergeführt wurden.
1968 erhielt die FST von der Leistungssportkommission den Auftrag, eine Prognose zur Entwicklung des Leistungsports bis 1980 auszuar-beiten. Aus der „Prognose" wurde später eine „Grundlinie zur Entwick-lung des Leistungssports der DDR bis 1980" als Beschluss des Sekre-tariats des ZK der SED am 19. März 1969 bestätigt.
Gründung des FKS, Ziele und Aufgaben
In einer feierlichen Veranstaltung wurde am 26. April 1969 die Grün-dung des FKS vollzogen. Als offizieller Gründungstermin gilt der 1. Mai 1969. Mit dem ab diesem Zeitpunkt geltenden Statut wurden als Ziele und Aufgaben festgelegt Das FKS ist das Forschungszentrum für die Entwicklung des Leistungssports in der DDR und Hauptträger der Leis-tungssportforschung zur Untersuchung wesentlicher Prozesse und Bedingungen für die Entwicklung sportlicher Weltspitzenleistungen Es trägt die Hauptverantwortung dafür, dass für den Leistungssport neue praktikable und systemwirksame wissenschaftliche Erkenntnisse aus-gearbeitet werden, die maßgeblich dazu beitragen, dass Spitzenleis-tungen der Sportler der DDR bei Olympischen Spielen, Weltmeister-schaften u.a. internationalen sportlichen Wettkämpfen erreicht werden. (…) Die im Statut festgelegten Ziele und Aufgaben stimmten in vollem Umfange mit den Erfahrungen überein, die in den beiden Vorgänger-Einrichtungen gewonnen wurden.
Leistungssportstrategie und Forschungsstrategie konnten nun we-sentlich besser aufeinander abgestimmt werden und ergänzten sich gegenseitig. Es gab eine system- und prozessgerichtete Leitlinie, die von der Forschung erwartete, nicht bei Zustandsbeschreibungen ste-hen zu bleiben sondern aktiv einen gesellschaftlichen Prozess zu be-einflussen, ihn nicht nur zu steuern sondern auch regeln zu lernen Da-für galt es, ein möglichst adäquates Instrumentarium zu schaffen und ständig weiter zu vervollkommnen.
Rechtliche Stellung
Das FKS war dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR direkt unterstellt. Es war juristische Person, Rechtssträger von Volkseigentum und Haushaltsorganisation. Laut
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Beschluss der 99. Sitzung des Ministerrates der DDR 1969 galten für das FKS hochschulrechtliche Bestimmungen wie für das gesamte Hochschulwesen, so die Vergütungsverordnungen für das gesamte Personal, die Einrichtung eines Wissenschaftlichen Rates mit Fakultä-ten entsprechend der Wissenschaftsdisziplinen, die Berufungsordnung für Hochschullehrer, die Übereinstimmung wissenschaftlicher Struktu-ren mit denen der Hochschuleinrichtungen, die Ausbildungsordnungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, speziell den Forscnhungsstu-denten.
Am 23. 10. 1981 erhielt das FKS vom Minister für Hochschulwesen das Promotionsrecht A zum Doktor der Pädagogik zugesprochen, spä-ter ergänzt mit Ausnahmeregelungen für Promotionen B (Habilitatio-nen). Wie in allen anderen Verantwortungsbereichen gab es auch auf diesem Gebiet eine enge Zusammenarbeit mit der DHfK.
Um eine Einflußnahme der Paxispartner zu gewährleisten, erhielt die Leistungssportkommission der DDR das Beschlußrecht über die For-schungspläne, einschließlich der inhaltlichen Anleitung.
Auftraggeberrechte durch den DTSB
Dies war auch deshalb von Bedeutung, weil in der Leistungssportfor-schung neben den unterstellten Einrichtungen des SKS Forschungs-potential anderer wissenschaftlicher Bereiche einbezogen war.
Personalentwicklung und Qualifizierung
Angesichts der nach 1945 entstandenen Situation, die dazu zwang, in fast allen gesellschaftlichen Bereichen eine neue Generation von Fachleuten heranzubilden, kam der Bildung der DHfK im Jahr 1950 ei-ne Schlüsselrolle zu. Innerhalb weniger Jahre wuchsen die Anforde-rungen durch die Aufnahme neuer Ausbildungs- und Weiterbildungs-verpflichtungen so an, dass für die Lösung von Forschungsaufgaben nur ein geringer Raum blieb. Dies war einer der Gründe, eine spezifi-sche Forschungsstelle zu gründen., deren Mitarbeiter weitgehend vom Lehrbetrieb befreit werden konnten und zudem noch Gebiete abge-deckt wurden, die nicht zu den Kernbereichen der Ausbildungsver-pflichtungen gehörten.
Mit nur 10 Mitarbeitern begann die FST im Herbst 1956, 10 Jahre
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später war der Personalbestand auf 180 angewachsen. Eine solche quantitative Entwicklung musste einhergehen mit einer entsprechen-den Qualifizierung, denn kaum einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter verfügte über Wissen und Erfahrungen für eine Forschungstätigkeit. Ähnlich wie an der DHfK, an der es darum ging, das Lehren beim Leh-ren zu erlernen, so galt in der FST in den ersten Jahren die Verpflich-tung, im Forschungsprozess das Forschen zu lernen.
Im Hinblick auf die Profilierung des Leistungsports lieferte die deutschprachige Literatur wenig Material.
Umso wichtiger war es, Quellen der sowjetischen Sportwissenschaft zu erschließen, die damals zu den fortgeschrittensten der Trainings-wissenschaft gehörten. An der DHfK wurde eine Informationsstelle ge-bildet, die die entsprechende Fachliteratur sichtete, teilweise Überset-zungen vornahm und sie in verschiedener Form zugängig machte. In der FST entstand 1958 eine Gruppe „Auslandssport", die diese Arbeit speziell unter dem Aspekt des Leistungssports ergänzte.
Ab Anfang der 60er Jahre begann ein direkter Erfahrungsaustausch durch Studienaufenthalte. Am Institut für Sportmedizin wurden Spezia-listen aus der SU und anderen sozialistischen Ländern für eine mehr-jährige Tätigkeit gewonnen. Auch hier bestand der Schwerpunkt in der Qualifizierung der Forschungsprozesse sowie in der Mithilfe bei der Ausbildung von Fachärzten für Sportmedizin.
Eine zweite Quelle zur Qualifizierung der Mitarbeiter erschloss sich aus den Erfahrungserkenntnissen von Trainern der älteren Generation, die bereits in den ersten Jahren des Bestehens der DDR mit ihren Ath-leten beachtliche sportliche Ergebnisse erreicht hatten., wie Hans Renner im Skisprung, Werner Schiffner und Herbert Weißbrod im Radsport oder Ewald Mertens in den leichtathletischen Laufdisziplinen.
So entstand von Anfang an eine enge Zusammenarbeit von Wissen-schaft und Praxis.
Das Prinzip, einerseits aus Erfahrungserkenntnissen von Trainern zu zu lernen und diese aber auch gleichzeitig in Frage zu stellen war sozusagen der Kern der Philosophie des Forschens am FKS. (…)
Mit der Gründung des FKS 1969 war die Praxis verbunden, dass -
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und das blieb auch so - die Mehrheit der Mitarbeiter mit Hochschul-ausbildung nicht ausschließlich Sportwissenschaft studiert hatten. Die Zahlen lauteten 1990: 145 Sportwissenschaftler, 57 Sportmediziner oder Biowissenschaftler, 86 Naturwissenschaft und Mathematiker und 50 Gesellschafts- oder Sprachwissenschaftler. Dies hatte zur Folge, dass bei der Qualifizierung und Spezialisierung besonderer Wert da-rauf gelegt wurde, auch diesen Mitarbeiterkreis mit den erforderlichen Kenntnissen in der Trainingswissenschaft auszustatten. Das dies auf einem hohen Niveau erreicht werden konnte, wurde zu einem beson-deren Vorteil der Leistungswirksamkeit des FKS.
In der FST und im Institut für Sportmedizin ging es bereits darum, ei-genen wissenschaftlichen Nachwuchs heranzubilden. Das betraf so-wohl die bereits tätigen Mitarbeiter, zunehmend aber auch Aspiranten und in späteren Jahren Forschungsstudenten mit dem ersten Ziel der Promotion A, Doktor der Pägogik an der DHfK oder am FKS selbst, und zum Dr. med. den Universitätskliniken.
Insgesamt promovierten in der Zeit ihrer Tätigkeit an FST/ISM/FKS bis zur vollständigen Abwicklung des FKS im Jahre 1992 an die 200 Mitarbeiter. 40 habilitierten sich zumeist an der DHfK, Universitäten, Akademien und Hochschulen.
Der gesamte Personalbestand umfasste in der zweiten Hälfte der 80er Jahre rund 600 Kräfte, abhängig davon an man, wie in der DDR üblich zwischen der Zahl der „Vollbeschäftigten-Einheiten" VBE oder der Anzahl der Personen unterscheidet.
Die rasch wachsende Zahl der Mitarbeiter und der Wissenschafts-disziplinen (…) erforderten entsprechende Strukturen. 1966 bestanden z.B. die Abt. Ausdauersportarten, Kraft/Schnellkraftsportarten, Spiel-sportarten, Kampfsportarten und eine AG Technische Vervollkomm-nung, der Turnen zugeordnet war. Ergänzt wurde diese auf den Spit-zenleistungsssport ausgerichtete Strukturen durch die Abteilung Nachwuchsleistungssport und eine AG für Physische Entwicklung der jungen Generation. (…)
Das Institut für Sportmedizin konnte ab 1965 den modern eingerich-teten Neubau - das zentrale Eingangsgebäude der DHfK - in der
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Jahnallee nutzen Es war speziell auf die Erfordernisse der sportmedi-zinischen und biowissenschaftlichen Forschung ausgerichtet
Nach langjährigen konzeptionellen Vorbereitungen wurde 1971 eine multiple ausgerüstete Sporthalle als Mess- und Untersuchungsbasis für die Forschung in mehreren Sportarten fertiggestellt, die zum dama-ligen Zeitpunkt wohl auch im internationalen Rahmen als einzigartig gelten konnte. Sie vereinte die wettkampf- und trainigsspezifischen Ausrüstungen mit einem Komplex von Meß-und Informationstechnik, um unter realen Bedingungen weitere Leistungsreserven zu erkunden. Das betraf das Männer- und Frauenturnen, die Sprung- und Wurfdis-ziplinen der Leichtathletik, Ringen, Boxen, Judo, Gewichtheben. An die Halle waren unmittelbar angeschlossen Labore für Biomechanik, Mus-kel- und Neurophysiologie, Ringen, Boxen, ein medizinischer Stütz-punkt, die Vernetzung mit dem Rechenzentrum des FKS. Im gleichen Zeitraum entstand im Gelände der DHIK eine Leichtathletik-Anlage mit Tartanbahn für die Ausbildung der Studenten, die gleichzeitig als MUBA genutzt wurde. Spezielle MUBA entstanden für Sportschwim-men – Strömungskanal -, Skilanglauf - kippbares Laufband - und et-was später für den Radsport in Verbindung mit der Alfred-Rosch- Rennbahn. In den nachfolgenden Jahren wurden diese Mess- und Un-tersuchungs-Basen vor allem durch technologisch Weiterentwicklun-gen zunehmend leistungsfähiger. (…) Dem Wissenschaftlichen Rat gehörten 1990 etwa 180 Mitglieder an, davon über 70 aus anderen Wissenschaftseinrichtungen.
Die Bedeutung der Spezialisierung und Integration für die
sportmedizinisch-wissenschaftliche Forschung
Von KLAUS GOTTSCHALK
Der folgende Beitrag ist eine belangvolle wissenschaftliche Ar-beit, die allerdings eher in einer spezifisch wissenschaftlichen Zeitschrift hätte erscheinen sollen. Da niemand hierzulande be-reit war, sie zu publizieren, haben wir uns entschlossen die Ar-beit stark reduziert abzudrucken.
Der Sport in der DDR konnte sich in relativ kurzer Zeit auch nur des-
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halb zu einem international anerkannten Phänomen mit ein em hohem stabilen Leistungsniveau entwickeln, weil er sich auf eine leistungsfä-hige Sportwissenschaft stützen konnte. Diese Leistungsfähigkeit wur-de andererseits in staatlicher Mitverantwortung planmäßig und zielge-richtet entwickelt. Da die Resourcen immer sehr begrenzt waren, war es von aller größter Wichtigkeit, dass alle Beteiligten sich immer an ei-nem schlüssigen Gesamtkonzept zur ständigen Entwicklung des Sports orientierten und damit ihre spezifische Forschungsarbeit ent-sprechend ableiten und organisieren konnten.
Mit der Überreichung der Gründungsurkunde der DHFK (Deutsche Hochschule für Körperkultur) am 22.Oktober 1950 war die fundamen-tale Voraussetzung für die schrittweise Entwicklung einer leistungsfä-higen Sportmedizin in der DDR geschaffen.
In Etappen vollzog sich seit 1950 der organisatorische Aufbau der DHfK und die Voraussetzung der Schaffung elementarer Grundlagen für die Einheit von Lehre, wissenschaftlicher Arbeit und Forschung (1950-1959), die Gründung des „Instituts für Sportmedizin" und des Auf- und Ausbaus des angeschlossenen „Rehabilitationszentrums" in Kreischa (1960-1969), die Gründung des „Forschungsinstituts für Kör-perkultur und Sport", des „Zentralinstituts des Sportmedizinischen Dienstes der DDR“ in Kreischa, des „Instituts für Freizeit- und Erho-lungssport" sowie des „Wissenschaftsbereichs „Naturwissenschaf-ten/Sportmedizin" an der DHFK (ab 1970).
So konnte eine den nationalen Erfordernissen entsprechende und in-ternational anerkannte Sportmedizin im Komplex der Sportwissen-schaft aufgebaut und entwickelt werden. Dabei wurde vor allem in der zweiten Entwicklungsphase umfassende internationale Unterstützung seitens der sowjetischen Sportmedizin (Butschenko, Chrustschowa, Chrustschow, Ivanow, Melia, Tschogowadse u.a.), der Sportmedizin in Bulgarien (Iwanow, Karanischef), der CSSR (Minerowjech, Placheta, Stolz, Vank) und Ungarn (Hovarka) gewährt.
So konnte Ausgehend von der zunehmenden gesellschaftlichen Be-deutung der Bereiche Körperkultur und Sport konnte sich die Sport-medizin als eine eigenständige Fachrichtung der Medizin herausbil-
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den, die solche wissenschaftlichen und praktischen Probleme bearbei-tete, die besonders die Erhaltung, Stabilisierung, Erhöhung und Wie-derherstellung der Gesundheit, aber auch die Verbesserung der all-gemeinen und sportlichen (psychophysischen) Leistungsfähigkeit durch die Anwendung der dem Bereich Körperkultur und Sport eige-nen Mittel und Methoden zum Ziel hatte.Die Sportmedizin hatte sich und wurde in fast vier Jahrzehnten, eingebunden in die Sportwissen-schaft und in die klinische Medizin, zu einer medizinischen Fachdiszip-lin entwickelt, die sich schwerpunktmässig mit der Anwendung der für den Bereich Körperkultur und Sport charakteristischen Mittel und Me-thoden, den entsprechenden Umstellungs- und Anpassungsreaktionen des Organismus im Hinblick auf die angestrebte sportliche Leistungs-steigerung und Gesundheitsstabilisierung, deren Berücksichtigung in der sportmedizinischen Betreuung der Sportler, der Leistungs- und Funktionsdiagnostik, der Therapie in den verschiedenen medizini-schen Fachrichtungen, aber auch der Prophylaxe, der Metaphylaxe, primären und sekundären Prävention und Rehabilitation sowie der Theoriebildung und entsprechenden Beiträgen zur Vervollkommnung der Trainingssysteme befasste.
Aufgabe der Sportmedizin war es, daraus Empfehlungen abzuleiten für die Nutzung der gewonnenen Erkenntnisse in der Sportpraxis mit deren vielschichtigen sportmedizinischen Betreuungsaufgaben gegen-über der gesamten sporttreibenden Bevölkerung, einschließlich der Leistungssportler (…)
Bei einer Charakterisierung des ständig zu beschreibenden Entwick-lungsstandes der Sportmedizin wurden die erhöhten anspruchsvollen Anforderungen an die Arbeit-an eine Spezialisierung, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Integration-immer wieder deutlich. Diesen hohen Ansprüchen unterlag nicht nur die Sportmedizin, sondern alle an der sportwissenschaftlichen Forschung beteiligten Wissenschaftsdiszipli-nen und Forschungseinrichtungen. Der Sportmedizin am FKS kam bei der Übernahme von Verantwortung in der sportartenbezogenen und sportpraxisbezogenen Forschungsarbeit eine besondere Führungsrolle zu.
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1. Anforderungen an eine Spezialisierung in der sportwissenschaftli-chen Forschung
Die Erfolge der sportwissenschaftlichen, inklusive der sportmedizini-schen Forschung hinsichtlich der Unterstützung der Sportpraxis waren zu einem großen Teil den Spezialisten der verschiedenen Wissen-schaftsdisziplinen, nicht zuletzt aber auch dem Mitengagement der Sportpraxis, zu verdanken.
Die Spezialisierung und Subspezialisierung erwies sich in der Sport-wissenschaft-und in den Biowissenschaften und der Sportmedizin-als ein objektiver Prozess. Mit der stürmischen Leistungsentwicklung im internationalen Sport in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurden an die Sportwissenschaftler der DDR viele Fragen herangetra-gen, die einzelwissenschaftlich nicht mehr zu beantworten und zu be-wältigen waren. Sie drängten objektiv nach einer stärkeren Integration von Trainingswissenschaft, Pädagogik, Psychologie, und anderen Dis-ziplinen mit der Sportmedizin und den Biowissenschaften. Sie dräng-ten aber auch nach einer immer anspruchsvolleren Qualität, nach ei-nem immer weiter zu entwickelnden interdisziplinären Denken in allen Wissenschaftsdisziplinen der Sportwissenschaft. So war es eine ge-setzmäßige Erscheinung, dass mit der zunehmenden Spezialisierung in der Sportwissenschaft, basierend auf der Vielschichtigkeit, Kompli-ziertheit und Komplexität der Aufgabenstellungen, der wissenschaftlich zu bearbeitenden Teilinhalte und Organisationsformen und der sich daraus mit Notwendigkeit ergebenden Beherrschung der Prozesse, deren weitere Vervollkommnung erforderlich wurde. Die Spezialisie-rung wurde, vor allem hinsichtlich der tieferen Erkenntnis des gemein-samen Gegenstandes, notwendig. Aufgabe der täglichen Arbeit war es, die Spezialisten der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, ein-schließlich der Sportmedizin und Biowissenschaften, einerseits in der Sportwissenschaft, andererseits in der Sportmedizin selbst zusam-menzuführen und damit den gegenläufigen Prozess, die Integration, zu meistern, und zunehmend besser zu beherrschen. Alle an der For-schung beteiligten Spezialisten mussten sich bemühen, bei aller Kom-pliziertheit und Komplexität der anspruchsvollen Forschungsthemen,
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möglichst schnell eine gemeinsame Sprache zu finden. Dieses Ansin-nen stellte höchste Ansprüche an die einzelnen Persönlichkeiten.
Spezialisten arbeiten bekanntlich auf einem eng begrenzten Gebiet, welches sie aber, die Zeitdauer und die Intensität der Tätigkeit auf die-sem Gebiet berücksichtigend, mit der notwendigen Tiefgründigkeit be-herrschen. Die in der trainingswissenschaftlichen Forschung engagier-ten Spezialisten ermöglichten somit in einem interdisziplinären For-schungsprojekt die sachkundige Bearbeitung von Teilaspekten des gemeinsamen Forschungsgegenstandes. Es kam sehr oft vor, dass verschiedene Spezialisten mit Teilkapazitäten zeitweise in mehreren Forscherteams engagiert waren.
Das gab den Wissenschaftlern fachliche Sicherheit und Kompetenz, was wiederum eine wesentliche Voraussetzung für eine verantwor-tungsbewusste und sinnvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit dar-stellte. Spezialisten der sportmedizinischen und anderen biowissen-schaftlichen Disziplinen entwickelten sich ausnahmslos am konkreten Forschungsgegenstand und im Prozess der täglichen Arbeit., d.h., die Qualifizierung zum Spezialisten war auf das engste verbunden mit der theoretischen und praktischen Bearbeitung wissenschaftsdisziplinspe-zifischer Inhalte und der Bewältigung spezifischer, nur interdisziplinär zu lösender Aufgaben der Sportwissenschaft hinsichtlich der Theorie-bildung und der Sportpraxis. Sie selbst wurden durch die genannten Anforderungen, die sich aus der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Forschungsgruppen der Sportarten oder aus der Bearbeitung übergreifender globalerer Forschungsthemen ergaben, zur fachspezi-fischen Methodenentwicklung angeregt. Daraus ließ sich immer wieder das dialektische Wechselverhältnis zwischen dem für eine interdiszip-linäre Arbeit erforderlichen Spezialisierungsgrad der jeweils beteiligten Partner, beispielsweise auf sportmedizinischem Gebiet, und der eben-falls notwendigen Zusammenführung der Erkenntnisse im Integrati-onsprozess ableiten. Gerade dieser Prozess erwies sich oft als sehr schwierig, da hierbei auch mitunter persönliche Barrieren durchbro-chen werden mussten. Wir mussten weiter erkennen, dass Spezialisie-rung und Profilierung in der sportwissenschaftlichen und auch sport-
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medizinisch-biowissenschaftlichen Arbeit vielfältiger und breiter ange-legt werden mussten, als wir bei oberflächlicher Betrachtungsweise oft meinten. Darin lagen meist solche Probleme begründet, wie sie sich zum Beispiel aus der wechselnden Aufgabenstellung für einen Spezia-listen im Zusammenhang mit der Veränderung von Forschungsinhal-ten nach Auswertung längerer Arbeitsetappen und Forschungszyklen (Olympiazeiträume u.a.) oder aus erhöhten Ansprüchen hinsichtlich seiner Rolle im interdisziplinären Wirken ergaben.
Dabei war jedoch zu berücksichtigen, dass das Verlassen des Spe-zialgebietes- aus welchen Gründen auch immer- für einen Fachwis-senschaftler ein tatsächliches Risiko darstellen konnte.
Bei der praktischen Gestaltung der skizzierten Forschungsarbeit gab es auch eine Reihe unüberwindbar erscheinender Probleme: Ein inter-disziplinär zusammenarbeitendes Forschungsteam sollte sich idealer-weise aus wissenschaftlich ausgewiesenen Fachvertretern der betei-ligten Wissenschaftsdisziplinen, die an ein selbständiges Arbeiten ge-wohnt sind, zusammensetzen, d.h. jeder Wissenschaftler kann sich durch selbständige Arbeit in den Forschungsprozess einbringen. Die-ses Wissenschaftlerpotential war objektiv nicht vorhanden. So war es auch Praxis, dass in Forschungsgruppen ausgewiesene Wissenschaft-ler (Professoren), Forschungsstudenten, Ärzte in Ausbildung zum Facharzt für Sportmedizin und/oder Sportärzte aus der Betreuungs-praxis mit Teilkapazitäten zusammenarbeiten mussten. Die eigentlich zugedachte Führungsrolle der Sportmedizin für den sportmedizinisch-biowissenschaftlichen Forschungsanteil konnte einfach aus personel-len Gründen nicht immer erfüllt bzw. abgedeckt werden. Probleme wurden dann besonders deutlich bei der Übertragung bzw. Überfüh-rung des interdisziplinär gewonnenen Erkenntnisgewinn in die sport-methodische Praxis und bei der Weiterentwicklung von Theoriekon-zepten.
Insgesamt aber hatte der Entwicklungsstand der Sportwissenschaft nach Jahren zielstrebiger Arbeit ein solches Niveau erreicht, dass eine Weiterentwicklung nur über ein interdisziplinäres arbeitsteiliges Zu-sammenwirken möglich wurde. Je höher jedoch die Anforderungen an
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die Arbeitsteilung und damit an die Spezialisierung bzw. Subspeziali-sierung bei der Lösung der gestellten Aufgaben wurden, desto grösser wurde auch die Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Gan-zen. Eine zu große wissenschaftliche Spezialisierung führte erfah-rungsgemäß zu einer einseitigen wissenschaftlichen Befähigung des nur in begrenztem Umfange zur Verfügung stehenden Wissenschaft-lerpotentials. Sie Das zwang uns zu einer strategisch langfristiger an-gelegten Arbeit, um die Potenzen der Spezialisten auf sportmedizini-schem bzw. biowissenschaftlichem Gebiet effektiver ausschöpfen zu können. Dies war ein langwieriger Prozess bei dem ganz persönliche Einsichten erreicht werden mussten. Dabei wurde vornehmlich darauf geachtet, dass das sich aus der Spezialisierung erreichte differenzierte Vorgehen keinesfalls erstarren sollte, sondern dynamisch zu halten war, um sich jederzeit wieder offensiv den schwierigen Fragen der wissenschaftlichen Strategie und Taktik stellen zu können.
Da die Medizin ihrem Wesen nach ohnehin ein integratives Wissen-schaftsgebiet in sich darstellt, war allgemein verständlich, dass dies al-lein schon eine mehrdimensionale Betrachtungsweise erforderte. Die Beherrschung dieses Prozesses forderte die Sportmedizin und die Sportwissenschaft gleichermaßen immer wieder heraus. Allen Beteilig-ten war zu jeder Zeit klar, dass natürlich die höchste Wirksamkeit der Spezialisierung nur im Prozess der Integration erreicht werden konnte.
Es liegt wiederum in diesem interdisziplinären Prozess selbst be-gründet, dass in Abhängigkeit von vielen Faktoren-allgemein ausge-drückt-die Triebkräfte für den Spezialisierungsprozess in der Regel größer waren als jene auf die Integration gerichteten. Eine dabei nicht erkannte bzw. nicht beabsichtigte disproportionale Entwicklung kann sich ungünstig auf den Gesamtprozess auswirken. Die einzelnen sportmedizinisch-biowissenschaftlichen Disziplinen lassen, rückbli-ckend auf fast vier Jahrzehnte, durchaus auch solche Disproportionen in ihrer Entwicklung erkennen, die jedoch in zunehmendem Maße ausgeglichen werden konnten.
Die Sportmedizin als eine der jüngsten Fachrichtungen mußte sich bei der Lösung vielschichtiger sportwissenschaftlicher Fragestellungen
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auch dem Problem der eigenen Subspezialisierung, der Entwicklung spezialisierter Tätigkeitsbereiche bzw. der Festlegung differenzierter Forschungsaufgaben stellen. Innerhalb der Sportmedizin zeichnete sich das Erfordernis, spezialisierte Tätigkeitsbereiche für den betref-fenden Facharzt zu entwickeln, immer deutlicher ab, vor allem wenn in diesem Zusammenhang an das breite Spektrum im Leistungssport bei der Betreuung und wissenschaftlichen Bearbeitung der Probleme der Sportarten und Sportartengruppen (sportartspezifisch- thematische Forschung),
Nachwuchsleistungssport,
Breitensport,
Gesundheitssport,
Behindertensport,
Sporttherapie und Rehabilitationssport,
Schul-, Lehrlings- und Studentensport,
Sport zur allgemeinen Körperertüchtigung,
Sport älterer Bürger (Seniorensport)
und andere gedacht werden musste. In jedem Falle galt jedoch, dass ein Subspezialist in der Medizin aus einer breitangelegten Aus- und Weiterbildung zum Facharzt erwachsen sollte. In diesem Prozess wur-de keinesfalls die Sportmedizin bzw. die Sportwissenschaft als Ganzes aus den Augen verloren, trotz bzw. gerade wegen der erfolgenden Spezialisierung mußte der Gesamtüberblick über die Mutterfachrich-tung immer gegeben sein- und das unter den sportspezifischen Bedin-gungen am FKS. Analoge Probleme bei der Subspezialisierung erga-ben sich auch für alle Spezialisten der integrierten biowissenschaftli-chen Disziplinen.
2. Anforderungen an eine Integration in der trainingswissenschaftli-chen Forschung
Eine Einseitige Spezialisierung birgt immer die Gefahr der Zersplitte-rung in sich und führt meist nicht zu dem erforderlichen Erfolg. In der Sportwissenschaft, besonders aber in der Sportmedizin, standen wir immer wieder vor der schwierigen Aufgabe, die Spezialisierung nicht um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern sie gezielt im Sinne der
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Lösung der gestellten Forschungsaufgaben bzw. der praxisrelevanten Probleme einzusetzen, um sie dann auf einer höheren Abstraktionse-bene durch eine sinnvolle Integration wieder aufzuheben. In diesem Prozess kam den einzelnen biowissenschaftlichen Disziplinen ein-schließlich der Sportmedizin ein hohes Maß an Eigenverantwortung zu. Jeder einzelne Wissenschaftler war gewissermaßen für die Integ-rationsfähigkeit seiner Arbeitsergebnisse zu einem großen Teil selbst verantwortlich. Die bewußte Gestaltung der Spezialisierung und In-tegration, insbesondere der Orientierung auf die Funktion der Integra-tion als Gegenpol zur Differenzierung und Spezialisierung, gewann in diesem Zusammenhang zunehmend an Bedeutung. Die Triebkräfte des wissenschaftlichen Fortschritts waren es, die immer wieder zur In-tegration herausforderten. Aus der Vielschichtigkeit, Kompliziertheit und Komplexität der Aufgabenstellungen für Sport- und Trainingswis-senschaft, deren Einzelwissenschaftsdisziplinen, einschließlich der Vielfältigkeit in der Sportmedizin selbst, ergab immer wieder die zwin-gende Notwendigkeit zur interdisziplinären Arbeit auf den Gebieten der Forschung und Lehre. Die partielle Zusammenarbeit der Wissen-schaftsdisziplinen und der Austausch von Ideen und Forschungser-gebnissen (DDR-weit) waren in zunehmendem Maße zu den Quellen der schöpferischen Arbeit zu zählen. Dies war auch der Schlüssel zu einer schnellen Übertragung und Überführung der neuesten Erkennt-nisse aus der wissenschaftlichen Arbeit in die Sportpraxis, dem eigent-lichen Ziel gemeinsamen Arbeitens.
Disziplinäre oder innere Integration
Unter disziplinärer Integration verstanden wir, dass jede der in das Wissenschaftsgebiet der Sportmedizin eingeordneten Wissenschafts-disziplinen (Funktionelle Anatomie, Biochemie, Endokrinologie, Phy-siologie, Sportanthropometrie, Sportmedizin) bei der Kooperation mit anderen Wissenschaftseinrichtungen der betreffenden Disziplinen der Mutterwissenschaften die Integration auf das jeweilige Fachgebiet be-zieht, um auf diese Weise den Überblick über das entsprechende Ge-biet und die fachliche Kompetenz schrittweise zu erweitern, also letzt-lich den bestehenden Anforderungen möglichst jeder Zeit gerecht zu
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werden. Die Verantwortung der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen für das Integrationsfähigmachen bzw. -Bleiben der Einzel- und Teamleis-tungen der einzelnen Spezialisten erwuchs aus der Wissenschafts-entwicklung auf dem betreffenden Fachgebiet.
Interdisziplinäre oder äußere Integration
Die interdisziplinäre Integration war gekennzeichnet durch eine Zu-sammenfassung und Verallgemeinerung der wissenschaftlichen Teil-ergebnisse, die auf der Grundlage der Zusammenarbeit von Spezialis-ten verschiedener Arbeitsgebiete und Wissenschaftsdisziplinen an ei-ner gemeinsamen wissenschaftlichen Problemstellung (meist direkt aus der Sportpraxis) oder einer komplexen Aufgabe erarbeitet wurden. Für die Sportmedizin ergaben sich verschiedene Ebenen einer inter-disziplinären Zusammenarbeit und der Verantwortung für den Integra-tionsprozeß.:
Interdisziplinäres Zusammenwirken der biowissenschaftlichen Dis-ziplinen innerhalb des Wissenschaftsgebietes der Sportmedizin am gemeinsamen Gegenstand bzw. Themas. Dabei sollte der Sportmedi-zin eine besondere Rolle und Bedeutung zukommen. Dies war beson-ders dann von größter Bedeutung, wenn es um die Übertragung und Überführung der neuesten Erkenntnisse in die unmittelbare Sportpra-xis ging. Das war alleinige Aufgabe der zuständigen Trainer und Sportärzte.
Interdisziplinäres Zusammenwirken der biowissenschaftlichen Dis-ziplinen mit den Wissenschaftsdisziplinen anderer Bereiche und Fach-richtungen innerhalb des FKS (Sportmethodik, Psychologie, Pädago-gik, Technik, EDV u.v.a.). Interdisziplinäres Zusammenwirken der sportmedizinisch-biowissenschaftlichen Disziplinen mit den Wissen-schaftsdisziplinen, Fachrichtungen bzw. Laboren und Kliniken anderer Wissenschaftseinrichtungen( Universitäten, Hochschulen, Institute u.a.) sowie Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens ein-schließlich des Sportmedizinischen Dienstes der DDR.( Dabei waren auch interdisziplinäre Arbeiten über Dritte möglich-Mit- oder Nachnut-zung anderweitig erarbeiteter Ergebnisse).
Aus dem Dargelegten ist die Kompliziertheit der Integrationsprozes-
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se der in der Sportmedizin vereinten verschiedensten Disziplinen zu erkennen. Wichtig für eine erfolgreiche Bewältigung der Forschungs-aufgaben war, dass bei allen Wissenschaftlern, einschließlich der Sportmediziner und anderer Biowissenschaftler, frühzeitig das inter-disziplinäre Denken ausgebildet wurde, da das Verständnis für die Denkweise und Sprache der Spezialisten anderer Fachrichtungen eine wesentliche Voraussetzung für die zielgerichtete interdisziplinäre Ar-beit darstellte. Dabei ging es einerseits um die Ausprägung der Fähig-keit, das betreffende Anliegen der interdisziplinären Forschungsthema-tik dem jeweiligen Partner eindeutig und unmissverständlich vorzutra-gen, mögliche Lösungswege anzudeuten, den Arbeitsaufwand und -Nutzen einzuschätzen und die Ergebniserwartungen hypothetisch zu formulieren sowie auf die entsprechende Antwort zu reagieren. Ande-rerseits ergaben sich aus der interdisziplinären Denkweise solche Fra-gen wie die nach
der Integrität der Persönlichkeit,
dem Verantwortungsbewußtsein aller Beteiligten,
der Minimierung des Risikos der wissenschaftlichen Einzelleistung,
den gesellschaftlichen und ökonomischen Aufwendungen im Ver-hältnis zum realen Nutzen,
den Bewertungskriterien der Arbeit.
Dieser hier nur andeutungsweise dargestellte hohe Anspruch an eine effiziente Forschung war abhängig von der ständigen Vertiefung des theoretischen Wissens sowie der praktischen und wissenschaftlichen Tätigkeit auf dem eigenen Fachgebiet. Darüber hinaus war für die in-terdisziplinäre Arbeit ein hohes Maß an Kenntnissen über die Leis-tungsfähigkeit und Aussagemöglichkeit der anderen beteiligten Wis-senschaftsdisziplinen erforderlich. Jedem Wissenschaftler musste in diesem Zusammenhang stets gegenwärtig sein, dass die Leistungen der interdisziplinären Forschung, die ja den Stand der Integrationsfä-higkeit reflektierten, entscheidend vom Niveau und von der Qualität der theoretischen Arbeit sowie von der Bereitschaft zur interdisziplinä-ren Zusammenarbeit an einer komplexen Aufgabe in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen bestimmt waren. Eine von negativ wirkenden
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subjektiven Faktoren weitgehend freie und damit konstruktive interdis-ziplinäre Arbeit zeichnete sich dadurch aus, dass sie die Gesamter-kenntnis deutlich erhöhte, den Erkenntniszuwachs aller Einzeldiszipli-nen förderte, der Entwicklung der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen diente und neue Impulse für die disziplinspezifische Forschung gab.
Jede interdisziplinäre Zusammenarbeit am FKS mußte auch zu einer kritischen Prüfung der bestehenden Anforderungen und Maßstäbe durch alle Beteiligten genutzt werden. Auf dem Wege des wissen-schaftlichen Meinungsstreits wurde dazu beigetragen, den Anteil jedes einzelnen sowohl an der Lösung der komplexen bzw. interdisziplinären Aufgabe als auch an der Weiterentwicklung der eigenen Wissen-schaftsdisziplin oder Fachrichtung deutlich herauszuarbeiten. Hemm-nisse konnten somit rechtzeitig ausgeschaltet werden. Denn, das sei hier nochmals deutlich hervorgehoben:
In der Integration der Erkenntnisse durch interdisziplinäre Tätigkeit lagen wesentliche Aspekte der Intensivierung der sportwissenschaftli-chen Arbeit, die spezifischen Belange der Sportmedizin am FKS ein-geschlossen. Gradmesser der erfolgreichen Wissenschaftsarbeit wa-ren letztlich die überragenden sportlichen Leistungen und die Wett-kampfresultate der Sportler der DDR über vier Jahrzehnte bis 1990 und darüber hinaus. Alles in allem waren die sportlichen und wissen-schaftlichen Erfolge systemimmanent und nur unter besonderen ge-sellschaftlichen Bedingungen, in denen das Zusammenwirken aller Kräfte funktioniert, erfolgsorientiert und zielbewusst anwendbar.
Literatur:
Wittekopf, G.: Hochschulpädagogische und -methodische Probleme der Integration und Differenzierung der Naturwissenschaften und Sportmedizin im Direkt- und Fern-studium der Deutschen Hochschule für Körperkultur.
Wissenschaftliche Zeitschrift der DHFK ( Leipzig) 1971, 13, 3/4.-S.97-102
Training von A bis Z (Berlin), 1978.
Tittel, K.:Zur Entwicklung der Sportmedizin und der Naturwissenschaften an der DHFK. Theorie und Praxis der Körperkultur ( Berlin) 1980, 29, 10, S.733-747.
Ehmann, G.: Spezialisierung und Integration in der ärztlichen Weiterbildung.
Deutsches Gesundheitswesen (Berlin), 1981, 36, 5.- S.193- 195. Schönfelder, K-J,
Trogsch, F.: Kleines Olympisches Lexikon (Leipzig), 1983. Gottschalk, K. und S. Is-
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rael: Die Bedeutung der Spezialisierung und Integration für die
Sportmedizinisch-biowissenschaftliche Forschung und Lehre an der DHFK.
Wissenschaftliche Zeitschrift der DHFK ( Leipzig), 1984, 25, 3.- S 136-147.
Gottschalk, K. und S.Israel: Zur naturwissenschaftlich-sportmedizinischen Ausbil-dung von Diplomsportlehrern der Spezialisierungsrichtung Volks-sport.Wissenschaftliche Zeitschrift der DHFK (Leipzig),1986, 27, 3, S.43-52..
Gottschalk, K.: Das Funktionsmodell der Sportmedizin der DDR. Schriftenreihe Sport. Leistung. Persönlichkeit von Elite-Gesellschaft für Leistungsorientierte Führung. (2002),Heft 2, S.. 31-35.
Gottschalk, K.: Der Beitrag der DHFK zur Ausbildung von Fachärzten für Sportmedi-zin.In: Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig 1950-1990.Meyer und Meyer Verlag Aachen 2007, -S. 193-203
DOKUMENTATION
DAUMES SCHWERWIEGENDSTE REDE
Willi Daume (1913 – 1996) war 1956 in das IOC gewählt wor-den und zeitweilig sein Vizepräsident. Als Präsident des bun-desdeutschen NOK vertrat er gegenüber der DDR immer konse-quent bundesdeutsche Politik. Als er jedoch vor den Olympi-schen Spielen 1980 in Moskau von der Bundesregierung genö-tigt wurde, einen Boykott durchzusetzen, wandte er sich – zu-nächst nicht öffentlich – dagegen. Die alles entscheidende Sit-zung des NOK fand am 22. Mai 1980 statt. Am Abend vorher hatte Bundespräsident Karl Carstens mit ihm geredet, in der Nacht war er vom NOK der USA angerufen worden. Dennoch blieb er bei seinem Standpunkt und eröffnete die Tagung mit ei-ner bemerkenswerten Rede, wohl wissend, dass nach ihm der
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DSB-Präsident und Innenminister von Nordrhein-Westfalen Willy Weyer (FDP) sprechen würde, der die Linie der Bundesregie-rung vertrat. Daumes Rede, ist – außer in einer von Prof. Georg Wieczisk herausgegebenen Dokumentation - noch nie im vollen Wortlaut publiziert worden und wurde in gewisser Hinsicht nach 30 Jahren wieder aktuell, weil der damalige Boykott-Vorwand – Aufenthalt sowjetischer Truppen in Afghanistan – inzwischen auch für deutsche Soldaten gilt, ohne das jemand deswegen ei-nen olympischen Boykott forderte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Damit eröffne ich die außerordentliche Mitgliederversammlung unse-res Komitees, dem Nationalen Olympischen Komitee zu Deutschland.
Zur Zeit sind vertreten die Repräsentanten von 22 olympischen Spit-zenverbänden mit je 3 Stimmen und 29 persönlichen Mitglieder mit je 1 Stimme. Das ergibt 95 Stimmen.
Es werden noch erwartet ein persönliches Mitglied und der Re-präsentant eines Spitzenverbandes. Dann hätten wir 99 Stimmen. Herr Dr. Jansen ist wegen Krankheit entschuldigt.
Meine Damen und Herre! Es darf einleitend festgestellt werden, dass formell alles in Ordnung ist. Es erfolgten keine Einreden oder Erinne-rungen gegen Frist der Einladung, Tagesordnung.
Kein Widerspruch? Dann können wir beginnen. Ich habe die Ehre, die Diskussion zu eröffnen.
Hier tagt, meine Damen und Herren, ein freies, ein unpolitisches Komitee, um eine. im Grunde politische Entscheidung zu treffen.
Blauäugig, was zu sein man uns ja in politischen Leitartikeln so gern bescheinigt, wird man es uns aber als Artigkeit anrechnen müssen, dass wir uns bis gestern auch einige Male von hoher politischer Autori-tät informieren ließen. Vielleicht wäre weniger mehr gewesen, aber wir sind nun gut vorbereitet, dies, das ist sicher, sollte man rühmen.
Davon ausgehend, darf ich die Damen und Herren der öffentlichen Medien begrüßen - und auch eine Reihe von Gästen, für deren Inte-resse wir danken.
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Natürlich wäre es schön gewesen, meine Damen und Herren, wenn der Sport in dieser Frage eine eigene, gefestigte Haltung vorweisen könnte. Aber der Konflikt der Meinungen geht ja hinein in die Familien. Und unser Komitee war nie so etwas wie eine Kommandozentrale. Und letztlich werden seine Mitglieder ein Gefühl für den Unterschied zwischen pauschalem politischem Opportunismus und differenzierter Betrachtungsweise haben, die sich sportlich und selbstverständlich auch politisch kritisch orientiert.
Ich wiederhole also, wir sind frei. Und auch die Mitglieder des Präsi-diums, sind es in ihren Argumentationen heute. Das Präsidium hat dieses bei seiner Empfehlung, die Einladung nach Moskau unter den derzeitigen Gegebenheiten nicht anzunehmen ausdrücklich betont. Es war ja nur eine Empfehlung.
Natürlich, meine Damen und Herren, würde diese Freiheit auch be-stehen - sie bestand immer - bei jeder unserer Olympiamannschaften, jeder Verband, jeder einzelne ist frei innerhalb seiner Gemeinschaft, ob er nun teilnehmen will oder nicht, je nachdem, wie wir das ent-scheiden. Das wiederum bedeutet nicht, Verantwortung auf andere abzuwälzen - gar auf die aktiven Sportler. In Gegenteil - gerade denen gilt ja unser Engagement. Das wurde in jüngster Zeit. nicht immer deutlich. Wer sind wir denn, wer ist denn dieses Komitee? Wozu ist denn das IOC da? Der Olympischen Spiele und ihrer Idee wegen, aber die gilt doch in allererster Linie jener prächtigen Jugend, die auf olym-pischem Feld kämpft, die sich unter Opfern vorbereitet hat. Das kann man nun nicht so lapidar wegtun, wie es teilweise geschieht. Da müs-sen die eben Opfer bringen - und je mehr solche Opfer, desto weniger sind wir gezwungen, bei anderen Maßnahmen die Amerikaner nach-zuziehen: Wirtschaftsboykott und so weiter.
Ich weiß, wie differenziert das alles zu sehen ist. Es ist ja auch schon so weitgehend diskutiert. Nur wehre ich mich dagegen, gegen die Fra-ge, was bedeutet dagegen schon der Sportler - Randgruppen der Ge-sellschaft wurde sogar gesagt. Arme, wehrlose Minderheiten. Das eben nicht, und lassen Sie mich das gleich am Anfang sagen, wie wir uns auch entscheiden, an diese Sportler müssen wir denken, und wir
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müssen ihnen helfen - vielleicht noch heute durch anschließende Be-sprechungen - wir müssen ihnen helfen, mit ihren Problemen fertig zu werden.
Meine Damen und Herren, bei Ihnen auf dem Tisch bzw. sicher in ih-rem Gedächtnis liegt der Beschluss des Präsidiums als Empfehlung, den ich der guten Ordnung wegen nochmals verlese.
„Das Präsidium des Nationalen Olympischen Komitees für Deutsch-land hat in seiner Sitzung am 9. Mai 1980 beschlossen, der Mitglieder-versammlung des NOK am 15. Mai 1980 zu empfehlen, unter den heu-te gegebenen Umständen auf die Entsendung einer Mannschaft zu den Olympischen Sommerspielen 1980 in Moskau und Tallinn zu ver-zichten.“
Eine Abstimmung ergab 12 Stimmen für diesen Antrag und neun da-gegen bei einer Enthaltung.
Meine Damen und Herren, der Beschluss wird natürlich gestützt, nicht allein durch uns. Wir können versagen, wir können abtreten. Aber was diesen Beschluss so mächtig macht, das ist nicht nur unsere ei-gene mit Mehrheit gewonnene Erkenntnis, sondern das ist die Tatsa-che, dass außer unserer Regierung der Deutsche Bundestag mit sehr großer, fast einmütiger Mehrheit diesen Rat an unser NOK gegeben hat. Natürlich sind wir gegen den Deutschen Bundestag nur ein kleines Häuflein, aber Macht, meine Damen und Herren, ist nicht alles. Es ist nicht einmal die Hauptsache.
Schauen wir uns mal in der olympischen Landschaft um, unsere au-ßenpolitische Lage ist in der Tat höchst interessant. Wir müssen die Stimmungen und Entscheidungen, zunächst mal die der europäischen NOK's mit in Betracht ziehen. Getroffene und bevorstehende. Obwohl wir nun wieder wissen, dass unsere Situation damit nicht vergleichbar ist, aber wir sehen die Gefahr einer Isolierung in Westeuropa, die müssen wir sehen. Wie sich vor kurzem noch in Rom zeigte, gibt es eine übereinstimmende Verurteilung der Ereignisse in Afghanistan. Aber was das Verhältnis zu den Amerikanern anbetrifft - sicherheitspo-litische Abhängigkeiten, Bündnistreue, Westberlin - so gibt es sehr deutliche graduelle Unterschiede. Und hier wird auch die Schwierigkeit
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unserer Position sichtbar, wenn uns also zugemutet ist, auf der Basis sportpolitischer – um dieses Wort einmal zu gebrauchen – auf der Ba-sis sportpolitischer Gegebenheiten politische Entscheidungen zu tref-fen.
Wir haben uns, weiß Gott, in eine solche Rolle nicht gedrängt. Es ist auch müßig, darüber zu rechten, ob die Politik gut daran tat, uns in diese Lage zu bringen. Damit sage ich ganz sicher nichts gegen die Tatsache, dass über die Olympiateilnahme allein das NOK zu ent-scheiden hat. Respekt und Dank der Bundesregierung, dass sie wie-derholt betont hat , ohne Furcht vor Sanktionen, Pressionen.
Meine Erlebnisse in den letzten Wochen reichen allerdings aus, dass ich mir andere Umstände, andere Voraussetzungen dazu gewünscht hätte. Beispielsweise solche, wie sie in der Schweiz, in Dänemark, in Italien, am besten vergleichbar in Frankreich, gegeben waren. Aber das hilft ja nun alles nichts, wir müssen die Verantwortung tragen. Man könnte ja auch eine Chance darin erkennen. Dann muss man aller-dings auch erkennen, dass frühestens 1984 ersichtlich ist, ob unsere Entscheidung von 1980 richtig war. Ich habe gerade in diesem Zu-sammenhang eine Reihe bemerkenswerter, unaufgefordert eingegan-gener Stellungnahmen amerikanischer Universitäten. Es würde viel zu lange dauern und unsere Tagung viel zu sehr belasten, wenn ich auch nur die interessantesten Zugänge, Ratschläge und Meinungsäußerun-gen hier darbringen würde. Präsident und Vizepräsidenten haben sich auch darin abgestimmt, möglichst wenig bei ihren Ausführungen zu wiederholen. Amerikanische Präsidentenschelte hat heute hier nicht stattzufinden. Wir wissen, wie alles zustande kam, und Sie wissen das auch.
Lassen sie mich nun nur noch, weil es mich dann der Pflicht enthebt, nachher die Diskussion damit zu belasten, wenn die Themen aufkom-men, zu zwei Komplexen etwas sagen.
Es gibt viele Aktivitäten. Sie haben es gestern, heute in den Nach-richten gehört. In politischer Hinsicht, auch in Afghanistan. Der Präsi-dent des Internationalen Olympischen Komitees ist auch heute bei dem amerikanischen Präsidenten.
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Manche Vorstellungen, die dabei aufgekommen sind, gehen auf eine Verschiebung der Olympischen Spiele hinaus. Niemals ist ein solcher Vorschlag von uns gemacht worden. Zur Zeit wird er auf dem Tisch liegen von Australien und insbesondere von den Vereinigten Staaten. Die Idee mag in ersten Hinblick bestechend sein. Ich habe immer ge-glaubt und glaube bis heute, dass sie unrealistisch ist. Zunächst mal aus dem einfachen politischen Grunde, die Basis für eine Verschie-bung der Spiele der XXII. Olympiade auf 1981 müsste doch die Garan-tie der Amerikaner sein, dass sie 1981 auf jeden Fall zu den Spielen nach Moskau kommen!
Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine solche Garantie anlässlich Bewegung in der ganzen Welt, den vielen Krisenherden - möglicher-weise kommen neue dazu - gegeben werden kann. Ich will gar nicht von den ganz außergewöhnlichen organisatorischen Schwierigkeiten sprechen, die können wir uns, die wir selbst Olympische Spiele aus-richteten, leicht vorstellen.
Noch einmal - ich sehe diese Möglichkeit nicht als realistisch an.
Und das zweite ist die Verschiebung, die örtliche Verschiebung, auf einen dauernden Olympiaort in Griechenland - nach Olympia - hin.
Wenn eine Persönlichkeit vom Rang des griechischen Ministerpräsi-denten Karamanlis einen solchen Vorschlag macht, muss man ihn ganz sicher zunächst mal ernst nehmen und muss ihn sehr sorgfältig überprüfen. Damit hat das Internationale Olympische Komitee begon-nen.
Ganz abgesehen davon, dass es feste Vereinbarungen für die Olympischen Spiele 1980 und 1984 an Moskau und Los Angeles gibt, würde ein solches Unternehmen sicher mindestens eineinhalb Jahr-zehnte dauern. Es könnte also frühestens realisiert werden, wenn sich die Spiele 1996 hundertjährig runden und dann mit einiger Wahr-scheinlichkeit oder Sicherheit sowieso in Griechenland stattfinden. Ob es in der Zwischenzeit gelingt, die in die Milliardenhöhe gehenden In-vestitionen finanziell zu sichern, ob Überlegungen sich durchgesetzt haben, dass in jenem Bezirk große Sportbauten, Hotelbauten, Flug-plätze, Technik, alles, was dazu gehört, nur installiert werden sollen,
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um dann in den jeweiligen vier Zwischenjahren immer brachzuliegen, vielleicht auch dann schnell unmodern zu werden, bei dem Tempo, das unsere Technik vorlegt, all diese Dinge sind höchst ungewiss.
Ich weiß auch nicht, ob der eigentlich Sinn der Spiele, ja auch, dass sie in verschiedenen Kontinenten stattfinden und dort der allgemeinen Sportentwicklung Rückenwind geben sollen, ob dieser wichtige Ge-sichtspunkt in Zukunft vom IOC nicht mehr mit im Vordergrund stehen sollte. Meine persönlich Sympathie gilt diesem Plan, aber ich möchte nur auf die Schwierigkeiten hinweisen und davor warnen, zu glauben, dieser Plan bzw. seine Verwirklichung könnte die olympische Bewe-gung aus der derzeitigen Krise hinausführen, das ist nicht der Fall. Wir wissen, dass diese Schwierigkeiten politischer Art sind, das, wiederum legt uns politische Verantwortung auf. Sie steht nicht in Frage, sie hat stattzufinden. Insofern ist das Problem nicht neu. Das hat es bei den Olympischen Spielen, wie wir aus eigener Verantwortung wissen, seit Jahrzehnten gegeben, und wir haben diese politische Verantwortung auch von Anfang an klargemacht.
Allerdings, meine Damen und Herren, darf sie von der einen oder anderen politischen Richtung nicht so gedeutet werden, als ob gerade sie, diese Richtung, das Mandat oder ein Monopol für politische Weis-heit und vaterländische Tugend hätte, dem wir folgen müssten.
Ich bin leider, was mich persönlich angeht, nicht bereit, mich einem solchen Diktat zu beugen. Diese Pauschalisierung, begonnen im „Weißen Haus", hat in den vergangenen Monaten sehr viel geschadet. Wenn man also differenzieren muss, dann meine ich auch, dass Sie, meine verehrten Freunde, die Mitglieder unseres Komitees, sich dar-über in klaren sein müssten, wie sehr Ihre Funktion, in der jetzigen La-ge von der des Politikers abweicht.
Die Politiker, mit hohem Respekt sei das gesagt, müssen im Augen-blick ihr Nahziel verfolgen. Jetzt ganz unmittelbar. Also die USA-Wahlen, auch unsere Bundestagswahlen. Das ist ganz und gar legitim. Es geht ja doch dabei um viel, mehr als um Olympische Spiele, die, ich wiederhole das immer wieder, obwohl, es mir manchmal nicht abge-nommen wird, im großen weltpolitischen Geschehen doch eine Neben-
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sache sind und denen es sehr schlecht bekommt, wenn man sie, wie geschehen, zu einer Hauptsache hochstilisiert. Jetzt also das Umwer-ben als Nahziel von Onkel Jo in Massachusetts, jetzt der Vorwurf mangelnder Bündnistreue. Ein Olympisches Komitee dagegen, das in-ternationale, aber wohl auch das nationale, haben, so wichtig Moskau ist, in erster Linie an ihr Fernziel zu denken. Fernziele, Versöhnung; zwischen den Völkern auf lange Sicht. Olympische Spiele in den acht-ziger Jahren, Ende der achtziger Jahre, Einbeziehung der Dritten Welt bis zum Jahrhundertende. Und natürlich sind wir viel mehr von der Po-litik abhängig als diese von uns. Also bestimmen auch die von der Po-litik gesetzten Nahziele unser Handeln mit, aber eben nur mit. Ent-scheidend bleibt die uns aufgetragene Bestimmung der Dialektik von Fernziel und Nahziel. Da ist nun sehr viel die Rede von Würde. Ich meine, wir sollten all das - ich. erinnere nochmals daran, wir sind Ne-bensache - eine Nummer kleiner sehen.
Aber, es macht dann doch auch die Würde der olympischen Bewe-gung international oder national- aus, dass die Mitglieder oder wenigs-tens einige dem Heutebezug der Politiker Widerstand leisten und das Morgen als zentrale Kategorie ins Blickfeld rücken. Das wiederum heißt nun wiederum nicht, dass wir unsere Aufgabe als dauernde Op-ponenten sehen, nur, wenn wir andere Meinungen haben, persönliche Meinungen, dann haben wir ein solches Recht und bilden in diesem Bestreben, wie ich glaube, eine heilsame Gegenkraft zur Politik, indem sie die Pragmatiker mit einer konkreten, also nicht illusionären Utopie, konfrontieren und den Blick aufs Mögliche gerichtet, sich dem umstrit-tenen Wirklichen widersetzen.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich wird uns das im Au-genblick nicht gedankt. Mit nichts, was wir tun, erheben wir den An-spruch auf Dank, sonst hätten wir alle schon oft die Lust verloren. Und wenn der Wagen auf gefährlicher Bahn bergab rollt, sind sokratische Neinsager, Warner an die Zukunft, an die Folgen-Denker, Sand-ins-Getriebe-Werfer, nie besonders beliebt. Das müssen wir hinnehmen. Vielleicht wird später, wenn das große Spektakel vorbei ist, ihnen ge-dankt, vielleicht. Aber jetzt mit auf den Wagen zu springen und sich als
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zusätzlicher Boykottierer zu betätigen, der Sport also auf dem politi-schen Wagen, das ist sehr einfach. Die persönliche Anschauung dazu, meine Damen und Herren, in aller Form nochmals gesagt, ist hoher Ehren wert. Das fand ich als den eigentlichen Gewinn unserer gestri-gen Aussprache mit den Herrn Bundespräsidenten, dass doch ganz deutlich wurde, man kann für beide Seiten, für die Ziele beider Seiten, höchst honorige Würdigungen, Begründungen finden. Davon sollten wir vielleicht auch heute bei allen Diskussionen ausgehen. Wir haben, ich habe in diesen letzten Wochen unter einen sehr großen Druck ge-standen. Ich kann das ertragen, und ich meine, auch die Politik kann einen verhältnismäßig bescheidenen Ärger ertragen. Sowenig wie der Rat der Regierung mit Augenzwinkern gegeben wurde, so wenig - ich sage das nochmals auch nach den Diskussionen gestern abend - so wenig, wie sich der Standpunkt der Regierung geändert hat, so wenig kann das aber allerdings alles nur Theater sein, wenn man uns sagt, ihr habt das Recht und die Pflicht in dieser Frage frei zu entscheiden.
Ich nehme das dann auch in Anspruch und möchte wiederholen, ich empfinde dabei auch politische Verantwortung. Entscheiden wir gegen den Rat der Regierung, dann würde das vielleicht der Letzteren besag-ten bescheidenen Ärger verursachen, aber sie könnte und müsste schließlich doch sagen, mehr als eine Empfehlung zu geben, hieße, die Bundesrepublik in die Nähe der DDR zu rücken und den Sport zum Kommandoempfänger zu machen, und dann wäre es ja auch bis zu Sanktionen nicht mehr weit. Aber nein zu sagen, das könnte jenen winzigen Spalt offenhalten, der uns vielleicht mal, und vielleicht sogar bald, so nötig sein wird.
Kurzum, ein Nein zum Boykott schadet wenig, bringt dem Frieden, von Rand her gefördert, aber große Nachteile,
Realisierung von Basis und Demokratie - und was besonders wichtig ist - dieses in der Stunde der Not. Sportler sind eben keine manipulier-baren Marionetten, die plötzlich mitten in der Bewegung stramm zu stehen haben, um dieses Beispiel wieder auf den aktiven Sport zu pro-jezieren. Beweis eines mutigen Patriotismus, auch im Sinne der Be-wahrung einer verbesserten Bewegungschance, insbesondere zwi-
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schen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, eben Westberlin mit eingeschlossen. J Praktizierung von republikanischer Freiheit, die blitzartig erhellt, was den Ostblockstaaten vorenthalten ist an realer Freiheit. Dazu die Mög-lichkeit mit so gewonnener oder gesteigerter moralischer Integrität. während der Spiele in der Sowjetunion auf die Einzelheiten von Bür-ger- und Menschenrechten zu pochen. Nicht nachplappern also, nicht blind erzwungene Solidarität, sondern ruhiges. Bekennen. Und das ist nun mal meine Überzeugung. Wahrscheinlich stehe ich dann auch nicht im Gegensatz zum Bundestag, der uns ein Nahziel empfohlen hat. Wie gesagt, aller Ehren wert, dieser Beschluss und von schwerem Gewicht für uns. Während ich aber das Fernziel sehe, und ich persön-lich glaube aber, ich diene meinen Land und der Welt am besten, wenn wir mitten im Streit der Welt Friedensmöglichkeiten zumindest auf diesem unserem Sektor antizipieren. Das meinte ich gestern, mei-ne Damen und Herren, die Sie mit mir beim Bundespräsidenten waren, als ich an Ernst Bloch erinnerte und die konkrete Utopie der Versöh-nung. Wie er es ausdrückte.
Tribut ans Heute ist mit dem Sicheinlassen auf entnationalisiertes Zeremoniell ja auch geleistet – bei Gott nicht genügend, aber man achte es auch wiederum nicht so gering, wie das teilweise geschehen ist.
Für manche westeuropäische Nationale Olympische Komitees wurde es ganz deutlich, dass es eine wichtige Entscheidungshilfe war. Für uns liegen diese Dinge sicherlich ein bißchen anders. Ich gebe zu, dass diese Äußerlichkeiten, deren Zeremonien immer sind, an der ge-botenen Innerlichkeit, der innerlichen Verbundenheit zu unseren ame-rikanischen Freunden vorbeigeht. Vorbeigeht also an jenen, die unse-re Freiheit garantieren und immer in Notzeiten, der Vergangenheit zu uns gestanden haben.
Aber hier muss ja auch zumindest erwähnt werden, dass das Natio-nale Olympische Komitee der USA uns sehr eindringlich vorgestellt hatte und in langen Telefongesprächen heute Nacht noch einmal be-stätigt hatte, man erwarte nicht unsere Solidarität im Boykott, die in
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den USA unter wiederum ganz anderen und mit uns nicht vergleichba-ren Umständen zustande gekommen ist. Man bitte uns, unsere eigene Entscheidung nach unseren eigenen Voraussetzungen zu treffen. Wir treffen heute eine solche freie, echt demokratische Entscheidung. Und wenn wir sie getroffen haben, dann müssen wir auch dazu stehen.
In einer Demokratie, erlauben Sie mir das so ziemlich am Schluss, denke ich, kommt es auch immer wieder darauf an, sich um des Ge-wissens willen den Oben-Unten-Druck zu widersetzen. Carter setzt die Alliierten unter Druck, die alliierten Regierungen setzen die NOK's un-ter Druck, und die NOK’s setzen dann die Sportler unter Druck. Ganz so abwegig ist das ja nicht, es ist nicht realistisch, aber wie, wenn es einmal umgekehrt zuginge, die Sportler als die eigentlich Beteiligten realisierten den Begriff „Demokratie“, sprich ja doch „Herrschaft des Volkes“, statt auf irgendwelche schneeballartig verbreiteten Weisun-gen zu hören.
Natürlich, meine verehrten Freunde, ich bin ein Realist, ich weiß, es gibt Satzungen, ich weiß auch, es gibt die Weisheit des Alters, und es gibt Beschlussgremien. Wir sind hier ja eines, und wir beschließen ja auch heute, aber das Andere, das Junge, ist das wirklich nur unzu-länglicher Idealismus? Oder gar, wie es auch ihnen oft vorgeworfen wird, die Wahrnehmung persönlicher Interessen? Ist das Weltfremd-heit, meine Damen und Herren, Utopismus? Eben aber das gehört ja auch. zur olympischen Idee, die ja im Grunde eine. utopische Idee ist, deren Ziel nie erreicht werden kann. Aber auf das Hingehen zu diesem Ziel, auf das gemeinsame Hingehen, darauf kommt es doch an. Und etwa...?
Eben nicht, meine Damen und Herren, leibhaftig wird vielmehr ge-zeigt, dass sich der Sport in einem freien Land radikal vom komman-dierten Sport unterscheidet. Ich mache es mir nicht so leicht, zu sagen, na ja, die wollen ja doch in der Hauptsache Medaillen gewinnen und die kommen schnell wieder.
Ich glaube schon an Scherben. Ich bin mir auch sicher, kein Carter und auch keine Bundesregierung wird uns helfen, diese Scherben zu kitten. Da müssen wir uns schon selber helfen. Und dann war in all
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diesen Zusammenhängen sehr oft die Rede von Moral. Was war das denn für eine Moral, meine Damen und Herren, als Yehudi Menuin der später unser olympisches Kulturprogramm von München so wunder-voll durch seine Seminare bereicherte, was war das denn für eine Art Moral, als dieser weltweit anerkannte Repräsentant des jüdischen Vol-kes gegen den Willen und den härtesten Widerstand seiner Brüder schon unmittelbar nach dem Kriege in unsere zerbombten Städte nach Berlin kam, um gleichzeitig zu musizieren, die Hand zu reichen und Mut zuzusprechen?
Lassen wir die Politik nur am Schluss mal ganz kurz außen vor. Was täte heute die Literatur? Meint man etwa, angenommen, es fände in der UdSSR ein weltweiter Schriftstellerkongress statt, die Autoren, kämen sie nun von rechts oder links, politisch, ließen sich gängeln, wie es jetzt von den Sportlern verlangt wird? Lachen würden die, und an-dere lachen auch. Ich will nicht zugegebenemaßen sehr diskutierbare und differenzierte Beispiele mit der Wirtschaft und anderen Lebensge-bieten hier hineinbringen. Trotzdem empfand ich es als schizophren, vorgestern gelesen zu haben, dass der Kultusminister eines deutschen Bundeslandes einen großen Abschluss auf ganz breiter kultureller Ba-sis Theater, Ballett, Konzerte, Wissenschaften, Seminare, Studenten-austausch - mit dem stellvertretenden Kultusminister der UdSSR ge-troffen hat. Da müssen wir manchmal doch schon ein bißchen zwei-feln. Meint man es wirklich mit dem Sport so gut, wie man es uns dann sagt. Ihr dürft zwar nicht, aber im Grunde sind, wir auf eurer Seite. Und sehen sie die Zeitungen, und hören sie den einen oder anderen Rund-funk- oder Fernsehkommentar, die Sportler, die törichten, mit ihren di-cken Muskeln,- die haben gefälligst Räson zu zeigen. Der Tribut, der Tribun, meine Damen und Herren, hat Heine gesagt, darf sich nicht allzuweit vom Hier und Heute entfernen. Der Künstler aber muss sei-ner Zeit um ein Jahrhundert voraus sein. Gut, Künstler sind wir nicht, aber eine Verbindung sehe ich doch, und insofern haben wir eben alle gemeinsam etwas Unpolitisches und eine erhöhte moralische Legiti-mation, obwohl ich mit den Wort Moral gern sehr, sehr vorsichtig bin.
Meinen hohen Respekt vor der Regierung und den Bundestag.
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Ich sehe aber auch bei uns Möglichkeiten eines Ausdrucks der Hu-manität und des Patriotismus. Und ich meine, es ist meine persönliche Meinung, sie ständen diesen Teil Deutschlands, in dem wir das Glück haben, zu leben, gut an. Das wollte ich zum Anfang sagen, um jetzt das Wort Herrn Weyer zu geben.
LITERATUR
Und schmücken unsere Straße
Von HORST DRINDA (†)
1963 endete die 16. Friedensfahrt in Berlin. Der Schauspieler Horst Drinda (1927 – 2005) erklärte sich bereit bei der Siegereh-rung mit einer Rezitation aufzutreten. Der Text, dem man ihm gab, gefiel ihm nicht, er schrieb einen neuen und trug ihn vor. Danach spielte er im Deutschen Theater im „Wilhelm Tell“ und fuhr anschließend nach Köpenick, wo er an Bord eines der drei Ausflugsschiffe ging, auf dem die Teilnehmer das Ende der von Klaus Ampler gewonnenen Fahrt feierten. Die Rennfahrer feier-ten ihn stürmisch.
Noch klingt in den Ohren,
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das Singen der Reifen,
das Jubelgeschrei vom Rande der Straßen.
Noch brennt auf der Haut
der Staub und der Regen,
der Wind und die Sonne der Strecke.
Noch sind in den Köpfen
die Bilder der Fahrt,
die Freuden und Schmerzen
jedes einzelnen Kilometers.
Die Fahrt ist Zu Ende.
Nein.
Nur ein Teil.
Die Fahrt für den Frieden geht weiter.
Die weiße Taube fliegt weiter.
Vorbei an jubelnden Menschen,
die diese Fahrt feiern, weil sie Friedensfahrt heißt,
die diese Fahrer lieben, weil sie sich Friedensfahrer nen-nen.
Die Fahrt geht weiter über die Straßen.
Über Straßen, an denen wir wohnen.
Wir - Millionen von Menschen.
Wir kommen aus unseren Fabriken.
Wir kommen von unserem Tagwerk.
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Wir kommen von unseren Feldern.
Wir kommen festlich geschmückt
und schmücken auch unsere Straße festlich
für Euch. Für die Sache des Friedens, die mit Euch fährt.
Wir bewundern Euren Kampf.
Eure Kraft.
Die Strenge gegen Euch selbst
und Eure Gemeinsamkeit.
Wir lernen von Euch den würdigen Wettstreit,
in dem nicht Großmäuligkeit entscheidet
und nicht plumpe Gewalt.
Und jetzt, da wir Euch ehren - alle!
Ehren wir uns alle.
Denn Eure Fahrt für den Frieden
ging über die Straßen, an denen wir wohnen:
Wir - Millionen von Menschen.
Unser Weg ist derselbe.
Heute und übers Jahr.
Immer.
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ZITATE
NATIONALTORWART GING IN DEN TOD
Der Nationaltorwart Robert Enke ging in den Tod aus Angst vor dem Leben. Dirk Enke, von Beruf Psychotherapeut, sucht nach Antworten auf die Frage: Warum konnte sein Sohn der Depression nicht trotzen?
All die Jahre hatten Enkes Ehefrau und sein bester Freund, der Spie-lerberater Jörg Neblung, und die Eltern von den Depressionen ge-wusst, und natürlich sein Arzt, der Kölner Psychiater Valentin Markser. Sie hatten von seiner Angst gewusst, seinen Platz im Nationalteam zu verlieren, weil er das wichtige Spiel in Russland absagen musste; aber dann war es ja besser geworden, Robert Enke hatte wieder gespielt, fit und fehlerlos, der Schub war vorbei, hatte Teresa gedacht.
Gegen den Hamburger SV stand Enke wieder im Tor. Dass da am Sonntag vor einer Woche ein Depressiver die Bälle hielt - unvorstell-
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bar.
Es war der Suizid eines Stehaufmannes, eines Unverwundbaren, der im Spiel alle Gefahren abwehrte, der doch seine Mannschaft und, me-taphorisch, sein Land beschützte, weil er das Tor verteidigte.
Der Nationaltorwart ist der Inbegriff sportlicher Stärke. Er muss feh-lerlos sein. Nervenstark. Selbstbewusst. Es gibt keinen härteren Job im Fußball, und Enke schaffte ihn. (…) Am Dienstagabend der ver-gangenen Woche nahm sich Robert Enke, 32, Torwart des Fußball-Bundesligisten Hannover 96 und der deutschen Nationalmannschaft, das Leben. Er wohnte auf einem Bauernhof bei Eilvese, mit Ehefrau Teresa und Adoptivtochter Leila und acht Hunden. Wer von Hannover nach Eilvese will, kommt durch ein Örtchen namens Himmelreich, 700 Meter hinter der Bahnstation geht links der Balschenweg ab, auf der linken Seite steht ein Rotklinkerhaus, da bog Enke rechts ab in einen Feldweg. Dann parkte er den Geländewagen, 100 Meter vom Gleisbett entfernt. Er ließ seine Geldbörse auf dem Beifahrersitz liegen. Er stell-te seinen Geländewagen neben die Schienen, schloss nicht ab. Er schritt die Strecke entlang, stellte sich auf das Gleis und wartete, bis um 18.17 Uhr der Regionalexpress 4427, auf dem Weg von Bremen nach Hannover, auf ihn zukam und ihn überrollte.
Sein Suizid ließ die Deutschen erstarren. Und alle bewegte nur eine Frage: Warum? (…) Robert Enke war kein Lautsprecher des Bundesli-ga-Geschäfts. Er drängte sich nicht in den Vordergrund, inszenierte sich nicht vor den Kameras. Er war nicht wie Oliver Kahn, wie Tim Wiese, aber er hinterließ, das zeigt die Anteilnahme, großen Eindruck.
Enkes Suizid geschah auf dem Höhepunkt seiner Karriere, sieben Monate vor der Weltmeisterschaft 2010, zu einem Zeitpunkt, zu dem Sportler sich unverwundbar fühlen oder so wirken. Wochen zuvor hatte Bundestrainer Joachim Löw erklärt, Enke sei sein Favorit für die WM in Südafrika. Dann hieß es, Enke sei krank, eine Infektion, er könne in den entscheidenden Qualifikationsspielen doch nicht antreten. (…)
Natürlich kommen jetzt auch andere Fragen hoch. Zum Beispiel, ob ein wunderbares Spiel , das zugleich ein so gigantisches Geschäft und mit so viel Bedeutung aufgeladen ist, nicht seine Protagonisten zer-
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stört. Ist der Profifußball einfach kein gutes Biotop für einen depressi-ven Menschen? Schluckt der Spitzensport seine Talente und spuckt jene, die nicht funktionieren, als Psychowracks wieder aus? Oder ver-weisen die Tragödien der Sportler womöglich auf eine andere Dimen-sion: auf eine Gesellschaft, die Leistung zum Fetisch erhebt und damit ihre Elite krank macht und depressiv? Muss man einstellen auf das 21. Jahrhundert als Epoche der scheiternden Helden, weil in Wahrheit die-jenigen, die mit der Faust zur Siegergerste geballt von einem Erfolg zum nächsten eilen, besonders gefährdet sind, in tiefe Verzweiflung und Mutlosigkeit zu verfallen?
(Christoph Biermann u.a.; Der Spiegel; 16.11.2009)
SCHANZEN-ERINNERUNGEN
Gestern begann in Oberstdorf die 58. Vierschanzentournee, das traditionsreichste Treffen der Weltelite der Skispringer, dessen Sieger-liste ein „who is who“ der berühmtesten Schanzenpiloten ist. Allerdings sind einige der Resultate irregulär, weil Bonner Politiker ihre Macht missbrauchten und Weltklassespringer mit Polizeigewalt daran hinder-ten, ihre Chancen wahrzunehmen, Eingriffe in das Sportgeschehen, die mit keiner Silbe mehr erwähnt werden. Zum ersten Mal geschah das vor 50 Jahren, als in Oberstdorf die XI. Tournee gestartet werden sollte. Da die Bundesregierung das Aufziehen der DDR-Flagge in der BRD unter Strafe gestellt hatte, die deutsch-österreichischen Veran-stalter aber nicht darauf verzichten konnten, an der Oberstdorfer Schattenbergschanze die Flaggen der teilnehmenden Länder zu his-sen, war die Teilnahme der bereits angereisten DDR-Mannschaft un-möglich geworden. Aus Solidarität zogen auch die UdSSR, die CSR und Polen ihre Mannschaften zurück. Im Jahr darauf akzeptierte die DDR die Variante, dass an den Schanzen nur noch die Flaggen der Veranstalterländer und der die Tournee organisierenden Vereine auf-
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gezogen wurden. Der Sieger hieß Helmut Recknagel, kam aus der DDR und die Flagge seiner Heimat wehte nicht in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen.
Zum Auftakt der Tournee 1961/62 mobilisierte Bonn erneut die Po-lizei und entsandte sogar einen hochrangigen Regierungsbeamten, der durchsetzen sollte, dass die DDR gar nicht an der Veranstaltung teilnimmt. Diesmal lautete die „Begründung“: „Gegenmaßnahme“ ge-gen die Schließung der DDR-Grenzen am 13. August. In Oberstdorf hatte man den DDR-Springern bereits die Startnummern ausgehän-digt, das bayerische Innenministerium hatte den Start erlaubt, der kon-sultierte Präsident des bundesdeutschen Sportbundes, Willi Daume, hatte den Präsidenten des bundesdeutschen Skiverbandes. Dr. Heine wissen lassen, dass gegen den Start der DDR nichts einzuwenden sei, als sich Bonn direkt einschaltete und einen Dr. Schäfer in die Alpen fliegen ließ. Die Situation dort geriet zum Panoptikum: Der Bonner Be-amte war in Halbschuhen angereist, konnte den Schanzenturm wegen des kniehohen Schnees nicht verlassen und demzufolge den am Schanzentisch postierten Ortspolizisten gar nicht erreichen. Die sechs DDR-Springer – mit dem Vorjahrssieger Helmut Recknagel an der Spitze - weigerten sich, der Aufforderung des Polizisten zu folgen und die Schanze zu Fuß hinabzusteigen , weil sie damit eine uralte unge-schriebene Springerregel verletzt hätten.
Schließlich akzeptierte Bonn per Telefon die Abfahrt des Sextetts über den Schanzenauslauf, der vom Sprecher entsprechend angesagt worden. Stürmischer Beifall der Zuschauer feierte sie. Da – im Gegen-satz zu den sonst üblichen Gewohnheiten - bereits 48 Stunden später das zweite Springen in Innsbruck stattfand, schaffte es die DDR-Mannschaft nicht, mit einer Reise Oberstdorf-Berlin-Wien-Innsbruck dort noch an den Start zu gehen, aber in Bischofshofen belegte Hel-mut Recknagel knapp hinter dem Österreicher Egger den zweiten Rang, Dieter Bokeloh Platz vier und Peter Lesser Platz fünf.
Ein Kapitel Vierschanzentournee, für das die Bundesregierung kaum gute Haltungsnoten erwarten konnte, das aber wenigstens mal „aufgearbeitet“ werden sollte.
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(Klaus Huhn; junge Welt, 29.12.2009)
“SIXDAYS” EINST UND JETZT
Demnächst findet in Berlin das alljährliche Sechstagerennen statt und bei der traditionellen Pressekonferenz, die dem Ereignis voraus-ging, erfuhr man zum Beispiel, dass ein Ticket für mindestens 30,50 € oder höchstens 52,50 € zu haben war, für Hartz-IV-Empfänger also nahezu unerschwinglich blieb, Berlin aller Voraussicht nach der allge-meinen „Sechstagekrise“ entkommt und Olaf Ludwig den Startschuss zur sechsten Nacht geben wird. „Neues Deutschland“ feierte ihn als den „ersten Sixdaygewinner nach der Wiederbelebung des Traditions-rennens 1997“ und setzte damit die Sixday-Tatsachen-Verchleierung an der Spree munter fort.
Als der legendäre Otto Ziege vor Jahr und Tag sportlicher Leiter des Rennens war, hatte ihn ein Journalist gefragt, wie er sich erkläre, dass die Berliner Zuschauer weniger als anderswo an den Theken ho-cken, sondern vornehmlich das Rennen verfolgen. Er antwortete: „Das hat etwas mit der Winterbahn-Tradition aus DDR-Zeiten zu tun. Ich be-trachte es als ein Glück, dass dieses Velodrom im Osten der Stadt ge-baut wurde.“
Otto Ziege zustimmend, darf „junge Welt“ darauf verweisen, dass diese Zeitung auf jener Winterbahn mehr als ein Dutzend Sechstage-rennen veranstaltet hatte, so dass die Vokabel „Wiederbelebung“ ext-rem unpassend war. Das erste jW-Sechstagerennen war im Dezember 1975 gestartet und von Thomas Huschke gemeinsam mit Uwe Unter-walder gewonnen worden. Huschke war ein Sproß jener berühmten Berliner Radsportfamilie, über die Egon Erwin Kisch schon in den zwanziger Jahren geschrieben hatte, als er in seiner Reportage „Ellip-tische Tretmühle“ den Anfeuerungsruf der Berliner Sechstage-Fans „Hipp Huschke!“ notierte. Somit war die „Wiederbelebung“ der Berliner Sechstage-Traditionen schon durch den ersten jW-Sieger gegeben. Über damalige Sechstagerennen in anderen Gegenden hatte die
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Hamburger „Zeit“ damals geschrieben: „Allenfalls die Hälfte der Besu-cher sitzt auf ihrem Platz, die anderen geben sich dem platten Enter-tainment hin, das da geboten wird. Sie werfen auf Blechdosen und drücken das Liebesbarometer.“
In der Werner-Seelenbinder-Halle, in der die jW-Sechstagerennen ausgetragen wurden, standen allerdings Blechdosen und Liebesbaro-meter nicht zur Verfügung. (Typisch für die DDR-Mangelwirtschaft?) und der Ausschank von Bier – nicht anders denkbar in der DDR – war verboten! Dafür lagen die Eintrittspreise etwas niedriger und niemand kannte die Probleme eines Hartz-IV-Empfängers.
Das Rennen, das dieser Tage angekündigt wurde, wird als das 99. in Berlin präsentiert, was nur stimmen würde, wenn man die 15 jW-Rennen schlicht ignoriert und damit auch so bemerkenswerte Tatsa-chen, wie die, dass beim Rennen 1979 immerhin 401,856 km in einem Schnitt von 47,34 km zurückgelegt worden waren. Im Zweifelsfall könnte man einen der beiden Sieger befragen. Der eine heißt Dieter Stein und ist heute im Nebenberuf sportlicher Leiter des angeblich 99. Rennens, in dessen Programm die Sieger von 1979 allerdings mit Sercu-Thurau angegeben werden. Und wenn Olaf Ludwig am Beginn des sechsten Abends den Startschuss gibt, sollte man der Ordnung halber erwähnen, dass er dreißig Jahre zuvor, nämlich 1980 zusam-men mit seinem Partner Thomas Barth das sechste jW-Sechtagerennen gewonnen hatte. Das hat nichts mit Nostalgie, son-dern nur mit Berliner Radsport-Realität zu tun – gestattet sich die jW anzumerken.
(Klaus Huhn; junge Welt, 21.1.2010)
Wir kriegen alle
Den Wert des Sports haben am Dienstag gut fünfhundert Gäste mit Angela Merkel bei der Verleihung der „Goldenen Sterne des Sports" in Berlin gefeiert, einer Auszeichnung für gesellschaftliches Engagement von Sportvereinen. „Wir sind ein sportliches Volk", lobte die Bundes-kanzlerin das ehrenamtliche Engagement von fast acht Millionen Men-
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schen in 91000 Sportvereinen, die wiederum rund 28 Millionen Mit-gliedschaften haben. Die einstige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt habe zwar immer Zweifel, gehabt, dass alle genug liefen, sagte sie. Und versprach im Jubel der Vereinssportler: „Die verbleibenden fünfzig Millionen kriegen wir auch noch." (…) Mit dem Hinweis, die Sportförde-rung werde deutlich aufgestockt, brachte sie Thomas Bach, den Präsi-denten des Deutschen Olympischen Sportbundes, nur dazu, den Kopf zu wiegen. Als sie (sich) an dreißig Millionen Euro Zuwachs erinnerte, erwiderte Bach, die würde er gern nehmen. Da fiel es ihr ein: „Drei Mil-lionen!" Und während sie Bach noch nahelegte, er könne unter diesen Umständen zufrieden sein mit einer Fördersumme von 139 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt, versuchte dieser, sie darauf festlegen, dass es auch im nächsten Jahr wieder einen solchen Zuschlag gebe. „Die Bundesregierung weiß um ihre Verantwortung", 'versicherte sie. Aber: „Damit sind keine konkreten Zahlen verbunden."
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 2. 2010)
Verstecktes Doping
Die Biochemiker im Dopinglabor an der Deutschen Sporthochschule Köln beschäftigen sich nicht nur mit Blut und Urin von Spitzensport-lern. Sie analysieren auch Nahrungsergänzungsmittel, die in der Well-ness- und Fitnessbranche angeboten werden, (…) Das, was dabei herauskommt, sei „sehr bedenklich", sagt Hans Geyer, stell-vertretender Leiter des Instituts für Biochemie der Sporthochschule und Geschäftsführer des angegliederten Zentrums für Präventive Do-pingforschung. Wo einst zumindest zugelassene Steroide beigemengt wurden, werden heute Designersteroide, unerforschte, künstlich her-gestellte Varianten genutzt. Zunehmend findet Geyer auch Stimulanzi-en, also Aufputschmittel in den von ihm getesteten Produkten. Auch Beta-2-Agonisten (Asthmamittel) und sogar Peptidhormone, wie etwa das HGH-releasing-Peptid, das zur Ausschüttung von Wachstums-hormon führt, wurden schon entdeckt. Die Substanzen oder ihre Bau-pläne sind auf dem Schwarzmarkt offenbar relativ problemlos erhält-
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lich.
Die Hersteller mischen sie bei, damit ihre Mittelchen auch tatsächlich die versprochene Wirkung haben. (…) Geyer sagt: „Die Situation ist brenzlig, was da passiert, ist Wahnsinn." (…) Aber auch die Stimulan-zien bereiten Geyer Sorgen. „Wir befürchten da eine neue Welle", sagt er, einen neuen Trend auf dem Markt der vermeintlichen Wundermittel. So tauchten vermehrt so genannte „NeuroDrinks" auf, die Motivation, Wahrnehmung, Leistungsbereitschaft fördern sollen. „Aber das Zeug wirkt ja nicht einfach so", sagt Geyer. „Deshalb befürchten wir, dass auch da bald Stimulanzien auftauchen." Und diese eigentlich ver-schreibungspflichtigen Wirkstoffe gefährden dann bei irrsachgemäßer Einnahme die Gesundheit der Konsumenten. Zu den Nebenwirkungen zählen schwere Erschöpfungszustände, Zusammenbrüche, Übelkeit, Desorientierung, Herz-Rhythmusstörungen und Kreislaufversagen. Bei Spitzensportlern führen sie zudem zu positiven Dopingtests, da sie auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) stehen. (…) Ei-ne neue Studie des Deutschen Forschungszentrums für Leis-tungssport der Sporthochschule hat festgestellt, dass etwa 80 Prozent der vorwiegend jugendlichen Athleten Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen. (…)
(Susanne Rohlfing; Kölner Stadt-Anzeiger 5.2.2010)
SYSTEM MIT NACHTEILEN
Interview mit Dagmar Freitag, Vorsitzende des Bundestags-Sportausschusses
taz: Frau Freitag, heißen Sie das System der Spitzensportförderung gut, das ja hauptsächlich auf Bundeswehr, Polizei und Zoll setzt?
Dagmar Freitag: Grundsätzlich bietet dieses System den Athletinnen und Athleten während ihrer Zugehörigkeit zu einer Sportfördergruppe eine soziale Absicherung, die eine Konzentration auf den Sport ermög-licht. Auf den ersten Blick also ein gutes System. Auf den zweiten Blick sind aber teilweise auch erhebliche Nachteile mit diesem „sor-genfreien" Sportlerleben verbunden. Bei der Bundeswehr hat nur ein
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verschwindend geringer Bruchteil der dort angestellten Athleten die Möglichkeit, als Berufssoldat bei der Bundeswehr bleiben zu können. Für alle anderen stellt sich die Frage nach dem „beruflichen Danach“. Da gibt es erschreckende Fälle.
Welche Nachteile hat diese Art der Sportförderung? Werden nicht praktisch Staatsamateure a la DDR geschaffen?
Einen Nachteil sehe ich zweifellos darin, dass es dem Athleten bei der Bundeswehr überlassen bleibt, ob und welche der angebotenen Fördermaßnahmen er annimmt. Um Vergleiche anzustellen, muss man gar nicht den Blick auf die DDR werfen. Diese Art der Sportförde-rung finden Sie auch heute noch in vielen Ländern.
Werden Sportsoldaten ausreichend gefordert - neben ihrem sportli-chen Engagement? Sollte es die Verpflichtung zur Berufsausbildung schon während der Sportkarriere geben?
Wir sprechen gerne vom „mündigen Athleten“ Sie können nie-manden zu einer Ausbildung verpflichten. Die meisten Athleten einer Sportfördergruppe haben aber gar nicht die Absicht, Berufssoldat zu werden. Sie wissen also, dass sie sich um ein berufliches Leben nach dem Sport kümmern müssen. Ich habe im vergangenen Jahr den da-maligen Bundesminister der Verteidigung aufgefordert, den Ange-hörigen der Sportfördergruppen endlich auch ein paralleles Studium an Universitäten zu ermöglichen, nicht nur an der Fern-Uni in Hagen. Ganz allmählich ist an dieser Stelle Bewegung zu erkennen.
Benachteiligt das aktuelle System der „Sportler in Uniform" nicht „zi-vile" Spitzensportler mit Studienambitionen?
Das kann man so sehen. Noch immer gibt es Hochschulen, die nicht bereit sind, hochmotivierten jungen Menschen die notwendige Hilfe-stellung bei der Bewältigung dieser enormen Doppelbelastung zu ge-ben. Allerdings muss man sehen, dass diejenigen, die Uni und Spit-zensport erfolgreich miteinander vereinbaren, nach Karriereende die „Gewinner" gegenüber denen sind, die die Zeit bei der Bundeswehr nicht zur Berufsausbildung genutzt haben. Nichts ist schlimmer, als mit Mitte dreißig zwar mit sportlichen Erfolgen, aber ohne jegliche andere berufliche Perspektive dazustehen.
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Finden Sie es gerechtfertigt, angesichts einer Quote von über 60 Prozent Sportsoldaten, Polizisten und Zollbeamten im Olympiateam und ähnlichen Quoten in anderen Teams von Militärfestspielen in Van-couyer zusprechen?
Die Athleten gehen ja nicht in Uniform an den Start. Für das sportli-che Kräftemessen von Armeeangehörigen gibt es eine eigenständige Veranstaltung, die sogenannten „Military World Games"-Weltspiele.
Wie könnte eine alternative Sportförderung aussehen?
Eine alternative Sportförderung setzt voraus, dass sich weitere ge-sellschaftliche Kräfte zu einer Förderung von Spitzensportlern und -sportlerinnen bekennen und diese in die Tat umsetzen. Es kann nicht immer nur der Staat gefordert sein. Hier denke ich insbesondere an Unternehmen, die spitzensportgerechte Ausbildungs- und Arbeitsplät-ze anbieten sollten. Nicht jeder Hochleistungssportler hat Abitur, nicht jeder Abiturient will zwangsläufig studieren.
(Die Tageszeitung; 9. 2. 2010)
Finanzkollaps befürchtet
Wenn der Weltverband sein Finanzgebaren nicht ändert, steuert die Leichtathletik weiter ins Abseits und der Weltverband selbst in die Zah-lungsunfähigkeit. Davor warnte der Europäische Dachverband EAA am Dienstag. Er fordert vom Weltverband (IAAF), sofort Maßnahmen zu ergreifen, um sein Budget auszugleichen, sowie die Fernsehpolitik zu überdenken. (…) In der kommenden Woche beginnt in Doha am Persischen Golf die neue Diamond League. Nach der Hallen-Weltmeisterschaft dort hatte IAAF-Schatzmeister Jean Poczobut, frü-her Präsident des französischen Verbandes, das Council, den obers-ten Rat des Verbandes, vor dem Weg in die Zahlungsunfähigkeit ge-warnt. Die Rücklagen - sie sollen vor einem Jahr noch um die 80 Milli-onen Dollar betragen haben - würden bei einem anhaltenden struktu-rellen Defizit innerhalb weniger Jahre aufgezehrt sein.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung; 5.2.2010)
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ERSTER SIEGER STEHT FEST
Adidas-Chef Herbert Hainer ist bereits in WM-Laune. In fünf Wochen beginnt das Fußballturnier in Südafrika, aber der Herzogenauracher Sportartikler hat schon jetzt gewonnen: Um gut ein Viertel sind die Umsätze mit Fußbällen und Trikots im Auftaktquartal 2010 gestiegen. „Sehr überzeugt" sei er, am Ende des Jahres mit deutlich über 1,3 Mil-liarden Euro einen neuen Umsatzrekord für Fußballartikel zu ver-buchen, frohlockt Hainer.
Mit gut einem Drittel Weltmarktanteil ist Adidas die führende Fuß-ballmarke und einer von sieben exklusiven WM-Hauptsponsoren des Weltverbands Fifa. In Szene setzen und mehr verkaufen wollen auch die Adidas-Konkurrenten Puma und Nike als global führender Sportar-tikler. (…) Das Trio Adidas, Nike und Puma kämpft bei der Fußball-WM in Südafrika um Image und Umsatz. „Die WM soll ein Heimspiel für uns werden", sagt Puma-Chef Jochen Zeitz. Denn vier der sieben Teams, die Puma unter Vertrag hat, stammen aus Afrika. (…)
Adidas rüstet zwölf Teams aus, darunter Deutschland, Europameis-ter Spanien und Gastland Südafrika.
Der weltgrößte Sportartikler Nike kleidet zehn Mannschaften ein. Zugpferd ist Brasilien, es folgen die Niederlande und Portugal. tma
(Frankfurter Rundschau; 5.5.2010)
ERBE DER DDR
In Berlin-Oberschöneweide, in einem Industriepark, arbeiten 60 Leu-te an Bobs, Rodelschlitten, Skeletonschalen und Schlittschuhen, dar-über hinaus auch an Ruderbooten oder an Gewehren für Sportschüt-zen. Es geht ums Material der Olympioniken, um den Feinschliff, das Optimum, und das ist heutzutage im Kampf um Hundertstel und Zen-timeter oftmals entscheidend. Das FES ist eine Medaillenschmiede, keine Frage, doch dem Direktor des Instituts, Harald Schaale, einem ehemaligem Segler in der 470er-Klasse, geht es nicht um Plaketten,
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sondern um den viel zitierten Vorsprung durch Technik. Sagt er. „Wir orientieren uns an der Zehntelsekunde, die wir schneller werden wol-len. Und dabei schaufeln wir keinen Wind um die Ecke oder schließen uns im Elfenbeinturm ein, sondern Forschung und Entwicklung müs-sen bei uns immer zweckgebunden sein." Das heißt: Messbare Erfolge müssen rausspringen, ebenjene Zehntelsekunden.
Seit 1961 gibt es das Institut. Die DDR richtete es nach dem Mau-erbau ein. Es war Teil des Projektes Staatssport. Es ging um einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Westen. Den haben sich die Technokraten des DDR-Sports teils mit Doping verschafft, teils mit In-genieurskunst, dem sprichwörtlichen Hang der Deutschen zur Tüftelei. Am Anspruch hat sich seit den Tagen Manfred Ewalds, des Führungs-offiziers der „DDR-Diplomaten im Trainingsanzug“; nicht so viel geän-dert, sagt Harald Schaale, 57.
Das FES ist nach wie vor „Dienstleister im technologischen Sinne" für die Athleten. In dieser „weltweit einzigartigen Einrichtung" gehe es seit Jahrzehnten einfach nur darum, „der Beste zu sein“; Spitzenreiter im Friemeln und Schrauben, Schleifen und Fräsen. Das Sporttuning ist nicht billig. 4,8 Millionen Euro schießt der Staat jährlich zu. Davon ge-hen 600.000 Euro Miete ab, verbleiben also 4,2 Millionen.
Der Etat der Oberschöneweider Werkstätten wurde in den letzten Jahren aufgestockt. Der Bundesregierung ist die hochtechnisierte Aus-rüstung ihrer Spitzensportler offenbar sehr wichtig. „Solange die Ziel-stellung besteht, dass Deutschland im Medaillenspiegel unter die ers-ten drei kommen soll“ sagt Schaale, „so lange sind wir unabdingbar und haben auch kein Legitimationsproblem." Während im FES die In-genieure das Sagen haben, sind es im IAT, dem Institut für angewand-te Trainingswissenschaften in Leipzig, die Theoretiker. Beide Einrich-tungen arbeiten eng zusammen. Auch das IAT ist ein Relikt des DDR-Sports, das den Steuerzahler 2009 etwa 5,9 Millionen Euro gekostet hat.
Nur einmal, im Jahre 1995, wurde ernsthaft über die Abschaffung des FES diskutiert. Im Haushaltsentwurf der Bundesregierung fand sich der Vermerk „kw“ künftig wegfallend. „Man hat damals Angst ge-
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habt, dass wir eine Konkurrenz für die Wirtschaft, vor allem für die Bootsbauer werden ; erinnert sich Schaale. Doch eine Heerschar von Lobbyisten wendete das Ende des Instituts ab. 1996 verschwand der kw-Vermerk. Die Ingenieure konnten wieder ungestört Epoxidharz auf Kohlefasern aufbringen und Disbalancen im Tritt von Radsportlern er-mitteln. „Unsere Arbeit ist doch eine Erfolgsgarantie“ wirbt Schaale, „wenn man das Know-how irgendwo einkaufen müsste, dann würde das 10-mal teurer." Mittlerweile wolle das FES niemand mehr missen, glaubt der Chef der Sportschmiede, der seit fast 29 Jahren mit dabei ist.
(Die Tageszeitung; 4.2.2010)
REZENSION
VANCOUVER 2010
Von HEINZ-FLORIAN OERTEL und KRISTIN OTTO
Man hat sich daran gewöhnt, dass die Olympiabände des Verlages „Das neue Berlin“ schon in den Schaufenstern liegen, wenn die olym-pischen Schlussfanfaren kaum verklungen sind. Und auch daran, dass vor allem die Bilder von den Spielen – leider verbergen sich die Foto-grafen hinter einer anonymen „picture alliance“ – die Höhepunkte der Tage unter den Ringen imponierend und unvergesslich dokumentie-ren. Die Schar der Textautoren – die bis hin zum Geburtsjahr vorge-stellt wurden -, sorgte dafür, dass zum großen Teil fundierte Beschrei-bungen der Ereignisse die Bildpracht gebührend ergänzte und der ausführliche Resultatteil sorgte dafür, dass man rundum nicht nur im Bilde war.
Dennoch konnte manches selbst bei gutem Willen nicht „überlesen“ werden. Zum Beispiel, dass der Tagebuchschreiber die von der deut-schen Mannschaft verbreitete „Deutschland-über-alles“-Zählweise der Medaillen – das in der Weimarer Republik, während der Nazizeit und danach von der Bundesrepublik und der DDR errungene olympische
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Edelmetall war kommentarlos „Deutschland“ zugeschrieben worden, um Russland von Platz eins der ewigen Bestenliste zu verdrängen – war möglicherweise nicht im Sinne der Herausgeber Heinz-Florian O-ertel und Kristin Otto. Wenn doch, ließe sich Kritik ebenso wenig ver-meiden, wie bei der Beurteilung des von Volker Kluge beschriebenen Kalten Krieges um heiße Kufen in Grenoble. Auf die Idee, dem Medi-en-Mainstream folgend, auch noch die „Stasi“ in die Affäre zu verwi-ckeln – und im Abspann auch noch der Birthler-Behörde Dank abzu-statten – war vor ihm noch keiner gekommen. Immerhin war sein Vor-gänger in der Sportredaktion der „jungen Welt“ Tag und Nacht in Grenoble vor Ort gewesen und die Zeitung hatte dem Anti-DDR-Skandal sogar eine fundierte Sonderausgabe gewidmet. Und dass IOC-Präsident Avery Brundage (USA) dem Betrug nachgegangen war und danach die um ihre Medaillen gebrachten DDR-Rodlerinnen de-monstrativ zum Essen eingeladen hatte, erwähnte der Autor mit keiner Silbe. Auch der von Andreas Höfer geschriebene Werbebeitrag für die Olympiabewerbung Münchens 2018 lässt Gewissenhaftigkeit im Hin-blick auf die Geschehnisse der von den Nazis übel missbrauchten Olympischen Winterspiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen vermissen. Beides lässt sich wohl nicht nur mit dem Rekordtempo erklären, in dem dieses Buch entstand, denn es handelt sich um lange zurücklie-gende Ereignisse.
Wer verständlicherweise daran Anstoß nimmt, sollte sich mit der Doppelseite der beiden Herausgeber trösten, die mit den Worten en-det: „Bleibt unterm Strich: Winter-Olympia 2010 schenkt Hoffnung. Vancouver sei Dank. Es bestärkt Träumer und Mutige mit Sla-lomschwung. Für den Alltag, wo vieles droht. Lieber olympische Träu-me als gewalttätige und menschenverachtende. Besser Medaillen als Orden. Frei nach dem homerischen Oden-Wort: Wir wünschen der Welt wenigstens `olympische Ruhe´.“
Klaus Huhn
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GEDENKEN
JUAN ANTONIO SAMARANCH
17.7. 1920 – 21.4.2010
Eine bundesdeutsche Zeitung überschrieb die Nachricht vom Tod des IOC-Ehrenpräsidenten „Der olympische Sonnenkönig ist tot“, was, bei allem Respekt vor der Persönlichkeit des Spaniers, eine maßlose Übertreibung war, denn das Leben des eher umtriebigen Katalanen trug wenig göttliche Züge. Der Sohn eines wohlhabenden Textilfabri-kanten war schon früh und intensiv ein Anhänger und Gefolgsmanns Francos. 1966 ernannte der ihn zum Staatssekretär für Sport und holte ihn ins Parlament. Dass er im gleichen Jahr ins IOC gewählt wurde, zeugt dafür, wie man in diesem Gremium zu jener Zeit die von Couber-tin verordnete „Unabhängigkeit“ der IOC-Mitglieder verstand. Die Tat-sache, dass er nach Francos Sturz ausgerechnet Botschafter seines Landes in Moskau wurde, hat viele Spekulationen ausgelöst bis hin zu der Vermutung, dass er auch für den KGB tätig gewesen sein soll.
Im IOC machte er dank der Wahrnehmung aller denkbaren Verbin-dungen – auch zum damaligen Sportartikeldominator adidas und des-sen Chef Horst Dassler – schnell Karriere und wurde 1980 in Moskau sogar zum Präsidenten gewählt, was er vor allem der deutschen Bun-desregierung zu verdanken hatte. Favorit für die Funktion an der Spit-
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ze des IOC war eindeutig Willi Daume, doch sanken dessen Chancen auf null, als die Bundesregierung beschloss, den Start einer BRD-Mannschaft in Moskau aus politischen Gründen zu untersagen. So wurde Samaranch faktisch ohne Gegenkandidaten gewählt.
Danach bedankte er sich auf seine Weise bei allen, die ihm auf dem Weg an die IOC-Spitze Schrittmacherdienste geleistet hatten. Den USA gestattete er die ersten von der Privatwirtschaft finanzierten Spie-le zu organisierten, der Sportartikelindustrie bescherte er die Strei-chung des Amateurparagraphen, was die Zahl der „Werbeträger“ enorm erhöhte und den TV-Managern verschaffte er – gegen Zahlung entsprechender Summen in die über Nacht aller Probleme ledigen IOC-Kasse, die Spiele nach ihren Wünschen – genauer: denen der Werbeindustrie – zu reorganisieren.
Dennoch drohte er mit den Spielen in beträchtliche Schwierigkeiten zu geraten, als sich abzeichnete, dass der Boykott der Afrikaner der Spiele 1976 in Montreal, der des Westens in 1980 Moskau und der des Ostens 1984 in Los Angeles die olympische Bewegung irreparabel spalten würde.
In fast allen Nachrufen, die man Samaranch widmete, wurde darauf verzichtet mitzuteilen, durch wessen Hilfe er dieses Problem meisterte.
Es war Erich Honecker, der dem Spanier um der olympischen Sache wegen geschworen hatte: „Wir werden nie wieder Olympische Spiele Spiele boykottieren!“ Und diese Gefahr drohte, als das IOC – wieder war Dassler im Spiel – die nächsten Spiele ins nicht unumstrittene Se-oul vergab. Der schlitzohrige Samaranch erkannte die dank der „ande-ren Deutschen“ mögliche Chance für eine boykottlose Zukunft Olympi-as. Er überreichte Erich Honecker nicht nur den Olympischen Orden – was in vielen Nachrufen als verurteilenswerte „Fehlleistung“ moniert wurde -, sondern erschien auch demonstrativ zum DDR-Turn- und Sportfest 1987 in Leipzig, zeichnete dort den Leiter der Abteilung Sport im ZK der SED, mit dem olympischen Orden aus und überreich-te vor 100.000 Zuschauern den DDR-Sportoberen ein olympisches Eh-renbanner des IOC.
Noch demonstrativer aber war sein Besuch in Berlin 1988. Die Eröff-
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nung der Spiele in Seoul fand am 17. September statt und es war pub-lik geworden, dass Nordkorea seine Verbündeten noch einmal zum Boykott aufgerufen hatte. Faktisch über Nacht meldete sich Sama-ranch zu dem vom 20. bis 22. Juni von der DDR einberufenen „Inter-nationalen Treffen für kernwaffenfreie Zonen“ an, obwohl kaum zu er-klären war, was das IOC mit kernwaffenfreien Zonen zu tun hatte.
Die Rede, die Samaranch vor den tausend Teilnehmern aus 111 Ländern dort hielt, wurde nirgends erwähnt. Erklären lässt sich das leicht mit der Passage, die er Erich Honecker gewidmet hatte: „Ich überbringe Ihnen heute die brüderlichen Grüße der gesamten olympi-schen Bewegung in der Hoffnung, dass unser Bemühen um Frieden auf unserer Erde schließlich von Erfolg gekrönt sein wird. Ich möchte hier einem Mann, der sich in diesem Sinne besonders verdient ge-macht hat und uns sehr nahe steht, eine verdiente Ehrung zuteil wer-den lassen. Ich meine den Vorsitzenden Erich Honecker. Denn seit-dem Sie das Schicksal Ihres Landes in Ihre Hände genommen haben, zeugten Ihre Handlungen immer von dem tiefen Verständnis und der Wertschätzung, die Sie, wie ich zu wissen glaube, unserer olympi-schen Bewegung entgegenbringen. Sie haben die Bedeutung, die die-se Bewegung in unserer modernen Gesellschaft besitzt, sehr gut ver-standen, und ich weiß, dass Sie sie billigen, denn Sie haben immer streng persönlich darauf geachtet, dass diese Traditionen gewahrt werden.“
Auch bei der „Aufarbeitung“ der DDR-Geschichte stieß keiner der hoch dotierten Historiker auf diese Rede!
Klaus Huhn
Alfred Bruno Neumann
10 4-1927 -- 25.2.2010
Vor dem Krieg war er geflohen. Abgerissen hatte der 18jährige kurz vor dem Ende die elterliche Wohnung erreicht. Von da an floh er nie wieder, sondern stand sein Leben lang auf der Seite derjenigen, die
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gegen den Krieg und für menschlichen Fortschritt kämpften. So über-nahm er schon bald Aufgaben im antifaschistischen Jugendausschuss seines Berliner Heimatbezirks Weißensee. Als die FDJ gegründet wurde, wählte man ihn dort zum Kreissekretär, was auch deshalb er-wähnt zu werden verdient, weil er dort Karin kennenlernte, die seine Ehefrau wurde und mehr als ein halbes Jahrhundert an seiner Seite lebte. Seine konsequente Haltung, sein Vermögen, Probleme sachlich zu beurteilen zu können und demzufolge Entscheidungen zu treffen, die zu einer Lösung führten, sorgten dafür, dass er schon bald eine Funktion im Amt für Jugendfragen und Sport beim Vorsitzenden des DDR-Ministerrats übernahm. Nach 1952 berief man ihn zum Vorsit-zenden des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport, nach 1962 war er in dieser Funktion Staatssekretär. 1968 wechselte er als Generalsekretär ins Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Eh-renamtlich war er von 1960 bis 1974 und von 1989 bis 1990 Präsident des Ruderverbandes der DDR und auch in der Internationalen Födera-tion (FISA) erwarb er sich schnell Ansehen. So erinnerte sich die Vor-sitzende der Juniorenkommission Ingrid Dieterle: „Er hat nie ein FISA-Amt bekleidet und war dennoch eine der bekanntesten Persönlichkei-ten. Das war vor allem seinem Vermögen zuzuschreiben, in entschei-denden Augenblicken diplomatische Entscheidungen zu treffen.“ Er gehörte zu den Initiatoren, der ersten FISA-Junioren-Regatta und hatte maßgeblich Anteil daran, dass 1985 zum ersten Mal eine Junioren-Weltmeisterschaft ausgetragen wurde – in Brandenburg(Havel). Dass er bei allem Ansehen, das er genoss, nicht jedermanns Freund war, offenbarte das BRD-Magazin „Spiegel“ schon 1969 (Nr. 39), als es die Mär verbreitete: „Als München 1966 den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1972 erhielt. entwickelte die DDR eine gezielte Anti-München-Kampagne. Alfred B. Neumann, Präsident des mitteldeutschen Ruder-verbandes und UIbricht-Vertrauter, bezog einen neuen Arbeitsplatz im Außenministerium. Neumann erhielt den Auftrag, die Münchner Spiele zu sabotieren. Als Leiter einer mehr als zehnköpfigen Abteilung insze-nierte er nahezu alle zwei Wochen Flaggenzwischenfälle bei Internati-onalen Sportwettbewerben. Die Strategie bezweckte, alle Schwierig-
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keiten dem bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch anzulasten und die Westdeutschen als Störenfriede zu verketzern, denen keine Spiele anvertraut werden dürften." Von diesen 682 Worten entsprach nicht ein einziges der Wahrheit.
Fünf Jahre später hatte man in den Hamburger Redaktionsbüros zähneknirschend zur Kenntnis nehmen müssen, dass nach dem Scheitern der Bonner Alleinvertretungspolitik alle Welt Botschafter In die DDR-Hauptstadt entsandte, und zwar in solchen Scharen, dass die Frage ihrer Unterbringung vorübergehend zum Problem wurde. Das las sich dann so: „Nach welchen Kriterien die DDR-Behörden Adres-sen und Amtssitze verteilen, blieb den meisten West-Diplomaten bis heute unklar: Als sich beispielsweise der Botschafter eines Nato-Landes, der ins diplomatische Neubauviertel rund um Pankows Espla-nade (vormals Kleingartenkolonie `Eintracht´) eingewiesen worden war, erkundigte, warum nicht ihm, sondern dem später eingetroffenen Briten die Tennis-Residenz angeboten worden wäre, tröstete ihn Alfred B. Neumann, Generalsekretär im DDR-Außenamt: `Das hätte Ihr klei-nes Land doch sowieso nie bezahlen können.´“
Wer Alfred B. Neumann je begegnete, wusste, wie absurd diese Be-hauptung war.
WOLFRAM LINDNER
26.2.1941 – 17. 2. 2010
Bevor ich diese Zeilen schrieb, fragte ich einen der Rennfahrer, die er an die Weltspitze geführt hatte, nach der aus seiner Sicht herausra-genden Eigenschaft des Trainers Lindner. Er überlegte einen Augen-blick und antwortete: „Er war so väterlich!“ Danach befragte ich einen zweiten und der meinte, dass es ihm wie keinem anderen gelungen sei, die so verschiedenartigen Charaktere der Klubtrainer in der DDR unter einen Hut zu bringen. Ich hätte diesen Meinungen noch hinzuzu-fügen, dass er wie kaum ein anderer zuhören konnte und – riskierend, dass diese Feststellung heutzutage nicht sonderlich opportun ist –
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dass er ein Genosse war, den ich immer als Genossen empfand.
Die Kinderlähmung, an der schon früh litt, wurde zwar von den Ärz-ten überwunden, verhinderte aber, dass er je selbst sportliche Höchst-leistungen vollbringen konnte. Seine Liebe zum Sport und besonders zum Radsport, ließ ihn zu einem Trainer werden, der seine Laufbahn auf der untersten Stufe begann. Nachdem er die Sektion Radsport der BSG Motor Hainichen 1959 gegründet hatte, übernahm er auch deren Vorsitz. Er empfahl sich damit in Mittweida, wo er als Übungsleiter tätig war. Schon 1970 sah man in ihm den künftigen Nationaltrainer. Sein Eifer und auch die schon erwähnten Eigenschaften sorgten dafür, dass nie jemand daran dachte, ihn abzulösen. Die Erfolge, die seine Schützlinge errangen – Bernd Drogan, Uwe Raab, Uwe Ampler wur-den Amateur-Weltmeister – festigten seine Position. Statistiker errech-neten, dass die von ihm in der DDR betreuten Rennfahrer 1.119 Siege bei Einzelrennen und 109 Rundfahrttriumphe errangen.
Nach dem Untergang der DDR und der „Vereinigung“ der Sportver-bände, verließ er schon bald die Bundesrepublik und wurde National-trainer in der Schweiz, wo er – auch dank seiner in der DDR gesam-melten Erfahrungen – ebenfalls sehr erfolgreich war. Später übernahm er die Profirennställe Team Coast und Bianchi und war immer erfolg-reich. 2005 tat er einen großen Schritt und wurde Nationaltrainer Im Rad-sport-Niemandsland Iran. Auch hier gelang ihm, was kaum jemand für möglich gehalten hatte: Die Mannschaft qualifizierte sich für die Olympi-schen Spiele in Peking.
Mit 67 Jahren ging er in „Rente" und hatte sich noch manches vor-genommen. Als er starb meinten viele, dass Menschen wie er, die ein Leben lang pausenlos tätig waren, die „Ruhe" nicht überleben.
Viele begleiteten ihn auf seinem letzten Weg. Der Autor dieser Zeilen erinnerte sich der Stunden, die er gemeinsam mit ihm verbracht hatte. Oft während Rennen, nicht selten in den Stunden danach. Und diese Erinnerungen können nicht in Vergessenheit geraten, weil sie an der Seite eines ungewöhnlichen Mannes erlebt worden waren.
Martin Andersen-Nexö schrieb einmal: „Es ist schwer, ein Mensch zu sein... " Wolfram Lindner war es Tag für Tag!
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Klaus Huhn

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Frühjahr 2011
BEITRÄGE 31
zur Sportgeschichte
INHALT:
Abschied von Helmuth Westphal 3
Die Gründung der modernen olympischen Bewegung 8
Helmuth Westphal
Erinnerungen an Olympia 1928 21
Die Schweiz und die Olympische Bewegung 22
Pierre de Coubertin
Amsterdamer Lehren 24
Henri de Baillet-Latour
2
Wie wir nach St. Moritz reisten 26
Erich Recknagel
Geschichte des Wintersports in Brotterode 30
Robert Schmalwasser
Olympische „Erinnerungs“-Tabelle 36
JAHRESHAUPTVERSAMMLUNG 2010
Zwanzig Jahre Sporteinheit? 38
Buchlesung von Thomas Köhler 45
Als man im Fußball Tore kaufte 52
Wie die Briten die Friedensfahrt retten wollten 63
Erinnerung an die Spartakiade 69
Pädagogische Lesung Prof. Dr. Heinz Bäskau
Zitate
Ein Großer fuhr davon 78
Von den Träumen der DDR ist fast nichts geblieben 80
Leipziger Träume 82
Potsdam zieht zurück 84
Sportinternat fehlen Sponsoren 85
Sammer warnt den Weltfußball 86
Blut aus dem Schattenreich 89
„Der Torwart wollte das machen“ 91
Garmischer Schmarrn 92
Doping wieder Trumpf 94
„Pro-Ossi geworden“ 96
3
ABSCHIED VON HELMUTH WESTPHAL
Am 23. Oktober 2010 verstarb der langjährige Präsident des Vereins Sport und Gesellschaft, Prof. Dr. Helmuth Westphal. Bei seiner Trauerfeier sprachen Prof. Dr. Horst Philipp und Dr. Klaus Huhn, dessen Rede wir nachfolgend veröffentlichen.
Der französische Schriftsteller Saint-Exupéry schrieb einmal: „Nichts kann den verlorenen Gefährten je ersetzen. Alte Kame-raden kann man sich nicht künstlich schaffen. Aber nichts wiegt den Schatz so vieler gemeinsamer Erinnerungen auf, nichts das gemeinsame Erlebnis böser Stunden, die Zerwürfnisse und Ver-söhnungen und die Augenblicke, in denen das Herz warm wur-de.“
Helmuth Westphal war nicht mein Professor, aber mein Präsi-dent und ich hätte von keinem Professor mehr lernen können. Das obwohl wir der gleichen Generation angehörten. Er hielt mir nie Lektionen, aber er lehrte mich so oft wir beisammen waren, wie man den Kampf um die Wahrheit im Duell mit der Lüge führt, wie man die dafür nötigen Quellen sucht und aus ihnen schöpft.
Vor zwölf Jahren gründeten wir den Verein „Sport und Gesell-schaft“ und wählten Helmuth zu unserem Präsidenten. Da er den Verein beim Amtsgericht Potsdam registrieren ließ, hinterlässt er dieser Stadt nun so etwas wie eine jener Kapseln, die man bei Grundsteinlegungen einzumauern pflegt. Als ihn damals ein Journalist nach den Zielen des Vereins fragte, gab er zur Ant-wort: „Wir treffen uns nicht, um der Nostalgie zu frönen. Wir wol-len versuchen zu bewahren, was weltweit am DDR-Sport ge-schätzt wurde. Das Resultat des Engagements von Tausenden Übungsleitern, BSG-Funktionären, Trainern und Verbandsfunkti-onären ist nicht mit ein paar Schmähschriften heutiger Profilie-
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rungsneurotiker zu diffamieren. Wir wollen Geschichtsdarstellun-gen weder auf umstrittene Aktennotizen stützen, noch auf die Schablonen, die die Diktatur-Thesen vorgeben. Kurz: Wir wollen zusammentragen, was der DDR-Sport geleistet und was er ver-säumt hat.“
Und das war sehr vonnöten. In der gleichen Ausgabe der vom Verein herausgegebenen Zeitschrift, in der diese Antwort stand, las man auch ein Zitat aus der 1997 in Darmstadt verteidigten Dissertation von Peter Fornoff. Ihr Titel: „Wissenschaftstheorie in der Sportwissenschaft. Die beiden deutschen Staaten im Ver-gleich“. Dieses Zitat lautete: „Es ist das Fazit zu ziehen, daß die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bzw. die Vereinigung der beiden Wissenschaftssysteme - und mithin die Erneuerung der Sportwissenschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR – auf die wissenschaftstheoretische Diskussion der Sportwissen-schaft bislang keinerlei Einfluss hatte. Diese Diskussion setzt sich fort, als sei nichts geschehen – oder gar: als habe die DDR-Sportwissenschaft niemals existiert.“
Es erhärtet, wie wichtig der Verein war und in der Stunde des Abschieds bekenne ich noch einmal: Wir hatten bei der Wahl unseres Präsidenten eine gute und kluge und damit richtige Wahl getroffen!
Damals war Helmuth Westphal auch gefragt worden: „Würden Sie auch mit den Historikern, die sich jetzt mit Geschichte des DDR-Sports hier beschäftigen, zusammenarbeiten?“
Gemeint war mit „jetzt“ 1998 und mit „hier“ auch Potsdam. Seine Antwort: „Selbstverständlich. Ich habe gelegentlich mit den Herren des Potsdamer Instituts Kontakte und bin sehr zu-versichtlich, künftig auch gemeinsame Vorhaben realisieren zu können. Förderlich wäre es, wenn die Ausgrenzungsbedingun-gen für bewährte Sporthistoriker der DDR annulliert würden. Es ist auch nicht so, dass wir bei Null anfangen. In der schon zitier-
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ten Zeitschrift wird seit drei Jahren in Folgen eine Chronik des DDR-Sports publiziert, deren Qualität Respekt verdient.“
Die Ausgrenzung wurde nicht annulliert, und noch heute wird mancherlei verbreitet, was einen Lügendetektor kreiseln lassen würde.
Bald nach der Vereins-Gründung präsentierte ein Kölner Insti-tut auf einer Tagung in Göttingen eine Geschichte des DDR-Sports. Der Leiter des Instituts schien sehr überrascht, als ihm ein Vorstandsmitglied des von Helmuth Westphal geleiteten Vereins bei dieser Gelegenheit dessen „Geschichte des DDR-Sports“ überreichte. Westphal war auch der Autor eines der Ka-pitel dieses Buches, das nebenbei bemerkt - marktwirtschaftlich betrachtet - bald um das achtfache an Wert gestiegen war und derzeit nirgends mehr greifbar ist. Und dies obwohl der Verein ohne einen Cent Fördermittel auskommen musste und von nie-mandem auch nur mit einem halben Cent gesponsert wurde.
Auch das spricht für ihn, von dem wir heute Abschied neh-men!
Helmuth Westphal war keiner, der Bühnenscheinwerfer oder Mikrofone suchte, er stand an der Spitze eines Vereins, der mit Erfolg gegen die Verleumdung des DDR-Sports anging. Dafür gebührt ihm Achtung, Respekt und selbst alle, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Verleumdung voranzutreiben, sollten ihm we-nigstens in dieser Stunde die gebührende Achtung erweisen.
Verabschieden wir ihn mit einigen Zeilen aus einer der vielen wissenschaftlichen Arbeiten, einem Beitrag, den er „Der durch-sichtige Instrumentalismus einer sporthistorischen Analogiekon-struktion“ überschrieben hatte: „Von jeher sind wissenschaftliche Theorien und Methodologien mißbraucht worden, um zu einer vorgegebenen Aussage zu gelangen, die für eine politische Ma-nipulierung von Menschengruppen im Interesse bestimmter Ziele genutzt werden kann. Obschon diese Art von Finalismus immer
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wieder angeprangert wird, um die Produktivität und Glaubwür-digkeit der Wissenschaft nicht in Gefahr zu bringen und verläßli-che Orientierungen zu finden, setzen sich in Abhängigkeit von Machtkonstellationen politische Erwartungen und Karriereziele durch, wodurch Elaborate produziert werden, die der beabsich-tigten Irreführung, nicht aber der Verbreitung von Wahrheiten dienen. So werden in jüngster Zeit auf der Grundlage einer Rol-lentheorie mit Hilfe phänomenologischer Kriterien zwischen dem deutschen Faschismus und dem DDR-Sozialismus Analogien konstruiert, die gläubigen Bundesbürgern, vor allem Jugendli-chen, das Gefühl vermitteln sollen, als hätte es kaum Unter-schiede zwischen den genannten gesellschaftlichen Systemen gegeben. Die sogenannte Medien- und Meinungsfreiheit erlaubt die Willkür solcher Gleichsetzung und fragt nicht nach stichhalti-gen Belegen. Und die Justiz der Bundesrepublik verteidigt sogar politische Diffamierungen, sofern sie gegen den Marxismus und Sozialismus gerichtet sind.
Solche Elaborate gibt es in vielfältiger Hinsicht, so auch im Bereich des Sportes. Anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel zu Ehren des 100. Jahrestages der deutschen Leichtathletikor-ganisation verstieg sich der Präsident des DLV der BRD zu der Behauptung: `Ähnlich, wie es später in der DDR unter dem SE-DRegime der Fall sein sollte, wurden leichtathletische Erfolge von der NSDAP instrumentalisiert. Sportführer wie Ritter von Halt oder später Manfred Ewald erwiesen den Regimes in vo-rauseilendem Gehorsam ihren Dienst bzw. waren selbst tragen-de Säulen der jeweiligen Diktatur.´
Zu einer solchen Kolportage gelangte der Sportsoziologe Di-gel vermittels einer wissenschaftlich nicht haltbaren Interpretati-on eines rollentheoretischen Vergleichs, wodurch er dieser The-orie als Instrument soziologischer Wissenschaften keinen guten Dienst erweist.“
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Diese Feststellung Helmuth Westphals mag monieren wer will, widerlegen lässt sie sich nicht.
In diesem Sinne nehmen wir Abschied von einem, der sein Leben lang sich selbst und der Wahrheit treu blieb!
Die Trauerfeier hatte noch ein peinliches Nachspiel. Zur Uni-versität Potsdam gehört das „Department für Sport- und Ge-sundheitswissenschaften“, das im Register der „beteiligten Pro-fessuren“ unter neun Sachgebieten auch die „Zeitgeschichte des Sports - Prof. Dr. Hans Joachim Teichler“ aufführt. Dieses Insti-tut, das de fakto das Erbe Prof. Dr. habil. Westphals angetreten hat, verzichtete darauf, dem renommierten Sporthistoriker einen letzten Gruß zu erweisen. Wenige Tage nach Westphals Tod schrieb Teichler der Witwe einen Brief, in dem er – eher neben-bei – sein Beileid und vor allem Interesse an dem wissenschaft-lichen Nachlass Westphals bekundete. Um der Witwe die Ant-wort auf die geschmacklos nüchterne Anfrage zu ersparen, wur-de sie vom Sprecher des Vereinsvorstands, Dr. Klaus Huhn, be-antwortet, der auch darauf verwies, dass der Verzicht des Insti-tuts auf eine Teilnahme an der Trauerfeier schwer zu verstehen war.
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Die Gründung der modernen
olympischen Bewegung
Von HELMUTH WESTPHAL (†)
Helmuth Westphal schrieb diesen Beitrag zur Einführung des von ihm und Joachim Fiebelkorn 1969 herausgegebenen Bu-ches „Die Olympischen Spiele von Athen bis Mexiko-Stadt“. Er gehört zu den profiliertesten Darstellungen der Vorgeschichte der modernen Olympischen Spiele und könnte zum Beispiel auch in dem Potsdamer Institut, das sich der „Zeitgeschichte des Sports“ widmet, katalogisiert werden.
In aller Welt ist es das Ziel unzähliger Sportler, Teilnehmer der großen Spiele zu sein. In aller Welt wird mit brennendem In-teresse das olympische Geschehen verfolgt. Millionen aller Kon-tinente sind es, die dem olympischen Gedanken anhängen, die in seinem Sinne Sport treiben.
Schon im siebzehnten Jahrhundert gab es in einzelnen euro-päischen Ländern Bemühungen, die hellenischen Spiele zu er-neuern, so in England und Deutschland. All diese Versuche je-doch, nationale Wettkämpfe anstrebend, blieben ohne Erfolg.
Erst am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war die Zeit reif für die Erneuerung der Spiele. Das große Verdienst des franzö-sischen Humanisten, des Barons Pierre de Coubertin, besteht darin, mit der Universalität seines Wissens, der Genialität seiner Vorausschau, mit Klugheit, großer Tatkraft und unter Einsatz seines persönlichen Vermögens der olympischen Idee den Weg gebahnt zu haben. Gegen den Widerstand der französischen und der internationalen Reaktion schuf er die weltumspannende olympische Bewegung, um dem körperlichen Verfall der Jugend
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zu begegnen, den Geist der Demokratie zu stärken, den Frie-denswillen und die Verständigung der Völker zu fördern.
Coubertin entstammte dem verbürgerlichten Grundadel, der politisch längst keine Einheit mehr bildete. Der junge Franzose war Anhänger der Republik und der Demokratie. Er begeisterte sich für die Männer der französischen bürgerlichen Revolution und deren Ideen und stand in Opposition zur Politik des franzö-sischen Militarismus, der nach Vormachtstellung in der Welt strebte und Revanche für die Niederlage von Sedan verlangte.
Die Aggressivität des französischen Imperialismus entfachte den Widerstand der französischen Arbeiterklasse, die seit dem Jahre 1880 eine von Marxisten geführte Partei besaß und sich dadurch ihrer historischen Rolle immer mehr bewusst wurde. Machtvolle Streiks des Proletariats und die Erinnerung an die Tage der Pariser Kommune versetzten die herrschenden Klas-sen in permanente Unruhe. Hinzu kam, dass die französische Wirtschaft im Konkurrenzkampf mit der englischen, amerikani-schen und deutschen zurückblieb. Frankreich wurde wirtschaft-lich bald von Deutschland überflügelt, das bis zum ersten Welt-krieg auch noch England hinter sich ließ. Diese historische Bi-lanz empfanden die herrschenden Klassen als unerträglich. Ihre wirtschaftliche Niederlage und innenpolitische Schwäche ver-suchte die französische Reaktion durch die Stärkung des Milita-rismus auszugleichen. Rassistische und chauvinistische Gedan-ken wurden verbreitet. Forderungen der Militärs beeinflussten die Erziehung der Jugend in den Bildungsanstalten. In die schu-lische Körpererziehung drangen immer stärker militärische Übungselemente ein. Das Vereinsleben bot dem übersteigerten nationalistischen Kult mehr Raum denn je. Diese Entwicklung führte zu einer offenen Bedrohung der dritten Republik durch die innere Reaktion. Boulanger, französischer Kriegsminister und Verfechter eines Revanchekrieges gegen Deutschland, versuch-
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te 1889 die offene Diktatur zu errichten. Sein Vorstoß scheiterte an dem Widerstand der republikanischen Kräfte, zu denen auch Coubertin gehörte. Schon als Zwanzigjähriger wandte er sich demonstrativ gegen den Militarismus, als er, mit der Familientra-dition brechend, die Kadettenanstalt verließ und 1883 nach Eng-land ging, wo er das College Jesus bei Windsor besuchte. Hier beeinflussten ihn besonders die Lehren des englischen Pädago-gen Thomas Arnold. In dessen Erziehungssystem hatte der Sport nicht nur als Mittel zur Herausbildung physischer, sondern vor allem charakterlicher Qualitäten eine besondere Bedeutung. Coubertin, selbst leidenschaftlicher Freund der Körperkultur, be-schäftigte die Frage, ob der Sport tatsächlich eine solche Funkti-on übernehmen könne. So studierte er die Praxis an englischen und amerikanischen Schulen. Weiterhin beschäftigte er sich mit der Geschichte und der Philosophie. Damit legte er die Funda-mente für die Universalität seines Geistes und die Weltoffenheit seines Charakters.
Coubertin teilte den Glauben so vieler Humanisten des neun-zehnten Jahrhunderts an die Allmacht der Erziehung, an die Veredelung der Gesellschaft durch eine humanistische Pädago-gik. Er war gewillt, für die humanistische Erziehung in seinem Vaterland einzutreten. Als Vierundzwanzigjähriger überreichte er 1887 der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Frankreich eine Denkschrift, in der er die Reformierung des fran-zösischen Schulwesens begründete.
Der Mangel an Resonanz in den Ministerien konnte Coubertin nicht entmutigen. Und er errang bald den ersten Erfolg. Das Un-terrichtsministerium betraute ihn mit der Vorbereitung eines Kongresses über die körperliche Erziehung, der anlässlich der Weltausstellung 1889 in Paris abgehalten werden sollte.
Coubertin erkannte bald, dass die von ihm angestrebte Be-wegung zur körperlichen Erziehung der Jugend als einer Vor-
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schule der Demokratie demnach nur in Opposition zu den herr-schenden Kräften ins Leben gerufen werden konnte.
Coubertin geriet bei den politisch rückständigsten Kräften sei-nes Vaterlandes in Verruf, doch er war Persönlichkeit genug, al-len Diffamierungen zum Trotz seinen progressiven Ideen die Treue zu halten und unbeirrbar für ihre Verwirklichung zu kämp-fen. In dieser Zeit beschäftigte sich der junge Franzose nicht nur mit Plänen zur Erneuerung der französischen Jugenderziehung. Brennend interessierte er sich für die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge seiner Zeit. Seine historischen und philosophi-schen Studien erlaubten es ihm, weltbewegende Kausalitäten weitgehend richtig zu erkennen. Aufmerksam verfolgte er den Kampf der Völker um Demokratie und Frieden. Dabei entdeckte er in Ansätzen richtig die historische Rolle der Arbeiterklasse.
Die politische Kraft dieser Klasse wuchs in dem Maße, wie die in den verschiedenen Ländern fortschreitende Industrialisierung das Heer der Ausgebeuteten vergrößerte und das Proletariat von den Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus Besitz er-griff. Welche Kraft die Arbeiterbewegung unter marxistischer Führung besaß, bewies zu jener Zeit die deutsche Sozialdemo-kratie, die von 1878 bis 1890 dem Sozialistengesetz widerstand und sich dadurch zur führenden Partei der Zweiten Sozialisti-schen Internationale entwickelte. Der revolutionäre Kampf der deutschen Arbeiter gegen den verhassten militaristischen Klas-senstaat beflügelte auch jene Arbeiterparteien, die sich am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in anderen europäischen Län-dern gebildet hatten. Die Arbeiterbewegung war auf dem Vor-marsch, und Coubertin begriff, dass sie eine wichtige Rolle im Kampf um Demokratie und Frieden spielen würde. Unter der Lo-sung »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« schloss sie sich über die nationalen Grenzen hinweg zusammen. Sie bekämpfte den Nationalismus und trat für die Verständigung der Völker un-
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tereinander und die Festigung des Friedens ein. Durch den Kampf der Arbeiterbewegung erhielt das Streben der Völker nach Frieden und Demokratie erst soviel Gewicht. Nicht zuletzt deshalb konnte Coubertin an diese humanistischen Ziele große Hoffnungen knüpfen. Wie stark der Franzose von dem Bedürfnis der Völker nach Frieden und Demokratie überzeugt war, ließ er in einer programmatischen Rede des Jahres 1895 erkennen.
Auch die neuen Entwicklungslinien im wirtschaftlichen und kulturellen Leben fanden sein Interesse. Aufmerksam verfolgte er, wie die Fortschritte in der Produktion immer stärker zu einer Arbeitsteilung zwischen Volkswirtschaften der einzelnen Länder führten. Als Folge dieser Arbeitsteilung verdichtete sich das Ei-senbahn- und Schifffahrtsnetz. Schnellere Verkehrsmittel ver-kürzten die Reisezeiten. Damit entstanden wiederum günstige Voraussetzungen für die Erweiterung der kulturellen Verbindun-gen zwischen den Völkern. Mit der Entwicklung der Industrie kor-respondierend, machte die Wissenschaft große Fortschritte. Auch sie war auf internationale Verbindungen angewiesen. Die Zwangsläufigkeit der Internationalisierung griff, wenn auch zö-gernd, auf den Sport über. Es kam zu Vergleichen zwischen Ath-leten aus verschiedenen Ländern. Vorläufer internationaler Sportvereinigungen entstanden. Als dem französischen Huma-nisten diese Dynamik bewusst geworden war, fasste er den Ent-schluss, die Olympischen Spiele nicht auf nationaler, sondern auf internationaler Ebene zu erneuern. Nicht schwärmerische Verehrung antiken Lebens standen also Pate, sondern die For-derungen der Zeit.
Natürlich fanden viele grundlegende Gedanken Coubertins ih-ren Ursprung in Elementen antiker Erziehungsideale. So be-schwor er nicht selten den Geist der griechischen Kalokagathie, den Moralkodex der herrschenden Klasse der Sklavenhalter-Demokratie. Die Kalokagathie bestimmte die Erziehung der Ju-
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gend und den Verkehr der Klassenangehörigen untereinander. Ihren Kern bildeten die agonalen Tugenden (agon = Wettkampf). Der Mensch war angehalten, sich in allen Bereichen des Lebens immer wieder zu überwinden und die Angehörigen seiner Klasse in fairem Wettstreit zu übertreffen, um seinem Stande, seiner Sippe und sich selbst gegenüber in Ehren zu bestehen.
Ehrbegriff und Agon waren eng miteinander verbunden. Das Leistungsstreben bezog sich auf die physischen, intellektuellen und moralischen Anlagen des Menschen. Das Menschenideal mit allen seinen Seiten wurde als Einheit betrachtet. Diese der Antike entlehnte Lehre von der allseitigen und harmonischen Entwicklung des Menschen übernahm Coubertin. Immer wieder wies er auf die enge Verbindung der körperlichen Bildung mit allen anderen Seiten der Erziehung des Menschen hin. Dass er darunter eine humanistische Erziehung verstand, braucht nicht eigens betont zu werden. Nicht zuletzt deshalb aber wurde Cou-bertin oft vor schwierige Entscheidungen gestellt, da die herr-schenden Kreise stets versuchten, die olympische Bewegung zu unterwandern und in ihr Gegenteil zu verkehren. Es muss späte-ren Untersuchungen vorbehalten bleiben, ob ihm die Geschichte mehr Spielraum für Konsequenz bot, als er in Anspruch genom-men hat. Dass sein Vorhaben nicht ohne Risiken war, wusste er; denn später äußerte er, dass der olympische Sport »zur Befesti-gung des Friedens genauso wie zur Vorbereitung zum Kriege« verwendet werden könne. Um dem Missbrauch entgegenzuwir-ken, mahnte er immer wieder seine Anhänger, die Sportjugend im Geiste der Demokratie, der Völkerverständigung und des Friedens zu erziehen. Mit dieser Mahnung stellte er sich auf die Seite der sozialen Kräfte, die gesetzmäßig berufen waren, die Zukunft der Menschheit zu gestalten. Auf sie vertraute er. Von ihnen erwartete er die entscheidenden Impulse für die Realisie-rung seiner Idee. Darüber ließ er seine Umgebung nicht im un-
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klaren, als er seinen Plan erläuterte: »Dieser Strom entquillt dem großen Bedürfnis nach Frieden und Brüderlichkeit, wie es in der Tiefe jedes Menschenherzen sich regt. Der Frieden ist eine Art Religion geworden, deren Altäre eine von Tag zu Tag wachsen-de Menge von Gläubigen umgibt ... Die gesunde Demokratie sowie die weise und friedliche Völkerverbrüderung werden in das neue Stadium eindringen und die Gebote der Ehre und Selbstlosigkeit dort in einer Weise hochhalten, dass die Athletik nicht nur der Entwicklung der Muskulatur, sondern zur gleichen Zeit auch der moralischen Vervollkommnung und dem sozialen Frieden dient.« (Deutsche Turnzeitung, Jg. 1895, S. 938). Un-missverständlich drückte er damit aus, dass sich die olympische Bewegung erst unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingun-gen frei entfalten kann. Zu diesen Bedingungen gehörten nach seiner Ansicht die Macht des Volkes und eine Politik des Frie-dens. Diese Voraussage bewahrheitete sich später glänzend in den sozialistischen Ländern.
Obwohl Coubertin erkannte, welche sozialen Kräfte Träger der olympischen Bewegung sein mussten, fehlte es ihm an Kon-sequenz, mit diesen ein Bündnis zu schließen. Dagegen ging er Kompromisse ein und tolerierte seine ärgsten Gegner. Deshalb konnte die olympische Bewegung jahrzehntelang keinen nen-nenswerten Beitrag zur Festigung des Friedens leisten. Zeit sei-nes Lebens hat sich Coubertin nie ganz von dieser Inkonse-quenz trennen können. Er blieb trotz aller Weitsicht in der Illusi-on befangen, dass eine humanistische Erziehung der Demokra-tie und dem Frieden Bahn brechen könne.
Mit großer Tatkraft bereitete Coubertin für das Jahr 1894 in Paris einen Kongress zur Gründung der Olympischen Spiele vor. Delegierte aus vielen Turn- und Sportvereinen aller Kontinente wurden eingeladen. Wie zu erwarten, war Coubertins Initiative zahlreichen Angriffen ausgesetzt. Die belgische Turnföderation
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erklärte die Grundsätze des Sports, das Rekordstreben und die Internationalität als nicht akzeptabel und lehnte die Einladung ab. Der französische Turnverband wiederum stieß sich an dem Kreis der eingeladenen Nationen. Er war nur bereit, am Kon-gress teilzunehmen, wenn deutsche Vertreter ausgeschlossen blieben.
Coubertin ließ sich nicht beirren. Am 16. Juni 1894 wurde der Kongress in der Pariser Sorbonne eröffnet. Er dauerte bis zum 25. Juni. Zweitausend Besucher nahmen an ihm teil, darunter 79 offizielle Delegierte von 49 Organisationen der Körperkultur in Frankreich, Griechenland, Russland, Italien, England, Australien, Belgien, Schweden, Spanien, Ungarn, Böhmen, Nordamerika und den Niederlanden. Deutschland war nicht vertreten.
Coubertin hatte die deutschen Organisationen über den Sek-retär des Straßburger Fußballclubs, den deutschen Militäratta-ché in Paris, Oberst von Schwartzkoppen, und den führenden Kopf des Berliner Unions-Clubs, General von Podbielski, einge-laden. Aber keiner hatte die Einladungen an zentrale Instanzen der damaligen deutschen Turn- und Sportbewegung weiterge-leitet.
Coubertin wandte sich dann an den Redakteur der Berliner Zeitung Sport und Spiel, Bloch, mit der Bitte, das Programm des Kongresses zu publizieren. Obwohl Bloch dieser Bitte nachkam, blieben die deutschen Sportfunktionäre dem Kongress fern. Der Hauptgrund ist auch hier in nationalistischen Vorbehalten zu su-chen.
Coubertins Plan zur Erneuerung der Olympischen Spiele fand bei den Kongressteilnehmern Zustimmung. Zugleich wurden wichtige olympische Prinzipien beschlossen und Anregungen für die Organisation der Wettkämpfe gegeben. Die Sportorganisati-onen aller Länder sollten das Recht erhalten, an den Spielen teilzunehmen. Die Teilnahme wurde damals noch nicht von einer
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Unterstellung unter ein Nationales Olympisches Komitee abhän-gig gemacht. Es wurde aber entschieden, dass ein Land nur durch seine Angehörigen vertreten sein konnte. Später präzisier-te das olympische Führungsgremium diesen Passus: »Wer bei den Olympischen Spielen oder in anderen internationalen Wett-kämpfen schon unter den Farben einer Nation an den Start ge-gangen ist, kann bei den folgenden Olympischen Spielen nicht die Farben einer anderen Nation tragen ...« Dadurch war es ei-nem Sportler, der vor seinem ersten internationalen Start einen Staatenwechsel vollzogen hatte, erlaubt, für das Land zu starten, dessen Staatsbürger er zur Zeit der Olympischen Spiele war. Jene, die nach dem ersten internationalen Wettkampf eine neue Staatsbürgerschaft erworben hatten, durften dieses Recht nur beanspruchen, wenn ihre ursprüngliche Heimat in ein anderes Land staatsrechtlich eingegliedert worden war oder sich die Staatszugehörigkeit durch eine Vermählung geändert hatte. Die aufgeworfene Frage hatte später für Athleten Bedeutung, in de-ren Land kein NOK existierte, die aber an den Olympischen Spielen teilnehmen wollten. So war es möglich, dass diese Sportler die Staatsangehörigkeit eines Olympialandes erwarben und dessen Farben vertraten; denn staatsrechtlich waren sie Angehörige dieses Landes, obwohl sie ihren Wohnsitz nicht dort hatten. Es war verständlich, dass die Athleten den Wunsch hat-ten, für ihr Heimatland zu starten, sobald sich in diesem ein NOK gebildet hatte. Diesen Wunsch respektierte das IOC. Modifiziert wurden diese Ausnahmebestimmungen auf die Athleten der Dominien und Kolonien übertragen. So wie der auf dem Pariser Kongress formulierte Passus über die Vertretung der Länder im Verlauf der Zeit präzisiert wurde, mussten später auch andere Bestimmungen vervollständigt werden. Das galt besonders für die Amateurformel, um die der Streit noch heute andauert. Der Pariser Kongress griff nicht auf englische Amateurparagraphen
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zurück, die im Sport für eine strenge Trennung der Klassen sorg-ten. Ältere Amateurbestimmungen englischer Leichtathletikklubs lauteten beispielsweise: »Keine Person soll als Amateur ange-sehen werden, die jemals mit oder gegen einen Professionalen um irgendeinen Preis gekämpft hat; die jemals gelehrt hat oder beim Training von leichtathletischen Übungen irgendwelcher Art beschäftigt war oder dabei assistiert hat, um damit einen Le-bensunterhalt zu erwerben, oder die von Beruf Mechaniker, Handwerker oder Arbeiter ist.« (Hochschulblatt für Leibesübun-gen, Jg. 1930/31, S. 133). Nur solche Sportler galten demnach als Amateure, die sich nicht durch ihrer Hände Arbeit Geld ver-dienten. Methodisch ging der Pariser Kongress ähnlich vor wie die Verfasser der englischen Amateurbestimmungen; denn nicht die Merkmale eines Amateurs, sondern die des Profis wurden aufgezählt. Dadurch wurde in Paris der Amateurstatus nur indi-rekt bestimmt. Der Kongress legte fest, dass unter Professionals solche Athleten zu verstehen seien, die aus dem Sport ein Ge-werbe machen oder gemacht haben. Deshalb sollten bei den Olympischen Spielen keine Geld-, sondern ausschließlich Eh-renpreise verteilt werden. Verglichen mit den englischen Ama-teurbestimmungen, brachte die Pariser Formel einen beachtli-chen Fortschritt. Sie ließ erkennen, welchen Wert Coubertin auf die Teilnahme der Arbeiter, Handwerker und Bauern an den Spielen legte, obwohl dem noch große Hindernisse im Wege standen. Ihre soziale Lage erlaubte es ihnen nicht, sich einer systematischen sportlichen Betätigung zu widmen, zu trainieren und die kostspieligen Reisen zu internationalen Wettkämpfen zu finanzieren. Das Amateurproblem beschäftigte die olympische Bewegung immer wieder. Der Amateurismus hat nur als Antipo-de des Professionalismus eine Existenzgrundlage. Dem Profes-sionalismus liegt das Prinzip des Kapitalismus, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, zugrunde. Nicht der ge-
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sunde Mensch, sondern der Profit ist der Endzweck des deka-denten Sports. Nur so erklärt es sich, dass die Finanzgewaltigen und ihre Handlanger, die Manager, skrupellos den Menschen aufs Spiel setzen und die Demoralisierung der sporttreibenden Jugend betreiben. Das »Geschäft« gebietet es ihnen, sich im Amateurlager nach neuen Opfern umzusehen. Es ehrt die Initia-toren der olympischen Bewegung, dass sie von Anfang an ge-gen den Professionalismus zu Felde zogen. Aber der Professio-nalismus ist als Dekadenzerscheinung des Kapitalismus nicht auszumerzen, indem seine Erscheinungsformen angeprangert werden. Er wird erst dann aussterben, wenn seine sozialen Wurzeln vernichtet sind. Wo der Professionalismus aber nicht mehr existiert, bedarf es auch des Amateurismus als Gegenbe-wegung nicht mehr. Dort entwickelt sich der Sport nach neuen Gesetzen, wird die Körperkulturbewegung ihrer Funktion zur Vervollkommnung des Menschen gerecht. Dieser Prozess hat sich in den sozialistischen Ländern vollzogen. Deshalb gibt es hier auch kein Amateurproblem mehr.
Der Kongress beschloss außerdem, die ersten modernen Olympischen Spiele im Jahre 1896 auf griechischem Boden ab-zuhalten. Von diesem Zeitpunkt an sollten sie regelmäßig im Ab-stand von vier Jahren durchgeführt werden. Entgegen seiner ur-sprünglichen Absicht, die Premiere der modernen Spiele 1900 in Paris zu feiern, ließ sich Coubertin von dem griechischen Dele-gierten Bikelas davon überzeugen, dass Athen der würdigste Platz dafür sei.
In Paris konstituierte sich das Internationale Olympische Ko-mitee, das sich an die Spitze der olympischen Bewegung stellte. Die Präsidentschaft sollte für jeweils vier Jahre von einem Man-ne ausgeübt werden, dessen Heimatland mit der Durchführung der nächsten Spiele beauftragt war. So wurde das Mitglied des Panhellenischen Turn-Clubs, Bikelas, erster Präsident des IOC.
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Als Generalsekretär wurde Pierre de Coubertin berufen. Dem Komitee gehörten weiterhin an: Callot aus Frankreich, Ampthill und Herbert aus England, von Boutowsky aus Russland, Dr. Guth-Jarkowski aus Prag, Balck aus Schweden, Cuff für Neu-seeland, Professor Zubiaur aus Argentinien, Kémény aus Un-garn, Graf Palli für Italien, von Bousies aus Belgien und Sloane aus den USA.
Coubertin war bestrebt, die Unabhängigkeit des Internationa-len Olympischen Komitees zu sichern. Die Mitglieder des IOC sollten sich nicht als Vertreter egoistischer Interessen der Natio-nen oder Verbände, sondern als Vertreter des IOC betrachten. Er wandte sich deshalb gegen eine Delegierung ins IOC und führte das Prinzip der Selbstergänzung ein. (…) Als empfindliche Schwäche empfand Coubertin die Tatsache, dass Deutschland an der Gründung der olympischen Bewegung nicht beteiligt war. Zwar befand sich ein Baron von Reiffstein in Paris, da er aber kein Mandat einer deutschen Sportorganisation besaß, konnte er nicht als offizieller deutscher Vertreter auf dem Kongress geführt werden.
Dennoch hätte nichts im Wege gestanden, gemäß der von Coubertin verfolgten Souveränitätspolitik, Reiffstein als Vertreter deutscher Interessen zu betrachten. Es muss dahingestellt blei-ben, wie der Deutsche zu dieser Möglichkeit stand, ob er fach-lich überhaupt genug ausgewiesen war. Jedenfalls hielt sich die Kongressleitung nicht an ihn.
Um Deutschland auf keinen Fall auszuschließen, wählte der Kongress auf Vorschlag des Franzosen Frédéric Passy den Deutschen R. Feldhaus, Vorsitzender der deutschen Friedens-gesellschaft, als Ehrenmitglied des Kongresses, obwohl er sich nicht in Paris aufhielt. Die Wahl dieses Repräsentanten des friedliebenden Bürgertums lässt erkennen, in welchem Sinne die
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sportlichen Verbindungen zu Deutschland geknüpft werden soll-ten.
Coubertin vor allem wollte den Sport in den Dienst der Aus-söhnung zwischen Frankreich und Deutschland stellen.
Das erste IOC blieb ohne deutschen Vertreter. Auch Feldhaus konnte nicht vorgesehen werden, da seine persönliche Zustim-mung für die Wahl nicht eingeholt worden war.
Rechtsstehende deutsche Zeitungen beantworteten die Pari-ser Beschlüsse mit einer Hetzkampagne. Coubertin wurde un-terstellt, deutsche Vertreter absichtlich nicht eingeladen zu ha-ben, um auf diese Weise die Bestrebungen der französischen Außenpolitik zu unterstützen, die auf eine internationale Isolie-rung Deutschlands abzielte. Als die französische Zeitung »Gil Blas« ein Interview mit Coubertin veröffentlichte, in dem diesem antideutsche Äußerungen unterschoben wurden, erhielt die re-aktionäre deutsche Presse neuen Auftrieb, obwohl Coubertin gegen die Verfälschung seiner Aussagen protestierte.
Unter solchen Umständen hatten es die Verfechter des olym-pischen Ideen in Deutschland schwer, Resonanz zu finden.
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ERINNERUNGEN AN OLYMPIA 1928
Die Olympischen Spiele 1928 in St. Moritz und Amsterdam waren die ersten, zu denen auch deutsche Sportler wieder ein-geladen worden waren. Nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte das Internationale Olympische Komitee beschlossen, die Deut-schen als die Schuldigen am Krieg von den Spielen auszu-schließen. Weder 1920 nach Antwerpen noch 1924 nach Paris waren sie eingeladen worden. 1928 lud man sie wieder ein. Um die damalige Position der Spiele zu illustrieren, veröffentlichen wir im folgenden die Geleitworte des 1925 von seiner Funktion als IOC-Präsident zurückgetretenen Baron de Coubertin und seines Nachfolgers in dieser Funktion, des Belgiers Graf de Bail-let-Latour, und den Erlebnisbericht eines deutschen Teilnehmers an den Winterspielen in St. Moritz, Erich Recknagel. Der erfolg-reiche Skispringer gehörte später zu den Pionieren der demokra-tischen Sportbewegung in der DDR und fungierte viele Jahre als Internationaler Skikampfrichter.
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DIE SCHWEIZ
UND DIE OLYMPISCHE BEWEGUNG
Von PIERRE DE COUBERTIN (1863 – 1937)
Meine Freunde vom Schweiz. Olympischen Komitee wün-schen ein Vorwort für ihr Album von mir. Ich kann ihnen sagen, daß für mich das Bedauern darüber, den IX. Olympischen Spie-len nicht selbst beiwohnen zu können, durch die Feststellung der Solidität des Werkes, das ich nach 30-jähriger Arbeit in die Hän-de meiner Nachfolger legen durfte und dessen Grundsätze längst die freudige Zustimmung der Völker erfahren haben, be-deutend gemildert wurde.
Nun läßt sich nicht leugnen, daß die Schweiz an der Errei-chung des Zieles, das mir bei der Schöpfung der modernen olympischen Spiele vorschwebte, in hohem Maße beteiligt war. Sie hat mir zuerst das endgültige, stabile Aktionszentrum gelie-fert. Ich darf heute mit ruhigem Gewissen sagen, daß ich dem modernen Olympismus eine würdige Hauptstadt gegeben habe, als ich seinerzeit Lausanne zum Zentrum der olympischen Tätig-keit machte. Kann man sich übrigens die Schweiz ohne ihre Turner und Skifahrer vorstellen? ... Deshalb hat es mich auch mit aufrichtiger Freude erfüllt, als im Amsterdamer Stadion drei Schweizer Flaggen zugleich hochgingen, die einen dreifachen und eklatanten Sieg verkündeten. Übrigens stellte das Ereignis bloß die gerechte Belohnung für die unermüdliche Arbeit dar, welche die turnerische Jugend dieses Landes im Dienste der Körperkultur leistet, um die Achtung vor den sportlichen Tugen-den, als da sind Kraft, Gewandtheit und Selbstdisziplin zu erhö-hen. Was die olympischen Winterspiele von St. Moritz anbetrifft, deren organisatorische Leitung sich gegen die unerwarteten Ma-licen der ungewöhnlich hohen Temperatur durchzusetzen wußte,
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so stellten sie die Wintersports resolut in den Rahmen der olym-pischen Spiele. Man hat seit 1894 an diese Möglichkeit gedacht und sie von 1908 ab auch teilweise verwirklicht. Warum auch nicht? Ist der Gipfel des Olymp nicht auch von Schnee bedeckt?
Es gibt noch einen Umstand, den ich nicht mit Schweigen übergehen darf. Dreimal hintereinander, in Antwerpen, Paris, Amsterdam, hat die Schweizer Kolonie das richtige Maß für die unter solchen Umständen nötige Verbindung von patriotischem Eifer und dem für eine Einrichtung von der Wahrung der interna-tionalen olympischen Spiele unentbehrlichen Weltgeist bewie-sen. Dreimal hintereinander wurde die Augustfeier während den Spielen in einer Art und Weise gefeiert, die geeignet war, der Welt zu gleicher Zeit die Kraft und weise Mäßigung des nationa-len Gefühls der Schweizer vor Augen zu führen. Wie nützlich ist dieses von der ältesten Demokratie der Welt gegebene Beispiel in einer Zeit, wo das Gleichgewicht in der idealen Denkweise empfindlich gestört ist, wo man unter dem Regiment entfesselter Leidenschaften lebt und den Beifall nicht immer nach Gerechtig-keit verteilen, die Leistungen des Gegners nicht immer nach Verdienst zu werten weiß! Alles das wird in den olympischen Annalen verzeichnet bleiben. Wir empfinden Dankbarkeit dafür, und ich benütze die Gelegenheit gerne, um hier meine besten Wünsche für den Erfolg eines Werkes zu formulieren, das sich seiner Vorläufer als würdig erweisen wird; denn auch auf diesem Boden haben sich schweizerische Qualität und Ausdauer durch-gesetzt. Die über die früheren olympischen Spiele veröffentlich-ten Erinnerungswerke zählen zu jenen Dokumenten, über die jede Sportbibliothek verfügen muß. Zürich und Lausanne arbei-ten so, durch die gleichen Ideale angeregt, die während vielen Jahrhunderten das Reich des antiken Olympismus beherrschten, einträchtiglich an der Verewigung des Andenkens an die verflos-senen olympischen Spiele zusammen.
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AMSTERDAMER LEHREN
Von HENRI DE BAILLET-LATOUR (1876 – 1942)
Die IX. Olympischen Spiele dürften – genau wie diejenigen des Jahres 1912 – auch die größten Pessimisten von dem un-geheuren Prestige überzeugt haben, das die Spiele in der gan-zen Welt genießen. Sie dürften bewiesen haben, daß der feste Wille der Athleten, an den Spielen teilzunehmen, genügt, um ihnen den Erfolg zu sichern.
Wie die Stockholmer Spiele durch eine große Zahl von Zu-schauern besucht und durch die Begeisterung gefördert, von der sie in den zu ihrer Durchführung auserwählten Ländern getragen wurden, müssen die Spiele von St. Moritz und Amsterdam auf die sportliche Entwicklung in der Schweiz und in Amsterdam ei-nen ganz vortrefflichen Einfluß ausgeübt haben.
Ausgezeichnet organisiert, wickelten sie sich in einer Atmo-sphäre des Friedens und der herzlichen Freundschaft ab, was Zeugnis ablegte von den Fortschritten, welche die vorausgegan-genen Spiele im Hinblick auf die Erziehung zu sportlichem Den-ken und zur Kameradschaft vermittelten.
Indessen hat auch hier die Medaille ihre Kehrseite.
Die große Gunst, deren sich die olympischen Spiele in der Öf-fentlichkeit erfreuen, gestaltet die Aufgabe schwierig, dem Wer-ke den Charakter der Ehrlichkeit und Ritterlichkeit zu wahren, den ihm sein Gründer verlieh.
Wenn auf der einen Seite das Bestreben vorherrschen muß, die gesunde Rivalität unter Völkern zu erhalten, damit der Wert der olympischen Spiele eine weitere Steigerung erfährt, sollte auf der anderen Seite verhindert werden, daß der Wunsch, an den Spielen möglichst große Erfolge davonzutragen, in den vier zwischen den Olympiaden liegenden Jahren die ganze Energie
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auf die Züchtung von Meistern ablenkt, so zwar, daß der Ver-such aufgegeben wird, die ganze Nation moralisch und physisch aus der rationellen Pflege der Leibesübungen Vorteile ziehen zu lassen.
Man muß auch nicht außer Acht lassen, daß die olympische Medaille in den Augen von Athleten, die von den fortgesetzten Beifallskundgebungen ihrer Anhänger berauscht sind, geringe-ren Wert besitzt als in der Ansicht von Wettkämpfern, die aus reiner Liebe zum Sport während ihrer Mußestunden auf den Spielplätzen, in den Schwimmbassins, in den Fechtsälen und auf anderen Übungsfeldern ihrem Lieblingssport huldigen. Um dafür zu sorgen, daß die Entwicklung auf diesem Wege weiter-führt, braucht man keine Neuschöpfung zu machen; es genügt, wenn alle Sorgfalt darauf verwendet wird, die sportlichen Lehren und die Prinzipien Pierre de Coubertins zu propagieren, indem man sie der modernen Zeit anpaßt und indem man den durch den Krieg herbeigeführten Umwälzungen gebührend Rechnung trägt. Man muß auch gegen die überbordende Begeisterung der Massen ankämpfen, die natürlich eine Vorliebe fürs Schauspiel haben, und darf deshalb die Erziehung der Zuschauer nicht ver-nachlässigen, die im sportlichen Geist erzogen werden müssen, so zwar, daß sie ihre Anerkennungsäußerungen nicht bloß für ihre Landsleute reservieren, sondern der besten Leistung Beifall zollen lernen.
Die große Volkstümlichkeit der Spiele erlaubt es ihren Ver-fechtern, streng zu sein, selbst auf die Gefahr hin, daß sich De-sertionen ereignen. Die Hüter des olympischen Feuers dürfen auf den Beistand einer genügenden Zahl wahrer Sportsleute an allen vier Ecken der Welt zählen, um die kommenden Spiele un-ter Beteiligung der Blüte der sportlichen Jugend würdig feiern zu können, wo es auch immer sei.
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WIE WIR NACH ST. MORITZ REISTEN
Von ERICH RECKNAGEL (1904 – 1973)
Im Trainingslager waren wir in Oberstaufen in einem Gast-haus untergebracht, wo es sehr kalt war. Um uns aufzuwärmen, liefen wir abends Schlittschuh. Kurz vor Weihnachten fiel etwas Schnee, sodaß wir die kleine Sprungschanze in der Nähe benut-zen konnten. Über Weihnachten erhielten wir bis 5. Januar Ur-laub und durften – auf eigene Kosten – nach Hause fahren. Ich zog es vor zu bleiben und hatte dadurch Gelegenheit weiter auf der Schanze zu trainieren. So gab es zu Beispiel zwischen Weihnachten und Neujahr in Oberstaufen und Umgebung einige Wettkämpfe, von denen ich zwei gewinnen konnte.
Das Training in stand ab Januar 1928 unter der Leitung von Trainer „Hailer“, der früher auch ein aktiver Sprinter - und auch aktiver Springer gewesen war.
Noch vor der Abreise nach St. Moritz fanden einige Wertungs-Wettkämpfe statt und danach mussten einige Aktive, die nicht die geforderte Leistung gebracht hatten, die Heimreise antreten.
Da ich beim letzten Springen gestürzt war, wäre ich beinahe auch noch um meine Chance gekommen. Man gestattete mir einen Sprung außer Konkurrenz und da übertraf ich alle anderen um fünf Meter und wurde deshalb in die Olympia-Mannschaft aufgenommen, worüber ich natürlich glücklich war.
Die Abreise von Oberstaufen nach St. Moritz wurde am Bahnhof mit Pauken und Trompeten gefeiert. Wir fuhren 3. Klas-se und hatten vorher die Olympiaausrüstung erhalten: 1 Wind-bluse,1 Springerhose, 1 Knickerbockerhose, 1 Springer-Pullover, 1 Repräsentation-Pullover und 1 Springermütze (Sturzkappe).
An Skimaterial erhielten wir ein paar norwegische Sprungski aus Hickoryholz, weich mit drei Rillen und drei Tuben Paraffin.
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Delegations-Leiter war Albert Ganzenmüller vom Skiverband und dazu kam ein Sportlehrer, der gleichzeitig als Masseur ein-gesetzt wurde.
Unser Olympiaquartier war das Hotel „Engadin“ in Pontresina, etwa acht Kilometer von St. Moritz entfernt. Dort waren jeweils zwei Aktive in einem Zimmer untergebracht. Ich wohnte mit Max Kröckel aus Neuhaus zusammen. Vor dem Frühstück mußten wir zehn Minuten Gymnastik absolvieren. Dann ging es zu einer Schanze, die auf halbem Wege zwischen Pontresina und St. Moritz stand und auf der das Training stattfand. Das Problem war, daß es eine schwer zu springende Schanze war, weil der kleine Schanzenturm direkt am Aufsprunghang stand. Bei vielen Sprüngen brachen die Skispitzen weg. Die Weiten betrugen um die 35 und 40 Meter.
Acht Tage nach unserer Ankunft fand dann ein Sprunglauf auf der großen Bernina-Schanze in Pontresina statt, an der die meisten zu Olympia angereisten Mannschaften teilnahmen. Ich gewann das Springen mit Weiten von 66 Meter und 63 Meter und einen Wanderpreis und ein silbernes Essbesteck. (Diesen Wanderpreis habe ich übrigens ein Jahr später mit Erfolg vertei-digt, wobei ich mit 74 Metern die größte bis dahin in der Welt er-zielte Weite erreichte!)
Nach diesem Sprunglauf in Pontresina setzten wir unser Trai-ning in St. Moritz fort, in dem wir jeden Tag mit geschulterten Skiern den Weg in den Olympiaort zurücklegten. Einmal trafen wir an der Schanze ein und fanden sie durch eine Kette ver-sperrt. Es war Neuschnee gefallen und es fand sich niemand, der ihn wegräumte. Ich hatte mit Kröckel zusammen den Weg zurückgelegt und wollte nicht unverrichteter Dinge heimkehren. Ich öffnete die Kette, stieg die Schanze hinauf und sprang, und dieses Wagnis sollte mir zum Verhängnis werden. Ich stürzte auf
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dem stumpfen Hang und zog mir schwere Prellungen zu. Drei Tage lag ich im Bett.
Acht Tage vor der Eröffnung der Spiele kam es zu einem Wet-terumsturz und Training war auf der Olympia-Schanze gar nicht mehr möglich. Die Anlage war zu einer Eisbahn geworden. Die Gastgeber mobilisierten zahllose Freiwillige, die Schnee von den Bergen heranschafften. Dann wandelte sich das Wetter wieder über Nacht und so konnte ein Tag vor der Entscheidung wieder trainiert werden.
Auch die Olympia-Schanze hatte nur einen höchstens fünf Meter hohen Anlaufturm und war schwer zu springen. Immerhin wurden an jenem Trainingstag bis zu 64 Meter erreicht.
Schon damals zogen alle Teilnehmer zur Eröffnung der Spiele ins Stadion ein. Wir Skispringer trugen dicke Pullover, eine Oh-renmütze und hatten die Skier geschultert. Der Schweizer Bun-despräsident Schulthess eröffnete die Spiele auf einem simplen Holzgerüst, das man in der Mitte des Stadions gezimmert hatte. Höchster Gast war der Prinzgemahl der niederländischen Köni-gin.
Interessant war, daß man mit Hilfe von Sponsoren zum ersten Mal in der Geschichte der Spiele ein sportärztliches Zentrum eingerichtet hatte, in dem jeder Teilnehmer vor dem Start gründ-lich untersucht wurde. Dafür hatte man sogar eine Röntgenanla-ge und einen Elektrokardiographen installiert. Die Ergebnisse der Untersuchungen dürften die ersten fundamentalen Erkennt-nisse der Sportmedizin gewesen sein. Sie wurden – dank der Finanzierung durch eine Bergbahngesellschaft – sogar gedruckt.
Am nächsten Tag fiel die Entscheidung. Von jeder Nation wa-ren vier Springer zugelassen. Die Norweger beherrschten die Szene. Ulf Andersen erreichte schon im ersten Durchgang 60 Meter und ging dadurch an die Spitze. Sein größter Rivale Thule Thams schaffte die gleiche Weite. Im zweiten Durchgang kam er
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bis auf 72 Meter, stürzte dann aber schwer. So kam Sigmund Ruud auf den zweiten Rang.
Ich hatte – nach der Weisung des bayerischen Trainers – meine Skier völlig verwachst, landete bei 49 Metern und vergab damit alle Chancen. Ich holte die Ersatzskier, die ich noch mit-genommen hatte und wachste die nach meinem Gutdünken. Dann stieg ich wieder hinauf und schaffte die drittgrößte Weite des zweiten Durchgangs: 62 m. Ich ärgerte mich die Platze, denn wenn ich im ersten Sprung nur 57 m geschafft hätte, wäre mir eine Medaille sicher gewesen. So mußte ich mich mit dem elften Rang abfinden. Martin Neuner war mit 50 m und 57 m auf den neunten Platz gekommen. Die Siegerehrung für alle Diszip-linen fand am Abschlußtag der Spiele nach dem letzten Eisho-ckeyspiel – Kanada bezwang die Schweiz mit 13:0 – statt.
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GESCHICHTE DES WINTERSPORTS
IN BROTTERODE
Von ROBERT SCHMALWASSER(†)
2005 hatte Brotterode den hundertsten Jahrestag der Grün-dung des Wintersports gebührend gefeiert. Es war auch eine Festschrift „100 Jahre Wintersport“ erschienen. In den Archiven fanden wir eine von Robert Schmalwasser herausgegebene Festschrift, die 1965 zum 60. Jahrestag erschienen war und hiel-ten einige Passagen für zitierenswert.
Am 14. Februar 1905 wurde in Brotterode ein Verein zur För-derung des Wintersports gegründet. Die Initiatoren, unter ihnen der Arzt Dr. med. Mansfeld, folgten damit einer Aufforderung des am 23. Januar gegründeten Thüringer Wintersport-Verbandes, dem sich der Brotteroder Verein als Ortsgruppe anschloß. Am Gründungstag versammelten sich die Sportbegeisterten – mehr aber noch die Schaulustigen – auf der Festwiese am Seimberg. Zwei Norweger bauten einen behelfsmäßig hergerichteten Sprunghügel und zeigten die ersten Sprünge. Die Weiten lagen zwischen 12 - 18 Metern.
Der weiße Sport fand schnell seine Anhänger. In kleinen Ver-anstaltungen wurden die wenigen Groschen eingebracht, um den ersten Holzhügel auszubauen. Am 6. Januar 1907 hob man das erste große Wintersportfest aus der Taufe. Unter Leitung des Oberleutnants Orre aus Drontheim (Norwegen) traten über 100 Skiläufer und Rodler zu den ersten Wettkämpfen in Brotterode an.
Jahrzehntelang bezeichneten die hiesigen Einwohner den ehemaligen königlichen Landrat Dr. Hagen als Förderer des Wintersports. Die Sprungschanze am Seimberg und ein zentra-
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ler Platz im Ort trugen seinen Namen. Die Chronisten wissen sogar zu berichten, daß der „wohltätige“ Landrat dem Winter-sportverein ein paar Dutzend Schneeschuhe schenkte. Die his-torische Wahrheit sagt etwas Anderes aus.
Es ist Tatsache, daß 1909 auf Verfügung des Landrats Hagen in Brotterode und in anderen Orten des Kreises Schmalkalden sogenannte Jünglings-Wintersportmannschaften entstanden. In Brotterode gab es davon zwei Knabenmannschaften, die sich aus Schülern der gewerblichen Fortbildungsschule konstituier-ten. Jede Mannschaft bestand aus zwölf Jugendlichen, sie wur-den „Inselberg“ und „Glückauf“ genannt.
Es ist auch Tatsache, daß in den folgenden Jahren staatliche Wintersportkurse unter Leitung des Norwegers Wiborg Thune aus Christiana abgehalten wurden. Der eigentliche Zweck dieser „Förderungsmaßnahmen“ blieb bis 1914 das Geheimnis des Landrats.
Die dritte Tatsache ist die wichtigste für unsere historische Betrachtung: Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges hatte Land-rat Hagen nichts Eiligeres zu tun, als seine Jünglingsmannschaf-ten in die Jugendwehr umzuwandeln. Innerhalb weniger Tage standen im Kreis Schmalkalden 14 Kompanien mit 1400 Jugend-lichen als Kanonenfutter bereit. Die Brotteroder Kompanie führte den Namen „Glückauf“. Ihr Bestand rekrutierte sich aus dem hie-sigen Wintersportverein. Die Jugendwehr zog in den Krieg. Und einhundert junge Männer kehrten nie wieder in ihre Heimat zu-rück. Viele der Gefallenen waren Mitglieder des Vereins zur För-derung des Wintersports gewesen.
Wenn es ein Mann verdient hat, als echter Förderer des Win-tersports in dieser ersten Etappe genannt zu werden, dann ist das Dr. med. Mansfeld. Sein Wirken als langjähriger Vorsitzen-der des Vereins ist auch unmittelbar mit dem Neuaufbau des Or-tes nach dem großen Brande verbunden. Er hat Brotterode in
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der Sportwelt bekannt gemacht und dem idealen Wintersportge-lände Zuzug verschafft.
Die Älteren unter uns kennen noch die Namen der bekanntes-ten Thüringer Sprungläufer dieser Zeit: Karl Böhm-Hennes aus Ernstthal, Otto Wagner, Oskar Nickel aus Brotterode und andere zeigten dem sportbegeisterten Publikum, das aus allen Kreisen Thüringens zusammenkam, die ersten 35-m-Sprünge.
Im Jahre 1922 stellte der Kreis Schmalkalden 20.000 Mark zum Ausbau der Sprungschanze am Seimberg zur Verfügung. Dabei fand ein Teil der arbeitslosen Männer vorübergehend Ar-beit. 4.000 bis 5.000 Kubikmeter Erde wurden bewegt. Im Win-tersportjahr 1924/25 - nach langer Pause - wurden zum ersten Male in Brotterode die Thüringer Meisterschaften ausgetragen. Max Kröckel aus Neuhaus und der Brotteroder Rudolf Lesser erreichten auf der Hagenschanze Weiten bis zu 45 Metern.
1930 wurde die Hagenschanze zur Großschanze umgebaut. Zum erstenmal fand ein Länderspringen mit internationaler Be-setzung vor 15.000 Zuschauern statt. Die Thüringer Springer Rudolf Lesser, Oskar Fuchs, Erich Recknagel und andere stell-ten ihr Können unter Beweis und rückten zur nationalen Klasse auf. Zu den bekanntesten internationalen Startern zählten da-mals die Norweger Morwinkel und Koberstand sowie die Öster-reicher Blumel und Gumpold. In den dreißiger Jahren stand Brotterode mit seinem Nachwuchs mit an der Spitze der leis-tungsstarken Wintersportler.
Leider trübte der faschistische Raubkrieg dann erneut viele Hoffnungen. Die besten einheimischen Springer, Albin Fuchs, Oskar Fuchs, Herbert Nickel, Bubi Teubner (mit zwölf Jahren schon unter den Sprungläufern auf dem großen Bakken), Emil und Oskar Münch, Heinz Clemen, Karl Engel, um nur einige zu nennen, kehrten aus dem Krieg nicht zurück.
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Erst 1946 konnte mit dem Neuaufbau der Wintersportgemein-schaft begonnen werden. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Sports, die Entwicklung zur breiten Volkssportbewegung begann. Durch Unterstützung unserer Regierung wurden Investi-tionsbeträge zum Ausbau der Sportanlagen bewilligt. Über 300.000 MDN waren notwendig, um die Inselbergschanze zu einer der größten und schneesichersten Sprungschanzen der DDR auszubauen. Die Werktätigen der Brotteroder Betriebe leis-teten in vielen freiwilligen Arbeitsstunden Vorbildliches. Ca. 2.000 cbm Erdmassen wurden bewegt. Eine besondere Hilfe gaben die Funktionäre der IG Metallurgie und das Ministerium für Bergbau und Hüttenwesen. Bei der natürlichen Höhenlage zwischen 700 und 800 Metern über dem Meeresspiegel kommt es bei normalen Witterungsverhältnissen in den Wintermonaten kaum vor, daß Veranstaltungen wegen Schneemangels abge-sagt werden müssen. Nach dem Umbau der Schanze liegt der kritische Punkt bei 80 Metern. Die Aufsprungbahn gestattet Sprünge bis zu 90 Metern. Der gesamte Höhenunterschied der Anlage beträgt 118 Meter. Heute ist die Inselbergschanze nach den Schanzen im Kanzlersgrund (bei Oberschönau) und Klin-genthal die drittgrößte Anlage unserer Republik.
Zur Förderung des talentierten Nachwuchses erhielt die Insel-bergschanze ihre zwei „Kinder“, die Pionier- und die Jugend-schanze sowie am Seimberg eine mit Kunststoffmatten belegte Schülerschanze, die den Namen „Oskar-Fuchs-Schanze“ trägt.
Aus den bescheidenen Anfängen wurde eine wissenschaftli-che Trainingsstätte. Erfahrene Trainer entwickeln Weltmeister-schafts- und Olympia-Teilnehmer und sichern den Kadernach-wuchs unserer Nationalmannschaft. International anerkannte Skispringer wie Werner Lesser, Dieter Bokeloh, Dieter Neuen-dorf, Kurt Schramm, Alfred Lesser sind aus dieser Spezialsprin-gerschule hervorgegangen.
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Ein Sohn unserer Bergstadt, Werner Lesser, neben Hugo Pe-ter heute Trainer des ASK „Vorwärts“, zählt zu den ersten Spezi-alspringern, die unserer Republik internationales Ansehen ver-schafften.
Als erste Betriebssportgemeinschaft richtete die BSG „Stahl“ Brotterode im Jahre 1957 die VIII. Deutschen Wintersportmeis-terschaften in den nordischen Disziplinen aus. Auch die Schüler und Pioniere sowie die Jugend des Kreises Schmalkalden und des Bezirkes Suhl sowie die Angehörigen unserer Nationalen Volksarmee kämpften im Wintersportgebiet Brotterode schon oft um Meistertitel.
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OLYMPISCHE “ERINNERUNGS”-TABELLE
1972 gehörte die “internationale sportkorrespondenz” (isk) zu den führenden Sportnachrichtenagenturen Europas. Heute be-schränkt sie sich auf das Management großer Veranstaltungen. Umso reizvoller ein Blick zurück in das Jahr 1972 – Jahr der Olympischen Sommerspiele München – und eine Nachricht der isk vom 12.9.72:
DDR ist Sportland Nummer 1
Zwar stehen die Supermächte UdSSR und USA in der Zahl ihrer Winter- und Sommersportmedaillen mit 115 bzw. 101 klar an der Spitze, aber im Verhältnis zur Zahl ihrer Bevölkerung nehmen sie nur den 19. bzw. 20. Platz ein. Als Sportland Num-mer 1 muss man die DDR bezeichnen, die bei einer Bevölkerung von etwa 17 Millionen 79 Medaillen gewonnen hat. Die Bemü-hungen der Ostdeutschen, den Breiten- und Spitzensport gleich-ermaßen zu fördern, wirken sich jetzt aus. Schon auf 225.000 Einwohner kommt in der DDR eine olympische Medaille. Be-kanntlich standen die Wintersportler aus Ostdeutschland auch in Sapporo mit 14 Medaillen schon mit an der Spitze.
Norwegen schneidet in der relativen Medaillen-Wertung, die von der isk seit langem vorgenommen wird und vom IOC-Präsidenten Avery Brundage im Gegensatz zu den sonstigen Nationenwertungen als „sinnvoll“ bezeichnet wurde, wie immer gut ab. Kamen vor vier Jahren in Grenoble/Mexiko auf 235.000 Norsker eine Medaille, so sind es jetzt wieder 234.000. Ähnlich gut ist die Relation für Ungarn mit 285.000 Einwohnern pro Me-daille.
Die Sowjetrussen und Amerikaner brauchen bei ihrem gewal-
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keinen allzu großen Jubel auszubrechen, die Anstrengungen kleiner Nationen, beispielsweise auch der Finnen, Schweden, Bulgaren und Schweizer, sind höher einzustufen.
Eine Medaille auf Einwohner
1. DDR 225.000
2. Norwegen 234.000
3. Ungarn 285.000
4. Finnland 346.000
5. Schweden 370.000
6. Bulgarien 392.000
7. Schweiz 461.070
8. Australien 621.000
9. Neuseeland 860.000
10. Holland 900.000
11. Österreich 910.000
12. Kuba 953.000
13. Rumänien 1.260.000
14. BRD 1.260.000
15. CSSR 1.424.000
16. Polen 1.430.000
17. Kenia 1.550.000
18. Jamaika 1.840.000
19. USA 1.950.000
20. UdSSR 2.270.000
21. Italien 2.340.000
22. KVDR 2.400.000
23. Libanon 2.400.000
24. Kanada 3.330.000
25. Nigeria 3.430.000
26. Großbritannien 3.500.000
27. Uganda 3.800.000
28. Frankreich 3.800.000
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29.Japan 3.930.000
30. Jugoslawien 3.930.000
31. Dänemark 4.200.000
32. Griechenland 4.200.000
33. Belgien 4.750.000
34. Mongolei 5.500.000
35. Kolumbien 6.000.000
36. Ghana 7.950.000
37. Iran 8.560.000
38. Spanien 10.600.000
39. Äthiopien 11.509.000
40. Argentinien 22.600.000
41. Südkorea 29.000.000
42. Türkei 32.000.000
43. Brasilien 42.100.000
44. Mexiko 44.000.000
45. Nigeria 57.000.000
46. Pakistan 85.000.000
47. Indien 500.000.000
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JAHRESHAUPTVERSAMMLUNG 2010
Am 10. September und am 28. September 2010 fanden in Berlin und Leipzig die Jahreshauptversammlungen des Vereins Sport und Gesellschaft statt, die von Präsident Hasso Hettrich geleitet wurden. Der Vorstand war vom früheren DTSB-Vizepräsidenten Thomas Köhler gebeten worden, als Gast an den Veranstaltungen teilzunehmen und aus seiner Biographie „Zwei Seiten der Medaille“ zu lesen. Daraufhin beauftragte man den Sprecher des Vorstands Klaus Huhn, das Thema „20 Jahre deutsche Sporteinheit“ in einem Kurzvortrag zu behandeln und den zweiten Teil der Versammlung für Thomas Köhlers Lesung zur Verfügung zu stellen. Hier zunächst der Vortrag von Klaus Huhn:
ZWANZIG JAHRE SPORTEINHEIT?
Angekündigt worden war, dass ich zur deutschen Sporteinheit reden würde, doch erwies sich, dass damit zu rechnen war, die Sonne könnte untergehen, wenn ich das Thema gründlich be-handele. Zudem: Jeder hier im Saal weiß mindestens so viel über die sogenannte Sporteinheit wie ich.
Also beschränke ich mich auf einige die Situation illustrieren-de Geschehnisse der jüngsten Zeit, die ich als Journalist behan-delt hatte.
Zum Beispiel meldete die „Berliner Zeitung“ vor einigen Ta-gen: „»In Kienbaum, etwa 40 Kilometer östlich von Berlin, herrschte Sicherheitsstufe eins.« Terroristen? Nein, die Kanzle-rin!“
Kienbaum? Jeder in der Runde weiß, worum es geht! Nun al-so erschien die Kanzlerin dort, besuchte ein Athleten-
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Sommerfest und – das war der Gipfel – verlieh Kienbaum den Preis „Gelebte Einheit“. Möglicherweise hatte man im Bundes-kanzleramt (Personalmangel überall) die Akten nicht gewissen-haft genug studiert, sonst wäre man auf den „Rheinischen Mer-kur – Christ und Welt“ vom 23. Februar 1990 gestoßen. Titel: „»Zeit der Enthüllungen und der Verschleierungen im DDR-Sport« - Kienbaum. Dreihundert Einwohner. Vierzig Kilometer von Ost-Berlin entfernt. Dort, wo sich die Füchse gute Nacht sa-gen, befindet sich ein unscheinbarer Erdhügel. … Diese Kam-mern gelten als Urpfand der DDR-Erfolge im internationalen Hochleistungssport.“
Laut „taz“ (18.8.2009) geschah inzwischen sogar folgendes: „»Ich muss jetzt eine Dankesrede an das ZK der SED halten, dass man dieses Trainingszentrum hier gebaut hat.« Jürgen Mallow, ein Westtrainer, sagt das, ohne eine Miene zu verzie-hen. … Sebastian Bayer, der deutsche Wunderweitspringer macht ein paar Sätze in die Grube. Schautraining. So etwas hat-te es zu DDR-Trainingszeiten nicht gegeben.“
Aber Irrtum! Als Finnlands Staatspräsident Urho Kekkonen 1977 die DDR besuchte, bestand er auf einem Kienbaum-Besuch – inklusive Schautraining!
Nun kam also Angela, brachte einen Preis mit und sang Lo-beshymnen, erwähnte allerdings weder das ZK der SED noch Hanns Eisler und Johannes R. Becher, die in Kienbaum die DDR-Hymne komponiert und getextet hatten. Und sie stieg auch nicht in die neue „Kammer“ hinab, in der sich die Athleten bei 110 Grad minus schneller „erholen“ können sollen. Um noch mehr Gold für Deutschland zu holen.
Fehlte doch noch die „Stasi“.
Der schon erwähnte Reporter der „Berliner Zeitung“ monierte: „Der Mann vom BKA möchte zum Beispiel wissen, was sich in diesem Notizbuch befindet. Der knappen Antwort (»Wahrschein-
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lich Notizen?«) scheinen die Taschenkontrolleure zu misstrauen. Sie fühlen lieber noch mal selbst nach und ja, tatsächlich zur Be-ruhigung ihres kriminalistischen Spürsinns finden sie einen blau-en Kugelschreiber – doch der will selbst nach mehrmaligem Kli-cken einfach nicht explodieren. Weitergehen!“
So beschrieb der Reporter die „Gelebte Einheit“.
Ich war etwa 234 mal im Leben in Kienbaum – auch mit Kek-konen –, mein Kugelschreiber war nie kontrolliert worden. Schlampige DDR!
Die „junge Welt“ hatte sich mit einem Thema befasst, dass weit weniger lustig war, als „Angis“ Kienbaum-Party.
Irgendwann im Januar des Olympiajahres 2010 hatte Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbun-des (DOSB), also der ranghöchste beamtete Repräsentant des deutschen Sports davon geredet, dass die bundesdeutsche Mannschaft auch nach Vancouver reise, um dort Platz eins in der „ewigen Medaillenwertung“ zu erkämpfen. Noch einmal: Nicht irgendein Statistiker hatte dieses Ziel ins Visier genommen, sondern der Generaldirektor des DOSB. Am 16. Februar 2010 hatte der Deutschlandfunk ein Interview mit Vesper ausgestrahlt, in dem ihm die Frage gestellt worden war: „Selbst über die Füh-rung im ewigen Medaillenspiegel, der seit den ersten Winterspie-len 1924 in Chamonix geführt wird, wurde schon spekuliert.“ Vesper hatte geantwortet: „Der ewige Medaillenspiegel seit den ersten Winterspielen 1924 hat natürlich eine begrenzte Aussa-gekraft, das weiß ich auch. Aber es ist so, dass Russland da im Moment vorne liegt und deutsche Olympiamannschaften in die-ser Zeit zwei Goldmedaillen weniger geholt haben. Das war eine Nebenbemerkung, die ich gemacht habe.“
Nebenbemerkung?
Im offiziellen Bericht des Bundestages über die Tagung des
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Sportausschusses am 21. April konnte man lesen: „In der ewi-gen Medaillenliste der Olympischen Winterspiele liege Deutsch-land … auf Platz eins, sagte DOSB-Leistungssportdirektor Ulf Tippelt.“ Und dann konnte man diesem Report auch entnehmen: „Vertreter aller Fraktionen beglückwünschten die Athleten zu den gezeigten Leistungen.“
Etwa zum Platz eins in der „ewigen Medaillenliste“.
Der von Vesper – offensichtlich mit Billigung seines Präsiden-ten Thomas Bach – ins Spiel gebrachte erste Rang in einer „ewigen“ Liste geht davon aus, dass man die Goldmedaillen der in der Periode der Weimarer Republik, der Nazizeit, der BRD-Periode, der DDR-Zeit und der Neu-BRD-Ära schlichtweg addiert – eine Variante, die nicht nur von Historikern in Frage gestellt werden dürfte.
Die „Berliner Zeitung“ (18.2.2010) hatte diesem hochpoliti-schen Medaillenpoker einen bemerkenswerten Kommentar ge-widmet: „Wenn man der allgemeinen Nachrichtenlage glauben darf, dann hat die goldblonde Magdalena Neuner am Dienstag-abend mitteleuropäischer Zeit einen historischen Sieg herausge-laufen und herbeigeschossen. Mit ihrer Medaille im Biathlon-Verfolgungsrennen, so die Nachrichtenlage weiter, hat Deutsch-land den ersten Platz im ewigen Medaillenspiegel der Olympi-schen Winterspiele übernommen. Ende der Nachrichtenlage, die sich im Übrigen ganz nach der Deutungshoheit des Deutschen Olympischen Sportbundes richtete. Generalsekretär Michael Vesper hatte ja schon vor Beginn der Spiele im Sportausschuss des Bundestages von 118 deutschen Goldmedaillen bei Winter-spielen gesprochen und für Vancouver das Minimalziel ausge-geben, die russischen Spitzenreiter in der ewigen Medaillenbi-lanz (bis dato 121) vom Thron zu stoßen.
So weit, so goldig. jetzt gilt es nur noch zu klären, von wel-chem Deutschland hier eigentlich die Rede ist.
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In Anlehnung an den strammen Patrioten Ernst Moritz Arndt könnte man auch fragen: Was ist des Deutschen Wintersport-land? Beim Nachzählen stellt man dann erschrocken fest: Wenn es um Medaillen geht, ist Deutschland ganz selbstverständlich immer und überall – so weit die deutsche Lunge trägt.
Als ob er das Wort Staatsdoping noch nie gehört hätte, rech-net der DOSB die 39 Olympiasieger der DDR in seine Samm-lung mit ein – darüber kann man noch streiten. Aber wie selbst-verständlich werden bei Neuners `historischem Sieg´ auch die drei Goldplaketten von Nazideutschland mitgezählt, inklusive je-ner des Ski fahrenden SS-Mitglieds Franz Pfnür, mit dem Hitler so gerne auf dem Obersalzberg Sahnetorte löffelte. Wer das für legitim hält, soll streiten, mit wem er will.
Schon klar, der deutsche Sport braucht die Legitimation der Bevölkerung, um seine enormen Unterhaltskosten aus der Staatskasse zu rechtfertigen. Und es ist natürlich auch klar, dass diese Legitimation unmittelbar mit Erfolgen zusammenhängt. Gold ist die Währung der nationalen Identität.“
Natürlich wäre ich auch selber darauf gekommen, aber Kron-zeugen wie die „Berliner Zeitung“ bewahren vor den üblichen Verdächtigungen.
Hier wäre allerdings energischer Widerspruch anzumelden. Wenn die Sportführung der heutigen Bundesrepublik auf die zwischen 1933 und 1945 errungenen Olympischen Medaillen reflektiert – pikanterweise, um ausgerechnet UdSSR/Russland zu übertreffen, um nicht den Begriff „schlagen“ zu benutzen – ist das ihre Sache, wiewohl damit ein ganz neues Kapitel deutscher Geschichtsschreibung aufgeschlagen würde. Wenn diese Füh-rung aber für ihre „Bilanz“ auch die Medaillen des „Unrechts-staats“ DDR einsammeln möchte, um die Russen zu übertrump-fen, sähe sie sich mit der Tatsache konfrontiert, die Olympiasie-ger der DDR – die die Medaillen errungen hatten – nie gefragt zu
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haben, ob sie einverstanden wären, sie für ein das Nazireich einschließendes „Deutschland“ auszugeben?
So betrachtet muss man sowohl die von Tippelt vor dem Sportausschuss des Bundestages wiederholte „Bilanz“, ein-schließlich des Sieges über Russland – ausgerechnet in so zeit-licher Nähe des 65. Jahrestages der Niederschlagung des Fa-schismus durch die UdSSR – als auch einschränkungslose Glückwünsche von Bundestags-Abgeordneten als im höchsten Grade bedenklich bewerten.
So viel zu den Aspekten, unter denen die heutige BRD – nicht die von 1990 – die „Sporteinheit“ bewertet.
Und nun doch noch ein nötiges Wort zum untergegangenen DDR-Sport. Untergegangen sind der DTSB, das NOK der DDR, der Leichtathletikverband, der Schwimmverband und alle ande-ren Verbände. Untergegangen ist die DHfK, die Sportmedizin und vieles andere mehr.
Was aber weiterlebte und im Interesse des Sports hierzulande vor allem weiter tätig war, sind die Tausende von Übungsleitern, Funktionären, Schiedsrichtern, Platzwarten. Denen widmete ich dank der Hilfe unseres Präsidenten Hasso Hettrich folgenden Kommentar in der „jungen Welt“: Siegfried Wallborn hatte nie im Leben einen gut dotierten Vertrag und konnte es sich nicht leis-ten je „amtsmüde“ zu sein. Wer Siegfried Wallborn ist? Einer von den Tausenden, die jedes Wochenende dafür sorgen, dass in Deutschland Fußball gespielt werden kann. Unlängst wurde er mit einer nüchternen Urkunde geehrt und nun gesellt sich die „junge Welt“ zu den Gratulanten, um zu bekunden, dass bei al-lem Respekt vor den Löws und Zwanzigern die Wallborns nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Nein, Wallborn spielte nie in der Bundesliga, nie in der DDR-Oberliga. Geboren im sachsen-anhaltinischen Leiha, begann er 1956 seine Fußballkarriere in
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Gröst, einem rund 500 Einwohner zählenden Dorf und kam dort nie über die 1. Kreisklasse hinaus. 1960 übernahm er das Trai-ning der ersten Männermannschaft – er betreut sie heute noch. Von 1960 bis 1992 fuhr er wöchentlich zweimal mit dem Rad von Leiha nach Gröst, weil er dort inzwischen auch noch ehrenamtli-cher Platzwart war. Seit er 1992 Rentner wurde, fährt er die Strecke täglich und hat – wie ein Bewunderer errechnet hat – als Übungsleiter und Platzwart 32.164 Kilometer zwischen beiden Orten auf dem Rad zurückgelegt. Sein größter Triumph war 1982 der Aufstieg in die erste Kreisklasse, letzte Saison kam seine Mannschaft auf den vierten Rang. Und der Fußballplatz, den er pflegt, behauptet weit und breit Rang eins. Sein früherer BSG-Vorsitzender Hasso Hettrich, gratulierte ihm unlängst zum 50jährigen Trainerjubiläum und erzählte mir davon. Und ich dachte: Das muss man aufschreiben! Um einen der Tausende Namenlosen zu nennen, einen von denen, die dafür sorgten, dass der Sport hierzulande weiterlebte und der vermutlich des-wegen nicht mal einen Sektkorken knallen lassen wird!
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BUCHLESUNG VON
THOMAS KÖHLER
Die am 10. September diesem Vortrag folgende Buchlesung von Thomas Köhler endete mit einem Eklat. Von niemandem eingeladene aber dennoch erschienene Fernsehteams erschie-nen zu der Versammlung und wurden von zwei DDR-„Dopingopfern“ begleitet. Da sich der Vorstand des Vereins wei-gerte die Leipziger Versammlung als „geschlossene Veranstal-tung“ durchzuführen, verzichtete Köhler – in Abstimmung mit dem Präsidenten des Vereins – darauf, teilzunehmen. Der Vor-stand bat Klaus Huhn, die in Leipzig Versammelten über das Geschehen in Berlin zu informieren.
Ex-DTSB-Vizepräsident Thomas Köhler hatte den Verein da-rum gebeten, seine Memoiren „Zwei Seiten einer Medaille“ in jener Versammlung vorstellen zu dürfen. Der Vorstand stimmte zu. Köhler bestellte ausreichend Bücher, die er zum Verkauf an-bot. Anzumerken ist, dass diese Exemplare direkt von der Dru-ckerei geliefert worden waren, der Verlag hatte noch keine erhal-ten.
Anzumerken ist auch, dass die Nachrichtenagentur dpa eine Nachricht über die Veranstaltung verbreitete, die – so interne In-formationen – der frühere junge-Welt-Redakteur Manfred Hönel unter fremdem Namen verbreiten ließ.
Anzumerken ist schließlich, dass zu Beginn der Berliner Ver-anstaltung zwei Fernsehteams und zwei Unbekannte erschienen und eines der Fernsehteams vom Fernseh-„Dopingpapst“ Hajo Seppelt angeführt wurde.
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Thomas Köhler begann mit seiner Lesung. Ich zitiere die aus meiner Sicht gravierenden Passagen, wohlgemerkt Passagen, die Köhler an jenem Tag nicht gelesen hatte.
„Nahezu 30 Jahre engagierte ich mich mit großer Begeiste-rung für das, was man »Sportwunder DDR« nannte. Und da ich den DDR-Sport in all seinen Facetten, als Sportler, als Trainer und als für den Leistungssport verantwortlicher Vizepräsident unserer Sportorganisation erlebt habe, möchte ich mich auch Themen zuwenden, die über meine eigene Entwicklung und die des Schlittensports hinausgehen. So werden der Kufenskandal von Grenoble 1968, die Olympiaboykotte 1980 und 1984, das Förder- und Prämiensystem des DDR-Leistungssports, Gedan-ken über Doping in Ost und West und ein folgenschwerer Be-schluss über die Förderung olympischer Sportarten in diesem Buch Platz finden.
(...)
Ich wende mich mit diesem Buch an alle, die über Jahrzehnte dem DDR-Sport verbunden waren, an die Tausende Ehrenamtli-che, die mit unbeschreiblichem Engagement das Fundament des erfolgreichen DDR-Sports schufen, an die Sportler, Trainer, Funktionäre, Sportmediziner und Sportwissenschaftler, die mit Leidenschaft und Freude, aber auch mit Entbehrungen zum Er-folg und internationalen Ansehen des DDR-Sports beitrugen. Ich wende mich an die heutige Generation der Sportinteressierten, um Antworten auf Fragen über den DDR-Sport zu geben, die bisher nicht ausreichend erklärt wurden oder unbeantwortet blie-ben. Und ich bewahre mir die Hoffnung, dass mit dem DDR-Sport nicht auch noch seine »Helden« und deren Leistungen un-tergehen. Sonst würde dem Weltsport ein Stück seiner jüngsten Geschichte fehlen.
(...)
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Manche sahen nun endlich das Geheimnis des »Sportwun-ders« DDR gelüftet: Die Sportler waren auf das Westgeld scharf. Wenn ich derartige Dinge lese, bedaure ich, dass wir aus unse-rem Stimulierungssystem - auch unter Beachtung der Amateur-bestimmungen - stets ein solches Geheimnis gemacht haben und nicht schon vor Jahren an die Öffentlichkeit getreten sind, um Spekulationen vorzubeugen. Im Grunde genommen war die-ses System die Fortführung des Leistungsprinzips mittels mate-rieller Anerkennung.
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Zu unseren gepflegtesten Geheimnissen gehörte die Zahlung von Valutaprämien. Als in den anderen sozialistischen Ländern außer in Kuba bereits Dollar für sportliche Spitzenleistungen sprudelten, waren wir uns immer noch einig, dass wir angesichts der knappen Devisenlage der DDR auch ohne Valuta-Anreize bestehen können.
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Die Sportler erhielten sogenannte bargeldlose Forumschecks, mit denen sie ausschließlich in den Intershops der DDR einkau-fen konnten. Damit blieben die wertvollen Devisen in der DDR, denn die Produkte für die Intershops wurden in der Regel nach dem Prinzip Ware gegen Ware ertauscht. In den Intershops wurden auch Produkte der DDR angeboten, die, fast ausschließ-lich zum Export ins westliche Ausland vorgesehen, in der DDR kaum erhältlich waren.
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Von einem, der für den Leistungssport in der DDR mitverant-wortlich war, wird erwartet, dass er sich mit dem Thema Doping auseinandersetzt. Die Leser fragen nach der Wahrheit, die in Ost und West gleichermaßen vertuscht wurde und wird.
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Inzwischen ist natürlich bekannt, dass auch in der DDR ge-dopt wurde und die Regeln bewusst gebrochen wurden.
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Warum entschied sich die damalige Sportleitung für den Ein-satz ausgewählter anaboler Substanzen in einer Reihe von Sportarten? Dies hatte einen einfachen Grund. Anfang der 70er Jahre war durch die zunehmende Anwendung von Doping im internationalen Sport die Chancengleichheit für DDR-Sportler nicht mehr gewährleistet. Trotz der ausführlich beschriebenen Vorzüge unseres Auswahl-, Trainings- und Fördersystems konn-ten wir die Nachteile für unsere Sportler, die aus der Verwen-dung pharmakologischer Mittel zur Leistungssteigerung und zur schnelleren Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit nach Be-lastungen entstanden, nicht mehr ausgleichen. Alle Gruppen, Sportler, Trainer, Sportmediziner und Sportwissenschaftler ver-wiesen auf die entstandene Ungleichheit und drängten auf Ent-scheidungen.
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Der Einsatz unterstützender, dem Doping zuzuordnender Mit-tel war ausschließlich für ausgewählte Kadersportler vorgese-hen, die in der Regel erwachsen waren. Ausnahmen bestanden zum Beispiel im Schwimmen, einer Sportart mit einem geringe-ren Höchstleistungsalter, wobei nur Sportler einbezogen wurden, die nach einem mehrjährigen Trainingsprozess zur Leistungs-spitze zählten. Wenn Sportler bereits ab dem 16. Lebensjahr be-teiligt wurden, geschah das vor allem unter Beachtung ihres bio-logischen Reifegrades und in besonderer Verantwortung und Kontrolle ihrer Sportärzte. Inzwischen hat sich gezeigt, dass es Verstöße gegen diese Festlegungen gab.
Eine Anwendung von Doping bei jüngeren Sportlern war grundsätzlich nicht gestattet. … Informationen, die darauf hin-deuteten, dass Anabolika an Spartakiadesportler vergeben wur-
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den, überraschten auch mich. Über derartige Verletzungen un-serer Nachwuchskonzepte hatte ich keine Kenntnisse und hätte diese auch nicht geduldet.
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Im Zeitraum der Aufarbeitung des DDR-Sports wurden befrag-te Sportler schnell in die Kategorie der Opfer eingeordnet, wenn sie beispielsweise aussagten, dass eventuelles Doping ohne ihr Wissen erfolgte, dass sie erst bei den Verhören den Sinn der »blauen Pillen« erklärt bekamen oder dass sie Dopingmittel zwar erhalten, aber nie eingenommen hätten. Man muss das Verhal-ten dieser Sportler nicht gutheißen, kann es aber unter Beach-tung der Folgen, die auf sie zukommen konnten, wenn sie Do-ping gestanden, nachvollziehen.
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Aus heutiger Sicht haben wir Verantwortliche des DDR-Leistungssports in der Dopingproblematik eine Reihe möglicher Konsequenzen nicht genügend bedacht, und nicht alle damali-gen Entscheidungen können ohne Berücksichtigung dieser Um-stände gerechtfertigt werden. Auch haben wir damit verbundene Risiken offensichtlich unterschätzt, wie zum Beispiel die unkon-trollierte Anwendung durch Sportler, die nicht dem festgelegten Kaderkreis angehörten, oder die Einnahme überhöhter Dosie-rungen zum einseitigen Vorteil. Zu meinen Versäumnissen zähle ich, Abweichungen von den festgelegten Prinzipien nicht erkannt bzw. hinterfragt zu haben, um Maßnahmen zu deren Vermei-dung einzuleiten.
Den Medien und einer Reihe von zum Teil selbst ernannten Sporthistorikern kann man nicht absprechen, dass es ihnen zu-nehmend gelingt, die Erfolge der DDR-Sportler durch Verzerrung von Zusammenhängen und Verbreitung von Lügen und Halb-wahrheiten in Zweifel zu ziehen und nahezu ausschließlich auf das »flächendeckende Doping« zu reduzieren, anstatt sich mit
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dem komplex wirkenden System des DDR-Sports ernsthaft zu befassen. Jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass die DDR seit mehr als 20 Jahren passé ist, gedopt aber wird mehr denn je.“
Das also einige Zitate aus dem Buch.
Dass es eine „Steilvorlage“ für alle lieferte, die den 20. Jah-restag der Okkupation nutzen, um die DDR zu delegitimieren, lag auf der Hand.
Die schon erwähnten beiden unbekannten „Gäste“ waren die sogenannten Dopingopfer Trömer und Hoffmeister, die ich aus Zeitgründen hier nicht ausgiebig charakterisieren will. Einge-weihte wissen, dass Trömer wegen seiner Anerkennung als Do-pingopfer und den damit verbundenen Zahlungen auch Ärger mit dem Radsportvizepräsidenten Tschoppe hatte.
Trömer war in dem Begleitbuch zur Ausstellung in Bonn „Wir gegen uns uns – Sport im geteilten Deutschland“ eine Doppel-seite gewidmet worden. Daraus eine Kostprobe über den Erfur-ter Radbahntrainer Zühlke: Frage: „Wenn Sie an Ihren Werde-gang als Leistungssportler in der DDR zurückdenken, welche Erinnerungen kommen Ihnen da zuerst? Trömer: Einmal trainier-ten wir bei strömendem Regen und sind mit unseren Fahrrä-dern über einen Bahnübergang gefahren. Dabei ist mir die Ket-te zwischen die zwei Kettenblätter gesprungen und hing fest. Ich musste anhalten, mein Trainer, Frank Zühlke, kam dazu, ich dachte, er hilft mir – und dann nimmt er mein Rad, wirft es in den Kofferraum, macht die Tür zu und fährt weg, ungefähr 40 Kilometer vor Erfurt. Da stand ich als 15jähriger Bengel, dreckig, nass, in Rennschuhen und in Regenklamotten alleine in der Pampa und habe nur noch hinter dem Trainer herbrüllen kön-nen. Ich bin 15 Kilometer bis nach Arnstadt gelaufen, weil dort die Eltern von einem Zimmerkollegen wohnten, die haben mich spätabends nach Erfurt gebracht. Als ich dann mit Fieber in meinem Internatszimmer lag, zerrt mich Zühlke plötzlich aus
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dem Bett und brüllt mich an, ich solle nicht simulieren.“
Schließlich noch ein Zitat aus der Hamburger „Zeit“ über un-sere Berliner Veranstaltung, auf der – ich wiederhole es – Köhler keine Silbe über Doping gelesen hatte und auch niemand den Inhalt des Buches kennen konnte: „Alle Mittel seien »im Einver-nehmen mit dem Sportler verabreicht« worden, schreibt Thomas Köhler in seinem Buch Zwei Seiten der Medaille. Das ist ge-nauso falsch wie die Behauptung, der DDR-Sport habe nur aus Selbstschutz gehandelt, weil er sich im internationalen Vergleich nicht anders zu helfen wusste, als mit Dopingmitteln nachzuhelfen.
Schließlich war die DDR eine der ersten und größten Anabolika-Nationen. Köhler schreibt auch, die Dopingmittel seien unter strengster Beachtung der ärztlichen Sorgfaltspflicht verabreicht worden. Hunderte Dopingopfer mit schwersten Herz- oder Rücken-leiden, Krebserkrankungen oder missgebildeten Kindern müssen sich von diesen Sätzen verhöhnt vorkommen.
So löst Köhlers Buch Unverständnis, Ärger, Wut aus. Beson-ders bei jenen, die ihn und den DDR-Leistungssport hautnah er-lebt haben. Auch bei Uwe Trömer und Frank Hoffmeister. Die bei-den waren am vergangenen Freitag vor Ort, als Thomas Köhler sein Buch in kleiner Runde in Berlin vorstellte. »Schließlich war es die erste Chance, einem der Verantwortlichen von damals gegen-über zu sitzen«, sagt Trömer, der früher für die Radsport-Nationalmannschaft der DDR fuhr und staatlich anerkanntes Do-pingopfer ist. Nach der Lesung sprach er Köhler auf die Lügen in seinem Buch an. Es kam zum Eklat. »Wir wurden von anderen Zuhörern angeschrien und der Veranstalter hat mir sogar Prügel angedroht«, berichtet Trömer. Die Veranstaltung wurde unterbro-chen und ohne die Dopingopfer fortgesetzt.“
Zu den Tatsachen gehört allerdings auch, dass der Veran-stalter niemanden Prügel anbot oder anbieten musste. Da kei-ne weiteren Wortmeldungen vorlagen, wurde die Veranstaltung
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– wie vorgesehen – beendet und nach einer Pause mit der Jahresversammlung des Vereins fortgesetzt, zu der – wie üb-lich – keine Gäste eingeladen worden waren.
ALS MAN IM FUSSBALL TORE
KAUFTE
Von KLAUS HUHN
Dass nie jemand auf die Idee kam, einen Film über den bei-spiellosen Fußballskandal der Bundesliga zu drehen, könnte daran gelegen haben, dass zuviel prominente Fußballspieler darin verwickelt waren. Man hätte Scharen von Schauspielen aufbieten müssen, bei deren Erscheinen auf der Leinwand die Fußballfans nur gerätselt hätten: Ist das in Wirklichkeit etwa der X oder doch der Y? Und Prozesse wären sicher gewesen, in denen Staranwälte nachgewiesen hätten, dass es sich tat-sächlich um Z gehandelt hatte, was wiederum Z dazu getrie-ben hätte, gegen X oder Y zu klagen. Kurzum: Kein noch so wohlhabender Filmproduzent hätte Aussichten gehabt, solchen Prozess-Marathon zu überstehen. Deshalb entstand nie ein solcher Film und während alle Jahre wieder zum Beispiel die Legende vom angeblichen „Stasi“-Mord an Lutz Eigendorf ex-humiert wird, rührt kaum jemand an dem Maxi-Skandal in des-sen Verlauf Torschüsse und danebengreifende Torhüter zur Dutzendware wurden. Im Sommer 2011 jährt sich der Tag zum vierzigsten Mal, an dem der Präsident des eben abgestiegenen Bundesligaklubs Kickers Offenbach, Horst Gregorio Canellas, zahlreiche Gäste in den Garten seines Hauses in der Rosen-straße in Hausen geladen hatte, um mit ihnen seinen 50. Ge-burtstag zu feiern. Die Gäste kamen in Scharen und ahnungs-los. Der Südfrüchtehändler Canellas – geboren übrigens im
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sächsischen Vogtland – galt als wohlhabend und seine Partys demzufolge als lukrativ.
Dass er für diesen Tag einen Racheakt ersonnen hatte, konnte niemand voraussehen, und dass tags darauf die so an-gesehene Fußball-Bundesliga in den Ruf eines Betrügerver-eins geriet und eine Serie von Skandalprozessen folgte, brach-te die so renommierte Fußballliga um ihren guten Ruf und al-lein der Eifer, den die Medien aufbrachten, um die Affäre so schnell wie möglich in Vergessenheit geraten zu lassen, ver-hinderte, dass sich die mancherorts über Nacht gähnend leer geräumten Tribünen schon bald wieder füllten.
Der „Spiegel“ druckte – beginnend in der Nr. 18/1972 - eine dreiteilige Serie „Boss wir müssen Spiele kaufen“, deren Unter-zeile lautete „Aus den Akten des Horst-Gregorio Cannellas“, was wiederum vielen Medien gestattete, aus diesen in die Öffentlich-keit gelangten Papieren zu zitieren.
So begann diese viele Seiten füllende Serie: „Zur Halbzeit in West-Berlins Olympiastadion eilte der Mittelstürmer von Hertha BSC ans Telephon. Zoltan Varga, eingekeilt zwischen Repor-tern, die ihre Berichte durchgaben, rief seine Frau an, während sich die Mitspieler in einer Kabine mit Zitronenscheiben erfrisch-ten.
»Ist das Geld da?« wollte der Ungar wissen. Die Frau am Ap-parat verneinte. Varga zürnte: »Diese Schweine, sie wollen ohne uns Ausländer kassieren. Aber denen mache ich die Sache ka-putt.« Wütend stürmte er wieder auf das Spielfeld zurück.
Was Varga kaputtmachen wollte, war die bislang größte Schiebung im europäischen Fußball. Für das Bundesligaspiel am 5. Juni 1971 gegen Arminia Bielefeld hatten die vom Abstieg und damit vom finanziellen Ruin bedrohten Gäste jedem Hertha-Spieler rund 15.000 Mark zugesteckt – insgesamt 250.000 Mark.
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Bedingung: Hertha BSC Berlin, seit fast zwei Jahren im Olympi-astadion unbesiegt, sollte das Spiel gegen Bielefeld verlieren.
Um Berlins Star-Stürmer Varga für das Falschspiel zu gewin-nen, hatten die Bielefelder eigens einen Budapester Schulfreund des Hertha-Spielers, den in Bielefeld studierenden Jozef Bartos, als Vermittler nach West-Berlin geschickt. Er bot Varga zusätz-lich 40.000 Mark. Varga akzeptierte, aber er verlangte das Geld vor dem Spiel. Die Bielefelder ließen ihm ausrichten: »Das gibt es erst nach dem Spiel, wie beim Kaufmann.«
So kam es, dass Herthas Fußballsöldner Varga in der zweiten Spielhälfte zu tun beschloss, was die 25.000 Zuschauer ohnehin erwarteten - für Hertha Tore zu schießen und zu siegen. Denn noch stand das Spiel verabredungsgemäß 0:0. Nun aber »spiel-te Varga verrückt«, so Mannschaftskamerad Tasso Wild.
Nachdem er einmal den Ball gegen Bielefelds Torlatte getre-ten hatte, bewachten ihn die eigenen Kameraden schärfer als die Gegenspieler. Sie schlugen ihm die Bälle vom Fuß oder stießen ihn zu Boden. »Wenn der in den Spielen vorher immer so wild gespielt hätte, wären wir Meister geworden«, meckerte Hertha-Verteidiger Bernd Patzke.
Die Mühe des zornigen Ungarn blieb vergebens. Arminia Bielefeld siegte im letzten Spiel der Saison 1:0 und blieb vorerst unter jenen 18 Fußball-Vereinen, die in der Bundesliga Millio-nenumsätze machen dürfen. Den teuer erkauften Sieg feierte der Bielefelder Klub-Vorstand mit den Spielern und ausgewähl-ten Gästen eine Nacht lang im Strandhotel von Travemünde.
Freilich wussten die Falschspieler, dass sie nicht die einzigen waren, die sich den Platz in der Bundesliga mit Schmiergeld statt mit sportlichen Leistungen gesichert hatten. In den letzten Wo-chen der Spielzeit, in denen sich entscheiden musste, welche beiden Mannschaften in die unattraktive Regionalliga absteigen
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sollten, hatten vor allem die spielschwachen Klubs versucht, To-re und Punkte zu kaufen.
Von den 72 Spielen an den letzten acht Spieltagen (insge-samt 34) hatten sich 26 zu Manipulationen angeboten; es han-delte sich um Spiele, in denen schwache Klubs gegen solche Vereine antraten, die weder Meister werden noch absteigen konnten. Tatsächlich wurden 18 Spiele davon nachweislich ge-kauft, oder es wurde zumindest der Versuch unternommen, sie zu verfälschen.
Kaum ein renommierter Klub der westdeutschen Profiliga blieb von den Manipulationen der Abstiegsgefährdeten unbe-rührt.
> Am 17. April 1971 ließ sich die Mannschaft von Schalke 04 für eine Niederlage gegen Bielefeld 40.000 Mark zahlen.
> Am 22. Mai sicherte Kölns Nationaltorwart Manglitz dem Verein Rot-Weiß Oberhausen für 25.000 Mark einen 4:2-Sieg.
> Eine Woche später kassierten drei Spieler des VfB Stuttgart für eine freiwillige Niederlage 45.000 Mark von Arminia Bielefeld.
> Am 5. Juni investierten die Bielefelder Geld für ein Wunsch-resultat im Spiel Braunschweig gegen Oberhausen; Arminia bot 170.000 Mark für einen Braunschweiger Sieg, um Oberhausen auszuschalten, und zahlte dann immerhin 40.000 Mark, weil das Spiel nur 1:1 endete.
Wer bei dem Schwarz-Handel nicht mitbieten konnte oder mochte, blieb auf der Strecke. Von den abstiegsbedrohten Ver-einen hatte einzig Rot-Weiß Essen ohne Scheckbuch gespielt – und musste die Bundesliga verlassen. Die Offenbacher Kickers riskierten einen Einsatz, merkten jedoch bald, dass sie die Kon-kurrenz im Korruptionsgeschäft nicht einholen konnten – und stiegen ab.
Doch während die anderen feierten oder schwiegen, brach ei-nen Tag nach dem letzten Spiel der Saison der Offenbacher
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Vereinspräsident Horst-Gregorio Canellas mit einem sorgfältig programmierten Geständnis in die heile Welt des deutschen Fußballs ein.
Sein „Racheakt“ war präzise geplant und begann mit der – noch einmal sei darauf zurückgekommen – Party in seinem Gar-ten.
Die schließlich versammelten Gäste, zu denen auch Bundes-trainer Helmut Schön gehörte, begrüßte er nicht etwa mit einem Trinkspruch, zu dem die engagierten Kellner Champagner ser-vierten, sondern mit einer schockierenden Rede: »Meine Herren, ich muss Ihnen sagen, dass mein Verein, die Offenbacher Ki-ckers, durch Betrug aus der Bundesliga abgestiegen ist. Ich kann Ihnen das beweisen und habe auch meinen Spielern ge-sagt, dass diese Saison nicht auf dem Rasen, sondern vor dem Staatsanwalt entschieden wird.«
Danach ging er zu dem auf einem der Festtische montierten Tonbandgerät, setzte es in Gang und die entnervten Gäste hör-ten die Stimmen allen bekannter Nationalspieler, wie sie hem-mungslos um ausgehandelte Spielresultate feilschten.
Dann bediente Canellas wieder das Knöpfchen und eröffnete der Runde: »Der deutsche Fußball ist ein einziger Sumpf. Die Bundesliga geht kaputt, wenn nichts getan wird. Was ich aufge-deckt habe, ist nur ein Anfang.«
Die meisten Gäste eilten zu ihren Wagen, übrig blieben ein paar Freunde Cannellas`, die ihm bei der Vorbereitung des Spektakels behilflich gewesen waren.
Konsternierend die Reaktion der DFB-Funktionäre. Anstatt Ju-risten zu mobilisieren, die ihnen hätten raten können, wie man dem von niemandem mehr zu leugnenden Betrug aufklären könnte, wurde der DFB-Pressesprecher Dr. Wilfried Gerhardt mobilisiert, der der Öffentlichkeit versicherte: »Es gibt keinen Fall Bundesliga, sondern nur einen Fall in der Bundesliga!«
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Ohne jede Gnade wurde als nächstes der Feldzug gegen Ca-nellas inszeniert. Der erste in Umlauf gebrachte Vorwurf lautete: »Canellas hat die Spieler verführt.« Da er eingeräumt hatte, an »Kaufverhandlungen« teilgenommen zu haben, schloss man ihn als erstes in einem »Schnellverfahren« auf Lebenszeit aus dem Verband aus.
Doch zeitigte dieser Schritt keine Entspannung. Immer mehr Zeugen meldeten sich in der stillen Hoffnung, durch ihre Be-kenntnisse straffrei auszugehen.“
Der „Spiegel“ zur Situation: „Fast drei Dutzend Rechtsanwälte drangen in das für Juristen bis dahin als terra incognita geltende Fußballfeld ein. Nicht selten bildeten sich neue Jura-Fronten zwischen Anwälten und Mandanten, die zuvor noch eine Partei gewesen waren. Juristen durchlöcherten einen Schutzschild der DFB-Weißwascher: In seinem Statut verpflichtet der DFB seine Mitglieder, Streitigkeiten vor dem eigenen Sportgericht auszutra-gen; wer ohne DFB-Genehmigung ein ordentliches Gericht an-ruft, verstößt gegen die Verbandsregeln. Doch einige Rechtsan-wälte leiteten Verfahren vom Sportkameraden-Gericht an die Landgerichte in Essen und Berlin um. Denn: Anders als vor dem Verbandsgericht müssen eigene Klienten und fremde Zeugen vor ordentlichen Gerichten unter Eid aussagen.
Acht Schalker Kicker zogen denn auch eine Klage gegen den Bielefelder Spieler Neumann wieder zurück. Unter Eid ableug-nen mochten sie denn doch nicht, was Neumann ihnen vorge-worfen und Bielefelds Klubherr Franz Greif vor dem Landgericht Essen beschworen hatte – 40.000 Mark für eine freiwillige Nie-derlage eingesteckt zu haben.
Der Bielefelder Anwalt Dr. Karl Lamker aber stieß nach und zeigte die Schalker Klubherren Siebert und Aldenhoven wegen falscher uneidlicher Aussagen an: Sie hätten, entgegen ihren
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Beteuerungen, doch von den Manipulationen ihrer Spieler ge-wusst.
Nun zitierte der Bielefelder Oberstaatsanwalt Werner Kny die Eidgenossen aus Schalke vor das Amtsgericht, wo sie schließ-lich doch die Schwurhand heben mussten – bis auf einen: Schatzmeister Aldenhoven. Er schützte Krankheit vor. In Offen-bach ließen die reisenden Staatsanwälte auch Skandal-Aufklärer Canellas schwören. Mancher Anwalt geriet selber in den Bun-desliga-Dschungel. So diktierte der West-Berliner Rechtsanwalt Horst Sandner dem Skandal-Mitwisser Bartos eine eidesstattli-che Erklärung, mit der die Unschuld des bestochenen HerthaSpielers Varga bewiesen werden sollte.
Bartos konnte die falsche Erklärung noch rechtzeitig widerru-fen und sagte dann vor dem DFB-Sportgericht gegen Varga aus. Varga wurde lebenslänglich gesperrt. Er nahm sich einen neuen Anwalt, den Hannoveraner Rudolf Bruder, der sogleich versuch-te, den Zeugen Bartos auf seine Seite zu ziehen.
Doch Bartos hatte sich inzwischen selbst einem Advokaten anvertraut, Bruder konnte lediglich per Brief drohen, er werde Bartos nur dann verschonen, »wenn er im Bundesligaskandal weder von sich sehen noch hören ließe«.
Je hektischer die Enthüller und Vertuscher sich bekriegten, desto deutlicher wurde das ganze Ausmaß des Skandals. »Der deutsche Berufsfußballsport ist nicht nur partiell - er ist total kor-rupt«, vermutete die »FAZ«.
In der Tat droht der Deutsche Fußball-Bund, größter Kicker-Verband der Welt, dessen rund 30.000 Spielfelder aneinander-gereiht eine Trasse etwa von Hamburg bis Kairo bilden würden, zu einem Tummelplatz der Geschäftemacher und Erpresser zu werden, zu einem »Vakuum der Morallosigkeit« - so der Sport-journalist Herbert Neumann.“
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Später stellte sich heraus, dass Canellas den Sekretär des DFB alarmiert hatte, als er einen Teil der Verhandlungen um die Spiele, die manipuliert werden sollten, auf Tonband aufgezeich-net hatte. Er lud ihn zu sich nach Hause ein, um die Bänder mit anzuhören. Cannellas´ Anliegen: Er möge den DFB-Generalsekretär Paßlack informieren. Straub teilte ihm mit, dass Paßlack die Gespräche für zu „vage Vermutungen“ halte. Er riet sogar, die Spiele am 5. Juni „erst einmal abzuwarten“ und am folgenden Montag weitere Schritte zu bereden. Es ging dabei um das Spiel der Offenbacher gegen Köln, das die Kölner verlieren wollten und Offenbach so den Klassenerhalt gesichert hätten. Als Canellas verlangte, endlich den Vorsitzenden des Kontroll-Ausschusses Hans Kindermann hinzuzuziehen, beschied ihn Straub: „Der ist im Urlaub.“
Damit war auch klar, dass lange vor dem Auffliegen des Skandals die DFB-Zuständigen im Bilde waren.
Laut „Spiegel“ sollen sie Canellas sogar geraten haben, die verlangten Bestechungssummen zu zahlen: „»Aber wie soll ich mich denn verhalten?« wollte Canellas von Straub wissen. »Wenn ich nicht mitmache, bin ich doch draußen.« Straub emp-fahl ihm nach Beratung mit Vorgesetzten, er solle sich auf ein Spiel konzentrieren: die Partie der Offenbacher in Köln.
»Soll das heißen, daß ich dort mitschmieren soll?« fragte Ca-nellas. Straub: »Wenn Sie es für richtig halten. ja.« Nun sagte der Kickers-Präsident Kölns Torwart Manglitz die 100.000 Mark zu. Manglitz: »Das will ich aber vorher noch sehen.«
Zwei Tage vor dem letzten Spieltag, am 3. Juni, informierte Canellas den Vorstand der Offenbacher Kickers über die Forde-rungen der Gegenseite, riet aber davon ab, auf die Offerte ein-zugehen. Der Vorstand widersprach: »Zum Schein müssen wir mitmachen.«
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Aber zunächst musste das Geld zusammengebracht werden Aus der Klubkasse, dem Privatvermögen der Vorstandsmitglie-der und Sponsoren kamen 260.000 Mark zusammen. Der Vize-präsident Waldemar Klein reiste mit 140.000 Mark nach Berlin, um sie dort den an der Schiebung beteiligten Hertha-Spielern Wild und Patzke präsentieren zu können. Canellas sollte 100.000 Mark dem Kölner Torwart Manglitz vorzeigen und die restlichen 20.000 Mark wollte das Vorstands-Mitglied Friedrich Mann die Braunschweiger sehen lassen.
Klein verabredete sich mit den Hertha-Spielern in einer Bier-bar in der Berliner Dammaschkestraße. Einer der Beteiligten for-derte ihn auf, seine Aktentasche zu öffnen, ein anderer griff hin-ein und zählte die Banknoten. Und dann überraschte einer der Hertha-Spieler den Abgesandten mit der Mitteilung: »Die Biele-felder sind schon bei 250.000 Mark. Ich schlage vor, wir warten noch bis morgen, ehe wir uns entscheiden.«
Der entnervte Klein stürzte ans Telefon und alarmierte Canel-las und Offenbachs Schatzmeister Fritz Koch. Canellas schlug vor, sich aus dem Geschäft endgültig zurückzuziehen, aber Koch gab Order in Berlin zu bleiben und weiter zu verhandeln.
Dass Canellas nicht mehr weitermachen wollte, mochte an den Erfahrungen liegen, die er inzwischen in Köln gemacht hat-te. Wie angekündigt hatte er dem Torwart Manglitz die 100.000 Mark gezeigt. Als der das Geld einstecken wollte, lehnte Canel-las ab und bestand auf einem neuen Treffen am Mittag des nächsten Tages, exakt drei Stunden vor dem Anpfiff.
Er kehrte in sein Hotel zurück und ließ dort die Summe in den Tresor schließen. Urplötzlich erschien ein Mann auf der Bildflä-che, gab sich als »Herr Hagen« aus und warnte Canellas im Ge-spräch: »Zahlen Sie bloß, sonst können Sie hier nicht gewin-nen.« Canellas ließ sich aber nicht umstimmen und entschloss sich, am nächsten Tag den Deal abzusagen. Offenbach unterlag
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in Köln 2:4. So schien der Weg zum Klassenerhalt für die Biele-felder frei.
Sie hatten ihren besten Stürmer Gerd R. als Linksaußen auf-geboten und so stand ihm bei Hertha der an dem Geschäft be-teiligte Patzke gegenüber und konnte den Bielefelder das alles entscheidende Tor schießen lassen.
Der unerwartete Sieg Bielefelds nährte die inzwischen in Um-lauf gelangten Gerüchte, denn schon bei einem Unentschieden wäre Bielefeld abgestiegen.
Als Canellas seine Beweise präsentierte, erhielt er vom DFB-Ankläger Kindermann die klassische Antwort: »Dem Interesse der Gemeinschaft müssen Vereins- oder gar persönliche Inte-ressen hintangestellt werden.« Und als dann vor den DFB-Kontrollausschuss geladen wurde, sah er sich mit Beisitzern aus Bielefeld, Oberhausen und Berlin konfrontiert, also Vertretern der an den Betrügereien beteiligten Mannschaften.“
Es kam zu Disputen, die alle Zweifel beseitigten. Der „Spie-gel“: „DFB-Ankläger Kindermann tönte: »Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie auch nur ein Mosaiksteinchen aus dem DFB-Gebäude herausbrechen können.« Canellas gab zurück: »Von Mosaiksteinchen kann gar nicht mehr die Rede sein, bei Ihnen wackelt doch schon der Sims.« Das Sportgericht sperrte Canel-las auf Lebenszeit von jedem Vereins-Amt und verwehrte ihm sogar ein Schlusswort.
Canellas aber war nicht bereit, den Spruch hinzunehmen. Er begann eigenmächtig nach Fährten im Bundesliga-Dschungel zu forschen. Monatelang reiste er durch Westdeutschland, arran-gierte Geheimtreffen mit Zeugen und Anwälten, Spielern und Mittelsmännern, mal im Frankfurter Flughafen-Hotel an der Un-terschweinstiege, mal im Restaurant Wilhelmshöhe in Kassel. Ungefähr 20.000 Mark investierte er dabei in seine privaten Er-
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mittlungen. Sein Verfolgungseifer stachelte auch die DFB-Kontrolleure an. Sie ermittelten
> gegen Bayern München wegen der Heimsiege mit 7:0 über den Manglitz-Klub 1. FC Köln und 4:1 über den Wolter-Verein Braunschweig - beide Siege brachten Bayern München auf den 1. Tabellenplatz;
> gegen Hannover 96, das sich durch ein 4:0 beim Wolter-Klub Braunschweig endgültig aus der Abstiegszone entfernt hat-te;
> gegen Werder Bremen, das am 29. Mai 1971 überraschend klar mit 0:3 in Oberhausen verloren hatte.
Das Belastungsmaterial, das Canellas herbeischaffte, war bald so gravierend, dass man selbst in der DFB-Zentrale in Frankfurts Zeppelinallee schockiert war. Eine Gruppe von DFB-Funktionären trieb zwar das Vertuschungsspiel weiter, Kinder-mann aber verbündete sich mit seinem Opfer. Wenn Canellas heute in der Zeppelinallee vorfährt, nimmt ihm Pressesprecher Dr. Gerhardt hilfsbereit an der schmiedeeisernen Pforte die Kof-fer mit neuen Skandal-Dokumenten ab.
So geriet auch Oberhausens Präsident Peter Maaßen vor das DFB-Tribunal, obwohl er noch versucht hatte, Belastungszeugen zu kaufen und umzudrehen. »Ich bitte nicht, dass mir Gott hilft«, wetterte Katholik Maaßen, »aber ich bitte Gott, dass er auch meinen verdammten Feinden nicht hilft.« Nichts half - auch Eh-renerklärungen der CDU nicht. Maaßen wurde auf Lebenszeit gesperrt, sein Verein aus der Bundesliga gewiesen.“
Kindermann hatte erkannt, dass Canellas´ Ermittlungen den DFB in eine Katastrophe stürzen konnten, wenn sie an die Öf-fentlichkeit gelangten, und traf ein rettendes Agreement.
Bis heute wird gern der Eindruck erweckt, als sei dieser Skandal nur ein lästiger Schmutzfleck auf der DFB-Fahne gewe-sen.
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Die Zahlen sind da deutlicher: 53 Spieler wurden gesperrt, zum großen Teil auf Lebenszeit, in der Regel aber nach einem Jahr begnadigt und Geldstrafen in Höhe von knapp einer halben Million DM verhängt!
WIE DIE BRITEN DIE FRIEDENS-FAHRT RETTEN WOLLTEN
In Kürze erscheint eine neue Ausgabe der Täve-Schur-Memoiren unter dem Titel „Täve – Die Autobiografie“ (ISBN-Nr. 978-3-355-01783-1).
Wir veröffentlichen daraus eine Passage.
Eines Tages wurde ich auch noch „Reiseleiter“ Ein Berliner Reisebüro organisierte einen Ausflug »Mit Täve zur Tour«, und nach einer ausgebuchten Premiere kam es danach zu vielen vergnüglichen Reisen.
Friedensfahrtfans, auch frühere Rennfahrer wie Paul Dinter oder Eberhard Butzke, rollten im Bus mit mir nach Frankreich, und dort suchten wir uns Orte, von denen man das Rennen gut verfolgen konnte. Ich nahm das Rad mit, denn nun war ich längst wieder richtig im Training. Einmal kletterte ich den lege kletterte ich den legekletterte ich den lege kletterte ich den legekletterte ich den lege kletterte ich den lege kletterte ich den legekletterte ich den legekletterte ich den legekletterte ich den legekletterte ich den legekletterte ich den lege kletterte ich den legen- dären dären dären dären Tourmalet hinauf und wartete dorthinauf und wartete dort hinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dort hinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dorthinauf und wartete dort auf den Bus. Es wurde Es wurde Es wurde Es wurde Es wurde Es wurde ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade ein heißer, aber auch erlebnisreicher Tag, und als ich gerade mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, mein Rad verstauen wollte, entdeckte ich inmitten der abwan-dernden Zuschauer ein Gesicht, das mir bekannt erschien. War das nicht ...?
„He, Bill!“
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Der Mann in Shorts auf der anderen Straßenseite fuhr herum. Ich winkte, er stürmte ungeachtet des Verkehrs über die Straße und schrie: „Damned, Täve, Täve.“
So traf ich im Toursommer 1994 den Briten Bill Bradley. Er schien es nicht fassen zu können. Es waren Es waren Es waren Es waren Es waren Es waren 36 Jahre waren vergangen, seitdem er uns auf einer Etappe nach Brno abge-hängt hatte. Er war damals Etappensieger geworden, ich hatte fast zehn Minuten eingebüßt. Wir hockten uns ins Gras. „Was macht Stan, was Jack, was Geoffrey, was Bob?“
Dann drängte der Busfahrer. Wir ließen uns rasch noch foto-grafieren und nahmen Abschied. Ich erzählte zu Hause von der Begegnung und ahnte nicht, was ihr folgen würde. Monate spä-ter lag ein Zeitungsausschnitt aus der britischen Radsportwo-chenzeitung im Briefkasten und dazu Briefe. Ich ließ mir alles übersetzen. Die Zeitung: „Als der Eiserne Vorhang fiel, um Eu-ropa zu vereinigen, bedeutete das auch das Ende vieler Instituti-onen. Eine davon war die Friedensfahrt, das überragende Ama-teur-Etappen-Rennen auf dem Kalender. Es brachte viele große Rennfahrer hervor. Es war das Rennen, das der Schotte Ian Steel 1952 gewann und in dem Stan Brittain mehr als einmal dem Sieg nahe war. Es war auch das Rennen, das den großen Gustav Schur hervorbrachte. Zweimal Amateurweltmeister, war er fast ein Gott in seinem Land, und als er auf die Chance, sei-nen dritten Titel zu erringen, zugunsten seines Freundes Bern-hard Eckstein verzichtete, wuchs sein Ansehen noch mehr. Es war auch das Rennen Bill Bradleys aus Southport, der 1958 eine Etappe gewann und zehnter in der Gesamtwertung wurde. Brad-ley blieb ein Freund Schurs, und es gibt Gespräche, das Rennen wieder zu beleben. Mannschaftsleiter, Rennfahrer, Mechaniker und Fans sollten an Bill Bradley – 36 Cleveleys Road, Merseysi-de – Southport, schreiben, wenn sie dieses Vorhaben unterstüt-zen wollen.“
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Und dann die Briefe:
„Lieber Bill Bradley,
ich las, dass du dich um die Wiederbelebung der Friedens-fahrt bemühst. Ich habe mich im Dezember 1993 entschlossen, die Wintermonate in Mallorca zu verbringen, um dem Wetter in England zu entkommen. Ich sitze noch immer im Sattel und wandere auch gern in den Bergen. Genug über die Gegenwart. Es ist gut zu wissen, dass du mit Täve Kontakt hast, auch weil ich mich mit Freude jedes Treffens während all der Jahre erinne-re. Er ist ein echter Gentleman. Ich hoffe, dass die Friedensfahrt eines Tages wiederaufersteht und für Freundschaft sorgt in der ›Radsport-Mafia‹. Ich würde das Neuentstehen der Friedensfahrt mit Freude begrüßen, aber es wird wohl sehr schwer werden, sie auf demselben Niveau zu haben wie früher. Sag bitte Täve, dass ich ihm helfen will, so gut es geht und dass ich ihm Erfolg wün-sche.
Ian Steel“
„Lieber Täve,
wie geht es dir? Es ist jetzt 25 Jahre her, dass wir uns das letzte Mal sahen, als wir zusammen auf dem Rad von deinem Heimatort nach Magdeburg fuhren. An den Wochenenden fahre ich noch Rad, aber nicht so schnell. Ich treffe Bill Bradley oft. Er erzählte mir, dass du darüber nachdenkst, die Friedensfahrt auf die Straße zurückzuholen. Eine große Idee, auch unter dem As-pekt, dass es nun 50 Jahre her ist, seit der Krieg zu Ende ging. Ein guter Anlass, sie wieder ins Leben zu rufen. Ich werde dich unterstützen, wünsche dir alles Gute und hoffe, dass du Erfolg mit deiner Idee hast.
Stan Brittain“
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„Hallo Täve,
als dreimaliger Team-Manager der britischen Mannschaft möchte ich dir versichern, dass ich das Vorhaben unterstütze, das Ereignis wieder zu beleben.
Schon als Kind kam ich mit der Friedensfahrt in Berührung, denn mein Vater managte das britische Team in den fünfziger und sechziger Jahren.
1984 wurde ich das erste Mal als Manager für die Mannschaft ausgewählt, und ich erwartete – offen gesagt – ein politisches Ereignis, aber ich hätte wissen sollen, dass es vor allem ein Radrennen war. Es war perfekt organisiert, von den Mahlzeiten bis zum Gepäcktransport, mit den Jugendlichen mit den Start-nummern der Rennfahrer am Ziel, und vor allem ein großartiges Rennen. Jeden Tag riesige Menschenmengen, Rennfahrer und Funktionäre wurden wie Stars behandelt, ganz gleich, aus wel-chem Land man kam.
Während der drei Rennen, die ich begleitete, schloss ich viele Freundschaften. Mit Mongolen, Russen, Algeriern und Amerika-nern. Das Rennen wurde durch Freundschaft bestimmt, und sie funktionierte, ich kann mich keines anderen Rennens mit einer ähnlichen Atmosphäre erinnern. Das letzte Mal war ich 1989 da-bei, und einer meiner Fahrer verliebte sich in unsere polnische Dolmetscherin. Zwei Jahre später heirateten sie. Britische Renn-fahrer, die dabei waren, werden noch immer ›Friedensfahrer‹ genannt, und es wäre gut für unsere jungen Fahrer, wenn sie diese Chance auch bekommen würden. Ich wünsche dir Erfolg bei der Suche nach einem Sponsor, und lass das alte Organisa-tionskomitee wieder arbeiten.
Bob Thom jun.“
„Lieber Gustav,
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ich war sehr froh zu hören, dass du dabei bist, die Friedens-fahrt wieder ins Leben zu rufen. Ich bin sie zweimal gefahren, und ich kann nur bestätigen, dass sie einen besonderen Platz in unseren Herzen hat. Ich bin überzeugt, dass viele Fahrer der Vergangenheit die Gelegenheit nutzen werden, die Friedensfahrt zu unterstützen. Du kannst auch auf mich zählen. Ich werde mit anderen Verbindung aufnehmen und ihnen erzählen, dass die Friedensfahrt ein Rennen mit einer ganz besonderen Atmosphä-re war.
Geoff Wiles“
„Lieber Gustav,
ich habe mit Interesse gelesen, dass die Friedensfahrt eine Chance hat, wiederzukommen. Ich war glücklich, dass ich die britische Mannschaft bei der 43. Friedensfahrt betreuen konnte, es war die letzte, zu der wir eine Mannschaft schickten. Von al-len Rennen, die ich als Manager begleitete – Tour of Mexico, Milk Race, Hanson Tour of South-Afrika, Tour de l’Avenir, Tour of Marokko – war die Friedensfahrt die bestorganisierte. Ich wür-de vor Freude in die Luft springen, wenn ich die Chance bekä-me, noch einmal eine Mannschaft zu betreuen, und ich spreche im Namen vieler Offizieller und Rennfahrer, die es begrüßen würden, wenn sie zurückkommen könnten, zu Berlin-Warschau-Prag.
Tom Barry“
„Lieber Täve,
habe mit Begeisterung gehört, dass Bill Bradley dich traf und ihr ein Gespräch über das Comeback der Friedensfahrt geführt habt. Wie schön wäre es, wenn dieses fabelhafte Rennen wieder stattfinden würde. Ohne jeden Zweifel war es das weltbeste Amateurrennen, und es war schlimm, das Ende erleben zu müs-
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sen nach all den Jahren. Ich hatte das Privileg, vier oder fünf Mal die britische Mannschaft in diesem Rennen zu betreuen, und es blieben da viele Erinnerungen. Lebenslange Freundschaften stif-tete dieses Rennen. Man fand keinen Mangel bei der Organisa-tion. Ich kenne genug Rennfahrer in Großbritannien, die sofort wieder dabei sein würden. Übermittle all meinen Freunden in Deutschland, die ich bei der Friedensfahrt traf, meine herzlichs-ten Grüße.
Bob Thom“
Diese Briefe motivierten mich. Ich hatte mir schon 1990 keine Illusionen über die Zukunft des Rennens mehr gemacht. Zwar wurde die 43. Fahrt noch in Berlin gestartet, aber ein Jahr später fehlten die Deutschen schon unter den Veranstaltern, die Stre-cke war – wie in den Gründerjahren auf Prag-Warschau redu-ziert worden. Oft genug hatte man behauptet, sie sei ein „polit sie sei ein „polit sie sei ein „polit sie sei ein „polit sie sei ein „polit sie sei ein „polit sie sei ein „polit sie sei ein „polit i- sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. sches Rennen“ gewesen. Ich hatte mit der Hilfe vieler Freunde, ein Kuratorium gründengründen gründengründengründen können, das die Friedensfahrt vor dem Untergang bewahren sollte. Überraschend viele Spenden gingen ein. Wir begannen, Sponsoren zu suchen, aber das war ein har-tes Brot. Mancher fürchtete, dass ein Engagement für die Frie-densfahrt als ein politisches Bekenntnis zur DDR ausgelegt wer-den könnte, und wer wollte derlei schon riskieren?
Zudem hatte der Radsportverband bereits voreilig verkündet, dass es keine Friedensfahrt mehr geben würde, aber dann kam uns – Olympia zu Hilfe. Man Man Man Man hoffte wohl durch die Unterstützung des Rennens die Chancen für die Bewerbung Berlins um die Olympischen Spiele 2000 zu erhöhen. Vielleicht setzte man dVielleicht setzte man d Vielleicht setzte man d Vielleicht setzte man dVielleicht setzte man d Vielleicht setzte man d Vielleicht setzte man d Vielleicht setzte man dVielleicht setzte man dVielleicht setzte man dVielleicht setzte man dVielleicht setzte man dVielleicht setzte man da- rauf, d rauf, drauf, d rauf, dass diese Geste die IOCass diese Geste die IOC ass diese Geste die IOCass diese Geste die IOC ass diese Geste die IOCass diese Geste die IOC ass diese Geste die IOC ass diese Geste die IOCass diese Geste die IOCass diese Geste die IOCass diese Geste die IOC ass diese Geste die IOCass diese Geste die IOC ass diese Geste die IOC-Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Mitglieder der osteuropäischen Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. … Länder beeinflussen würde, für Berlin zu votieren. …
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ERINNERUNG AN DIE SPARTAKIADE
Seit zwanzig Jahren wurden in Deutschland keine Kreisspar-takiaden mehr ausgetragen. Zahlreiche Anfragen von Sportwis-senschaftlern aus verschiedenen Ländern zu System und Cha-rakter der Spartakiaden haben uns bewogen, die Rezension ei-ner wissenschaftlichen Arbeit nachzudrucken, die 1972 in dem Buch „Die Urenkel des Spartacus“ – Autor Klaus Ullrich – er-schien.
In einem Beschluss über die Spartakiade heißt es, daß sie „im Leben der Kinder und Jugendlichen der DDR einen festen Platz einnimmt“.
Was ist ein „fester Platz“?
In diesem Fall eine nicht viel verratende Feststellung.
Woran erkennt man dann aber, ob die Spartakiade ein „fester Platz“ ist? An vielem.
Geh auf die Straße und frage einen Jungen oder ein Mäd-chen. Und du wirst eine klare Antwort erhalten. Es wird vielleicht nicht vom „festen Platz“ die Rede sein, aber du wirst spüren, dass die Spartakiade einen Platz in ihren Herzen hat! Stell ei-nem Lehrer die Frage, einem Vater, einer Mutter - du wirst viele und vielfältige Antworten bekommen, und du wirst zu dem Schluss gelangen: Würde morgen jemand heimlich die Spartaki-aden aus den Kalendern streichen, die anberaumten wieder ab-sagen - ein Sturm der Entrüstung wäre ihm sicher! Und was si-cher auch zählt: Die Wissenschaftler haben die Spartakiade zu
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untersuchen begonnen, haben den „festen Platz“ erforscht wie Geologen ein Erdölfeld untersuchen.
Dies Buch kann nicht zusammenfassen, werten oder gar be-urteilen, was die Wissenschaftler bisher in dieser Richtung leiste-ten, es kann nur einen Griff in die vielen Arbeiten tun, wie man in einer Bibliothek interessiert ein Buch aus der Reihe zieht. Und auch dieser Griff ist ganz ohne Wertung.
Es ist das Gemeinschaftswerk eines Wissenschaftlers und vier Praktiker, 151 Seiten stark, als „Pädagogische Lesung“ er-schienen. Der Wissenschaftler: Professor Dr. Heinz Bäskau. Die vier Praktiker: die Kreisturnräte Willi Arndt (Güstrow), Friedrich Knuths (Rostock-Land), Herrmann Köhler (Lübz) und Ernst Mohns (Altentreptow). Was dazu reizte, ausgerechnet dieses Material zu wählen, das die Spartakiade nicht einmal als alleini-gen Gegenstand einer Untersuchung wählte, wird vor allem auf der zehnten Seite angedeutet, auf der die Zahl der Schulen im Bereich der vier Kreise mit 4 erweiterten Oberschulen, 51 zehn-klassigen polytechnischen Oberschulen, 22 achtklassigen poly-technischen Oberschulen und 30 kleineren polytechnischen Oberschulen angegeben wird.
Dazu der wichtige Hinweis: „Vor dem Aufbau der antifaschis-tisch-demokratischen Schule überwogen in jedem dieser Kreise die wenig gegliederten Schulen. In den rückständigen Gutsdör-fern waren sie nur einklassig. Begrenzte Voraussetzungen für den Schulsport gab es nur in einigen größeren Orten.“
Um nirgendwo ein falsches Zeitgefühl aufkommen zu lassen: Das bezieht sich auf eine Zeit, die erst drei Jahrzehnte hinter uns liegt!
Und noch ein Hinweis ist vonnöten: Die folgenden Zahlen und Angaben wurden nach der II. Kinder- und Jugendspartakiade der DDR, die 1968 stattfand, zusammengetragen und sind - wie man noch feststellen wird - inzwischen längst überholt.
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Dennoch: Es geht nicht um Paradebeispiele, denn vieles in den mecklenburgischen Kreisen, die hier unter die Lupe ge-nommen wurden, ist noch weitab von allem Paradeglanz. Den-noch ist die Mitwirkung der Spartakiade am Aufstieg des Ju-gendsports unverkennbar und von niemandem zu leugnen. Feststellung auf Seite 79: „Mit dem Entstehen der Spartakiade-bewegung in der DDR entwickelte sich ein vielseitiges Wett-kampfsystem, in das auch die jüngsten einbezogen wurden.“
Und an anderer Stelle: „In den Kreisen Altentreptow, Güstrow, Lübz und Rostock-Land gab es vor wenigen Jahren ein unbe-friedigendes Wettkampfsystem. Es bot den Schülern nur wenige Wettkämpfe, die sich außerdem vorwiegend auf die Sommermo-nate konzentrierten. Vor allem die jüngsten hatten nur selten die Möglichkeit, im sportlichen Wettkampf die Kräfte zu messen.“
„Im Kreis Altentreptow gab es z.B. vor 1961 keine Sektion Leichtathletik. Die jungen Sportler, die bei den Kreis-Turn- und Sportfesten als Leichtathleten auftraten, waren in der Mehrzahl ,Allroundsportler`, die in der Leichtathletik vielleicht zwei oder drei Starts jährlich hatten. Erst mit der Entwicklung der Spartaki-adebewegung wandelte sich dieses Bild. Seit dieser Zeit gibt es keine Schulsportgemeinschaften ohne Leichtathletiksektionen mehr. Obwohl von Jahr zu Jahr neue Trainingsgruppen in ver-schiedenen Sportarten entstanden, regelmäßiger trainiert wird und mehr Wettkampfmöglichkeiten geschaffen wurden, reichte die Häufigkeit der Starts aber noch nicht aus ... Vordringliche Aufgabe der verantwortlichen Organe des Kinder- und Jugend-sports in unseren Kreisen war es daher, das bestehende unzu-reichende Wettkampfsystem zu analysieren und entsprechend den örtlichen Bedingungen ein stabiles, interessantes und finan-ziell wenig aufwendiges System von Vergleichskämpfen zu schaffen, das allen sporttreibenden Kindern und Jugendlichen die Teilnahme an einer Vielzahl von Wettkämpfen gewährleistet.
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In vielen Kreisen haben Sportlehrer und Leiter von Schulsport-gemeinschaften in Verbindung mit dem Wettkampfprogramm der Spartakiaden neue Wettkampfformen entwickelt, die auf unters-ter Ebene vielen Kindern und Jugendlichen, auch den leistungs-schwächeren, die Möglichkeit geben, sich das ganze Jahr über wettkampfmäßig zu betätigen.
Im Kreis Altentreptow sind die Verkehrsverhältnisse sehr un-günstig. Das bringt mit sich, dass die überwiegende Zahl der Schulpflichtigen ihren Weg mit Omnibussen zurücklegen muss. Bis zum Rücktransport in die Heimatdörfer gibt es in einigen Schulbereichen erhebliche Wartezeiten. Es war nicht immer leicht, diese zu überbrücken und die Aufsichtspflicht zu gewähr-leisten. Diese Wartezeiten wirkten sich auch nachteilig auf die Disziplin der Schüler aus. An einigen Schulen wie Mölln, Ro-senow, Tützpatz und Teetzleben werden Wartezeiten nunmehr sinnvoll für eine außerunterrichtliche sportliche Betätigung ge-nutzt. In den Ballspielarten Fußball und Handball werden die besten Dorfmannschaften des Oberschulbereichs ermittelt. Im Winter wird diese Bestenermittlung je nach Witterung auch auf Eishockey ausgedehnt. Durch diese Wettkämpfe wurden viele neue Schülerinnen und Schüler für den außerunterrichtlichen Sport gewonnen.“
„Die Sportlehrerin Käckenmeister, Leiterin des Weiterbil-dungsstützpunktes Wildberg, hat eine Wettkampfform praktiziert, die einen hohen erzieherischen Wert hat, sehr beliebt ist und sich fördernd auf die Herausbildung eines guten Lehrer-Schüler- und Schüler-Lehrer-Verhältnisses auswirkt. Wenn die in der Un-terstufe Sport unterrichtenden Lehrer der Oberschulbereiche Mölln, Rosenow und Wildberg vierteljährlich zur Stützpunktwei-terbildung nach Wildberg kommen, bringen sie aus der vorher benannten Klassenstufe je drei Jungen und Mädchen mit, um in dem ausgeschriebenen Wettkampf mit etwa 8 bis 13 anderen
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Schulen ihre Kräfte zu messen. Das Reizvolle hieran ist, dass der Lehrer zusammen mit seinen Schülern startet und um den Sieg kämpft.“ (Seite 75) „Einen festen Plan im Jahressportplan der Schule müssen auch die Wintersportarten einnehmen. In den Winterferien haben wir in den letzten Jahren kaum einmal die Möglichkeit gehabt, Wintersport-Meisterschaften auszutra-gen. Daher gilt es, variabel zu planen und bei Eintritt des Win-terwetters Initiative und Einsatzfreude zu zeigen.
Ein vorbildliches Beispiel für eine solche Initiative gibt die Schulsportgemeinschaft in Teetzleben (hier werden 272 Schüler unterrichtet). Sie hat sich aus eigenen Mitteln eine Ausleihstation für Wintersportgeräte geschaffen. Ihren Mitgliedern stehen 16 Rodelschlitten, 20 Paar Schlittschuhe und 17 Paar Skier zur Ver-fügung. Für die einzelnen Altersklassen stehen verschiedene Disziplinen auf dem Meisterschaftsprogramm der Schule. … An den Schulmeisterschaften im Rodeln nahmen 70 Prozent aller Schüler der 1. bis 4. Klasse teil. Gleichfalls 70 Prozent der Schü-ler der 5. bis 7. Klassen und 90 Prozent der 8. bis 10. Klassen beteiligten sich am Eisschnelllauf. Der Skilanglauf hatte in den 4. und 5. Klassen eine Beteiligung von 60 Prozent." (Seite 77 und 78) Hier scheint die Erinnerung an die Einleitung unausweich-lich. Nicht einmal drei Jahrzehnte sind vergangen, seitdem das Wort „Ski" in diesen Dörfern kaum in seiner Schreibweise gelehrt wurde, da kaum damit zu rechnen war, dass ein Schüler sie aus nächster Nähe sehen würde!
Weiter in der Lesung: „Inzwischen weisen die Schulsportfeste an vielen Schulen eine höhere Qualität auf. Sie tragen an ver-schiedenen Orten den Charakter von Schulspartakiaden.
Im Kreis Altentreptow ist das an den Oberschulen Burow, Teetzleben und Wildberg der Fall. Wertvolle Hinweise und Anre-gungen für die Gestaltung von Schulspartakiaden erhielten die Altentreptower vom Direktor des Instituts für Körpererziehung
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der Universität Rostock, der im Frühjahr 1966 auf zwei Veran-staltungen (erweiterte Direktorenkonferenz des Kreises und ge-meinsame Pädagogische Ratssitzung der Räte Teetzleben und Wildberg) vor Direktoren, Fachberatern und Lehrern über den Ideengehalt der Spartakiadebewegung sprach und darlegte, wie durch ein langfristig geplantes, koordiniertes, komplexes Vorge-hen die klassenmäßige Erziehung unserer Schuljugend vertieft werden kann.“ (Seite 79)
„Die Spartakiadebewegung hat in den letzten Jahren sowohl zu einer Breitenentwicklung als auch zu einer Steigerung der sportlichen Leistungen im Kinder- und Jugendsport geführt. Mit ihr wurden Trainingshäufigkeit, -umfang und -qualität erhöht. Sie beweist mit ihrem umfangreichen Wettkampfsystem, dass diese Form der sportlichen Betätigung ein Weg zur Erhöhung der phy-sischen Leistungsfähigkeit, zur Herausbildung fester Interessen für eine Sportart und für die Entwicklung der sportlichen Leistung ist. Die Spartakiadebewegung wurde zum bestimmenden Faktor im Kinder- und Jugendsport der Deutschen Demokratischen Re-publik.“ (Seite 80)
„Die Hauptform der Qualifizierungsmöglichkeit für die Kreis-spartakiade sind die Rundenwettkämpfe in den verschiedenen Sportarten. Sie ermöglichen vielen Kindern und Jugendlichen eine regelmäßige Teilnahme an Wettkämpfen.
Aus ökonomischen Gründen werden im Kreis Altentreptow die Rundenwettkämpfe in der Leichtathletik in Schulbereichen (von der Altersklasse Kinder B an aufwärts) ausgetragen. Zum Be-reich gehören jeweils drei Schulsportgemeinschaften. Alle sind nacheinander Ausrichter der Rundenwettkämpfe. Die Kinder-klassen C 1 bis C 3 tragen ihre Rundenwettkämpfe im Ober-schulbereich aus.
Als eine gute Bewährungsprobe in der Leichtathletik vor der Kreisspartakiade haben sich die zentralen Abschlussprüfungen
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der Berufsschüler sowie Schülerinnen und Schüler der 10. Klas-sen im Kreismaßstab erwiesen. Seit Jahren sind sie für Leicht-athleten in den Jugendklassen die letzte Möglichkeit, sich die Teilnahme an der Kreisspartakiade zu erkämpfen. Eine zielge-richtete pädagogische Vorbereitung und ein der Abschlussprü-fung entsprechender würdiger emotionaler Ablauf mit Ein-marsch, Eröffnung durch den Kreisschulrat, Flaggenhissung, Eid und feierlicher Siegerehrung stimulieren den Einsatz für den Kampf um die Qualifizierung für die Spartakiade.
Die Kreisspartakiaden haben sich in den letzten Jahren dank der Unterstützung der Parteiorgane, staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen zu sportlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Höhepunkten für Teilnehmer und Öffentlich-keit entwickelt.
In Altentreptow werden die Kreisspartakiaden durch den Vor-sitzenden des Rates des Kreises eröffnet. Ehrengäste sind dort seit Jahren die Rostocker ASK-Schwimmer Bärbel und Susanne Grimmer sowie Egon Henninger und Klaus Katzur mit ihrem Trainer Richard Schlegel. Sie (die ein Stück Geschichte des Schwimmsports unserer jungen sozialistischen Sportbewegung mitgeschrieben haben) fühlen sich eng mit der Entwicklung des Kinder- und Jugendsports des Kreises Altentreptow verbunden. Ihre Gegenwart und Anteilnahme an den Wettkämpfen, ihre an-erkennenden Worte für besonders gute Leistungen und trösten-de für Unterlegene, ihre Siegerehrung für die Spartakiadesieger tragen wesentlich zur sportlich-moralischen Erziehung der jun-gen Sportler bei. Sie haben einen beachtlichen pädagogischen Wert.
Die Leichtathletik hat sich auch in den Agrarbezirken Neu-brandenburg und Schwerin zum Kernstück der Kreisspartakia-den entwickelt. Die Teilnahme der Kinderklassen C1 bis C3 ist aus dem Rahmenprogramm nicht mehr wegzudenken. Bereits
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am Tage vor der offiziellen Eröffnung finden z. B. im Kreis Alten-treptow ,Spartakiaden der Jüngsten' statt. Wie begeistert und zugleich ernst die Kinder aus dem Bereich der Vorschulerzie-hung die leichtathletischen Wettkämpfe und Spiele nehmen, mit welchem Stolz sie sich als Sieger ehren lassen, kann nur derje-nige ermessen, der diese Veranstaltung als Augenzeuge miter-lebte. Diese Stimmung klingt bis ins Elternhaus nach. Hier liegt eine echte Reserve für die Breitenentwicklung des Kindersports." (Seiten 81 und 82) Aber auch hier gilt, was für die zentralen Spartakiaden in Berlin Gültigkeit hat: Es geht nicht nur um Sie-ger und Rekorde, es geht um die vielseitige Bildung der jungen Generation:
„Auf diesen Schulspartakiaden werden aber nicht nur sportli-che Wettkämpfe ausgetragen; ihre Zielstellung ist umfassender. In ihnen spiegelt sich das sportliche und kulturelle Leben an der Schule wider. Arbeitsgemeinschaften und Zirkel stellen ihre Ar-beiten aus, junge Rezitatoren und Erzähler treten auf, Volk-stanzgruppen, Chöre und Singegruppen tragen dazu bei, dass die Spartakiaden zu kulturpolitischen Höhepunkten des Schul-jahres werden. Der Direktor, der Elternbeiratsvorsitzende und der Vertreter der Paten-Betriebssportgemeinschaft nehmen dann die Siegerehrung und Auszeichnungen der Besten vor und delegieren die erfolgreichsten Sportler zur Kreisspartakiade. So übt die Schulspartakiade einen wichtigen emotionalen Einfluss auf die Schüler aus und wird mitbestimmend für das sportliche Klima an der Schule.“ (Seite 80)
Im Laufe der Spartakiadejahre haben sich viele Traditionen entwickelt, selbst in den kleinsten Dörfern:
„Über die zentralen Cross-Wettkämpfe hinaus gibt es in vielen Teilen der DDR traditionelle örtliche Cross-Wettkämpfe. Im Kreis Altentreptow lädt z. B. die SSG Tützpatz alljährlich zum Parklauf ein und die SSG Siedenbollentin zum Fritz-Reuter-Cross.
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Die SSG Siedenbollentin widmet ihren Crosslauf dem Geden-ken des niederdeutschen Heimatdichters Fritz Reuter, der meh-rere Jahre in Altentreptow wohnte, u. a. auch in Siedenbollentin wirkte und in Altentreptow als privater Turnlehrer tätig war. Die SSG in Teetzleben gedenkt mit dem von ihr ausgerichteten See-lenbinder-Gedenksportfest eines hervorragenden deutschen Sportlers, dessen ruhmvoller Kampf gegen den Faschismus, in dem er sein Leben einsetzte, unvergessen bleiben wird. Nach feierlicher Eröffnung, Ansprache und Kranzniederlegung messen die Sportler der an diesem Wettkampf beteiligten Schulsportge-meinschaften des Kreises von der Altersklasse C1 an in Mittel- und Langstreckenlauf-Wettbewerben ihre Kräfte.“ (Seite 91/92)
Wer aus all dem indessen zu schließen bereit wäre, dass die Spartakiade in den vier untersuchten Kreisen damals schon ei-nen „festen“ Platz hatte, irrt. Die Lesung enthält auch eine Serie von Kritiken, die sich vor allem gegen das hier und da ungenü-gende Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte bei der Organisierung des Volkssports richten. …
Als der Altentreptower Kreisturnrat Ernst Mohns seinen Na-men unter die Lesung setzte, hatten 4.229 Kinder und Jugendli-che an den Ausscheidungen der Kreisspartakiade 1968 teilge-nommen. Zwei Jahre später bestätigte die Zahl von 6.636 Teil-nehmern die Richtigkeit der Schlussfolgerungen der Lesung in überzeugender Weise. In 25 Sportgemeinschaften des DTSB trieben 4.245 Kinder, Jugendliche und Erwachsene Sport. Das waren 18,6 Prozent der Bevölkerung wobei die Zahl von 765 Sporttreibenden über 21 Jahre (5,3 Prozent) zweifellos zu den noch Unzufriedenheit auslösenden Ziffern gehörte, während die 59 Prozent der sechs- bis vierzehnjährigen organisiert Sporttrei-benden wiederum belegten, dass die Spartakiade die „sportliche Geographie“ gründlich verändert hatte.
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Auf tausend Einwohner kamen 9,2 Sektionen oder Sportgrup-pen. Eine aus den zwanziger Jahren stammende statistische Er-hebung eines preußischen Ministeriums wies für den damaligen Kreis Demmin - heute etwa Demmin und Altentreptow zusam-men - 0,42 Sektionen auf tausend Einwohner aus.
ZITATE
EIN GROSSER FUHR DAVON
Mit Laurent Fignon starb am Dienstag eine der großen Per-sönlichkeiten des internationalen Radsports. Der nur 50 Jahre alt gewordene Franzose hatte zweimal die Tour de France gewon-nen und einen dritten Sieg um die Haaresbreite von acht Sekun-den verpasst. Seine erste internationale Etappenfahrt hatte ihn nach Berlin geführt. Es war die 34. Friedensfahrt und zum ersten Mal war der Auftakt als Parallel-Zeitfahren in der Karl-Marx-Allee ausgetragen worden. Frankreichs Nationaltrainer Michel Nede-lec, berühmt geworden durch einen Paris-Roubaix-Sieg und lan-ge Jahre ein Fan der Friedensfahrt, hatte mir schon bei unserer ersten Begegnung auf dem Flugplatz über Fignon gesagt: „Ein Riesentalent, aber er weiß es nicht.“ Das Berliner Zeitfahren be-endete er als 31. Die folgenden selten turbulenten Etappen lie-ßen ihn auf den 44. Platz zurückfallen, aber dann holte er auf und beendete die Fahrt als 32. Als ich ihn am Ruhetag in Gera nach dem Besuch im Patronats-Betrieb fragte, ob er Profi wer-den wolle, schüttelte er den Kopf. „Ich studiere Veterinärmedizin und dabei bleibe ich. Außerdem: Ich habe Mühe, mich in der Na-tionalmannschaft zu behaupten. Profi? Wohl nichts für mich.“ Die Atmosphäre der Friedensfahrt hatte ihn beeindruckt: „Das Milieu ist ungewöhnlich und anziehend. Man fühlt sich wohl.“
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Als er nach Paris zurückkehrte bot ihm Frankreichs damals berühmtester Manager Cyrille Guimard einen Profivertrag an. Vermutlich hatte Nedelec seinem Kollegen einiges über die Qua-litäten des 21jährigen erzählt. Guimard brauchte einen verlässli-chen „Wasserholer“ für den zweifachen Toursieger Bernhard Hinault (Spitzname: „Der Dachs“). Fignon maulte zwar „Ich bin nicht Rennfahrer geworden, um anderen zum Sieg zu verhelfen“, leistete dann aber doch solide Profi-Arbeit, fuhr nach der Frie-densfahrt noch die Tour de France und verhalf Hinault zum drit-ten Sieg. Ein Jahr darauf eroberte er zum ersten Mal selbst das Gelbe Trikot. Hinault gewann wieder, aber als er 1983 seinen fünften Sieg anstrebte, scheiterte er an – Laurent Fignon. Der gewann die Tour auch 1984. Sein Aufstieg in den Kreis der Mehrfach-Sieger schien programmiert, als ihn eine Achilles-Sehnen-Verletzung weit zurückwarf. Fast neun Monate nach der Operation konnte er endlich wieder in den Sattel steigen. Der Anschluss an die Weltelite fiel ihm schwer und dauerte. Seine eigene Darstellung: „Vier Jahre lang musste ich schwer schuf-ten, um wieder das alte Niveau zu erreichen.“ 1989 fiel die Ent-scheidung über seinen dritten Tour-Sieg beim Einzelzeitfahren auf der letzten Etappe mitten in Paris. Er verlor das Duell gegen den US-Amerikaner Greg LeMond um die schon erwähnten acht Sekunden.
Fignon hatte nie Hemmungen, sich mit Medien oder Renn-stallchefs anzulegen. Er bildete sich eine Meinung und vertrat sie, auch wenn er deswegen mit Ärger rechnen musste. In vielen Etappenorten bummelte er über die Flohmärkte und suchte nach antiquarischen Büchern. Seine Erklärung: „Literatur ist Erho-lung!“ In Interviews sagte er: „Dass Radsport ein Teamsport sein soll, ist blanker Unsinn“ und – nachdem er zweimal wegen Do-pings belangt worden war: „Machen Sie eine Wertung für saube-
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re und nicht saubere Fahrer: Ich würde beide Wertungen gewin-nen.“
Er ließ sich nie „einordnen“, beharrte immer – zuweilen kom-promisslos und fast grob – auf seinem Standpunkt. Eine Hal-tung, die ihm in der Branche des Profisports oft nicht nachgese-hen wurde. Dort liefert man gefällige Antworten und passt sich an.
Zwanzig Jahre nach jener dramatischen Tour-Niederlage auf den Pariser Champs-Elysee diagnostizierten die Ärzte metasta-sierten Bauchspeicheldrüsenkrebs. Noch einmal raffte er sich auf und kämpfte, wie er einst bei der Tour gekämpft hatte. Lance Armstrong bewog ihn dazu, sich endlich mit den Medien, die er so oft bekämpft hatte, zu versöhnen. Im Juli erschien er als Fernseh-Kommentator bei der Tour de France. Ganz Frankreich fragte sich, wie viel Etappen er durchstehen würde. Er war bis Paris dabei aber dann blieben ihm nur noch gut 30 harte Tages-etappen bis zum Tod.
Tour-de-France-Direktor Prudhomme würdigte den großen Sieger und Verlierer mit warmen Worten. Ein Direktor der Frie-densfahrt schließt sich an.
Junge Welt; Klaus Huhn, 31.8.2010
VON DEN TRÄUMEN AUS DER DDR IST FAST NICHTS GEBLIEBEN
Der deutsche Fußball feiert 20 Jahre Vereinigung. Doch die Lage im Osten gibt kaum Anlass zur Freude. Dieses Spiel vor 20 Jahren werden sie nie vergessen. „Stolz wie Bolle waren wir“, sagt Perry Bräutigam. „Sogar eine Stadtrundfahrt durch Rio ha-ben wir gemacht“, sagt Ulf Kirsten. In einer Zeit, in der auf einmal alles möglich schien, galt dies besonders im Fußball. Ein halbes
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Jahr nach dem Mauerfall reisten Bräutigam, damals Torhüter von Carl Zeiss Jena, und Kirsten, Stürmer bei Dynamo Dresden, im Mai 1990 mal eben mit der DDR-Auswahl zum Testspiel nach Rio.
Ricardo Teixeira, der brasilianische Verbandspräsident, wollte sein Team noch gegen eine starke Nationalmannschaft antreten lassen, bevor es zur WM nach Italien aufbrach. Also zahlte er dem klammen DDR-Verband kurz vor dessen Auflösung die Flug- und Hotelkosten - und plötzlich standen elf Fußballer mit seltsamen Vokuhila-Frisuren und großen Augen vor 80.000 Zu-schauern im sagenumwobensten Stadion der Welt, dem Mara-cana von Rio de Janeiro: Bräutigam, Kirsten und Co. gegen Jor-ginho, Bebeto, Careca, Alemao, Dunga.
„Das war pures Adrenalin“, sagt Bräutigam. „Wir liefen durch den Spielertunnel, sahen die volle gelbe Schüssel und alles ging wie von allein.“ Ein grandioses 3:3 trotzten sie den Brasilianern ab. „Das war eine der besten Mannschaften, die die DDR je hat-te“, sagt Bräutigam. „Es gab ja auch noch Sammer, Thom, Scholz, Wosz...“
Doch für viele, auch für Bräutigam und Kirsten, sollte es das letzte offizielle Länderspiel mit der DDR-Auswahl gewesen sein. Danach kam im September 1990 nur noch die Partie gegen Bel-gien. Und am 21. November ging der Deutsche Fußball-Verband (DFV) dann in den Deutschen Fußball-Bund (DFB) über. Der Ostfußball wurde in Windeseile abgewickelt. … Bräutigam und Kirsten haben erlebt, wie die Geschichte des Fußballs in den neuen Bundesländern kein Märchen von den blühenden Land-schaften wurde. Die Träume, die Erwartungen, die beide an das neue Deutschland hatten, erfüllten sich nicht immer so wie in Rio. Und wie es zurzeit um den Fußball im Osten Deutschlands steht, wissen sie nur zu gut. Beide sind immer noch eng mit ihm verbunden.
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Kirsten, der nach seinem Wechsel zu Bayer Leverkusen eine erfolgreiche Bundesligakarriere hinlegte, hatte schon 1990 den Umgang mit den Profis aus der DDR bei Vertragsverhandlungen kritisiert: „Ich habe mich total hilflos gefühlt, viele haben ver-sucht, mein Unwissen auszunutzen. Solche linken Dinger hätte ich nie erwartet.“
Um den Fußball in Ostdeutschland, besonders die Nach-wuchsförderung voranzubringen, gründete der 44-Jährige, der nun Leverkusens zweite Mannschaft trainiert, 2004 sogar eine Stiftung. „Es geht im Osten oft nur über Eigeninitiative“, sagt Kirsten. … Bräutigams Bilanz fällt düsterer aus: „Den Talenten fehlt die Perspektive. So habe ich kaum Hoffnung, dass sich ein Ostclub in der Bundesliga etabliert.“ … Von den Träumen im Ma-racana ist nichts geblieben.
Stuttgarter Zeitung; 19.11.2010
LEIPZIGER TRÄUME
Auf Schalke raufen sie sich die Haare: sechs Punkte aus neun Spielen! In Köln sind kaum noch Haare, die sich raufen lie-ßen: fünf Punkte aus neun Spielen. In Leipzig ist man mit 22 Punkten aus elf Spielen nicht restlos zufrieden, aber noch guter Dinge. Obendrein Schalke ist Schalke und hat einen Ruf zu ver-lieren, ganz gleich, ob eine russische Gasfirma den Verein be-zahlt und sein Logo auf das Trikot klebt, oder morgen ein Erbs-wurstproduzent das Unternehmen finanziert. In Leipzig ist alles ganz anders. Im Sommer vorigen Jahres hatte ein österreichi-sches Unternehmen der Getränkeindustrie – auf den Namen verzichten wir, bis man sich in der dortigen Direktion entschließt, in jW zu inserieren – folgende Mitteilung verbreitet: „Neuland in Deutschland. Xy betreten grünen Rasen in Deutschland. Xy be-
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stätigt die Partnerschaft zum SSV Markranstädt, Xy Leipzig e.V. wird ab kommende Saison in der Oberliga NOFV-Süd spielen. Nach den Vereinen Xy Salzburg und Xy New York, neben den Xy Fußballakademien in Brasilien und Ghana wird mit Xy Leipzig das Engagement nun auf Deutschland erweitert. Die Ziele sind klar formuliert … Schaffung einer Fußball-Euphorie in Sachsen, Förderung des Nachwuchs in dieser Region, mittelfristiger Auf-stieg in den Profifußball. Die notwendigen Verträge wurden un-terzeichnet und die Genehmigungen durch die relevanten Ver-bände liegen vor.“ Dann wurde der Betreuerstab vorgestellt – Trainer Tino Vogel (Markranstädt) – und danach die engagierten Spieler, darunter welche aus Cottbus, Hertha BSC, Augsburg, FSV Frankfurt. Im Mai 2009 stieg man mit 16 Punkten Vorsprung in die Regionalliga auf, verabschiedete sich mit einem Freibier-Fest von den nicht mehr benötigten Spielern und Markranstädt und wechselte in Leipzigs größtes Stadion, dessen Namen der Salzburger Brauseproduzent inzwischen gekauft hatte. Zwi-schendurch wurde der Manager ausgewechselt, der Chef der Salzburger Fußballabteilung – früher beim HSV tätig – stattete einen Blitzbesuch in Leipzig ab und letzten Freitagabend ge-wann man 2:0 in Plauen, was den Rückstand zum Spitzenreiter Chemnitzer FC auf sechs Punkte reduzierte, der sich noch redu-zieren könnte, wenn der Tabellenletzte Türkiyemspor Berlin tat-sächlich in die Insolvenz geht und alle gegen diese Elf erzielten Punkte gestrichen werden. Natürlich hat sich am erklärten Ziel der Leipziger Xy, so bald wie möglich in einer Liga mit Schalke und Köln zu spielen – was beim derzeitigen Stand der Dinge sowohl die erste als auch die zweite Bundesliga sein könnte – nach wie vor nichts geändert und manches lässt darauf schlie-ßen, dass der Brauseunternehmer notfalls auch noch ein paar Stars einkaufen wird, um dieses Ziel schnell zu erreichen, denn der Werbefaktor in der Brausebranche wird nach wie vor hoch
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eingeschätzt. Der „Spiegel“ (18.10.2010) dazu: „Fußball ist ein gewichtiger Teil des Sportimperiums vom Firmenchef Dietrich Mateschitz geworden (...). Nun wird der Torwarttrainer (…) vom professionellen Torwarttrainerausbilder in Salzburg geschult. (…) Der frühere Manager des Hamburger SV sagt, dass es gar nicht nur um Werbung gehe. `Ziel ist es, mit allen Aktivitäten auch Profit zu machen.´(…) Der neue Player auf dem Fußballmarkt mag keine Vereinsmeier (…) Bei den aktiven Mitgliedschaften gebe es halt Eintrittsbarrieren: hohe Aufnahmegebühren, hohe Beiträge, ein Vetorecht des Vorstands. (…)“
Als im vergangenen Jahr der Verein „zu spielen begann, tru-gen Fans mit einem Holzkreuz symbolisch den Fußball zu Gra-be. Inzwischen hat der Klub örtlichen Honorationen 16 Stadion-logen verkauft.“
Am 30. Oktober spielt Xy Leipzig gegen Hertha BSC II. Die Elf liegt zwei Punkte hinter den Leipzigern. Und der „Spiegel“ titelte seine Story „Im Sog des Kapitals“.
Junge Welt; 25.10.2010
POTSDAM ZIEHT ZURÜCK
Potsdam (dpa) - Nach zwölf erfolgreichen Jahren zieht der Universitäts-Judo- und Kampfsportclub (UJKC) Potsdam seine Frauen-Mannschaft aus der Judo-Bundesliga zurück. Es mange-le an eigenen talentierten Nachwuchskämpferinnen, begründete UJKC-Cheftrainer Axel Kirchner den Rückzug in der Märkischen Allgemeinen Zeitung, „es entspricht nicht der Philosophie des Vereins, fast nur mit teuren Gaststarterinnen anzutreten“. Der Klub der deutschen Judo-Olympiasiegerin Yvonne Bönisch war 2005 Zweiter bei der EM der Vereinsmannschaften geworden und hat in der Bundesliga drei Meistertitel sowie zahlreiche Top-
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Platzierungen geholt. Bönisch hatte im UJKC zuletzt als Traine-rin gearbeitet.
Süddeutsche Zeitung; 24.11.2010
SPORTINTERNAT FEHLEN SPONSOREN
Das Sportinternat kommt nicht recht in die Gänge, im Lud-wigsburger Rathaus ist Ernüchterung eingekehrt. Während des zweiten Schuljahres wohnen nur 14 Jugendliche in dem auf 21 Bewohner ausgerichteten Heim in der Königin-Olga-Kaserne, erhoffte Sponsorengelder sind ausgeblieben, und der Enthusiasmus der Ludwigsburger Sportvereine scheint verflo-gen. Nun muss die Stadt mindestens drei Jahre lang jeweils 30.000 Euro für den Betrieb der Kaderschmiede für Basketballer, Leichtathleten, Tennisspieler und Tänzer aufbringen. Wolfgang Fröhlich sagt: „Wir sind liquide.“ Das Defizit sei auch deshalb aufgelaufen, weil das Internat im Dreischichtbetrieb be-treut werden müsse. „Sobald auch nur ein Schüler im Haus ist, muss auch eine Aufsichtsperson da sein“, sagt der Leiter des Fachbereichs Bildung, Familie und Sport. Bei den Vorplanungen sei man davon ausgegangen, dass dies etwas lässiger gehand-habt werden könne.
Die Verwaltung hat nun dem Ausschuss für Bildung, Sport und Soziales vorgeschlagen, die 90.000 Euro für das Internat aus dem Topf für die allgemeine Sportförderung zu nehmen. Das stieß nur bei CDU, FDP und Grünen auf Gegenliebe. Der SPD-Stadtrat Hubertus von Stackelberg forderte, das Geld an anderer Stelle zu holen, die zusätzliche Last dürfe nicht den Sportvereinen aufgebürdet werden.
Nach Ansicht von Roland Glasbrenner (Freie Wähler) ent-spräche die Kürzung bei den Vereinszuschüssen einem Eingriff
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in die Förderrichtlinien. Um den Betrieb des Sportinternats auf Dauer sicherzustellen, müsse ein zusätzlicher Posten im Etat-plan geschaffen werden. Die Frage jedoch, wo dieses Geld ab-gezwackt werden soll, stelle sich erst in der kommenden Woche, wenn über den Haushalt 2011 beraten werde. …
„Ich bin vom Landessportverband enttäuscht“, sagte von Sta-ckelberg. Es sei dessen ureigenste Aufgabe, die Vereine und Verbände zu ermutigen, damit weitere Schüler das Internat be-suchen. Gegenwärtig sehe es aber so aus, als hätten die Funk-tionäre „die Stadt im Regen stehen lassen“.
Ludwigsburg habe mit dem Internat „großes Pech gehabt“, sagte Glasbrenner. Just als die Einrichtung an den Start ging, habe die Finanzkrise viele Pläne zunichte gemacht. Den Zusa-gen von Firmen, Vereinen und Sponsoren aus dem Jahr 2007 seien nur wenige Taten gefolgt. Bisher hätten nur Basketballer und Tennisspieler junge Talente ins Internat geschickt. … „Nun können wird nur darauf hoffen, dass sich mit einer besseren Wirtschaftslage auch wieder das eine oder andere Türchen für uns öffnet“, sagte Glasbrenner. …
Stuttgarter Zeitung; 7.12.2010
SAMMER WARNT DEN WELTFUSSBALL
Die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften 2018 und 2022 nach Russland und in den Wüstenstaat Katar ist fast eine Wo-che her, doch noch immer gibt es ständig neue Reaktionen zwi-schen Unverständnis und Empörung. Zudem kommt so manch pikantes Detail zutage.
Rückblick: Am vergangenen Donnerstag hatte Präsident Sepp Blatter die Sieger der vom Weltverband Fifa erstmals als Dop-pelwahl durchgeführten Abstimmung verkündet. Katar, ein Land
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so groß wie Schleswig-Holstein mit einer Einwohnerzahl wie Hamburg, wird in zwölf Jahren eines der größten Sportereignisse der Welt ausrichten - bei 50 Grad Außentemperatur, Alkoholver-bot und einer Nationalmannschaft, die derzeit Weltranglisten-platz 113 einnimmt. Das Reich der Scheichs hatte Länder wie die USA und Australien aus dem Rennen geschlagen. … Auch Matthias Sammer, der Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), hat die Wahlen am 2. Dezember mit Unbehagen verfolgt. Für ihn bestätigt sich ein unheilvoller Trend, der ihm nicht erst seit der vergangenen Woche ein Dorn im Auge ist. „Die Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 nach Katar ist das eine, aber wenn ich sehe, dass die kommenden Europameisterschaf-ten der U17 und U19 in Rumänien, Serbien, Estland, Litauen und der Slowakei stattfinden, müssen wir das schon hinterfragen dürfen“, sagte er der „Welt“. …
Sammer erhebt … den mahnenden Zeigefinger in Richtung Fifa und Uefa: „Der Solidargedanke im Fußball ist grundsätzlich richtig, aber wir sollten auch die Verhältnismäßigkeiten berück-sichtigen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die großen Fußballnationen diesen Sport zu dem gemacht haben, was er heute ist.“
Auch die Wahl Russlands, fußballerisch weit weniger bedeu-tend als politisch, hat einen faden Beigeschmack. Vor allem, weil Mitbewerber England bereits in der ersten Wahlrunde ausschied – mit zwei von 22 Stimmen. Auf den ersten Blick ist dieser Schlag ins Gesicht des Fußball-Mutterlandes unerklärlich, wurde den Briten doch im Vorabtest einer unabhängigen Beratungs-agentur als einzigem Land eine 100-prozentige Eignung als Gastgeber bestätigte. Russland belegte dabei den letzten Platz (86 Prozent). …
Vor den Wahlen hatte die „Sunday Times“ zwei Mitglieder des Exekutivkomitees überführt, die bereit waren, ihre Stimmen zu
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verkaufen - beide wurden suspendiert. Der Fernsehsender BBC hatte zudem drei weiteren stimmberechtigten Fifa-Funktionären nachgewiesen, Ende der 90er-Jahre Bestechungsgelder einer mittlerweile insolventen Rechteagentur angenommen zu haben. Andy Anson, der Chef des englischen Bewerbungskomitees, hatte nach der Niederlage behauptet, Präsident Blatter habe kurz vor der Wahl vor dem Exekutivkomitee von den „bösen bri-tischen Medien“ gesprochen. … Auch die Wahl Katars wird von unschönen Meldungen begleitet. Das „Wall Street Journal“ hatte von einer 60-Millionen-Euro-Spende des Wüstenstaates an den argentinischen Fußballverband berichtet, um dessen Liquidität zu wahren. „Warum in Gottes Namen soll unser Verband so ho-he Schulden haben? Es ist Fakt, dass wir einen soliden Vertrag mit der argentinischen Regierung besitzen. Alles läuft zur volls-ten Zufriedenheit“, sagte Verbandspräsident Julio Grondona, der auch Vizepräsident der Fifa ist.
Vor der Wahl hatte sich Katars Exekutivkomiteemitglied Mo-hamed Bin Hammain offen zu Absprachen bekannt. So soll sein Verband den Stimmenaustausch mit Spanien beschlossen ha-ben, das sich gemeinsam mit Portugal um die WM 2018 bewor-ben hatte. „Wenn es einen Deal gibt zwischen mir und Angel Maria aus Spanien oder anderen Beteiligten des Exekutivkomi-tees, dann sehe ich das nicht als Problem. Vielleicht sehen sie das aus europäischer Perspektive als Problem“, sagte er der ARD. …
Einer grundsätzlichen Reform ihres Abstimmungsmodus' ver-schließt sich die Fifa weiterhin. Präsident Michel Platini vom eu-ropäischen Verband Uefa hatte in der „Welt am Sonntag“ ge-sagt: „Ein neues Wahlprozedere wäre wünschenswert. Es geht einfach um zu viel Geld. Vielleicht müssten sie versuchen, ein besseres System zu finden.“ Fifa-Generalsekretär Jerome Val-cke lehnte das zum jetzigen Zeitpunkt ab: „Wir haben erst am
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Donnerstag gewählt. Es gab keine Diskussion über eine Reform unseres Wahlsystems.“ Im Gegenteil: Die Doppelwahl sei „per-fekt organisiert, völlig transparent und perfekt unter Kontrolle“.
Die Welt; 8.12.2010
BLUT AUS DEM SCHATTENREICH
MOSKAU. Chefredakteur Dmitri Muratow hat Elektroschocker verteilt. Zwanzig Journalisten seiner Zeitung Nowaja Gaseta, die delikate Themen recherchieren, sollen sich damit bei Überfällen verteidigen können. Beruhigend sind sie kaum. Der beste Schutz für Journalisten in Russland sei, nicht „über Korruption, Neona-zis, den Geheimdienst und den Kaukasus-Konflikt zu berichten“, sagt Muratow. „Aber dann sind sie keine Journalisten mehr.“ …
Natürlich ist auch der Bauunternehmer Morosow in Gefahr, seit er öffentlich gemacht hat, dass Staatsdiener für Bauaufträge in der Olympiastadt Sotschi mindestens zwölf Prozent Schmier-geld verlangen. … Laut Anin darf man von 20 bis 30 Prozent Schmiergeld bei allen Bauprojekten ausgeben. „Diese Summe wird immer gestohlen.“ In Sotschi war zuletzt die Rede von 25 Milliarden Dollar Investitionen, für die WM 2018 werden es min-destens 40 Milliarden sein. Morosow hat die Flucht an die Öf-fentlichkeit angetreten, als die Ganoven zu gierig wurden. Die Schmiergelder waren ihnen nicht genug, sie wollten zusätzliche Zahlungen, für sein größtes Projekt in Sotschi sollte er die Rech-nungen über Tarnfirmen auf dem Balkan neu erstellen und weitere 20 Millionen Euro abzweigen. Sotschis Bürgermeister Anatol Pachomow, der selbst an Bauprojekten verdient, hat ihn als „Wun-de auf unserer Haut“ bezeichnet. Eine unverhohlene Drohung.
Die Großereignisse, die Premier Wladimir Putin und die Sei-nen akquiriert haben, sind ein gigantischer Selbstbedienungsla-den für Staatsdiener, Politiker und Oligarchen. Das ist bei den
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Winterspielen 2014, der Fußball-WM 2018 oder der Universiade 2013 in Kasan nicht anders als beim Bau der Formel-l-Strecke in Sotschi. Neben den Putin-treuen Oligarchen wie Oleg Deripas-ka, der ein Großteil der Sotschi-Aufträge abwickelt, oder Roman Abramowitsch, der vor allem bei der WM engagiert ist, sind staatsnahe Konzerne wie Gasprom, Rosneft, Rostelekom oder Sberbank stets dabei.
Schließlich ist da noch eine dritte Gruppe, die abkassiert: die lokalen Autoritäten, die Bosse der organisierten Kriminalität, auch Diebe im Gesetz genannt. In Sotschi läuft kein Geschäft ohne Einwilligung von Aslan Usojan alias Großvater Hasan. Der Gangster kassiert Unternehmer ab und ist im Fußball aktiv. In jedem russischen Profiklub sind kriminelle Autoritäten und/oder Oligarchen engagiert. Sie bekommen durch die WM ultramoder-ne Arenen, für die sie keinen Rubel zahlen müssen. In Sotschi tobt ein blutiger Kampf von georgisch dominierten Clans um die Herrschaft im Schattenreich. Usojan wurde im September in Moskau angeschossen, er überlebte; im Oktober wurde sein Statthalter Eduard Kakosjan ermordet.
Beim WM-Projekt gibt es ein Wiedersehen mit alten Bekann-ten aus Skandalen früherer Jahre. Ein Beispiel: Alimsan Toch-tachunow, alias Taiwantschik, der 2002 für den Bestechungs-skandal beim olympischen Eislaufen in Salt Lake City verant-wortlich war. Tochtachunow darf Russland nicht verlassen, an-derswo würde er verhaftet. Er lebt in Moskau, ist in der Stiftung des russischen Fußballverbandes involviert und im Baugeschäft der EM 2012 in der Ukraine. Tochtachunow trifft sich in Moskau gern mit einem prominenten Bekannten – Fifa-Präsident Joseph Blatter.
„In systemisch korrupten Ländern wie Russland hat das Ver-brechen viele Gesichter“, sagt Elena Panfilowa, Chefin der rus-sischen Sektion von Transparency International. Ermitteln kann
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Panfilowa mit ihren sechs Mitarbeitern nicht. Sie kann lediglich Presseberichte auswerten. Waleri Morosow hat gehandelt. Er kann nicht mehr zurück. „Die Öffentlichkeit schützt mich“, sagt er. „Andernfalls wäre ich wohl schon ermordet worden.“
Berliner Zeitung; Jens Weinreich, 8.12.2010
„DER TORWART WOLLTE DAS MACHEN“
BOCHUM. Sie bestachen Fifa-Schiedsrichter und A-Jugendliche, doch von der Fußball-Bundesliga ließen die Wett-betrüger offensichtlich die Finger. „Mit Sicherheit müsste man Bundesliga-Spielern viel mehr Geld bieten“, sagte der mutmaßli-che Haupttäter Marijo C. als Zeuge im Prozess vor dem Bochu-mer Landgericht aus. Allerdings habe es keine grundsätzliche Entscheidung der Wettmafia gegeben, die höchste deutsche Li-ga auszuklammern. „Wenn es sich ergeben hätte, wäre mit Si-cherheit auch die Bundesliga dran gewesen“, sagte der 35-Jährige, der im kommenden Jahr angeklagt werden soll.
Zuvor hatte am zehnten Verhandlungstag der Angeklagte Stevan R. zugegeben, Spiele des Regionalligisten Bayern Al-zenau manipuliert zu haben. „Ich habe mit dem Torwart gespro-chen, er wollte das machen“, berichtete der 35-Jährige. Der Keeper sollte rund 5.000 Euro erhalten, damit er absichtlich Tore zulasse. Doch die Manipulation funktionierte offenbar nicht im-mer. „Der Junge wollte Geld verdienen und hat gehalten wie ein Weltmeister“, sagte Stevan R., nachdem Alzenau gegen den SC Freiburg II am 19. September 2009 nur 0:1 verloren hatte - die Wettmafia aber auf eine höhere Niederlage gesetzt hatte.
In einem anderen Fall soll die Manipulation erfolgreich gewe-sen sein – beim 1:3 gegen die Stuttgarter Kickers am 31. Okto-ber 2009. Dem Torwart wurden, so R., nachher 7.500 Euro ge-zahlt. Beim Regionalligisten SC Verl dagegen will Stevan R. nur
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geblufft haben. Auch wenn drei Spieler jeweils 500 Euro erhiel-ten, sei keine konkrete Manipulation verabredet worden. Gegen-über anderen mutmaßlichen Wettbetrügern habe er zusammen mit einem Spieler so getan, als wenn Spiele manipuliert werden sollten. „Das war ein Bluff von uns“, sagte Stevan R., der den-noch Bestechungsgeld von Marijo C. kassierte - angeblich allein 20.000 Euro für einen Spieler. „Das weiß nur der liebe Gott, wer da manipuliert hat“, sagte Marijo C.
Auch U19-Spieler waren in Manipulationen verwickelt. Drei A-Jugendliche von Arminia Bielefeld, die mittlerweile schon vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) gesperrt wurden, sollten ihre Spiele gegen Bochum und Schalke am 31. Oktober und 8. No-vember 2009 verlieren. Wie viel Geld sie tatsächlich bekamen, ist aber unklar. Insgesamt hat der DFB im Zuge des Wettskan-dals neun Verfahren abgeschlossen. Andere beschuldigte Spie-ler - wie auch der Torwart von Alzenau - wurden bislang nur an-gehört. Zunächst sollen weitere Erkenntnisse aus dem Prozess abgewartet werden. (sid)
Berliner Zeitung; 21.12.2010
GARMISCHER SCHMARRN
In der Süddeutschen Zeitung hieß es: „Sie haben sich nicht nur im Ton vergriffen. Mit ihrer Drohung, sich selbst an das IOC zu wenden, fordern sie die Regierung geradezu heraus: Das kann für alle sehr schmerzlich werden.“ … Dumme, geldgeile Garmischer Bauern auf dem Ego-Trip! Karl Angermeier (Name von der Redaktion geändert) schüttelt den Kopf, lacht kurz laut auf. Grotesk findet er das alles.
Angermeier ist ein gemütlicher Mann Ende 60, der sein Be-rufsleben schon hinter sich hat, einer, der keinen Ärger will oder
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gar sucht. Auch deshalb will er nicht, dass sein Name in der Zei-tung steht. Angermeier ist Garmischer durch und durch, seine Familie lebt seit Jahrhunderten im Alpenvorort. Bauer ist er nicht, aber er ist Grundstücksbesitzer. Einer der 59 Menschen, die der bayerischen Staatsregierung ein Ultimatum gesetzt haben, aus der Olympiabewerbung auszusteigen.
Wann die Geschichte mit Olympia genau losging, weiß An-germeier nicht mehr so genau. Dafür erinnert er sich umso bes-ser an ein Schreiben, das vergangenes Jahr im September bei ihm eingetrudelt ist. „Die Gemeinde hat uns Kaufangebote für unser Land gemacht“, erzählt er. 470 Euro pro Quadratmeter, so viel wollte die Gemeinde über einen Investor lockermachen. „Da wäre ich ein reicher Mann geworden“, sagt Angermeier spöt-tisch. Nicht eine Sekunde hat er daran gedacht, seine 10.000 Quadratmeter zu verkaufen. Seit den Befreiungskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts sei das Land in Familienhand … „Da steckt jahrzehntelange Pflege drinnen“, sagt Angermeier. „Die können uns doch gar nicht garantieren, dass nach den Olympischen Spielen alles wieder genauso ausschaut.“ …
Da kam die bayerische Staatsregierung ins Spiel und präsen-tierte sich Mitte Juli als Retter. Willy Bogner wurde entmachtet, die Bewerbung wurde als Chefsache bezeichnet. Staatskanzlei-chef Siegfried Schneider trat als Chefvasall des bayerischen Mi-nisterpräsidenten Horst Seehofer auf den Plan. … Im August besprach sich Angermeier mit Ignaz Streitel, einem einflussrei-chen Landwirt, der lange der Weidegenossenschaft vorstand. Sie trommelten die meisten der Grundstückseigentümer zusam-men und engagierten den Münchner Anwalt Ludwig Seitz. Der sollte für sie verhandeln. Doch es tat sich so gut wie nichts. Am 11. November bekam Seitz dann Post: neue Verträge von der Ge-meinde, die im Auftrag der Olympiabewerbungsgesellschaft han-
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delte. Es handelte sich um schlampige Pauschalverträge, in denen schon mal Grundstücke und Personen verwechselt wurden. …“
Endlich, am 26. November, trafen die Eigentümer, unter ihnen Angermeier, erstmals auf Siegfried Schneider. Der Staatsminis-ter rauschte mit einer Gefolgschaft von sechs Mann an und nach drei Stunden ohne unterschriebenen Vertrag wieder ab. …
Seitdem ist - mal wieder - wenig passiert. „Mit uns wird wei-terhin nicht gesprochen“, sagt Angermeier. Deswegen wollten sie in die Offensive gehen. Und die Gegenseite hat schon wieder einen Bock geschossen: Obwohl die Gespräche mit dem Grund-stückseigentümer der Fläche auf der Kandahar-Abfahrt schon sehr weit fortgeschritten sind, hat es sich die Gemeinde Gar-misch-Partenkirchen nicht nehmen lassen, ein Enteignungsver-fahren in die Wege zu leiten. „Der Schmarrn, den die Gemeinde da verzapft hat, war das i-Tüpfelchen auf all die Peinlichkeiten“, sagt Angermeier. Er schüttelt dabei wieder den Kopf und lacht. Ein sturer, dummer Mann?
Die Tageszeitung Berlin; Sebastian Kemnitzer, 22.12.2010
DOPING WIEDER TRUMPF
Doping ist wieder Trumpf! Und wie meist pendeln die verbrei-teten Mitteilungen zwischen Halbwahrheiten und offen bleiben-den Fragen. Tour-de-France-Sieger Alberto Contador wurde vom Weltradsportverband UCI gesperrt und ihm damit faktisch der Erfolg aberkannt. Gefunden haben soll man in seinem Blut – oder im Urin? – Clenbuterol, ein Medikament, das – nur Phar-makologen können das erklären – sowohl als Asthmamittel als auch für die Kälberaufzucht verwendet wird. Die Eilnachrichten-verbreiter blätterten in ihren Handarchiven und fanden heraus,
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dass schon Katrin Krabbe – dreifache Sprinteuropameisterin beim letzten DDR-Auftritt 1990 in Split – wegen dieses Medika-ments belangt und bestraft worden war. Überlesen hatten sie, dass die Krabbe gegen die Weltleichtathletikföderation deswe-gen geklagt hatte und die ihr rund 1,2 Millionen Euro Schaden-ersatz überweisen musste. Clenbuterol stand zur Krabbe-Zeit nämlich ebenso wenig wie Koffein auf der Dopingliste. Inzwi-schen hatte man beides eintragen lassen.
Contador beruft sich darauf, dass er irgendwo Kalbfleisch zu sich genommen haben muss, das von Züchtern Clenbuterol-verseucht worden war. Ob man die betreffende Rast- oder Gast-stätte je finden wird, ist fraglich. Dafür aber ist eine andere Frage akut: Contadors Doping-Probe war am 21. Juli 2010, dem zwei-ten Ruhetag der diesjährigen Tour, abgenommen worden und soll, ebenso wie die B-Probe, also die zweite Untersuchung, im Kölner Dopinglabor kontrolliert worden sein. Die Nachricht seiner Sperre datiert vom 30. September. Daraus folgert, dass für den Transport der Probe aus Frankreich nach Köln und die beiden Untersuchungen 70 Tage benötigt wurden, ein Zeitraum, der vie-le Fragen aufwirft und einmal mehr das System der Dopingkon-trollen fragwürdig erscheinen lässt. Fehlt es der Nationalen Do-pingkontrollinstanz (Nada) etwa am Geld, um Dopingproben mit Eilzügen zu befördern? Kaum anzunehmen, denn hinter der Do-pinginstanz stehen geldkräftige Sponsoren. So fand die 63. Nada-Vorstandssitzung unlängst in Herzogenaurach statt, Gast-geber war der Sportartikelhersteller adidas, und zwar kein Ge-ringerer als der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens Her-bert Hainer. Und ein in Kürze stattfindendes Seminar wird sogar von der Bundeszentrale für politische Bildung mitorganisiert. Ob dort die unerklärlich langen Kontrollzeiten erörtert werden?
Oder die Probleme, mit denen sich die erfolgreichste deut-sche Wintersportlerin Claudia Pechstein herumschlagen muss?
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Der für ihre Zwei-Jahres-Sperre zuständige CAS-Gerichtshof hatte in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich festgestellt: „Al-lerdings wurde eine plausible Erklärung für die hohen Reti-kulozyten-Werte der Athletin vorgebracht. Tatsächlich stimmten die Sachverständigen dahingehend überein, dass die abnorma-len Werte möglicherweise nicht nur auf eine unerlaubte Manipu-lation des Blutes, sondern auch auf eine erblich bedingte Blut-krankheit zurückzuführen sind“, doch hatte sich niemand bemü-ßigt gefühlt, diese Frage im Interesse der Athletin zu klären. Ihre Prozesskosten sollen sich inzwischen auf eine sechsstellige Summe erhöht haben. Ob adidas da einspringt? Oder sogar die mit Sponsorenhonoraren so großzügige Bundeszentrale für poli-tische Bildung?
Es wäre sowohl im Sinne des Sports als auch der politischen Bildung.
Junge Welt; Oktober 2010
“PRO-OSSI GEWORDEN”
Wolfgang war der „Erste“ und niemand wird ihn je von diesem Platz verdrängen können. Die Rede ist von Wolfgang Behrendt, der im Dezember vor 54 Jahren in Melbourne nach einem dra-matischen Boxfinale im Bantamgewicht die erste Goldmedaille für die DDR errang. Warum der damals 20jährige Berliner – der später fast drei Jahrzehnte Sportfotograf beim ND war und auch in dieser Branche manche Goldmedaille gewann – ausgerechnet zwischen Weihnachten und Neujahr eine Drittelseite in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ füllte, ist nicht mit zwei Worten zu erklären. Die „Bundesstiftung Aufarbeitung“ des Bundestages hatte sich unlängst einfallen lassen, eine Ausstellung mit dem diffizilen Titel „Ästhetik und Politik. Deutsche Sportfotografie im
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Kalten Krieg“ im hohen Haus zu präsentieren. Die Arrangeure hatten auch Behrendt um Bilder gebeten, von denen ihnen aller-dings nur zwei tauglich erschienen. Das eine stammte nicht ein-mal von dem Olympiasieger, sondern war eher zufällig von sei-ner Frau geknipst worden, als Behrendt irgendwann zufällig ne-ben Norbert Blüm zu stehen gekommen war. Wie dieses Duo dem Kalten Krieg im Sport zuzuordnen sein könnte, beantworte-te die Ausstellung nicht. Dafür gab Behrendt dem FAZ-Reporter Reinsch auf seine Fragen einige Antworten, deren Härte unwill-kürlich an die früheren Hiebe des schlagschnellen Boxers erin-nerten:
Frage: „Fotografieren Sie noch?“ Antwort: „Heute, mit der Di-gitaltechnik, fotografiert jeder. Und in den Zeitungen spielt Kunst oder nicht Kunst keine Rolle. Ich habe einige Jahre lang für eine Zeitschrift in Düsseldorf gearbeitet. Dann rief der stellvertretende Chefredakteur an und sagte: Der Chefredakteur sagt, in unseren Regionen braucht man keine Bilder von Ossis. Wir können dir keine Aufträge mehr geben. Ich dachte, ich höre nicht richtig. Schließlich passierte das im vergangenen Jahr, zwanzig Jahre nach der Wende. Zu DDR-Zeiten war ich ein Pro-Wessi. Heute bin ich durch die Jahre ein Pro-Ossi geworden.“
Frage: „Warum?“ Antwort: „Man hat uns das Selbstbewusst-sein genommen, unsere Erfolge totgeschwiegen. Man erkennt unser bisheriges Leben nicht an und hat uns keine neue Chance gegeben.“ Frage: „Ist der Sport nicht missbraucht worden in der DDR?“ Antwort: „Ich weiß nicht, ob die DDR führend war allein dadurch, dass Walter Ulbricht eingefallen ist zu sagen: Wenn wir schon nirgendwo führend sind in der Welt, dann lasst es uns im Sport versuchen. In einem anderen Land als der DDR hätte ich vielleicht nie die Unterstützung bekommen, um Olympiasieger werden zu können.“ Frage: „Sie waren Mitglied der ersten deut-schen Mannschaft, die nach dem Krieg an Olympischen Spielen
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teilnehmen durfte.“ Antwort: „Das war eine gesamtdeutsche Mannschaft. Wir sind von Berlin erst nach Hamburg geflogen, da kamen einige westdeutsche Ruderer dazu. Hinter mir saß einer, der hat erst mal getönt, er fliege nicht mit Kommunisten in einer Maschine. Wenn ich ihn heute treffe, weiß er nichts mehr davon. Aber ich habe die meisten Schläge vorbei gehen lassen an mei-nem Kopf und mir ein ganz gutes Gedächtnis erhalten.“ Frage: „Sind Sie bitter?“ Antwort: „Nein. Ich fühle mich nur so, dass al-les, was ich sportlich und beruflich erreicht habe, negiert und nur abgerufen wird, wenn es gebraucht wird.“ Frage: „Sind die Sport-fotos, auch Ihre, die hier zu sehen sind, politische Dokumente?“ Antwort: „Ja, allein durch die Art, wie sie ausgesucht wurden. Ich habe immer versucht, die Schönheit des Sports zu zeigen. Für diese Ausstellung hatte ich meine besten Bilder rausgesucht. Doch die wollten sie nicht. Aber der Titel der Ausstellung heißt ja `im Kalten Krieg´. Da kann man wohl keine schönen Sportfotos zeigen, sondern nur solche mit politischer Aussage.“
Immerhin ist auch ein Bild von der Friedensfahrt darunter. Dass die Bundesregierung ihrer Rad-Nationalmannschaft lange Jahre – wegen des Namens! – verboten hatte, daran teilzuneh-men, erfährt man in der Ausstellung allerdings nicht.
Junge Welt; 30.12.2010
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Beitragsheft 32
SPORTGESCHICHTE
WIEVIEL OLYMPIA STECKT NOCH IN
OLYMPIA?
Von Klaus Huhn, Träger des Journalistenpreises
des IOC 1988
Die Titelzeile könnte schockieren oder zumindest verwirren. Olympia ist schließlich
noch immer das weltgrößte Fest der Völker, wird regelmäßig gefeiert und – dank des
Fernsehens – von Milliarden Zuschauern rund um die Erde begeistert verfolgt. Auf den
ersten Blick könnte man auch guten Gewissens behaupten, dass es seit seiner Premiere
1896 in Athen Schritt um Schritt „modernisiert“ wurde. Mussten sich die Ruderer damals
noch zwischen Kriegs- und Handelsschiffen im Hafen ihren Kurs zu den Medaillen
suchen – von denen bis heute niemand genau weiß, ob sie überhaupt vergeben wurden
–, werden heute Regattastrecken projektiert, ausgehoben und geflutet, deren Windrisiko
exakt berechnet wurde. Solche Vergleiche ließen sich über viele Seiten ausdehnen und
zu dem Schluss gelangen, dass Olympia in über hundert Jahren perfektioniert wurde.
Nur in einem Punkt ist Olympia schon längst nicht mehr das ursprüngliche Olympia:
Das Fest der Freunde des Sports wurde zum Spektakel der hemmungslos nach Profit
strebenden Kommerzialisanten!
Wer hinter dieser Feststellung etwa linke antiolympische Agitation vermutet, kann
mühelos vom Gegenteil überzeugt werden.
Am 17. April 1927, also vor nunmehr 84 Jahren, war im antiken Hain von Olympia ein
Gedenkstein enthüllt worden, der an den 33. Jahrestag des Kongresses erinnern sollte,
auf dem Baron de Coubertin der Welt seinen – damals als tollkühn, wenn nicht gar irrwitzig
bezeichneten – Plan verkündete, die antiken Olympischen Spiele als modernes
Fest wieder aufleben zu lassen. Wer erfährt, dass diese Idee in Deutschland schon deshalb
auf heftigen Widerstand stieß, weil der Initiator Coubertin ein Franzose war und die
politisch dominierenden Deutschen in jedem Franzosen noch immer einen „Erzfeind“
sahen, mag überrascht sein, muss aber zur Kenntnis nehmen, dass das die Realität
war.
1927 hatten die Spiele – dank der die Welt begeisternden Idee, alle vier Jahre die
sporttreibende Jugend in einem Stadion zu vereinen – längst ihren Siegeszug angetreten
und selbst den Millionen Menschenleben kostenden Ersten Weltkrieg „überlebt“.
Coubertin war längst als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees zurückgetreten,
hatte aber zugesagt, eine kurze Rede zur Weihe des Gedenksteins zu halten.
Das waren die Kernsätze: „Heute, inmitten der berühmten Ruinen von Olympia, ist
der Gedenkstein an die Wiedereinsetzung der Olympischen Spiele eingeweiht worden,
die vor 33 Jahren feierlich verkündet wurde. Durch diese Geste der hellenischen Regierung
hat die Initiative, die sie hat ehren wollen, einen Platz in der Geschichte bekommen.
An Euch ist es, sie in ihr zu erhalten. Wir, meine Freunde und ich, haben nicht gearbeitet,
um Euch die Olympischen Spiele wiederzugeben, damit Ihr daraus ein Muse-ums- oder Kinostück macht, noch dafür, daß sich merkantile oder Wahlinteressen ihrer bemächtigen. Wir haben gewollt – eine Einrichtung erneuernd, die schon 25 Jahrhun-derte alt ist –, dass Ihr wieder Jünger der Sportreligion werden könntet, so wie die gro-ßen Vorfahren sie verstanden hatten. In der modernen Welt, die machtvoller Möglichkei-ten voll ist, die aber gleichzeitig gefährliche Entartungen bedrohen, kann der Olympis-mus eine Schule des Adels und der moralischen Sauberkeit begründen ebenso wie der Ausdauer und physischen Energie. Aber das wird nur unter der Bedingung sein, daß Ihr unaufhörlich Eure Vorstellung von Ehre und sportlicher Uneigennützigkeit auf die Höhe Eurer Muskelbegeisterung hebt. Die Zukunft hängt von Euch ab.“
Kein „moderner“ Text, aber ein warnender! Kein „Kinostück“!
Dazu sind die Spiele längst herabgesunken! Einer der nächsten IOC-Präsidenten war der US-Amerikaner Avery Brundage, ein „Baulöwe“, Millionär, vorübergehend sogar mal Sympathisant der deutschen Nazis. Er kämpfte sein Leben lang unverdrossen gegen die Umwandlung der Spiele in eine „Aktiengesellschaft“. Man attackierte ihn deshalb, ver-spottet ihn heute noch, doch war der zu klug, zu gerissen und zu „amerikanisch“, um sich vor fremde Karren spannen zu lassen.
Diese Wortwahl macht eine Einfügung nötig: 1952 hatte Brundage sich vor den Spie-len in Helsinki von den aus der Nazi-Ära überkommenen deutschen IOC-Mitgliedern mit antikommunistischen Argumenten überreden lassen, der DDR die Teilnahme an den Spielen zu verweigern. Doch bald darauf erkannte er, dass der rein politische Alleinver-tretungsanspruch Bonns mit den olympischen Prinzipien auf die Dauer nicht zu verein-baren war. Er kam auf die Idee, aus den Athleten beider deutscher Staaten eine ge-meinsame Mannschaft zu bilden. Das war 1955 und es sollte nie in Vergessenheit gera-ten, dass eine Mehrheit des Internationalen Olympischen Komitees für diesen Vorschlag votierte – die Bundesrepublik aber dagegen! Dieses Votum wird gern unterschlagen, lässt sich aber nicht aus der Welt lügen!
Dieser Avery Brundage hatte schon bald erkannt, wie berechtigt Coubertins Warnun-gen aus dem Jahr 1927 gewesen waren. Als 1972 die Spiele in München stattfanden und die Gastgeber es für ihren Ruf nützlich hielten, publizierten sie – unter Mitwirkung von Hans Klein – Brundages Memoiren. Er nutzte diese Gelegenheit, um Klartext im Hinblick auf Olympia zu reden: „Die relativ klaren und unkomplizierten Bedingungen, die zu der Zeit bestanden, als die Spiele gegründet wurden, mußten sich bald in einer Wei-se verändern, die Coubertin trotz seiner fast unheimlichen Voraussicht nicht vorherse-hen konnte. Infolge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert war es allmählich zu einem riesigen Anwachsen der Freizeitstunden gekommen. Angeregt durch die Wieder-einführung der Olympischen Spiele, bei wachsendem Besitz und vermehrter Freizeit breitete sich das öffentliche Interesse an Sport und Spiel im 20. Jahrhundert schnell aus. Als sich die Teilnehmerzahl bei den Wettkämpfen erhöhte, wurde naturgemäß auch das Leistungsniveau höher und die Veranstaltungen wurden aufregender, nicht nur für die Teilnehmer, sondern auch für die Zuschauer.
Die meisten Menschen sind von Natur aus träge und gleichen dem chinesischen Mandarin in Shanghai vor vielen Jahren, der fragte, als er sich zum erstenmal ein Ama-teurfußballspiel ansah, was die Leute da täten. Und als er auf seine Frage die Antwort erhielt `Sich amüsieren durch Fußballspielen´ … fragte er `Werden sie bezahlt für ihr Spiel?´ - `Nein´ - `Warum mieten sie dann nicht einige Kulis, die für sie herumlaufen, und sparen sich die Mühe?´
Es ist eben viel einfacher, beim Spiel zuzusehen, als teilzunehmen, und so wurden immer mehr Zuschauer angezogen von den Wettbewerben, um die Spannung zu genie-ßen. Kommerzielle Manager brauchten nicht lange, um den Unterhaltungswert von Sport und Spiel zu erkennen und die Möglichkeit, großen Profit daraus zu ziehen. Bald begannen sie, Fußball-, Eishockey- und Basketballspieler zu engagieren und mit ihnen Mannschaften und Ligen aufzubauen, die zu regelmäßigen Terminen spielten. Box- und Ringkämpfe für große Börsen, die Tausende von Zuschauern anzogen, wurden veran-staltet. Sechs-Tage-Radrennen und lange Etappenrennen für große Barsummen wur-den organisiert. Schließlich überstiegen die Eintrittsgelder manchmal eine Million Dollar.
Sport dieser Art war kein Sport mehr. Er wurde Bestandteil der Unterhaltungsindustrie und es geschah bald, daß bei einigen Veranstaltungen 50.000 Zuschauer oder mehr auf den Rängen saßen und zwanzig bezahlte Spieler auf dem Feld rannten, um sie zu amü-sieren. Wie die geübten Schauspieler, die das Volk ins Theater locken, begannen die Sportstars, die es durch Drehkreuze lockten, in einigen Sportarten fantastische Bezah-lungen zu beziehen, besonders in den Vereinigten Staaten. Kürzlich berichteten die Zei-tungen über einen Gehaltsvertrag von über 250.000 Dollar pro Jahr für einen Basket-ballspieler. Berühmte Fußball- und Baseballspieler wurden von Vereinsmanagern mit ungeheuren Summen erkauft und bezahlt, und erfolgreiche Mannschaften sind Millionen wert und haben jährliche Betriebsbudgets von vielen Hunderttausend Dollar.
Da es im kommerzialisierten Sport vielmehr der Zuschauer ist, der amüsiert werden muß, und nicht der Sportler, ist alles für diesen Zweck organisiert. Spielregeln wurden verändert und Abwandlungen eingeführt, um den Reiz für den Zuschauer zu erhöhen.
James Naismith, der Erfinder, würde das heutige Basketballspiel nicht mehr wieder-erkennen, so sehr ist es verändert worden, um die Punktzahl zu erhöhen. Eine gute Punktzahl in einem gleichwertigen Spiel, als ich vor 60 Jahren spielte, wäre vielleicht 18 zu 15 gewesen. Das ist ein großer Unterschied zum heutigen 118 zu 115, was zeigt, wie radikal das Spiel verändert worden ist (nicht zu seinem Besten), um Zuschauer anzuzie-hen, um Spannung für sie hervorzurufen und den Spielern möglichst viel Gelegenheit zu geben, ihre vielseitige Geschicklichkeit zu zeigen. Es sind die Eintrittsgeld- und Fernse-heinnahmen, die heute regieren.
Durch den erheblichen Vorteil extremer Körpergroße ist Basketball zu einem Spiel für Riesen geworden. Eine Mannschaft mit einem guten Spieler, der über 2 m groß ist, wird die meisten ihrer Spiele gewinnen. In diesem sogenannten `professionellen Sport´, der überhaupt kein Sport ist, sondern eine Branche der Unterhaltungsindustrie, ist der Trai-ner oder Leiter der Boss und nicht der Mannschaftskapitän. Es gibt ein kaltes, gefühllo-ses und gewinnsüchtiges Rechnen im professionellen Sport, das sich so sehr unter-scheidet von der warmen Spontaneität, die Amateurspiele so genußreich macht trotz der Fehler und Irrtümer, die manchmal geschehen. Die Spiele der Profis werden gelenkt von den Auslinien. Es gibt eine Mannschaft für die Verteidigung und eine andere für den An-griff. Nach jedem Spielabschnitt wird, wenn nötig, ein Ersatzmann ins Spiel gebracht, um der Mannschaft die Botschaft des Trainers zu bringen. Die Spiele werden zu einem Kampf zwischen Trainern, wobei die Spieler nur die Marionetten sind. Es wird dadurch notwendig, dem Regelbuch immer neue Seiten hinzuzufügen.
Da die Kommerzialisierung fortschritt, wurden viele Sportarten schwer in Mitleiden-schaft gezogen. Das professionelle Ringen entartete zur pseudosportlichen Varieté-Veranstaltung und verlor schließlich durch seine Übertreibungen die Gunst der Öffent-lichkeit. Das professionelIe Boxen fiel in die Hände von Spielern und unehrlichen Mana-gern. Beim Eishockey und in anderen Sportarten verstärkt eine Prügelei unter den Spie-
lern die Spannung für die Zuschauer und erhöht die Einnahmen. Mannschaften, die ein verzerrtes Basketballspiel mit amüsanten Komödieneinlagen spielen, haben die ganze Welt bereist. Da das Gehalt des Spielers davon abhängt, wie gut er unterhält, gleich ei-nem Entertainer, was er in gewissem Sinne auch ist, entwickelt sich zu diesem Zweck manchmal Effekthascherei, alles, um den Eintrittskartenverkauf zu steigern. Das Fern-sehen, das durch seine gewaltigen Zahlungen ein ständig wachsender wirtschaftlicher Faktor für den Sport geworden ist, schreibt die Spielzeiten vor und verlangt sogar Unter-brechungen für Werbeeinblendungen. Das alles ist natürlich unvermeidlich, wenn es das Ziel ist, Geld zu machen. All dies ist weit entfernt vom Amateursport, der von freien Menschen als Hobby zu ihrem eigenen Vergnügen betrieben wird, und bleibt allen olympischen Ideen gänzlich fremd. Sicher ist nichts Unehrenhaftes an der kommerziel-len Entwicklung. `Professioneller Sport´ ist heute ein legitimer Geschäftszweig, in den Millionen Dollar investiert werden und der seinen eigenen Standard hat. Die Tage sind vorbei, als der professionelle Golfspieler nicht ins Clubhaus durfte. Er und die Topprofis in anderen Sportarten haben sich eingegliedert, haben hochbezahlte Manager und sind in einer äußerst geschäftstüchtigen Weise tätig. Ihr Hauptziel ist es jedoch, Geld zu ma-chen, und dies stellt sie in eine gänzlich unterschiedliche Kategorie zum Amateur, der zu seiner eigenen Ertüchtigung und zu seinem eigenen Vergnügen aktiv wird. Für den ei-nen ist es ein Selbstzweck und für den anderen ein Mittel zum Zweck. Es besteht ein großer und unvereinbarer Unterschied in der Einstellung; der Amateur gibt dem Sport, der Profi nimmt von ihm. Das soll nicht heißen, daß Profis keine guten Sportler sein können. Es ist bedauerlich und höchst bestürzend, daß dieser Unterschied nicht allge-mein erkannt wird, und daß die meisten Zeitungen und die anderen Publikationen über die Aktivitäten der beiden Gruppen unterschiedslos auf derselben Seite unter derselben Überschrift `Sport´ berichten. Es wäre korrekter, Berichte über den sogenannten `pro-fessionellen Sport´ auf die Unterhaltungsseite umzustellen, wo sie hingehören, zusam-men mit jenen über Zirkus, Varieté, Stierkampf und Theater.“
Man mag die Meinung des früheren IOC-Präsidenten für antiquiert halten, mag die von ihm erwähnten Summen angesichts der jetzt in der Fußball-Bundesliga fälligen be-lächeln, aber leugnen kann man keine seiner Feststellungen.
Brundage mag es als Millionär für richtig gehalten haben, dass die bezahlten Golf-spieler keinen Zutritt zum Klubhaus hatten, um ihre Langeweile zu vertreiben, aber Cou-bertin hatte mit seinen Prinzipien deutlich gemacht, dass er Sport und Olympische Spie-le auch für die veranstalten wollte, die sich den Beitrag im Golfklub nicht leisten können!
Wie auch immer: Sowohl Coubertin als auch Brundage hatten die Gefahr erkannt, die Olympia drohte, wenn es vom Kommerz „entdeckt” würde. Sportarten, die man für nicht „zugkräftig” genug hielt, wurden aus dem Programm gestrichen, andere Sportarten – durchaus zum Nutzen für den Zuschauer – durch moderne Technik attraktiver gestaltet. Ein Beispiel nur: Biathlon – früher ein für den Zuschauer kaum überschaubares Ereignis – wurde durch Modernisierung, die es dem Zuschauer zum Beispiel gestattet, jeden Schuss zu beobachten und selbst zu sehen, ob es ein Treffer oder eine „Fahrkarte” war, „medienwirksam“.
Nur waren solche „Neuerungen” nicht ohne eine völlig neue Struktur der Teilnehmer zu erreichen. Der Athlet, siehe Brundage, wurde zum „Entertainer”, also Schauspieler, von dem man höhere Leistungen verlangte, um die Zugkraft und damit die Vermarktung zu erhöhen und die Einnahmen zu steigern, – und der wiederum einen gebührenden Anteil von diesen Einnahmen forderte. Der olympische Gedanke geriet endgültig unter die Räder, als nicht mehr die Athleten derlei Forderungen vortrugen, sondern deren Ma-
nager, die – im Gegensatz zum Athleten – die Gesetze der Kommerzialisierung be-herrschten.
Noch wird dem Olympiasieger außer seiner Medaille bei der Siegerehrung kein Scheck überreicht, aber der IOC-Vizepräsident Thomas Bach erklärte in einem ARD-Hörfunk-Interview (zitiert nach der „Financial Times Deutschland“ vom 8.2.2010) den Weg des Geldes so: „Das sehe ich nicht so, dass wir hier Prämien an Olympiasieger ausgeben. Was wir vonseiten des IOC unternehmen, ist die Förderung der NOK´s, um den Athleten gute Rahmenbedingungen zu schaffen und für mehr Chancengleichheit bei den Olympischen Spielen zu sorgen.“
Klartext: Wir überweisen an die Nationalen Olympischen Komitees, und die sorgen für Chancengleichheit, indem sie es an die Athleten überweisen.
Unbestritten ist auch, dass es bei den vom IOC gezahlten Summen nicht bleibt. Da man weltweit darum weiß, welche Werbewirksamkeit olympische Medaillen für das An-sehen eines Landes erzeugen, zahlen viele Regierungen aus ihrem Fonds zum Teil enorme Summen, um so die Prämien für die Athleten zu erhöhen. Die Manager der Olympioniken nehmen nicht selten Einfluss auf die Verhandlungen über die Höhe dieser Prämien.
Um Details zu erhellen: Bereits am 12. September 2000 las man vor den Olympi-schen Sommerspielen in Sydney im „Spiegel“: „Die deutschen Olympiasieger sind im Vergleich zu erfolgreichen Sportlern aus anderen Ländern `arme Schlucker´. Zwar kommen in Sydney nun auch die Athleten in den Sommersportarten erstmals in den Genuss der von der Deutschen Sporthilfe (DSH) schon in Nagano auf 30.000 Mark ver-doppelten Gold-Prämie. Doch im internationalen Maßstab nimmt sich diese Belohnung eher bescheiden aus. Dabei gilt das Motto: Je kleiner das Land, desto größer das Hono-rar.
Ein Athlet aus Südkorea beispielsweise hat im Erfolgsfall für den Rest seines Lebens ausgesorgt, denn für einen Olympiasieg überweist der Staat eine monatliche Rente von etwa 1.845 Mark. In 40 Jahren würde sich dieser Betrag auf rund 885.000 Mark sum-mieren. Die höchste Sofort-Prämie hat Taiwan ausgelobt. 320.000 Dollar winken dem Glücklichen, der den ersten Olympiasieg für den Inselstaat erringt. Bei dem derzeitigen Umrechnungskurs entspricht dies rund 726.000 Mark. Da wundert es kaum, dass in den vergangenen Jahren viele Sportler aus China übergesiedelt sind, denn dort wird olympi-sches Gold `nur´ mit 21.000 Mark honoriert.
Überhaupt geben sich vor allem Länder aus dem asiatischen Raum sehr großzügig. Hongkong entlohnt seine Olympiasieger mit 284.000 Mark, in Usbekistan gibt es 227.000 Mark für Gold, und Japan hat knapp 220.000 Mark ausgelobt. Als Rand-Millionär kehrt ein südafrikanischer Olympiasieger nach Hause zurück, umgerechnet entspricht dies 315.000 Mark.
Ein Haus der Extraklasse und eine Rente winken den Mitgliedern der türkischen Olympia-Mannschaft im Erfolgsfall. Die indischen Sydney-Sieger erhalten in der Heimat ein Stück Land. Besonders lukrativ ist die Belohnung in Griechenland. Dort bekommt ein Olympiasieger 378.000 Mark. Das olympische Ursprungsland zahlt übrigens als eines der wenigen bis zum achten Platz Prämien. Zudem erhalten alle erfolgreichen Athleten die Möglichkeit, beim Staat angestellt zu werden. Die meisten haben in der Vergangen-heit eine Laufbahn beim Militär eingeschlagen.
Einen zusätzlichen Anreiz hat Italiens Nationales Olympisches Komitee (NOK) ge-schaffen. Neben 70.000 Mark für Gold erhält der erfolgreichste Athlet bei den Sommer-spielen 150.000 Mark extra. Dagegen muss sich ein Olympiasieger aus der Schweiz mit
24.000 Mark begnügen. Und auch die Amerikaner sind mit 34.000 Mark Gold-Prämie nicht gerade großzügig.
Ganz anders dagegen Russland. Das dortige NOK muss tief in die Tasche greifen. 113.500 Mark für Gold, 56.750 für Silber und 22.700 für Bronze lautet die Staffelung der Medaillenprämien. Sollte das Ergebnis von Atlanta (26-21-16) wiederholt werden, würde dies eine Gesamtsumme von über 4,5 Millionen Mark ausmachen.
An solche Beträge ist in Deutschland nicht zu denken. 20.000 Mark zahlt die DSH für Silber, 15.000 für Bronze. In der Aufteilung 8.000, 6.000, 5.000, 4.000 und 3.000 Mark fließt bis zu Platz acht Geld in die Taschen der Sportler. Es wird damit gerechnet, dass etwa zehn Prozent des Etats von 23 Millionen Mark als Prämien ausgezahlt werden.“
Acht Jahre später beantwortete die damalige Vorsitzende der Stiftung deutsche Sporthilfe, Ann-Kathrin Linsenhoff, dem Organ des NOK der BRD, „DOSB-Presse“, Fra-gen zum Thema „Prämien für Olympia-Medaillen“. Ich zitiere aus der Ausgabe 30 vom 22. Juli 2008:
„DOSB PRESSE: Russische oder italienische Olympiagewinner kassieren zwischen 130.000 und 150.000 Euro für eine Goldmedaille. Ein deutscher Sieger in Peking be-kommt 15.000 Euro. Ist so eine `Belohnung´ noch zeitgemäß?
LINSENHOFF: Ich halte unser Fördersystem für sehr ausgewogen und durchaus zeitgemäß. Unsere Medaillenprämien sind ein Förderbaustein von vielen. Grundsätzlich steht eher die Förderung der Perspektive und der gesamten sportlichen Karriere im Vor-dergrund. Wir ermöglichen über 90 Prozent der deutschen Athletinnen und Athleten, sich in ihrer Sportart auf Spitzenleistungen zu konzentrieren. Sie alle, und das sind rund 4.000 Athleten pro Jahr, sind aufgrund der Rahmenbedingungen ihrer Sportart auf kon-tinuierliche Förderung angewiesen. Das hat doch gesamtgesellschaftlich einen weitaus höheren Stellenwert, als auf eine einzige Medaille eine gigantische Prämie auszuloben.
DOSB PRESSE: Griechenland versprach für einen Olympiasieg in Athen eine Million Euro. Ist so etwas in Deutschland denkbar? Ist es überhaupt wünschenswert?
LINSENHOFF Deutsche Athletinnen und Athleten haben in Athen in 13 Disziplinen olympische Goldmedaillen gewonnen, davon waren aber allein bei der Hockey-Goldmedaille beispielsweise 16 Athletinnen betroffen. Die Stiftung Deutsche Sporthilfe zahlte dafür jedem Teammitglied die volle Prämie. Das waren 2004 dann allein 240.000 Euro für diese eine Goldmedaille. Bei einem jährlichen Gesamt-Förderetat von 10 bis 12 Millionen Euro sind solch hohe Ausschüttungen in der Regel nicht darstellbar, wir müss-ten die Förderung für alles andere einstellen, zum Beispiel auch für ca. 2.000 Nach-wuchstalente. Aber gerade im C-Kader-Bereich sind 100 Euro an monatlicher Förderung oft der entscheidende Baustein, um beispielsweise ein Sportinternat besuchen zu kön-nen und sich überhaupt auf eine sportliche Karriere einzulassen. Sollte sich allerdings ein Mäzen finden, der alle zwei Jahre einen guten zweistelligen Millionenbetrag in Me-daillenprämien stecken möchte, würden wir das sehr begrüßen.
DOSB PRESSE: Ist es nicht möglich, Sponsoren aus der Wirtschaft zu finden, die höhere Summen ausloben?
LINSENHOFF: Ich glaube nicht, dass die Finanzierung von exorbitanten Medaillen-prämien die Grundabsicht der Wirtschaft für ein Engagement bei der Sporthilfe ist. Un-sere vier Nationalen Förderer (Deutsche Bank, Deutsche Lufthansa, Deutsche Telekom, Mercedes-Benz) z. B. engagieren sich aus gesellschaftlicher Verantwortung heraus für die Vielfalt des Sports. Sie tun dies mit langfristigen Verträgen, nicht, um kurzfristig auf Erfolge zu hoffen. Das Thema `Duale Karriere´, also Verbindung von Sport und Beruf, ist dafür ein Beispiel. Unser Förderkonzept, in dem ein unabhängiger, fachkundiger Gut-
achterausschuss die Fördermaßnahmen beschließt, zielt darauf ab, olympische und nicht-olympische Sportarten nach ihrer Perspektive und Leistung zu fördern – gerade unabhängig von ihrer Attraktivität für Sponsoren und Medien.
DOSB PRESSE: Der Vermarkter des Deutschen Schwimmverbandes, die Firma SMS, hat zusätzlich zur Sporthilfeprämie eine Sonderprämie ausgelobt. Ein Goldmedail-lengewinner im Schwimmen kann nun insgesamt 30.000 Euro kassieren. Ist das ein Modell für die Zukunft?
LINSENHOFF: Es gibt auch heute schon eine Reihe von regionalen Förderern, die neben der Deutschen Sporthilfe speziell für Athleten aus ihrer Region zusätzliche Olym-piaprämien ausloben. Auch der Deutsche Fechter-Bund tut dies für die Fechter, warum also auch nicht die Schwimmer. Alles, was den Athleten mehr Fördermittel ermöglicht, wird von uns begrüßt. Mit dem DOSB konnte erreicht werden, dass der gemeinsame Partner Mercedes-Benz jedem Goldmedaillengewinner für ein Jahr ein Fahrzeug zur Verfügung stellt. Ich freue mich sehr, dass diese attraktive Olympia-Prämie erstmals zu-sätzlich kommt.
DOSB PRESSE: Muss man heutigen Sportlern bessere finanzielle Anreize liefern, um sie beim Leistungsport zu halten?
LINSENHOFF: Eindeutig ja, denn im internationalen Wettbewerb zieht die Professio-nalisierung auch in den sogenannten Randsportarten an. Aber auch auf dem Weg vom großen Talent zum erfolgreichen Spitzenathleten müssen Sportler aufgrund der steigen-den Anforderungen und Ausbildungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt verstärkt sport-liche gegen berufliche Karriere abwägen.“
Seit 1997 zahlt die Internationale Leichtathletikföderation (IAAF) allen Siegern und Finalisten in Einzel- und Staffelwettbewerben einer Weltmeisterschaft lukrative Prämien. An der Spitze der „Preisliste“ steht ein Weltrekord, der mit 100.000 Dollar (69.000 Euro) „belohnt“ wird. Der „Tarif“ für die Medaillen – Gold: 60.000 Dollar (rund 41.600 Euro), Silber: 30.000 Dollar (20.700 Euro) und Bronze: 20.000 Dollar (13.800 Euro). Ein vierter Rang trägt noch 15.000 Dollar ein, der 5. Platz 10.000 Dollar, für Rang 6 werden 6.000 Dollar gezahlt, für den 7. Platz noch 5.000 Dollar und für den 8. sind es 4.000 Dollar. Um ein Beispiel zu berechnen: Der jamaikanische Sprinter Usain Bolt kassierte für den Sieg im 200-m-Lauf also 60.000 Dollar, für den Sieg in der Staffel 15.000 Dollar und für sei-nen Anteil am Staffel-Weltrekord weitere 25.000 Dollar; summa summarum also 100.000 Dollar.
Das wiederum bedeutete, dass sein Manager Ricky Simms für jeden Start Bolts nach der Weltmeisterschaft eine „Antrittsprämie“ von 250.000 bis 300.000 Dollar forderte.
Auch deutsche Athleten, die in Daegu nicht siegreich waren, „entschädigten“ sich bei den Meetings der „Diamond League“ auch finanziell. Die Speerwerferin Christina Oberg-föll – bei der WM Vierte – kassierte in Zürich 40.000 Dollar. Die gleiche Summe ging an die Stabhochspringerin Silke Spiegelburg, die in Daegu als Neunte unprämiert geblie-ben war. Sie gewann in Zürich den „Jackpot“ und damit 40.000 Dollar.
Genug der Zahlen. Erinnern wir uns an Coubertin und seine Träume: „…daß Ihr wie-der Jünger der Sportreligion werden könntet, so wie die großen Vorfahren sie verstan-den hatten. In der modernen Welt, die machtvoller Möglichkeiten voll ist, die aber gleich-zeitig gefährliche Entartungen bedrohen, kann der Olympismus eine Schule des Adels und der moralischen Sauberkeit begründen ebenso wie der Ausdauer und physischen Energie. Aber das wird nur unter der Bedingung sein, daß Ihr unaufhörlich Eure Vorstel-lung von Ehre und sportlicher
Wer erinnert sich heute noch an Coubertin?!? Ich erlebte 1986 eine Tagung des In-ternationalen Olympischen Komitees in Lausanne – Berchtesgaden hatte sich um die Olympischen Winterspiele beworben und wurde als erster Kandidat mit nur sechs Stim-men eliminiert –, bei der man morgens zu einem Besuch am Grab Coubertins geladen hatte. Wenn ich richtig gezählt habe, waren fünf Mitglieder des Komitees erschienen und auch die machten kein Hehl daraus, dass sie in Eile wären.
Ich hatte einen Blumenstrauß mitgenommen und blieb als Einziger auf dem Friedhof hoch über dem Genfer See zurück, weil ich meinte, der Begründer der modernen Spiele hätte es verdient, seiner zu gedenken…
UND IMMER WIEDER: DIEM
Wir hatten das Thema auf unserer vorigen Webseite aufgegriffen, hatten Teilnehmer des aktuellen Streits zitiert und vermutet, dass irgendwann irgendwer ein Schlusswort empfiehlt. Aber der dafür zuständige Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) scheint das Handtuch geworfen zu haben: Diem bleibt Diem, und die bundesdeutsche Sportfüh-rung ist nicht bereit zu konstatieren, dass er ein Antisemit, Rassist und auch Faschist war!
Dieser Beitrag erhebt nicht den Anspruch, diesen Streit durch neue Fakten zu berei-chern, will aber an eine längst bekannte Tatsache erinnern: Die Führung der Sportbe-wegung der Bundesrepublik Deutschland hat seit 1945 durch das Bekenntnis zu Diem zwangsläufig ein Bekenntnis zur deutschen Vergangenheit abgelegt. Und diese Fest-stellung ist von solchem Belang, weil eben diese Bundesrepublik pausenlos den absur-den Versuch unternimmt, die DDR mit der Hitler-Diktatur zu vergleichen. Am 4. Juli 2011 feierte Bundespräsident Christian Wulff den Start einer auf den ersten Blick harmlos wir-kenden Veranstaltungsreihe „Vergangenheit erinnern – Demokratie gestalten“, räumte dann aber alle Harmlosigkeit beiseite und sagte: „Wir haben die Chance, aus zwei Dikta-turen die Schlussfolgerungen ziehen zu können.“
Fragt sich: Welche Schlussfolgerungen? Was sind die rechten – in jeder Hinsicht, die des Wortes Bedeutung hergibt, – Schlussfolgerungen, wenn man Repräsentanten der Nazi-Diktatur nicht nur akzeptiert, sondern sie in Ämter und Würden beruft und dabei nur in Schwierigkeiten geriet, weil da auch noch die antifaschistische DDR war, die zum Beispiel die Wahrheit über Diem verbreitete?
In welche Schwierigkeiten die Diem-Verehrer und -Förderer – immerhin war Diem drei Jahre lang sogar ein führender Beamter der Bundesregierung – durch das Enga-gement der DDR letztlich gerieten, beweisen Dokumente und Publikationen hinlänglich. In diesem konkreten Fall werden die vom Bundespräsidenten geforderten Schlussfolge-rungen mühelos erkennbar. Und die entdeckten nicht nur wir…
Die renommierteste Internet-Enzyklopädie, Wikipedia, warnt Tag für Tag jeden Nutzer des Diem-Kapitels: „Dieser Artikel oder nachfolgende Abschnitt ist nicht hinreichend mit Belegen (bspw. Einzelnachweisen) ausgestattet. Die fraglichen Angaben werden daher möglicherweise demnächst entfernt. Hilf bitte der Wikipedia, indem du die Angaben re-cherchierst und gute Belege einfügst. Näheres ist eventuell auf der Diskussionsseite o-der in der Versionsgeschichte angegeben. Bitte entferne zuletzt diese Warnmarkierung.“ Wir
stande war, in den 66 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine verlässliche Diem-Biographie erforschen zu lassen!
Hier zunächst die nüchternen wichtigsten Fakten der Wikipedia-Biographie: „Carl Di-em (* 24. Juni 1882 in Würzburg; † 17. Dezember 1962 in Köln) war ein deutscher Sportfunktionär und -wissenschaftler. […] 1899 gründete er den Sportverein SC Mar-comannia Berlin, 1908 wurde er Vorsitzender der `Deutschen Sportbehörde für Athletik´. Ab 1911 gehörte er zur Bundesleitung des Jungdeutschlandbundes, dem Dachverband aller Jugendorganisationen. 1913 begründete er die Verleihung des `Deutschen Sport-abzeichens´, welches sich bis heute erhalten hat. Er plante auch die Olympischen Spie-le 1916 in Berlin, die dann aber wegen des Ersten Weltkriegs nicht abgehalten wurden. 1913 wurde er Generalsekretär des `Deutschen Reichsausschusses für Leibesübun-gen´(DRAfL).
1920 fanden erstmals die von ihm initiierten `Reichsjugendwettkämpfe´ statt, die Vor-läufer der heutigen Bundesjugendspiele. 1920 wirkte er maßgeblich an der Gründung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin mit und wurde Prorektor dieser ersten Sporthochschule der Welt. Als Sportfunktionär war er bei den Olympischen Spie-len 1928 und 1932 Missionschef der deutschen Olympiamannschaften. […]
Diems Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus ist bis heute umstritten. Einerseits wurde er 1934 von den Nationalsozialisten als `politisch unzuverlässig´ eingestuft (wohl auch wegen der jüdischen Verwandten seiner Ehefrau). 1933 endete bereits seine Stel-lung als DRAfL-Generalsekretär. Im selben Jahr verlor er seinen Posten als Prorektor der Sporthochschule, weil er sich weigerte, in die NSDAP einzutreten.
Andererseits hatte er während der NS-Zeit wichtige und prominente Funktionen inne und beteiligte sich an Propagandaaktionen. Als Generalsekretär des Organisationskomi-tees war er seit 1933 maßgeblich an Planung und Durchführung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin beteiligt. Nach einer Idee von Alfred Schiff initiierte er zusammen mit Theodor Lewald erstmals den Olympischen Fackellauf von Griechenland zur jeweiligen Austragungsstätte – dieser Brauch ist bis heute erhalten. Von 1936 bis 1945 hatte er die Leitung des Internationalen Olympischen Instituts in Berlin inne. Seine Veröffentlichun-gen von 1938 bis 1945 erschienen zu etwa einem Drittel in nationalsozialistischen Publi-kationen. 1939 wurde er vom Reichssportführer mit der Leitung der Auslandsabteilung des NSRL betraut, wohl wissend um den verbrecherischen Charakter des Regimes. So rühmte er in einem Aufsatz im Reichssportblatt vom 25. Juni 1940 `mit atemloser Span-nung und steigender Bewunderung diesen Sturmlauf, diesen Siegeslauf durch Frank-reich´, stand `staunend vor den Taten des Heeres´ und schrieb, dass `der sportliche Geist, in dem Deutschlands Jungmannschaft aufgewachsen ist´, erst den `Sturmlauf durch Polen, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich´, den `Siegeslauf in ein besse-res Europa´ ermöglichte. Auch Sätze wie `Sport ist freiwilliges Soldatentum´ stammen von Carl Diem. Noch am 18. März 1945 rief er Mitglieder der Hitlerjugend auf dem Berli-ner Reichssportfeld zum `finalen Opfergang für den Führer´ auf.
Nach Kriegsende wurde Diems mehrere Bände umfassende Schrift `Olympische Flamme´ (Deutscher Archiv-Verlag, Berlin 1942) in der Sowjetischen Besatzungszone auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.
Am 12. April 1947 wurde Diem zum Rektor der von ihm gegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln ernannt. Dieses Amt bekleidete er bis zu seinem Tod 1962. Von 1950 bis 1953 war er zusätzlich Sportreferent im Bundesinnenministerium. […]
In den
(Hier muss an den obenstehenden Satz von der Aussonderung seiner Schriften in der Sowjetischen Besatzungszone erinnert werden und vielleicht auch an den Satz in jener schon erwähnten Rede des Bundespräsidenten: „In der DDR durfte man sich nicht zu Wort melden, um nicht mit Repressalien rechnen zu müssen.“)
„Zahlreiche Sportanlagen (zum Beispiel in Reutlingen, Bad Bentheim, Iserlohn und Wadersloh) und Straßen (zum Beispiel in Furtwangen) sind heute noch nach ihm be-nannt. Erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurde im Licht zeitgeschichtlicher For-schung Diems Rolle im Nationalsozialismus zunehmend kritisch betrachtet. `Von öffent-licher Reue ist nichts bekannt, von ernsthaften Zweifeln renommierter Historiker an Di-ems Rolle im Nationalsozialismus ebenso wenig.´(Der Spiegel)
Nach teilweise leidenschaftlichen und sehr kontrovers geführten Diskussionen wur-den zuvor nach Diem benannte Straßen (zum Beispiel in 1996 in Mülheim an der Ruhr, 2007 in Aachen oder 2009 in Pulheim), Schulen (Grundschule Ritterhude), Hallen (zum Beispiel 2001 in Berlin-Steglitz oder 2004 in seiner Geburtsstadt Würzburg) nun umbe-nannt. Die am vormaligen Carl-Diem-Weg in Köln gelegene Deutsche Sporthochschule unterlag im Rechtsstreit gegen die 2008 erfolgte Umbenennung der Straße in `Am Sportpark Müngersdorf´.
Auch der Carl-Diem-Schild, den der Deutsche Leichtathletik Verband seit 1962 an verdiente Funktionäre vergibt, wurde am 23. Februar 2001 in DLV-Ehrenschild umbe-nannt. Eine nach ihm benannte Medaille der Stadt Würzburg wird nicht mehr vergeben. Die 1952 vom Deutschen Sportbund für hervorragende deutschsprachige sportwissen-schaftliche Arbeiten gestiftete und seit 1953 alle zwei Jahre verliehene Carl-Diem-Plakette wird noch verliehen.“
Verantwortlich dafür, Diem-Klarheit zu schaffen, war nach 1945 der Deutsche Sport-bund (DSB) und nach dessen Vereinigung mit dem Nationalen Olympischen Komitee – übrigens eine weltweit fast einmalige Konstruktion, die die vom IOC geforderte Unab-hängigkeit der NOK’s in Frage stellt – der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB).
Im Dezember 2010 hatte man in Köln wenigstens eine Schlusslinie ziehen wollen, wenn man sich schon nicht zu einem Schlussstrich aufraffen konnte. In dem DOSB-Organ, das am 14. Dezember 2010 erschienen war, hatte Andreas Höfer für das höchs-te deutsche Sportgremium bekannt: „Die Diskussionen werden weitergehen. Diese Prognose des Rektors, Prof. Walter Tokarski, war nicht sehr gewagt bei seiner Begrü-ßung zu einer Veranstaltung am 10./11. Dezember an der Deutschen Sporthochschule Köln. Schließlich ging es, wenn auch nicht allein, so doch vor allem um Carl Diem, an dessen historischer Bedeutung sich seit Jahrzehnten die Geister scheiden.
Wenn die Kontroverse um Person und Lebensleistung des – so oder so – bedeuten-den Sportfunktionärs inzwischen befremdliche, ja groteske Züge angenommen hat, so hängt dies mit der Vorlage einer biographischen Studie zusammen, die vor geraumer Zeit von der Kölner Sporthochschule sowie dem Deutschen Olympischen Sportbund in Auftrag gegeben und von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung in nicht unerheblichem Maße gefördert wurde, um zumindest die drängendsten Fragen in Sa-chen Diem einer möglichst überzeugenden Antwort zuzuführen. Offenbar aber wurde dieses Ziel nicht nur nicht erreicht, sondern auf grandiose Weise verfehlt. So hat sich das Ringen um ein gerechtes Urteil über das Wirken Diems mit einem durchaus unwür-digen Gerangel um die Deutungshoheit über die Erkenntnisse des Biographen verbun-den, in die sich selbiger auf merkwürdige Weise selbst verstrickt hat.
Befremdlich ist etwa, dass sich der
fleißigt hat, die in der jüngsten Ausgabe der DOSB-Zeitschrift `Faktor Sport´ in dem Auf-ruf gipfelt: `Benennt die Diem-Straßen um!´ Diese Einlassung mag man ihm grundsätz-lich zugestehen, auch wenn Beckers renommierter Stuttgarter Kollege und Hindenburg-Biograph Wolfram Pyta die Abgabe explizit politisch relevanter Erklärungen nicht zum Kerngeschäft der historischen Zunft zählt und mit seinem eigenen Ethos als Wissen-schaftler für unvereinbar hält, wie er in Köln in seinem Vortrag über den `Umgang mit großen Persönlichkeiten in der deutschen Geschichte´ darlegte.
Legitim wäre es auch, wenn Becker Diem als `in vielen Punkten belastet´ sieht, wenn er dies nur überzeugend zu begründen wüsste. Nur fragt man sich, warum derselbe Au-tor in einer, seinen bisher erschienenen drei Bänden […] jeweils angehängten `Stel-lungnahme zur öffentlichen Debatte um Carl Diem und Empfehlung für den Umgang mit der Erinnerung an seine Person´ ausführt, dass `die Entscheidung, wie mit dem Geden-ken an Diem zu verfahren ist, letztlich durch wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zwin-gend in der einen oder anderen Richtung präjudiziert wird´.
`Erkenntnisse´ – damit meinte Becker wohl in erster Linie die eigenen. Wenn sich aber der Experte selbst nicht einig ist, wie sollen sich dann Außenstehende eine fundier-te und tragfähige Meinung bilden, wenn sie zum Beispiel mit der Frage der Umbenen-nung von Preisen und Ehrungen oder Straßennamen konfrontiert sind? Wobei erschwe-rend hinzukommt, dass in der vermeintlich wissenschaftlichen Debatte […] zum Teil mit scharfer Munition geschossen wird und dabei die `Wahrheit´ schon einmal haarscharf, bisweilen auch meilenweit verfehlt wird.“
Hier kann auf eine Zwischenbemerkung nicht verzichtet werden. Höfer ist nicht ein für den DOSB freischaffender Autor, sondern der Direktor der Olympischen Akademie, die sich der DOSB leistet. Wenn er also moniert, dass in der „wissenschaftlichen Debatte“ um die Person von Carl Diem mit „scharfer Munition“ geschossen wird, macht das nur deutlich, wie extrem sich die Standpunkte zu der Frage „Wer war Diem?“ unterscheiden. Und zwar im Hinblick auf seine Haltung zum Faschismus, zur ärgsten Diktatur der deut-schen Geschichte. Höfer verriet nicht, welche Ziele „meilenweit verfehlt“ wurden, aber wie immer man diese Zielscheiben-Diskussion ausdeutet – es bleibt immer nur die Fra-ge, ob man Jahrzehnte einen Preis verleihen soll, der den Namen eines Faschisten trägt, ob man Schulen und Sporthallen nach ihm benennen soll.
Diems Sohn Carl Jürgen soll Prozesse geführt haben, um Umbenennungen zu verei-teln. Wir wissen wenig über diese Prozesse und äußern uns deshalb auch nicht dazu. Zudem begreift man das Interesse eines Sohnes, den Ruf des Vaters zu schützen, aber der DOSB und die Olympische Akademie hätten vielleicht mit Hilfe von Anwälten endlich klären können, was an der Diem-Biographie stimmt oder nicht stimmt!
Stattdessen stritt man sich mit „scharfer Munition“ – so Höfer – um die Verschickung von Einladungen: „So wurde etwa kolportiert, dass Becker, eigentlich der zentrale Pro-tagonist der Diem-Diskussion, zur Kölner Tagung gar nicht eingeladen worden sei. Of-fenbar eine Fehlinformation oder Unterstellung, wie Tokarski sowie der Vorsitzende des `Beirats´ des Projekts, Prof. Ommo Grupe, und dessen Wissenschaftlicher Leiter, Prof. Michael Krüger, betonten. Becker habe die Einladung der Veranstalter abschlägig be-schieden, so wie er einige Tage zuvor auch einer Veranstaltung in Berlin ferngeblieben war, bei der auf Einladung der Stiftung Topographie des Terrors die Kritiker Diems das Wort führten. Zum Beispiel der Historiker Frank Schäfer, der im Vorgriff auf die Publika-tion seiner Studie über `Carl Diem und die Politisierung des Sports im Kaiserreich´
Leider war auch Schäfer nicht in Köln, so dass die Vertreter der unterschiedlichen Positionen wieder einmal nur übereinander, aber nicht miteinander sprechen konnten. Sehr gespannt wäre man etwa auf eine Replik Schäfers auf Manfred Lämmers Vortrag über `Diem und die Juden´ gewesen, in dem der Kölner Sporthistoriker die Frage, ob Diem `Antisemit´ war, zwar nicht explizit, aber anhand zahlreicher Belege für dessen vielfältige, nicht selten über die NS-Zeit hinaus anhaltende berufliche und persönliche Verbindungen mit Juden umso eindrucksvoller beantwortete. Auch Lämmers Potsdamer Kollege und Diem-Experte Hans-Joachim Teichler machte aus seinem Unverständnis über Schäfers Interpretation bestimmter Diem-Zitate keinen Hehl.
[…] Hier verfestigt sich der Eindruck, dass das vorgeblich wissenschaftliche Bemühen allzu sehr von persönlichen Motiven getragen und konterkariert wird. Jedenfalls nerven die vielen Glaubensbekenntnisse, die im Sinne einer politischen Korrektness abgegeben werden, während das Bestreben, vermeintlich Andersgläubige in einer `Achse der Bö-sen´, der Geschichtsklitterer, Vertuscher und Verharmloser zu verorten, bisweilen uner-träglich wird.
Als kontraproduktiv erscheint auch das ständige Bestreben, die durchaus wider-sprüchliche Persönlichkeit Diems und sein bemerkenswertes, gleichwohl auch fragwür-diges Wirken mit mediengerechten Schlagworten wie `Militarismus´, `Nationalismus´, `Rassismus´ oder `Antisemitismus´ einzufangen. Ein solcherart reduziertes, unwissen-schaftliches und unredliches Vorgehen disqualifiziert auch das Eintreten für eine `Erin-nerungskultur´, zumal wenn eine solche vorzugsweise von `den anderen´ gefordert wird. […] Und wenn es zudem irgendwie auch noch um den Sport und seine Geschichte geht, könnte man auch noch an das Gebot der Fairness denken. Mindestens Fairness aber verdient auch ein Mann namens Carl Diem – auch wenn oder gerade weil er fast auf den Tag genau schon 58 Jahre tot ist.“
Fazit: Diese Erklärung des Chefs der Olympischen Akademie der Bundesrepublik Deutschland ist ein exquisites Plädoyer zugunsten Carl Diems! Und so riskant das klin-gen mag: Wer Krieg bejubelt, den Begriff „olympisch“ aus dem Namen des deutschen Olympischen Komitees streichen ließ und Fünfzehnjährige 1945 im Schatten des Olym-piastadions auffordert, ihr Leben für Hitler zu opfern, sollte nicht mit solcher Vehemenz verteidigt werden!
In der Hamburger „Zeit“ vom 7. Dezember 2010 warf Erik Eggers Fragen auf: „Es ist die Gretchen-Frage des deutschen Sports. Wie würdigt man angemessen einen Mann, der die Olympischen Spiele 1936 in Berlin organisierte, der das Sportabzeichen einführ-te, der als Initiator der deutschen Sportwissenschaft gilt? Einen Mann, der aber auch den nationalsozialistischen Machthabern im `Dritten Reich´ diente und zum Ende des Zweiten Weltkriegs 14-jährige Pimpfe mit einer Rede in den sinnlosen `Endkampf´ um Berlin schickte?
Im Umgang mit Carl Diem, der von 1882 bis 1962 lebte, wird über das kulturelle Erbe des deutschen Sports befunden. Deshalb wird die Debatte um seine Person seit vier Jahrzehnten mit großer Leidenschaft geführt. In den vergangenen Monaten eskalierte dieser Historikerstreit noch einmal – ironischerweise ausgehend von einer wissenschaft-lichen Diem-Biographie. Eigentlich sollte diese Arbeit alle drängenden Fragen beantwor-ten. Das Urteil des Verfassers, des Oberhausener Zeithistorikers Frank Becker, lässt kaum Raum für Zweifel. Diems berühmte `Sparta-Rede´ im März 1945 bezeichnet er nach eingehender Analyse als `Durchhalterede´. Becker wies auch antisemitische Äuße-rungen Diems in seinen Tagebüchern und Briefen nach. Im Kaiserreich beschimpfte Di-em in
Weimarer Republik, so Becker, habe Diem seine politischen Fühler zur NSDAP ausge-streckt.
Becker belegte zudem, dass Diem bereits 1943 über den Holocaust informiert war. Und für die Zeit nach 1945 konstatiert Becker, habe Diem weder Reue gezeigt, noch sei er bereit gewesen, sich mit seinem Verhalten während der NS-Zeit auseinander zu set-zen. Stattdessen habe der Funktionär sich stets als Opfer des Hitlerregimes stilisiert und für Freunde, sogar für solche, die in der SS gedient hatten, ohne Bedenken `Persil-scheine´ ausgestellt. […] In Auftrag gegeben wurde die neue Studie vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der Deutschen Sporthochschule Köln und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Doch trotz des eindeutigen Urteils ihres Ver-fassers sah deren Projekt-Beirat keinen Anlass, Straßenumbenennungen vorzunehmen. Eine Revision des Geschichtsbildes von Carl Diem sei nicht nötig, heißt es in einer zweiseitigen `Empfehlung´, die nun der DOSB bei entsprechenden Anfragen verschickt. Diem sei weder Nationalsozialist, Rassist noch Antisemit gewesen, auch seien Diem keine moralisch verwerflichen Entscheidungen während der NS-Zeit nachzuweisen.
Im Abschlussbericht werfen die Leiter des Projektbeirates, der Münsteraner Sporthis-toriker Michael Krüger und der Sportpädagoge Ommo Grupe aus Tübingen, dem Autor der Studie, den sie einst selbst ausgewählt hatten, unwissenschaftliches Vorgehen vor. Es gelinge Becker nicht, die NS-Zeit `im Zusammenhang des gesamten Lebens und Wirkens von Diem verständlich zu machen´, kritisieren sie.“
Und Eggers schloss: „Der Konflikt um Diem mache deutlich, dass eine umfassende Neubestimmung der Geschichte des deutschen und olympischen Sports noch ausste-he.“
Dem ist nicht zu widersprechen und die Feststellung passt sogar zu den Forderungen des Bundespräsidenten, auch wenn der das wohl anders gemeint hatte.
Der Autor bekennt, die Becker-Biografie nicht gelesen zu haben. Offen gestanden: Die Kommentare reichen ihm.
Das „Darmstädter Echo“ („Echo-online“ vom 9.6.2010) hatte seinen Beitrag mit „Carl Diem aus der Schusslinie“ überschrieben und als Erstes festgestellt: „Carl Diem war kein Nazi.“ Und dann versichert: „Zu dieser Erkenntnis kommt das jüngste Forschungs-projekt von Professor Frank Becker. Der Historiker an der Rhein-Ruhr-Universität in Bo-chum unterwarf `Leben und Werk Carl Diems´ einer gründlichen und kritischen Analyse. Die Untersuchung, dokumentiert in vier Bänden, ergab nach den Standards der moder-nen Geschichtswissenschaft keine neuen und eindeutigen Befunde. Sie stützt zugleich das Gutachten des Historikers Professor Christian Teichler (DSHS Köln) von 1996.
Damit ist einer der wichtigsten deutschen Pioniere in der Olympischen Bewegung, im Breitensport und der Sportwissenschaft – und vor allem seine Familie – aus der Schuss-linie und de facto rehabilitiert. Der Wissenschaftliche Beirat des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) schließt sich Beckers Studie an und kommt zu dem Urteil: `Diem war weder Nationalist, Rassist oder Antisemit. Es gibt keine Belege für diese Behaup-tungen. Diem war nicht Mitglied der NSDAP. Er äußerte sich im Gegenteil immer wieder kritisch.´
Zu Diems umstrittener Rede vom 18. März 1945 auf dem Reichssportfeld in Berlin gewann Beckers dreijähriges Forschungsstipendium keine neuen Erkenntnisse. Außer dem Journalisten Reinhard Appel konnte sich keiner der noch lebenden Zeitzeugen an den Inhalt der fünf dort gehaltenen Reden erinnern. Deshalb konnten `weder Inhalt noch Umstände zweifelsfrei geklärt werden´. Auf Grund des Forschungsauftrags sieht der Beirat keinen
Straßen, -Sportplätzen und -Turnhallen nicht empfehlen. Damit bewegt er sich auf der Linie des Deutschen Sportbundes (DSB) von 1996.“
Noch einmal sei mit Nachdruck versichert, dass der Verein „Sport und Gesellschaft“ und seine Mitglieder nicht damit gerechnet hatten, die Sportführung der BRD würde sich 2011 dazu aufraffen können, klare Worte zu Diem zu verkünden, klare und damit end-gültige. Wir haben uns nicht getäuscht!
Und um jedem Widerspruch zuvorzukommen, hier noch einmal die Namen der Mit-glieder des siebenköpfigen „Wissenschaftlichen Beirats“: Professor Ommo Grupe (Vor-sitz), Projektleiter Michael Krüger, Christiane Eisenberg, Gertrud Pfister, Hans-Jochim Teichler, Karl Lennartz und Norbert Müller. Hier ihr „Ratschlag“, „die Diskussion über die Traditionspflege im deutschen Sport nicht länger an Carl Diem zu orientieren, sondern an der Geschichte selbst.“
Ins Deutsche übersetzt: Carl Diems Rolle lässt zwar keinen Zweifel daran aufkom-men, dass er an der Seite der des Nazi-Regimes stand, doch kann das für die Sportwis-senschaft der BRD kein Grund sein, sich von ihm zu distanzieren! Und damit wäre sich unwiderruflich abzufinden, was immer Persönlichkeiten wie der Bundespräsident zum Thema „Diktatur“ zu sagen haben!
GEISTERSTUNDE IM WILLY-BRANDT-HAUS
Die Ausstellung musste für Aufsehen sorgen, und sie tat es! Als Erste hatte die „junge Welt“ am 23. Juli 2011 ihren Lesern gemeldet, dass im Berliner Willy-Brandt-Haus jeder, der seinen Personalausweis vorlegt und danach „registriert“ wurde, die Ausstellung „ZOV Sportverräter“ besichtigen durfte. Begrüßt wurden die Gäste mit einer Flugschrift (neudeutsch: Flyer), die ankündigte: „Die von der Stiftung Klassenlotterie Berlin und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderte Ausstellung widmet sich erstmals dem komplexen Thema Republikflucht im Sport.“ (Ob die Kombination „Lotte-rie“ und „Aufarbeitung“ andeuten sollte, welchen wissenschaftlichen Wert man derlei „Aufarbeitungen“ heutzutage beimessen kann, wurde nicht erwähnt.)
Als zweites Medium hatte sich das für die „Bewerbung“ solcher Vorhaben von der Bundesregierung finanzierte „Deutschlandradio“ zu Wort gemeldet. Eine Verena Kemna verkündete den Hörern: „Um an internationalen Wettbewerben teilzunehmen, mussten die Spitzensportler der DDR reisen…“ (Nicht verraten wurde, wie Athleten anderer Län-der an Wettbewerben teilnahmen und teilnehmen, ohne zu reisen.) „…und einige nutz-ten diese Chance und wurden zu sogenannten `Sportverrätern´. Ihnen ist jetzt im Berli-ner Willy-Brandt-Haus eine Ausstellung des Zentrums Deutsche Sportgeschichte ge-widmet.“ Bemerkenswert die so unbestimmte Formulierung „einige“, denn im nächsten Satz fügte die Kemna hinzu: „Hunderte Sportlerpersönlichkeiten, einstige Hoffnungsträ-ger des sozialistischen Systems, wurden durch ihre Flucht aus der DDR in ihrer einsti-gen Heimat als Verräter gebrandmarkt. In den Videoinstallationen der Ausstellung des Zentrums deutsche Sportgeschichte erinnern sich ehemalige Vorzeigeathleten; sie ent-hüllen ihre eigene Geschichte.“
Dem folgte eine verblüffend aufschlussreiche Feststellung: „Wie viel Mut auch heute noch dazugehört, das haben die beiden Kuratoren, René Wiese und Jutta Braun, erst bei ihren monatelangen Recherchen und unzähligen Anfragen erfahren.
(O-Ton): `Andere zögerten, nicht selten aus einem Gefühl der Bedrohung heraus, das die DDR-Vergangenheit nach wie vor bei ihnen auslöst. Nach wie vor, das ist uns sehr deutlich geworden, existiert eine Angst vor den Seilschaften und sozialen Netzwerken eines längst untergegangenen Staates, dessen Repressionspotenzial gleichwohl noch heute präsent erscheint.´“
Erhob sich die Frage: Wo war der ohnehin ständig durch Schlampereien auffallende Bundesnachrichtendienst, als die Spuren des noch immer „präsenten DDR-Repres-sionspotenzials“ zu ermitteln waren?
(O-Ton): „Renate Bauer – geborene Vogel – ist eine groß gewachsene schlanke Frau mit kurz geschnittenen Locken. Die ehemalige Leistungsschwimmerin, geboren 1955 in Karl-Marx-Stadt, wirkt entspannt und zufrieden. […]
1979 gelingt Renate Vogel mit einem gefälschten Pass die Flucht. Ihre Eltern wissen damals nicht, dass ihre Tochter am 4. September am Flughafen Budapest an Bord einer Maschine nach München sitzt.“
Obwohl das mehr als drei Jahrzehnte her ist, kein Hinweis darauf, wer ihr wohl den gefälschten Pass beschafft haben könnte! Dafür erfuhr man: „Seitdem lebt sie ihr neues Leben im Großraum Stuttgart. Wie sie ihre DDR-Biografie bewältigt hat, das erfahren die Besucher der Ausstellung über Kopfhörer.“
Das dritte Medium, das der Ausstellung die nach seiner Ansicht gebührende Auf-merksamkeit schenkte, war – einigermaßen verblüffend! – „Neues Deutschland“. Das Blatt präsentierte die reißerischste Schlagzeile: „Im VW Käfer auf der Flucht“, womit fast die Bedingungen einer Produkt-Werbeanzeige erfüllt worden waren. Waren VW-Käfer etwa die idealen Fluchtfahrzeuge?
Wer floh in jenem „Käfer“? ND gab Auskunft: „Es passiert bei den Olympischen Spie-len 1964 in Innsbruck. Hier wird Ute Gähler, gerade 22 Jahre alt, in einen Raum mit Sportfunktionären zitiert. Man habe ihre Briefe geöffnet, erfährt die Rennrodlerin des DDR-Teams und sie erfährt auch, dass man ihr verheimlichte Kontakte in der Bundes-republik vorwirft. Sie besitzt Westverwandtschaft, deshalb wird sie von der Staatssicher-heit überprüft. Gähler ist entsetzt. Sie beschließt zu fliehen, noch während der Spiele von Innsbruck. […] Die Flucht ist aber teuer bezahlt. Zehn Jahre wird Ute Gähler ihre El-tern nicht sehen. Zudem wird sie vom westdeutschen Bundesnachrichtendienst beo-bachtet, man hatte Angst, sie sei als Spitzel eingeschleust worden. `Ich dachte nur: Mein Gott! Erst die Bespitzelung in der DDR und jetzt hier.´“
Ein verlässlicher Zeuge, der im DDR-Mannschaftsbüro in Innsbruck gesessen hatte, schüttelte den Kopf, als er das las. Bei allem, was man dem MfS vorwerfen könnte: Sol-che Stümper waren sie nicht! In Innsbruck Briefe öffnen? Absurd! In Innsbruck feststel-len, dass sie Westverwandtschaft hatte? Noch absurder, denn über die Verwandtschaft war man in der Regel im Bilde. Ein Beweis mehr dafür, dass auch bei dieser Ausstellung munter drauflos „enthüllt“ wurde.
An dem Abend, an dem sie eröffnet wurde, hatte sich auch Julius Feicht dort einge-funden, der Mann, der lange Jahre Cheftrainer und Generalsekretär des DDR-Schwimmverbandes war. Er hatte seine Memoiren mitgebracht und wurde von den ah-nungslosen Gastgebern herzlich eingeladen, daraus zu lesen – man schien sicher zu sein, dass er ähnliches zu erzählen haben würde wie Ute Gähler. Schwimmer, die einst Medaillen für die DDR geholt und dann die Seite gewechselt hatten, warnten die Haus-herren. Die zauderten nicht lange
Zum Beispiel hatte er die Seite 102 seiner Memoiren lesen wollen: „Eines Tages, es war Mitte April, erhielt ich die Information, dass Hans Zierold laut RIAS-Meldung die Sowjetzone fluchtartig verlassen hätte und in Westberlin bei Freunden untergekommen wäre. Bei dieser Meldung war mir sofort klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Mir war kein triftiger Grund bekannt, warum Hans Zierold die DDR fluchtartig verlassen ha-ben sollte. Ich dachte, es sei eine der bekannten RIAS-Enten. Was ich tun konnte, war zu versuchen, mit ihm zu sprechen. Ich gab der Leitung bekannt, dass ich meine, wenn auch nur noch vage bestehenden Westkontakte nutzen könnte, um mit Zierold in ein Gespräch zu kommen. Da ich nicht allein, auch meiner Absicherung wegen, gehen woll-te, ging ich zum Training in die Gartenstraße ins Stadtbad Mitte, wo Einheit Berlin sein Training absolvierte. Ich sprach mit den Trainern, und wir wählten gemeinsamen den noch ledigen Joachim Dorsch (Rufname `Bomme´). Wir besorgten uns Westgeld, und ab ging es nach Westberlin. Ich wusste, dass mein alter Freund Wilhelm Biermann, einst Sponsor beim Schwimmverein Südring, in der Bergmannstraße in Kreuzberg wohnte. Sein Sohn Günter war im Verein Brustschwimmer und Wasserballspieler. Ich wusste, dass er als Kommentator für Schwimmen und Wasserball beim Rundfunk im amerikani-schen Sektor (RIAS) ein `Zubrot´ verdiente. Ich ging allein hin, klingelte an der Tür und Frau Biermann öffnete, sie erkannte mich sofort, ließ mich ein. Nach einer kurzen Un-terhaltung kam ich zur Sache und fragte sie, ob sie etwas über die Angelegenheit Zierold wüsste. Sie sagte, sie wüsste von nichts. Gab mir aber eine Adresse. Ich be-dankte mich. Nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, gingen wir zu Fuß zur ange-gebenen Adresse. Der Name der Straße ist mir nicht mehr geläufig, aber es war in der Nähe vom Bahnhof Zoo. Wir verabredeten, dass `Bomme´ zur Wohnung ging. Er klin-gelte an der Tür von `Reichwehr´ und erkundete, ob Zierold zu einem Gespräch bereit wäre. Ich stellte mich einige Häuser weiter in eine Haustür und wartete auf die Rückkehr von Joachim Dorsch. Nach kurzer Zeit kam ein Polizeiauto, und mein Freund `Bomme´ wurde abgeführt. Ohne Aufsehen zu erregen, ging ich wenig später zur Wohnung, klin-gelte, aber niemand öffnete. `Bomme´ wurde verhaftet und im Westberliner Polizeige-fängnis Moabit 11 Tage inhaftiert. Die Anklage lautete `versuchter Menschenraub´. Wie ich später erfahren habe, war die Mutter von Hans Zierold in der Wohnung anwesend, die mit Tränen in den Augen ihren Sohn zurückhalten wollte.
Der ganze Vorfall erregte natürlich in der Sportwelt, auch über den Rahmen Deutsch-lands hinaus, Aufsehen, zumal Hans Zierold auf Grund der internationalen Bestimmun-gen für zwei Jahre kein Startrecht für internationale Schwimmwettkämpfe erhielt. Aber, was kümmerte es schon, dass Hans vorerst nicht starten durfte, dass er seine Ausbil-dung als Diplomsportlehrer nicht beenden konnte, dass er seinen Trainer, der wie ein Vater zu ihm war, verließ?
Im Oktober 1958 veröffentlichte unser Fachblatt einen Artikel aus dem 2. September-heft des `Eulenspiegel´, Nr. 38/1958, unter dem Titel `Vom Krauler zum Bankier´. Die Antworten Zierolds sind wörtlich einem Gespräch entnommen, das zwischen der Ham-burger `Welt´ und dem Bankdirektor in spe stattgefunden hat.
`Nun, Herr Zierold, Sie werden sicher verstehen, dass auch die Leser unseres Blattes weiterhin lebhaften Anteil nehmen an Ihrem tragischen Schicksal. Nachdem Sie vor Mo-naten die ewige Finsternis der Zone und ihrer sportlichen Zwingburg, der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport, eintauschten gegen die Helligkeit und den Glanz der freien Welt, interessiert uns nun besonders, welche Fortschritte Sie bis jetzt gemacht haben. Wie man hört, zeigen Sie
`In der Buchhaltung? Aha. Wo? Auf einer Bank? Und wie kommen Sie dort zurecht? Ich meine, könnte es nicht sein, dass diese Tätigkeit vielleicht ein Fehler...´
`Es ist noch nicht zu schwierig. Man hat seine Belege und geht die Konten durch, und wenn da ein Fehler ist, dann muss man ihn suchen.´
`Selbstverständlich, Herr Zierold, sehr interessant! Aber ich denke, Sie werden als Lehrling im ersten Jahr bestimmt noch genügend Zeit haben, sich mit dem Schwimm-sport zu beschäftigen!´
`Und dann ist da die Berufsschule ...´
`Aber natürlich, Herr Zierold, wie konnte ich das vergessen. Sie haben doch jetzt end-lich einmal Gelegenheit, etwas für Ihre Bildung zu tun. Aber, das interessiert unsere Le-ser natürlich am meisten: Was macht das Schwimmen, Herr Zierold?´
`Es macht nicht mehr den Spaß wie früher.´
`Das ist unbedingt einzusehen. Bestimmt krault es sich in der Freiheit nun so leicht, dass das Aufstellen von Rekorden gar keinen Spaß mehr macht!´
`Die Rekorde, schon. Aber die habe ich doch fast alle schon einmal besser ge-schwommen.´
`Ich verstehe, Herr Zierold, unter den Peitschenhieben Ihres östlichen Trainers war das ganz verständlich. Und – was ich noch fragen wollte, Herr Zierold, es ist Ihnen doch bestimmt schwergefallen, auf den Start zu den Europameisterschaften zu verzichten. Sie haben, wie ich hörte, noch vor ihrer Sperre ganz freiwillig zu einem Start in Budapest nein gesagt. Gewiss rechneten Sie damit, von den ungarischen Kommunisten verhaftet zu werden?´
`Die bringen allerhand fertig.´
`Und ob, Herr Zierold! Wer soviel schreckliche Erfahrungen mit diesen Leuten sam-meln durfte wie Sie, der ist gewarnt! Nun, dann wünsche ich Ihnen auch weiterhin ein gutes Fortkommen, Herr Zierold, und hoffe, dass Sie aus Ihren Erfahrungen lernen! Die freie Welt hofft mit Ihnen, dass nicht alles vergeblich war und Sie doch noch ins Schwimmen kommen werden.´
Was ich am Anfang zwar vermutet, aber wirklich nicht geglaubt habe, war die sich abzeichnende Tatsache, dass – nicht immer erfolglos – Sportler der DDR von der BRD mit Hilfe von Versprechungen zum Verlassen der DDR überredet wurden.
Die Unternehmungen, die in der Zeit der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele gestartet wurden, trugen einen politischen Inhalt. Es zeichnete sich eine politische Ebe-ne ab, die ohne Einwirken von Verbänden und Interessengruppen, die auf die Schwä-chung der DDR orientiert waren, nicht möglich gewesen wäre. Wir waren aus diesen Gründen auch veranlasst, eine ideologische Ebene in unsere Vorbereitung einzubezie-hen. Fuhren wir zu Wettkämpfen in die BRD, trugen wir auch gegenüber den Eltern für die Rückkehr ihrer Kinder und Jugendlichen eine Verantwortung. Diese Problematik der Abwerbung nahm im Laufe der Zeit zu und wurde rigoros praktiziert.
Hier ein Beispiel: Jimmy Fritsche, heute Professor und im 80. Lebensjahr noch aktiver Schwimmer im TSC Berlin, erhielt im Januar 1956 von einem Herrn H. Faust aus Göp-pingen einen Brief, in dem es heißt:
`Lieber Sportkamerad Fritsche!
Du wirst sicher erstaunt sein über mein Schreiben. Ich hoffe aber, Du erinnerst Dich noch meiner von Würzburg her, wo ich einmal einen Schwimmlehrgang geleitet habe. Ich gratuliere Dir zu Deinen großen
Ich leite hier in Göppingen das gesamte Schwimmtraining und möchte Dich bitten, falls Du einmal jemand hast, der sich verändern will. ... Hier wäre Gelegenheit gegeben, jungen Schwimmerinnen und Schwimmern beruflich und sportlich weiterzuhelfen ...´
Jimmy hatte damals kurz zuvor einen neuen Europarekord im 200-m-Brustschwim-men aufgestellt. Ich zitiere aus der Antwort, die Jimmy Herrn Heinz Faust geschrieben hat: `Ich habe Ihr Glückwunschschreiben erhalten. Sie haben ganz recht, ich war über Ihren Brief sehr erstaunt, doch nicht darüber, dass Sie geschrieben haben, sondern über den Inhalt desselben ... Ihnen und auch anderen geht es doch gar nicht darum, einem jungen Menschen weiterzuhelfen. Ihr Ziel ist es doch nur, die Position zu schwächen, die wir im gesamtdeutschen Sport einnehmen. Die Beweise dafür geben Klaus Bodin-ger, Gerhard Giera und andere, die sich auf genau solche Briefe in den Westen unserer Heimat begeben haben und nun nicht mehr zu sehen sind.
Lassen Sie also bitte derartige Bemühungen. ...
Horst Fritsche´
Der ganze Brief kann im amtlichen Fachblatt der Sektion der DDR vom 13. Januar 1956 nachgelesen werden.“
„Als nächste große Veranstaltung fanden wieder die traditionellen Wettkämpfe in Hamburg statt. Die Sportclubs der DDR waren mit 70 Schwimmern und Schwimmerin-nen vertreten. Unsere Teilnehmer schlugen sich prächtig, was auch in der BRD-Presse gewürdigt wurde.
Der große Knüller aber waren nicht die Schwimmwettkämpfe, sondern die Tatsache, dass der DDR-Jugendrekordler im 200-m-Brustschwimmen, Peter Klier (Dresden), durch Geschäftemacher aus Bremen überredet wurde, in einen Volkswagen einzustei-gen und mit nach Bremen zu fahren. Bei dem Werber handelte es sich um den Ex-Magdeburger Wasserballspieler Quenstedt, als Fahrer diente der Bremer Askamp. Der Fahrer fuhr den PKW so schnell an, dass Otto Kutz, Trainer von Peter Klier, zu Boden geschleudert wurde und sich dabei verletzte. Soweit ein Augenzeuge. Der offenkundige Tatbestand ließ einige bedeutende Zeitungen der BRD sich dem Protest gegen solche Machenschaften anschließen. Aber der Westberliner `Sport-Kurier´ machte aus dem of-fenkundigen Leichtsinn eines 18-Jährigen die `Freiheitsbekundung eines jungen Man-nes!´ Er wirft den Verantwortlichen des DSV, die sich von den Machenschaften des Bremer Vereins distanzierten, sinngemäß vor, sie hätten wenig Verständnis für einen im Osten geknechteten Sportler.
Einige Tage später war Peter Klier wieder bei seinen Eltern in Dresden. Er bereute seine Dummheit aufrichtig.“
Es lag bei den Ausstellern ebenso wenig Interesse vor, den Ausstellungsbesuchern einen Text aus dem Organ des DDR-Leichtathletikverbandes „Der Leichtathlet“ (Nr. 6, Jahrgang 1958) zur Kenntnis zu geben:
„Staunend erfuhren Sportler und Funktionäre, die am Abend des letzten Donnerstag den Saal des Hallenser Ratshofes füllten, wie harmlos alles begonnen hatte: Anläßlich eines Klubvergleichskampfes zwischen dem SC Wissenschaft Halle und dem VfL Wolfsburg war Walter Richter mit dem Vorsitzenden der Wolfsburger Leichtathletik-Abteilung, einem gewissen Oelkers, ins Gespräch gekommen. Man diskutierte dies und das und entdeckte eine gemeinsame Leidenschaft: das Briefmarkensammeln. Oelkers ist in der Poststelle des Volkswagenwerkes tätig, und so kam man bald überein, in Zu-kunft einen regelmäßigen Tausch zu organisieren. Monate später kam ein ganz anderer Tausch zustande: Der von
ben – nach Wolfsburg. (Steinbach gehört zu jenen 15 „Flüchtlingen“, die im Willy-Brandt-Haus per Kopfhörer Auskünfte geben. A.d.A.)
Eines Tages hatte Walter Richter einen Brief aus dem demokratischen Sektor Berlins erhalten. Unterschrieben war der von Oelkers und der Inhalt bezog sich scheinbar auf jenes seit langem blühende Tauschgeschäft. Schließlich war da aber auch noch der Zu-satz, `Manfred´ lasse herzlich grüßen.
Richter fuhr sofort nach Westberlin zu den in Steglitz, Bismarckstr. 64, lebenden El-tern von Steinbach. Dort wußte man von dem `Tausch´ und vertröstete Richter auf den nächsten Tag, an dem ein Herr Keller zu erwarten sei.
Dieser erschien dann auch, machte aber zunächst darauf aufmerksam, dass er selbst in Wolfsburg nicht unter dem Namen Keller bekannt sei, ohne indessen seinen richtigen Namen zu nennen. Dafür hatte er um so konkretere Angebote: Richter könne sofort die Stelle eines Lehrers an der Oberschule in Wolfsburg erhalten. Wie einflußreich dieser Decknamen-Herr war, bewies die Tatsache, daß für die freie Stelle des Sportlehrers an der Wolfsburger Schule nicht weniger als 17 Bewerbungen aus der Bundesrepublik vor-lagen, aber Herr `Keller´ versicherte, daß niemand anders als Richter den Posten erhal-ten werde.
Der nächste Weg führte Walter Richter zu einem gewissen Lorenz, der wie Richter Sportlehrer ist und nebenbei auch dank der Unterstützung des Bonner Spionageminis-ters Lemmer Vorsitzender des Landessportausschusses Berlin war.
Diese Einzelheiten enthüllte der Stellvertretende Vorsitzende des Staatlichen Komi-tees für Körperkultur und Sport, Dr. Schuster, auf der Sportlerversammlung in Halle. Un-ter den Gästen sah man die beiden Silbermedaillengewinner von Stockholm (gemeint waren die Leichathletik-Europameisterschaften 1958. A.d.A.) Hannelore Sadau und Manfred Preußger, den deutschen Rekordhalter und Dritten von Stockholm im Zehn-kampf, Walter Meier, den deutschen 1500-m-Rekordmann Siegfried Herrmann, dessen alten Freund Wolfgang Schottek und viele Trainer und Funktionäre aus Hallenser und Leipziger Sportklubs. Ihre Meinung zu diesen Vorfällen war eindeutig und wurde wohl am überzeugendsten und klarsten von Manfred Preußger kommentiert: `Wir haben das gehört, und ich glaube, unsere Feinde werden auch in Zukunft nicht aufhören mit ihren Abwerbeversuchen. Das Wichtigste aber scheint mir eine klare Stellungnahme unserer Spitzensportler zu unserer Republik. Ich jedenfalls bekomme keine Briefe, bei mir wis-sen sie, daß es sinnlos ist!´
Unter den Gästen aber waren auch zwei ehemalige Angehörige unserer sozialisti-schen Sportbewegung: der Trainer Balzer – vor Jahren der erste Stabhochspringer in der DDR, der die 4,00 m meisterte, und Karin Richert (ebenfalls im Brandt-Haus präsent A.d.A.) – eine zweifellos talentierte Hürdenläuferin. Am 21. Juli hatten beide die Repub-lik verlassen. Nun waren sie zurückgekehrt nach Halle und baten ihre früheren Sport-kameraden aus dem Chemie-Klub, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Vertrauen wie-derzuerwerben.
Größtes Aufsehen rief die Mitteilung Balzers hervor, daß er dank der Hilfe des Vize-präsidenten des westdeutschen Leichtathletik-Verbandes, Fredy Müller, kein Flücht-lingslager aufsuchen mußte, da er nach einem Telefongespräch Müllers mit ausländi-schen – vermutlich amerikanischen – Dienststellen sofort Flugkarten nach Frankfurt (Main) ausgehändigt bekam. So wurde hier enthüllt, daß Fredy Müller, der bei gemein-samen Beratungen der beiden deutschen Verbände immer gern den `Wir-sind-doch-alles-Deutsche
Die übrigen Ausführungen Balzers und auch Karin Richerts wurden sehr leidenschaft-lich diskutiert. Vor allem unser früherer Mittelstreckenmeister und jetzige Trainer Rolf Donath forderte von Balzer: `Leg deine Karten offen auf den Tisch; sonst können wir dir nie wieder vertrauen!´ Balzer nahm zum Schluß noch einmal zu den Bemerkungen Stel-lung und versicherte, daß er alles tun werde, um das Vertrauen seiner ehemaligen Klub-kameraden wiederzugewinnen.“
Kommentar des ND zu der Ausstellung: „Bis zum Mauerfall 1989 verließen mehr als drei Millionen Menschen die DDR in Richtung Westen, in Richtung BRD. Dazu gehörten auch 600 Athletinnen und Athleten. Eigentlich sollten sie `Diplomaten im Trainingsan-zug´ sein, ihre Laufbahnen waren vorgezeichnet, sie sollten dem Ansehen des kleinen Landes mit den großen Idealen dienen.“
In diesen 48 Worten stecken zahllose „Irrtümer“.
Die drei Millionen, die angeblich aus der DDR flüchteten, gelten für den Zeitraum von 1945 bis 1989, also für 44 Jahre.
Allein von 1989 bis 2008 – also in 19 Jahren – verließen 1,6 Millionen Bürger die neuen Bundesländer.
Niemand hat eine Quelle für die Zahl der angeblich 600 Sportler vorzuweisen, aber wenn sich nun nur 15 bereiterklärten, den Ausstellungsinitiatoren zur Verfügung zu ste-hen, wären das 2,5 Prozent – keine sonderlich überzeugende Zahl! Und einmal mehr muss darauf hingewiesen werden, dass niemand in der DDR auf die Idee gekommen war, Athleten als „Diplomaten im Trainingsanzug“ einzusetzen. Diesen Begriff erfand der frühere Präsident des Welt-Leichtathletikverbandes, der Brite Marquess of Exeter, nachdem er als Mitglied des Oberhauses die Verweigerung des Visums für den DDR-Langstreckler Siegfried Herrmann hatte annullieren lassen, ihn nach London eingeladen hatte und ihm dort nach seinem Sieg mit den Worten gratulierte: „Sie sind ein Diplomat im Trainingsanzug!“
Der Marquess of Exeter spielt im Willy-Brandt-Haus nirgends eine Rolle!
ZITATE
WIE SPRINGER DIE FRIEDENSFAHRT ENTDECKTE
Die erste Maiwoche war über ein halbes Jahrhundert lang Termin zum Start der Frie-densfahrt. Dass ausgerechnet die „Welt am Sonntag“ vom 26. April, die dem von Millio-nen gefeierten Rennen fast nie auch nur eine Zeile gewidmet hatte, ihr jetzt einen über-langen 947-Worte-Beitrag widmete, könnte als eines der vielen Paradebeispiele für die Wahrheit der Feststellung „Sie lügen wie gedruckt“ herhalten. Anlass für das so plötzlich erwachte Interesse an dem längst begrabenen größten Amateurradrennen, das je in der Welt ausgetragen wurde, war der Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und die Gelegenheit für die absurde Behauptung, die DDR habe damals hemmungslos ihre Na-tionalmannschaft in das verstrahlte Kiew kommandiert. Wortlaut: „Vor 25 Jahren ent-sandte die DDR ihre Radstars zur Friedensfahrt in die Nähe Tschernobyls. Sie sollten nach dem GAU so tun, als sei der Unfall halb so schlimm.“ Oder: „Es gab einen Befehl vom Deutschen Turn- und Sportbund.“
Ich fungierte damals als einer der Direktoren des Rennens und war als „Vorauskom-mando“
aktor-Katastrophe überhaupt stattfinden könnte. Diese Frage hatte logischerweise nie-mand in Berlin beantworten können. Bevor ich aufbrach, war ich noch vom Gesund-heitsminister der DDR eingeladen worden, der mir klare Order gab, wonach ich die Gastgeber als Erstes fragen sollte. Vor Ort empfingen mich Generale, die von mit Gei-gerzählern ausgerüsteten Soldaten umringt waren. Man schwor mir, dass alle denkba-ren Risiken akribisch geprüft worden seien. Das Resultat: Es bestünde für niemanden die geringste Gefahr. Diese Auskünfte leitete ich weiter und sie bewogen den DTSB nach Konsultationen mit den beiden anderen Mitveranstaltern Polen und Tschechoslo-wakei die Mannschaften nach Kiew fliegen zu lassen.
Das für mich wohl ausschlaggebende Argument war die in Kiew verbürgte Mitteilung, Gorbatschow habe veranlasst, dass 300 in Moskau akkreditierte Journalisten – vor-nehmlich aus westlichen Ländern – am Tag des Starts nach Kiew fliegen würden, um vor Ort die Situation wahrnehmen zu können. Tatsächlich säumten dann rund 100.000 Zuschauer die Prolog-Strecke und die angekündigten Gäste aus Moskau hatten auf den Tribünen Platz genommen. Dass ungeachtet dieser Atmosphäre das Misstrauen nie er-lahmte, ist unbestritten. Die „WamS“ zitierte die „junge Welt“ vom 6. Mai 1986. Die Zei-tung habe „zackig“ gemeldet: „`Auf einer Pressekonferenz konnten die Organisatoren vermelden, dass für den Start alles bestens gerüstet sei.´ Aber erst im vorletzten Absatz erwähnte sie, ohne Gründe zu nennen: `Einige bereits gemeldete Mannschaften haben abgesagt.´ Tatsächlich sind es neun von 19.“ Auch da wurde wie gedruckt gelogen: Am Start zum Prolog waren zehn Mannschaften und in der Nacht vor dem Start zur 1. Etap-pe erschien noch eine vierköpfige Mannschaft Finnlands, die nachträglich ins Rennen ging. Von den 64 Fahrern gaben acht auf der 2.138 Kilometer langen Strecke auf. Ge-samtsieger wurden Olaf Ludwig in der Einzel- und die UdSSR in der Mannschaftswer-tung. Wenn diese 39. Friedensfahrt politisch missbraucht worden ist – sogar der aller-dings nie eine Friedensfahrt begleitende jetzige Leiter des Friedensfahrtmuseums in Kleinmühlingen lieferte der „WamS“ eine derartige Auskunft – wäre dem Blatt zu emp-fehlen, faktenenthaltende Akten zu prüfen – die liegen allerdings nur in Moskau!
Klaus Huhn in junge WELT; 6.5.2011
STREICHORCHESTERPAUKIST
Gestern wurde nun also die sogenannte Halle des Ruhms des deutschen Sports vom Bundespräsidenten eigenhändig erweitert. Die neuen Ruhmhelden waren gebeten wor-den in Frack oder Abendkleid zu erscheinen – Ruhm fordert entsprechende Dekoration! Und natürlich auch Begleitmusik. Für die sorgte der FAZ-Sportjournalist Anno Hecker, der seinen Wehrdienst im Streichorchester der Bundeswehr abgeleistet haben soll, nun aber mehr die harten Lärminstrumente bevorzugt und so vom Geigenstreicher zum Trommler aufstieg. Zum Beispiel, um den Lesern zu erklären, warum Täve Schur von der Ruhm-Kandidatenliste gestrichen wurde: „Nicht jeder Kandidat ist aufgenommen worden. Gustav Adolf `Täve´ Schur zum Beispiel, das Radsportidol der DDR, bekam keine Mehrheit. Eine offizielle Begründung gab es nicht […] Weil der Achtzigjährige, wie er für sich reklamiert, immer die Wahrheit sagte? In Schurs Wahrheit war der Mauerbau richtig.“ Und dann der Hecker-Paukenschlag: „Es wäre unerträglich gewesen, wenn Schur den Sprung geschafft hätte.“ Hecker verriet nicht, für wen „unerträglich“? Für die FAZ? Die feierte ihn noch nie! Oder „unerträglich“ etwa auch für den Bundespräsiden-
die Jenaer Sprinterin Renate Stecher aufgenommen wurde, rügte der FAZ-Trommelstreicher ebenfalls: „Deshalb wird sich die Stiftung vorhalten lassen müssen, dass Olympiasiegerinnen wie Renate Stecher zwanzig Jahre nach der Wende nicht öf-fentlich erzählen wollen, welche Manipulationen sie erlebt haben in ihrem Leistungs-sportsystem.“
Noch ein Hecker-Paukenschlag, der allerdings nur verrät, was wir lange wussten: Man muss heute noch am Main erklären, warum die BRD vierzig Jahre der DDR in den Sta-dien der Welt hinterrannte: Weil Schur für die Mauer war und die Stecher manipulierte! Ist in der Halle nicht noch ein Plätzchen für Leute wie Hecker?
Klaus Huhn in junge WELT; 21.5. 201
TOUR DER LEIDEN
Alberto Contador ist längst auf dem Weg zu nächsten Starts, sein Sieg im Giro d´Italia schon fast Geschichte. Ebenso wie der Tod Wouter Weylandts. Der Belgier stand ursprünglich gar nicht auf der Startliste, aber als sich der Italiener Bennati verletz-te, beorderte ihn sein Rennstall Leopard-Trek an den Start. Der 26jährige wollte lieber Rennen in Belgien fahren, um in der Nähe seiner hochschwangeren Freundin Sophie zu sein, machte sich dann aber auf den Weg. Auf der dritten Etappe (Reggio Emilia-Rapallo) war er 25 km vor dem Ziel auf einer steilen Abfahrt zwischen zwei Gruppen ge-raten. Als er seine Vorderleute aus den Augen verlor – möglicherweise, weil die ihm die engen Kurven zu riskant anfuhren –, wollte er einen Blick nach hinten zur nächsten Gruppe werfen. Dabei kann er mit dem Vorderrad oder der Pedale gegen eine kleine Steinmauer auf der linken Straßenseite geraten sein. Der Aufprall schleuderte ihn aus dem Sattel und zwanzig Meter durch die Luft. Er schlug mit dem Gesicht aufs Pflaster. Als die Rennärzte ihn erreichten, soll er bereits tot gewesen sein. Der Rettungshub-schrauber mit allem nötigen Gerät, konnte auf dem bergigen Terrain nicht landen. Sollte das Rennen abgebrochen werden? Rennleitung und Teamchefs verkündeten, es wäre in Wouters´ Sinn, es fortzusetzen. Man einigte sich auf eine Gedenk-Etappe ohne Wer-tung. Die Prämien, die unterwegs zu gewinnen gewesen wären, gingen an die Familie des Toten. Tage später stürzte der Belgier Matthias van Mechelen, zog sich schwere Kopfverletzungen zu und musste vorübergehend in künstliches Koma versetzt werden.
Die Unfälle warfen die so oft erörterte Frage wieder auf: Werden dem Fernsehen zu-liebe die Strecken immer lebensgefährlicher? Der erste Träger des Rosa Trikots beim Giro, der Italiener Marco Pinotti, sagte offen heraus: „Es gibt die Tendenz, für immer mehr Spektakel zu sorgen. Vor 40 Jahren sind die Profis auf normalen Straßen gefahren und nicht wie wir in den Dolomiten über Schotterpisten.“ Besonders heftig kritisierten die spanischen Zeitungen die Risiko-Tour: „EI Pais“: „Mehr Spektakel oder mehr Sicherheit – dies ist das Dilemma. Die Veranstalter der Etappen-Rennen suchen immer mehr nach Show-Effekten.“ „El Mundo“: „Weylandt wurde das Opfer einer brutalen Streckenfüh-rung.“ „As“: „Es sterben mehr Radsportler als Stierkämpfer.“ Der Schweizer „Sport“: „Der Radsport ist in der Hand von Veranstaltern, die möglichst spektakuläre Rennen anbieten wollen, damit die TV-Stationen diese live übertragen. Schmerz, Angst und extreme Leis-tung verkaufen sich gut. Für die Routen werden immer steilere Anstiege und gefährli-chere Abfahrten ausgesucht.“
Der diesjährige Giro sollte, so der „Spiegel“, „eine Rundfahrt der Superlative werden“. Giro-
sprochen. 40.000 Höhenmeter waren hinaufzufahren – und wieder hinunter. Auf einem starb Weylandt!
Klaus Huhn in junge WELT; 3.6.2011
STREIT IN BERLIN
In der Debatte um Olympia in Deutschland vertagt sich der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und ärgert sich über Kritik aus Berlin. Angriff abgewehrt? „Ein flapsi-ges Interview ist noch keine seriöse Bewerbung“, sagte Thomas Bach und sah dabei empört aus. Es war die erste Reaktion des Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) auf die Forderung von Berlins Regierendem Bürgermeister, Klaus Wowereit, Deutschland solle sich mit Berlin um die Olympischen Sommerspiele bewer-ben.
„Ich habe es immer für einen Fehler gehalten, dass man sich für Winterspiele ins Ge-spräch gebracht hat, obwohl man sich für Sommerspiele hätte bewerben können“, hatte Wowereit im Interview mit dem Tagesspiegel gesagt und erklärt: „Berlin ist bereit für die Spiele. Denn Berlin hat alle Voraussetzungen.“
Zwischen Wowereit und Bach wird gerade ein Fernduell ausgetragen. […] „Ich wüss-te nicht, dass er Teil des Münchner Bewerbungskomitees war und sich vertieft Gedan-ken gemacht hat“, sagte Bach über Wowereit und war damit schon bei der Verteidigung in eigener Sache angekommen. Der Regierende Bürgermeister hatte ihn schließlich auch persönlich angegriffen: „Wenn wir mit einem deutschen IOC-Vizepräsidenten in ei-ne Bewerbung um Winterspiele gehen und ein derart schwaches Ergebnis mit 25 von 95 Stimmen herauskommt, dann muss man doch mal die Frage stellen: Versteht eigentlich noch jemand, wie das IOC denkt?“ […] Das DOSB-Präsidium wollte nun am Mittwoch einen Beschluss fassen, wie es mit Olympiabewerbungen in Deutschland weitergeht. Der lautet: Man werde „ergebnisoffen prüfen, ob eine zukünftige Olympiabewerbung sinnvoll ist“. Eine knapp dreistündige Sitzung und ein gemeinsames Abendessen zuvor haben den deutschen Sport also in dieser Frage nicht weitergebracht. Auch einen Zeit-plan gibt es nicht. DOSB-Generaldirektor Michael Vesper sprach von einem Dreischritt: Erst werde entschieden, ob es überhaupt eine Bewerbung gibt, dann ob für Sommer- oder Winterspiele, und zum Schluss gehe es um die Bewerberstadt. […] Eine Bewer-bung um Sommerspiele 2020, das betonten Bach und Vesper, sei in der Kürze der Zeit nicht mehr möglich. Bis zum 29. Juli müsste der Kandidat benannt sein – aufgrund eines neuen Verfahrens beim IOC. […]
Friedhard Teuffel in DER TAGESSPIEGEL, 13.7. 2011
URTEILE UND VERDIENSTKREUZE
Um diese Zeitung vor unnötigen Prozesskosten zu bewahren, verzichtet der Autor auf den Namen des Mannes, der in Hamburg dieser Tage einen Prozess verlor und dafür bekannt ist, auch nach solchen Niederlagen umgehend neue Prozesse anzustrengen. Ersetzt wird der Name durch eine Kreuzworträtseln nachempfundene Frage: Professor mit fünf Buchstaben, der von Boulevardblättern gern als „Dopingpapst“ bezeichnet wird? „Bild“-online (15.7.2011) hatte der Tatsache, dass der Fünf-Buchstaben-Professor einen Prozess gegen
Fünf-Zeilen-Meldung gewidmet: „Das Hamburger Landgericht hat dem Heidelberger (siehe Rätselfrage) die Behauptung verboten, die frühere Leichtathletin Grit Breuer habe im Alter von 13 Jahren von ihrem damaligen Trainer Thomas Springstein Dopingmittel bekommen. Die Parteien stritten vor der Pressekammer über eine Erklärung, die (…) 2007 in einem Rechtsstreit mit Springstein abgegeben hatte. (…) war es nicht gelungen, anhand von Zeugen seine Behauptung zu beweisen, führte das Gericht am Freitag aus.“
Provinzblätter wie die „Bietigheimer Zeitung“ (16.7.2011) hatte auch den zweiten Ab-satz der Agentur-Nachricht angefügt: „Der ehemaligen 400-m-Europameisterin Breuer steht laut Gericht der Unterlassungsanspruch zu. Da (…) Äußerung sie in ihrem Persön-lichkeitsrecht verletze. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Tatsachenbe-hauptung unwahr und geeignet sei, Breuer als ehemalige Leistungssportlerin erheblich in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Wer eine solche ehrverletzende Behaup-tung aufstelle, müsse im Streitfalle ihre Richtigkeit beweisen. Dieser Beweis sei dem Professor für Zell- und Molekularbiologie aber nicht gelungen, denn keine der von ihm benannten Zeuginnen habe ausgesagt, dass die Klägerin von ihrem damaligen Trainer Oral-Turinabol bekommen habe.“
Auch rätselunwillige Leser werden mühelos erraten haben, worum es in Hamburg gegangen war: Um die Widerlegung der täglich von Medien aller Couleur verbreiteten Lüge, in der DDR seien schon Kinder systematisch gedopt worden! Man darf vermuten, dass kaum jemand mit diesem Prozessausgang gerechnet hatte, denn einige Tage vor der Urteilsverkündung hatte das „Hamburger Abendblatt“ dem Verfahren noch beträcht-lichen Platz eingeräumt und geschrieben: „Grit Breuer hält es nicht mehr aus. Es ist heiß im Gerichtssaal. Das allein erklärt aber nicht, warum die einstige Spitzensportlerin mit der feschen Fransenfigur nun kräftig Dampf ablässt. `Ich lasse meinen Namen nicht mehr von Ihnen missbrauchen´, entfährt es der 38jährigen. Gemeint ist der Mann, der im Saal links sitzt, ein rundlicher Mann mit Brille und Halbglatze. (…) `DDR-Sportler haben reihenweise Präparate bekommen´, sagt er.“
Was er auch in diesem konkreten Fall nicht zu beweisen vermochte. Man weiß nicht, welche Kosten Grit Breuer für diesen Lügen-Widerlegungs-Prozeß entstanden sind, möchte am liebsten zu einer Solidaritätssammlung aufrufen und ihr zumindest eine Tap-ferkeitsmedaille verleihen. Übrigens: Einige Stunden, nachdem das Urteil verkündet worden war, teilte die dafür zuständige Bundesinstanz mit, dass eine gewisse Ines Gei-pel, die mit enormem Engagement für die „Aufarbeitung“ des „DDR-Dopings“ eintritt, in den nächsten Tagen ein Bundesverdienstkreuz verliehen werden soll.
Klaus Huhn in jungen WELT; 20.7.2011
DIE KARBONFEDERN-ENTSCHEIDUNG
Caster Semenya und Oscar Pistorius haben in den vergangenen Jahren die gesamte Leichtathletik auf Trab gehalten und den Weltverband IAAF an die Grenzen seiner Macht geführt. Semenya, 20, haben die Zweifel an ihrem Geschlecht weltberühmt ge-macht, nachdem sie in Berlin mit kraftvollen Schritten 800-Meter-Weltmeisterin gewor-den war.
Fast ein Jahr war sie gesperrt, ehe die IAAF nach diversen Tests und Verhandlungen geklärt hatte, dass sie bei den Frauen starten darf. Pistorius, Paralympics-Sieger auf al-len Sprintstrecken, der vor 24 Jahren ohne Wadenbeinknochen geboren wurde, deshalb als Kleinkind
mit zwei Hochleistungsprothesen aus Karbon ausgleicht, erregte internationale Anteil-nahme, nachdem die IAAF ihm zunächst das Startrecht für offizielle Meisterschaften für Menschen ohne Behinderung abgesprochen hatte. Und nun sind er und Semenya in Daegu also dabei – als wandelnde Erinnerung an zwei Streitfälle, die nur scheinbar ent-schieden sind.
Caster Semenya wird dabei wenig Interesse an zu großer Öffentlichkeit haben. Die Debatten um ihr Geschlecht ragten weit in ihre Privatsphäre hinein, das braucht sie be-stimmt nicht jährlich; außerdem läuft sie nicht mehr so schnell wie früher, warum auch immer.
Pistorius hingegen ist längst ein bestens ausgestatteter Sponsoren-Vertreter, der sehr professionell seinen Versuch vermarktet, 400-Meter-Läufer mit intakten Beinen das Fürchten zu lehren. Gegen Öffentlichkeit hat er gar nichts, im Gegenteil. Zur Nominie-rung versandte seine PR-Agentur flugs ein Statement in die ganze Welt, in dem Pistori-us seine Berufung „einen sehr stolzen Moment in meinem Leben“ nennt. […] Für viele Menschen mit Behinderung ist er eine echte Identifikationsfigur, er zeigt ihnen, was trotz Handicap möglich ist. Pistorius selbst hat seine paralympischen Wurzeln nie verraten, und die Leistung, zwei steife Karbonfedern so unter Kontrolle zu halten, dass man damit auf einer Runde so schnell wird wie er, ist unter jedem sportlichen Aspekt bemerkens-wert. Die Frage ist nur: Ist die Leistung, die Pistorius auf seinen Össur Flex-Foot Cheetahs bringt, mit der eines olympischen 400-Meter-Läufers vergleichbar? Das Gut-achten, welches die IAAF 2007 bei dem Kölner Biomechanik-Professor Gert-Peter Brüggemann in Auftrag gab, kam zu dem Ergebnis: Nein, der Prothesenlauf sei eine an-dere Übung als der Lauf auf zwei menschlichen Füßen, der körperliche Energieaufwand zu unterschiedlich.
„Die Feder wird nicht müde“, erläuterte Brüggemann damals. Pistorius fand das Urteil „unfair“, klagte vor dem Sportgerichtshof Cas, brachte ein Gutachten von Wissenschaft-lern aus Amerika, wonach die Laufarten durchaus vergleichbar seien, und bekam recht.
Pistorius neigt in der Debatte um sein Startrecht ein bisschen zur Vereinfachung. Ob zusammenpasst, was in Südkorea zusammenkommt, ist nicht sein Thema. Oder doch? Oscar Pistorius verstärkt in Daegu auch Südafrikas 4x400-Meter-Staffel, und die muss beim WM-Einsatz sehr wohl berücksichtigen, dass ein Prothesenläufer am Start viel langsamer ist im Vergleich zu einem Fußläufer, und am Schluss viel schneller.
Thomas Hahn in SÜDDEUTSCHE ZEITUNG; 8.8.2011
WIEDER OLYMPIA IN BERLIN?
Gleich zum Start legt Nikolaus Fuchs, Marketingchef der Berliner Olympiabewerbung für die Spiele 2000, mit einer Provokation los. „Neun Stimmen von nichtkorrupten IOC-Mitgliedern sind doch toll“ freut sich Fuchs rückblickend und streicht sich die Krawatte mit dem alten gelben Olympiabärchen glatt. „Ich hätte ja auch noch welche dazukaufen können, dann hätten wir die Spiele vor elf Jahren in Berlin gehabt.“ Die 200 Zuhörer im Olympiastadion raunen sich zu. Und Roland Baar schüttelt den Kopf. Baar, mehrfacher Olympiamedaillengewinner mit dem Ruder-Achter und langjähriges Mitglied des Interna-tionalen Olympischen Komitees (IOC), ruft: „Na, hören Sie mal. Das IOC ist doch nicht die Fifa.“ […] Natürlich gebe es viel Lobbyarbeit, auch Einfluss von Sponsoren, das ha-be man gerade erst an der Vergabe der Winterspiele 2018 nach Südkorea gesehen, so
sich über den angriffslustigen Unternehmensberater Fuchs erbost. „Wenn sich Berlin noch einmal bewerben sollte, dann sicherlich nicht gemeinsam mit Ihnen“, meint der Sport-Staatssekretär des Senats in scharfem Ton.
Berlin streitet noch immer lebhaft um Olympia. Der Tagesspiegel hatte deshalb zur Diskussion ins Olympiastadion eingeladen. Am Ort der Nazi-Spiele vor 75 Jahren sollte über eine neue Bewerbung debattiert werden. Und die Emotionen kochten in der von Tagesspiegel-Sportchef Robert Ide moderierten Runde hoch wie bei einem sportlichen Wettkampf. Dafür sorgte auch Gabriele Hiller, die Sportsprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Stimmenkauf hin oder her, eine weitere Bewerbung funktioniere nur mit breiter Akzeptanz der Bevölkerung: „Was hat denn die Hausfrau in Marzahn von Olympia in Berlin?“, fragte Hiller. „Nur Baustellen und höhere Preise! Berlin zahlt jeden Monat sechs Millionen Euro an Zinsen. Irgendwann ist auch mal gut.“ Für Härtel, der wie sein Regierender Bürgermeister und SPD-Kollege Klaus Wowereit von einem neuen An-lauf träumt, steht ein Bürgerentscheid erst mal nicht an […] Baar allerdings gab zu be-denken, dass auch der deutsche Sport voll hinter der Bewerberstadt stehen müsse. Wenn vielleicht bald Thomas Bach neuer IOC-Präsident sei, wäre ein neuer Anlauf, ob jetzt von München, Hamburg oder Berlin, bedeutend aussichtsreicher. „Deutschland ist dran. Da bin ich mir sicher“, sagte Baar und erhielt Applaus. […] Doch Hiller weiß: „Die Schwimmhalle in der Landsberger Straße ist die modernste der Welt. Doch nicht mal die würde im jetzigen Zustand ausreichen.“ […]
Benjamin Apitius in DER TAGESSPIEGEL; 26.8.2011
ULLRICHS „COMEBACK“
Jan Ullrich ist zurück aus seiner selbst gewählten, jahrelangen Isolation. [Er] startete für einen guten Zweck beim Ötztal-Marathon und bekannte: „Ich fühle mich wie neu ge-boren.“ […] Es ist einfach geil, sich wieder unter das Radsportvolk mischen zu können“, sagte der einzige deutsche Tour-de-France-Sieger, bevor er um 06.45 Uhr in Söl-den/Österreich bei zwei Grad Celsius zusammen mit 4000 ambitionierten Freizeitsport-lern am Start des Ötztal-Marathons stand.
Noch am Tag vorher hatte Ullrich, der seine Burnout-Erkrankung offensichtlich verar-beitet hat, eine Stunde in strömendem Regen trainiert. Soviel Eifer und Begeisterung – ein völlig neues Ullrich-Gefühl. Mit Comebacks hat der mittlerweile 37-jährige Ex-Radprofi seine Erfahrungen. Während seiner aktiven Profizeit zwischen 1995 und 2006 war der Start in die Saison nach oft verschludertem Wintertraining immer wieder eine kleine Rückkehr. Diesmal ist der Weg aus der selbst gewählten Isolation seit seinem Rücktritt 2007 noch beschwerlicher. Das neue Management aus der Agentur des ehe-maligen Davis-Cup-Spielers Carl-Uwe Steeb soll bei der Resozialisierung des nach massiven Doping-Anschuldigungen im öffentlichen Ansehen tief Gefallenen helfen.
„Nach meinem nicht erfreulichen Karriereende war ich in ein Loch gefallen. Jetzt hat mich das Radfieber wieder gepackt“, sagte Ullrich, der sich in Sölden als Edelhelfer für den ehemaligen Slalom-Weltmeister Frank Wörndl verdingt. „Mir geht es nicht um den Sieg, sondern um den Spaß. Trotzdem habe ich in den vergangenen sechs Wochen hart trainiert, nachdem ich vier Jahre keine Lust hatte, aufs Rad zu steigen“, erklärte ein erstaunlich fit wirkender Ullrich, der die 238-Kilometer-Tortur über 5500 Höhenmeter mit einem Lächeln und unter dem Applaus der Zuschauer und Begleiter in Angriff nahm. Später riss die Wolkendecke auf,
Allerdings wird Ullrich bald seine Vergangenheit wieder einholen. Anfang September entscheidet der Internationale Sportgerichtshof CAS, ob der frühere T-Mobile-Star einen weiteren Prozess befürchten muss. […] Erst wenn kein Verfahren mehr ansteht oder läuft, will sich Ullrich zu seiner Vergangenheit äußern. „Ob Ullrich dann ein knallhartes Dopinggeständnis ablegt, ist offen“, sagte sein neuer Sprecher Falk Nier. Seit Wochen überlegen die Berater den besten Weg zurück zu mehr öffentlicher Akzeptanz. „Ich habe viele Ideen und Ziele und bin voller Motivation – noch ist aber nichts spruchreif“, sagte der sehr gelöst wirkende Ullrich. (dpa)
FRANKFURTER RUNDSCHAU, 28.8.2011
GRÖSSERES FUSSBALL-TOR?
Der ehemalige Vizepräsident der FIFA, Mong-Joon Chung, hat Sepp Blatter mit hefti-gen Worten attackiert. Der amtierende Präsident des Fußball-Weltverbandes sei „ein kleiner Quälgeist“, der die FIFA wie ein Diktator führe, schrieb Chung in seinen Memoi-ren, die vergangene Woche in Südkorea veröffentlicht worden waren. „Präsident Blatter mag fünf Sprachen fließend sprechen, sehr gut mit Worten umgehen und überaus intel-ligent sein – aber ich denke nicht, dass er ein Gentleman von internationalem Rang ist […]“ Chung, der 16 Jahre lang Vizepräsident der FIFA war und aktuell Präsident des südkoreanischen Fußballverbandes ist, beschuldigt Blatter darüber hinaus, mithilfe einer übergeordneten Anti-Korruptions-Expertengruppe die Kontrolle über das FIFA-Exeku-tivkomitee an sich reißen zu wollen. […] Das Gebaren des Schweizers erinnere „an die Machenschaften von so vielen Diktatoren der Welt-Geschichte“. […] Der Südkoreaner kritisiert in seinen Memoiren die Erneuerungs-Bemühungen Blatters, viele seiner Ideen seien „eine Reihe unrealistischer, wilder Vorschläge gewesen, wie zum Beispiel die Überlegung, die Weltmeisterschaft alle zwei Jahre stattfinden zu lassen oder das Tor zu vergrößern, um so mehr Treffer pro Partie zu provozieren“. Diese Gedankenspiele hät-ten lediglich „unnötige Spannungen und Verwirrung“ hervorgerufen.
Chung galt als aussichtsreichster Kandidat auf die Nachfolge von Blatter, war aber bereits bei der asiatischen Wahl für die FIFA-Vizepräsidentschaft Anfang des Jahres gescheitert. Blatter wurde am 1. Juni 2011 in seiner Funktion als Präsident des Weltver-bandes bestätigt. (dapd)
FRANKFURTER RUNDSCHAU; 12.9.2011
LITERATUR
Der Hallenser Zehnkämpfer Walter Meier, Olympiateilnehmer 1956 und 1960, war an einer unserer letzten Publikationen als Autor einer literarischen Skizze be-teiligt gewesen. Heute publizieren wir einen Leserbrief, den er an die „Mitteldeut-sche Zeitung“ sandte, die ihn aber um entscheidende Passagen gekürzt veröffent-lichte. Hier der vollständige Text.
Ihr Artikel vom 8. 8. 2011: „Proteste bei Lesung von Täve Schur"
Ich hab' gelobt, mich nicht mehr zu
sich einzig um des eig'nen Friedens wegen
mit unsern Tonangebern anzulegen;
wo die sich streiten, hört man besser weg....
Heute muß ich mein im Jahre 2000 gereimtes Gelübde brechen. Der am 8. August in der MZ erschienene Artikel „Proteste bei Lesung von Täve Schur" zwingt mich dazu. Der Artikel „Doping-Opfer fühlen sich verhöhnt" läßt mich als ehemaligen Leistungs-sportler und (parteilosen!) Zeitgenossen Täve Schurs die Ohren spitzen. Täve gewann bei den Olympischen Spielen in Melbourne (1956) die Bronzemedaille im Straßenfah-ren. Vier Jahre später in Rom gewann er mit der Mannschaft die Silbermedaille. Zu jener Zeit bestand das den Olympiakandidaten während der Vorbereitung verabreichte leis-tungsfördernde Mittel in einem täglichen Viertelliter Joghurt. (Nicht nur als Scherz ge-meint!) Es geht mir nicht um das inzwischen weltweit abgedroschene Thema Doping. Was ich dazu zu sagen habe, kann man in meinem Buch „Interview mit mir selbst" (Werbung: Seite 22 ff) nachlesen. Was mich am genannten MZ-Artikel erregte, war die Art, wie der Verfasser in einer ganzseitigen Spalte über zwei selbsternannte „Doping-Opfer" berichtete, die „aufsprangen und lautstark protestierten". (Zitat!)
Ich gestehe, daß ich kein besonderer Fan des Bahnradsports bin, doch wenn diese „Doping-Opfer" nur annähernd so viele Erfolge erzielt hätten wie der von ihnen angegrif-fene Täve, hätte ich mir zumindest einen der beiden Namen, Uwe Trömer oder Andreas Krieger, gemerkt.
Laut MZ-Artikel soll Trömer gerufen haben, er litte infolge des Dopings an beidseiti-gem Nierenversagen. Soll gesagt haben? Hat er nun, oder hat er nicht? Täve soll die Anschuldigungen ruhig zur Kenntnis genommen haben. Hat er, oder hat er nicht? Die Art der Formulierung läßt vermuten, daß der Verfasser nicht selbst am Ort des Gesche-hens war. Wer aber suggerierte ihm dann die Erkenntnis (ich zitiere!)
„daß Täve Schur immer mehr zur traurigen Gestalt wird, wenn es um den Umgang mit Sportgeschichte geht."
Achduliebergott!, würde ich ausrufen, wenn es denn einen so lieben Gott gäbe, denn das Prädikat „mangelhaft" im Fach Geschichte gebührt anderen. Ich kenne in meinem Bekanntenkreis eine Handvoll Nierenkranke, von denen jedoch nicht einer jemals Sport getrieben hätte. Es gehört inzwischen zum „guten Ton", alles „nach Sozialismus und DDR Riechende" mieszumachen.
Ein weiterer Zwischenruf des Kläffers Uwe Trömer, er sei froh, daß man Täve Schur nicht in die „Hall of fame" aufgenommen habe, klingt in meinen Ohren fast wie ein Lob. Die Ruhmeshalle für DEUTSCHE Sportler „Hall of fame" zu nennen, kann nur von sol-chen „arselickern" stammen, die ein halbes Jahrhundert lang predigten, der Sport sei unpolitisch.
Zu den Millionen, die sich wie Täve Schur weigern, den Sport der DDR eine kriminelle Vereinigung zu nennen, zählt auch der Verfasser
Ein Rachefeldzug-Verfolgt bis ins Koma
Wie die CIEPSS mit ihren Ehrenmitgliedern umspringt. Dr. Klaus Huhn hat in der Ta-geszeitung " Junge Welt folgenden Artikel veröffentlicht. Im Schatten des Berliner Olym-piastadions sind zahlreiche Büros etabliert. Eines davon gehört dem Weltrat für Sport-wissenschaft und Leibes / Körpererziehung, abgekürzt CIEPSS. Eine Organisation mit UNESCO - Status, deren Programm es heißt, man wolle dem Frieden und dem Fairplay dienen. Dessen ungeachtet wurde dieser Tage vom geschäftsführenden Direktor Detlef Dumon ein Brief an den emeritierten Professor Günter Erbach nach Eichwalde ge-schickt, wo der langjährige Staatssekretär für Körperkultur und Sport der DDR aber seit dem 1.Mai vorigen Jahres nicht mehr anzutreffen ist, weil er nach einem schweren un-verschuldeten Autounfall monatelang im Koma lag und heute noch auf der Intensivstati-on behandelt wird. Aber der CIEPPS-Direktor sandte dem CIEPPS-Ehrenmitglied Er-bach nicht etwa Genesungswünsche, sondern teilte ihm mit, daß sich das Präsidium des Rates der CIEPPS"veranlaßt" ehe , ihm die "Ehremitgliedschaft in der Organisation so-wie den Philip-Noel-Baker-Preis abzuerkennen".
Die Entscheidung sei am 7.September 2009 getroffen wurden, zu einem Zeitpunkt also, als Erbach im Koma lag. Der Vorwand für die nicht sonderlich ethische und extremunfai-re Vorgehensweise soll allen Ernstes ein im Jahr 2000 gefälltes Urteil sein, daß Erbach eine "Unterlassung in Dopingfragen in der DDR anlastete. Die Frage an den Direktor Dumon, für welche Schritte der Weltrat fast zehn Jahre benötigte, wem diese Entschei-dung zu treffen, blieb ohne Antwort.
Das galt auch für die Frage, ob die CIEPPS wenigstens die Absicht hatte. Erbach um eine Stellungnahme zu bitten. Schweigen auch auf die Frage, ob die CIEPPS etwas übersehen hatte, daß die Gutachterärzte des bewußten Prozesses bei der Urteilsver-kündigung moniert hatten, daß ihr Gutachten vom Gericht ignoriert worden war. Wo blieb da das im Statut geforderte Fairplay? Telefonische Rückfragen in dem Büro am Olympiastadion wurden mit Ausflüchten beantwortet. Eingeweihte wollen allerdings in Erfahrung gebracht haben, daß bundesdeutsche Sportfunktionäre in Fortsetzung ih-res Rachfeldzuges gegen den ihnen Jahrzehntelang überlegenen DDR-Sport die CIEPSS gedrängt hatten, endlich diesen Beschluß zu fassen. Und das zu einem Zeit-punkt, wo immer mehr Beweise ans Licht kamen, in welchem Ausmaß bundesdeut-sche Sportmediziner flächendeckendes Doping betrieben hatten. Mehrere BRD-Athleten, darunter der Boxer Jupp Elze, die Mehrkämpferin Birgit Dressel und der Ku-gelstoßer Ralf Reichenbach starben an den ihn verabreichten Dopinggiften.
Staatsanwälte leiteten Ermittlungen ein, zu einem Verfahren kam es in keinem Fall. Gu-drun Doll-Tepper, die zwei Wahlperioden lang Präsidenten der CIEPSS war, soll nie ei-nen Anlaß zu Schritten gegen Schuldige gesehen haben.
Schreiben an CIEPSS
Im Auftrage der Mitgliederversammlung richtete Klaus Eichler an den Geschäftsführen-de Direktor der CIEPSS folgendes Schreiben:
Sehr geehrter Herr Direktor Dumon,
der Verein Sport und Gesellschaft e.V. hat sich auf seiner Generalversammlung am 12.März mit ihrem Vorgehen gegen sein Mitglied Prof.Dr .Erbach befasst und mich be-auftragt, mit Ihnen über die Wiederherstellung seines Rufes zu verhandeln und Sie zu veranlassen, die nötigen Schritte in die Wege zu leiten. Sie wissen so gut wie wir, wel-che Verdienste sich Prof.Erbach um die Entwicklung der CIEPSS erworben hat,Verdienste, die niemand annullieren kann. Ich empfehle Ihnen die Lektüre der Rede, die Prof.Dr.Ernst Jokl(USA) anläßlich der Verleihung des Philip Noel-Baker Research Award an Prof .Erbach am 26.März 1973 hielt. Sie berufen sich auf ein Urteil aus dem Jahre 2000. Kennen Sie dieses Urteil, haben diejenigen, die ihm die Ehremitgliedschaft streitig machen, dieses Urteil gekannt?
Sie wissen hoffentlich, welche Gesetze man verletzt, wenn man in Deutschland Maß-nahmen lasst, die sich auf ein verjährtes Urteil stützen. Das die CIEPSS neun Jahre be-nötigte, um ihre Entscheidung zu treffen das zu einen Zeitpunkt tat, als Prof Erbach nach einem unverschuldeten Autounfall im Koma lag und Sie auf die Idee kamen, ihm die Entscheidung an seinem Geburtstag den er in einer Intensivstation beging mitzutei-len, lässt auf einen hohen Mangel an Ethik schließen, auf die Sie sich obendrein als Mo-tiv für Ihre Entscheidung berufen. Ich habe den Auftrag, Ihnen persönlich mitzuteilen, dass die CIEPSS die Möglichkeit hat,ihren Schritt bis 20.April 2010 zu korrigieren, weil wir andernfalls rechtliche Schritte einleiten und die UNESCO von Ihrem Vorhaben in Kenntnis setzen.
Hochachtungsvoll
Klaus Eichler
Antwort von CIEPSS
".....hiermit bestätige ich den Eingang Ihres Schreibens vom 17.März 2010.
Der Weltrat für Sportwissenschaft und Leibes- / Körpererziehung ( ICSSPE ) ist eine au-tonome Organisation, die Ehrungen gemäß ihrer Werte und Prinzipien vornehmen und zurückziehen kann. Es gibt keine Verpflichtung gegenüber anderen Organisationen
Der große Aufbruch und seine Ausreden
Von Klaus Huhn
Der 16. August 1961 ist ein gravierendes Datum der deutschen Sportgeschichte. Das war der Tag, an dem der Geschäftsführende DSB-Vorstand (Deutscher Sportbund) und das NOK-Präsidium in Düsseldorf ihren gemeinsamen Beschluss verkündeten, al-len Sportverkehr mit der DDR abzubrechen. Wortlaut: „Die vom Regime der SBZ ge-troffenen Abschnürungsmaßnahmen werden auf das schärfste missbilligt. Dieses Vor-gehen widerspricht den Prinzipien der Menschlichkeit und verletzt auch alle sportlichen Grundsätze. Nach diesen Maßnahmen haben nur noch systemhörige Personen die Möglichkeit zu sportlichen Begegnungen mit der Bundesrepublik. Damit hat die SBZ den gesamtdeutschen Sportverkehr unterbunden. Sie trägt dafür die alleinige Verantwor-tung. Solange ein normaler Verkehr zwischen der SBZ und Berlin sowie der Bundesre-publik nicht möglich ist, können die Spitzenverbände Genehmigungen zur Durchführung von Sportveranstaltungen in der SBZ und mit Sportgruppen der SBZ in der Bundesre-publik nicht mehr erteilen. Ebenso können die Sportverbände der Bundesrepublik für die Dauer dieses von der SBZ geschaffenen Zustandes auch an internationalen Sportver-anstaltungen innerhalb der SBZ nicht teilnehmen. Verhandlungen über gesamtdeutsche Fragen haben unter diesen Umständen keinen Sinn, sie werden ab sofort eingestellt." Seit fünfzig Jahren wissen Zeitzeugen und Historiker, dass die Entscheidung, die Gren-ze der DDR zur BRD ähnlich wie viele Ländergrenzen in der Welt zu schließen, nicht in Berlin entschieden wurde, sondern Wochen vorher in Wien, wo sich Chrustschow und Kennedy getroffen hatten, um das Problem der Grenze zwischen den beiden Machtblö-cken zu klären. Sie kamen zu einer Einigung und realisiert wurde sie zwischen Ostsee und Bayern.
Eines der Probleme vor dem die BRD über Nacht stand, war, wie sie auf diesen Schritt reagieren sollte. Radikale forderten, jeglichen Handelsverkehr zwischen beiden deut-schen Staaten abzubrechen, doch lehnten die bundesdeutschen Konzerne – zwar hinter den Kulissen, aber nachdrücklich – diesen Schritt ab. Auch die Variante, sämtliche Ver-kehrsverbindungen zu unterbrechen, war nicht realisierbar, dieweil dies den Protest aller europäischen Länder ausgelöst hätte. So blieb nur der Sport! Sport war und ist immer ein spektakuläres und viele Gemüter bewegendes Ereignis. Die Erklärung, jeglichen Sportverkehr abzubrechen, durfte sicher sein, den Beifall der Politiker zu finden, zwang aber die bundesdeutsche Sportführung unter der Führung des immer willigen Willi Dau-me dazu, wenigstens halbwegs glaubhafte Erklärungen für diesen Schritt zu finden.
Wir verzichten auf jede überflüssige Kommentierung dieser Dokumente, erlauben uns nur den Hinweis, dass der Beschluss für eine bis dahin beispiellose Situation im Sport-verkehr sorgte: DSB und NOK behaupteten, dass die DDR nur mehr „systemhörige Per-sonen“ zum Sport zuließ. Diese Feststellung lässt nur den Schluss zu, dass der bun-desdeutsche Sport von diesem Zeitpunkt an, die DDR-Sportler in „systemhörige“ und „nicht systemhörige“ zu sortieren gedachte und allein mit „nicht systemhörigen“ Fußball spielen wollte. Damit wäre der Beweis
Noch einmal: Wir verzichten auf jegliche Kommentare, auch weil die politische Haltung von DSB und NOK auf jeden Kommentar verzichten kann. Sie war eindeutig! Dau-me verfasste ein fast 9000 Worte umfassendes Rundschreiben an die bundesdeutschen Aktiven und Funktionäre. Offensichtlich war ihm klar, wie schwierig es sein würde, den Schritt zu begründen. Zitate aus diesem Rundschreiben, wörtlich wiedergegeben: „Der Sportverkehr zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetischen Besatzungszone hat seit der unseligen Spaltung Deutschlands immer unter zwei grundverschiedenen Ge-sichtspunkten gestanden. Er war für die Turn- und Sportbewegung der Bundesrepublik ausschließlich Ausdruck der menschlichen, sportlichen und turnbrüderlichen Verbun-denheit mit den Kameraden jenseits der Zonengrenze.“
Hier sei noch einmal an die Frage der „Systemhörigkeit“ erinnert!
Weiter Daume: „Für das Regime der Zone war der gesamtdeutsche Sportverkehr schwerpunktmäßig immer nur ein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Diese Ziele haben im Laufe der letzten zehn Jahre mehrfach gewechselt.
In den ersten Jahren sah das Regime im gesamtdeutschen Sportverkehr ein Mittel, die Bundesrepublik politisch zu unterwandern. Nahezu alle Sportbegegnungen wurden da-mals mit Spruchbändern, politischen Ansprachen und anderen Propagandamitteln zu politischer Beeinflussung mißbraucht.”
Was Daume unterschlug war, dass es in jenen Jahren um die Einheit im deutschen Sport ging – und auch um die Einheit Deutschlands, woran wohl heute niemand mehr erinnert werden möchte.
Weiter Daume: „Dieser uferlose Mißbrauch zwang die gesinnungs- und satzungsmäßig zu politischer Neutralität verpflichteten Turn- und Sportverbände der Bundesrepublik am 21. September 1952 zum Abbruch der Sportbeziehungen mit der SBZ. Drei Monate nach dem Abbruch sagte die politische Sportführung der SBZ zu, zukünftig bei Sportbe-gegnungen politische Demonstrationen zu unterlassen. Damit wurde der gröbste Miß-brauch ausgeschaltet und die Wiederaufnahme des gesamtdeutschen Sportverkehrs ermöglicht. Aufgegeben wurden die politischen Ziele vom Zonensport aber nicht.”
Diese Variante war eine schlichte Lüge. Der Vorwand für den Abbruch der Sportbezie-hungen 1952 war gewesen, DDR-Sportfunktioäre hätten “Daten” über BRD-Sportler ge-sammelt. Als das zügig und überzeugend widerlegt war, wurde der Sportverkehr wieder aufgenommen.
Daumes weitere Sport-Geschichtsschreibung: „Mit dem Beginn des Jahres 1957 gab das Regime die Parole von der `Einheit´ Deutschlands zugunsten der Zweistaatentheo-rie auf. Ein friedlicher gesamtdeutscher Sportverkehr passte nicht in dieses politische Konzept. Die Turn- und Sportverbände der Bundesrepublik wurden deshalb plötzlich be-schuldigt, den Sportverkehr zu Agenten- und Spionagezwecken, zu benutzen. Die bis dahin ziemlich häufigen Sportbesuche aus der SBZ wurden vom Regime der Zone rigo-ros gestoppt und auch alle fest vereinbarten Sportbegegnungen in der Bundesrepublik, oftmals in letzter Minute, abgesagt.“ Eine weitere Unwahrheit:
auf eine – damals noch – Wiedervereinigung begraben hatte. Plötzlich waren die Gäste aus der DDR die „Agenten“ geworden.
Aber Daume schien zu ahnen, dass seine bis dahin geäußerten Behauptungen den Ab-bruch kaum motivieren konnten und fuhr fort: „In schmerzlicher Erinnerung stehen auch die in diesem und den folgenden Jahren vom Regime der Zone mit allen Mitteln unter-nommenen Versuche, das Auftreten gesamtdeutscher Mannschaften zu verhindern und die Teilnahme an den Olympischen Spielen mit einer separaten Zonenmannschaft zu erzwingen. Mit unendlicher Geduld hat sich die Turn- und Sportbewegung der Bundes-republik immer wieder mit Erfolg bemüht, den gesamtdeutschen Sportverkehr aufrecht-zuerhalten. Sie hat dabei die unentwegt fortgesetzten Versuche der politischen Infiltrati-on manchmal bis über die Grenze des Erträglichen und Verantwortbaren in Kauf ge-nommen in der Überzeugung, dass die Aufrechterhaltung der menschlichen und sportli-chen Beziehungen der alles überragende Gesichtspunkt sein müsse.“ Daume schien si-cher, dass die Öffentlichkeit vergessen hätte, dass sein NOK die Teilnahme der DDR-Athleten an den Spielen 1952 in Helsinki vereitelt hatte und – was noch schwerer wog – gegen die vom IOC-Präsidenten Brundage 1955 vorgeschlagene gesamtdeutsche Olympiamannschaft gestimmt hatte. Dass sie dabei in der Minderheit blieb und es so – gegen ihren Willen! - ersten gemeinsamen Mannschaft 1956 in Cortina d´Ampezzo kam, schien er aus den Sportgeschichtsbüchern streichen zu wollen.
Und in diesem Stil setzte er seine Variante der Geschichte des Nachkriegssports fort: „Etwa vom Jahre 1960 an erhielt der Sport der SBZ eine andere politische Aufgabe: Er hatte das neue politische Konzept des Zonenregimes - `die Konföderation der beiden deutschen Staaten´ - vorzuexerzieren. Mit Spalterfahne und Staatsemblem auf dem Sportdress selbst der unbedeutendsten Mannschaften wurde im In- und Ausland für die Existenz zweier deutscher Staaten demonstriert. Gleichzeitig wurde die Bildung gemein-samer Sportorgane, die Durchführung möglichst vieler spektakulärer gesamtdeutscher Veranstaltungen bis zu gesamtdeutschen Meisterschaften erstrebt. Selbst die gesamt-deutsche Olympia-Mannschaft wurde von Ulbricht als ein leuchtendes Vorbild einer Kon-föderation der beiden deutschen Staaten hingestellt.“
Und was wäre dagegen einzuwenden gewesen?
Wohl selbst spürend, dass seine Darstellung der Geschichte noch immer kaum jeman-den von der Notwendigkeit des Abbruchs der Sportbeziehungen überzeugen würde, versicherte er mit einem Mal: „Die deutsche Turn- und Sportbewegung will leidenschaft-lich die Weiterführung des gesamtdeutschen Sportverkehrs, der die Begegnung von Mensch zu Mensch als wesentliches Element einschließt. Ein solcher Sportverkehr kann deshalb selbst dann noch sinnvoll sein, wenn er über einen Stacheldraht hinweg durch-geführt werden muss. Das trifft aber nur so lange zu, wie Sportbegegnungen mit der Turn- und Sportbevölkerung von drüben möglich sind.“
Hier schien er völlig den Überblick verloren zu haben, denn wer hatte denn mit seinem Abbruch diese Begegnungen unmöglich gemacht?
Hurtig nahm er die nächste Kurve: „Ein gesamtdeutscher Sportverkehr verliert
Gruppen, wie sie zur Zeit nur von dem Zonenregime über die Grenze gelassen werden, beschränkt. Politische Neutralität muss aktiv sein. Aktive politische Neutralität ist gleich-bedeutend mit der Bereitschaft, den politischen Missbrauch des Sports von der anderen Seite abzuwehren. Die Düsseldorfer Beschlüsse des DSB und NOK haben aus einer von der SBZ geschaffenen Tatsache, für die sie die alleinige Verantwortung trägt, nur die erforderlichen Folgerungen gezogen. Die Folgerungen dienen in letzter Auswirkung der Wiederherstellung eines den Prinzipien des Sports gerecht werdenden gesamtdeut-schen Sportverkehrs.“
Und dann folgte noch einmal ein Salto mortale a la Daume: „Nach Ansicht des DSB und des NOK war abermals der Zeitpunkt gekommen, innerhalb und außerhalb Deutsch-lands klarzumachen, dass der Missbrauch des Sports zu politischen Zwecken durch das Regime der SBZ eine Grenze hat, jenseits derer Selbstachtung und Menschenwürde Gefahr laufen, verlorenzugehen. … Den internationalen Sportverkehr werden wir weiter durchführen, soweit keine entwürdigenden Umstände dem entgegenstehen. Unsere eingegangenen internationalen Verpflichtungen werden wir selbstverständlich erfüllen, und wir sind sicher, dass die internationalen Verbände dies in einer für uns tragbaren Form ermöglichen werden.
Wie alle Menschen auf der Welt hoffen auch die Mitglieder der deutschen Turn- und Sportbewegung inbrünstig, dass die menschliche Verantwortung und die politische Ein-sicht einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise und eine Möglichkeit zu einem men-schenwürdigen Nebeneinanderleben finden werden. Die Turner und Sportler der Bun-desrepublik werden dann unter den ersten sein, die die zeitweilig und hoffentlich nur kurzfristig unterbrochenen Verbindungen zu dem anderen Teil Deutschlands wieder aufnehmen. …
Alle Mitgliedsverbände des DSB sind herzlich gebeten, sich mit vorstehenden, dem Ge-bot der Stunde entsprechenden Beschlüssen solidarisch zu erklären, entsprechende Konsequenzen zu ziehen und ihre Mitglieder darüber zu unterrichten.
Willi Daume
Präsident des DSB und des NOK"
Damit hatte Daume seine politische Pflichtübung gegenüber Bonn absolviert, das sich nun darauf berufen konnte, „Gegenmaßnahmen“ gegen die Schließung der Grenze ge-troffen zu haben.
Das ist ein halbes Jahrhundert her und dennoch darf man sicher sein, dass diese Versi-on demnächst frisch aufgebrüht – oder allerhöchstens verschwiegen – wird.
Es fällt nicht schwer, das Gegenteil nachzuweisen!
Noch einmal: Die Entscheidung über den Abbruch datiert vom 16. August 1961.
Am 12. März 1961, also rund fünf Monate bevor Daume verkündet hatte, dass DSB und NOK den Sportverkehr mit der DDR
gleiche Herr Daume nach Genf gefahren, wo an jenem Sonntag die Finalspiele der Eis-hockey-Weltmeisterschaft 1961 stattfinden sollten.
Mit dem Hamburger „Spiegel“ (13/1961) steht uns ein Zeuge zur Verfügung, den Daume damals nie dementiert oder gar zu einer Gegendarstellung veranlasst hatte. Mithin: ein „Kronzeuge“! Das Magazin hatte damals das Geschehen eingehend beschrieben: „Gen Genf steuerte der Präsident des Deutschen Sportbundes, Willi Daume, 47, seinen zitro-nengelben Mercedes 300 SL - einem Turnier jener Sportdisziplin entgegen, in der bun-desrepublikanische Leibesübungs-Funktionäre ebenso unangefochten wie inoffiziell ei-nen imposanten Weltrekord halten: im innerdeutschen Wettkampf um National-Gesang und Flaggentuch.
Die Verdienste, die sich der Dortmunder Eisengießer Daume (Drahtanschrift: „Eisen-Daume") im Entwirren deutscher Flaggenleinen und Intonieren neuer Hymnen erworben hat, sind so augenfällig, dass dem Sportbundpräsidenten erst unlängst auch noch das Präsidentenamt des Nationalen Olympischen Komitees übertragen wurde.
Noch unmittelbar vor seiner Abreise nach Genf hatte Eisen-Daume einen neuen Tri-umph in sportpolitischen Hochleistungs-Verrenkungen errungen. Auf der in West-deutschland unter seiner Schirmherrschaft ausgetragenen Hallenhandball-Weltmeis-terschaft hatten sich die feindlichen deutschen Sportbrüder aus Ost und West unter Olympia-Farben und der Melodie `Freude, schöner Götterfunken´ zu einer Mannschaft vereinigt.
Allein der `Götterfunke´ sprühte nur kurz; Schirmherr Daume konnte sich seines Erfolgs nicht ungetrübt erfreuen. Ungeachtet seiner noch andauernden Handball-Schirmherrschaft und eines für zwei Tage später terminierten Urlaubsbeginns an der Ri-viera sah er sich genötigt, in sein gelbes Sport-Vehikel zu klettern, um nach Genf zu brausen. Denn dort, bei den Eishockey-Weltmeisterschaften, an denen ost- und west-deutsche Teilnehmer getrennt auf den Puck einschlugen, drohte ein schreckliches De-bakel.
Zu Beginn der Eishockey-Weltmeisterschaften hatte Willi Daume in einem Gespräch Bonns Außenminister Heinrich von Brentano davon überzeugt, dass die Anwesenheit der DDR-Sportler in Genf Bundesdeutschlands gepanzerte Schlittschuh-Athleten nicht von einer Teilnahme abhalten dürfe:
"Wir wählen das kleinere Übel. Die >Spalterflagge< in einem Wald von Fahnen zu se-hen ist besser, als die >Spalterflagge< Deutschland allein vertreten zu lassen."
In einem Punkt allerdings wollte Gesundheitssportler Daume, dem täglich aktiver Sport das Frühstück ersetzt, von vornherein so unerbittlich bleiben, wie Kettenraucher Hein-rich von Brentano es sich immer erträumt: Teilnahme westdeutscher Sportler an einer Siegerehrung mit `Spalterflagge´ und DDR-, Hymne sei ausgeschlossen.
Daume: `Mannschaften der Bundesrepublik
Ausgerechnet diese schreckliche Situation aber drohte in Genf, als Mercedes-Fahrer Daume dort eintraf: Die Ergebnisse der Ausscheidungsspiele hatten ein Weltmeister-schaftsspiel -Deutschland (West) gegen Deutschland (Ost) notwendig gemacht.
Die Olympiafarben der gesamtdeutschen Hallenhandballer noch vor Augen, die `Freude, schöner Götterfunken´ noch im Ohr, schüttelte Willi Daume in Genf einen neuen Vor-schlag aus dem Ärmel, um im Falle einer Niederlage Westdeutschland außer einer sportlichen nicht auch noch eine nationale Schmach zu bescheren: Siegerehrung ohne Fahnen und Hymnen, dafür mit Sportlergruß und Handschlag.
Indes, die Veranstalter der Weltmeisterschaft zeigten wenig Verständnis für solche deutschen Nöte und Clownerien. Sie verlangten kategorisch, die Bundes-Schlenzer soll-ten entweder die in den Turnierbestimmungen vorgeschriebene Siegerehrung respektie-ren oder ihren ostdeutschen Brüdern die Siegespunkte kampflos überlassen.
Die westdeutsche Mannschaft, die im voraufgegangenen Spiel gegen die Russen nur mit halber Kraft geholzt und 1:11 verloren hatte, um sich für die nationale Auseinander-setzung mit der DDR zu schonen, entschied sich - von Sportpräsident Daume beraten - daraufhin in letzter Minute zum Verzicht.
Vergebens warteten ihre ostdeutschen Gegner mit gezückten Schlägern pünktlich im Stadion auf das bundesrepublikanische Team. Was unter allen Umständen vermieden werden sollte, war eingetreten: DDR und Spalterflagge vertraten Deutschland allein.
Zum Schaden kam der Spott. Genfs Zuschauer pfiffen die ferngebliebenen Westdeut-schen in Abwesenheit aus. `Mit (dieser) skandalösen Unsportlichkeit´, schrieb das Schweizer Boulevardblatt `Blick´, `haben die Westdeutschen einen empörenden Miss-klang in die Weltmeisterschaften gebracht.´
`Das Ganze ist eine Schande´, polterte der kanadische Vizepräsident des Internationa-len Eishockey-Verbandes, Robert Le Bel, `Kriminell!´ übertrumpfte ihn Kanadas Ver-bandschef Jack Roxborough. Und der Engländer John Ahearne, Präsident des Interna-tionalen Eishockey-Verbandes, zeigte sich von dem westdeutschen Verzicht `ange-ekelt´.
Selbst in Deutschland rümpften Sportreporter die Nase: `Willi Daume hat dem deut-schen Sport keinen guten Dienst erwiesen´, konstatierte der Düsseldorfer `Mittag´.
Das sowjetzonale `Neue Deutschland´ war bei der Suche nach Schuldigen weitsichtiger: `Hallstein-Doktrin bringt Niederlage´, höhnte es in seiner Schlagzeile.
Und in der Tat: Solange die Athleten des Volks der Dichter und Denker keinen Ball mehr treten, keinen Schwinger schlagen und keinen Schlittschuh anschnallen können, ohne darüber nachzugrübeln, welche Melodei am Spielende ihren Schweiß lohnen wird, langweilen und verärgern sie nicht nur den Rest der Welt, sondern lassen ihren Sport
Darüber hinaus, gibt es für alle westdeutschen Sportler, die Bonns These vom Nichtvor-handensein der sogenannten DDR folgen, auf die Dauer ohnehin nur einen Ausweg: Sie bleiben im Lande und spielen unter sich.
So ganz schien allerdings selbst bei den von Eisen-Daume in Genf zur nationalen Tat angespornten Eishockey-Kämpfern der Wirklichkeitssinn nicht verlorengegangen zu sein: Beim abendlichen Weltmeisterschafts-Bankett machten sie wieder mit und jeder von ihnen nahm als Gastgeschenk eine Schweizer Uhr in Empfang. Die DDR-Spieler konnten freilich zusätzlich noch ein anderes Geschenk der Uhrenfirma Rolex entgegen-nehmen: Den Fairneß-Pokal für manierliches Benehmen auf dem Eis.“
Diesen Bericht kann ich als journalistischer Teilnehmer dieser Weltmeisterschaft noch ergänzen: Die DDR hatte zwar gut im Rennen gelegen im Kampf um die Fair-Play-Trophäe, aber die endgültige Entscheidung fiel nach dem bundesdeutschen Boykott: Die von Schweizern dominierte Fairplay-Kommission entschied einmütig, die DDR am Abend zur Fairplay-Siegerehrung zu rufen und ihr die Trophäen zu überreichen. Be-stärkt wurden die Fair-Play-Juroren durch die Tatsache, dass sich die DDR bereit erklärt hatte, die zum Spiel DDR-BRD erschienenen zahlreichen Zuschauer am Nachmittag zu entschädigen. Sie trat gegen eine von den Schweizern in aller Eile zusammengetrom-melte internationale Mannschaft an – das Tor hütete der USA-Keeper - und gewann die-ses Spiel. Das muss nur erwähnt werden, weil es den Schweizern die Chance bot sich an den Bundesdeutschen gnadenlos zu „rächen“. Als Willi Daume die Veranstalter um einen Raum bat, in dem er der internationalen Presse seine „Verzicht-Entscheidung“ er-klären wollte, erinnerte man ihn daran, dass der BRD eine Umkleidekabine zur Verfü-gung stünde, die er gern für seine Pressekonferenz benutzen könnte, was er dann auch notgedrungen tat.
Dass die Schweizer mehr als einmal die DDR-Hymne in diese Kabine „einspielten“, lag daran, dass sie mehrmals erklang. Als die DDR-Mannschaft zu ihrem Spiel gegen die BRD auf dem Eis erschienen war, spielte man die Hymne zum ersten Mal. Als das Spiel nach einer Minute abgepfiffen wurde, nachdem der Gegner nicht erschienen war, wurde sie für den Sieger des Spiels zum zweiten Mal intoniert. Als die Mannschaft gegen die „Internationale WM-Auswahl“ gewonnen hatte, erklang sie ein weiteres Mal zu Ehren des Siegers!
Doch damit hatten sich die Folgen des angeblich so begründeten Abbruchs längst nicht erschöpft.
Noch einmal sei der „Spiegel“ in den Zeugenstand gerufen, weil das vor dem Vorwurf bewahrt, etwa falsch Zeugnis gegeben zu haben oder DDR-Agitation zu publizieren: Am 25. April 1962 meldete das Hamburger Magazin: „Bundesdeutschlands Wettschwimmer sind so stark, dass sie, speziell der Rekordler Gerhard Hetz, bei der für August vorgese-henen Europameisterschaft mehrere Titel gewinnen können.
Um so ärgerlicher sind die Schwimmer daher, dass sie - auf Weisung der obersten deutschen Sportführung - ihre Chancen wahrscheinlich ungenutzt verstreichen lassen müssen. Grund: Die Wettkämpfe
halten werden. `Frankfurter Allgemeine´: `Die junge Schwimmer-Garde muss verzichten lernen.´
Die Schwimmer-Garde droht das Opfer eines Anti-DDR-Beschlusses der westdeutschen Sportführung zu werden, dessen verhängnisvolle Auswirkungen auf den eigenen Sport offenkundig unterschätzt wurden: des Mauer-Boykotts.
Drei Tage nach Walter Ulbrichts nächtlichem Richtfest - am 16. August vergangenen Jahres - beschlossen der bundesdeutsche Sportpräsident Willi Daume. seine diversen Unter-Präsidenten und Mitglieder des Nationalen Olympischen Komitees in Düsseldorf, aus Protest gegen die `vom Regime der SBZ getroffenen Abschnürungsmaßnahmen´ die Sportbeziehungen zur DDR radikal abzubrechen: Denn: `Verhandlungen über ge-samtdeutsche Fragen haben unter diesen Umständen keinen Sinn; sie werden ab sofort eingestellt.´
War der deutsche Ost-West-Sport zuvor bis auf die Frage der Flaggen und Hymnen kei-nen Einschränkungen von westdeutscher Seite unterworfen, so unterband Daumes Sportführung nunmehr ab sofort:
- Teilnahme westdeutscher Sportler an nationalen und internationalen Wettbewerben in der DDR;
- Teilnahme mitteldeutscher Sportler an nationalen Wettkämpfen in der Bundesrepublik.
An internationalen Wettkämpfen auf Bundesgebiet brauchte der Sportbund die DDR-Athleten nicht zu hindern, Dazu reichen nach Daumes Ansicht polizeiliche Bestimmun-gen aus, mit deren Hilfe kommunistische Betriebsamkeit im Bundesgebiet ausgeschaltet werden kann. Da zur Bildung einer gesamtdeutschen Sportmannschaft Verhandlungen vonnöten wären, konnten deutsche Athleten aus Ost und West einander fortan nur auf offiziellen Wettkämpfen im Ausland begegnen, bei denen zwei deutsche Vertretungen zugelassen waren.
Doch schon bald kündigte sich an, dass die Sportführer, die mit ihrer schnellen Mauer-Reaktion `die Politiker auf ihrem eigenen Feld um Längen geschlagen, wenn nicht gar ...überrundet´ hatten (so `Die Zeit´), ihre neue Marschroute gar nicht durchhalten konn-ten. Dass selbst Beschluss-Teilnehmern nicht geheuer war, verriet der Vorsitzende des Deutschen Eissport-Verbandes, Herbert Kunze: `Wir hatten starke Bedenken.´
Zwar vermochte der Dortmunder Eisengießer Daume diese Bedenken über mögliche Nachteile des Mauer-Boykotts für die eigenen Sportscharen zu zerstreuen: `Wir können notfalls auch einmal verzichten. ´Derartige Verzichte waren etwa für internatonale Wett-bewerbe wie die Schwimmer-Europameisterschaft im Gebiet der DDR vorgesehen.“
Und dann schilderte der „Spiegel“ detailliert, wie Daume hinter und neben den Kulissen plötzlich Verhandlungen mit denen akzeptierte, die er in seinem Rundschreiben rüde als für Verhandlungen nicht mehr fähige Partner abgestempelt hatte.
„Spiegel“: „Vergebens spekulierte Willi Daume insgeheim auch auf mehr Unterstützung und Verständnis durch die internationalen Verbände. Er ließ eine Dokumentation veröf-fentlichen, aus der hervorging, dass Ulbrichts Sportfunktionäre den Sport systematisch für politische Ziele eingespannt und überdies den innerdeutschen Sportverkehr auf ein Minimum gemindert hatten.
Zu spät: Optisch hatte der Daume-Bund den innerdeutschen Olympiafrieden gebrochen.
Willi Daume musste erkennen, dass selbst Bonn … ihn nun im Stich ließ. Wohl erklärte ein Sprecher des Gesamtdeutschen Ministeriums: `Der Sport ist unabhängig. Herr Daume und seine Genossen können tun, was sie wollen.´ Doch der Gesamtdeutsche Lemmer, der Daume am 16. August wie etwa auch Willy Brandt und Heinrich von Brentano zum sportlichen Bruch mit der DDR einen Glückwunschtext depeschiert hatte, ließ wissen: `Ich müsste kein gesamtdeutscher Minister sein, wenn ich nicht für ge-samtdeutsche Mannschaften wäre.´
Was Daume falsch gemacht hatte, erläuterte die SPD-Abgeordnete Annemarie Renger: Der Sportverkehr nach drüben sei `in dieser Zeit der Abschnürung besonders wichtig´. Das Auswärtige Amt, so sagte Staatssekretär Lahr, würde `sogar gesamtdeutschen Ausscheidungskämpfen in der Bundesrepublik zustimmen´. So suchen die westdeut-schen Sport-Oberen denn auch längst nach einer Möglichkeit, sich des Düsseldorfer Dekrets ohne Prestigeverlust wieder zu entledigen. Die formale Voraussetzung war of-fenkundig eingeplant, denn laut Boykott-Text will der Daume-Bund den Ost-West-Sport nur unterbinden, `solange ein normaler Verkehr zwischen der SBZ und Berlin sowie der Bundesrepublik nicht möglich ist´. Dieser `normale Verkehr´ muss nach Ansicht von Funktionären nicht unbedingt Einreißen der Mauer bedeuten, sondern könne auch unter den Folgerungen der Annäherung zwischen Amerikanern und Russen im Streit um die deutsche Hauptstadt verstanden werden.
Tatsächlich sickerte durch, das Dilemma der Schwimmer solle zum Anlass dienen, den Düsseldorfer Beschluss aufzuheben. Mithin kämen die Schwimmer doch zu ihren Chan-cen, in Leipzig Europameister zu werden. Wie sehr das protokollarische Hickhack aller-dings die Sportler schon verwirrt hat, erhellte aus der Frage eines westdeutschen Schwimmsport-Funktionärs: `Angenommen, wir fahren nach Leipzig. Was machen wir. wenn Ulbricht uns Pfötchen geben will?´“
Wie man weiß, entkamen die bundesdeutschen Schwimmer dem von Daume veranlass-ten – und von Bonn mit Glückwünschen bedachten – Abbruch nicht und mussten auf ih-re Titel ebenso verzichten, wie zum Beispiel die DDR-Olympioniken 1984 auf ihre Me-daillen. Nur: Die inzwischen mit Millionen Euro finanzierte „Aufarbeitung“ des DDR-Sports und vor allem seine angeblich so politische Rolle ließe sich – wie hier mit Hilfe des „Spiegel“ - nahezu kostenlos widerlegen.
Wer aber ist an dieser Wahrheit interessiert? Hierzulande niemand! Andernorts ist das anders. Unlängst besuchte mich ein Professor der Universität Tokio und bat um Aus-künfte über den DDR-Sport. Bald darauf meldete sich eine US-amerikanische Studentin, die ihre Doktorarbeit diesem Thema gewidmet hat und dann empfing ich den Sport-Dekan der Universität Toronto, der um Auskünfte über den Stil der „Aufarbeitung“ bat.
Mit einem Satz: Die Wahrheit rückt näher und die „Aufarbeiter“ sollten sich schon mal an den Hartz-IV-Schaltern umsehen…
Millionäre gegen Täve
DIE MILLIONÄRE VOTIEREN GEGEN TAVE / von Klaus Huhn
Die „Deutsche Sporthilfe“ – Sitz Frankfurt/Main – sandte Gustav Adolf Schur am 10. Mai, also nur 75 Tage nach seinem 80. Geburtstag, zu dem er Glückwünsche aus 41 Län-dern bekam, einen Brief folgenden Inhalts: „Die Jury der `Hall of Fame des deutschen Sports´ hat in der vergangenen Woche ihre Stimmen für die Aufnahme neuer Mitglieder in die Ruhmeshalle abgegeben. Nach Auswertung der Wahlzettel müssen wir Ihnen lei-der mitteilen, dass Sie in dieser Aufnahmerunde nicht die benötigte Mehrheit von min-destens 50 % der Stimmberechtigten erhalten haben, die eine Aufnahme ermöglichen.“
Diese virtuelle „Halle“ berühmter deutscher Sportler, die hin und wieder im Museum für Geschichte durch Schautafeln präsent wird, rühmt sich, die erfolgreichsten deut-schen Sportler zu vereinen. Als Täve – neunmal Sportler des Jahres der DDR - seine „Absage“ erhielt, häuften sich die Fragen, wer denn diese Wahl getroffen hatte und demzufolge darüber entscheidet, wie man in diese „Halle des Ruhms“ gelangt? Wir bemühten uns, die Jury zu ermitteln, fanden 28 Namen, woraus mühelos zu schließen war, dass mindestens 15 der Juroren gegen Täve votiert haben musste und – Wetten sind bekanntlich durch Gesetze legalisiert – öffneten einen privaten Wettschalter: Wer könnte gegen den zweifachen Straßenweltmeister gestimmt haben?
Wir boten Wetten an, dass der Olympiafechter Dr. Thomas Bach als Mitglied des IOC für den Olympia-Medaillengewinner Schur gestimmt haben dürfte. Gleiches vermuteten wir von Walther Tröger – ebenfalls Mitglied des IOC -, wenn auch bei ihm die Quoten schon niedriger lagen. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Dagmar Freitag hatte zusam-men mit Täve im Sportausschuss des Bundestages gesessen und kam als nächste „Ja“-Votiererin durchaus in Frage. Christian Breuer dürfte zwar als Fußballprofi des 1. FC Köln und in Aachen selten auf einem Rennrad gesessen haben, aber sportliche Solidari-tät durfte man wohl von ihm erwarten. Gleiches galt für den Präsidenten des Deutschen Turnerbundes Rainer Brechtken und vielleicht auch für die Präsidentin des Schwimm-verbandes Christa Thiel. Der einzige Ossi in der Jury, Manfred Merkel, Vorsitzender des Fördervereins des Sächsischen Sportmuseums, lief ohne Wettquote: Er hatte schon 2006 im Museumsblatt zu Täves 75. Geburtstag eine unübertreffliche Laudatio veröf-fentlicht. Vielleicht wäre noch der SAT1-Sportreporter und Präsident des bundesdeut-schen Sportjournalistenverbandes, Erich Laaser, für eine Pro-Täve-Stimme in Frage ge-kommen, aber das war schon fraglich.
Fazit: Mit acht Stimmen hatte Täve nie in die Halle des Ruhms gelangen können. Und die anderen Abstimmer? Da konnten wir unseren Wettschalter schließen, denn die Liste begrub alle Hoffnungen: Dr. Josef Ackermann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, Dr. Michael Frenzel, Aufsichtsratsvorsitzender bei Volkswagen, Hans-Peter Fried-rich, Bundesinnenminister, Jürgen R. Großmann, Vorstandsvorsitzender des Stahlkon-zerns RWE, Heinrich Haasis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverban-des, Lothar Hagebölling, Chef des Bundespräsidialamtes, Herbert Hainer, Vorstands-vorsitzender von adidas, Jürgen Hubbert, bis 2005 Vorstandsmitglied bei DaimlerChrys-ler, Michael Ilgner, vor seiner Berufung in den Sporthilfe-Vorstand Mitglied der Ge-schäftsleitung der Technologieberatung Booz Allen, Werner Klatten, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Constantin Medien AG, Friedrich Lürßen, Geschäftslei-tungsvorsitzender der Lürßen-Werft, Walter Mennekes. Geschäftsführender Gesell-schafter der Mennekes Elektrotechnik, Sylvia von Metzler, Geschäftsführerin der Metz-ler-Stiftung, Rene Obermann, Vorstandsvorsitzender der Telekom, Dieter Stolte, von 2002 bis 2005, Herausgeber der „Welt“ und der „Morgenpost“, Jürgen Weber, Aufsichts-ratsvorsitzender der Lufthansa, Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG.
Zunächst: Auch dieses Gremium offenbart, dass „zusammenwächst“, was „zusam-mengehört“, nach Zahlen im Verhältnis 1:27! Dass dieser Kreis mehrheitlich für Täve stimmen würde, hätte allenfalls eine von niemandem riskierte Sensationsquote von 1: 1000 erlaubt.
So bleibt Gustav Kilian weiterhin der einzige Radrennfahrer in dieser „Halle“. Von Täve unterscheidet ihn allerdings einiges: Er war Mitglied der NSDAP und erhob nach einem Sechstagesieg in den USA die Hand zum Hitlergruss, was ihm eine Audienz bei Göring eintrug. Das lässt die Frage aufkommen, welcher Ruhm in dieser Halle eigentlich gefragt ist und da Ruhmeshallen keine Monopoleinrichtung sind, ob das die einzige zwi-schen Oder und Rhein bleiben muss?
Er ist Vorbild
Veröffentlicht im Berliner Kurier am 12.06.2011
Die anhaltende Popularität von Täve Schur beruht vor allem und zuerst auf seinen un-vergesslichen sportlichen Leistungen bei Weltmeisterschaften, Friedensfahrten und an-deren Wettkämpfen sowie auf seinem stets fairen und bescheidenen Auftreten als glaubwürdige Persönlichkeit. Er ist noch heute Vorbild im Sinne humaner olympischer Ideale und er gehört vor manch Anderen in eine Ruhmeshalle des deutschen Sports.
Wie sicherlich alle Mitglieder unseres Freundeskreises sehe ich in der Wortwahl "krimi-neller DDR-Sport" eine bewusste und zugleich maßlose Beleidigung von Millionen von Sportlern, von Hunderttausenden von Übungsleitern und Trainern und von Tausenden von ehren-und hauptamtlichen Helfern und Funktionären, die mit bewundernswertem Engagement und hoher Sachkenntnis für den Sport aller Alters und Leistungsstufen ge-wirkt haben.
Auf den Leistungssport bezogen:Hier werden seit 1990 die Versuche in Verbindung mit Doping den Leistungssport in der DDR politisch zu kriminalisieren immer wieder fortge-setzt, obwohl Doping in den 70er und 80er Jahren nicht nur in der DDR, sondern auch in der damaligen BRD kein Straftatbestand war, obwohl Verjährungsfristen lange über-schritten waren und obwohl Sportler und Trainer aus dem Sportsystem der DDR nach 1990 noch über viele Jahre internationale Spitzenleistungen-frei vom Verdacht des Do-pings-bei Olympischen Spielen und anderen Wettkampfhöhepunkten erzielten.
Um so mehr ist es meine Meinung, daß man nach so vielen Jahren aufhört, den DDR-Sport immer wieder zu diffamieren und daß man sich energisch den erheblichen Gefah-ren des heutigen Sports zuwendet-dem Kampf gegen Brutalität und Drogen auf den Sportstäten, gegen Doping im Spitzen -und Breitensport, gegen Kampfrichterbeste-chung und Wettkampfmanipulation u.a. mehr.
Zackig notiert (Friedensfahrt)
Wie Springers Welt die Friedensfahrt entdeckte / von Klaus Huhn
Die erste Maiwoche war über ein halbes Jahrhundert lang Termin zum Start der Frie-densfahrt. Dass ausgerechnet die „Welt am Sonntag“ (26. 4.), die dem von Millionen ge-feierten Rennen fast nie auch nur eine Zeile gewidmet hatte, ihr jetzt einen überlangen 947-Worte-Beitrag widmete, könnte als eines der vielen Paradebeispiele für die Wahr-heit der Feststellung: „Sie lügen wie gedruckt“ herhalten. Anlass für das so plötzlich er-wachte Interesse an dem längst begrabenen größten Amateurradrennen, das je in der Welt ausgetragen wurde, war der Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl und die Gelegenheit für die absurde Behauptung, die DDR habe damals hemmungslos ihre Na-tionalmannschaft in das verstrahlte Kiew kommandiert. Wortlaut: „Vor 25 Jahren ent-sandte die DDR ihre Radstars zur Friedensfahrt in die Nähe Tschernobyls. Sie sollten nach dem GAU so tun, als sei der Unfall halb so schlimm.“ Oder: „Es gab einen Befehl vom Deutschen Turn- und Sportbund.“
Ich fungierte damals als einer der Direktoren des Rennens und war als „Vorauskom-mando“ nach Kiew entsandt worden, um herauszufinden, ob das Rennen trotz der Re-aktor-Katastrophe überhaupt stattfinden könnte. Diese Frage hatte logischerweise nie-mand in Berlin beantworten können. Bevor ich aufbrach, war ich noch vom Gesund-heitsminister der DDR eingeladen worden, der mir klare Order gab, wonach ich die Gastgeber als erstes fragen sollte. Vor Ort empfingen mich Generale, die von mit Gei-gerzählern ausgerüsteten Soldaten umringt waren. Man schwor mir, dass alle denkba-ren Risiken akribisch geprüft worden seien. Das Resultat: Es bestünde für niemanden die geringste Gefahr. Diese Auskünfte leitete ich weiter und sie bewogen den DTSB nach Konsultationen mit den beiden anderen Mitveranstaltern Polen und Tschechoslo-wakei die Mannschaften nach Kiew fliegen zu lassen.
Das für mich wohl ausschlaggebende Argument war die in Kiew verbürgte Mitteilung, Gorbatschow habe veranlasst, dass 300 in Moskau akkreditierte Journalisten – vor-
nehmlich aus westlichen Ländern – am Tag des Starts nach Kiew fliegen würden, um vor Ort die Situation wahrnehmen zu können. Tatsächlich säumten dann rund 100.000 Zuschauer die Prolog-Strecke und die angekündigten Gäste aus Moskau hatten auf den Tribünen Platz genommen. Dass ungeachtet dieser Atmosphäre das Misstrauen nie er-lahmte, ist unbestritten. Die „WamS“ zitierte die „junge Welt“ vom 6. Mai 1986. Die Zei-tung habe „zackig“ gemeldet: „ `Auf einer Pressekonferenz konnten die Organisatoren vermelden, dass für den Start alles bestens gerüstet sei.´ Aber erst im vorletzten Absatz erwähnte sie, ohne Gründe zu nennen: `Einige bereits gemeldete Mannschaften haben abgesagt.´ Tatsächlich sind es neun von 19.“ Auch da wurde gedruckt gelogen: Am Start zum Prolog waren zehn Mannschaften und in der Nacht vor dem Start zur 1. Etap-pe erschien noch eine vierköpfige Mannschaft Finnlands, die nachträglich ins Rennen ging. Von den 64 Fahrern gaben acht auf der 2138 Kilometer langen Strecke auf. Ge-samtsieger wurden Olaf Ludwig in der Einzel- und die UdSSR in der Mannschaftswer-tung. Wenn diese 39. Friedensfahrt politisch missbraucht worden ist – sogar der aller-dings nie eine Friedensfahrt begleitende jetzige Leiter des Friedensfahrtmuseums in Kleinmühlingen lieferte der „WamS“ eine derartige Auskunft – wäre dem Blatt zu emp-fehlen, faktenenthaltende Akten zu prüfen – die liegen allerdings nur in Moskau!
Unser täglich Brot...
Unser täglich Brot gib uns heute
von Walter Meier
Ja, aber welches? Weißbrot? Schwarzbrot? Leinsambrot? Zwischen dem kriegserprob-ten Kommißbrot der Soldaten und den Diät- und de-Luxe-Broten für Magenkranke, Snobs und Biofetischisten gibt es allein in Deutschland mehr als dreihundert Sorten. Tendenz steigend.
Als ich vier Jahre alt war (also vor achtzig Jahren!), gehörte das Brotholen zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. „Lauf mal schnell zum Bäcker und hole ein Brot", sagte meine Mutter und drückte mir das abgezählte und in einen Zeitungsschnipsel gewickelte Geld in die Hand. „Verlier's nicht!" Ich holte gern Brot. Es duftete köstlich nach nichts ande-rem als nach Brot, es hauchte mir Restwärme des Backofens in die Nase, und flüsterte mir bei jedem Schritt 'Beiß mich, beiß mich' ins Ohr. Ich liebte das Brot, und ich liebte meine Mutter, auch wenn sie manchmal mit mir schimpfte, weil ich zu lange getrödelt hatte, aber niemals verlor sie auch nur ein einziges Sterbenswörtchen darüber, daß bei-de Enden des Brotes angeknabbert waren. Meine Mutter ist schon lange tot, meine Lie-be zum Brot ist geblieben. Ich hasse jeden, der Brot mißhandelt oder gar mißbraucht. Wie leicht hatten es damals, als ich noch Kind war, die Pfarrer mit ihrem Vaterunser. Es gab EINEN Gott, und es gab DAS Brot, das 'tägliche'. Wie schwer hätte es dagegen Je-sus, wollte er heute mit seinem Dreipfundbrot fünftausend hungrige Mäuler stopfen! Und für welche Brotsorte sollte er sich entscheiden? Erschwerend käme hinzu, daß sein himmlischer Vater 800 Millionen seiner irdischen Geschöpfe das 'tägliche Brot' gänzlich vorenthält. Gelassen schaut er zu, wie die einen sich das angemästete Fett absaugen lassen, während andere verhungern. Um jene 800 Millionen Hungernde satt zu machen,
bräuchte Jesus 160000 seiner Zauberbrote. Aber vielleicht ist dieser weltweite Hunger gar nicht gottgewollt, sondern menschengemacht?
Der moderne Prometheus probt schon mal das Leben in der Schwerelosigkeit; er hißt seine 'lck-bin-all-hier'-Standarte unter dem Polareis und auf dem Mond; er ist unterwegs zu anderen Planeten, um nachzusehen, ob es sich dort leben und gut verdienen läßt. Wittert er kommerzielle Morgenluft, wird er sich eiligst seinen Claim abstecken: PRIVATBESITZ! ZUTRITT VERBOTEN!
Stößt er dabei auf menschenähnliche Wesen, wird er sie missionieren und mit den Viren unserer hausgemachten Religionen infizieren. Vielleicht wird er sie auch ungetauft tot-schlagen. Die Methode, wie man Ureinwohner und sonstige unerwünschte Kreaturen ausrotten kann, hat sich, wie das Schicksal der Indianer und Aborigines beweist, be-währt. Und dennoch wuchs die Erdbevölkerung rapide, und sie wird weiter wachsen, trotz Pille, Holocaust und Aids und Krieg. Die Erde aber wächst nicht mit. Im Gegenteil. Von den Urwäldern, die einst gemeinsam mit den Ozeanen den Erdball bedeckten, ist nur ein kläglicher Rest an Regenwäldern übrig geblieben. In den zehn Jahren zwischen 1995 und 2005 schrumpfte die 'Lunge unserer Erde', der südamerikanische Regenwald, um eine Fläche, die dreimal so groß ist wie die Bundesrepublik! Unvorstellbar? Versu-chen Sie es trotzdem! Wie groß ein Fußballfeld ist, weiß heutzutage jedes Kind. Sechs solcher Fußballfelder entsprechen einer Fläche, die dem Regenwald entrissen wird. PRO MINUTE!!! Zuerst mußten die Ehrfurcht einflößenden über hundert Meter hohen und tausend Jahre alten Mammut- und Mahagonibäume dran glauben. Sie zieren heute, zersägt, geschält und in hauchdünne Scheiben geschnitten, als Schreibtisch, Bücher-schrank oder Täfelung die Millionärsvillen und Luxus-Yachten. Das Bauholz rissen sich das Baugewerbe und die Holzindustrie unter den Nagel, und was die Latifundienbesitzer verschmähten, das wertlose Unterholz, Lianen und Buschwerk, machten die 'Hungerlei-der', die landarmen und landlosen Bauern urbar für Weizen, Mais und Sojabohnen; für ihr 'täglich Brot'.
Doch warum in die Ferne schweifen? Solange wir in Deutschland täglich 90 Hektar Erd-boden zubetonieren, haben wir kein Recht, mit Steinen zu werfen. 90 Hektar! PRO TAG! Autobahnen, Flugplätze, Fabriken, Baumärkte, Einkaufscenter mit ihren oft überdimen-sionierten Parkplätzen und nicht zuletzt auch die den Volkssport verhöhnenden Golf-plätze, lassen unsere Bodenfläche jährlich um 32000 Hektar schrumpfen. Selbst wenn davon nur 20000 Hektar für den Anbau von Brotgetreide geeignet sein sollten, ergäbe das eine Einbuße von 1,56 Millionen Dezitonnen Weizen.') (1 dt = 1 Doppelzentner = 100 Kilogramm)
Aus einer Dezitonne Getreide gewinnt der Müller, je nach Ausmahlungsgrad 60 bis 90 Kilogramm Mehl. Bei einem Ausmahlungsgrad von 80% wären das 124,8 Millionen Kilo-gramm.
Der Bäcker benötigt für ein „Dreipfundbrot" 900 Gramm Mehl. Da es mir auf ein paar Gramm nicht ankommt und es sich auch einfacher rechnet, erhöhen wir auf glatte tau-send Gramm.
Fazit: Aus dem Getreide, das uns wegen der zubetonierten 20000 Hektar verloren geht, hätten die Bäcker 124,8 Millionen Brote backen können. Und deshalb klage ich alle die-jenigen an, die altgewordenes Brot und übrig gebliebene Brötchen verheizen. Ich forde-re alle diejenigen vor die Schranken eines internationalen Gerichts, die dafür verantwort-lich sind, daß Brotgetreide und sonstige Grundnahrungsmittel (z. B. Rapsöl) zu Treib-stoff verarbeitet werden. Solange auf unserer Erde auch nur ein einziges Kind an den Folgen der Unterernährung stirbt, ist die Umwandlung von Nahrungsmitteln in Benzin für die Christen eine Sünde und für die anderen ein Verbrechen! Warum so gnadenlos streng? Weil während der Zeit, die Sie brauchten, um bis zu dieser Stelle zu lesen, 84 Kinder verhungert 2) sind.
Als Nachtrag:
„Oh, Freunde, nicht diese Töne, sondern lasset uns angenehmere anstimmen und freu-denvollere ..."
Zum Beispiel den Bericht in einer der in Halle/Saale wöchentlich erscheinenden Werbe-zeitung des Jahres 2009 (ich hebe so etwas manchmal auf): Von den 400 geladenen Gästen eines Balles wurden verzehrt:
500 Austern,
30 Kilo Rindshüftensteaks,
30 Kilo Käse (Schweiz, Frankreich, BRD),
200 Stück geräucherter Heilbutt,
5 Kilo Algensalat,
60 Kilo frisches Obst sowie
eine ungenannte Zahl an 'Leckerlis'.
BROT WURDE NICHT ERWÄHNT.
Zur Erinnerung:
Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hin-ein, ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein: DENN ALLE SCHULD RÄCHT SICH AUF ERDEN."
(Goethe)
„HOFFENTLICH TRIFFT ES DIE RICHTIGEN!"
(Meier)
Fußnoten:
1) Laut statistischem Jahrbuch wurden 2010 geerntet: 78 dt Weizen und 98 dt Mais.
2) Laut UNO-Bericht verhungert weltweit alle 5 Sekunden ein Kind.
*) Der Autor gehörte in den fünfziger Jahren zu den erfolgreichsten Zehnkämpfern der DDR, wurde Achter bei den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne und gewann die Bronzemedaille bei den Europameisterschaften in Stockholm 1958.
Diem, die Vergangenheit und die Gegenwart
Früher waren die Fronten zum Thema Carl Diem klar: In der BRD ehrte und lehrte man Carl Diem, in der DDR hatte man nachgewiesen, dass er eng an der Seite der Faschis-ten gestanden hatte und ihn dementsprechend bewertet. Heute wird deutschlandweit immer mal wieder die Frage aufgeworfen: War er nicht doch ein “Guter”?
Der jüngste Fall ist schwerwiegend. Die oberste deutsche Sportbehörde DOSB hatte es für nötig befunden, einmal mehr eine Diem-Biografie in Auftrag zu geben. Einer der Au-toren, Prof. Dr. Frank Becker charakterisierte Diem „nationalistisch, militaristisch und rassistisch". Dieses Urteil hatte er auf die Zeit bis 1945 beschränkt, da sich Diem als Rektor der Kölner Sporthochschule danach “angepasst” hatte. Doch selbst dieses Vor-1945-Urteil mochte man nicht akzeptieren. Die “Westfälische Rundschau” (8.8.2010) vermeldete: Die “Einschätzung war von der Projektleitung des Forschungsprojekts `Le-ben und Werk Carl Diems´, in dessen Auftrag Becker die Biografie verfasst hatte, um-gehend zurückgewiesen und die Arbeit als wissenschaftlich mangelhaft abqualifiziert worden. Diem sei `weder Nationalist noch Rassist, Chauvinist, Antisemit oder Militarist´.
In der jüngten “Zeitschrift für Geschichtswissenschaft” wurde der Streit forgesetzt. Die “taz” (31.3.2011) dazu: “Das Heft fasst die Debatte um den Organisator der Olym-pischen Spiele 1936 und späteren Mitgründer der deutschen Sporthochschule in Köln noch einmal zusammen. Und schon im Vorwort fühlt sich Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin und einer der Herausgeber der Zeitschrift, bemüßigt zu erklären, was eigentlich ein Antisemit ist. Der Historiker macht das für seine Kollegen aus der Sportwissenschaft. Die versuchen immer noch, den längst beschädigten Sockel zu reparieren, auf dem der von ihnen als `Begründer der deutschen Sportwissenschaft´ verehrte Diem steht. Einer der von Benz zurechtge-wiesenen Sportwissenschaftler verteidigt sein Urteil über Diem. Michael Krüger, der Lei-ter eines vom Deutschen Olympischen Sportbund mitfinanzierten Forschungsprojekts zu `Leben und Werk Carl Diems´ steht zu seinem Urteil: Diem sei kein Antisemit gewesen.”
DOSB versuchte, einen Notausgang zu finden, wohl auch weil Krüger ihn heftig kritisiert hatte. Im “Deutschland-Radio” (18.12.2010) hatte Erik Eggers die Lage so beschrieben: “Anlässlich der Debatte um den Sportfunktionär Carl Diem kritisiert der Sportwissen-schaftler Michael Krüger den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) scharf. Der Dachverband kümmere sich seit der Fusion 2006 nicht mehr um die eigene Geschichte und sei `kulturell ahnungslos´.
Zuletzt hat der Deutsche Olympische Sportbund DOSB einige historische Projekte initi-iert. So stieß der Dachverband des deutschen Sports ein großes, noch laufendes Pro-jekt zur Geschichte des Dopings in der Bundesrepublik an. Auch zählte er zu den Finan-ziers des biografischen Werks über den Sportfunktionär Carl Diem, das vergangenes Wochenende in Köln mit der Tagung `Erinnerungskultur im deutschen Sport´ offiziell be-endet wurde. Und doch hat der Sportwissenschaftler Michael Krüger die DOSB-Funktionäre zu diesem Anlass in einer Art Generalabrechnung der Geschichtsver-gessenheit geziehen.
In seinem Vortrag zum Gedächtnis des deutschen Sports warf Krüger den Frankfurter Funktionären nicht weniger als `kulturelle Ahnungslosigkeit und Desorientierung vor´. Der deutsche Sport habe seit 2006, als das Nationale Olympische Komitee für Deutsch-land und der Deutsche Sportbund zum DOSB fusionierten, die ethische und historische Bodenhaftung verloren, glaubt Krüger. Der Führungsspitze des deutschen Sports fehle es bei der Beurteilung der eigenen Geschichte an Maßstäben: `Es geht dem DOSB nur um gute Presse, Show und Unterhaltung´, sagte Krüger.
Als Beispiel nannte der Professor aus Münster den Umgang mit Carl Diem. Hier habe sich der DOSB über bestehende Präsidiumsbeschlüsse hinweggesetzt, als er den Carl-Diem-Preis in Wissenschaftspreis umbenannte, beklagte Krüger. Dies habe vermutlich DOSB-Generaldirektor Michael Vesper veranlasst, da Vesper schon vor seiner DOSB-Funktion als Grünen-Politiker für Umbenennungen votiert habe.
Auch kritisierte Krüger scharf die Zusammensetzung der von der Deutschen Sporthilfe gegründeten `Hall of Fame´, die Persönlichkeiten ehren will, die `durch Leistung, Fair-play und Miteinander Vorbilder geworden sind´. Weshalb werde in dieser Hall of Fame der SporthilfeGründer Josef Neckermann geehrt, der in der NS-Zeit schließlich durch "Arisierungen" profitiert habe, und nicht Carl Diem, fragte Krüger. Das sind in der Tat dif-fizile Fragen, die sich angesichts der komplizierten deutschen Sportgeschichte stellen. Krüger beklagte, dass die Antworten darauf derzeit vorwiegend von Sportjournalisten und Funktionäre gegeben werden, der Rat der Sportgeschichte indes nicht gefragt sei.”
Um es auf den knappsten Nenner zu bringen: Krüger und seine Gesinnungsgenossen möchten Diem ein Denkmal errichten. Unsere Zeitschrift hatte sich 2002, als wieder einmal die Diem-Diskussion aufgekommen war, entschlossen, auf jeden Kommentar zu verzichten und nur Diems Artikel “Sturmlauf durch Frankreich” – erschienen im Reichs-sportblatt” von 25.6. 1940 – abgedruckt. Heute begnügen wir uns mit den ersten drei Sätzen: “ Sturmlauf durch Frankreich, wie schlägt uns alten Soldaten, die wir nicht mehr dabei sein können, das Herz, wie haben wir mit atemloser Spannung und steigender Bewunderung diesen Sturmlauf, diesen Siegeslauf verfolgt! Die fröhliche Begeisterung, die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettkampf empfanden, ist in der Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen, und in Ehrfurcht, und mit einem inneren Herzbeben, in das etwas von jener fröhlichen Be-geisterung hineinklingt, stehen wir staunend vor den Taten des Heeres. In ihnen zeigt sich, was der Deutsche kann, in ihnen wächst das Deutsche von heute über alles Frühe-re und über sich selbst hinaus.“
Ist solche Stimmung heute etwa schon wieder gefragt, auch wenn es sich nicht um Frankreich handelt..?
Klaus Huhn
Attacke aus Austria (Veröffentlicht. Focus)
Österreichs bekanntester Doping-Dealer Stefan Matschiner packt aus.
Sein Vorwurf:
Ein deutscher Politiker wusste alles!
Es war ein deutscher Triumphzug auf Sydneys Straßen. Jan Ullrich radelte im Septem-ber 2000 allen davon und holte Olympia-Gold, Andreas Klöden Bronze. Waren beide sauber oder - wie Szenekenner argwöhnen - mit verbotenen Substanzen unterwegs? Im Skandal um die Freiburger Sportärzte Andreas Schmid und Lothar Heinrich, die T Mobi-le-Team-Profis gedopt haben, sei lange nicht alles aufgearbeitet, behauptet der frühere österreichische Sportmanager Stefan Matschiner in seinem Buch „Grenzwertig", das er am Montag in Wien vorstellt und einige Tage später in Deutschland veröffentlicht. Der bekannteste Doping-Dealer der Alpenrepublik seziert auf 250 Seiten die Blutpanscher-branche. Ein deutscher„ Promi-Politiker", heißt es auf Seite 217, „soll doch tatsächlich seine diplomatische Immunität genutzt haben, um Dopingmittel zu den Olympischen Spielen zu schaffen".
Matschiner meint die Spiele von Australien - und er kennt sich aus: Der Ex-Mittelstreckenläufer hat Sportler aus 13 Nationen mit Tempomachern versorgt und das Wiener Blutdopinginstitut Humanplasma aufgebaut. Der heute 35-Jährige pumpte den Austria-Radprofi Bernhard Kohl so dermaßen mit dem Epo-Mittel Cera voll, dass der die Bergwertung der Tour de France 2008 gewann. Im Oktober vergangenen Jahres wurde Matschiner wegen Verstößen gegen das Anti-DopingGesetz Österreichs zu 15 Monaten Haft verurteilt, 14 davon auf Bewährung Welche deutschen Helfer gaben sich her für das dreckige Geschäft? „Seit den Olympischen Spielen 1988 in Seoul gibt es immer wieder deutsche Dopingfälle, an denen sowohl Funktionäre als auch Arzte beteiligt wa-ren", sagt Werner Franke, Professor für Zell- und Molekularbiologie am Deutschen Krebsforschungszentrum der Uni Heidelberg, zu FOCUS.
FOCUS; 17.1.2011, Frank Lehmkuhl
Eiszeit oder eisige Zeit?
CLAUDIA PECHSTEIN:
Nach ihrem WM-Erfolg gehört Claudia Pechstein wieder fest zum Kader der National-mannschaft - doch ob sie trainieren kann wie früher, ist ungewiss.
Stephanie Beckert verbreitete ein Gefühl von großer Harmonie. Da stand sie lächelnd, hatte noch den Jubel der Fans im Ohr und sagte: „Das Team hat gut gearbeitet, es hat mich gut in Schwung gebracht." Zum Team gehörte neben Isabell Ost auch Claudia Pechstein, gemeinsam hatten sie gerade Bronze im Teamwettbewerb gewonnen, ein netter Abschluss der EisschnelllaufWeltmeisterschaften in Inzell. Für ein paar Sekunden schien der Streit zwischen Stephanie Beckert und Claudia Pechstein zur Randerschei-nung zu verblassen. Beckert sorgte schnell dafür, dass es bei diesen paar Sekunden blieb.
Zwanzig Meter von den Kabinen entfernt, sagte sie kurz darauf schmallippig: „Team-wettbewerb war Teamwettbewerb, aber jetzt ist alles wieder vorbei.” Die Rückkehr in die frostige Atmosphäre hat wieder begonnen, heißt das. Sie kennt diese Stelle in Pech-steins Biografie eben gut; die Seite 285, auf der Pechstein über sie notiert hat: „Meine Faust möchte unbedingt in ihr Gesicht."
Das komplizierte Verhältnis wird den Verband noch eine Weile beschäftigen. Denn Pechstein gehört wieder fest zur Nationalmannschaft. Nur sind jetzt ein paar Fragen zu klären: Kann Pechstein nach ihrer Dopingsperre wieder wie ein Vollprofi trainieren? O-der muss sie Schreibtischdienst als Bundespolizistin schieben? Wenn ja, legt sie dann umgehend wieder eine Krankmeldung wegen psychischer Probleme vor? Und wer trai-niert sie überhaupt in Zukunft?
Pechstein sitzt in einer Holzhütte neben der Halle und sagt: „Im Moment habe ich keinen Plan." Das ist doch erst mal Sache ihres Managers. Ralf Grengel sitzt auch am
Tisch und sagt: „Die Arbeit hinter den Kulissen ist noch nicht beendet."
Sie fängt erst richtig an. Ab sofort hat die 39-Jährige normalen, mehrtägigen Erholungs-urlaub. Aber danach müsste die Polizei-Hauptmeisterin Pechstein am Schreibtisch sit-zen, so ist der aktuelle Stand. Denn aus der Sportfördergruppe der Bundespolizei hat Thomas de Maiziere sie ausgeschlossen, mangels sportlicher Perspektiven. Da war de Maiziere noch Innenminister, ob sein Nachfolger Hans-Peter Friedrich den Rauswurf rückgängig macht, ist unklar.
Und außerdem gibt es ja noch einen Paragrafen, der festlegt, dass Topsportlern mit Be-amtenstatus Sonderurlaub zu gewähren ist, wenn der Sportler sich für internationale Höhepunkte qualifiziert hat. Ausnahme: schwerwiegende Gründe. Wird Pechstein also normale Polizistin mit freien Wochen vor Top- Wettkämpfen? (...)
Der Tagesspiegel; 14.3.2011, Frank Bachner
Plagiatsaffäre in der Freiburger Sportmedizin
Wissenschaftliche Arbeiten in großen Teilen identisch
Die Freiburger Sportmedizin rückt nach dem Doping-Skandal nun wegen einer Plagiats-Affäre in den Mittelpunkt. Das hat der Vergleich zweier wissenschaftlicher Arbeiten erge-ben, die in der Abteilung für Sportmedizin der Albert-Ludwigs-Universität geschrieben worden sind. Demnach sind rund 40 Seiten beider Arbeiten nahezu inhaltlich identisch. Ein Vergleich der 1983 in Freiburg vorgelegten Untersuchungen durch diese Zeitung ergab eine wortwörtliche Übereinstimmung großer Passagen. Auch verschiedene Tabel-len, Abbildungen und Berechnungen gleichen sich in Form und Inhalt. Diese Zeitung ist in Besitz von Kopien der etwa 60 und 140 Seiten starken Dokumente, die wir am Diens-tag dieser Woche in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt eingesehen haben. Auch die in einer Arbeit angegebene Zahl der Probanden sowie ihre Daten tauchen in der anderen auf. Für die Anfertigungen erhielten die Autoren akademische Auszeich-nungen: eine Promotion und eine Habilitation.
(...) Die Namen der betroffenen Wissenschaftler wollte der Sprecher nicht nennen. Sie sind von der Universität zu einer schriftlichen Stellungnahme aufgefordert worden.
Nach Recherchen dieser Zeitung ist der Leiter der Abteilung Sportmedizin des Universi-tätsklinikums, Professor Dr. Hans-Hermann Dickhuth, Autor der nun in Frage gestellten Habilitation. (...) Dickhuth wurde nach dem Tod von Professor Joseph Keul (im Juli 2000) neuer Leiter der Abteilung Sportmedizin. Vor fünf Jahren stand die Einrichtung im Mittelpunkt des Doping-Skandals unter anderem um die Radprofis des Teams Telekom sowie Mitglieder der Juniorenauswahl des Bundes Deutscher Radfahrer. Nach Ge-ständnissen einiger Athleten mussten die Ärzte Lothar Heinrich, Andreas Schmid und Georg Huber die Einrichtung verlassen. Damit endete die Ära Freiburg als Zentrale der deutschen Sportmedizin. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Institut in West-deutschland großes Renommee erworben und dabei nach außen hin den Eindruck er-weckt, gegen jegliche Form von Manipulation zu sein. Keul gerierte sich als Anti-Doping-Kämpfer. Aussagen ehemaliger Sportler und Trainer in der jüngeren Vergangenheit deu-ten darauf hin, dass Arzte des Institutes nicht nur Mitgliedern des Teams Telekoms beim Dopen halfen. Die» uth, so das Ergebnis einer eigens eingerichteten Kommission zur Aufarbeitung dieser Vergangenheit, wurde von jeglicdaetzt. Verdacht, in das Doping-Netzwerk mancher Kollegen verflochten zu sein, freigesprochen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung; 3.3.2011
„MAN WIRD SEHEN!“
Unvergleichlich: Julius Feicht schwimmt mit 90 Jahren Europarekord
1949 war er 28 Jahre alt und gehörte zu der Ostzonen-Wasserball-Auswahl, die wäh-rend der Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Budapest gegen Ungarn antrat – und 1:31 verlor. 1951 verhandelte er in Helsinki als Generalsekretär der Sektion Schwimmen der DDR über die Aufnahme der DDR-Schwimmer in den Internationalen Schwimmverband und erreichte, dass die 1952 erfolgte. Im März 2011 verbesserte er in Gera den Europarekord über 200 m Freistil in der Klasse der 90jährigen von 4:43,81 min. auf 4:37,85 min und demnächst will er die Europarekorde über 100 m, 400 m und 800 m ins Visier nehmen. Wetten, dass ihm das nicht gelingen wird, hätten wenig Chan-cen.
Die Rede ist von Julius Feicht, den seine Freunde nur als „Jule“ kennen und der als „Ur-gestein“ des DDR-Schwimmsports gilt. In seiner zweibändigen Biografie – „Ich erinnere mich gut…“ – stapeln sich die Episoden seiner unvergleichlichen Laufbahn. Als 1949 im Magdeburger Ratskeller anläßlich eines Schwimmfestes gefeiert wurde, verkündete er zu vorgerückter Stunde, dass er – zu dieser Zeit schon Funktionär der noch jungen und von vielen mit Skepsis betrachteten Sportbewegung – am nächsten Morgen außer Kon-kurrenz auf der Außenbahn am 200-m-Freistilrennen teilnehmen werde. Der „Schwimm-sport“ schrieb darüber: „Bis zur letzten Wende führte der Favorit Piskol vor Gerhardt, Müller und Zentgraf, doch dann ging der Spartenleiter des Deutschen Sportausschusses Jule Feicht aus sich heraus und schlug als Sieger an. Als durch den Lautsprecher ver-kündet wurde, dass er eine neue Bestzeit der Demokratischen Sportbewegung aufge-stellt hatte, waren nicht nur sämtliche Schwimmer und Zuschauer begeistert, sondern auch Jule Feicht, der sich freute, dass es ihm gelungen war, zu beweisen, dass Funkti-onäre und aktive Schwimmer zusammengehören, und dass die Funktionäre mit den Ak-tiven aufs Engste verbunden sein sollen.“ Dieser Haltung blieb Feicht sein Leben lang treu. Er wechselte in die Funktion des DDR-Schwimm-Cheftrainers, betreute die Mann-schaft bei den ersten Europameisterschaften 1954 in Turin, war Mitglied einer Delegati-on, die eine Studienreise durch die Sowjetunion unternahm und dort viele aufschlussrei-che Gespräche mit den sowjetischen Trainern führte, betreute 1956 die DDR-Schwimmer bei ihren ersten Olympischen Spielen in Melbourne. 1966 zerstritt er sich mit der DDR-Sportführung, kündigte als Cheftrainer und begann seine „zweite Laufbahn“ als Trainer an einer Kinder- und Jugendsportschule, kümmerte sich danach um das Schulschwimmen, ging in Rente, überstand eine Thrombose und kehrte 2001 in die Schwimmarena zurück: Bei den Senioren-Europameisterschaften auf Mallorca errang er drei Titel in der Kategorie der 80-Jährigen. Nun schwamm er in Gera seinen ersten Eu-roparekord in der „nächsthöheren“ Klasse – und hat sich vorgenommen, noch einmal bei den Masters-Europameisterschaften zu starten. Jule ist kein Freund großer Worte und als ich ihn fragte, welche Chancen er sich ausrechnet, meinte er: „Man wird sehen!“ Aber in seinen Augen leuchtete Optimismus.
Klaus Huhn, Junge Welt; 23.3.2011
Dr. Klaus Huhn ausgezeichnet
"Auch dem Papst half ich mal aus der Klemme" hieß eine Buchlesung in der Ladengale-rie der Tageszeitung "junge Welt" in Berlin. Zwei Stunden musste Autor Klaus Huhn Fragen der Zuhörer beantworten.
Im Anschluss an die Buchlesung wurde Klaus Huhn vom Präsidenten des Vereins Sport und Gesellschaft, Hasso Hettrich, mit der "Werner Seelenbinder -Ehrenmedaille ausge-zeichnet. In einer Laudatio würdigte Hettrich die außergewöhnlichen journalistischen Leistungen von Klaus Huhn. Er bezeichnetet ihn als einen der besten Sportjournalisten nach 1945 in Deutschland." Das zu hören, wird manchem nicht gefallen aber das ist die Tatsache" sagte Hettrich.
Klaus Huhn ist Ehrenmitglied der Europäischen Sportjournalisten, Träger des Ehren-preises des IOC für Sportjournalismus berichtete von 17 olympischen Spielen und ge-staltete 39 Jahrelang die Internationale Friedensfahrt mit. Er ist Träger vieler weiterer nationaler und internationaler Ehrungen.
Diese Auszeichnung wurde mit viel Beifall aufgenommen.
Ehrentafel Verein Sport-Gesellschaft
Werner- Seelenbinder-Ehrenmedaille
Für die Wahrung der besten Traditionen des deutschen Sports werden durch den Verein Sport und Gesellschaft hervorragende Sportler, Funktionäre und Wissenschaftler, Funk-tionäre und Wissenschaftler mit der Werner-Seelenbinder-Ehrenmedaille ausgezeichnet:
Ehrentafel
2011 wurden geehrt:
Gustav-Adolf Schur
Populärster Sportler der DDR, Mehrfacher Straßenweltmeister im Straßenradsport
Dr.Klaus Huhn
Erfolgreicher Sportjournalist, Ehrenmitglied der Europäischen Journalistenvereinigung
Karl Tschakert
Ehemaliger Trainer beim TSC Berlin
Jule Feicht
Schwimmer beim TSC Berlin, Europarekordhalter in Altersschwimmen (9o.Jahre).
Nachruf
Prof. Dr. phil. Günther Wonneberger 24. Juli 1926 – 9. August 2011
Am 9. August 2011 verstarb nach längerer Krankheit kurz nach seinem 85. Geburtstag der verdiente Wissenschaftler und Hochschullehrer, unser Freund und Wegbegleiter Prof. Dr. phil. Günther Wonneberger. Die Sportwissenschaft hat mit ihm einen der profi-liertesten und international hoch geachteten Sporthistoriker verloren.
Günther Wonneberger war sehr zeitig eng mit dem Sport verbunden. Seine besondere Liebe galt der Leichtathletik wo er in seiner Spezialdisziplin, dem 400m Hürdenlauf in seiner Jugend zu den leistungsstärksten Sportlern gehörte. Auch später gehörte er in seiner Basketball- Mannschaft zu den Leistungsträgern In späteren Jahren hatte er sich der Hochgebirgstouristik verschrieben, was er mit ausgedehnten Kaukasustouren aus-lebte. So war es folgerichtig, dass es ihn nach seinem Geschichtsstudium an der Uni-
versität Leipzig zur neu gegründeten Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) zog.
In den Anfangsjahren der DHfK gehörte er dem legendären Aspirantenkollektiv an, das sich der Geschichte der Körperkultur verschrieben hatte, aber durch seine Aktivitäten auch erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der jungen Hochschule nehmen konnte. So entstand in diesem Kreis mit dem „Kurzen Abriss“ ein in der DDR erster ernsthafter Versuch, die Geschichte der Körperkultur auf marxistischer Grundlage zu beschreiben. Dieses Werk hat dazu beigetragen, Generationen von Sportstudenten die Geschichte ih-res Fachs nahe zu bringen.
1956 promovierte Günther Wonneberger an der philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität. Im Jahr darauf wurde er mit dem Aufbau der Forschungsgruppe Zeitge-schichte an der neu gegründeten Forschungsstelle der DHfK beauftragt. Von diesem Zeitpunkt an war mir als jungem Absolventen der Karl-Marx-Universität im Fach Ge-schichte Günther Wonneberger ein fordernder, fördernder und stets verständnisvoller und hilfsbereiter Lehrer und Freund. In meiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn war er auch später immer ein freundschaftlicher Berater. So wie ich hatten viele Nach-wuchswissenschaftler das Glück von ihm als Doktorvater betreut zu werden und von ihm die Liebe zur Wissenschaft lernen zu können. Er war uns Vorbild und Ansporn zu ehrli-cher und zielstrebiger wissenschaftlicher Arbeit.
1967 wurde Günther Wonneberger zum ordentlichen Professor für Geschichte und Zeit-geschichte der Körperkultur berufen und im gleichen Jahre wurde er zum Rektor der DHfK gewählt. Dieses hohe Amt bekleidete er bis 1972. Gleichzeitig war er über viele Jahre Vorsitzender der Fachkommission Geschichte im Wissenschaftlichen Rat beim Staatssekretariat für Körperkultur und Sport der DDR. In dieser Funktion war er maß-geblich daran beteiligt, dass die Sportgeschichtsschreibung der DDR sich bedeutende internationale Achtung und Anerkennung erarbeitete.
Als 1967 in Prag das Internationale Komitee für Sportgeschichte (ICOSH) beim Weltrat für Sport und Körpererziehung (CIEPS) der UNESCO gegründet wurde war Günther Wonneberger eines der Gründungsmitglieder. Von 1971 bis 1982 war er dessen Präsi-dent und damit auch Mitglied der Exekutive des CIEPS. In dieser Zeit fanden unter sei-ner Verantwortung mehrere hochrangige internationale Kongresse zu ausgewählten Themen der Sportgeschichte statt. Damit erwarb er sich hohe Achtung der Sporthistori-ker vieler Länder und den Ruf eines der profiliertesten Sporthistoriker weltweit. Das war ausschlaggebend dafür, dass er 1989 noch einmal für zwei Jahre zum Vizepräsidenten der Internationalen Gesellschaft für Geschichte des Sports und der Körpererziehung (ISHPES) gewählt wurde.
Prof. Dr. Günther Wonneberger hat ein erfülltes Wissenschaftlerleben geführt. Er war uns ein lieber Freund. Wir werden ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.
Gerhard Oehmigen

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+33 BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE
Heft 33 – Frühjahr 2012
INHALT:
SIND WIR ALLE DEUTSCHE?
Klaus Huhn Seite 02
DIE ERSTE „SOMMER“-MEDAILLE
Über Christa Stubnick Seite 13
VON GOLDMEDAILLEN UND ANDEREN „ÄRGERNISSEN“
Rupert Kaiser Seite 21
ZITATE
Claudia jubelt und telefoniert mit Anwälten Seite 26
Täve Schur "Geldverdienen, Essen, Fernsehen, Reisen" Seite 27
DDR-Legende Gustav-Adolf Schur Genannt „Täve“ Seite 28
Ich will nur eines: Medaillen Seite 31
Aufregung um eine Ausstellung Seite 34
Coubertin würde sich im Grabe wenden Seite 40
REZENSIONEN
EINE BILDUNGSSTÄTTE MIT WELTRUF MUSS GEHEN
Fred Gras Seite 41
10 JAHRE www. sport-ddr-roeder.de
Horst Röder Seite 47
2
SIND WIR ALLE DEUTSCHE?
Von KLAUS HUHN
Unlängst wurden die deutschen Sporthistoriker wieder einmal aufgefor-dert, den politischen Einfluss der DDR-Regierung auf den DDR-Sport massi-ver als bisher „aufzuarbeiten“. Der Autor – Ehrenmitglied der Europäischen Sportjournalisten-Union und ausgezeichnet 1988 mit dem Journalistenpreis des IOC - fühlte sich dadurch ermuntert, dieser Aufforderung Rechnung zu tragen - allerdings im Hinblick auf seine Erfahrungen mit den Bemühungen der Alt-Bundesregierung auf die deutsch-deutsche Sportbeziehungen bis 1990. Er stützt sich dabei auf drei Episoden, deren Zeuge er war, auf den 1965 verschlüsselt an die meisten BRD-Botschaften aus Bonn übermittelten „Auftrag“, nach den Regeln unabhängigen IOC-Mitglieder aufzufordern, ge-gen eine selbständige Mannschaft der DDR und auf Auszüge einer der Rede des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke vor Sport-journalisten am 15. Oktober 1970 in Barsinghausen, auf der er die durch die Entscheidung des IOC entstandene Situation darlegt. Während die Episoden die oft skurrilen Auswirkungen der bundesdeutsche Versuche, die DDR zu diskriminieren erkennen lassen, offenbart die Order an die Botschaften und die Rede - zwei Jahre vor den Olympischen Spielen in München – mit wel-cher Massivität sich die BRD-Regierung in den internationalen Sport einge-mischt hatte. Die Rede stammt (Kennzeichen IV3/84/10) aus dem Archivs des Auswärtigen Amtes der BRD, wurde dem Autor dort nach Ablauf der bundesdeutschen 30-Jahre-Sperrfrist ausgehändigt und wird hier zum ersten Mal veröffentlicht. Gleiches gilt für die Order an die BRD-Botschaften.
Episode 1:
Am Abend des 1. Juli 1959 endete der Leichtathletikländerkampf England-DDR mit einem festlichen Bankett. Nach den offiziellen Reden, die bei solchen Gele-genheiten gehalten werden, erhob sich der 400-m-Europameister John Wrighton und hielt folgende Rede: „Ich möchte eine Entschuldigung dafür aussprechen, dass die Nationalhymne der Gäste nicht gespielt werden durfte. Die Entschuldi-gung trage ich im Namen meiner Mannschaftsmitglieder vor. Wir sind sicher, dass das in Zukunft nie wieder vorkommt!“
Als der Länderkampf 1970 stattfand, wurde im White-City-Stadion die Hymne der DDR gespielt.
1959 hatte ich mich in London umfassend informiert, wie es dazu gekommen war, dass die Hymne nicht gespielt wurde. Zu dieser Zeit gehörte das Stadion ei-ner Gesellschaft, die zweimal in der Woche dort gut besuchte Windhundrennen austragen ließ, die vor allem durch die Wetteinnahmen sehr einträglich war. Als der britische Leichtathletikverband es abgelehnt hatte, einem Wunsch der bun-desdeutschen Botschaft Rechnung zu tragen und auf die Hymne zu verzichte, en-gagierte die Botschaft eine Firma, die mit dem Besitzer des Stadions gegen Be-zahlung vereinbarte, zu erklären, dass man sich weigere, die Hymne zu spielen. In einer renommierten Zeitungsredaktion bestätigte mir der Chef der Sportabteilung:
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„Die Stadion-Company bedauerte diese Entscheidung und berief sich darauf, dass sie auf keinerlei Einnahmen verzichten kann. Sie wissen sicher, dass die Herr-schaften in der westdeutschen Botschaft zwar ihre Sprache sprechen, aber nicht ihre Freunde sind.“
Episode 2:
Am letzten August-Wochenende des Jahre 1962 bestritten die Leichathletik-Nationalmannschaften der DDR in Stockholm Länderkämpfe gegen Schweden. Am Abend vor dem Auftakt hatten die Gastgeber die Gäste in den Zirkus „Scott“ eingeladen, der am Nachmittag von einem Beamten der BRD aufgesucht wurde, um den Direktor zu ersuchen, auf jeden Fall die Verwendung des Begriffs „DDR“ zu vermeiden. Der Sprecher des Zirkus´ wurde daraufhin angewiesen, die Gäste sowohl in schwedischer als auch in deutscher Sprache offiziell zu begrüßen, dabei den Begriff „DDR“ zu verwenden und die Mannschaft anschließend – bejubelt vom Publikum – einzuladen, in der Ehrenloge Platz zu nehmen.
Noch bevor der Zirkus animiert worden war, hatte die bundesdeutsche Bot-schaft den schwedischen Leichtathletikverband aufgefordert, auf das Hissen der Flaggen – der schwedischen und der DDR-Flagge – im Stadion zu verzichten.
Die zuständige Instanz entschied, dass die Flaggen mit einem Zeremoniell auf-gezogen würden: Zwei Soldaten salutierten und hissten dann die Fahnen .
ORDER:
Am 23. September 1965 verschickte die Abteilung IV des Auswärtigen Amtes folgende Mitteilung an die diversen Botschaften, nachdem die aufgefordert worden waren, die IOC-Mitglieder ihres Landes im Hinblick auf die Sitzung des IOC An-fang Oktober in Madrid zu informieren, dass sie gegen einen Vorschlag stimmen sollten, der DDR eine eigene Olympiamannschaft zuzubilligen:
A u f z e i c h n u n g
Betr.: Aussichten für die Abstimmung über die Beibehaltung der gemeinsamen deutschen Olympia-Mannschaft auf der IOC-Tagung in Madrid vom 6. - 9. Oktober 1965
Die Mehrheit der mit Demarchen bei den Regierungen und IOC-Mitgliedern des Gastlandes in der Angelegenheit befassten 52 Auslandsvertretungen hat inzwi-schen über das Ergebnis ihrer Bemühungen berichtet. In einigen Fällen kehren ih-re Gesprächspartner erst in diesen Tagen aus dem Urlaub zurück. Als vorläufiges Ergebnis kann folgendes festgehalten werden:
1) Die angesprochenen Regierungen der NATO-Verbündeten, der latein-amerikanischen Staaten sowie befreundeter Länder wie Japan und der Philippinen teilen unseren Standpunkt und haben zugesagt, auf ihre IOC-Mitglieder in unse-rem Sinne einzuwirken. Andere wie die australische, schwedische, schweizerische und uruguayische Regierung zeigen wohlwollendes Verständnis für unser Anlie-gen und erklärten sich bereit, die IOC-Mitglieder von unserem Wunsch zu unter-richten, ohne ihnen wegen ihrer unabhängigen Stellung Empfehlungen oder Wei-sungen geben zu können. In einigen Fällen (z. B. New Delhi) haben unsere Bot-schaften von sich aus oder auf Anraten der betreffenden IOC-Mitglieder, wenn de-ren positive Haltung zweifelsfrei feststand, davon abgesehen, die Regierung des Gastlandes mit der Angelegenheit zu befassen.
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2) Das IOC hat z. Z. 69 Mitglieder. Von diesen werden etwa 60 - 62 an der Sitzung teilnehmen. Für die Beschlüsse genügt die einfache Mehrheit. Bei Stim-mengleichheit gibt die des Präsidenten den Ausschlag. Wir brauchen also höchs-tens etwa 32 Stimmen.
Wenn die unseren Auslandsvertretungen von den IOC-Mitgliedern gegebenen IOC-Mitgliedern gegebenen Zusagen eingehalten werden oder die von den Vertre-tungen gemachten Prognosen über die Haltung der IOC-Mitglieder zutreffend sind, können wir mit großer Sicherheit auf 36 Stimmen aus folgenden Ländern rechnen: Argentinien, Australien (1 von 2), Belgien, Brasilien, Chile, Frankreich, Griechen-land, Kolumbien, Indien, Irland, Island, Italien, Japan (1 von 2), Korea, Luxemburg, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Pakistan, Panama, Peru, Philippinen, Portugal, Südafrika, Türkei, Venezuela, U.S.A. Diese Zahl kann sich vermutlich noch um 9 Stimmen der IOC-Mitglieder aus folgenden Staaten sowie um die des stimmbe-rechtigten persönlichen Assistenten von Herrn Brundage erhöhen: Dänemark, Großbritannien (Lord Luke), Iran, Liechtenstein, Kanada, Libanon, Japan (2. Mit-glied), Spanien, so daß wir maximal über 45 Stimmen verfügten. Diese Zahl kann sich dadurch geringfügig vermindern, daß verschiedene IOC-Mitglieder, mit deren Stimmen wir rechnen können, wider Erwarten der Tagung fernbleiben. Sie kann sich andererseits dadurch etwas erhöhen, daß sich wenigstens je eines der bei-den finnischen, schwedischen und schweizerischen IOC-Mitglieder sowie der ma-rokkanische Vertreter für uns entscheiden. Wie der Berichterstattung zu entneh-men, sind sich manche IOC-Mitglieder in der Frage noch nicht völlig schlüssig und werden sich erst auf der Tagung in Madrid ihre endgültige Meinung bilden.
Nicht rechnen können wir mit den 9 Stimmen des Ostblocks, der der VAR sowie derjenigen des Marquess of Exeter. Angesichts dieser nur 11 sicheren Gegen-stimmen verwundert es, daß einige IOC-Mitglieder in ihren Gesprächen Zweifel äußerten, ob sich diesmal noch eine Mehrheit für die gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft finden lasse. Selbst Präsident Brundage ist der Ansicht, die Rechtsla-ge nach den Statuten spreche für die SBZ. Da außerdem nun ersichtlich sei, daß die deutsche Wiedervereinigung in weiter Ferne liege, hätte auch die Bereitschaft der IOC-Mitglieder, sich für eine gemeinsame deutsche Mannschaft einzusetzen, nachgelassen.
II.
Das NOK der SBZ hat die vergangenen Wochen zu einer regen Besuchs- und Informationstätigkeit genutzt. So hat sein Präsident Schöbel Chile und Uruguay besucht, ohne jedoch nach den Berichten unserer Vertretungen die dortigen IOC-Mitglieder umstimmen zu können. Den Berichten ist außerdem zu entnehmen, daß die SBZ allen IOC-Mitgliedern den Antwortbrief von Herrn Schöbel auf den Appell von Herrn Brundage an die beiden deutschen NOK's vom 2. Juni 1965 übersandt hat, in dem es u. a. heißt, Herr Daurne selbst habe 1962 zwei getrennte deutsche Mannschaften für die beste Lösung erklärt, hätte sich aber dann dem Druck der Bundesregierung fügen müssen. Diese. Behauptung ist nachweislich unwahr. Gleichwohl dürfte dieser Brief nicht ganz ohne Wirkung geblieben sein. Wir haben daher Herrn Daume nahegelegt, diese Behauptung in einem Schreiben an den gleichen Ein Fänger Kreis zu widerlegen.
III.
5
Aul' Grund der jetzt vorliegenden Berichterstattung müssen wir nach Ansicht der Abteilung IV trotz aller widrigen Momente nur dann mit einer Niederlage rech-nen, wenn sich alle bisher Unentschiedenen für die - nach wie vor unerschütterli-che - Auffassung des Marquess of Exeter entscheiden und eine Reihe und gege-bener Zusagen bei der Zustimmung, die vermutlich geheim sein wird nicht gehal-ten werden.
Herr Daume wird über die Ergebnisse der Demarchen unserer Auslands-vertretungen laufend unterrichtet.
Hiermit
dem Herrn Staatssekretär
mit der Bitte um Kenntnisnahme vorgelegt.
Es folgte folgender Brief:
A u f z e i c h n u n g
Betr.: Gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft
Hiermit legt Abteilung IV
dem Herrn Staatssekretär
eine Liste der IOC-Mitglieder mit einer kurzen Zusammenfassung ihrer Haltung, wie sie sich aus der Berichterstattung unserer Auslandsvertretungen ergibt, sowie eine Namensliste mit dem vermutlichen Verhalten bei der Abstimmung über die gesamtdeutsche Mannschaft mit der Bitte um Kenntnisnahme vor.
Das Bundesministerium des Innern, das Bundesministerium für ge-samtdeutsche Fragen, das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung sowie Herr Daume, das Sekretariat des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland und Referat II A 1 erhalten die Listen gleichfalls.
Haltung der nichtkommunistischen IOC-Mitglieder in der Frage der gesamtdeutschen Olympia-Mannschaft aufgrund der Bericht-erstattung unserer Auslandsvertretungen.
Argentinien
Mario L.Negri's Haltung ist unverändert positiv in unserem Sinne. Er will seine Argumente gegen zwei deutsche Mannschaften dem IOC noch schriftlich vorlegen (Äußerung des Verbindungsmanns der Botschaft im argentinischen NOK, Rank).
Australien
Hugh Weir will für Beibehaltung des jetzigen Zustandes stimmen. Lewis Luxton kann nicht nach Madrid reisen.
Belgien
Prinz Alexandre de Merode wird für Beibehaltung gesamtdeutscher Mannschaft stimmen.
Brasilien
Jean Havelange und Major Silvio Magalhaes Padilha wollen sich für uns einset-zen.
Chile
Dr. A. Rivera Bascur wird für uns stimmen.
Dänemark
Ivar Emil Vind ist nicht von der Botschaft aufgesucht worden, da ein derartiger Schritt angesichts der dänischen Empfindlichkeit unerwünschte Reaktionen hätte hervorrufen können. Vind ist dagegen vom dänischen Außenministerium davon unterrichtet worden, daß die dänische Auffassung über die gesamtdeutsche Mannschaft sich mit unserer decke.
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Finnland
Erik von Frenckell erklärte, unserem Standpunkt aufgeschlossen gegenüber zu stehen. Gab zu erkennen, daß er sich in Madrid wahrscheinlich nicht exponieren, sondern mit der Mehrheit stimmen werde. J.W. Rangell wurde von unserer Han-delsvertretung nicht aufgesucht, da er bereits im Vorjahre sein Desinteresse an der Frage deutlich zum Ausdruck gebracht hat.
Frankreich
Francois Pietri, Armand Massard und Comte de Beaumont sind von der Bot-schaft über das französische Außenministerium um Unterstützung unseres Stand-punktes gebeten worden. Sie werden uns nach Ansicht des Quai d'Orsay wie bis-her unterstützen.
Griechenland
Admiral Lappas als designiertes neues griechisches IOC-Mitglied versicherte, König Konstantin und er seien gegen eine Änderung des gegenwärtigen Zustan-des.
Großbritannien
Der Marquess of Exeter war nicht umzustimmen. Er will jedoch auf der Tagung in Madrid nicht mit Anträgen hervortreten. Lord Luke erklärte, er sei persönlich für die Erhaltung der gesamtdeutschen Mannschaft.
Kanada
A. Sidney Dawes kannte und interessierte sich für das Problem nur wenig. Er brachte zum Ausdruck, daß man es im IOC wegen der Form der deutschen Betei-ligung an den olympischen Spielen nicht zum Bruch mit der Sowjetunion kommen lassen dürfe.
Kolumbien
Julio Gerlein Comelin will sich mit Nachdruck für uns einsetzen.
Indien
G. D. Sondhi und Raja Bhalindra Singh sind beide eindeutig für die gesamt-deutsche Mannschaft, werden aber nicht an der Tagung teilnehmen.
Iran
Iranisches Außenministerium hat Einwirkung auf Prinz Gholam Reza Dihlawi in unserem Sinn zugesagt. Dieser selbst konnte von der Botschaft nicht erreicht werden, da er sich auf Europa-Urlaub befindet. Iranisches Außenministerium hat jedoch versichert, der Prinz kenne die Problematik und werde den deutschen Standpunkt vertreten.
Irland
Lord Killanin will unseren Standpunkt in Madrid unterstützen. Er hält den Aus-gang wegen des Einflusses des Marquess of Exeter jedoch für ungewiß.
Island
Benedikt-G. Waage bezeichnete den Appell von Brundage auch als seine Linie, legte sich jedoch nicht fest. Offenbar findet vor der Abstimmung noch eine nordi-sche Regionalabsprache statt, wobei allerdings nach Ansicht der Botschaft Reyk-javik die NATO-Solidarität beachtet werden soll.
Italien
Giulio Onesti erklärte, auch für de Stefani, er habe volles Verständnis für unse-ren Standpunkt. Botschafter gewann den Eindruck, daß beide bereit seien, sich für die gesamtdeutsche Mannschaft auszusprechen.
Japan
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Dr. Takaishi kann krankheitshalber nicht nach Madrid reisen. Dr.Ryotaro Azuma bejaht die gesamtdeutsche Mannschaft vorbehaltlos.
Kenia
Reginald Stanley Alexander nahm Demarche der Botschaft wohlwollend auf, ohne sich endgültig festzulegen.
Korea
Das koreanische Außenministerium hat volle Unterstützung unseres Stand-punktes zugesagt. Botschaft wird mit Sang Beck Lee kurz vor seinem Abflug nach Madrid sprechen. Ein „Ja" kann erwartet werden.
Libanon
Cheik Gabriel Gemayel wird auch weiterhin für die gesamtdeutsche Mannschaft eintreten.
Liechtenstein
Der Regierande Fürst von Liechtenstein konnte erst am 27. September aufge-sucht werden. Bericht liegt noch nicht vor. j
Luxemburg
Großherzog Jean wird an der Sitzung teilnehmen. Im Außenministerium fand die Botschaft volles Verständnis für unseren Standpunkt. Ein „Ja" kann erwartet werden.
Marokko
Hadj Mohammed Benjelloun hat sich in einem Brief an unseren Konsul Casab-lanca nicht klar geäußert. Der marokkanische Erziehungsminister hat der Bot-schaft gegenüber erklärt, Benjelloun instruiert zu haben, in unserem Sinne für die Beibehaltung des jetzigen Zustandes einzutreten.
Mexiko
Marte-R. Gomez und General Jose de Clark haben sich beide eindeutig für uns ausgesprochen.
Nigeria
Sir A. Ademola glaubt, daß sich in Madrid nichts an der gesamtdeutschen Mannschaft ändern werde. Er ließ durchblicken, daß er mit dem Marquess of Exe-ter befreundet sei. Legte sich nicht fest, erklärte sich aber bereit, unsere Argumen-te unvoreingenommen zu prüfen und sich an Ort und Stelle zu entscheiden.
Neuseeland
Sir Arthur Porritt reist nicht nach Madrid.
Niederlande
Jonkheer Herman A. van Karnebeek hat gegenüber dem niederländischen Au-ßenministerium Unterstützung unseres Standpunktes zugesagt.
Norwegen
0. Ditlev-Simonsen Jr. will ohne Vorbehalt für eine gemeinsame deutsche Mannschaft eintreten.
Österreich
Ing. Dr. h.c. Manfred Mautner Ritter von Markhof reist nicht nach Madrid.
Pakistan
Syes Wajid Al reist nach Madrid.
Panama
Das panamaische Außenministerium hat Dr. Agustin Sosa angewiesen, sich für die Beibehaltung der gesamtdeutschen Mannschaft einzusetzen.
Peru
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Eduardo Dibos hat zugesagt, für uns zu stimmen.
Philippinen
Jorge Vargas wird vorn philippinischen Außenministerium „entsprechend" in-struiert. Seine positive Stellungnahme dürfte uns sicher sein.
Portugal
Das portugiesische Außenministerium hat zugesichert, auf General Raoul Pereira de Castro einzuwirken, daß er gegen die volle Anerkennung des NOK der SBZ stimme.
Schweden
Bo Ekelund und Lt. General Gustav Dyrssen wollten sich nicht festlegen. Offen-bar wollen sie sich erst in Madrid über die allgemeine Stimmung unterrichten. Ekelund will sich im SBZ-Fernsehen für die gesamtdeutsche Mannschaft aus-gesprochen haben.
Schweiz
Major Albert Mayer ist wiederholten Bitten der Botschaft um eine Unterredung ausgewichen. „Nein" wahrscheinlich. Marc Hodler will nicht für zwei Mannschaften stimmen, falls dann Spalterfahne gezeigt und Becherhymne gespielt würde. Sucht nach rechtlichen Argumenten für unseren Standpunkt.
Spanien
Baron de Guell hat sich unzweideutig auf deutschen Standpunkt festgelegt.
Südafrika
Reginald Honey wird das tun, „was sein Freund Daume von ihm will".
Türkei
Türkisches Außenministerium hat jede Unterstützung zugesagt. Über Gespräch der Botschaft mit Suat Erler liegt noch kein Bericht vor. Dürfe mit „ja" stimmen.
Uruguay
Dr. Alfredo Inciarte wird sich in Madrid für den Fortbestand der gesamtdeut-schen Mannschaft einsetzen. Er glaubt, daß die Entscheidung möglicherweise wiederum verschoben wird.
Venezuela
Dr. Julio Bustamante versprach, den deutschen Standpunkt in Madrid zu unter-stützen. Er will. sich in Madrid mit dem NOK für Deutschland absprechen.
Vereinigte Staaten von Amerika
Avery Brundage, John-Jewett Garland und Douglas F. Roby sind eindeutig für uns. Brundage stimmt als Präsident nur bei Stimmengleichheit ab.
(…)
Anwesend werden höchstens 63 Mitglieder sein, wahrscheinlich jedoch einige weniger. Wir brauchen also maximal 32 Stimmen, da die einfache Mehrheit ent-scheidet. Wir können mit 44 Stimmen rechnen. (…) Die einfache Mehrheit sollte uns daher sicher sein.
EPISODE 3:
Als ich in Madrid eintraf, begegnete mir als einer der ersten, das Schweizer IOC-Mitglied Albert Mayer, der sich geweigert hatte, der Einladung des bundes-deutschen Botschafters zu folgen. Familiäre Vorbehalte spielten dabei eine Rolle. Die Familie der griechischen Ehefrau Mayers war von den Nazis in Griechenland ermordet worden. Der Botschafter, der offensichtlich die Weisung aus Bonn, den IOC-Mitgliedern keine schriftlichen „Weisungen“ zu übermitteln, überlesen oder ig-
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noriert hatte, hatte Mayer einen Brief zugesandt, in dem er aufgefordert wurde, sich bei der IOC-Tagung entsprechend der „Direktive“ aus Bonn zu verhalten. Er informierte mich über diesen Brief, wollte ihn aber mich nicht lesen lassen, bevor er ihn – als erster Redner – dem Plenum des Internationalen Olympischen Komi-tees zur Kenntnis gegeben hatte. Der IOC-Präsident Avery Brundage (USA) un-terbrach die Sitzung augenblicklich und ließ Daume erbost wissen, dass nie zuvor in der Geschichte des IOC eine Regierung auf so massive Weise versucht hatte, eine Entscheidung des Komitees zu beeinflussen.
Am Abend fand die Abstimmung statt: Von den 48 anwesenden IOC-Mitgliedern votierten vier für die Beibehaltung der „gesamtdeutschen“ Mannschaft und 44 für die Beendigung dieser Regelung und damit dafür, dass die DDR künftig mit einer eigenen Mannschaft an den Spielen teilnehmen darf. Meine Bitte an Brundage, mir ein Interview zu geben, lehnte er ab: „Was ich davon halte, behalte ich lieber für mich!“
REDE:
des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Egon Franke vor Sport-journalisten am 15. Oktober 1970 in Barsinghausen
Das Thema, das Sie mir gestellt haben, scheint auf den ersten Blick selbst ei-nen kurzen Vortrag nicht ausfüllen zu können. Denn jeder Interessierte und erst recht jeder Fachmann weiß, daß es schon seit etwa zehn Jahren keine „Sportbe-ziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR" gibt. Zumin-dest verdienen die zahlenmäßig kaum erwähnenswerten gelegentlichen Begeg-nungen zwischen Sportgruppen diesseits und jenseits der innerdeutschen Grenze diese Bezeichnung nicht.
Trotzdem ist das Thema sehr interessant. Wir sind zwar daran gewöhnt zu hö-ren, daß Sport und Politik unvereinbar seien und daß der Sport auf jeden Fall von Politik freigehalten werden müsse. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die Wirklichkeit anders aussieht. Dies gilt nicht nur für die DDR, in deren politi-scher und staatlicher Ordnung der Sport als bedeutendes konstruktives Element voll integriert ist. Dies gilt – wenngleich in völlig anderer Weise - auch für die Bun-desrepublik. Denn mag hier die Sportorganisation auch unabhängig und keiner staatlichen Reglementierung unterworfen sein – den Konsequenzen, die sich aus der staatlichen Teilung Deutschlands ergeben, kann gerade der Sport nicht aus-weichen. (…)
Dafür ein Beispiel: Der Punkt, an dem Ostberlin immer wieder ansetzt, um mit dem Anschein der Berechtigung uns die Schuld für den beklagenswerten Zustand der innerdeutschen Sportbeziehungen zuzuschieben, ist der Beschluss vom 16. August 1961. (Gemeint ist die Entscheidung der Bundesregierung, die BRD-Sportführung zum Abbruch jeglichen Sportverkehrs mit der DDR zu veranlassen.. K.H.) Nun hat Herr Gieseler, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Sportbun-des, vor kurzem in einem Vortrag meines Erachtens mit vollem Recht darauf hin-gewiesen, dass eine spätere Geschichtsschreibung den Düsseldorfer Beschluss „wohl anders werten wird, als es heute noch geschieht.''
Sicher lag die Entscheidung vom 16. August 1961 in der Logik der psychologi-schen Situation, wie sie sich aus der Errichtung der Berliner Mauer ergab. Zwin-gend war diese Logik jedoch nicht. (…) Klar war außerdem, dass diese Entschei-dung nicht endlos würde durchgehalten werden können.
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Ich meine deshalb, daß es ungeachtet der Tatsache, dass damals eine andere Bundesregierung die Verantwortung trug, nicht fair wäre, wenn nach so langer Zeit die Seite, die die Politik zu vertreten hat, den Sport die bis heute nachwirkende Bürde der Düsseldorfer Entscheidung allein tragen ließe. Wir alle wissen, welche Belastung dem Sport aus diesem Beschluss erwuchs und wie mühsam, aber auch - und das sage ich mit Betonung - wie nobel er diese Situation durchgestanden hat. Es scheint mir an der Zeit, dass dies von seitens der Bundesregierung einmal ausgesprochen wird.
Erst vier Jahre später, als das Internationale Olympische Komitee in den soge-nannten Madrider Beschlüssen vom 8. Oktober 1965 den sportlichen Status West-Berlins endgültig im Sinne der Einbeziehung Westberlins in die Sportorganisation der Bundesrepublik bestätigt hatte, fanden der Deutsche Sportbund und das NOK den Ansatz, um die Düsseldorfer Beschlüsse aufzuheben.
(Es erscheint im Grunde überflüssig, festzustellen, dass der Minister an dieser Stelle die Unwahrheit sagte, denn der Beschluss des IOC in Madrid galt der Tat-sache, dass das NOK der DDR alle Rechte eines NOK zugesprochen bekam. K.H.)(...)
Nicht immer zeigte sich die SED so ablehnend. Bis etwa zum Verbot der KPD im Jahre 1956 gab Berlin unter dem Motto „Deutsche an einen Tisch” auch im Sport zahlreiche Anregungen für gesamtdeutsche Aktivitäten im Sinne der Deutschlandpolitik der SED. In den Jahren darauf folgte im Anschluß an Ulbrichts Vorschlag vom 30. Januar 1957 die Kampagne für die Konföderation beider deut-scher Staaten. In diese Zeit fällt der bisherige Höhepunkt innerdeutscher Sportbe-ziehungen. Im Jahre 1957 kam es zu insgesamt 1.530 Begegnungen, an denen über 35.000 Sportler beteiligt waren. Der 13. August 1961 machte auch dem ge-samtdeutschen Sportverkehr ein Ende. Von nun an konzentrierte Ostberlin auch propagandistisch alle Anstrengungen auf das Ziel, der "souveränen Deutschen Demokratischen Republik" völkerrechtliche Anerkennung zu verschaffen. Wenn-gleich das Ausspielen dieser Forderung von Zeit zu Zeit bestimmten taktischen Modifizierungen unterworfen ist, besteht doch kein Zweifel, daß diese Phase mit allen ihren Schwierigkeiten und Belastungen auch im Bereich des Sports noch an-dauert.
Immerhin ist es in den letzten Jahren gelungen, die ständig wiederholte Be-hauptung der DDR, im Sport durch die Bundesrepublik Deutschland diskriminiert zu werden, Stück für Stück zu entkräften. Den Anstoß dazu gab vor allem die Notwendigkeit, die Teilnahme der DDR an den Olympischen Spielen 1972 sicher-zustellen. Dem Beschluß der Bundesregierung von 18. Dezember 1968, der be-sagte, daß die DDR-Olympiamannschaft in München ohne jede Einschränkung nach Maßgabe der dann gültigen Bestimmungen des Olympischen Regelwerks starten kann, folgte die Entscheidung der Bundesregierung vom 22. Juli 1969, die bestimmt, daß bei allen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland stattfin-denden internationalen Sportveranstaltungen nach dem Reglement der jeweils zu-ständigen internationalen Fachverbände verfahren werden soll. Das heißt, DDR-Flagge und -Hymne werden gegebenenfalls zugelassen.
Die Bundesregierung hat darüber hinaus einem Ersuchen der Innenminister der Länder folgend ihre Zustimmung zur Aufhebung der Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vom 4. November 1959 gegeben, die polizeiliches Einschreiten ge-gen das Zeigen von DDR-Symbolen - insbesondere der DDR-Fahne - vorsah.
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Damit ist der Streit um Flagge und Hymne, der jahrelang einer Kernpunkte der Auseinandersetzung gewesen ist, infolge des Entgegenkommens der Bundesre-gierung im Sinne der Wünsche der DDZ erledigt worden.
(Hier wäre anzumerken, dass nicht “Entgegenkommen” die Situation veränder-te, sondern allein die Entscheidung des IOC, die DDR mit einer eigenen Mann-schaft starten zu lassen, denn eine Weigerung der BRD diesen Beschluss zu ak-zeptieren, hätte den Entzug der Spiele in München zur Folge gehabt. K.H.) (...)
Auch im internationalen Rahmen hat sich der Sport der DDR durchgesetzt. Die Fachverbände des DDR-Sports sind durchweg vollberechtigte Mitglieder der inter-nationalen Sportföderationen. Das Nationale Olympische Komitee ist über mehre-re Zwischenstationen am 12. Oktober 1968 mit Wirkung vom 1. November 1968 ebenfalls voll anerkannt worden. (...) Aber nichts deutet darauf hin, daß die DDR entsprechende Folgerungen zu ziehen gedenkt. Weshalb tut sie es nicht?
Diese Frage erscheint besonders deshalb angebracht, weil die wirklich unerhör-ten Erfolge, die der Sport in der DDR gerade in den letzten Monaten erringen konnte, der Führung in Ostberlin den an sich ganz natürlichen Gedanken nahele-gen könnte, den damit verbundenen Zuwachs an Bewunderung und moralischer Anerkennung im internationalen Bereich auch auf dem innerdeutschen Felde ein-zubringen. Es besteht doch kein Zweifel, daß unsere Bevölkerung durchaus bereit wäre, sportliche Höchstleistungen von DDR-Athleten voll zu würdigen. Der DDR ist es gelungen, in zahlreichen Disziplinen, ich nenne nur Leichtathletik, Schwim-men und Rudern, aber auch in anderen Sportarten, die vielleicht nicht gleicherma-ßen im allgemeinen Interesse stehen, das Niveau absoluter Weltklasse zu errei-chen. Woher rühren diese Erfolge? Aus Anlaß der Auszeichnung verdienter Sport-ler betonte Ulbricht am 18. September dieses Jahres: „Die bemerkenswerten Re-sultate des Leistungssportes der DDR sind beileibe keine Wunder, und sie sind auch nicht dem Zufall zu danken. Diese Erfolge sind in erster Linie darauf zurück-zuführen, daß die Vorzüge unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung systema-tisch, zielstrebig und schöpferisch genutzt werden."
Nun, diese formelhafte Aussage kann nicht. darüber hinwegtäuschen, wo die wirklichen Ursachen des sportlichen Aufstiegs der DDR liegen. Die Sportführung der DDR hat es verstanden, in einer zweckbestimmten organisatorischen Zusam-menfassung von Einzelmaßnahmen, die funktionsgerecht aufeinander abgestimmt sind, das potentielle Reservoir an Talenten in aller Breite aufzuschließen und unter Anwendung modernster wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden systema-tisch zu fördern. Hier hat der Staat die Arbeit der Sportorganisationen straff zentra-lisiert und die gesamte Sportarbeit auf der Basis des Breitensports auf Spitzenleis-tungen hin ausgerichtet.
Diese Erfolge des Sports haben ganz zweifellos zur Hebung des internationalen Ansehens der DDR ganz wesentlich beigetragen. Zugleich aber zeigen sich in ih-rem Gefolge neue Probleme: Wie werden die anderen kommunistischen Staaten, wie wird insbesondere die Sowjetunion darauf reagieren, dass sie in verschiede-nen Disziplinen von der DDR überrundet wurde? Aber auch in der westlichen Welt scheinen die sportlichen Triumphe der DDR gemischte Empfindungen auszulösen. „Ostdeutschland ist die erste Sportnation der Welt" schrieb kürzlich eine Pariser Zeitung. Und wenn dort das letzte Geheimnis dieser Triumphe nicht etwa mit der staatlichen Organisation des Sports in der DDR oder der politischen Ideologie,
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sondern mit der "deutschen Mentalität" erklärt wird, dann spüren Sie gewiß, wel-che weittragenden Probleme hier plötzlich auftauchen.
Durch die Erfolge wächst bei den federführenden Fachverbänden das Selbst-bewusstsein, ihr Eigengewicht gegenüber zentralistischen, bürokratischen Ten-denzen der DDR-Sportführung wird gestärkt. Wie wird sich eine solche Entwick-lung auf die Dauer auswirken? Sie sehen, wie aus dem Erfolg ein ganzes Bündel von Fragen und Problemen wächst, von uns sorgfältig im Auge behalten werden sollte.
(Zu Erinnerung: Franke (1913 – 1995) war kein “Außenseiter”, gehörte von 1953 bis 1987 dem Bundestag an, war 13 Jahre Minister und seine Feststellungen kann kein Sporthistoriker heute als „Irrtümer” ausgeben! K.H.) (...)
Der Geschäftsverkehr zwischen dem Münchener Organisationskomitee für die IX. Olympischen Spiele und dem Nationalen Olympischen Komitee der DDR voll-zieht sich reibungslos in einem normalen Umfang. Die Mitarbeit des NOK der DDR ist korrekt. Aus allem wird deutlich, daß die DDR entschlossen ist, sich in Mün-chen mit einem überragenden Ergebnis durchzusetzen. Wie sagte doch Karl-Eduard von Schnitzler: "Der Kapellmeister der Spiele 1972 soll nur die DDR-Hymne gut einstudieren."
Ich habe zu zeigen versucht, dass die Bundesregierung in der letzten Zeit eine Haltung korrigiert hat, die dem Sport Lasten der Politik auflud, die er nicht tragen konnte. Die Politik muß vielmehr dem Sport die ihm gemäßen Lebensbedingungen schaffen, wenn er die erwarteten Leistungen in Höhe und Breite voll bringen soll. Dafür bedarf es in der Bundesrepublik Deutschland der Zusammenarbeit aller Be-teiligten. Der Leistungsstand des Sports in der DDR ist dazu eine Herausforde-rung.
Kaum ein anderer Lebensbereich ist so in die gesamtdeutschen Verflechtungen eingebunden wie der Sport. Alle Schwierigkeiten der deutschen Situation, die sonst oft nur partiell auftauchen, treten beim Sport gebündelt in Erscheinung. Von daher ergibt sich ganz von selbst das große Interesse der Bundesregierung an Ih-rer Arbeit. Über das Medium des Sports erreichen sie viele Menschen, die politi-schen Informationen sonst kaum zugänglich sind. Auch die Bundesregierung be-dient sich von Fall zu Fall gern Ihrer großen Sachkenntnis, wie Sie meinen Aus-führungen vielleicht hier und da entnommen haben.
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DIE ERSTE
„SOMMER“-MEDAILLE
Über CHRISTA STUBNICK
Vor 65 Jahren fanden vom 22. November bis 8. Dezember im australischen Melbourne die ersten Olympischen Sommerspiele statt, an denen die DDR teil-nahm. Wollte man die politischen Probleme im Vorfeld dieser Spiele behandeln, bedürfte es eines besondern – sicher umfänglichen – Beitrags. Als die sowjetische Armee dazu beitrug, einen Putsch in Ungarn niederzuschlagen, forderten die USA, die Sowjetunion. Die nach 1952 das zweite Mal überhaupt an Sommerspielen teil-nahm von den Spielen in Melbourne auszuschließen. Die Bundesregierung erklär-te sich mit dieser Forderung solidarisch, riskierte aber bei einem Boykott der Spie-le, dass die als Mitglied einer gemeinsamen deutschen Mannschaft zugelassene DDR-Mannschaft Deutschland allein in Melbourne vertreten würde. Diese Lösung erschien der Bundesregierung unakzeptabel und so suchte man verzweifelt nach einer Lösung, die sowohl der Verpflichtung des IOC in dieser gemeinsamen Mannschaft zu starten, als auch der Solidarität mit Washington nachkam.
Als wenige Wochen später England und Frankreich die Entscheidung Ägyptens, den bis dahin von diesen Mächten kontrollierten Suezkanal zu nationalisieren und England und Frankreich darauf mit militärischer Gewalt antwortete, kündigten die unabhängigen afrikanischen Staaten den Boykott der Spiele an. Am Ende gelang es dem diplomatisch souverän agierenden IOC-Präsidenten Avery Brundage (USA) – er hatte die Bonner Zumutung, die DDR auszuschließen, wenn Bonn nicht starten würden, ohne Zaudern abgelehnt – die Mehrzahl der Länder in Mel-bourne zur feierlichen Eröffnung zu begrüßen.
Die Spiele begannen mit den Entscheidungen der Leichtathletik und die Berliner Dynamo-Sprinterin war die erste DDR-Athletin, die eine Medaille gewinnen konn-te. Die jetzt in Magdeburg lebende ehemalige 78jährige Volkspolizistin hatte vor Jahren für das Buch „Die fünf Ringe“ ihre Laufbahn und ihre olympischen Trium-phe geschildert. Wir veröffentlichen daraus einen Auszug.
Spricht sie von sich und ihren sportlichen Erfolgen, dann findet sie stets aner-kennende Worte für die, die ihr geholfen haben, diese zu erringen.
Mit besonderer Liebe von ihrem Trainer, Max Schommler. „Schade, daß der Max nicht mit nach Melbourne konnte, er hätte mich an Ort und Stelle sicher noch besser beraten können, aber die lange Reise wäre für ihn als Kriegsversehrten zu anstrengend gewesen."
.Christa zieht eine große Schublade auf, in der eine Unmenge Briefe gestapelt sind. Es müssen viele hundert sein. Nach einem Stoßseufzer weist sie mit der Hand auf diesen Briefsegen und gesteht: „Das ist die Kehrseite der Medaille, die wollen alle beantwortet sein. Die Autogrammwünsche kommen von überallher, sogar viele aus Westdeutschland. Ich versuche natürlich, allen zu antworten.
In den Tagen und Wochen nach den Spielen wurden wir immer wieder von Sportbegeisterten aufgefordert, sie zu besuchen und ihnen unsere Erlebnisse zu erzählen. "
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Christa ist seit ihrer Rückkehr unermüdlich von Betrieb zu Betrieb gefahren, hat in Klubhäusern und Schulen gesprochen, hat überall auf viele Fragen geantwortet.
Ich erlebte, wie Arbeiterinnen und Arbeiter sie im VEB Zeiß Ikon in Dresden mit Blumen und herzlichem Beifall empfingen. Sie standen am Tor und warteten, nahmen sie in ihre Mitte. Niemand brauchte eine Rede zu halten, ganz ohne Wor-te war alles klar.
Christa grüßte sie, winkte mit den Blumen und weinte Tränen der Freude und sie brauchte sich dieser Tränen auch nicht zu schämen. „Das ist ja ein ganz einfa-ches Mädel", hörte ich eine Arbeiterin zu ihrer Kollegin sagen, und es klang freudi-ger Stolz aus dieser Feststellung. „Sie ist eine von uns!“
CHRISTAS WEG NACH OBEN
„Neunzehnhundertsiebenundvierzig habe ich angefangen, Sport zu treiben. Wir wohnten in Gardelegen, waren sieben Geschwister. Fünf waren noch zu Hause.
Es war für meine Eltern nicht einfach, uns in dieser harten Zeit satt zu machen.
Mein Vater, ein alter Arbeitersportler, sah es gern, wenn wir Kinder Sport trie-ben.
Von meinen drei Brüdern hat einer an mehreren Schwimm-Meisterschaften teil-genommen, und von den Mädchen war meine Schwester Brigitte so emsig wie ich. Wir haben damals zusammen geturnt und nebenbei Handball gespielt und w3aren bei der Leichtathletik.
Als ich einmal an einem wichtigen Handballspiel teilnehmen wollte, gab mir meine Mutter ein Paar Turnschuhe, die sie noch von früher hatte. Obgleich sie mir zu groß waren, war ich froh, überhaupt Schuhe zu haben.
Ein schönes Trikot meines Bruders, das er selbst noch gar nicht getragen hatte, überließ er mir für dieses Spiel und eine attraktive Tasche für mein Sportzeug ver-vollständigte meine Ausrüstung. Ich war mächtig stolz darauf. Die Tasche kam bei dem Spiel leider abhanden.
In Gardelegen waren einige Sportler, die an den Landesmeisterschaften der Leichtathleten teilnehmen wollten, was voraussetzte, dass sie vorher an den Kreismeisterschaften teilnahmen. Auch ich nahm an den Kreismeisterschaften teil. Ich lief die 75 Meter so schnell ich konnte, und es gelang mir, mich für die Ju-gendmeisterschaften in Demmin zu qualifizieren. Dort wurde ich mit nur einer Zehntelsekunde Rückstand Zweite.
Heute muß ich lachen, wenn ich an meinen damaligen Laufstil denke. Ich hatte nicht die geringste Ahnung vom Laufen, streckte den Kopf hoch, wusste nichts von Laufhaltung. So bin ich gerannt - in geborgten Sachen.
Nach diesen Jugendmeisterschaften nahm ich an einem Lehrgang an der Sportschule in Greiz teil. Hingefahren bin ich als Turnerin, zurück kam ich als Leichtathletin.
Inzwischen wurde ich öfter zu Wettkämpfen eingeladen. Von meinem Betrieb, der Stadtverwaltung Gardelegen, bekam ich dafür stets frei. Es kamen meine ers-ten Waldlaufmeisterschaften. Mein Vater hatte mit mir trainiert, in dem ich hinter seinem Fahrrad herlaufen musste. Dabei war er unerbittlich. Jammerte ich, sagte er: „Wenn du Sport treiben willst, musst du hart an dir arbeiten.“ Das trug auch seine Früchte. Ich gewann den Waldlauf in Gardelegen und durfte zu den Landes-ausscheidungen nach Halberstadt.
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Auf einem offenen LKW fuhren wir hin. Es war sehr kalt, und zu allem Unglück verspäteten wir uns. Als wir ankamen, standen schon alle Läuferinnen startbereit; es sollte jeden Augenblick losgehen. „Halt, halt, ich will auch noch mit!“ schrie ich. habe ich geschrieen, zog die Schuhe aus und sprang vom Wagen. Sie warteten auf mich - der Starter und sechzig Mädchen. Die Strecke war ein anderthalb Meter breiter Weg. Die letzten waren also von vornherein benachteiligt. Da ich die Aller-letzte war, musste ich mich mit meinen Ellenbogen nach vorn drängeln. Das war nicht so einfach, ich bekam einen Schlag vor den Magen, fiel beinahe hin, aber lo-ckergelassen habe ich nicht. Erst ging es bergauf und zurück eine andere Strecke bergab. Abwärts bin ich wie wild gerast und es lohnte sich. Im Ziel war ich Lan-desmeisterin und als Preis erhielt ich einen Trainingsanzug, der aber viel zu groß war. Ich habe ihn dennoch angezogen; ihn mit ein paar Stecknadeln passrecht gemacht und bin stolzgeschwellter Brust nach Gardelegen zurückgefahren. Neun-zehnhundertfünfzig musste ich den Landestitel bei den DDR-Meisterschaften in Berlin-Grünau bei der weiblichen Jugend verteidigen.
Mein Vater wollte extra nach Berlin kommen. Vor dem Lauf wurden alle Teil-nehmer von einem Sportarzt untersucht. Während er immer wieder an mir herum-klopfte, sah ich, dass er ein besorgtes Gesicht machte. Schließlich holte er tief Luft und sagte: „Hör mal Mädchen, du kannst nie wieder Sport treiben, du hast ein un-mögliches Herz; das ist schon der reinste Luftballon.“
Ich war platt und wollte es nicht glauben. Aber der Arzt blieb dabei: „Du darfst nie mehr laufen, du kämst möglicherweise bis zum Ziel, aber dann fielst du um und wärst auf der Stelle tot. Du hast einen schweren Herzschaden.“
Ich heulte. Nicht wegen der angeblichen Krankheit - fühlte mich ja kerngesund – nein, der Gedanke, dass ich Titel nicht verteidigen könnte, machte mich wütend.
Nachmittags kam mein Vater. Er ging mit mir essen, aber mir war der Appetit vergangen. Schließlich erzählte ich ihm, was der Arzt, gesagt hatte.
Da hatte ich was angestellt; er wollte mich sofort ins nächste Bett stecken.
Das kann ja heiter werden, dachte ich, denn im stillen war ich fest entschlossen zu laufen. Vater ging mit mir zu den Wettkämpfen. Ich hatte vorher ein trockenes Brötchen heruntergewürgt, ganz so, wie wir es gelernt hatten. (Heute esse ich vorher eine saure Gurke.) Ich überlegte nur, wie ich es anstellen könnte, unauffäl-lig an den Start zu kommen. Meine Spikes hatte ich vorsorglich im Trainingsanzug versteckt.
Vater stand mit mir in der Nähe des Starts. Zuerst liefen die Männer, dann folg-te die weibliche Jugend B und danach waren wir, die weibliche Jugend A, an der Reihe.
„Vater, ich komm gleich wieder“, sagte ich, und war weg. „Mensch, wie machste das bloß“, überlegte ich aufgeregt. Die Mädchen stellten sich auf; es blieb keine Zeit mehr. Mit einem Satz war ich im Straßengraben, zog die Schuhe aus, die Spikes an und schob mich von hinten durch das Gedränge mitten unter die Teil-nehmerinnen. Der Startschuss krachte, und alle stürmten los.
Vor mir ging eine mächtig ab, aber dann lief sie den falschen Weg. Ich blieb im Mittelfeld. Nach einiger Zeit bogen wir um eine Ecke und liefen aus dem Wald hin-aus. Vor mir liefen noch zwei Mädel. Ich setzte gerade an, um sie im Spurt zu ho-len, als ich an der Strecke zuerst den Doktor und dann meinen Vater stehen sah. Beide entdeckten mich und schienen sprachlos vor Schreck zu sein. Ich überlegte:
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Was nun? Aufgeben oder weiterlaufen? Und entschied: Hast dich 800 Meter ge-quält, nun können es auch noch 200 Meter mehr sein.
Doch ich hatte unterwegs so viel über den Herzfehler nachgedacht, dass ich in-zwischen überzeugt war, im Ziel umzufallen. Haargenau das geschah, aber ich fiel vorsichtshalber so, dass mich jemand auffangen konnte. Brav schluckte ich die Herztropfen, die mir sofort gereicht wurden, und versicherte, dass sie mir gut täten. Vor allem aber war ich glücklich, dass ich meinen Titel verteidigt hatte. Hinterher stellte sich heraus, dass die Meisterin bei den Frauen, Hilde Schreyer 3:54,2 Minuten benötigt hatte, während ich die Strecke in 3:53,2 Minuten bewältig hatte. Das strenge Verbot, künftig nie mehr lange Strecken zu laufen, hielt ich strikt ein und hielt mich erst einmal zurück. Erst als ich neunzehnhundertzweiund-fünfzig bei der Stadtverwaltung in Gardelegen ausgelernt hatte, wurde ich wieder aktiv. Ich arbeitete bei der Reichsbahn in Stendal und trieb bei Lokomotive Sport. Dort hatten wir einen Übungsleiter, von dem ich meine Trainingsanleitungen er-hielt. Der konnte was. Ich schaffte die 100 m in 12,4 Sekunden und qualifizierte mich damit für die DDR-Meisterschaften in Jena. Dort schaffte ich im Vorlauf wie-der 12,4 Sekunden, im Zwischenlauf 12,6 Sekunden und im Endlauf 12,7 Sekun-den. Damit wurde ich Sechste. Anschließend wurde ich mit 5,32 Metern noch Fünfte im Weitsprung.
„LÄUFT JA WIE EIN PINGUIN“
Noch im gleichen Jahr meldete ich mich freiwillig zur Deutschen Volkspolizei. Meine Dienststelle befand sich in Potsdam, und hier war Max Schommler einer der Trainer. Nach Dienstschluss fuhren wir mit der Bahn ungefähr zwanzig Minu-ten und waren dann in einem sehr schön gelegenen Waldgelände. Dort wurde trainiert.
Beim ersten Mal sagte Schommler: „So, nun lauf mal!“ und hörte wie er zu Paul Prietzel sagte: „Mein Gott, Paule, aus der sollen wir eine Läuferin machen! Sieh dir das doch bloß mal an, die läuft ja wie ein Pinguin!“
Am liebsten wäre ich wieder abgehauen. Doch dann bekam ich ein kleines Trainingspensum, und die anderen machten mir Mut, da fasste ich wieder Ver-trauen zu mir.
Sicher hat mein Lauf damals putzig ausgesehen, denn ich wog so um die hun-dertzwanzig Pfund und setzte beim Laufen die Beine so, dass die Knöchel fast die Erde berührten. Die Arme hielt ich völlig verkrampft; meine gesamte Haltung war einfach unmöglich.
Tag für Tag, ob es regnete oder, schneite wurde nun trainiert. Max Schommler war in dieser Beziehung hart. Weinte ich, schimpfte er: „Ob du heulst oder nicht, damit erreichst du keine Leistungen. Wenn du aber richtig mit mir trainierst, wirst du 11,9 Sekunden laufen.“
Eines Tages hatte ich genug davon. Nach dem Training, packte ich meinen Kof-fer und ging zum Bahnhof. Wo ich hin wollte, wußte ich nicht. Andere hatten Auf-bruch bemerkt und holten mich vom Bahnhof wieder zurück. Max schimpfte wie ein Rohrspatz. Wenn ich all die Tränen aufgefangen hätte, die ich damals vergoss, hätte ich später meine Trainingssachen darin waschen können.
Dann nahm ich das erstemal an einem Winterlager teil. Das „stählte“ den Kör-per. Als wir wieder zurück waren, ließ mich Max zum ersten Mal in der Halle star-
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ten. Wie immer war ich mächtig aufgeregt, siegte aber gegen über Gisela Köhler und Elfriede Preibisch. Das Training hatte sich gelohnt.
Dann begann die Freiluftsaison neunzehnhundertdreiundfünfzig mit stattlichen Erfolgen. Bei den Hochschulmeisterschaften in Krakow liefen Alice Karger, Ulla Jurewitz (Donath), Annemarie Clausner und ich die 4X200-Meter-Staffel und er-zielten neuen Weltrekord mit 1:39,5 Minuten. Ich lief die 200 Meter erstmals in 24,9 Sekunden, und über 100 Meter erfüllte sich die Prophezeiung von Max: Ich lief die für mich sagenhaften 11,9 Sekunden.
Bei den Weltfestspielen in Bukarest schaffte ich mit 23,9 Sekunden einen neu-en deutschen Rekord. Auch über 100 Meter schaffte ich mit 11,7 Sekunden einen neuen Rekord und da wir in der 4X100Meter-Staffel 46,5 Sekunden liefen und da-bei ebenfalls erfolgreich waren, errangen wir drei Goldmedaillen. Nach Hause zu-rückgekehrt, wurde ich mit dem Titel „Meister des Sports“ ausgezeichnet. Ich kam voran! Neunzehnhundertvierundfünfzig startete ich das erste Mal in Budapest – und begann davon zu träumen, vielleicht bei den Olympischen Spielen dabei sein zu können. Allerdings sagte ich mir immer wieder: „Ich glaube erst daran, wenn wir in Melbourne sind.“ Vor diesen Spielen lagen nämlich endlose Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Olympischen Komitees. Wir bereiteten uns so in-tensiv wie möglich vor, damit wir im Dezember in Hochform wären.
Wir schinderten uns im Wintertraining in Wäldern, übten Tempoläufe, dann folg-te das Skitraining. Zweimal in der Woche stiegen wir die Hänge hinauf. Mit Schei-benhanteln, Rundgewichten und an der Sprossenwand wurde Muskelkraft entwi-ckelt.
Mitte Juni bis August folgten Wettkämpfe. Im September legten wir eine Pause ein und dann begann das Wintertraining. Zur klimatischen Gewöhnung fuhren wir für acht Wochen nach China und absolvierten dort ein spezielles Training. Auf dem Flug nach China feierte ich meinen Geburtstag gefeiert. Im Flughafenrestau-rant in Moskau begossen wir ihn mit einem Glas. Bei den Zwischenlandungen probierten wir fleißig, mit Stäbchen zu essen, dem auch das wollten wir beherr-schen.
ALS GÄSTE IN CHINA
Gleich bei der Ankunft lernten wir die chinesische Höflichkeit kennen. Unsere Sachen, die wir unterwegs getragen hatten, hatten wir auf die Stühle gelegt. Als wir zurückkamen, waren sie weg. Wir rätselten, wo sie geblieben sein könnten. Am nächsten Nachmittag war die Wäsche gewaschen, geplättet und gebündelt wieder da. Viel Spaß machten uns die Einkaufsbummel. Die Geschäftsstraßen waren dort so angelegt, dass man in einer Straße in allen Geschäften die gleichen Produkte erhielt. Wenn wir einiges gekauft hatten, riefen wir nach einer Rikscha, sagten die Adresse an, zahlten und wenn wir nach Hause kamen, lag alles bereit.
Viele Menschen wohnten auf den Flüssen in Dschunken. Wir stiegen dort auf und waren überrascht von der peinlichen Sauberkeit.
Es gab regelrechte Straßen auf dem Wasser, weil Tausende dieser Wohnboote Bord an Bord lagen. Selbst die Kinder spielten von Boot zu Boot und alle hatten zum Schutz vor dem Ertrinken einen Korkgürtel um den Leib.
Zurück in der DDR standen uns die entscheidenden Prüfungen für die Teilnah-me an den Spielen bevor.
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Beim II. Deutschen Turn- und Sportfest in Leipzig, kam es zu den ersten Aus-einandersetzung mit den Sportlern der Bundesrepublik. Zu dieser Zeit machte mir mein Bein zu schaffen und vor allem verließ mich mein Selbstvertrauen. Das lag auch an den fast täglich in der BRD erscheinenden Nachrichten, ich träge mich mit der Absicht, die Deutsche Demokratische Republik zu verlassen. Das nervte mich derart, dass ich jeden Lauf verloren gab, wenn Gisela Köhler am Start erschien.
Vor einem Abendsportfest hatte ich mich schon damit abgefunden, ich es nicht schaffen würde.
Plötzlich hörte ich: „Max ist da!“ Ich schwor mir: Du darfst ihn jetzt nicht ent-täuschen! Ich riss mich zusammen und schaffte es. Im Vorlauf sprintete ich 11,6 Sekunden und schaffte im Endlauf die gleiche Zeit. Damit war mir die Fahrkarte so gut wie sicher.
Am gleichen Abend klappte es auch mit der Staffel: Wir - Gisela Henning, Gise-la Köhler, ich und Bärbel Mayer - schafften 45,6 Sekunden und das war eine Zeit, die international Aufsehen erregte.
Und dann holte ich mir eine schwere Bronchitis und musste ins Bett. Die ande-ren reisten ohne mich nach Budapest, während ich Mühe hatte, wieder in Gang zu kommen. Als wir endlich nach Melbourne aufbrachen, gab mir Max einen genauen Plan mit, den ich auch gewissenhaft eingehalten habe.
Seid mir nicht böse, wenn ich mich über Melbourne und dem Drum und Dran zuweilen respektlos äußere, aber dort gingen uns manche Illusionen verloren und manchmal fiel es schwer, an die olympische Idee zu glauben.
Wir Sportler merkten sehr bald, daß man sich in diesem fünften Erdteil nach Kräften bemüht, in jeder Beziehung amerikanischer als in Amerika zu sein. Am meisten merkte man diese Absicht bei der geschäftstüchtigen, dafür um so un-sachlicheren Presse. Die Zeitungen erscheinen mehrmals täglich. Um sie abzu-setzen, braucht man also viel Stoff und Sensationen um jeden Preis. Dabei speku-liert man von vornherein auf die Oberflächlichkeit der Leser und nimmt es mit der Wahrheit nicht sehr genau. Bei uns würde jedes dieser Blättchen einen schnellen Konkurs erleben.
Wir DDR-Sportler waren von solchen Propagandamethoden bald angewidert und von Stunde an bestrebt, den dortigen Zeitungsleuten aus dem Wege zu ge-hen.
Nach unserer Ankunft im Olympischen Dorf kamen die Gazetten mit Schlagzei-len heraus, die von einem heftigen Streit im deutschen Lager berichteten, der an-geblich darüber ausgebrochen sein sollte, ob man die ost- oder die westdeutsche Flagge hissen sollte. Die Dummköpfe wussten also nicht mal, dass wir die gleiche Fahne hatten. Nie wurde dieser Unsinn dementiert; aber am nächsten Tag er-schienen neue Sensationen.
Wir hatten noch nie Olympische Spiele erlebt. Unser Maßstab waren Weltfest-spiele. So empfanden wir manches als enttäuschend. Am Tage der Eröffnung mussten wir uns zwei Stunden vor der feierlichen Eröffnung auf dem Stellplatz ein-finden. Wir trugen unsere Festkleidung: Ein weißer Rock, eine rote Jacke und da-zu ein Hut. Gisela und ich mit Hut! Vielleicht das erste Mal im Leben.
Der Einmarsch begann, die Massen tobten; der ohrenbetäubende Jubel schwoll zum orkanartigen Gebrüll an, als der Duke, der Herzog von Edinburgh, erschien. Vom langen Stehen waren uns schon die Füße geschwollen, und wir zogen unse-
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re blitzneuen Schuhe aus. Hinterher hatte mancher zwei linke, weil sie in der Auf-regung vertauscht worden waren.
Die Spiele waren eröffnet, für uns begannen die Wettkämpfe und für Gisela und mich ging es über die 100-Meter-Distanz. Die Vorläufe brachten kaum Überra-schungen. Gisela und ich konnten uns gegenseitig unterstützen. Ich war froh, denn meist war ich aufgeregt vor dem Start, manchmal heulte ich sogar. Erst wenn das Startkommando kommt, schaltet alles ab.
Dann die Zwischenläufe. Hier traf ich das erstemal auf die australische Favoritin Betty Cuthbert. Wie es kam, weiß ich nicht, jedenfalls gewann ich. Am Sonntag war Pause, weil die australische Kirche durchgesetzt hatte, dass Sonntags keine Wettkämpfe stattfanden. Heinz Birkemeyer versuchte, dass wir den Sonntag nicht „vergrübelten“ und gewann die Journalisten für uns in der Stadt in deren Quartier eine Kaffeerunde zu decken. Anschließend bummelten wir durch den Botanischen Garten.
Am Montag war ich recht ruhig. Erst im Stadion bekam ich Herzklopfen. Gisela war wieder bei mir, obwohl sie eigentlich bereits ausgeschieden war. Das war gut für mich und nett von ihr. Sie lief sich auch mit mir zusammen ein.
Vor uns waren Betty Cuthbert und die US-Amerikanerin Mathews ins Stadion gekommen. Das Publikum begrüßte Betty mit ohrenbetäubendem Geschrei. Ich lernte die Australier als ein oft ausgesprochen subjektives Publikum kennen.
Ich blickte ein letztes Mal zu der kleinen Gruppe der deutschen Sportler, die im Stadion saßen und mir heftig zuwinkten.
Dann kam das Kommando: „Auf die Plätze!“
Ich hockte mich ins Startloch achtete darauf, dass ich nicht über die Linie griff und etwa einen Fehlstart verursachte. Plötzlich das Kommando: „Get off!“
(„Aufstehen“) Verblüfft fragte ich mich beim Aufstehen, was passiert sein könn-te? Der Starter kam auf mich zu und redete auf mich ein. Ich verstand kein Wort. Er schien zufrieden zu sein und ging zu seinem Platz zurück.
Wieder: „Auf die Plätze.“ Wieder hockte ich mich hin, konzentrierte mich ... wie-der: „Get off!“
Und wieder kam der Starter zu mir. Ich war völlig entnervt. Zwei Verwarnungen bedeuteten Disqualifikation. Wieder sagte der Starter etwas zu mir. Wieder begriff ich nichts. Ich wunderte mich nur, dass er mich nicht wegschickte. Also nicht dis-qualifiziert! Ich war völlig verkrampft.
Endlich der erlösende Schuss. Ich reagierte nicht ideal, kam aber einigermaßen aus den Blöcken. Betty und ich lagen lange auf gleicher Höhe. Doch bei etwa 80 Metern war ich zu weit in der Vorlage, kam ins Stolpern, ruderte verzweifelt mit den Armen. Aber Betty war weg und als Erste im Ziel. Ich war sicher, dass ich Zweite geworden war. Sofort lief ich zum Starter und ein Journalist übersetzte meine Frage, warum er mich ermahnt hatte. Die Antwort verblüffte mich: „Ihre Knie haben gezittert, das musste die anderen stören“, erklärte er mir gelassen. Gleich darauf erlebte ich die nächste Aufregung. Die Kampfrichter hatten die ersten drei zur Siegerehrung geholt: Cuthbert, Mathews und die USA-Amerikanerin Daniels. Von mir nahm niemand Notiz. Auf der großen Anzeigetafel war nur der Name Betty Cuthbert erschienen und der Hinweis: Die Platzierung wird durch Zielfoto entschieden!. Enttäuscht ging ich zu Gisela. Wir wollten gerade gemeinsam das Stadion verlassen, als ein Kampfrichter hinter uns hergerannt kam. Aufgeregt rief er: „Frau Stubnick!, Frau Stubnick!'
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Er holte mich zur Siegerehrung.
Und so stieg ich aufs Podest und nahm die Silbermedaille in Empfang. Harry Glass hatte im Winter in Cortina eine Bronzemedaille erkämpft, nun hielt ich Sil-ber in der Hand! Und am Mast wurde die schwarzrotgoldene Flagge gehisst.
Mein Blick suchte die kleine Kolonie der deutschen Sportler im Stadion, und ich sah, dass man dort außer Rand und Band war.
Dann stürmten Reporter auf mich zu. Der erste fragte: „Wissen Sie schon, dass Sie Zweite geworden sind?“
Dann wurden wir in den Interviewraum geführt und die Fragen wurden nicht besser: „Warum sind Sie nach Australien gekommen?“ „Wieviel Likör trinken und wieviel Zigaretten rauchen Sie in der Woche?“ „Glauben Sie, daß Sie gewonnen hätten, wenn Betty Cuthbert nicht hier gewesen wäre?“
Im Olympischen Dorf brachte man uns Blumen und Glückwünsche von allen Seiten. Der Koch hatte sich eine besondere Überraschung ausgedacht. Er schenkte mir eine riesige Eisbombe mit den fünf bunten Ringen, die wir mit viel Appetit bei einer kleinen Feier verputzten.
Nach einem Tag Pause begannen die Vorläufe für die 200 Meter. Beim Vorlauf fühlte ich mich nicht besonders gut. Norma Croker (Australien), Giuseppina Leone (Italien) und die Negerin Eller (USA) waren in meinem Lauf, und wir kamen in der Reihenfolge: Stubnick, Croker, Leone und Eller ein. Leone und Eller mußten aus-scheiden.
Beim Zwischenlauf fühlte ich mich wieder besser. Mit mir liefen Cuthbert, Cro-ker, Itkina, Scrivens (England), Lerczak (Polen).
Itkina schied nach diesem Lauf aus. Das war für mich eine große Überra-schung, denn sie hielt ich über die 200-m-Distanz für besonders stark.
Ich gab mich im Zwischenlauf nicht voll aus und wurde Zweite hinter Betty Cuthbert.
Am nächsten Tag war der Endlauf. Ich kam zu spät zum Frühstück. Als ich frag-te, ob die Bahnen schon ausgelost worden waren, sagte die Westdeutsche Erika Fisch „Du tust mir leid!“ Als ich fragte warum, antwortete sie: „Na ja, Du hast die besch ... Bahn 6, ganz außen!“
Auf dieser Bahn spielt man den Hasen für die anderen. Diesmal war Gisela mit im Endlauf. Wir liefen uns zusammen ein und passten die Startblöcke an. Als ers-tes gab es einen Fehlstart. Gisela hatte ihn verursacht. Der zweite klappte. In der Kurve lagen wir alle noch gleichauf. Die ersten 100 Meter ging ich mit 11,5 Sekun-den an. Bei 130 Metern konnte Betty Cuthbert einen knappen Meter gewinnen. Den holte ich nicht mehr auf. Die Entscheidung war diesmal klar und ich hatte meine zweite Silbermedaille.
In der Staffel hatten wir alles Pech der Welt. Das hatte damit begonnen, dass die Weltrekordstaffel aus der DDR gesprengt wurde und nacheinander drei bun-desdeutsche Läuferinnen eingesetzt wurden. Dann räumten die Australier unsere Markierungszeichen weg. Wir wurden sechste! Bliebe noch zu berichten, dass wir eines Abends in den Deutschen Klub zu einer Party eingeladen worden waren und mich dort ein Mann erst zum Tanz holte. Beim Tanz wollte er mich überreden, bei ihm in Australien zu bleiben. Kess fragte ich ihn: „Was hätten sie denn zu bieten?“ Darauf er: „Spätestens in zwei Jahren ein eigenes Haus, ein Auto…“ Ich flog also wieder zurück in die DDR und blieb dort, arbeitete sogar bei der Volkspolizei.
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VON GOLDMEDAILLEN UND ANDEREN
ÄRGERNISSEN
Von RUPERT KAISER
Der renommierte Olympiahistoriker Rupert Kaiser aus Gardelegen schrieb unlängst ein Kapitel mehr über Olympia-Anekdoten. Wir hielten das Thema und vor allem seine Ausführung für reizvoll genug, hier einen Auszug zu ver-öffentlichen.
Vorweg…
Ich war der Schlechteste! Wirklich! der schlechteste Schüler, der im Sportunter-richt an den Schulen von Brandenburg an der Havel zu finden war. Ob Leichtathle-tik, Spiele, Gerätturnen – vom Schwimmen gar nicht zu reden – meine einzigen Erfolge waren Lacherfolge. Ansonsten war ich auf die schlechtesten Noten, die die Zensurenskala damals zu bieten hatte, gewissermaßen abonniert. Nur einmal wies das Klassenbuch für mich im Sport eine blanke „1“ aus – und ein Lob noch obendrein. Das war, als wir Olympiamappen anfertigen sollten. Sammeln, aus-schneiden, kleben – so was machte mir Spaß. Wenn’s unbedingt sein musste, eben auch zu den Olympischen Spielen.
Bob Beamon war gerade Achtmeterneunzig weit gesprungen. Unfassbar für ei-nen, dessen Hausrekord mit Rückenwindunterstützung und Zudrücken sämtlicher Sportlehreraugen bei Dreidreiunddreißig lag. Achtmeterneunzig – wie so was wohl möglich war? Oder neunkommaneun Sekunden über 100 m? Fragen über Fragen! Ich suchte und fand Antworten. Bei Mezö und Ullrich, Kluge und Oertel, später bei Kamper, Wallechinsky und Mallon. Und weil der Geschmack beim Essen kommt, ließen mich die Olympischen Spiele nicht mehr los.
Meine Liebe gehörte übrigens von Anfang an den kleinen Geschichten am Rande. Und da besonders – Sie werden es auf den folgenden gut neunzig Seiten merken – den großen Verlierern, den Pechvögeln, den Letzten…
Woran das wohl liegen mag?
1900: Die „Chaotischen“ Spiele
Die Olympischen Spiele von 1900 waren an die Pariser Weltausstellung gekop-pelt, was ihnen nicht gut tat. Nicht nur, dass die Sporthistoriker noch heute Mühe haben, aus den fast 400 Wettkämpfen die wirklich olympischen „herauszufiltern“. Auch die Aktiven wähnten sich nicht auf Olympischen Spielen. Wie sollten sie auch? Es fehlte jegliche Werbung, die Wettbewerbe waren den Ausstellungsabtei-lungen angeschlossen, zu denen sie gerade passten, die Wettkampfbedingungen entsprachen nicht denen eines großen Sportereignisses.
Und statt Medaillen gab es Sachpreise, verteilt nach dem Gießkannenprinzip. Wer da einen Kunstgegenstand, gestiftet von einem großzügigen Förderer, oder sogar Geld abbekommen hatte, konnte noch von Glück sagen! Denn für die meis-
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ten Sieger standen nur Kleinigkeiten zur Verfügung: Portemonnaies, Brieftaschen, Pantoffeln, Spazierstöcke… Ja, sogar Sockenhalter sollen einige Platzierte erhal-ten haben.
Erst lange nach den Spielen wurden den Teilnehmern primitive Erinnerungspla-ketten und Urkunden zugesandt. Oder auch nicht.
Zum Beispiel erfuhr der französische Radsportler Georges Taillandier erst nach sechzig Jahren in einer Fernsehsendung, dass er im Jahre 1900 Olympiasieger geworden war. Bis dahin hatte er den Wettbewerb für ein ganz alltägliches Rad-rennen gehalten.
Jahrzehntelang übersehen
„Was die Beteiligung der Damen an den Olympischen Spielen anbetrifft, so bleibe ich ihr abgeneigt …“ – diese Worte stammen von keinem Geringeren als Pierre de Coubertin, der den Frauensport auch mit den Attributen „unpraktisch, un-interessant, unästhetisch und unkorrekt“ belegte. Er setzte sich glücklicherweise mit seinen Ansichten nicht durch. Heute gewinnen Frauen fast die Hälfte aller Olympiamedaillen, und bereits 1900 in Paris wurde die Tür zu dieser Entwicklung einen Spaltbreit geöffnet. 23 Frauen starteten im Tennis, Golf, Krocket und – wie erst in jüngster Zeit entdeckt wurde – im Segeln. Und mit dieser Entdeckung muss die olympische Geschichte umgeschrieben werden!
Denn bisher galt die britische Tennisspielerin Charlotte Cooper, die am 9. Juli das Einzel und zwei Tage später mit dem berühmten Tenniscrack Reginald Doher-ty auch die Mixed-Konkurrenz gewonnen hatte, als erste Olympiasiegerin über-haupt. War sie aber nicht!
Weil die Statistiken der Segelregatten von Paris lange Jahre große Lücken auf-wiesen, fiel es erst jetzt auf: Zur Crew des Schweizer Siegerbootes der 2-Tonnen-Klasse, der „Lérina“, die von Herman Graf de Pourtalès gesteuert wurde, gehörte auch seine Gattin Helen. Das war 22. Mai – sechs Wochen bevor die nächsten Damen die olympische Arena betraten. So ist Helen Gräfin de Pourtalès aus der Schweiz nicht nur die erste Olympiasiegerin, sondern überhaupt die erste Frau, die je bei Olympischen Spielen an den Start ging.
1904 Turnende „Trojaner“
Das war schon eine herbe Enttäuschung für die Söhne Turnvater Jahns. Da hatte sich die Deutsche Turnerschaft, die eigentlich von der Olympischen Idee weniger als nichts hielt, endlich einmal aufgerafft, ihre besten Turner zu den Spie-len zu schicken, um verlorenen Ruhm aufzupolieren, und dann so was! Von zwei schon bejubelten Olympiasiegen war schließlich nicht einer übrig geblieben!
Die sechs Deutschen turnten in einer anderen Liga und hätten die Mann-schaftswertung locker gewonnen – wenn die nicht in weiser Voraussicht nur Clubmannschaften vorbehalten gewesen wäre. Also kam das deutsche National-team gar nicht erst ins Klassement. Aber wenigstens hatte man einen Einzelsie-ger: Adolf Spinnler siegte im „Turnerischen Dreikampf“. Doch auch das erwies sich als Luftnummer. Spinnler arbeitete zwar im schwäbischen Esslingen und war auch mit der deutschen Riege nach St. Louis gekommen. Doch im Herzen und dem
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Pass nach war er Schweizer. Darauf legte er größten Wert. Und darauf, das Gold für die Eidgenossen gewonnen zu haben…
Übrigens lag die Sache beim Sieger im „Großen Mehrkampf“ ganz ähnlich. Der gebürtige Wiener Julius Lenhart hatte nie um die USA-Staatsbürgerschaft nach-gesucht. Er war Österreicher und siegte auch als solcher.
So kamen die Schweiz und Österreich, obwohl sie offiziell gar nicht dabei wa-ren, mit Hilfe ihrer turnenden „Trojaner“ in die Siegerlisten von 1904.
1912: Die Ringer mit dem langen Atem
Viel Ringkampf fürs Geld bekamen die Zuschauer im heißen Stockholmer Olympiastadion zu sehen, hatten doch die Organisatoren festgelegt, dass in den Vorkämpfen eine Runde immerhin eine volle Stunde dauern durfte. War dann noch nichts entschieden, wurde noch eine halbe draufgepackt. Irgendwelche Witzbolde, die wahrscheinlich noch nie bei 30°C auf einer Matte gestanden, ge-schweige auf ihr gerungen hatten, hatten sich für die Finalkämpfe noch etwas ganz Besonderes ausgedacht: Da musste nämlich so lange gerungen werden, bis einer auf den Schultern lag. Und das dauerte manchmal etwas länger.
Im Mittelgewicht standen sich der Russe Martin Klein und der Finne Alfred Asi-kainen gegenüber. Um 9:30 Uhr gab der Schiedsrichter den Kampf frei und erst nach 11 Stunden und 40 Minuten hatte Klein seinen Gegner ausgehebelt. Eigent-lich sollten beide am selben Abend auch noch gegen Lokalmatador Johanson an-treten. Weil sie aber kaum noch fähig waren, sich auf den Beinen zu halten, schenkten sie dem Schweden die Goldmedaille.
Am nächsten Morgen ging es im Halbschwergewicht zwischen Ivar Böhling und Anders Ahlgren um den Olympiasieg. Nachdem sich die beiden „Kampfhähne“ aber 9 Stunden und 20 Minuten lang untätig verhielten, fasste sich der Schieds-richter ein Herz und brach den Kampf rigoros ab. Das Gold blieb im Tresor…
1924: Besser später als nie…
Eine der am meisten erzählten olympischen Anekdoten ist die vom USA-Skispringer Anders Haugen, der in Chamonix die Bronzemedaille wegen eines simplen Rechenfehlers an Thorleif Haug, den Skikönig jener Spiele, verloren hat-te, sie aber 50 Jahre danach aus den Händen der Haug-Tochter doch noch erhielt. Damals war er 86 Jahre und galt als der älteste Mensch, der je mit olympischem Edelmetall geehrt wurde.
Aber Rekorde sind selten für die Ewigkeit, und so kam es 2006 noch besser: Die 109. Tagung des IOC hatte beschlossen, den Curling-Wettbewerb von 1924 mit 82-jähriger Verspätung als „echte“ olympische Konkurrenz anzuerkennen. Bis dahin galt das Turnier immer nur als Vorführungswettbewerb. Doch Doug Gillon, Journalist der schottischen Zeitung „The Glasgow Herald“, hatte lange Jahre hin-durch geforscht und schließlich die entscheidenden Dokumente auf den Tisch der Olympiaoberen legen können. So kam Großbritannien – damals vertreten durch ein schottisches Team –, Schweden und Frankreich zu Medaillen der I. Olympi-schen Winterspiele wie die berühmte Jungfrau zum Kind. Freilich nur zu Repliken, denn dergleichen ist auch in den Tresoren des IOC nicht in unbegrenzter Zahl vor-
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rätig. Die Medaillen wurden übrigens an die Curling-Verbände vergeben – von de-nen, die damals auf dem Eis standen, lebt niemand mehr…
1928: Einmal so und einmal anders
In Amsterdam musste man zum letzten Mal in der Geschichte Olympias ohne das dreistufige Siegertreppchen auskommen. Man begnügte sich stattdessen da-mit, nach dem Wettbewerb zu Ehren des Siegers dessen Hymne zu intonieren und die Flagge zu hissen.
Für das Turmspringen der Herren ertönte die ägyptische Hymne, während am Fahnenmast die grüne Flagge mit Halbmond und Sternen aufstieg. Farid Samaika, einer der Publikumslieblinge, hatte überraschend die Goldmedaille erobert – zu-mindest für ein paar Minuten. Man wollte wohl das feierliche Zeremoniell nicht stö-ren, das dem Ägypter galt. Aber unmittelbar danach verkündete der Stadionspre-cher, dass nicht Samaika, sondern der US-Amerikaner Ulise Desjardins gewonnen hatte und eine neue Ehrung unmittelbar bevorstünde. Die Jury hatte nämlich ent-deckt, dass ihr ein arger Fehler unterlaufen war. Sie hatte schlicht und einfach vergessen, die zum letzten Mal entscheidenden Platzziffern zu berücksichtigen. Der Ägypter hatte zwar die höhere Punktzahl, aber der Yankee war von den Kampfrichtern besser platziert worden. Als sich der Tumult gelegt hatte, wurde Desjardins geehrt.
Weshalb allerdings drei Tage vorher Samaika trotz besserer Platzziffer die Sil-berne im Kunstspringen dem USA-Mann Galitzen überlassen musste, das wissen wohl nur die olympischen Götter…
1948: Fünfkämpfer blieben Zaungast
Damals und noch viele Jahre danach gab es sogenannte Vorführungswettbe-werbe. Damit klopften neue Sportarten und Disziplinen an Olympias Tür, um eines Tages fester Bestandteil des Programms zu werden. Das gelang oft, aber nicht immer.
Eine Sportart, die vor der Tür blieb – oder, wenn man so will, in „abgespeckter“ Form ihren Platz bei Olympia fand –, war der Winterfünfkampf. Mit ihm sollte ver-sucht werden, dem Modernen Fünfkampf, der – obwohl von Coubertin erfunden – immer nahe der Verbannung von den Spielen war, eine Lobby zu geben.
Die Wintervariante bestand aus 10 km-Langlauf, Degenfechten, Pistolenschie-ßen, Abfahrtslauf und Geländeritt. Man hatte ein illustres Feld aufgeboten, darun-ter die starken Schweden, die mit Gustaf Lindh, William Grut und Bertil Haase auch die ersten drei Plätze belegten. Es gab schöne Kämpfe, aber besonders der Abfahrtslauf, bei dem sich etliche schwere Stürze ereigneten, und die Mühen, die die Pferde mit der glatten Geländestrecke hatten, sorgten dafür, dass die Fünf-kämpfer künftig Zaungast bei Winterspielen blieben.
Für William Grut war der Ausflug in Schnee und Eis allerdings eine gelungene Generalprobe – ein halbes Jahr später wurde er beim „richtigen“ Fünfkampf Olym-piasieger.
Und was die „abgespeckte“ Form betrifft: 1960 erlebte Biathlon seine Olympiap-remiere – und auch da gewann mit Klas Lestander ein Schwede.
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1952: Lis
Henri Saint Cyr, schwedischer Kavallerieoffizier und mehr als ein Jahrzehnt lang bester Dressurreiter der Welt, galt auch als Kavalier alter Schule. Auf schöns-te Weise stellte er das bei der Siegerehrung des Einzelwettbewerbs unter Beweis. Den hatte der Schwede natürlich gewonnen und stand bereits auf dem höchsten Treppchen. Er stieg aber spontan wieder herunter, als die Dänin Lis Hartel – erst-mals waren Frauen im Reiten zugelassen – als Silbermedaillengewinnerin verkün-det wurde. Der 50-Jährige beeilte sich, seiner Konkurrentin vom Pferd zu helfen, machte eine formvollendete Verbeugung und hob die Reiterin auf das Podium. Erst dann nahm er unter dem Jubel des Publikums seinen Platz wieder ein.
Die, der er geholfen hatte, war eine der ganz großen Frauen der Olympiahisto-rie.
Schon in den vierziger Jahren eine hervorragende Reiterin, erkrankte sie plötz-lich an Spinaler Kinderlähmung. Die Ärzte prophezeiten, dass sie ihr Leben lang an den Rollstuhl gefesselt bleiben würde. Doch Lis war nicht bereit, sich in dieses Schicksal zu fügen, und machte mit unbeugsamer Willenskraft das Unglaubliche wahr: Sie ritt wieder Turniere, qualifizierte sich für Olympia, gewann Silber in Hel-sinki und vier Jahre später auch in Stockholm.
Allen Gelähmten zu zeigen, wie sinnlos es ist, Mut und Hoffnung zu verlieren, das war das Ziel der Lis Hartel. Sie hat es erreicht!
1972: „Medienstar“ Anzeigetafel
Wenn plötzlich die Anzeigetafel im Mittelpunkt des Medieninteresses steht, muss schon etwas ganz Besonderes passiert sein. Zum Beispiel ein Ereignis vom Rang des 400 m-Finales der Lagenschwimmer, dessen Endphase sich zum wah-ren Thriller entwickelte.
Dem Schweden Gunnar Larsson war es nämlich gelungen, den Führenden, Tim McKee, auf den letzten Millimetern einzuholen. Es hatte gerade gereicht, zeit-gleich mit dem USA-Mann anzuschlagen. Der Kampfgeist schien sich gelohnt zu haben: Auf der Anzeigetafel wurden beide nach „Totem Rennen“ mit jeweils 4:31,98 Minuten als Sieger ausgewiesen. Eine weise Entscheidung! Ein Thriller mit Happy End…
Denkste! Die Anzeige verlöschte, um sofort mit neuen Zahlen wieder aufzu-leuchten. Denn: Die Zeitmessanlage machte erstmals bei Olympia eine auf Tau-sendstelsekunden genaue Ergebnisermittlung möglich. Und diese Möglichkeit wurde nun knallhart ausgeschöpft. Mit einem Ruck richteten sich Objektive und Kameras auf die Tafel. Da stand es gelb auf schwarz: „1. Larsson SWE 4:31,981; 2. McKee USA 4:31,983.“
Zwei Tausendstelsekunden, ein Wimpernschlag, hatten über Gold und Silber entschieden. Zum ersten und glücklicherweise auch zum letzten Mal wurde eine solche „Rangfolge“ erzwungen. Seither werden bei bis auf die Hundertstel glei-chen Zeiten die Plätze geteilt.
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ZITATE
Claudia jubelt und telefoniert mit Anwälten
Claudia Pechstein feierte im niederländischen Heerenveen ein glanzvolles Weltcup-Comeback. Nachdem sie bereits in Tscheljabinsk und Astana 362 Welt-cuppunkte erkämpft hatte, setzte sie am Freitag und Sonnabend ihren Triumph fort. Über 5000 m ließ die 39jährige Berlinerin nur der Tschechin Sablikova den Vortritt und holte sich an beiden Tagen weitere 98 Punkte. Dass sie sich dabei über 1500 m mit dem 13. Rang begnügen musste, minderte die Bilanz kaum. Mit diesen imponierenden sportlichen Leistungen geht die Rehabilitierung der erfolg-reichsten Winter-Olympionikin in eine neue Runde: Pechstein kündigte Prozesse gegen den deutschen und den internationalen Eislaufverband an und soll enorme Entschädigungsforderungen angekündigt haben. Und während sie – darf man an-nehmen – ihr beispielloses Comeback auf dem Eis fortsetzt, dürften Rechtsanwäl-te in der nächsten Zeit vor allem ihre Gesprächspartner sein.
Tatsächlich ist der Fall Pechstein nicht nur eine bewundernswerte sportliche Leistung – faktisch hat sie sich bereits für ihre sechsten(!) Olympischen Winter-spiele qualifiziert – sondern dürfte auch Juristen noch lange beschäftigen. Die Af-färe begann am späten Abend des 7. Februar 2009 im norwegischen Hamar mit einem ungewöhnlichen – und durch keine Regel gedeckten – Schritt des ISU-Funktionärs Harm Kuipers. Er empfahl dem BRD-Mannschaftsleiter Helge Jasch, noch in der Nacht Claudia Pechstein zu überreden, sich krank zu melden und auf den Start bei den Weltmeisterschaften zu verzichten. Kuipers behauptete, es lä-gen „ungeklärte Dopingwerte“ Pechsteins vor, legte aber weder irgendein Doping-Kontroll-Protokoll vor, noch kündigte er eine Kontrolle – notfalls noch in der Nacht – an. Claudia Pechstein folgte der Empfehlung, meldete sich am nächsten Morgen ab und reiste nach Hause. Danach wurde sie vom Internationalen Verband für zwei Jahre gesperrt, verlor ihren Job und ihre Sponsoren. Verzweifelt kämpfte sie gegen diese Intrige, die von den führenden bundesdeutschen Medien mit Schlag-zeilen wie die von Evi Simeoni in der „FAZ (25.11. 2009) „Pechsteins düsteres Ende“ und Kommentarsätzen wie „…ihr Renommee als Repräsentantin deutscher Spitzenleistung ist dahin“ geführt wurden. Wer nach den Motiven für diese Kam-pagne suchte, fand sie auch in der „Welt“ (6.8.2009): „Hinzu kommt, dass Pech-steins langjähriger Trainer Joachim Franke (…) trotz eigener Dementis einschlägi-gen Stasiakten zufolge in der DDR-Forschungsgruppe `Zusätzliche Leistungsre-serven´ mitgearbeitet hat. Das Vorhaben mit dem harmlos klingenden Titel hatte eine klare Zielsetzung: Doping.“
Nun also droht den Initiatoren des Pechstein-Kreuzzugs Ärger. Eilig versicherte „Welt online “ ( 3.12.2011): „Von einer rückwirkenden Rehabilitierung der Eis-schnellläuferin kann keine Rede sein, stellen die deutschen Dopingfahnder klar.Der Brief aus der Heussallee 38 in Bonn erreichte Claudia Pechstein (39) un-ter der Woche per Einschreiben mit Rückschein, und sein Inhalt ist für die rastlos um ihre Reputation kämpfende Eisschnellläuferin wohl wichtiger als Podestplätze.
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(...) Nun teilte die Nationale Antidopingagentur (Nada) Pechstein in dem Schreiben mit: `Anhaltspunkte für einen möglichen Verstoß gegen Antidopingbestimmungen haben sich nicht erhärtet.´ (...) Mit der Stellungnahme der Nada `hat jeder meiner Kritiker erstmals schwarz auf weiß, dass ich auch im zarten Alter von fast 40 Jah-ren meine Spitzenleistungen völlig sauber aufs Eis bringe´, kommentiert Deutsch-lands erfolgreichste Winterolympionikin süffisant.”
(junge Welt; 5.12.2011)
Täve Schur "Geldverdienen, Essen, Fernsehen, Reisen"
Täve Schur ist der beliebteste Sportler der DDR-Geschichte. Er saß in der DDR-Volkskammer und im Bundestag. Nun stellt er sein Buch vor, und kritisiert die Gesellschaft.
Ein kurzer Tusch, dann rollt er herein. Begleitet von Blasmusik kommt Gustav-Adolf Schur auf einem Rennrad durch die Eingangstür gefahren. Doch was als Triumphzug geplant war, gerät zum Hindernisparcours. Der ehemalige Radfahrer hat sichtlich Mühe, vorn am Rednerpult anzukommen, so viele Leute tätscheln ihm auf die Schulter. Vereinzelte "Täve, Täve"-Rufe werden laut, Schur winkt selig in den überfüllten Saal.
Auch Jahrzehnte nach dem Ende seiner aktiven Karriere hat Schur, im Volks-mund Täve genannt, hat kaum etwas von seiner einstigen Popularität im Osten eingebüßt. Gute Voraussetzungen also, um seine Autobiographie vorzustellen. Um dem Publikum Täve – Die Autobiographie zu präsentieren, hat Schur den Münzenbergsaal im Redaktionsgebäude des Neuen Deutschland ausgewählt. Ein historischer Ort, in dessen Umgebung sich Schur merklich wohl fühlt.
Dazu trägt auch die Zusammensetzung des Publikums bei, unter den Hörern erblickt Schur alte Weggefährten und Freunde, die vertraute Umgebung lässt ihn euphorisch werden. "Wenn wir einander begegnen, liegt das Du im Blut", ruft Schur dem Publikum zu. Jubel brandet auf. Und dann: "Jüngere Leute haben es schwer, sie haben nicht das Glück, erleben zu können, wie vertraut wir miteinan-der umgegangen sind. Diese Solidarität ist heute nicht mehr selbstverständlich." Wieder Jubel.
Es fällt schwer, Schur nicht in die Kategorie derer einzuordnen, die behaupten, früher wäre alles besser gewesen. Hätte Schur etwas anderes behauptet, sein Publikum wäre wohl enttäuscht gewesen. Täve Schur ist bis heute der beliebteste Sportler der DDR-Geschichte. Zu seiner aktiven Zeit wurde er zweimal Straßen-rad-Weltmeister und durch seine erfolgreichen Teilnahmen an der Friedensfahrt, der Tour de France des Ostens, bekannt. Seine volksnahe und menschliche Art machte ihn beim Publikum beliebt.
Im Gegensatz zu anderen Sportlern engagierte sich Schur stark in der Politik und saß viele Jahre als Abgeordneter in der Volkskammer der DDR. Nach dem Mauerfall zog er von 1998 bis 2002 für die PDS in den Bundestag ein. Zu dieser Zeit setzte sich Schur immer wieder für den Breitensport ein, das Thema ist ihm bis heute wichtig.
Und so erzählt Schur, der in wenigen Tagen 80 Jahre alt wird, von der "hervor-ragenden Betreuung", die ihm vom Kindergarten an zuteil wurde. Heute sei dage-gen die "Gesundheit im Volke unterbrochen". Schur verweist auf den Schulsport.
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Während er darüber redet, mühen sich im Nachbargebäude gestresste Großstäd-ter an Gewichten und Hanteln ab. Vereinzelt blicken Leute aus dem Publikum un-gläubig rüber ins Fitnessstudio. "Geldverdienen, Essen, Fernsehen, Reisen" – Schur kritisiert die Art der heutigen Gesellschaft zu leben und die Menschen im anderen Gebäude wirken dabei wie fleischgewordene Repräsentanten dieses Le-bensstils.
Bei all den Ausflügen in die Politik fällt es Schur nicht immer leicht, bei seinem Buch zu bleiben. Er liest einige Passagen, dann erzählt er lieber wieder aus freien Stücken: Von den Anfängen seiner Karriere etwa oder den Schwierigkeiten des Abtrainierens. Schur ist ein passionierter Redner, das Lesen überlässt er fortan seinem alten Freund Klaus Huhn.
Huhn war 38 Jahre lang Chefredakteur des "Neuen Deutschland" und ist das einzig noch lebende Mitglied der Gründergeneration der Zeitung, wie Moderator Olaf Koppe anmerkt. Huhn war zu DDR-Zeiten als Inoffizieller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit tätig, doch das spielt an diesem Abend keine Rol-le.
Es wird feierlich. Täve Schur bekommt nun vom DDR-nahen Verein "Sport und Gesellschaft" die Werner-Seelenbinder-Medaille für seine Verdienste um die anti-faschistische Sportbewegung in der DDR überreicht. Schur ist sichtlich gerührt, genau wie das Publikum. "Der Täve hat sich das verdient", sagt einer. Dann blickt der Mann aus dem Fenster. Ins Fitnessstudio. In eine andere Welt.
(Die Zeit; 18.2.2011)
DDR-Legende Gustav-Adolf Schur Genannt „Täve“
Ruhm, wem Ruhm gebührt? Was Gustav-Adolf Schur denkt, scheint aus einem DDR-Propagandamuseum zu stammen. Er war aber - und ist vielen bis heute - das größte Sportidol der DDR, der Max Schmeling des Ostens.
Selbstverständlich zählt Gustav-Adolf Schur sich zu den Guten. Man hat es ihm oft genug bestätigt. Schon 1958, als er zum ersten Mal Amateurweltmeister der Radrennfahrer wurde. Da bekam er eine Handwurzelentzündung vom vielen Hän-deschütteln. „Maaaann", erzählt Schur lachend, „ich konnte mich kaum retten." Die Massen von Briefen, die er bekam, auch die Liebesbriefe und Heiratsanträge, sind im Friedensfahrt-Museum in Kleinmühlingen archiviert, und es kommen immer noch genügend nach. Schur wird bis heute herumgereicht, redet in Schulen und wandert mit Senioren. In Magdeburg ist eine Bronzeplatte mit seinem Namen im Gehsteig eingelassen. In Podersdorf bei Wien gibt es noch eine Platte mit seinem Handabdruck. Dann eine weitere in Lichtenstein in Sachsen. Und in Thale im Harz wurde ein Hufeisen mit seinem Namen in den Asphalt versenkt. „Vor anderthalb Monaten habe ich es geputzt", sagt er freudig. „Das ist so herrliche Bronze."
Auch der Magdeburger Taxifahrer kennt Schur. „Na klar", sagt er. „Der hat doch bei der WM 1960 seinem Mannschaftskameraden Eckstein selbstlos den Vortritt gelassen." Gustav-Adolf Schur, den alle „Täve" nennen, weiß selbst Bescheid, wer er ist. „Ich bin bekannt wie ein bunter Hund." Er war - und ist vielen bis heute - das größte Sportidol der DDR, der Max Schmeling des Ostens. Dieses Wissen ist die Straße seines Lebens. In diesem Frühjahr hat die Stiftung Deutsche Sporthilfe ihm trotzdem die Aufnahme in ihre „Hall of Fame" verweigert. Der Boxer Schmeling ist drin.
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Täve, achtzig Jahre alt, immer noch drahtig, ist an seinem freien Sonntag 60 Ki-lometer geradelt. Tags darauf sitzt er in seinem Eigenheim in Heyrothsberge nahe Magdeburg und isst seinen Kuchen mit großem Appetit, Schokoladenkuchen, den eine Verehrerin geschickt hat. „Es tangiert mich, ja", sagt er. „Es gehört zum Stolz eines Sportlers, in die Hall of Fame zu kommen." Die Sporthilfe hat keine Gründe für ihre Ablehnung angegeben, doch die liegen auf der Hand. Ihr hoher Anspruch ist es, nicht nur sportlich erfolgreiche, sondern gleichzeitig auch ethisch-moralisch vorbildliche Athleten in ihre - lediglich im Internet existierende - deutsche Ruh-meshalle aufzunehmen.
„Absolut unterlegen“
Täve Schur aber steht noch heute für die Leitbilder der jungen DDR, für den ge-fühlten Erfolg einer neuen Gesellschaft. Er war von 1958 bis 1990 Abgeordneter der Volkskammer, von 1998 bis 2002 saß er für Gregor Gysis PDS im Bundestag. Er ist ein ehrlicher Mann und sagt, was er denkt. Doch das, was Schur denkt, scheint aus einem geistigen DDR-Propagandamuseum zu stammen. Selbst viele alte Zeitgenossen wenden sich erschrocken ab, wenn Schur politisch wird. Er ist zum Beispiel bis heute ein Verfechter des Mauerbaus. Er verharmlost das grau-same Dopingsystem der DDR. Er rechtfertigt die gewaltsame Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956. Und wenn er sich etwas wünschen dürfte, dann, dass die Verhältnisse wieder so würden wie in der DDR. (…)
Auch Klaus Huhn ist der Ansicht, dass sein redseliger Freund Täve Schur sich manchmal besser zurückhielte. (…) Der 83 Jahre alte Huhn war früher Sportchef des SED-Zentralorgans Neues Deutschland, der gefürchtete Chef-Ideologe des DDR-Sportjournalismus. In seiner Wohnung im neunten Stock eines Wohnblocks in Prenzlauer Berg arbeitet er immer noch unermüdlich, er kämpft mit scharfer In-telligenz, glänzendem Gedächtnis und einem detaillierten Archiv um die Reste der alten Ost-Identität. Unter anderem hat er ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die Flachzangen aus dem Westen", über die Aufbauhelfer des neuen Staatsapparats nach 1990.
Einen Nerv getroffen
Und neuerdings engagiert er sich für Täve Schurs Anerkennung auch durch die „Gegenseite". Schließlich war der als Radrennfahrer nicht nur zweimaliger Welt-meister, 1958 und 1959, sondern auch zweimaliger Sieger der Friedensfahrt, 1955 und 1959, die Huhn 40 Jahre lang mit organisiert hat. Das hochpolitische Radren-nen, das von 1948 an durch Polen und die Tschechoslowakei führte und 1952 erstmals über DDR-Boden, galt den sozialistischen Bruderländern als ein Versöh-nungssymbol. Die DDR stärkte dort ihr Selbstverständnis als antifaschistisches Gegenmodell. Huhn und Schur sehen sich deshalb bis heute als die Pioniere der Aussöhnung mit den Opfern des Nationalsozialismus, in einer Zeit, als sich der Westen ihrer Meinung nach bereits den Perversionen des Kapitalismus hingab. Huhn wohnt in Berlin, Schur wohnt in Magdeburg, aber wenn es brenzlig wird, te-lefonieren die alten Männer miteinander.
Als im Mai bekannt wurde, dass Schur der virtuellen Ruhmeshalle des deut-schen Sports nicht für würdig befunden wurde, rief der ehemalige Radstar seinen Mastermind und Ghostwriter an und fragte ihn, was er machen sollte. „Er war völ-lig entnervt", berichtet Huhn. „Er fragte, was soll ich dazu sagen? Ich will nicht sa-gen: Das ist eine Scheiß Hall of Fame. Aber ich kann doch auch nicht sagen, die Leute haben recht?" Huhn beruhigte ihn. Er habe schon einen Artikel an die linke
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Tageszeitung „Junge Welt" geschickt, darauf solle er Frager verweisen. „Der Arti-kel hieß: Millionäre votierten gegen Täve", sagt Huhn zufrieden. „Am nächsten Morgen hat er mich wieder angerufen. Er sagte: Klaus, alles paletti."
Die Sporthilfe ist in Frankfurt am Main zuhause und betrieb vor der Wende die Sportlerförderung der Bundesrepublik. Huhn verweist auf deren Jury: „Ich sage nur: A wie Ackermannn." Als erfahrener Scharfmacher hatte er einen Nerv getrof-fen: 27 Mitglieder hat die Jury der Sporthilfe, nur eines stammt aus den neuen Bundesländern. Ihr gehören nicht nur der scheidende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank an, sondern auch Daimler-Chef Dieter Zetsche, der Vorstands-vorsitzende der Deutschen Telekom, René Obermann, oder Jürgen Weber, der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Lufthansa, allesamt wichtige finanzielle Förderer des deutschen Leistungssports. Allerdings auch nicht gerade die ethisch-moralisch vorbildlichen Repräsentanten des sozialistischen Menschenbildes - Schur und Huhn würden sie wohl nicht in ihre persönlichen Ruhmeshallen auf-nehmen.
Schur als Opfer, Schur als Täter
„Ich bestreite ja nicht, dass das ein bisschen demagogisch war", sagt Huhn mit seiner knarrenden Stimme. „Aber es war überzeugend." Und entlarvend. Der deutsche Leistungssport steht plötzlich als letzte Bastion des Kalten Krieges da. „Ich finde das unverschämt", empörte sich ein Pensionär des einstigen DDR-Organs „Deutsches Sportecho" bei einem Treffen mit Sporthilfe-Vorstand Michael Illgner in Berlin an die Adresse der Jury. „Hier werden Grenzen aufrecht erhalten und in den Köpfen die Spaltung vollzogen." Und tatsächlich haben ausgerechnet die beiden DDR-Saurier Huhn und Schur die Sporthilfe ins Grübeln gebracht.
Die Aufnahmemodalitäten seien nicht zufriedenstellend, räumte Illgner ein. Er sieht die Sporthilfe nicht in einer Schur-Falle. Aber so ganz nebenbei droht die Diskussion auch die Gründungslegende der West-Sportförderung ins Wanken zu bringen: Kann man der Öffentlichkeit weiter verkaufen, erfolgreiche Sportler seien automatisch auch bessere Menschen? Täve Schur rührt im Kaffee, den seine Frau Renate „schön heiß" serviert hat. Sie macht es „dem Vati" gemütlich.
Er würde einen zweiten Anlauf der „Hall of Fame" akzeptieren, da würde er nicht den Beleidigten spielen. Aber umdenken würde er auf keinen Fall. „Er lässt sich von niemandem von irgendwas abbringen", sagt Huhn. Schur war Radrenn-fahrer, ein Leben lang Amateur. Einer dieser stählernen Burschen, geformt in den fünfziger Jahren. Heute ist er nicht mehr zu biegen. Als wären es Gutenachtge-schichten, erzählt er, wie er zu „seinem Denken" kam, Dinge, die dem Zuhörer ge-legentlich das Blut in den Adern gefrieren lassen, über Schur als Opfer und Schur als Täter.
Von dem Sandbunker, den er als Vierzehnjähriger für seine Mutter und vier Ge-schwister graben musste, als auf Magdeburg die Bomben fielen. Wie sie in aller Eile das Kissen des kleinen Geschwisterchens packten und später merkten, dass es nicht darin lag. Später arbeitete sein Vater für die sowjetische Armee im Kran-kenhaus. Weil er zuvor russischen Kriegsgefangenen Kommissbrotkanten zuge-steckt hatte, erhielt seine Familie täglich einen Schlag Kascha, da war er natürlich dankbar. „Alle sagten, die Russen sind ganz schlimm, sie hauen alles kaputt, und Vergewaltigung, ja, Frauen haben hier auch gebrüllt. Aber durchgängig kann ich das nicht sagen." (…)
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Huhn sieht seinen Freund realistisch. „Er wird nie riesige Theorien entwickeln." In der Bundestagszeit hat er Schurs Reden redigiert. Er sagt, er habe ihn ein paarmal rausgehauen. Und auch auf die Ablehnung durch die Sporthilfe hat er ei-ne Antwort gegeben: Huhn und seine Gesinnungsgenossen versammelten sich am 24. Oktober, dem Todestag des Ringers Werner Seelenbinder, der als Kom-munist von den Nazis ermordet wurde, an dessen Grab. Sie gründeten das „Gol-dene Buch des Sports". Täve ist drin. Auch West-Stars, Steffi Graf zum Beispiel und Fritz Walter. „Aber Schmeling - nie." Das Box-Idol, sagt Huhn, habe einst auf seiner Amerika-Tour dafür geworben, dass die Vereinigten Staaten Hitlers Olym-pische Spiele 1936 in Berlin nicht boykottierten. „Er war der ausschlaggebende Faktor", sagt Huhn. In diesem Leben wird er nicht mehr aufhören, um die Deu-tungshoheit für das untergegangene DDR-Sportsystem zu kämpfen.
(Evi Simeoni; FAZ; 25.11.2011)
Ich will nur eines: Medaillen
Auch in Westdeutschland gab es vor der Wende offenbar ein staatlich geförder-tes Dopingsystem. Das behaupten Historiker aus Berlin und Münster nach zwei Jahren intensiver Forschung. Vor allem Sportmediziner geraten ins Zwielicht.
Anfang der siebziger Jahre stand die Sportwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland vor einem Problem: Woher Pornofilme bekommen?
Es war eine Zeit, in der viel darüber geforscht wurde, wie Medikamente bei Ath-leten wirken, zum Beispiel auf die Potenz der Männer. Es war aber auch eine Zeit, in der Pornos verboten waren.
Am 31. August 1973 beantragte ein Forscher beim Bundesinstitut für Sportwis-senschaft (BISp) Geld für eine Studie. Er wollte mehr über „die psychosexuelle Reaktionsbereitschaft vor und nach der Einnahme" eines anabolen Steroids her-ausfinden. Einem Teil der Probanden sollte monatelang ein Anabolikum gespritzt werden, dem anderen nicht. Nach einer Weile sollte kontrolliert werden, ob Sexvi-deos die behandelten Athleten weniger erregen als die Vergleichsgruppe.
Kosten von 24 000 Mark kalkulierte der Forscher für seine Testreihe, überwie-gend für die Produktion eines Phallografen, einer Apparatur mit einer Öse, die Umfang und Härte des Penis messen sollte. 500 Mark veranschlagte er für die „Beschaffung von Filmen".
Was wäre das für ein Skandal geworden, wenn eine Bundesbehörde wie das BISp Steuergeld für illegale Pornos verwendet hätte? In seiner Not bediente sich der Mitarbeiter anderswo: beim Landeskriminalamt in Düsseldorf. Die Polizei half leihweise mit beschlagnahmten Sexfilmen aus der Asservatenkammer aus.
Veröffentlicht wurde die Pornostudie nie, die Akte 1120/13 verschwand im Ar-chiv des BISp in Bonn. Der Phallograf erwies sich „als sehr störanfällig", wie der BISp-Mann im Abschlussbericht notierte. Das Experiment blieb nutzlos für den Kampf um Medaillen und Titel.
Inzwischen lässt sich nachlesen, wie weit es Wissenschaftler trieben, um west-deutsche Leistungssportler in die Weltspitze zu hieven. Zwei Jahre lang erforsch-ten Historiker unter Leitung Giselher Spitzers von der Berliner Humboldt-Universität und Michael Krügers von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster die Geschichte des Dopings in der Bundesrepublik vor der Wende, so gründlich wie niemand zuvor. Sie sichteten zeitgeschichtliche Dokumente in Archi-
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ven wie denen des Deutschen Olympischen Sportbundes und des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, in Nachlässen wie denen der Sportfunktionäre Willi Daume und August Kirsch, sie befragten mehr als 50 Zeitzeugen, sie bewerteten das Ma-terial und deckten Zusammenhänge auf. Das BISp selbst hatte den Wissenschaft-lern den Auftrag erteilt.
Entstanden ist ein düsteres Gesamtbild. Sportmediziner, die ihre Arbeit als Anti-Doping-Forschung etikettierten, betrieben demnach häufig das Gegenteil: Sie inte-ressierten sich für die leistungssteigernden Effekte der Pharmaka; sie suchten nach Mitteln und Wegen, um Muskeln zu stärken und Ausdauer zu dehnen; ihr Ziel war, Höchstleistung über die Grenzen der Natur hinaus zu verschieben.
Dabei gab es Mediziner und Pharmakologen, die früh gewarnt hatten, etwa vor den zerstörerischen Folgen der Anabolika für die Gesundheit, Ärzte, die dafür von den sechziger Jahren an Nachweise erbrachten. Doch sie drangen kaum durch gegen die Lobby aus den Zentren der Sportmedizin in Freiburg und Köln, dort, wo die Professoren Joseph Keul und Wildor Hollmann und ihre Stäbe viele der besten Athleten Westdeutschlands betreuten.
Kliniken und Hochschulen waren demnach Teil des Systems nationaler Hoch-leistungssport, und ihre Leiter wussten wichtige Fürsprecher hinter sich. Sport-funktionäre befeuerten die fragwürdige Forschung, Politiker trugen sie mit und för-derten sie finanziell.
Doping war in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn erwünscht, daran beste-hen nach den Berichten der Historiker kaum noch Zweifel.
In München traten 1972 erstmals bei Sommerspielen zwei vollständig getrennte deutsche Olympiamannschaften an, Ost und West. Das stachelte den Ehrgeiz der Bundesrepublik auf allen Ebenen an. Der Kampf der Systeme erreichte die Tar-tanbahn, der Kalte Krieg die Stadien. (…) So funktionierte die Doppelstrategie: Nach außen hin galt eine Distanz zu allem, was nach Manipulation aussah. Intern redete man anders. Vor Olympia 1972 knöpfte sich ein Bonner Minister im BISp einen Mitarbeiter vor: „Von Ihnen als Sportmediziner will ich nur eines: Medaillen für München." – „Herr Minister: ein Jahr vorher? Wie sollen wir da noch an Medail-len kommen?" – „Das ist mir egal." So hat es zumindest der BISp-Mann den Berli-ner Historikern erzählt. Unter Regie von Sportfunktionären und Medizinern hatte das Innenministerium 1970, zwei Jahre vor München, das BISp gegründet, als Schnittstelle zwischen Staat, Sport und Wissenschaft. Als Behörde bekam es den Auftrag, die Forschung voranzutreiben und dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse bei den Praktikern landeten. Doch die Kontrolle darüber überließ das Ministerium weitgehend dem Sport und den Medizinern. (…) Niemand verstand es besser, sich ins rechte Licht zu rücken, als ein weißhaariger Professor aus Freiburg: Jo-seph Keul. Der Leiter der Abteilung Sport- und Leistungsmedizin des Klinikums der Albert-Ludwigs-Universität war so etwas wie die Spinne in einem weitver-zweigten Netz, das sich um die Athleten spann. Keul betreute als leitender Arzt viele deutsche Olympiateams. Dies allein schon garantierte ihm über Jahrzehnte Einfluss, Macht und hohe Apanagen. (…)
Zudem erfüllte der Mediziner mit seinen Auftritten in den Medien eine wichtige Rolle, indem er die Dopingpest in Deutschland-West verharmloste. Obwohl der Professor die einschlägige Literatur kennen musste, spielte
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Wie geschmeidig das westdeutsche Dopingkartell funktionierte, machen die Historiker anhand bisher unveröffentlichter Briefe in der Affäre um die sogenannte Kolbe-Spritze deutlich. Nachdem Ruder-Weltmeister Peter-Michael Kolbe bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal nur Silber gewonnen hatte, weil er kurz vor dem Ziel klar führend eingebrochen war, machte er eine Injektion für seine Nieder-lage verantwortlich. Vor dem Endlauf hatte man ihm eine Kombination aus Berola-se und Thioctacid verabreicht, zwei Präparate zur Behandlung Diabeteskranker, die damals auf keiner Dopingliste standen. Nach Kolbes Beschwerde stellte sich heraus, dass die westdeutschen Mediziner mindestens 1200 solcher Spritzen in Montreal gesetzt hatten, bei Schwimmern, Radfahrern und Leichtathleten.
Für die Historiker ist dieser Vorgang „eines der peinlichsten Kapitel der deut-schen Sportgeschichte". Deutschlands Sport-Asse hätten das Präparat quasi im „wissenschaftlichen Blindflug" bekommen, es sei in keiner Weise erforscht gewe-sen. Der bloße Verdacht, das Mittel bringe ein bis eineinhalb Prozent Leistungs-steigerung, habe ausgereicht, es einzusetzen. Attraktiv waren die Spritzen wohl auch deshalb, weil sie der damals aus der DDR geflohene, in Köln arbeitende Me-diziner Mader empfohlen hatte. Offensichtlich waren die Westdeutschen gierig auf ein Stück Ost-Know-how.
Als die Diskussion um die Kolbe-Spritze abgeebbt war, machten die Sportmedi-ziner weiter, als sei nichts geschehen - immer auf der Suche nach neuen Metho-den, die Sportler noch schneller und stärker zu machen. Spätestens mit dem spektakulären Dopingfall Ben Johnsons 1988 in Seoul war den Medizinern klar, dass sie Alternativen zu den leicht aufzuspürenden synthetischen Anabolika brauchten. Nun sollte das körpereigene Sexualhormon Testosteron das Mittel der Wahl sein: wirksam und schwer nachweisbar. (…)
Die Frage ist, was nun passiert. Angesichts dessen, was die Historiker zutage gefördert haben, kann niemand mehr ernsthaft behaupten, Doping sei ein Phäno-men des Ostens gewesen. Der Westen war kaum besser.
Unter den beteiligten Personen - Politikern, Sportfunktionären und Ärzten - sind die meisten im Ruhestand oder tot. Die Institutionen gibt es natürlich noch, das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, die Kliniken, Verbände. Beifall von dort wird nicht zu erwarten sein, eher Protest, Zweifel, bestenfalls Schweigen. Es könnte ein Lehrstück darüber werden, ob die alte Bundesrepublik die dunkle Seite ihrer Sportgeschichte wahrhaben möchte.
Es ist eine ironische Wendung, dass ausgerechnet das BISp die Geschichtsfor-scher auf die Spur gesetzt hat. (…)Das Ergebnis der Gutachten aus Berlin und Münster lässt den Auftraggeber in einem schlechten Licht erscheinen.
Im BISp, das sich zu den Berichten der Historiker vorerst nicht öffentlich äußert, ahnten sie das wohl eine Weile lang, inzwischen wissen sie es.
Die Forscher durften bei ihrer Arbeit zwar allerlei Dokumente sichten, aber zu-nächst keine Kopien mitnehmen. Namen sollen außerdem nur beschränkt genannt werden, argumentiert wurde mit dem Datenschutz. Und vor gut zwei Wochen schrieb BISp-Direktor Jürgen Fischer eine Mail an Mitglieder des Projektbeirats, in der er über die Berichte urteilt: Bevor sie veröffentlicht würden, bedürften sie „aus meiner Sicht erheblicher
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AUFREGUNG UM EINE AUSSTELLUNG
Eine Ausstellung sorgt für Aufsehen und bewegt Medien-Gemüter! Als erste hatte “junge Welt” (23.7.2011) gemeldet, dass im Berliner Willy-Brandt-Haus jeder, der dort seinen Personalausweis vorgelegt hatte und „registriert” wurde, die Aus-stellung “ZOV Sportverräter” besichtigen durfte. Begrüßt worden waren die Gäste mit einer Flugschrift (neudeutsch: Flyer), die ankündigte: „Die von der Stiftung Klassenlotterie Berlin und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur widmet sich erstmals dem komplexen Thema Republikflucht im Sport.” (Ob die Kombination „Lotterie” und „Aufarbeitung” andeuten sollte, welchen wissenschaft-lichen Wert man derlei „Aufarbeitungen” heutzutage beimessen kann, wurde nicht erwähnt.) Als zweites Medium hatte sich das für die Werbung solcher Vorhaben von der Bundesregierung finanzierte „Deutschlandradio” zu Wort gemeldet. Ein Verena Kemna verkündete über den Sender den Hörern: „Um an internationalen Wettbewerben teilzunehmen, mussten die Spitzensportler der DDR reisen” (Nicht verraten wurde, wie Athleten anderer Länder an Wettbewerben teilnahmen und teilnehmen, ohne zu reisen.) „und einige nutzten diese Chance und wurden zu so-genannten `Sportverrätern´. Ihnen ist jetzt im Berliner Willy-Brandt-Haus eine Aus-stellung des Zentrums Deutsche Sportgeschichte gewidmet. Bemerkenswert die eher unbestimmte Formulierung „einige”, denn im nächsten Satz klärte die Kemna auf: „Hunderte Sportlerpersönlichkeiten, einstige Hoffnungsträger des sozialisti-schen Systems wurden durch ihre Flucht aus der DDR, in ihrer einstigen Heimat als Verräter gebrandmarkt. In den Videoinstallationen der Ausstellung des Zent-rums deutsche Sportgeschichte erinnern sich ehemalige Vorzeigeathleten, sie enthüllen ihre eigene Geschichte.”
Dem folgte eine mehr als aufschlußreiche Feststellung: „Wie viel Mut auch heu-te noch dazugehört, das haben die beiden Kuratoren, Rene Wiese und Jutta Braun erst bei ihren monatelangen Recherchen und unzähligen Anfragen erfah-ren. Am Ende haben sich 15 Sportler auf emotionale und oft schmerzhafte Erinne-rungen eingelassen:
(O-Ton): `Andere zögerten, nicht selten aus einem Gefühl der Bedrohung her-aus, das die DDR- Vergangenheit nach wie vor bei ihnen auslöst. Nach wie vor, das ist uns sehr deutlich geworden, existiert eine Angst vor den Seilschaften und sozialen Netzwerken eines längst untergegangenen Staates, dessen Repressi-onspotenzial gleichwohl noch heute präsent erscheint.´”
Erhob sich die Frage: Wo war der ohnehin ständig durch Schlampereien auffal-lende Bundesnachrichtendienst, als die Spuren des noch immer “presenten DDR-Repessionspotenzials” zu ermitteln waren?
(O-Ton): „Renate Bauer - geborene Vogel - ist eine groß gewachsene schlanke Frau mit kurz geschnittenen Locken. Die ehemalige Leistungsschwimmerin, gebo-ren 1955 in Karl-Marx-Stadt, wirkt entspannt und zufrieden. (...)
1979 gelingt Renate Vogel mit einem gefälschten Pass die Flucht. Ihre Eltern wissen damals nicht, dass ihre Tochter am 4. September am Flughafen Budapest an Bord einer Maschine nach München sitzt.” Obwohl das mehr als drei Jahrzehn-te her ist, keine Antwort auf die Frage, wer ihr den gefälschten Pass beschaffte? Dafür erfuhr man: “Seitdem lebt sie ihr neues Leben im Großraum Stuttgart.
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Das dritte Medium, das der Ausstellung die nach seiner Ansicht gebührende Aufmerksamkeit schenkte, war – einigermaßen verblüffend! - „Neues Deutsch-land”. Das Blatt präsentierte die reißerischste Schlagzeile, die auf die Ausstellung verwies: „Im VW Käfer auf der Flucht”, womit fast die Bedingungen einer Produkt-Werbeanzeige erfüllt worden waren. Waren VW Käfer etwa die idealen Fluchtfahr-zeuge?
Wer floh in jenem „Käfer“? ND gab Auskunft: „Es passiert bei den Olympischen Spielen 1964 in Innsbruck. Hier wird Ute Gähler gerade 22 Jahre alt, in einen Raum mit Sportfunktionären zitiert. Man habe ihre Briefe geöffnet, erfährt die Rennrodlerin des DDR-Teams und sie erfährt auch, dass man ihr verheimlichte Kontakte in der Bundesrepublik vorwirft. Sie besitzt Westverwandtschaft, deshalb wird sie von der Staatssicherheit überprüft. Gähler ist entsetzt. Sie beschließt zu fliehen, noch während der Spiele von Innsbruck. (…) Die Flucht ist aber teuer be-zahlt. Zehn Jahre wird Ute Gähler ihre Eltern nicht sehen. Zudem wird sie vom westdeutschen Bundesnachrichtendienst beobachtet, man hatte Angst, sie sei als Spitzel eingeschleust worden. `Ich dachte nur: Mein Gott! Erst die Bespitzelung in der DDR und jetzt hier.´“
Als die „Flüchtlings“-Ausstellung eröffnet wurde, hatte sich auch Julius Feicht eingefunden (junge Welt berichtete darüber), der lange Jahre Cheftrainer und Ge-neralsekretär des DDR-Schwimmverbandes war. Er hatte seine Memoiren mitge-bracht und wurde herzlich eingeladen, daraus zu lesen – bis man skeptisch wurde, ob das in den Rahmen der Ausstellung passen würde. Die Skepsis eskalierte zur Ablehnung und zum Auftrittsverbot!
Zum Beispiel hatte er von Seite 102 lesen wollen: „Eines Tages, es war Mitte April, erhielt ich die Information, dass Hans Zierold laut RIAS-Meldung die Sowjet-zone fluchtartig verlassen hätte und in Westberlin bei Freunden untergekommen wäre. Bei dieser Meldung war mir sofort klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Mir war kein triftiger Grund bekannt, warum Hans Zierold die DDR fluchtartig ver-lassen haben sollte? Ich dachte, es sei eine der bekannten RIAS-Enten. Was ich tun konnte, war zu versuchen, mit ihm zu sprechen. Ich gab der Leitung bekannt, dass ich meine, wenn auch nur noch vage bestehenden Westkontakte nutzen könnte, um mit Zierold in ein Gespräch zu kommen. Da ich nicht allein, auch mei-ner Absicherung wegen, gehen wollte, ging ich zum Training in die Gartenstraße ins Stadtbad Mitte, wo Einheit Berlin sein Training absolvierte. Ich sprach mit den Trainern, und wir wählten gemeinsamen den noch ledigen Joachim Dorsch (Ruf-name Bomme). Wir besorgten uns Westgeld, und ab ging es nach Westberlin. Ich wusste, dass mein alter Freund Wilhelm Biermann, einst Sponsor beim Schwimm-verein Südring, in der Bergmannstraße in Kreuzberg wohnte. Sein Sohn Günter war im Verein Brustschwimmer und Wasserballspieler. Ich wusste, dass er als Kommentator für Schwimmen und Wasserball beim Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) ein `Zubrot´ verdiente. Ich ging allein hin, klingelte an der Tür und Frau Biermann öffnete, sie erkannte mich sofort, ließ mich ein. Nach einer kurzen Unterhaltung kam ich zur Sache und fragte, sie ob sie etwas über die Angelegen-heit Zierold wüsste. Sie sagte, sie wüsste von nichts. Gab mir aber eine Adresse. Ich bedankte mich. Nachdem ich die Wohnung verlassen hatte, gingen wir zu Fuß zur angegebenen Adresse. Der Name der Straße ist mir nicht mehr geläufig, aber es war in der Nähe vom Bahnhof Zoo. Wir verabredeten, dass `Bomme´ zur Woh-nung ging. Er klingelte an der Tür von `Reichwehr´ und erkundete, ob Zierold zu
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einem Gespräch bereit wäre. Ich stellte mich einige Häuser weiter in eine Haustür, und wartete auf die Rückkehr von Joachim Dorsch. Nach kurzer Zeit kam ein Poli-zeiauto, und mein Freund `Bomme´ wurde abgeführt. Ohne Aufsehen zu erregen ging ich wenig später zur Wohnung, klingelte, aber niemand öffnete. `Bomme´ wurde verhaftet und im Westberliner Polizeigefängnis Moabit 11 Tage inhaftiert. Die Anklage lautete `versuchter Menschenraub´. Wie ich später erfahren habe, war die Mutter von Hans Zierold in der Wohnung anwesend, die mit Tränen in den Augen ihren Sohn zurückhalten wollte.
Der ganze Vorfall erregte natürlich in der Sportwelt, auch über den Rahmen Deutschlands hinaus, Aufsehen, zumal Hans Zierold auf Grund der Internationalen Bestimmungen für zwei Jahre kein Startrecht für Internationale Schwimmwett-kämpfe erhielt. Aber, was kümmerte es schon, dass Hans vorerst nicht starten durfte, dass er seine Ausbildung als Diplomsportlehrer nicht beenden kann, dass er seinen Trainer, der wie ein Vater zu ihm war, verließ?
Im Oktober 1958 veröffentlichte unser Fachblatt einen Artikel aus dem 2. Sep-temberheft des `Eulenspiegel´ Nr. 38/1958 unter dem Titel `Vom Krauler zum Bankier´. Die Antworten Zierolds sind wörtlich einem Gespräch entnommen, das zwischen der Hamburger `Welt´ und dem Bankdirektor in spe stattgefunden hat.
`Nun, Herr Zierold, Sie werden sicher verstehen, dass auch die Leser unseres Blattes weiterhin lebhaften Anteil nehmen an Ihrem tragischen Schicksal. Nach-dem Sie vor Monaten die ewige Finsternis der Zone und ihrer sportlichen Zwing-burg, der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport, eintauschten gegen die Helligkeit und den Glanz der freien Welt, interessiert uns nun besonders, wel-che Fortschritte Sie bis jetzt gemacht haben. Wie man hört, zeigen Sie eine be-wundernswerte Haltung´.
`Ja, im Augenblick sitze ich in der Buchhaltung.´
`In der Buchhaltung? Aha. Wo? Auf einer Bank? Und wie kommen Sie dort zu-recht? Ich meine, könnte es nicht sein, dass diese Tätigkeit vielleicht ein Fehler...´
`Es ist noch nicht zu schwierig. Man hat seine Belege und geht die Konten durch, und wenn da ein Fehler ist, dann muss man ihn suchen.´
`Selbstverständlich, Herr Zierold, sehr interessant! Aber ich denke, Sie werden als Lehrling im ersten Jahr bestimmt noch genügend Zeit haben, sich mit dem Schwimmsport zu beschäftigen!´
`Und dann ist da die Berufsschule ...´
`Aber natürlich, Herr Zierold, wie konnte ich das vergessen. Sie haben doch jetzt endlich einmal Gelegenheit, etwas für ihre Bildung zu tun. Aber, das interes-siert unsere Leser natürlich am meisten: Was macht das Schwimmen, Herr Zierold?´`
`Es macht nicht mehr den Spaß wie früher.´
`Das ist unbedingt einzusehen. Bestimmt krault es sich in der Freiheit nun so leicht, dass das Aufstellen von Rekorden gar keine Spaß mehr macht!´
`Die Rekorde, schön. Aber die habe ich doch fast alle schon einmal besser ge-schwommen.´
`Ich verstehe, Herr Zierold, unter den Peitschenhieben ihres östlichen Trainers war das ganz verständlich. Und - was ich noch fragen wollte, Herr Zierold, es ist ihnen doch bestimmt schwergefallen, auf den Start zu den Europameisterschaften zu verzichten. Sie haben, wie ich hörte, noch vor ihrer Sperre ganz freiwillig zu ei-
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nem Start in Budapest nein gesagt. Gewiss rechneten Sie damit, von den ungari-schen Kommunisten verhaftet zu werden?´
`Die bringen allerhand fertig.´
`Und ob, Herr Zierold! Wer soviel schreckliche Erfahrungen mit diesen Leuten sammeln durfte wie Sie, der ist gewarnt! Nun, dann wünsche ich Ihnen auch wei-terhin ein gutes Fortkommen, Herr Zierold, und hoffe, dass Sie aus Ihren Erfah-rungen lernen! Die freie Welt hofft mit Ihnen, dass nicht alles vergeblich war und Sie doch noch ins Schwimmen kommen werden.´“
„Was ich am Anfang zwar vermutet, aber wirklich nicht geglaubt habe, war die sich abzeichnende Tatsache, dass - nicht immer erfolglos - Sportler der DDR von der BRD mit Hilfe von Versprechungen zum Verlassen der DDR überredet wur-den.
Die Unternehmungen, die in der Zeit der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele gestartet wurden, trugen einen politischen Inhalt. Es zeichnete sich eine po-litische Ebene ab, die ohne Einwirken von Verbänden und Interessengruppen, die auf die Schwächung der DDR orientiert waren, nicht möglich gewesen wäre. Wir waren aus diesen Gründen auch veranlasst, eine ideologische Ebene in unsere Vorbereitung einzubeziehen. Fuhren wir zu Wettkämpfen in die BRD, trugen wir auch gegenüber den Eltern für die Rückkehr ihrer Kinder und Jugendlichen eine Verantwortung. Diese Problematik der Abwerbung nahm im Laufe der Zeit zu und wurde rigoros praktiziert.
Hier ein Beispiel: Jimmy Fritsche, heute Professor und im 80. Lebensjahr noch aktiver Schwimmer im TSC Berlin, erhielt im Januar 1956 von einem Herrn H. Faust aus Göppingen einen Brief, in dem es heißt:
„Lieber Sportkamerad Fritsche!
Du wirst sicher erstaunt sein über mein Schreiben. Ich hoffe aber, Du erinnerst Dich noch meiner von Würzburg her, wo ich einmal einen Schwimmlehrgang gelei-tet habe. Ich gratuliere Dir zu Deinen großen Erfolgen, die mir als alten Brust-schwimmer sehr imponiert haben.
Ich leite hier in Göppingen das gesamte Schwimmtraining und möchte Dich bit-ten, falls Du einmal jemand hast, der sich verändern will.... Hier wäre Gelegenheit gegeben, jungen Schwimmerinnen und Schwimmern beruflich und sportlich wei-terzuhelfen ..."
Jimmy hatte damals kurz zuvor einen neuen Europarekord im 200-m-Brustschwimmen aufgestellt. Ich zitiere aus der Antwort, die Jimmy Herrn Heinz Faust geschrieben hat: „Ich habe Ihr Glückwunschschreiben erhalten. Sie haben ganz recht, ich war über Ihren Brief sehr erstaunt, doch nicht darüber, dass Sie geschrieben haben, sondern über den Inhalt desselben ... Ihnen und auch ande-ren geht es doch gar nicht darum, einem jungen Menschen weiterzuhelfen. Ihr Ziel ist es doch nur, die Position zu schwächen, die wir im gesamtdeutschen Sport einnehmen. Die Beweise dafür geben Klaus Bodinger, Gerhard Giera und andere, die sich auf genau solche Briefe in den Westen unserer Heimat begeben haben und nun nicht mehr zu sehen sind.
Lassen Sie also bitte derartige Bemühungen....
Horst Fritsche"
Der ganze Brief kann im amtlichen Fachblatt der Sektion der DDR vom 13. Ja-nuar 1956 nachgelesen werden.”
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“Als nächste große Veranstaltung fanden wieder die traditionellen Wettkämpfe in Hamburg statt. Die Sportclubs der DDR waren mit 70 Schwimmern und Schwimmerinnen vertreten. Unsere Teilnehmer schlugen sich prächtig, was auch in der BRD-Presse gewürdigt wurde.
Der große Knüller aber waren nicht die Schwimmwettkämpfe, sondern die Tat-sache, dass der DDR-Jugendrekordler im 200-m-Brustschwimmen, Peter Klier (Dresden), durch Geschäftemacher aus Bremen überredet wurde, in einen Volks-wagen einzusteigen und mit nach Bremen zu fahren. Bei dem Werber handelte es sich um den Ex-Magdeburger Wasserballspieler Quenstedt, als Fahrer diente der Bremer Askamp. Der Fahrer fuhr den PKW so schnell an, dass Otto Kutz, Trainer von Peter Klier, zu Boden geschleudert wurde und sich dabei verletzte. Soweit ein Augenzeuge. Der offenkundige Tatbestand ließ einige bedeutende Zeitungen der BRD sich dem Protest gegen solche Machenschaften anschließen. Aber der Westberliner `Sport-Kurier´ machte aus dem offenkundigen Leichtsinn eines 18-jährigen die `Freiheitsbekundung eines jungen Mannes!´ Er wirft den Verantwortli-chen des DSV, die sich von den Machenschaften des Bremer Vereins distanzier-ten, sinngemäß vor, sie hätten wenig Verständnis für einen im Osten geknechte-ten Sportler.
Einige Tage später war Peter Klier wieder bei seinen Eltern in Dresden. Er be-reute seine Dummheit aufrichtig.“
Daran aber mochte man 2011 im Willy-Brandt-Haus nicht erinnert werden und verbot also dem Ex-Schwimm-Generalsekretär und –Cheftrainer das Wort. Man hätte auch die für die gern verwendete Vokabel „Zensur“ benutzen können.
Es lag bei den „Aufarbeiten“ ebenso wenig Interesse vor, einen Text aus dem Organ des DDR-Leichtathletikverbandes „Der Leichtathlet“ (Nr. 6, Jahrgang 1958) etwa den Ausstellungsbesuchern zur Kenntnis zu geben:
„Staunend erfuhren Sportler und Funktionäre, die am Abend des letzten Don-nerstag den Saal des Hallenser Ratshofes füllten, wie harmlos alles begonnen hatte: Anlässlich eines Klubvergleichskampfes zwischen dem SC Wissenschaft Halle und dem VfL Wolfsburg war Walter Richter mit dem Vorsitzenden der Wolfs-burger Leichtathletik-Abteilung, einem gewissen Oelkers, ins Gespräch gekom-men. Man diskutierte dies und das und entdeckte eine gemeinsame Leidenschaft: das Briefmarkensammeln, Oelkers ist in der Poststelle des Volkswagenwerkes tä-tig, und so kam man bald überein, in Zukunft einen regelmäßigen Tausch zu orga-nisieren. Monate kam ein ganz anderer Tausch zustande: Der von Walter Richter betreute Manfred Steinbach wurde abgeworben - nach Wolfsburg.“ (Steinbach ge-hört zu jenen 15 „Flüchtlingen“, die im Willy-Brandt-Haus per Kopfhörer Auskünfte geben.)
Eines hatte Walter Richter einen Brief aus dem demokratischen Sektor Berlins erhalten. Unterschrieben war der von Oelkers und der Inhalt bezog sich scheinbar auf jenes seit langem blühende Tauschgeschäft. Schließlich war da aber auch noch der Zusatz, „Manfred" lasse herzlich grüßen lasse.
Richter fuhr sofort nach Westberlin zu den in Steglitz, Bismarckstr. 64; lebenden Eltern von Steinbach. Dort wusste man von dem „Tausch" und vertröstete Richter auf den nächsten Tag, an dem ein Herr Keller zu erwarten sei.
Dieser erschien dann auch, machte aber zunächst darauf aufmerksam, dass er selbst in Wolfsburg nicht unter dem Namen Keller bekannt sei, ohne indessen sei-nen richtigen Namen zu nennen. Dafür hatte er um so konkretere Angebote: Rich-
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ter könne sofort die Stelle eines Lehrers an der Oberschule in Wolfsburg erhalten. Wie einflussreich dieser Decknamen-Herr war, bewies die Tatsache, dass für die freie Stelle des Sportlehrers an der Wolfsburger Schule nicht weniger' als 17 Be-werbungen aus der Bundesrepublik vorlagen, aber Herr `Keller´ versicherte; dass niemand anders als Richter den Posten erhalten werde.
Der nächste Weg führte Walter Richter zu einem gewissen Lorenz, der wie Richter Sportlehrer ist und nebenbei auch dank der Unterstützung des Bonner Spionageministers Lemmer Vorsitzender des Landessportausschusses Berlin war.
Diese Einzelheiten enthüllte der Stellvertretende Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport, Dr. Schuster auf der Sportlerversammlung in Halle. Unter den Gästen sah man die beiden Silbermedaillengewinner von Stock-holm“ (gemeint waren die Leichathletik-Europameisterschaften 1958. A. d. A.) Hannelore Sadau und Manfred Preußger, den deutschen Rekordhalter und Dritten vom Stockholm im Zehnkampf, Walter Meier, den deutschen 1500-m-Rekordmann Siegfried Herrmann, dessen alten Freund Wolfgang Schottek und viele Trainer und Funktionäre aus Hallenser und Leipziger Sportklubs. Ihre Meinung zu diesen Vorfällen war eindeutig und wurde wohl am überzeugendsten und klarsten von Manfred Preußger kommentiert: `Wir haben das gehört und ich glaube, unsere Feinde werden auch in Zukunft nicht aufhören mit ihren Abwerbeversuchen. Das Wichtigste aber scheint mir eine klare Stellungnahme unserer Spitzensportler zu unserer Republik. Ich jedenfalls bekomme keine Briefe, bei mir wissen sie, dass es sinnlos ist!"
Unter den Gästen aber, waren auch zwei ehemalige Angehörige unserer sozia-listischen Sportbewegung: der Trainer Balzer - vor Jahren der erste Stabhoch-springer in der DDR, der die 4,00 m meisterte, und Karin Richert“ (ebenfalls im Brandt-Haus präsent A.d.A.) - eine zweifellos talentierte Hürdenläuferin. Am 21. Juli hatten beide die Republik verlassen. Nun waren sie zurückgekehrt nach Halle und baten ihre früheren Sportkameraden aus dem Chemie-Klub, ihnen die Mög-lichkeit zu geben; ihr Vertrauen wiederzuerwerben.
Größtes Aufsehen rief die Mitteilung Balzers hervor, dass er dank der Hilfe des Vizepräsidenten des westdeutschen Leichtathletik-Verbandes, Fredy Müller, kein Flüchtlingslager aufsuchen musste, da er nach einem Telefongespräch Müllers mit ausländischen - vermutlich amerikanischen Dienststellen - sofort Flugkarten nach Frankfurt (Main) ausgehändigt bekam. So wurde hier enthüllt, daß Fredy Müller, der bei gemeinsamen Beratungen der beiden deutschen Verbände immer gern den `Wir-sind-doch-alles-Deutsche´-Standpunkt vertrat, tatsächlich mit jenen im Bunde steht, die unsere Sportbewegung seit Jahren zu schädigen versuchen..
Die übrigen Ausführungen Balzers und auch Karin Richerts wurden sehr leiden-schaftlich diskutiert. Vor allem unser früherer Mittelstreckenmeister und jetzige Trainer Rolf Donath forderte von Balzer: `Leg deine Karten offen auf den Tisch; sonst können wir dir nie wieder vertrauen!´" Balzer nahm zum Schluß noch einmal zu den Bemerkungen Stellung und versicherte, daß er alles tun werde, um das Vertrauen seiner ehemaligen Klubkameraden wiederzugewinnen.“
Kommentar des ND zu der Ausstellung: „Bis zum Mauerfall 1989 verließen mehr als drei Millionen Menschen die DDR in Richtung Westen, in Richtung BRD. Dazu gehörten auch 600 Athletinnen und Athleten. Eigentlich sollten sie `Diploma-ten im Trainingsanzug´ sein, ihre Laufbahnen waren vorgezeichnet, sie sollten dem Ansehen des kleinen Landes mit den großen Idealen dienen.“
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In diesen 48 Worten stecken zahllose „Irrtümer“. Die drei Millionen, die angeb-lich aus der DDR flüchteten, gelten für den Zeitraum von 1945 bis 1989, also für 44 Jahre. Allein von 1989 bis 2008 – also in 19 Jahren – verließen 1,6 Millionen Bürger die neuen Bundesländer. Niemand hat eine Quelle für die Zahl der angeb-lich 600 Sportler vorzuweisen, aber wenn sich nun nur 15 bereiterklärten, den Ausstellungsinitiatoren zur Verfügung zu stehen, wären das 2,5 Prozent – keine sonderlich überzeugende Zahl! Und einmal mehr muss darauf hingewiesen wer-den, dass niemand in der DDR auf die Idee gekommen war, Athleten als „Diplo-maten im Trainingsanzug“ einzusetzen. Diesen Begriff erfand der frühere Präsi-dent des Welt-Leichtathletikverbandes, der Brite Marquess of Exeter, nachdem er als Mitglied des Oberhauses die Visaverweigerung für den DDR-Langstreckler Siegfried Herrmann hatte annullieren lassen, ihn nach London eingeladen hatte und ihm dort nach seinem Sieg mit den Worten gratulierte: „Sie sind ein Diplomat im Trainingsanzug!“
Indes: Auch der Marquess of Exeter spielt im Willy-Brandt-Haus keine Rolle!
(junge Welt; 21.9.2011)
COUBERTIN WÜRDE SICH IM GRABE WENDEN
Wie so viele Vergleiche, hinkt auch der zwischen dem Franzosen Pierre Fredy Baron de Coubertin und dem Briten James Ellington, doch fällt es nicht schwer, die Pfeiler zu erkennen, die den Schöpfer der modernen Olympischen Spiele und den 58. der diesjährigen Weltbestenliste der 200-m-Sprinter voneinander trennt. Als Coubertin 1925 seinen Abschied als Präsident des Internationalen Olympi-schen Komitees nahm, hinterließ er auch den Satz: „Wir, meine Freunde und ich haben nicht gearbeitet, um Euch die Olympischen Spiele wiederzugeben, damit ihr daraus ein Museums- oder Kinostück macht, noch dafür, dass sich merkantile In-teressen ihrer bemächtigen.“
Die Wünsche und Hoffnungen Coubertins haben sich – wie alle Welt weiß - nicht erfüllt: aus dem „Kinostück“ wurde ein einträgliches TV-Spektakel mit Milliar-denumsätzen und die merkantilen Interessen erreichten Gipfel, die der Franzose sich nicht hatte ausmalen können.
Nun kam ein Brite des Weges und beschritt einen olympischen Pfad, der emp-fehlen könnte, an Coubertins Grab hoch über dem Genfer See einen Kranz nie-derzulegen, der wenigstens dort an seine Ideale erinnert.
Der dunkelhäutige Brite James Ellington will um jeden Preis an den Olympi-schen Spielen 1912 in London teilnehmen, aber es gibt niemanden, der seine Vorbereitung bezahlen würde. Für die Offiziellen des britischen Olympischen Ko-mitees ist er nicht schnell genug, um gefördert zu werden und damit könnte er schon seine olympischen Hoffnungen begraben. Aber Ellington dachte lange dar-über nach, wie man dennoch zu Geld kommt und fand auch eine Lösung: Er bot sich dem weltweit agierenden Versteigerungsunternehmen ebay an und ließ sich selbst auf die Angebotsliste setzen: „Ich, Ellington, 200-m-Sprinter bin bereit, jede Art von Werbung auf meine Trikots nähen zu lassen, wenn mir jemand 35.000 Eu-ro zahlt. Das ist mein Start-Angebot, meine Versteigerung endet am 17. Dezem-ber.“ Die Sportwelt nahm zur Kenntnis, dass sich damit zum ersten Mal in der olympischen Geschichte ein Athlet in aller Öffentlichkeit selbst verkauft, um an den Spielen teilnehmen zu können. Viele waren skeptisch: Wer würde dem 58. der
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Weltrangliste die kostspielige Vorbereitung bezahlen? Doch die Idee erwies sich als wirksam: 39 Interessenten, darunter zahlreiche Firmen erkannten, dass allein Ellingtons Ersteigerung eine wirksame Werbeattraktion sein würde und begannen zu bieten. In sechs Tagen gingen 71 Offerten ein. Ebay hatte den 17. Dezember 13.27 Uhr als „Auktionsende“ verkündet. Um 13.26 Uhr ging das letzte Angebot ein: 38.700 Euro! Nun kassiert Ellington und kann sich einigermaßen gewissenhaft auf Olympia vorbereiten. Vor allem aber dürfte er über Nacht bei allen Starts in den Qualifikationsentscheidungen im Mittelpunkt des Interesses stehen, trägt die Reklame des Unternehmens, das ihn ersteigerte auf Stirnband, Trikot, Strümpfen oder Laufschuhen und darf von nun an davon träumen, an den Olympischen Spie-len teilzunehmen. Allerdings: Der Olympia-Favorit Yohan Blake lief dieses Jahr 19,26 s, Ellington aber nur 20.52 s. Aber er kann hoffen!
Coubertin aber dürfte endgültig wissen, dass der Kernsatz seiner olympischen Pläne – „Alle Sportmöglichkeiten für alle!“ – endgültig begraben ist!
(Klaus Huhn; junge welt; 2.12.2011)
REZENSIONEN
Diese Rubrik ist gemeinhin den Rezensionen vorbehalten. In dieser Aus-gabe hielt man sich nicht strikt an die Regel, sondern publizierte Veröffentli-chungen, die nicht als Rezensionen zu betrachten sind.
EINE BILDUNGSSTÄTTE MIT WELTRUF MUSS GEHEN
Auszug aus Fred Gras: „Von Ostpreußen nach Sachsen“ (Leipzig: Engelsdorfer Verlag 2011.)
Die nicht ganz übliche Bezeichnung eines Berichtsabschnittes soll meinen da-maligen Gefühlszustand umschreiben. Heute betrachte ich das Vorgefallene ratio-naler, dennoch genauso kritisch.
Der Rückgang des leistungssportlichen Niveaus in Deutschland ist die Quittung dafür, ohne Sinn und Verstand eine in der Welt anerkannte akademisch ausge-richtete Sporthochschule wie die DHfK zerschlagen zu haben. Der neugeschaffe-nen Landesregierung unter dem ehemaligen CDU-Generalsekretär Biedenkopf war es offensichtlich aus politisch-ideologischen Überlegungen gleichgültig, 1274 Mitarbeiter dieser Einrichtung zu entlassen, um dann wenig mehr als 120 in die nachfolgende Fakultät der Universität einzubinden.
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Wie bereits an mehreren Stellen angedeutet, vollzog sich der Abwicklungspro-zess seit Mitte 1989 mit untrüglichen Zeichen in der Stadt Leipzig und in der Lan-desregierung Sachsen.
Die Sporthochschule, nein, eine Universität des Sportes in Leipzig, war, in der Jägersprache ausgedrückt, zum Abschuss freigegeben.
An dieser Stelle kommt mir ein Gedanke in den Sinn, der auf die Geschichte des untergehenden Rom bezogen wurde. Man sprach nach Ortega y Gasset, ei-nem holländischen Dichter, von dem „homo ludens“, dem spielenden Menschen. Und dann, Ovids Aussage folgend, von dem „lusus habet finem“, dem Spiel, das zu Ende ist. Im Wortsinn ging auch für die stolze DHfK das Spiel zu Ende.
Auch der Sportverband der DDR, der DTSB, mit seinen Verbänden wurde in Frage gestellt, die Finanzierung war von Unsicherheit betroffen, die Sportgemein-schaften mit über 350 Tausend ehrenamtlichen Übungsleitern und Funktionären standen vor dem Aus.
All das zeichnete sich mit der Wahl 1990 ab. Dabei wurde nicht gefragt und entschieden, was gut war, was übernommen werden könnte?
Nein das gesamte, bislang höchst erfolgreiche Sportsystem stand auf dem Prüfstand der sogenannten Sieger, deren Waagependel nur nach einer Seite aus-zuschlagen hatte.
Die nationalen und internationalen Proteste wurden samt und sonders ignoriert.
Weltruf schützt nicht vor Niedergang!
Oder wie die Römer im vatikanischen Sinne ausdrücken: „Sic transit gloria mundi“ – so vergeht der Ruhm der Welt.
Die Verhandlungen mit der Sporthochschule Köln verliefen zunächst in Rich-tung zweier Sporthochschulen in Deutschland mit arbeitsteiligen Inhalten, was durchaus logisch und realistisch gewesen wäre. Letztlich spielten wohl konkur-renzpolitische Überlegungen die Hauptrolle für die dann folgende Abwicklung.
Man muss sich hierzu einmal vorstellen: Eine deutsche Universität des Sportes, die DHfK, eine der Grundlagen für das Weltniveau des Leistungssportes in der Mehrzahl der olympischen Sportarten wird bar jedweder Vernunft aus dem Ren-nen genommen, obwohl einige Spitzenfunktionäre des DSB der Bundesrepublik warnend darauf hingewiesen haben. Eine Bildungsstätte, deren acht Außenstellen des Fernstudiums eine hochwertige Qualifikation von Diplomsportlehrern dezentral sicherte. Ich selbst hatte das Studium an der Außenstelle Leipzig absolviert. Diese DHfK war gleichwohl ein Zentrum der umfassenden Weiterbildung von Leistungs-kadern und Trainern des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB). Diese einma-lige Einrichtung bildete auch mittlere Lehrkader für eine Tätigkeit aus, bei der kein Hochschulabschluss gefordert war. Last but not least, sie war eine Hochschule der Völkerfreundschaft, wie sie von 2415 ausgebildeten Fachexperten aus 94 Ländern fast liebevoll bezeichnet wurde. Davon allein aus 42 afrikanischen Staaten. Und das alles im Sinne der internationalen Solidarität, für die meisten Länder kosten-los.
An dieser Stelle gebietet es die zeithistorische Wahrheitssuche darauf hinzu-weisen, dass mit dem Erinnerungsbuch „Sendboten Olympias“ des ehemaligen Di-rektors des Instituts für Ausländerstudium, Dr. habil. Lothar Kalb, eine Geschichte dieses Ausbildungszweiges der DHfK, eine hervorragende Dokumentation interna-tionaler Solidarität zur Verfügung steht.
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Allein diese von der Hochschule wahrgenommene komplexe Aufgabenstellung musste den Abwicklern der DHfK nicht als sächsisches sondern als gesamtdeut-sches Anliegen eigentlich bewusst gewesen sein?!
Nein, das war es nicht! Kleingeistiges Verhalten, gepaart mit Unfähigkeit und Neid gegenüber der höheren Leistungsfähigkeit des DDR-Sports in nationalen wie internationalen Vergleichen auf fast allen Ebenen der sportlichen Auseinanderset-zung, ließen die Vernunft und den Weitblick außen vor, wie man heute neudeutsch zu sagen pflegt. Interessant ist dabei allerdings, dass eine Vielzahl von wissen-schaftlichen Publikationen ehemaliger DHfK-Hochschullehrer in der jetzigen Aus-bildung verwendet werden.
Es kann auch gar nicht anders sein. Besseres gibt es nicht, weil die Bücher von Hugo Döbler, Dieter Harre, Paul Kunath, Kurt Meinel und Günter Schnabel u.a. auf der Grundlage wissenschaftlicher Langzeitforschung entstanden sind.
Seit Kepler, Otto Hahn, Friedrich Engels u.a. Genien der verschiedenen Wis-senschaftsgebiete ist bekannt, dass ein fundiertes Lehrbuch oder eine wegwei-sende Lehre nur möglich sind über eine solide Forschung.
Unter dieser grundsätzlichen Betrachtungsweise wurde in der DDR allgemein und an der DHfK im Besonderen, stets die Einheit von Lehre und Forschung als materialistische Notwendigkeit umgesetzt.
Die Ausführungen in diesem Abschnitt blieben unvollständig, wenn nicht auch die internationale Ausstrahlung des Lehrkörpers erwähnt werden würde. Auch hier muss gleichfalls auf eine Vollständigkeit verzichtet werden. Sie ist auch deshalb nicht zwingend, da bereits in den vorangegangenen Kapiteln diese Seite der wis-senschaftlichen Arbeit beispielhaft genannt wurde.
Ein besonderer Ausdruck der Wertschätzung für Wissenschaftler war uns ist bis heute die Berufung in wissenschaftliche Gremien. Das gilt für die Wissenschaft genauso wie für die Sportverbände.
Mir geht es hierbei vor allem um die Mitarbeit in Wissenschaftsorganisationen. So bekleideten Spitzenpositionen im Weltrat, dem CIEPS, er wurde an anderer Stelle bereits vorgestellt, die Professoren Erbach, Buggel und Heidi Kunath als Mitglieder der Exekutive des Weltrates, der übrigens seit 1972 den A-Status der UNESCO besitzt.
In den nachgeordneten Fachkommissionen des CIEPS und deren Präsidien wirkten die Professoren Wonneberger, Paul Kunath, Gras, Tittel, Marhold sowie die Doktoren Krüger, Trogsch, Arnold, Hirsch mit.
Hervorzuheben sind dabei jene Wissenschaftler, die als Präsidenten tätig wa-ren. Prof. Dr. Wonneberger für die Fachkommission Geschichte, Prof. Dr. Paul Kunath leitete als Mitglied der Fachkommission Sportpsychologie die Europäische Vereinigung FEPSAC und der erste Bibliotheksdirektor der DHfK, Dr. Walter Arnold, war Nestor der Fachkommission Sportinformation und Dokumentation und stand zugleich an deren Spitze.
Bleibt zum Schluss dieser beispielhaften Nennung noch zu unterstreichen übrig, dass die Hochschule bereits 1961 Mitglied des Weltrates und seit 1970 offizielles Mitglied in der AIESEP, der Internationalen Assoziation der Hochschulen für Kör-pererziehung, war.
Damit der Leser diese knappe Auswahl richtig interpretieren kann, sei nochmals betont: Mit der unsinnigen Abwicklung der DHfK wurde gleichwohl ein international aufgebautes Renommee oder Ansehen zerstört, das in der Welt einzigartig war.
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An dieser Stelle möchte ich, nein muss ich auf das letzte Gemeinschaftswerk von Wissenschaftlern und Hochschullehrern der DHfK aufmerksam machen, das im Jahr 2007 im Verlag Meyer & Meyer erschienen ist. Mit dem Titel „Deutsche Hochschule für Körperkultur – Leipzig 1950 - 1990“. Hier findet der sportinteres-sierte Leser einen guten Überblick dessen, was in den 40 Jahren von und in die-ser akademischen Einrichtung geschaffen worden ist.
Die Gründung der DHfK löste auch in der BRD auf höchster Ebene nicht nur Bestürzung aus, sondern führte auch zu internationalen Reaktionen.
Hierzu folgende Darstellung aus einem, zu jener Zeit streng vertraulichen „Aid mémoire“ des Präsidenten des westdeutschen Sportbundes (DSB) an den zu-ständigen Innenminister der Adenauer-Regierung, im Januar 1956. „In Leipzig an der ‚Sporthochschule‘ wird in den großartig eingerichteten Instituten der beste wis-senschaftliche Nachwuchs Deutschlands auf dem Gebiet der Sportwissenschaft gesammelt. Es besteht für mich kein Zweifel darüber, dass auch geistig in der Sportwissenschaft der SBZ alles in den Schatten stellen wird, was in der Bundes-republik vorhanden ist... Ich glaube, dass es keinen Zweck hat, sehr verehrter Herr Minister, die Tatsachen noch weiter zu bagatellisieren, ich glaube vielmehr, dass es richtiger ist, die Tatsachen zu erkennen und zu überlegen, ob es nicht erforder-lich ist, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“ (Daume 1956, entnommen G. Wonneberger: Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig 1950-1990, S. 18)
Diese Wertschätzung vorab, war 1990, gelinde ausgedrückt, unzulässig.
Als Ausklang meiner Intentionen zu dem gesellschaftlichen und sportlichen Ver-lust als Ergänzung ein Zitat des Sammelbandes, das auf der Rückseite nachzule-sen ist. „Die von der Staatsregierung des Landes Sachsen im Jahr 1990 verfügte Abwicklung der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig ist bis zum heu-tigen Tag umstritten. 10 Jahre nach der Wiedervereinigung im deutschen Sport bi-lanzierten deutsche Sportfunktionäre, dass es ein Fehler war, die DHfK in Leipzig zu schließen ... und wir uns zu wenig Gedanken gemacht haben über das DDR-Sportsystem.“ (Zitat: Die Welt, Berlin, 7. Dez. 2000)
Ja, so ist es mit Einsichten, die zu spät kommen und deshalb irreparabel sind, weil man sich diesen Kardinalfehler aus politischen Gründen nicht eingestehen will. Daniela Dahn würde sagen: „Wehe dem Sieger!“ In der Tat, was mit der DHfK geschehen ist, darf durchaus als Siegermentalität eingestuft werden.
In diesem Abspann möchte ich dem Leser jene ehemaligen Mitarbeiter der Hochschule vorstellen, die in sehr differenzierter Weise ihre enge Verbundenheit mit ihrer DHfK in Veröffentlichungen nach 1990 zum Ausdruck gebracht haben. Auf den Sammelband und die Geschichte des Ausländerstudiums von Lothar Kalb habe ich bereits verwiesen.
Horst Röder hat in seinem Buch „Bewegtes Leben“, das im Jahre 2004 er-schien, im Teil 2 eine beeindruckende Würdigung seiner Studien- und Lehrjahre an der DHfK vorgenommen. Er hat an der Hochschule als Lehrkraft gearbeitet, promovierte im Fachbereich Theorie und Methodik des Trainings, wurde zum Pro-fessor berufen und hat schließlich drei Jahrzehnte im Zentrum des Leistungs-sports der DDR gewirkt. Als Führungskader des DTSB hat er maßgeblich das ho-he Niveau des Leistungssports mitgeprägt.
Eine bemerkenswerte Publikation ist von Dr. Norbert Rogalski im Jahr 2005 er-schienen. Seine Sicht auf die DHfK wurde mit dem Titel „Qualifiziert und ausge-mustert“ sehr detailliert vorgestellt. Eine langjährige Tätigkeit nach dem Studium
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an dieser Sporthochschule, als Prorektor und Parteisekretär wirksam sowie mit Er-fahrungen eines verantwortlichen Mitarbeiters im Staatssekretariat für Körperkultur und Sport ausgestattet, gelingt ihm eine sehr glaubhafte und überzeugende Mo-nographie.
Die Bemühungen eines der letzten Studenten der DHfK, Karsten Schumann, Aufhebenswertes zu bewahren, sind ein hervorragender Beitrag zeitgeschichtli-cher Forschungsarbeit. Anlässlich des 50-jährigen Gründungstages der DHfK im Jahre 2000 erschienen von ihm eine Chronik in Kurzform und die „Chronologie ei-ner weltbekannten Sporthochschule und das abrupte Ende ihrer Geschichte“.
Aus dieser sehr gut recherchierten Arbeit ein sehr bewegender Ausspruch ei-nes bekannten „Nichtsportlers“ mit internationalem Ruf. Professor Kurt Masur, Gewandhauskapellmeister, reagierte auf das Abwicklungsvorhaben der Sächsi-schen Landesregierung, anlässlich eines Festkonzertes für die deutschen Olympi-asieger am 6. Juli 1991 mit den Worten: „Diese Einrichtung muss gerettet werden, sie ist für Deutschlands Sport das, was für die Musik das Gewandhaus ist.“
Eine besondere Erwähnung gebührt der von Karsten Schumann und Ronny Garcia herausgegebenen Schriftenreihe „Sport, Leistung, Persönlichkeit“. In sehr guter Aufmachung durch den GNN-Verlag Schkeuditz, erschienen von 2002 – 2005 6 Bände unter dem Markenzeichen „Elite“, in denen mit hohen Anteilen Hochschullehrer und Wissenschaftler der DHfK aller Sektionen und Wissen-schaftsbereiche ausgewählte Fachthemen publizierten. Einbezogen waren in glei-cher Weise Wissenschaftler des Forschungsinstituts (FKS). Insgesamt eine aus-gezeichnete Leistung nach Abwicklung der DHfK und Reformierung des For-schungsinstituts.
Die Abwicklungsbefürworter sollten sich im Band 3 den Beitrag von Dr. Ulrich Wille „Quo vadis – deutsche Sportnation?“ zu Gemüte führen. Gleiches gilt für den Beitrag von Prof. Dr. Günter Erbach: „Die DHfK – ein Gütezeichen des DDR-Sports und der Sportwissenschaft“. Dieser aufrüttelnde Leitgedanke wurde anläss-lich der 60-jährigen Gründung der Leipziger Sportuniversität am 20. Oktober 2010 weitergeführt. Wegen seines schlimmen Verkehrunfalls konnte er leider nicht an dieser Festveranstaltung in Berlin teilnehmen.
Eine zeitgleiche Würdigung fand mit ehemaligen DHfK-Angehörigen in Leipzig statt.
In Weiterführung der Ereignisschilderung leite ich auf einen Vorgang über, der zeitgemäß als notwendiger Akt kaderpolitischer Formalien erledigt wurde. Die Emeritierung von Ordentlichen Professoren. Eigentlich eine feierliche, im Hoch-schulalltag herauszuhebende Würdigung als Anerkennung von Verdiensten in Lehre, Forschung und Wissenschaftsentwicklung für langjährig tätige Angehörige einer Universität oder Hochschule. Es geht aber auch anders, einfacher, wie er-lebt.
Ende August wurden die Professoren Stiehler, Sieger, Lenz, Schreiter und ich zum Übergangsrektor, Prof. Dr. Helmut Kirchgässner, geladen.
In seinem Dienstzimmer erhielten wir nach kurzer Einführung die Emeritie-rungsurkunden überreicht. Damit erhielten wir den Alterstitel Prof. emeritus (em.), der verbunden ist mit Rechten an der Hochschule, wie Aspirantenbetreuung, Gut-achtertätigkeit, Teilnahme an Sitzungen und Beratungen in den Wissenschafts-gremien, so auch materielle Sicherstellung im Alter. Seit Gedenken im akademi-schen Bereich bleibt der Emeritus Angehöriger der universitären Einrichtung.
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Aber nicht so für dieses akademische Personal nach der berühmt-berüchtigten Wende.
Wir, die wir einen großen Erfahrungsschatz auf vielen Wissenschaftsgebieten hätten einbringen können, waren nicht mehr, von heute auf morgen, gefragt, wir wurden einfach nicht mehr gebraucht. Welch ein bildungspolitischer Unsinn? Vor allem auch auf bildungsökonomischer Ebene.
Streng genommen, war es eine fristlose Entlassung ohne jedwede Abfindung. Und das nach 30-jähriger erfolgreicher nationaler und internationaler Tätig- und Wirksamkeit an der DHfK wie in einer Vielzahl von Wissenschafts- und Fachgre-mien.
Sah das der sogenannte Einigungsvertrag vor? Offensichtlich ja, bei dieser übereilten und oberflächlichen Ausarbeitung.
Als letzte Amtshandlung blieb nur die Übergabe meiner Dienstpflichten an mei-ne Oberassistentin, Frau Dr. habil. Brigitte Reinhardt.
Das Ende meiner offiziellen Tätigkeit an der DHfK führte meine engsten Mitar-beiter des Lehrstuhlbereiches zu einer besinnlichen Gartenparty zusammen. Rückschauend stellten wir fest, dass wir das Geschaffene mit Genugtuung be-trachten dürfen und durchaus stolz sein können, die Wissenschaftsdisziplin Sportsoziologie der DDR als leistungsstarken Bestandteil der Sportwissenschaft entwickelt zu haben.
Mit unseren Ergebnissen konnten wir im In- wie im Ausland als gleichwertiger Partner auftreten und zugleich den guten Ruf unseres Landes festigen helfen.
Es versteht sich von selbst, dass dabei die Sorge um den Fortgang der Tätig-keit und des noch nicht Vollendeten in den Gesprächen ständig mitschwang.
Dem Leser sind ja bereits Einzelheiten der Abwicklungsgeschichte bekannt. Die Turbulenzen der Jahre 90/91 eine eigenwillige oder auch eigenartige Dramaturgie in sich. Ereignisse überschlugen sich oder hatten oft skurrile Züge. Indem ich das hier so feststelle, denke ich an die so genannten Runden Tische, die aufgegebe-nen Kaderreduzierungen, die Binnenstrukturregelungen oder das Neubesetzungs-karussell.
Ergänzungshalber ist zu diesem Abschnitt noch hinzuweisen, dass trotz der Abwicklungshektik ich den internationalen Reiseplan zu erfüllen hatte. Mit den Verpflichtungen in Gummersbach und Wien im Frühjahr 1991, auf deren Abläufe bereits weiter vorn eingegangen worden ist, schloss sich der Kreis meines wis-senschaftlichen Tuns.
...
Epilog
...meine Generation: Hineingeboren werden in die zunächst aufstrebende Wei-marer Republik, die Schul- und Jugendzeit vollzog sich in der Naziperiode, Studi-um und Tätigkeit erfolgten im Sozialismus der DDR und das Rentnerdasein erlebe ich im kapitalistischen Deutschland. Auf einen Nenner gebracht, ein Leben in vier sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systemen.
Die beschriebene Odyssee mit ihren gefährlichen und zum Teil lebensbedrohli-chen Situationen hat mein Leben genauso geprägt, wie der Versuch ein friedliches und schaffensreiches Leben zu gestalten. Und zwar in einem Deutschland, das sich DDR nannte.
In einem Land, das mir nach den Erfahrungen des 2. Weltkrieges als das einzig Richtige bedeutete. Wenngleich ich anfangs Vieles nicht verstanden habe, erkann-
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te ich sehr bald die Vorzüge einer sozialistischen Entwicklung. Die menschliche Seite dieses Prozesses war gleichbedeutend mit meiner aktiven Beteiligung im Rahmen meiner politischen und wissenschaftlichen Verantwortung. ...
Am Ende meiner wissenschaftlichen Schaffensperiode musste ich leider und bedauernd feststellen, dass der Umbruch 1989/1990 im Vereinigungsprozess nicht auf Augenhöhe zweier von der UNO anerkannter Staaten auf deutschem Boden von statten ging. ...
10 Jahre www. sport-ddr-roeder.de
Von Horst Röder
Seit zehn Jahren verbreitet Prof. Horst Röder in unregelmäßigen Abständen seine Website, die von vielen wahrgenommen wird. Wir hielten dieses Jubiläum für angemessen, ihn um einen Beitrag dazu zu bitten, den wir leicht gekürzt wie-dergeben. Der Autor verzichtete darauf, mitzuteilen, dass der Verein Sport und Gesellschaft e.V. mit Unterstützung des SPOTLESS-Verlags bereits seit 1995 die Halbjahreszeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“ herauszugeben, die lange die einzige Publikation der Sportwissenschaft in den neuen Bundesländern war. Die Zeitschrift wurde auch international stark frequentiert und veröffentlichte nicht nur gravierende Beiträge von Sportwissenschaftlern, die eine maßgebliche Rolle im DDR-Sport gespielt hatten, sondern auch zahlreiche aufsehenerregende Doku-mente, die Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland nach der 30-Jahre-Sperrfrist zur Publikation zur Verfügung stellen musste. Noch heute sind diese Dokumente die einzigen Quellen, die das Engagement der Bundesre-gierung im bundesdeutschen Sport – vor allem aber die maßlosen Eingriffe in den internationalen Sport – offenbaren. Die Zeitschrift widmete auch in zahlreichen Nachrufen die enormen Leistungen von verstorbenen DDR-Sportwissenschaftlern und wurde nach einem Beschluss des Vorstands des Vereins Sport und Gesell-schaft ins Internet (www.sportgeschichte.net) gestellt.
Prof. Dr. Röder schreibt:
„Kein Grund zum Feiern, aber doch bemerkenswert: Im Juni dieses Jahres wurde unsere Webseite 10 Jahre alt. Und jetzt – vor wenigen Tagen – überschrit-ten die Besuchszahlen die 100.000! Als ich damals, im Frühjahr 2001 an die Vor-bereitung der Homepage ging, hatte ich keinerlei Vorstellungen welchen Zuspruch eine derartige Internetseite zum Sport und Leistungssport der DDR haben würde. Nach zwei Jahren hatten gerade erst 6.000 Interessenten diese Adresse ange-klickt. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass die Zahl der Besucher über die Jahre eher ab- als zunimmt, wurde doch der zeitliche Abstand zu den Erfolgen un-serer Athleten, wie zum Beispiel bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul, im-mer größer. Doch das Gegenteil geschah. Im Jahr 2010 zählte der Counter die Rekordzahl von 22.000 Besuchen. Auch wenn man bei diesem Anstieg die stürmi-sche Verbreitung des Internet als eine der Ursachen in Rechnung stellt, das Inte-resse an dieser Seite hielt und hält über Jahre relativ konstant an. Dafür spricht auch die wachsende Zahl der Leute, die mich per E-Mail anschrieben, ihre Mei-nung äußerten, Fragen stellten oder um Literaturhinweise oder Interviews baten. Die übergroße Mehrzahl bewertete die Website positiv und anerkannte besonders
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die Darstellung des Hochleistungs- und Nachwuchsleistungssports in der DDR als hocheffizientes komplexes System mit ihm eigenen Funktionen und Strukturen. Nur ganz wenige Personen, die mir E-Mails schrieben, verhielten sich grundsätz-lich ablehnend, ja, aus politischen Gründen feindselig.
Was waren die Beweggründe für die Einrichtung einer Website über den Sport der DDR?
Bekanntlich setzte mit der Zeit der Wende eine extreme Verleumdung und Kri-minalisierung des Sports der DDR ein. Politik und Medien gebrauchten dafür per-manent Stasi- und Dopingvorwürfe, um Sport und Sportler zu diskriminieren. Die in der DDR über Jahrzehnte gewachsene hohe Anerkennung der Leistungen der besten Athleten und des Sports insgesamt, die auch nach der Wende in der Be-völkerung vielfach fortwirkte, missfiel der neuen politischen Klasse. Die Anwen-dung von Dopingmitteln, die gegen die Regeln des Sports verstieß, aber damals in keinem Land der Welt einen Straftatbestand darstellte, wurde als ein Teil der Re-gierungskriminalität in der DDR erklärt und ungeachtet aller Verjährungsfristen lange Jahre nach dem Ende der DDR juristisch verfolgt. Auch gegen mich wurde ermittelt, ich wurde vernommen und bestraft. Die in ähnlicher oder gleicher Weise mit Dopingvorwürfen belasteten Funktionäre, Ärzte und Trainer der alten Bundes-republik blieben bis heute unangetastet. Im Zusammenspiel von Politik, Medien und Justiz entstand ein Zerrbild des DDR-Sports aus Halbwahrheiten und Wahr-heiten, aus Lügen und Erfindungen. Es war in keiner Weise jener lebendige Sport in Breite und Spitze, in Stadt und Land, von Jung und Alt, den ich selbst als Sport-ler betrieben, erlebt und aktiv in verschiedenen Führungsaufgaben mitgestaltet habe. Es wuchs die feste Absicht: Dem musste widersprochen werden. Als einer der Vizepräsidenten des DTSB, lange Jahre auch zuständig für den Hochleis-tungs- und Nachwuchsleistungssport, betrachtete ich es als Aufgabe, die Wahrheit über den Leistungssport, seinen Weg in die Weltspitze, seine Grundlagen und Triebkräfte darzustellen und all jene – Sportler, Trainer, Wissenschaftler, Medizi-ner, Techniker, Helfer und Leiter - zu würdigen, die dafür ihr Bestes gegeben ha-ben. Was konnte man dafür tun? Der Weg in die Öffentlichkeit war uns weitge-hend verbaut. Und wenn Interviews oder Veröffentlichungen möglich waren, muss-te man damit rechnen, dass sie beschnitten, verbogen oder durch inakzeptable Forderungen verhindert wurden. So wuchs die Idee, das Internet, dieses damals noch junge elektronischen Medium, zu nutzen. Hier vermochte man sich ohne Be-schränkungen oder den Einfluss von Verlagen und Lektoren und auch ohne grö-ßeren finanziellen Aufwand zu äußern. Im Gegensatz zu einer Buchveröffentli-chung versprach ich mir durch die Nutzung des Internets eine sehr viel breitere, ja globale Öffentlichkeit. Meine Erwartungen erwiesen sich als richtig.
Aus welchen Ländern und Orten kamen die Besucher der Webseite?
Internetsuchdienste, wie zum Beispiel Google, bieten für die einzelnen Websei-ten umfangreiche Analysen an. Sie geben Auskunft über die Herkunft der Besu-cher sowohl nach Kontinenten, Ländern und Orten und informieren über die Zeit-dauer der Nutzung einer Webseite und vieles anderes mehr. Als Grundlage für unsere Analyse entschieden wir uns für den Zeitraum eines Jahres und zwar vom Oktober 2010 bis Oktober 2011. In dieser Zeit wurde unsere Webseite fast 19.000-mal angeklickt. Die Besucher kamen aus 82 Ländern oder – auf Städte und Orte bezogen - aus 1.479 Orten. Diese Zahlen überraschten auch uns. Sie bestätigen unsere im vorangehenden Abschnitt beschrieben Erwartung, dass wir
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mit einem Internetauftritt weit über Deutschland hinaus sportinteressierte Men-schen erreichen würden. Natürlich kamen die meisten Besucher aus Deutschland (16.361) sowie anderen deutschsprachigen Ländern - Österreich (651), Schweiz (492). Dann folgten Polen, Frankreich und – durchaus erstaunlich – mit 94 Besu-chen die USA. Und noch erstaunlicher: Die durchschnittliche Verweildauer der amerikanischen Besucher auf unserer Homepage betrug über 30 Minuten! Groß-britannien, der Ausrichter der Spiele 2012, kam mit 83 Besuchen unmittelbar nach den Interessenten aus den USA. (…)
Abschließend zu diesem Teil noch einige Zahlen aus der eigenen Statistik über den Anstieg der Interessenten in den zurückliegenden zehn Jahren. Von Juni 2001, dem Monat der Eröffnung der Webseite, bis zum 31.12.2003 wuchs die Zahl auf 9.140. In den Kalenderjahren 2004 bis 2007 stiegen die Zahlen jährlich zwischen 4.400 und 5.800, so dass am Jahresende 2007 29.723 Besuche regis-triert wurden. Ab 2008 vergrößerte sich der Zuspruch ganz erheblich: 2008 plus 11.247, 2009 plus 18.734, 2010 plus 22.574. Sicherlich geht man nicht fehl, wenn man diesen sprunghaften Anstieg mit den Olympischen Spielen 2008 in Peking, aber auch mit den neuen Kapiteln, die wir in diesen Jahren in die Homepage stell-ten, verbindet. (…)
Welche Kapitel der Homepage bevorzugten die Nutzer besonders?
Die vorliegenden Analysedaten ermöglichen auch eine differenzierte Einord-nung der in den einzelnen Kapiteln enthaltenen Abschnitte. So fällt auf, dass im Kapitel Hochleistungssport der Olympiazyklus 1968 – 1972 mit den Aussagen zu den Olympischen Spielen in München mehr als 3.400-mal aufgerufen wurde. Das ist fast das Zehnfache der Aufrufe für die Olympiazyklen 1976 – 1980 und 1984 – 1988. Im Kapitel Nachwuchssport mit seinen insgesamt fünf Teilabschnitten inte-ressierten vor allem die Ausführungen über den organisatorischen Aufbau der ersten und zweiten Förderstufe, über das Wettkampfsystem und über Sichtung, Auswahl und Normensystem am stärksten. Im Kapitel über Trainer und Trainer-wesen konzentrierte sich - den Seitenaufrufen nach – die Aufmerksamkeit vorran-gig auf die Abschnitte über die gesellschaftliche Stellung des Trainers in der DDR sowie auf die weitere Spezialisierung der Trainertätigkeit in den achtziger Jahren. Zum Kapitel Sportwissenschaft fiel auf, dass sich die Nutzer besonders für die Kurzbeschreibungen der an der Leistungssportforschung beteiligten Wissen-schaftseinrichtungen, aber auch für die wissenschaftspolitischen und wissen-schaftsmethodologischen Grundlagen der Sportwissenschaft in der DDR interes-sierten. Unsere Annahme, dass nicht wenige der mit der Sportlehrerausbildung und der Forschung im Sport befassten Hochschullehrer in den alten wie in den neuen Bundesländern unsere Homepage wiederholt besuchten, ist nicht unbe-rechtigt. Sie lässt sich belegen, wenn man beispielsweise die Liste der von den Nutzern unserer Webseite verwendeten Betriebssysteme einsieht. Daraus ist zu erkennen, dass im Jahresabschnitt 2010/11 in 88 Fällen das Betriebssystem der Universität Leipzig, in 22 Fällen das der Uni Potsdam, in 19 das der Sporthoch-schule in Köln sowie das der Technischen Universität in Chemnitz-Zwickau und elfmal das der Humboldt-Universität Berlin verwendet wurde. Die Übersicht endet mit dem Rechenzentrum der Hochschule der Bundeswehr in München, also auch sie ein mehr oder minder eifriger Nutzer unserer Webseite über den Sport und Leistungssport in der DDR.
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E-Mails – eine wichtige Ergänzung der vorliegenden statistischen Daten
Fast noch bedeutsamer als die bisher aufgeführten Zahlen waren bzw. sind die Reaktionen der Besucher auf unsere Webseite. In den zurückliegenden zehn Jah-ren erhielten wir dazu mehr als 480 E-Mails. Es waren vor allem junge Leute die sich zu Wort meldeten, ist doch das Internet vor allem ihr Medium. Ältere Interes-senten, soweit sich das aus den E-Mails erkennen ließ, meldeten sich weitaus weniger als erwartet. Besonders Schüler aus Gymnasien, Sportstudenten, Dokto-ranten stellten ihre Fragen, baten um Antworten, äußerten sich zustimmend oder kritisch zu den Inhalten oder der Aufmachung der Homepage. Manchmal entwi-ckelten sich daraus mehrfache E-Mail-Kontakte, inhaltliche Diskussionen, die rela-tiv viel Zeit in Anspruch nahmen, aber uns auch viel Freude bereiteten. Auch rela-tiv viele Interessierte aus dem Ausland schrieben uns an. Die Bandbreite der ge-stellten Fragen war groß. Sie reichte von den Funktionen des Leistungssportes in der DDR über mentales Training, die Barokammer an der Sportschule Kienbaum, die Sichtung und Auswahl von sportlichen Talenten, die Kinder- und Jugendspar-takiaden, die Finanzierung der Sportgemeinschaften bis hin zu Literaturangaben und Fotowünschen. Das Kapitel „Fragen und Antworten“ gibt dazu einen Über-blick. Wir stellten uns dem Anspruch, möglichst jede an uns gerichtete sachliche Frage zu beantworten. Das war oft mit viel Arbeit verbunden! Neu für uns war die Tatsache, dass es in den Gymnasien üblich ist, von den Schülern Belegarbeiten schreiben oder so genannte Präsentationen ausarbeiten zu lassen. Wir waren überrascht, wie viele Schüler und Lehrer Themen zum DDR-Sport wählten. Und das bis heute, mehr als 20 Jahre nach dem Ende der DDR und ihres erfolgreichen Sports. Manche der Themen waren, besonders wenn es um einen Vergleich zwi-schen dem Sport der DDR und dem der BRD ging, sehr anspruchsvoll. Meistens waren sie sehr interessant und spannend. Drei Themen seien hier exemplarisch genannt:
- Im Juni 2008 erhielt ich von vier Thüringer Abiturschülern per E-Mail ein Konzept für ihr Seminarthema „Biathlon – Thüringer auf dem Vormarsch“. Die Konzeption enthielt solche Teilthemen wie „Biathlon wirtschaftlicher Aufschwung für eine ganze Region“ oder „Sportgymnasium Oberhof – akribische Arbeit auf dem Weg zur Jugendförderung“. Wir konnten den Autoren ergänzende Hinweise geben und machten ihnen viel Mut bei der Bearbeitung eines Themas „mit viel Po-tential“.
- Eine Schweizer Radsportlerin bat um Unterstützung bei ihrer Maturaarbeit, in der sie sich mit der „Wiedervereinigung der deutschen Radsportverbände des Ostens und des Westens“ befasste. Kein einfaches Vorhaben! Wir beantworteten nicht nur ihre Fragen, sondern gaben ihr auch eine ganze Reihe von Hinweisen aus der Sicht unserer Erfahrungen. In der uns später übersandten 20-seitigen Ar-beit fanden wir manche – wenn auch nicht alle - unserer Anregungen berücksich-tigt.
- Anfang dieses Jahres bekamen wir per E-Mail Kontakt mit einer jungen Handballerin aus Berlin. Sie und ein weiterer Mitschüler hatten im Rahmen ihrer Abiturprüfungen einen Vortrag übernommen, in dem sie am Beispiel des Boykotts der Olympischen Spiele 1980 und 1984 die „Instrumentierung des Sports zur Durchsetzung politischer Ziele“ erörtern wollten. Wir unterstützten sie durch die Beantwortung ihres Fragenspiegels und bei der Gewinnung weiterer Zeitzeugen.
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Der uns übermittelte Vortrag wies solide Recherchen und inhaltlich ein hohes Ni-veau auf.
Natürlich gab es nicht nur positive, sondern auch andersartige Erfahrungen. Hier die Wiedergabe eines Meinungsaustausches mit einem Abiturienten, dessen Heimatort uns nicht bekannt ist.
„Hallo Herr Dr. Röder
Mein Name ist Kai D. und ich bin Schüler der 13 Klasse. Ich schreibe in kürze mein Abitur und natürlich beinhaltet dies auch eine Präsentationsprüfung. So kam es, dass ich im Laufe meiner Recherchen auf ihre Seite gestoßen bin. Denn mein Thema lautet: „Der politische Sport und das Doping in der DDR- Rechtfertigungsversuche aus der Sicht eines DDR-Sportfunktionärs" Da ich auf ihrer Homepage die Spalte mit den E- Mail Anfragen gesehen habe, dachte ich mir sie wären ein sehr guter Interviewpartner für mich und mein Thema. Die Prüfung findet Mitte Juni statt.
Wenn (sie) nun also Interesse hätten sich zu diesem Thema zu äußern, dann bitte ich Sie um eine Antwort. Sollte sie diese mit JA beantworten so schicke ich ihnen die Fragen per E-Mail zu.
Ich bedanke mich rechtherzlich und hoffe auf eine Antwort von ihnen Mit freundlichen Grüßen Kai D.“
„Hallo, Herr D….,
Ihre E-Mail vom 21. April habe ich mit Interesse zur Kenntnis genommen. Für gewöhnlich beantworte ich gerne Anfragen von Besuchern meiner Homepage zum Sport und Leistungssport in der DDR. Dabei betrachte ich es als Voraussetzung, dass die Themen- bzw. Fragestellung sachlich und korrekt und nicht politisch-ideologisch vorgefasst oder gar feindselig vorgeprägt ist. Für Antworten auf For-mulierungen wie „der politische Sport .....in der DDR" oder „Rechtfertigungsversu-che aus der Sicht eines DDR-Sportfunktionärs" stehe ich Ihnen nicht zur Verfü-gung. Schade, dass für Sie als junger Mensch, der den in vieler Hinsicht erfolgrei-cheren und international hoch anerkannten Sport in der DDR selbst nie erlebt hat, die Urteile darüber bereits feststehen!
`Ein Urteil lässt sich widerlegen, doch niemals ein Vorurteil´
Ebner-Eschenbach“
Mehr als ein Disput mit Fachkollegen per Internet
Die Beantwortung von Anfragen junger Leute war uns sehr wichtig und machte uns Spaß. Als Zeitzeuge der Entwicklung des DDR-Sports über mehr als drei Jahrzehnte sehen wir darin eine wichtige Aufgabe, gewissermaßen eine Verpflich-tung. Das galt und gilt auch bezüglich unserer Internetkontakte mit Fachkollegen des In- und Auslandes. Immerhin etwas mehr als 7 % aller E-Mails zu unserer Webseite kamen aus dem Ausland. Auch hier stehen Vertreter aus Österreich und der Schweiz an der Spitze, gefolgt von Japan, Holland, Dänemark, Polen, Ukraine, Indien, USA und - fast etwas exotisch - auch aus Venezuela. In diesem letzteren Fall handelt es sich um einen in Deutschland ausgebildeten Sportlehrer, der schon vor Jahren Deutschland verließ und nach Venezuela ging, wo er jetzt als Trainer und Funktionär im Sport tätig ist. Er ist sehr interessiert an trainingswissenschaftli-chen Erkenntnissen der DDR, speziell im Kampfsport und meldet sich über E-Mail in größeren Zeitabständen bei uns. Seit Jahren bestehen auch mit japanischen Fachleuten wissenschaftliche Kontakte. Bereits 2004 orderte Professor Katsumi eine CD der Homepage.
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2006 kam es dann zu einem längeren Gespräch in Leipzig. Im gleichen Jahr hatte ich in Berlin auch ein Interview mit einem Journalisten der drittgrößten japa-nischen Tageszeitung.
Was den Gedankenaustausch per Internet zu Hochschullehrern und anderen Sportfachkräften in Deutschland anbetrifft, so ist an erster Stelle eine Gruppe pro-filierter Wissenschaftler der DHfK in Leipzig zu nennen. Im Zusammenhang mit unserer Homepage waren sie in den vergangenen Jahren bei weitem nicht nur Leser oder Fragesteller, sondern auch hilfreiche Berater bei der Abfassung ver-schiedener Kapitel. Mein Dank dafür gilt im besonderen Maße Prof. Dr. Gerhard Lehmann, in den 80-er Jahren Rektor unserer Sporthochschule in Leipzig, Prof. Dr. Fred Gras, einem der führenden Sportsoziologen sowie Dr. Norbert Rogalski und Dr. Lothar Kalb. Unsere Verbindungen waren bzw. sind teilweise recht inten-siv und gehen oft weit über das Themenfeld der Webseite hinaus. Das gilt auch voll und ganz für meine ehemaligen Kollegen aus dem Bundesvorstand des DTSB, den Olympiasieger Dr. Thomas Köhler und seine ebenfalls als Wissen-schaftlerin Frau Irene, für den langjährigen Leiter der Abteilung Planung und Ko-ordinierung des DTSB, Helmuth Horatschke sowie für den fachkundigen Spezialis-ten zu allen Fragen des Kinder- und Jugendsports und des Nachwuchsleistungs-sports, Dr. Ullrich Wille. An dieser Stelle ist es mir ein besonderes Anliegen, Prof. Dr. Günter Erbach für seine oftmaligen Denkanstöße, die er uns in den vergange-nen Jahren vermittelte, herzlich Dank zu sagen.
Was die Verbindungen zu den sportwissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland, einschließlich der Deutschen Sporthochschule in Köln anbelangt, so blieben sie weitestgehend formal. In den Jahren 2001 und 2002 wurden die Direk-toren einer größeren Anzahl von Instituten in West und Ost von uns über die neue Webseite informiert. Außer höflichen Antworten und den Verweis auf eine Be-kanntgabe unserer Webadresse in den betreffenden Institutsbereichen und Biblio-theken, kam es selten zu weiteren Kontakten. Ausnahmen bestätigten auch hier die Regel, zum Beispiel – Sportwissenschaftler aus Göttingen, Koblenz/Remagen und Erfurt.
(…) Hier soll an einigen ausgewählten Beispielen die Vielfalt der diskutierten Probleme verdeutlicht werden:
Im Ergebnis einer Diskussion mit den Schülern seiner Klasse, von denen ein-zelne unsere Homepage eingesehen hatten, erhielt ich im Herbst 2005 eine im Stil und Inhalt aufgebrachte und nicht gerade höfliche E-Mail eines Sportlehrers aus Potsdam. Er unterstellte mir eine „Verklärung“ des Sports der DDR und griff im Kontext damit unsere Sportleitung und auch mich persönlich unter anderem we-gen des Boykotts der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles an. In meiner Ant-wort habe ich mich bemüht, den Meinungsaustausch zu versachlichen und die Ar-gumente für den damaligen Boykott (Verschärfung der Beziehungen zwischen Sowjetunion und USA, Verzögerung der vom IOC geforderten Sicherheitsgaran-tien durch die US-Regierung, Solidarität mit dem sowjetischen Sportlern nach langem gemeinsamen Kampf um internationale Anerkennung des DDR-Sports u. a.) in den großen internationalen Zusammenhang zu stellen. Im weiteren Verlauf wurde ein Teil unserer Argumente zunehmend akzeptiert und am Ende verstän-digten wir uns darauf, dass der Sportlehrer unsere Diskussion mit der Klasse be-spricht und auswertet.
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Den wohl längsten und aufwendigsten Meinungsaustausch gab es 2009 mit ei-nem Professor einer in Rheinland-Pfalz gelegenen Fachhochschule. Neben einer ganzen Reihe von einzelnen Beispielen und Vorwürfen, die ich mit Geduld zu ent-kräften versuchte oder auch akzeptieren musste, bestand sein hauptsächliches Anliegen darin nachzuweisen, dass der von mir vorgenommene Leistungsver-gleich zwischen dem Sport beider deutscher Staaten unzulässig sei, da die gesell-schaftlichen Prämissen und philosophischen Kategorien auf Grund ihrer Unter-schiedlichkeit einen derartigen Vergleich nicht zuließen. (Er stützte sich dabei auf den Sozialphilosophen Karl Popper, Begründer des kritischen Rationalismus, der u. a. die gesellschaftliche Praxis als Kriterium der Erkenntnis ausschließt sowie Theorie und Erfahrung völlig trennt.) Ich hielt dem entgegen, dass man seit nun-mehr 20 Jahren Tag für Tag verfolgen konnte, dass durch Politik und Medien der-artige Vergleiche (z. B. zur Wirtschaft und Arbeitsproduktivität, zu Demokratie und persönlichen Freiheitsrechten usw.) bewusst gezogen würden, um die Überlegen-heit des kapitalistischen Gesellschaftssystems der BRD unter Beweis zu stellen. Warum also nicht auch umgekehrt? Warum nicht auf dem Gebiet des Leistungs-sports, auf dem der Sport der DDR insgesamt und in vielen Sportarten dem west-deutschen weit überlegen war? Es kann nicht sein, was nicht sein darf? Anstatt Popper bevorzugte ich Karl Marx und seine These, dass das Kriterium der Wahr-heit die Praxis ist! Natürlich konnten wir diesbezüglich keine Übereinstimmung fin-den. Aber in zweierlei Hinsicht stimmte mein Gegenüber mir am Ende der Debatte zu: Der DDR-Leistungssport war eines der leistungsfähigsten Sportsysteme der Welt und sein reiches praktisches und wissenschaftliches Erbe hätte man seitens der alten BRD besser nützen können und müssen!
Als letztes Beispiel sei ein Meinungs- und Erfahrungsaustausch mit dem Leiter eines Olympiastützpunktes am Beginn des Olympiajahres 2008 angeführt. In ei-nem Artikel im Internet wies er nachhaltig auf die Funktion der Olympiastützpunk-te, vor allem als „Dienstleistungszentren“ hin. Mir erschien diese Sichtweise zu einseitig, nicht komplex genug. In einer E-Mail legte ich unsere Erfahrungen aus der Olympiavorbereitung 1988 dar, die sich nicht nur auf die Sicherung eines op-timalen Bedingungsgefüges für Training, Leistungsdiagnostik und Wettkampf be-schränkte, sondern gleichwichtig den möglichst engen persönlichen Kontakt der wichtigsten Führungskräfte (z. B eines Sportclubs) zu den chancenreichsten Olympiakandidaten und deren Trainer einschloss. Die Sicherung eines hocheffek-tiven Trainings sowie der dafür notwendigen subjektiven und objektiven Bedin-gungen standen im Zentrum unserer Olympiavorbereitung. Der Austausch mehre-rer E-Mails reichte nicht aus, um das Thema ausführlich zu beraten. Wir vereinbar-ten ein Gespräch miteinander, in dem bestehende Missverständnisse sehr schnell ausgeräumt und eine weitgehende Übereinstimmung der Auffassungen und Erfah-rungen festgestellt wurde.
Die hier wiedergegebenen Beispiele veranschaulichen die Vorzüge, aber auch die Grenzen des Kommunikationsmittels E-Mail. Man überwindet mit ihm Raum und Zeit, übersendet Massen von Daten und Dokumenten, gewinnt Zugang zu bislang unbekannten Menschen. Gewaltige Vorteile! Doch bei allen Vorzügen vermag es dieses Mittel - besonders bei der Klärung strittiger Probleme oder bei komplizierten inhaltlichen Debatten - nicht, das sachliche und auch emotional ge-führte Gespräch zu ersetzen.
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Ausblick: Wie weiter mit unserer Webseite?
Abschließend einige Bemerkungen zur weiteren Arbeit an und mit unserer Sei-te. Aus dem Kreis der Nutzer gab es den Hinweis, in einem neuen Kapitel mehr zum Fußballsport in der DDR zu sagen. Dazu fühle ich mich nicht imstande! Ohne Zweifel wäre es sehr verdienstvoll, die Geschichte der einzelnen Sportarten von 1945 bis zum Ende des DTSB aufzuzeichnen. Ein Aufruf an die Vertreter der Sportverbände! “
(Hier wäre vom Verein Sport und Gesellschaft der Ordnung halber einzufügen, dass zu diesem Thema umfangreichen Literatur vorhanden ist. So schrieb Jule Feicht in zwei Bänden seine Memoiren, die von vielen als „Geschichte des DDR-Schwimmsports“ anerkannt werden. Auch umfassende Fußballliteratur ist vorhan-den. Möglicherweise übersehen hatte der Autor die beiden Publikationen „Ge-schichte des DDR-Sports“ und „Chronik des DDR-Sports“ und viele andere Publi-kationen. Der Herausgeber)
Nebenbei: Die Olympischen Spiele 2012 in London stehen ja auch vor der Tür! Alles zu viel für einen, der auf die Achtzig zugeht! So gesehen war das Wort „Zwi-schenbilanz“ wohl doch zu optimistisch. Aber wir sind doch schließlich Optimisten und bleiben es!

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BEITRÄGE
ZUR SPORTGESCHICHTE
TÄVES
OLYMPIA-TAGEBUCH
2012
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DREIMAL LONDON
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ERINNERUNG AN 1964
*
HEFT 34
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INHALTSVERZEICHNIS:
Täves Olympia-Tagebuch 2012 5
Olympische Ländewertung 2012 40
Zum dritten Mal London 42
1964: Haben unsere Sportler versagt? 49
Bundesregierung verurteilt 54
Das Rotfuchs-Märchen 56
Gedenken: Horst Gülle 58
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DAS GOLDENE BUCH
Der Verein Sport und Gesellschaft – Mitglieder: Olympiasieger, erfolgreiche Trainer, bewährte Sportfunktionäre, angesehene Sportmediziner – hat sich entschlossen, ein Goldenes Buch des deutschen Sports aufzulegen. Das Motiv war nicht Rivalität zur sogenannten „Halle des Ruhms“, wiewohl nicht übersehen werden soll, dass wir den Schirmherren dieser „Halle“ schon vor Jahr und Tag dringend empfohlen hatten, den Initiator der ersten deutschen Olympiamannschaft von 1896, Dr. Willibald Gebhardt, in die „Halle“ aufzunehmen. Dem Vorschlag wurde nicht Rechnung getragen, obwohl die Verdienste Gebhardts um das internationale Ansehen des deutschen Sports von niemandem geleugnet werden können. Allerdings missfiel zu Beginn des vorigen Jahrhunderts den in Deutschland Herrschenden Gebhardts Sympathie für die damals entstandene Friedensbewegung. Dass man ihn 1907 zwang, seinen Rücktritt aus dem Internationalen Olympischen Komitee zu erklären, erhärtete solchen Verdacht. Es ergaben sich unterschiedliche Standpunkte der Führung der deutschen Sportbewegung gegenüber den tatsächlichen Werten des Sports. Der Ruf der „Halle des Ruhms“ geriet endgültig ins Zwielicht, als die Jury befand, den zweifachen Radweltmeister Gustav-Adolf Schur wegen seines ungebrochenen Bekenntnisses zur DDR nicht in
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das Gremium aufzunehmen und kundzutun, dass man künftig bei der „Berufung“ in die Halle politische Maßstäbe anlegen werde. Das bewog schließlich den Verein, das neutrale „Goldene Buch des Sports“ herauszugeben. Der Todestag des wegen seiner antifaschistischen Haltung während der Nazizeit hingerichteten Widerstandskämpfers und Olympiateilnehmers von 1936, Werner Seelenbinders erschien 2011 als würdiger Anlass, damit an die Öffentlichkeit zu treten. Nach demokratischen Abstimmungen im Verein entschied man sich, als erstes 50 Persönlichkeiten in dieses Goldene Buch einzutragen, sie auf der Internetseite des Vereins allen Interessenten vorzustellen und dieses Goldene Buch im Olympiajahr 2012 im Sportmuseum Berlin-Marzahn zu deponieren. Wir haben auch alle, die wir ins Goldene Buch aufnehmen wollten, um ihre Zustimmung gebeten und bekamen von vielen ihre Zustimmung. Von Matthias Sammer ebenso wie von Jochen Schümann. Nur eine einzige Absage war dabei: Der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der Bundesrepublik Deutschland und IOC-Vizepräsident Thomas Bach mochte nicht in dieses Goldene Buch. Gründe gab er nicht an.
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TÄVES OLYMPIA-TAGEBUCH 2012
Donnerstag, den 26. Juli 2012
Mein Freund Klaus ist vielleicht der einzige, dem ich sagen kann: „Du bist verrückt!“ ohne handfesten Ärger fürchten zu müssen. Heute morgen habe ich es am Telefon zu ihm gesagt, als er mir vorschlug, dieses Tagebuch zu schreiben.
„Warum ich? Du warst viel öfter bei Olympia!“
Er antwortete: „Dann bilden wir eine Mannschaft!“
„Und wenn ich während der Spiele in London statt vor dem Fernseher zu sitzen, eine Runde auf dem Rad drehen will oder eingeladen werde, irgendwo meine Meinung zum besten zu geben?“
„Dann steigst Du in den Sattel oder fährst dorthin und irgendwann kehrst Du zum Fernseher zurück!“
„Und warum das alles? Es erscheinen doch schon genug Olympiabücher.“
„Zum Beispiel, um Deine Meinung zu Olympia von heute zu erfahren! Und wir wollen ja kein Protokoll schreiben, sondern nur was uns so auffiel, als Fernsehzuschauer in Deutschland. Und was uns gefiel oder missfiel.“
Ich weiß seit Jahrzehnten, dass es schwierig ist, Klaus Ullrich-Huhn von einer Idee abzubringen und obendrein hatte er mir im Leben auch schon so manchen Gefallen getan. Also willigte ich ein, nachdem wir uns geeinigt hatten, dass er die eine oder andere Passage übernehmen würde, auch weil er ein ziemlicher Olympiaexperte ist, was ihm sogar das IOC bestätigte, als es ihn 1988 mit dem Journalistenpreis auszeichnete. Und obendrein haben wir so vieles im Leben gemeinsam zustandgebracht, dass niemand sich wundern wird, wenn er erfährt, dass wir auch an diesem Tagebuch gemeinsam gearbeitet haben.
Das nur, damit Sie wissen, wie alles begann.
Morgen beginnen in London die XXX. Olympischen Sommerspiele und langsam begann ich mich mit dem Gedanken anzufreunden, den Mitgliedern unseres Vereins und allen, die sonst die „Beiträge zur Sportgeschichte“ lesen, mein aus der Ferne – dank des Fernsehens aber oft vom Logenplatz erfasstes - Bild dieser Spiele zu vermitteln und hin und wieder auch meinen oder – siehe oben – unseren Standpunkt mitzuteilen. Wie die meisten wissen, habe ich zweimal an Olympischen Spielen teilgenommen und erinnern wird sich der eine oder andere auch, dass damals einiges zu bewältigen war, ehe man die begehrte Flugkarte in der Tasche hatte.
Ehe ich 1956 um die halbe Welt nach Melbourne flog, gab es knallharte Ausscheidungen. Die waren nötig geworden, weil die Sportchefs der BRD darauf bestanden, den „Chef de mission“ der Mannschaft zu stellen.
Die jeweils zwanzig besten Rennfahrer aus beiden Ländern bestritten vier Läufe. Dem Sieger jedes Rennens wurden 20 Punkte gutgeschrieben. Den Nächstplazierten jeweils ein Punkt weniger. Die vier Punktbesten sollten nach Melbourne fahren.
Im rheinischen Fröndenberg wurde das erste Rennen ausgetragen. Ein 6,1-km-Rundkurs war zwanzigmal zu absolvieren. Unterwegs eine gepfefferte Steigung. Die Westdeutschen hatten sich „Matze“ Schmidt als Betreuer geholt, einen alten Haudegen,
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der sonst gutbezahlt bei den Profis tätig war und vor allem bei Sechstagerennen sein Geld verdiente. Er benahm sich so, als seien die Rennen eine reine Formsache. Er war sicher, dass am Ende vier Bundesdeutsche fahren würden. Matze war kein schlechter Kerl, aber eben ein waschechter „Wessi“. Am Ziel in Fröndenberg war er fassungslos. Wir hatten das Rennen diktiert. Als es das letzte Mal die Steigung hinaufging, löste ich mich aus der Spitzengruppe und fuhr ungefährdet allein ins Ziel. Der Schweinfurter Pommer war als Siebenter bester Westdeutscher.
Wir stellten uns darauf ein, dass Matze sich für das zweite Rennen taktisch etwas einfallen lassen würde. Es wurde im Saaletal ausgetragen. Eine 66-km-Runde war drei Mal zu absolvieren. Die Steigungen waren anspruchsvoller als in Fröndenberg.
Mir gelang es wieder, mich bald aus dem Staube zu machen. Als ich mich umsah, quälte sich Tüller hinter mir. Der war – woran sich heute auch kaum mehr jemand erinnert - nach Grupe und Reinecke in die DDR – heute würde man sagen – „geflohen“. In dieser Situation scherte es mich nicht, er nahm mein Hinterrad, Im Ziel sicherte ich mir wieder die 20 Punkte. Der Schweinfurter Pommer fuhr als einziger Westdeutscher diesmal stark und wurde Dritter. Man hatte sich wohl entschlossen, nur noch für ihn zu fahren, um seine Chancen zu wahren. Unter den ersten 14 Fahrern, die sich bislang Punkte geholt hatten, war außer ihm kein einziger Westdeutscher.
ZUM ERSTEN MAL IN DER OLYMPISCHEN FAMILIE
Dann mussten die Ausscheidungen wegen der Straßen-Weltmeisterschaft in Ballerup bei Kopenhagen unterbrochen werden. Schon in der ersten Runde lag ich dort auf dem Pflaster. Der Hacken meines Schuhs hatte sich zwischen Kettenblatt und Kette verklemmt. Die anderen waren längst auf und davon, als ich endlich wieder im Sattel saß. Man riet mir aufzugeben, aber ich wollte nicht. Mein verletztes Knie war zwar bald ausgeheilt, aber dann entzündete sich eine Abschürfung zu einer bösen Furunkulose. Die Ärzte schüttelten die Köpfe: Ausgeschlossen, dass ich an der dritten Olympia-Qualifikation teilnehmen konnte. Das war übrigens ein Rennen gegen die Uhr. Pommer wurde 25 Sekunden hinter dem bulligen Leipziger Erich Hagen Zweiter und hatte damit die Fahrkarte nach Melbourne faktisch in der Tasche. Er hatte 51 Punkte, Hagen 49 und ich 40. Auf dem Lausitzer Grenzlandring fiel im vierten Rennen die Entscheidung vor 45.000 Zuschauern. Mein Knie war noch immer nicht ausgeheilt, und ich musste wieder zusehen. Der in der Olympiawertung aussichtslos zurückliegende 19jährige Westberliner Wolfgang Conrad gewann im Spurt, Tüller übernahm die Spitze der Punktwertung vor Pommer, Hagen, dem Berliner Teske und mir. Man einigte sich, die ersten drei zu nominieren und dazu mich an Stelle von Teske.
Ich flog mit den anderen zum fünften Kontinent. Im riesigen Speisesaal versammelte sich die olympische Familie zu den Mahlzeiten. Dort traf ich auch bald manchen Freund und Rivalen von der Friedensfahrt. Die Verpflegung war überreichlich, an den großen gläsernen Ballons voller frischer Fruchtsäfte waren wir Stammgäste.
Im Olympischen Dorf eskalierte zuweilen die durch die Ungarnkrise und die Attacke auf den Suezkanal entstandene internationale Krisensituation. Mal hatten Unbekannte sowjetische Fahnen heruntergerissen und andere die ungarische gegen die aus der faschistischen Horthy-Zeit umgetauscht, aber langsam kehrte doch noch olympische Ruhe ein.
Wir waren fast überall dabei, wo jemand aus dem DDR-Aufgebot an den Start ging. Lautstark feuerten wir unsere Vierermannschaft auf der Bahn an, die aber schon bald
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ausschied. Danach begannen wir die Straßenrennstrecke in Broadmeadows unter die Lupe zu nehmen und dort zu trainieren. Zwischendurch blieb Zeit, mit alten Bekannten zu plaudern. Der italienische Friedensfahrer Aurelio Cestari begrüßte mich ebenso herzlich wie Dino Bruni und natürlich auch Trainer Giovanni Proietti.
Endlich rückte der Tag des großen Rennens heran.
Die Australier, die ein Straßenrennen von solchem Ausmaß noch nie arrangiert hatten, verloren schon vor Beginn den Überblick. Der erste Streit brach aus, als über die Reihenfolge am Start entschieden werden sollte. Erst hieß es, wir sollten uns nach dem englischen Alphabet aufstellen. Dann erinnerte sich jemand, dass die Verhandlungssprache der UCI Französisch sei. Und nach dem französischen Alphabet hätten die Engländer einen Platz in der ersten Reihe gehabt. Das aber missfiel den Australiern, und sie entschieden, die Reihenfolge auszulosen. Dann erschienen plötzlich Iren am Start, die angeblich keine Lizenz hatten, weil sie sich seit Jahren weigerten, dem britischen Verband beizutreten. Die Polizei wurde alarmiert und schleppte die Iren mit hartem Griff davon. Plötzlich war das ganze Feld von entnervten Polizisten umringt. Endlich startete man.
Offen geblieben war die Frage, wie eigentlich die Mannschaftswertung entschieden werden sollte. Damals bestritt man ja noch kein Mannschaftszeitfahren. Man hatte bei den verschiedenen Spielen unterschiedliche Varianten zur Ermittlung der besten Mannschaft praktiziert. Welche sollte nun hier gelten? Das war wichtig, denn entweder addierte man die Zeit der drei besten Fahrer einer Mannschaft, oder man vergab Punkte für die Platzierung im Ziel. Bis wir losfuhren, konnte das nicht geklärt werden. Man rief die anwesenden Funktionäre der UCI zusammen. Die stritten lange und wurden sich endlich – wir waren schon Stunden unterwegs – einig: Punkte werden für die Platzierung der Rennfahrer vergeben, und die Mannschaften mit den niedrigsten Punktzahlen erhalten die Medaillen.
Ich hatte meine Schlüsse aus dem Sturz in Ballerup gezogen und hielt mich meist im hinteren Teil des Feldes auf. Der Italiener Ercole Baldini sprintete urplötzlich davon, drei Italiener bremsten das Feld mit Raffinesse. Dann trat Pommer an und sprintete, ohne sich umzusehen, etwa zweihundert Meter davon. An seinem Hinterrad, also in seinem Windschatten, fuhr der Franzose Geyre. Ich war nicht gerade glücklich darüber, denn nun schleppte Pommer einen bärenstarken Mann nach vorne. Aber es war zu spät, noch etwas Sinnvolles zu unternehmen. Es kam, wie es kommen musste: Pommers Kräfte schwanden bald, Geyre fuhr an ihm vorbei und jagte dem Italiener hinterher.
Wenn wir wenigstens vor dem Start ein Wort über unsere Taktik gewechselt hätten, so wie es in den DDR-Mannschaften üblich war, aber in diesem Augenblick wurde allen klar, dass hier tatsächlich zwei Mannschaften fuhren und in der einen suchte jeder nur seinen persönlichen Vorteil.
Die gefährlichste Folge dieses Vorstoßes war, dass dadurch auch unsere Chancen in der Mannschaftswertung sanken, denn alles kam darauf an, so zahlreich wie möglich in der Spitze anzukommen.
Mir blieb nur ein Ausweg, nämlich selber anzugreifen, denn vor mir waren faktisch nur die drei Ausreißer. Ich trat an, Tüller hing sich an mein Hinterrad und der Engländer Jackson. Ich fuhr mir die Lunge aus dem Hals und setzte darauf, dass Tüller die Aktion unterstützen würde. Ich signalisierte ihm, er möge sich auch mal an die Spitze setzen, aber er schüttelte den Kopf und rief: „Ich kann nicht, ich habe Wadenkrämpfe.“ Ich raste weiter, und plötzlich hatten wir Geyre vor uns. Alles war wieder offen. Wenn ich bei der Verfolgung wenigstens hin und wieder den Windschatten der beiden anderen hätte
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nutzen können. Plötzlich sprintete Jackson an mir vorbei und dann – ich glaubte, ich träume – zog der angeblich von Wadenkrämpfen geplagte Tüller an mir vorbei. Geyre rettete sich im Ziel auf den zweiten Platz, Jackson holte Bronze, Tüller wurde Vierter und ich Fünfter. Alle vier wurden wir mit der gleichen Zeit notiert.
Was ich über Tüller und seine Ausrede von den Wadenkrämpfen dachte, muss ich niemandem erklären. Ich erinnerte mich jedenfalls daran, dass ich ihn bei dem Saaletalrennen mitgeschleppt und damit zur Melbourne-Qualifikation verholfen hatte. Oder: Wenn der eigensinnige Pommer auf seinen spontanen Vorstoß verzichtet und am Ende wenigstens Zwölfter geworden wäre, hätten wir olympisches Gold geholt. Aber wie ich schon schrieb: Eine richtige Mannschaft, wie ich sie von den Friedensfahrten her gewohnt war, waren wir eben nicht. Immerhin retteten wir am Ende noch Bronze. Ich war stolz darauf, dass uns ausgerechnet IOC-Präsident Avery Brundage die Medaillen überreichte. Mit Tüller hatte ich nach dem Rennen verständlicherweise nichts mehr zu bereden. Wir trafen uns auch danach nicht mehr, denn ein paar Wochen später „floh“ er wieder gen Westen.
DAS ABENTEUER VON ROM
Vier Jahre später war ich in Rom dabei. Als wir die Straße nach Ostia entlangfuhren, auf der zum ersten Mal in der olympischen Geschichte ein Vierermannschaftsrennen ausgetragen werden sollte, ahnte ich: Kein Schatten, die krachende Sonne würde unser härtester Gegner sein. Keiner von uns hatte Illusionen. Ein Straßenrennen kann hart sein, ein Zeitfahren ist gnadenlos, denn es gibt keine Pausen, kein Rudel, in dem man verschnaufen könnte. Das härteste aber ist ein Mannschaftsrennen. Vier, die sich ablösen, jeder gibt das Äußerste, es wird mit höchster Konzentration im Windsog gefahren, das Vorderrad radiert fast das Hinterrad des Vordermanns. Nur Qual! Und ein Tempo von bis zu 50 Stundenkilometern zwei Stunden lang! Wir kamen gut voran, die Ablösungen klappten reibungslos, kein Wort fiel. Wir traten nur und hatten den Vordermann oder die vor Hitze flimmernde Straße im Auge. Wir erreichten die Wende in der Via Colombo. Die Sonne stieg.
Die Italiener waren 17 Minuten nach uns ins Rennen gegangen, die ersten Zwischenzeiten wiesen nur knappe Differenzen aus. Ich wusste, dass es gefährlich werden könnte, wenn wir uns übernehmen würden, die Sonne war ein erbarmungsloser Scharfrichter und dörrte die Körper aus. Als „Wegzehrung“ hatten wir nur jeder eine Flasche Tee mitgenommen, um Gewicht zu sparen. Wir fuhren Elektronfelgen und sehr leichte Reifen. Es waren Entwicklungen, die niemand sonst benutzte und faktisch das Ergebnis der Kooperation zwischen volkseigener und privater DDR-Industrie. Grünert stellte in Hetzdorf, im Flöhatal, die Felgen her, und die Reifen kamen von den Thüringer Spezialisten in Waltershausen.
Ganz plötzlich geschah es: Günter Lörke, meist still und immer zäh, ließ den Kopf hängen und murmelte: „Es geht nicht mehr.“
Wir hatten uns verabredet, dass Egon Adler gegen Ende länger führen sollte, als jeder von uns, und sich dann auf den letzten Kilometern abfallen lassen würde. Der hatte auch fest damit gerechnet, dass es bei der Verabredung blieb. Nun war eine völlig neue Situation entstanden. Keiner redete darüber, aber alle grübelten. Wir waren nur noch drei, Lörke war verschwunden.
Was tun? Es blieb nur, den beiden anderen Mut zu machen. Hagen und Adler. Hagen war noch bärenstark, aber dass Adler am Ende war, sah man daran, dass er plötzlich
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seine Mütze vom Kopf riß und wegwarf. Er musste wissen, dass dies in der krachenden Sonne fatale Folgen haben würde. Er wurde hinter der letzten Wende zunehmend langsamer. Das war auch an unserer Position abzulesen. Eben hatten wir mit unserer Zeit noch knapp hinter den Italienern gelegen, jetzt verloren wir Zeit wie Wasser aus einem Sieb.
Ich wollte Egon demonstrieren, dass wir es vereint schon noch schaffen würden, und schob ihn, als es bergauf ging. Hagen löste mich ab. Das Trio rollte wieder, da brüllte plötzlich jemand hinter uns. Es war der italienische Schiedsrichter, der im deutschen Materialwagen platziert worden war.
Wir sahen uns nicht um, erfuhren aber hinterher, dass er Trainer Schiffner bedrängt hatte. Der kannte keine Regel, die Schiebehilfe verbot. Der Italiener geriet in Wut. Ein Schiedsrichterwagen tauchte auf, der Italiener führte einen kurzen Wortwechsel, dann rollte das Schiedsrichterauto an meine Seite und jemand schrie: „Schur, das ist verboten! Finito!“ Meine beiden Gefährten fuhren sofort langsamer, ich schrie: „Weiter!“
Was mir in diesem Augenblick alles durch den Kopf ging! Erst blieb ich noch ruhig und kalkulierte, dass wir bei der letzten Zwischenzeit noch allerhand Vorsprung vor den auf den nächsten Rängen folgenden Sowjets, Niederländern und Schweden gehabt hatten. Für eine Medaille könnte es immer noch reichen, aber dann schwand mein Optimismus fast mit jedem Meter. Ich schwor mir aber, mir den beiden anderen gegenüber nichts anmerken zu lassen und schrie wieder: „Weiter!“
Wir rollten im Ziel über den weißen Strich und fielen in die Arme von Betreuern und Freunden und wollten nur etwas zu trinken haben.
„Und die Disqualifikation?“
Niemand wusste Einzelheiten. Ein Italiener sollte Protest gegen uns eingelegt haben. Die Italiener kamen in Sicht, Jubel und Pfiffe der Begeisterung. Ihr Sieg war ungefährdet, aber wir waren die zweitbeste Zeit gefahren. Wahnsinn!
Der Schiedsrichter, der mir sein „Finito“ zugerufen hatte, war wie vom Erdboden verschwunden.
Uns bewegte den ganzen Nachmittag nur die Frage: Überreicht man uns eine Medaille, oder werden wir disqualifiziert? Endlich kam die erlösende Botschaft: Olympiasieger Italien, Olympiazweiter DDR – offiziell: »Gesamtdeutsche Mannschaft« –, Olympiadritter UdSSR. Aus den Sekunden, die uns vorübergehend von den Italienern getrennt hatten waren 2:23 Minuten geworden, aber der Vorsprung, den wir vor den Sowjets hatten, betrug trotz unserer Misshelligkeiten noch knapp zwei Minuten. Das war meine zweite Olympiamedaille.
Die Leser könnten monieren, dass das doch nichts Neues sei und überhaupt nichts mit den Spielen in London zu tun hat. Ich schrieb es nur auf, weil es ein wenig ahnen lässt, wie sich die Spiele in den letzten knapp sechzig Jahren verändert haben. Damals wäre auch jeder augenblicklich disqualifiziert worden, der eine Umhängetasche trug, die irgendwelche Reklameaufschrift trug. Heute ist alles mit Werbung tapeziert.
Freitag, den 27. Juli 2012
Der große Tag ist gekommen! Für heute abend erwarten alle die Eröffnungsfeier. Niemand braucht befürchten, dass ich zuvor noch ein wenig „Ostalgie“ betreiben will, aber dennoch ich will erzählen, dass heute morgen ein Brief aus Lichtenstein im „Arzgebirge“ in meinem Briefkasten steckte. Absender war ein Gerhard Pfefferkorn, der meinetwegen Ende Juni an die Stiftung Deutsche Sporthilfe geschrieben hatte.
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Meinetwegen, weil er wissen wollte, warum man mich nicht in die „Hall of fame“ aufgenommen hatte. Vorgestellt hatte er sich so: „Als ehemaliger Leistungssportler im Straßenrennsport nahm ich im Jahr 1952 an der DDR-Rundfahrt teil. Ich war Mitglied der BSG (Betriebssportgemeinschaft) Fortschriitt Lichtenstein und war in keinem Sportclub. Meine tägliche Arbeit verrichtete ich in der Zwickauer Konsumgenossenschaft als Kraftfahrer. Vor solchen sportlichen Ereignissen wie die DDR-Rundfahrt bekam ich in der Regel auf der Grundlage des Arbeitsgesetzbuches der DDR 3 Wochen Freistellung für das Trainingslager, wofür ich meinen Durchschnittslohn erhielt.“ Dann folgten sechs Fragen zur „Hall of Fame“ und drei Bemerkungen über mich, der ich nicht in die „Halle“ aufgenommen worden war. Das alles wäre kein Grund, darüber in einem Olympia-Tagebuch zu schreiben, aber dann hatte er noch einen Zeitungsartikel aus der „Freien Presse“ vom 13. Juni 2012 beigelegt: „Im August soll die lange geplante Stätte der Sportlerehrung eingeweiht werden. Es ist ein Höhepunkt des Olympischen Wochenendes, das die SSV Fortschritt anlässlich der 800-Jahr-Feier ausrichtet.
Noch hängt nur die Tafel von Radsportlegende Gustav Adolf `Täve´ Schur vor dem Sportzentrum nahe der Inneren Zwickauer Straße. Jetzt sollen neun weitere hinzukommen: sieben erfolgreiche Sportler, die in Lichtenstein aufgewachsen sind, sollen geehrt werden, ein erfolgreiches Radsportteam, sowie der Verein, der diese Talente hervorgebracht hat.“ Fragen waren aufgetaucht, als man diesen Plan fasste, woher man das Geld nehmen sollte. 9.000 Euro wurden gesammelt, die Tafeln gegossen und das Programm, zu dem auch vier Nachbargemeinden eingeladen wurden, beginnt mit einer Kinderolympiade. Und das sind die sieben Athleten, die neben der 1951 gegründeten BSG und der Radsportmannschaft geehrt werden sollen: Gewichtheber Joachim Kunz, Silber 1980, Gold 1988, Radrennfahrer Bernhard Eckstein, Weltmeister 1960, Marita Gasch, Rudergold im Achter 1980, Heike Apitzsch-Friedrich, Gold- und Silbermedaillengewinnerin im Schwimmen, Birgit Görlitzer, WM-Dritte, Helga Schmelzer, WM-Bronze im Rudern und Gabriele Stieler, Weltmeisterin im Fallschirmspringen.
Es schien mir notierenswert, wie man hierzulande Olympia feiert! Und ich mache einen kleinen Zeitensprung und teile mit, dass es eine denkwürdige Feier war und ich versuchen werde, diese „Mauer der Sporthelden“ in irgendeiner Illustrierten zu veröffentlichen.
Im Sprint wieder zu Olympia nach London. Schon vorgestern hatte man dort begonnen. Die Fußball spielenden Frauen eröffneten das Fest fast inoffiziell mit dem Spiel der Gastgeberinnen gegen Neuseeland, das sie mit 1:0 gewannen. Eine Stunde später begannen die nächsten Partien und niemand fand Ungewöhnliches daran, dass Frauen die Spiele eröffneten. Ich hatte jemanden gebeten, mal nachzusehen, wann eigentlich die ersten Frauen bei Olympia am Start waren. Immerhin schon 1900. Aber damals sollen alle lange Röcke getragen haben. Ganz gleichberechtigt sind sie aber wohl noch nicht. Meinten jedenfalls die Japanerinnen, die in der Touristenklasse zu ihrem ersten Spiel nach Glasgow fliegen mussten, während für die Männer tags darauf die Business-Klasse gebucht worden war…
OLYMPISCHE ORDNUNG MUSS HERRSCHEN
Und nun noch eine aus meiner Sicht unolympische Nachricht. Noch vor der Eröffnung wurde die griechische Dreispringerin Paraskevi Papachristou von den Spielen ausgeschlossen. Ich kann mich nicht erinnern, dass so etwas schon einmal geschehen
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war. Sie hatte eine e-mail verschickt, und zwar eine geschmacklose rassistische Botschaft, die sich in übler Weise gegen Afrikaner richtete. Der griechische Teamchef zauderte keine Minute, obwohl sie sich sofort entschuldigte, und ihr Trainer meinte, die Strafe sei zu hart. Aber ich hielt die Entscheidung der Griechen für richtig und vor allem dem olympischen Geist Rechnung tragend.
Nun aber endlich zur festlichen Eröffnung mit ihren 4 Milliarden Fernsehzuschauern. Sie soll 34 Millionen Euro gekostet haben, und ich halte mich mit meinem Urteil, ob sie das wert war, zurück. Zu bewundern war, dass man 12.000 Freiwillige angeworben hatte, die ohne einen Cent zu kassieren, bei der Aufführung mitwirkten. Der als Regisseur engagierte Hollywood-Star Danny Boyle hatte neben anderen Einfällen auch die Idee, die 86-jährige Königin zusammen mit dem James-Bond-Darsteller Daniel Craig über dem Stadion mit einem Fallschirm abspringen zu lassen. Damit niemand erschrak und um das Leben der Queen fürchtete, betrat die echte Königin in jenem Augenblick ihre Loge, als ihr Double aus dem Hubschrauber sprang. Unter uns: Ich fand es ein wenig geschmacklos, ihr diese Rolle zu übertragen, aber vielleicht hat sie es Olympia zuliebe getan! Nach 80 Minuten war das Spektakel – Titel: „Inseln der Wunder“ –, das der neue britische Held, Tour-de-France-Sieger Bradley Wiggins mit einem Glocken-schlag eröffnet hatte, vorüber. Die 204 Mannschaften konnten nun die Bühnenstars in der Arena ablösen.
Mich interessierte, wie viel Radsportler unter den Fahnenträgern waren, und wir fanden heraus, dass es fünf in den 204 Mannschaften waren, davon vier Frauen!. Die erste war die Kolumbianerin Mariana Pajon und der letzte ein Radstar, wie ihn kein anderes Land aufzubieten hat: Der Schotte Chris Hoy hatte bei drei Olympischen Spielen eine Silber- und vier Goldmedaillen im Sprint und im Keirin geholt und in Peking die Flagge beim Abschluss hinausgetragen. In London war er lange nach Mitternacht als letzter an der Spitze der Gastgeber einmarschiert. Dann begrüßte der zweifache Goldmedaillengewinner Sebastian Coe als Cheforganisator und der Belgier Rogge als Präsident des IOC die Gäste auf den Tribünen und die gefühlten 4 Milliarden Zuschauer in aller Welt. Angesehene Persönlichkeiten – auch der Friedensbewegung - trugen das Olympische Banner herein – Muhamad Ali gesellte sich, sorgsam gestützt, hinzu und das Zeremoniell kam zu seinem spektakulären Ende, als sieben Nachwuchssportler technisch perfektioniert 204 Flammen entzündeten. So klang die Super-Show aus.
Wir sind keine Olympia-Reporter, die saßen in irgendwelchen Kabinen und sagten aber auch nicht nur Treffendes. So verkündete eine ZDF-Dame, dass Deutschland 1948 an den zweiten Londoner Spielen nicht teilnehmen durfte, weil es ein „Kriegsverlierer“ gewesen war. Dass die Welt die Deutschen damals von Olympia ausgeschlossen hatte, weil es Europa durch den Zweiten Weltkrieg verwüstet hatte, erfuhren die Zuschauer also nicht. Auf solche „Ungenauigkeiten“ sollte ein öffentlich-rechtlicher Sender verzich-ten!
Sonnabend, den 28. Juli 2012
Der erste Olympiatag begann mit Gold und Bronze für China im 10-m-Luftgewehrschießen und mit dem im deutschen Lager einen Schock auslösenden Ausscheiden des 400-m-Freistil-Weltrekordschwimmers Paul Biedermann und dem neunten Rang der Frauen-Freistilstaffel – kurzum mit deutschen Favoritenstürzen. Wie oft bin ich im Leben als Favorit an den Start gegangen und kehrte als – sagen wir mal 32. – ins Ziel zurück! Kurzum: Ich hätte – wäre ich in London gewesen – die Verlierer im
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Olympischen Dorf aufgesucht und ihnen die Hand geschüttelt. Bei allem Ärger über eine Niederlage – wer der aus dem Weg gehen will, sollte nicht Sport treiben! Da ist man sicher, weder Favorit zu sein, noch die Umwelt zu „enttäuschen“.
Vor allem aber wurde an diesem ersten Olympiatag das Straßenrennen – immerhin 250 km lang – ausgetragen und als erstes möchte ich dem Londoner Radsportpublikum mein Kompliment übermitteln! Himmel und Menschen an der Strecke – Olympia pur!
Und wieder – siehe oben – triumphierte nicht der Favorit: Der Brite Bradley Wiggins, der am Abend vorher noch umjubelt die Glocke im Stadion geläutet hatte, sah sich im Handumdrehen mit einer 12köpfigen Spitzengruppe konfrontiert. Die zeichnete sich dadurch aus, dass sie aus Fahrern 12 verschiedener Nationen bestand und die traten in die Pedalen, was das Zeug hielt, weil keiner auf einen Landsmann und erst recht nicht auf einen „Stallgefährten“ Rücksicht nehmen musste. Im Feld aber schienen die meisten zu glauben: Wenn Wiggins oder einer seiner Landsleute gewinnen wollen, sollen sie auch für Tempo sorgen. So betrug der Abstand nach 108 km bereits 5:15 min. Später zerriss das Feld und als rund 7 Kilometer vor dem Ziel der kasachische „Veteran“ Alexander Winokurow ausriss und ihm der völlig unbekannte Kolumbianer Rigoberto Uran folgte, schienen die Favoriten zu glauben, dass man dieses Duo allemal wieder einfangen könnte. Doch die Favoriten irrten. Winokurow, der schon 2007 dem Radsport Valet gesagt hatte und es sich zwei Jahre später anders überlegte, wurde Olympiasieger, der Südamerikaner Zweiter und der „namenlose“ Norweger Alexander Kristoff Dritter. Das Maß der Überraschungen dieses Tages war am Überlaufen.
Hinterher begannen die Debatten um Winokurow, der ja wegen Dopings mal lange gesperrt worden war. Ich halte solchen Streit für absurd. Die Geschichte des Radsports ist leider auch eine Geschichte des Dopings. Wer aber deswegen bestraft wurde und nach „Absitzen“ dieser Strafe wieder für Olympia nominiert wird, darf auch Olympiasie-ger werden! Wem das nicht gefällt, der sollte dafür sorgen, dass die Regeln geändert werden: Wer beim dopen erwischt wurde, muss alle olympischen Hoffnungen begraben. Da diese Regel nicht gilt, hätte ich keine Hemmungen gehabt, auch Winokurow zu gra-tulieren.
Sonntag, den 29. Juli 2012
Vieles hat sich gewandelt bei Olympia. Zum Beispiel: Ich hatte immer eine Startnummer, aber nie eine „Website“. Ich habe Klaus gebeten, mit aller Zurückhaltung im Internet mal einen Blick auf diese Websiten zu werfen. Damit die Jüngeren im Bilde sind: Früher durfte man nicht mal ein Etikett auf dem Ärmel kleben, wenn man das Olympiastadion betrat, ohne Gefahr zu laufen, wegen unerlaubter Werbung disqualifiziert zu werden. Heute sind Athleten, die keine Werbeseite im Internet haben, Außenseiter. Klaus kümmerte sich also um die Seite eines deutschen Schwimmers und eines deutschen Radrennfahrers. Beider Namen wollen wir nicht nennen, damit um keinen Preis der Eindruck entsteht, wir würden diese Athleten kritisieren oder gar verurteilen. Der Schwimmer schwimmt also zunächst mal für die Bundesrepublik und dann noch für eine Vermögensberatung und einen Rasierklingenproduzenten. Zu diesen beiden kommen noch acht andere Sponsoren. Das Verfahren ist simpel: Die Sponsoren finanzieren den Schwimmer und der wirbt für sie - vor allem natürlich, wenn er gewinnt. Noch einmal: Wir kritisieren das nicht, erlauben uns aber daran zu erinnern, dass es zu unseren Zeiten anders gehandhabt wurde. Und das vor allem – man möge mir diese
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Feststellung nicht ankreiden – in der DDR. Man lernte, ergriff einen Beruf oder studierte und hatte einen sicheren Platz im Leben, wenn die sportliche Laufbahn zu Ende war!
Dass nicht nur uns dieses Thema beschäftigte, offenbarte „Spiegel online“ einige Tage später: „Michael Phelps durfte sich über einen ganz besonderen Anreiz freuen: Eine Million Dollar versprach Sponsor Speedo dem Schwimmer, sollte er den Rekord von Mark Spitz aus dem Jahr 1972 einstellen. Sieben Goldmedaillen musste Phelps dafür gewinnen, bei den Olympischen Spielen von Peking vor vier Jahren schaffte er sogar acht. Der US-Amerikaner kassierte ab und gründete mit der Sonderprämie eine nützliche Stiftung. Phelps kann sich die Großzügigkeit leisten. Er ist der erfolgreichste Olympionike der Geschichte und hat dank lukrativer Sponsorenverträge ausgesorgt. Die finanzielle Hilfe von Sponsoren ist selbst für die erfolgreichsten Olympiateilnehmer unverzichtbar, denn bei den staatlichen Belohnungen für Medaillen gibt es auch in den großen Sportnationen enorme Unterschiede.
Bei den Spielen von London bekommen das auch die Briten zu spüren: Die Gastgeber zahlen – ebenso wie die Norweger - keine Prämien an ihre Medaillengewin-ner. Stattdessen will die Royal Mail jedem Olympiasieger eine Briefmarke widmen.
Auch Deutschland rangiert in Sachen Prämien relativ weit hinten und dieses Thema sollte noch viel Staub aufwirbeln: 15.000 Euro gibt es hierzulande für eine Goldmedaille, ein Achtplatzierter erhält immerhin noch 1.500 Euro von der Sporthilfe. Zu knauserig, bemängelte kürzlich Diskuswerfer Robert Harting. Er fühle sich unterbezahlt, sagte der 27-Jährige in einem Interview. `Wenn ich höre, dass Bosnier oder Slowenen 60.000 Euro für einen Olympiasieg spendieren, dann machen uns andere Nationen doch einiges vor.´ (…) Laut `Bild´-Zeitung haben alle einen `Olympia-Pass London 2012´ mit Gutscheinen bekommen. Ein Olympiasieger erhält unter anderem zweimal zwei Tickets für Flüge innerhalb Europas. Auch das Nationale Olympische Komitee der USA belohnt seine Olympiasieger mit 20.000 Euro eher bescheiden. Ergänzt werden die Prämien durch Boni von Sponsoren. Der Living the Dream Medal Fund lässt für eine Goldmedaille im Ringen 200.000 Euro springen. Der Radverband legt für einen Triumph in London gut 80.000 Euro drauf, der Schwimmverband gut 60.000 Euro.
Tatsächlich sind es vor allem kleine Verbände, die ihren Olympiasiegern besonders hohe Prämien versprechen: die Dominikanische Republik gut 200.000 Euro, Singapur mehr als 650.000 Euro und Armenien angeblich sogar 700.000 Euro. Russland hat für seine Olympiasieger rund 100.000 Euro ausgelobt, ähnlich hohe Beträge gibt es für Bulgaren, Litauer und Weißrussen.“
Die älteren Leser unseres Tagebuchs, möchte ich fragen: „Erinnern Sie sich noch des Schlagworts von den `Staatsamateuren´ und daran, dass das NOK der BRD Beschwerdebriefe an das IOC schickte, die DDR verstoße gegen die Amateurregel?
BIRGITS FRAGEN
Birgit Fischer, die mit acht Gold- und vier Silbermedaillen erfolgreichste Olympionikin aller Zeiten, hat heute in einem ND-Leitartikel die Frage gestellt „Schwindet die olympische Idee?“ und ist im Grunde eine konkrete Antwort schuldig geblieben. Musste sie wohl auch, denn der Auftakt in London ließ kein „Ja“ zu. Beim Radrennen hatte man an den Absperrgittern Kilometer von Werbetransparenten gespannt. Bei einer Million Zuschauer und Milliarden an den Fernsehschirmen eine ideale Möglichkeit für Reklame, aber auf allen Transparenten stand „London 2012“! Birgit hatte geschrieben: „Bisweilen beschleicht mich das Gefühl, dass es heute nicht mehr um die Athleten und fairen
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sportlichen Wettkampf geht, sondern um pure Schlagzeilen.“ Und der Trubel im Olympischen Dorf, von dem alle Athleten, die danach gefragt werden, schwärmen? Lebt da nicht doch die olympische Idee? Birgit: „Dabei wünschen sich die Sportler kein größenwahnsinniges Spektakel, sondern gut funktionierende Sportstätten, hervorragend ausgebildete Kampfrichter und faire Wettbewerbe. Doch wenn man heute ins Olympische Dorf von London möchte, glaubt man, einen Hochsicherheitstrakt der Armee betreten zu wollen.“ Und dann: „Die Spiele sind mittlerweile eine Plattform für politische Spielchen geworden.“
Ich finde, Birgit hat Recht, aber vielleicht nicht ganz. Dass die Engländer sogar aus Afghanistan zurückgeholte Soldaten zum Schutz des Olympischen Dorfes abkom-mandierten, finde ich richtig. Besser die Spiele schützen, als am Hindukusch Krieg führen! Also: Ich glaube, dass London sich viel Mühe gibt, die olympische Idee zu bewahren, auch wenn heute Fernsehunternehmen und Sponsoren das Kommando übernehmen wollen. Die Spiele haben gerade erst begonnen, aber mein erster Eindruck ist, dass das IOC noch immer das Heft in der Hand hat! Nicht zuletzt dank seines belgischen Präsidenten Rogge, der vor Jahren mal um olympische Medaillen segelte und nun das olympische Schiff mit sicherer Hand steuert.
Und noch mal Radrennen. 140 Kilometer hatten die Frauen zurückzulegen, den Box Hill zweimal erklettern und dazu Wolkenbrüche, die kein Ende nehmen wollten. Ich gestehe, selten ein so hartes Rennen gesehen zu haben. Vom Start weg wurde gerast, keine Bummeleinlage, keine Ausreißer, denen man hinter her rollt, sondern gnadenloses Tempo von der ersten Sekunde an. Ich sah die deutschen Frauen – Judith Arndt, Ina-Yoko Teutenberg, Trixi Worrack und Charlotte Becker - oft das Tempo an der Spitze bestimmen. Sie hatten sich schließlich viel vorgenommen, oft genug war die Rede von Gold gewesen…
Dann Ausreisserinnen, aber die kamen meist nur ein paar Sekunden davon und wurden von dem energischen Feld bald wieder eingefangen. Niemand schien ein Risiko eingehen zu wollen. Die Britin Emma Pooley war die erste, die entkam, blieb aber allein und hatte kaum Chancen. Nach 90 der 140 km fiel die Entscheidung, was wohl kaum eine der Frauen erahnte. Die Russin Olga Sabelinskaja stürmte los und ein Trio ihr hinterher: die Niederländerin Marianne Vos, die Britin Elizabeth Armitstead und die US-Amerikanerin Shelly Olds, die dann aber schon bald dem Tempo nicht mehr folgen konnte. Im Grunde blieb das Trio immer in Sichtweite des Hauptfelds, der Vorsprung pendelte zwischen 10 und 25 Sekunden, aber vor allem dank der Niederländerin wurde diese Distanz 47 (!) Kilometer lang behauptet und das gehört zu den Raritäten im Radsport. Am Ende war es eine halbe Minute, die das immer kleiner werdende Feld nicht wettmachen konnte. Die Niederländerin gewann verdient Gold, die Britin mit Silber die erste Medaille für den Gastgeber und Olga Sabelinskaja auch die erste für ihr Land. Und den Fernsehkommentatoren, die pausenlos beklagten, dass die Deutschen nicht gewannen, würde ich mal ins Poesiealbum schreiben: „Merke: Schon Coubertin hatte gesagt: Dabei sein ist alles!“
Montag, den 30. Juli 2012
Olympia in England. Da sollte man sich doch wohl für Fußball interessieren! Eine fast sichere Medaille für die Gastgeber, die zum ersten Mal seit den Spielen in Rom 1960 wieder mit von der Partie waren, weil sich über ein halbes Jahrhundert die Fußball-Verbände aus England, Schottland, Wales und Nordirland nicht hatten einigen können,
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wie man eine Mannschaft Großbritanniens aufstellen könnte. So datierte das letzte britische Olympiaspiel vom 1. September 1960, als man gegen Taiwan 3:2 gewonnen hatte.
Nun also wieder dabei. Das Turnier begann noch bevor das olympische Feuer im Stadion war und Großbritannien – nach den olympischen Regeln nur mit drei Profistars – gegen Senegal mit einem mageren 1:1. 80.000 Zuschauer kamen ins Wembleystadion zum zweiten Gruppenspiel gegen die Vereinigten Arabischen Emirate und die Fans waren mit dem 3:1 halbwegs zufrieden. Als Gruppensieger traf man später auf Südkorea – und verlor im Elfmeterschießen!
Szenenwechsel, der am Fernseher nicht schwerfiel! Ich gestehe, das hatte ich noch nie einen Fernsehreporter sagen hören: „Wir wissen nichts über sie!“ Und dieses Geständnis galt einer Olympiasiegerin! In einer englischen Zeitung fanden wir wenigstens einiges über die 15-jährige Ruta Meilutyte aus Litauen, die die 100-Brust-Entscheidung gewonnen hatte. Nämlich: Nach dem Verlust seiner Frau, der Mutter seiner drei Kinder, entschied sich Saulius Meilutis mit seiner Familie aus Litauen nach England überzusiedeln. Den beiden Söhnen konnte er Studienplätze beschaffen, die Tochter schulte er in einem Gymnasium ein. Und das obwohl er als Krankenpfleger nicht sonderlich viel verdiente. Die Nachforschungen ergaben, dass der litauische Sportbund einiges dazugesteuert hatte, womit die Legende, dass sie aus dem „Nichts“ gekommen sei, halbwegs widerlegt war. Obendrein hatte der ahnungslose Fernsehreporter einige Quellen übersehen, denn sonst hätte er gewusst, dass sie nicht nur zu den besten Schwimmerinnen ihrer Schule gehörte, sondern schon als 14jährige bei den Europäischen Jugendspielen in 1:07.8 min. gewonnen hatte. Nun schwamm sie 1:05.47 min. und wäre beinahe in ihren Tränen ertrunken, als man ihr mitteilte, dass sie Olympiasiegerin geworden war. Allerdings soll selbst ihr Trainer John Rudd, Direktor des Schulschwimmvereins in Plymouth, fassungslos gewesen sein. Dabei hatte er triftig Erklärungen: „Sie ist im letzten Jahr stark gewachsen und die physischen Veränderungen im Alter von 14 und 15 Jahren führen oft zu verblüffenden Leistungen.“
Dienstag, den 31. Juli 2012
Als die Vielseitigkeitsreiter das erste Gold für Deutschland holten, krähte ein Fernsehreporter, dass eigentlich die Königin vor Ort sein müsste und monierte, dass sie in dieser historischen Stunde nach Schottland in Urlaub gereist sei. Bei allem Respekt vor den Damen und Herren im Satte – der Lärm um diese Medaille schien uns ein wenig zu lauthals. Dabei: Hut ab vor den Damen und Herren und Respekt vor ihrer und vor allem ihrer Pferde Leistung, aber muss das immer so begrölt werden?
Wie erholsam waren da die Antworten des medaillenlos gebliebenen Schwimmers Helge Meuuw, der nur Sechster im 100-m-Rückenschwimmen geworden war aber mit Sicherheit auch nicht so krakeelt hätte, wenn er Gold geholt hätte. Er war mit seinem sechsten Rang zufrieden. Sicher wäre er lieber mit Gold nach Hause gefahren, aber der Blondschopf schien die Realitäten zu akzeptieren und der Stil, mit dem er seinen Platz kommentierte, imponierte mir. Also interessierten wir uns ein wenig mehr für ihn und schnell dämmerte mir, dass er ja in Magdeburg lebte, fast also mein Nachbar ist. Geboren in Wiesbaden, aber irgendwann nach Magdeburg gezogen. Wir fanden bald heraus, dass er wohl seiner Frau „hinterher“ gezogen war. Die heißt Antje Buschschulte, stammt aus Westberlin, zog mit ihren schwimmbegeisterten Eltern nach Travemünde eines Tages nach Hamburg und gehörte da schon zu den deutschen
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Spitzenschwimmerinnen. In einem Interview mit der „Magdeburger Volksstimme“ beschrieb sie ihren Weg so: „Als mein schwedischer Trainer Glen Christiansen nach den Olympischen Spielen in Atlanta nicht mehr Trainer in Hamburg war, stand die nächste große Entscheidung meines Lebens an. Gehen oder bleiben? Ich wechselte im Herbst 1996 nach Magdeburg, wo ich das Sportgymnasium besuchte. Damals war es ungewöhnlich in den `Osten´ zu gehen, aber mir gefiel die Schule und das professionelle Umfeld. Noch nie hatte ich so viel trainiert, wie ich es in Magdeburg in den folgenden Jahren tun sollte. Es war nicht immer leicht, ich hatte im Ausdauerbereich eine Menge aufzuholen, aber ich konnte mich in der Spitze des internationalen Schwimmsportes etablieren. Mit meinem Ex-Trainer Bernd Henneberg war und bin ich jetzt auf einer anderen Ebene ein sehr gut eingespieltes Team. All die Zeit, die ich bei ihm trainiert habe, war er immer die Ruhe selbst, auch wenn ich meine Emotionen einmal nicht im Griff hatte. Er ist offen für alles Neue und ein sehr guter Stratege in der Trainingsplanung. Ohne ihn wäre ich nie 2003 Weltmeisterin über 100 m Rücken geworden und ich bin ihm sehr dankbar für alles, was er für mich getan hat.“
Und damit wären wir schon beim nächsten interessanten Thema. Trainer Henneberg. Der nämlich war immer in Magdeburg und damit in der DDR zu Hause und hatte – wie fast alle DDR-Trainer – viel Ärger nach 1990. In einer anderen Zeitung fanden wir Details (23. Juli 1992): „Eigentlich, sagt Bernd Henneberg, möchte er nicht mehr über die alten Zeiten reden. Er hat vor drei Jahren mal ein Interview gegeben, in dem es hieß: `Wir hatten einen Stempel auf der Stirn. Da kann man sich noch so viel Mühe geben, die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Ich kann das nicht mehr akzeptieren. Die Sache ist abgeschlossen. (…) Das war schlimm damals´, sagt Henneberg, `ganz schlimm.´ (…) Ein halbes Jahr nach den Vorfällen von Barcelona sprach Henneberg vor der Antidoping-Kommission des deutschen Sports über seine Tätigkeit als Schwimmtrainer in der DDR. `Ich habe nichts verdrängt´, sagt er. (…) Es vergingen noch ein paar Jahre und viele bittere Stunden, bis Henneberg seinen Strafbefehl wegen Dopings akzeptierte. Nach Zahlung einer Geldbuße wurden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt. `Nun´, sagt Henneberg, `will ich auch mal meine Ruhe haben.´ Er braucht diese Ruhe. Henneberg ist ein nüchterner, friedlicher Mensch. (…) `Unsere Erfolge hatten ja lange immer diesen Touch des Dopingvorwurfs und, na ja, der Stasi´, sagt Bernd Henneberg. `Das ist ja nun aus der Welt, zumindest offiziell.´ (…). Antje Buschschulte kam 1996 als Abiturientin aus Lübeck nach Magdeburg. Sie war eine der ersten Westsportlerinnen, die in den Osten wechselte. Vier Jahre später verschwand sie, ging über Halle nach Wuppertal, und Henneberg hat den Fortgang akzeptiert. Sie hat zwischendurch immer mal Rat geholt in Magdeburg. Henneberg half wo er konnte (…) Und Antje Buschschulte, die Weltmeisterin, formuliert in einem ganz schlichten Satz ihre Freude: `Herr Henneberg ist ein sehr, sehr lieber Mensch.´“
So sind also, Antje Buschschulte und ihr Mann Helge Meeuw, meine Nachbarn geworden und als sich die beiden nach Helges sechstem Platz vor den Fernsehkameras Küsse zuwarfen, hätte ich ihnen zurufen mögen: „So sind wir Magdeburger!“ Helge hatte für Olympia – und damit den sechsten Platz – sein Medizinstudium unterbrochen und es kann durchaus passieren, dass ich eines Tages von Antje einen Amtsbrief bekomme, denn die ist jetzt die Bürovorsteherin in der hiesigen Staatskanzlei! Wohl nicht um Karriere zu machen, sondern eben so. Denn vor allem will sie ihre Promotion als Neuro-Biologin abliefern. Hätte ich vielleicht alles nicht erfahren, wenn Helge nicht bei Olympia gestartet wäre. Genauer: Zum dritten Mal gestartet!
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Und noch eine ganz wichtige Mitteilung: Als ich bei der Eröffnungsfeier hunderte Kinder in Betten toben sah, zerbrach ich mir den Kopf, welches Krankenhaus da wohl ausgeräumt worden war. Und erfuhr nun, dass die Betten neu angeschafft worden waren und nun nach Tunesien verladen werden, wo man sie dringend benötigt. Und einmal mehr waren es Freiwillige, die sie verluden, nachdem aller bunter Flitter entfernt worden war. Das erschien uns olympisch!
Weniger dagegen der Olympia-Leitartikel der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der gegen die Chinesen und ihre vielen Medaillen Amok lief. Als der Autor Anno Hecker den Agitationsgipfel erklommen hatte, schrieb er den Satz: „Chinas Sportsystem ist die XXL-Version der DDR!“ Nur zur Erinnerung: 1988 nahm die DDR das letzte Mal an Olympischen Spielen teil, das sind 24 Jahre oder nach olympischer Zeitrechnung sechs Olympiaden her! Aber als Gespenst taugt die DDR eben immer noch!
Mittwoch, den 1. August 2012
Der sechste Olympiatag begann und das Lieblings-Thema war einmal mehr auf der Tagesordnung: Doping. Klaus signalisierte mir, was „Focus“ und „Spiegel“ verkündet hatten: „In London schwimmt ein 16-jähriges chinesisches Mädchen allen davon. Die Welt staunt und munkelt: ein Phänomen oder perfektes Doping? Wäre Gen-Manipulation im Spiel, könnten es die Fahnder nicht entdecken. Das Thema Doping steht immer im Raum – auch bei den Goldmedaillen der Chinesin Ye Shiwen. Unter Anti-Doping-Experten hat sich Ernüchterung breit gemacht: Wenn die Fahnder nichts entdecken, heißt das möglicherweise nur, dass ein Doper geschickt vorgegangen ist. Und dass seine Methode illegaler Leistungssteigerung den Tests der Dopingfahnder wieder einen Schritt voraus ist.“
Ich schaltete zum Rudern. Bei den Halbfinals der Zweier ohne zogen die Neuseeländer einen halben Kilometer vor den anderen ihre Bahn, aber niemand faselte von Doping. Sie sind die Weltstars in dieser Bootsklasse und wurden auf den Zieltribünen gebührend gefeiert. Die Chinesin aber – ich erinnere an das FAZ-Zitat von gestern – holte Gold und schon begannen die Spekulationen. Und weil das Mädchen alle Dopingkontrollen ohne positiven Befund überstanden hatte, wurde Gen-Doping ins Spiel gebracht. Das Neueste vom Neuen! Niemand weiß, worum es sich dabei dreht, aber dem Leser wird eine Partie Gänsehaut geliefert und erzählt die junge Frau sei wegen ihrer großen Hände schon im Kindergarten aufgefallen und ins nächste Sportzentrum delegiert worden.
Und dann lieferte das alles wissende „Forum“ sogar noch Details: „Der Körper soll dadurch zum Beispiel die leistungsfördernden Hormone selbst herstellen, die er bisher von außen bekommt, und die moderne Dopingtests als fremde Substanzen erkennen. Die Veränderung des Erbguts ist zwar aufwendig und riskant, aber kaum nachzuweisen. (…) Im Labor kamen so bereits Bodybuilder-Mäuse zustande oder solche, die ohne zu ermüden durchs Laufrad rasen. Niemand weiß, ob die Grenze zwischen Tierversuch und menschlichem Experiment irgendwo auf der Welt bereits überschritten wurde. Der Athlet wäre das reinste Versuchskaninchen.“ Und natürlich meldet sich auch ein bundesdeutscher Doping-Experte, der Mann heißt Wilhelm Schänzer und arbeitet im Institut für Biochemie der Sporthochschule Köln zu Wort und fabuliert: „Hier liegt noch so viel im Dunklen. Ich sehe es daher als ein wichtiges, aber noch kein aktuelles Problem. Trotzdem müssen wir jetzt die Grundlagen schaffen, um auf mögliche Entwicklungen vorbereitet zu sein.“
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Natürlich waren die Chinesen stinksauer. Der „Spiegel“ schrieb: „China wehrt sich gegen Kritik an seinen Olympia-Medaillen. Es sei unfair, mit dem Finger auf chinesische Schwimmer zu zeigen, sobald sie Medaillen bei internationalen Wettkämpfen gewinnen, sagte Jiang Zhixue, Leiter der nationalen Anti-Doping-Behörde, der Nachrichtenagentur Xinhua. Diese Leistung, die er selbst als `Durchbruch´ feiert, ist `das Ergebnis wissenschaftlichen Trainings und harter Arbeit´. Er verbat sich Kritik aus den USA: `Wir haben Michael Phelps nie in Frage gestellt, als er in Peking acht Goldmedaillen gewann.´ Jiang verwies darauf, dass chinesische Sportler seit ihrer Ankunft in London insgesamt 100 Dopingproben abgegeben hätten. `Andere wurden außerdem von den internationalen Sportverbänden und der britischen Anti-Doping-Agentur getestet. Bis jetzt gab es keinen einzigen positiven Fall.´ China verweist auf 15.000 Dopingtests pro Jahr.“
Meine Meinung: Die könnten 150.000 Proben abgeben und würden dennoch verdächtigt! Das Motiv ist – sagen wir es getrost so deutlich – blanker Antikommunismus! Das war auch so, als die DDR noch existierte, und damit uns niemand vorwirft, wir würden übertreiben, erinnern wir an die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und ihre „XXL“-Variante! Wenn ihnen gar nichts mehr einfällt, haben sie immer noch die DDR bei der Hand!
JUDITH AUS DEM RADLERLAND
Radrennen standen heute wieder auf dem Programm, also Sport und Spannung. Das Einzelzeitfahren, von dem ich immer sage, dass es härter ist, als jedes normale Rennen, weil man sich dort immer mal irgendwann „ausruhen“ kann.
Klaus faxte mir eine treffende Schlagzeile einer Potsdamer Zeitung, die ich – als Zuschauer in London – dort sicher nicht am Kiosk gefunden hätte: BRANDENBURG BLEIBT RADLERLAND. Tatsächlich hätte Brandenburg hier jede Länderwertung gewonnen. Das Blatt schrieb: „Zwei gebürtige Brandenburger haben die Ehre der deutschen Straßenradsportler bei den Olympischen Spielen in London gerettet. Tony Martin, der aus Cottbus stammt, und Judith Arndt, die in Gräbendorf bei Bestensee (Dahme-Spreewald) aufgewachsen ist, holten gestern bei den Entscheidungen im Zeitfahren jeweils Silber.“
Wenn ich Judith Arndt das nächste Mal treffe, werde ich sie fragen, ob sie nicht doch in Königswusterhausen geboren wurde. Davon war ich bis jetzt überzeugt und trenne mich auch nicht gern von dieser Feststellung, denn Königswusterhausen war auch die Heimatstadt meines unvergessenen Gefährten unendlich vieler harter Rennen, Paul Dinter. Gehört vielleicht nicht hierher, aber in meinem Alter kommen einem die Freunde oft in den Sinn, auch wenn sie schon der grüne Rasen deckt!
Judith holte sich ihre zweite olympische Silbermedaille und hätte auch Gold gewinnen können, wenn nicht auch die US-Amerikanerin Kristin Armstrong in diesem Rennen gestartet wäre. Die war an diesem Tag unschlagbar. Beifall für Judith, die zu Hause sicher Mühe hat, all ihre Pokale unterzubringen, aber für diese Medaille findet sie bestimmt noch einen passenden Platz. Bei den Männern gewann der Brite Bradley Wiggins die erste Goldmedaille für seine Heimat. Es war seine vierte – davon drei auf der Bahn gewonnen – und da er früher auch noch einmal Silber und zweimal Bronze erobert hatte, ist er nun fast der erfolgreichste britische Olympionike aller Zeiten.
Ich zitiere noch mal die Potsdamer Zeitung: „Der Kampf gegen den Schmerz hat sich für Zeitfahr-Weltmeister Martin gelohnt, der seit dem Bruch des Kahnbeins in der linken
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Hand bei der Tour de France stark beeinträchtigt war. Der 27-jährige Wahlschweizer im Ziel: „Das ist echt eine geile Story, die heute zum Glück gut ausgegangen ist. Yeah!!!“. Aus der Dopingkontrolle meldete er sich über Facebook: „Die Medaille umgehängt zu bekommen, ist ein tolles Gefühl nach der ganzen Vorgeschichte. Deshalb ist Silber wie eine Goldmedaille zu werten. Ich bin einfach nur glücklich“, jubelte Martin.
Und selbst der ranghöchste Mann der Olympiamannschaft Thomas Bach kommentierte diesen Erfolg: „Ich bin jetzt noch ganz sprachlos. Das ist eine Leistung, vor der man nur den Hut ziehen kann.“ Der zweite deutsche Starter, Ex-Weltmeister Bert Grabsch, wurde Achter. Zu erwähnen noch: Wieder säumten Hunderttausende die Strecke!
Weil uns in diesem Bericht auch Thomas Bach über den Weg gelaufen war, erschien uns eine klärende Passage unumgänglich. Bach hatte für London auch ein Buch über die deutsche Olympiamannschaft herausgegeben, finanziert natürlich von Sponsoren und das hatten wir interessiert zur Kenntnis genommen, aufmerksam und dann erstaunt und danach sogar empört.
DAS BACHSCHE „RECHENBUCH“
Das Heft gab nicht nur Auskunft über die in London Startenden, sondern über alle „deutschen Olympiamannschaften“ der Vergangenheit. Aber wie! Es gab seit 1896 nur eine „deutsche Olympiamannschaft“. Die DDR wurde schlicht unterschlagen, existierte für den IOC-Vize einfach nicht! Das trieb die Autoren zu den tollsten Salti.
Bach selbst gehörte 1976 zur Olympiamannschaft der BRD. Sollte er tatsächlich vergessen haben, dass er im Olympischen Dorf in Montreal auch manchmal mit DDR-Aktiven in der Schlange der Speisesaal-Schalter stand?
Doch da war nicht nur „Vergesslichkeit.“ Noch skandalöser erschienen uns seine mathematischen Mannschafts-Medaillenvarianten. 1968 zum Beispiel hatte die DDR neun Goldmedaillen errungen, die BRD fünf. In Bachs Statistik – gedruckt 2012 - erschien „Deutschland“ in der Rubrik des Jahres 1968 mit 14 Goldmedaillen. Acht Jahre später in Montreal hatten die DDR-Aktiven 40 Goldmedaillen errungen und die BRD 10. Die Bach-Statistik präsentierte 50 Goldmedaillen für „Deutschland“ und da die UdSSR damals „nur“ 49 Goldmedaillen errungen hatte, müsste nach Bach „Deutschland“ der absolute Sieger von Montreal gewesen sein!
In Seoul 1988 hätten „die Deutschen“ danach 48 Goldmedaillen errungen – die USA nur „dürftige“ 36 und Großbritannien gar nur 5. Dass diese Ziffern nach der „Einheit“ im Sturzflug nach unten gingen - 2000 hatte sich „Deutschland“ mit 13 mal Gold begnügen müssen – erklärte Bach natürlich niemandem.
In einer einzigen Spalte hatten die Bach-Mathematiker keinen Ausweg gefunden und die in die Ewigkeit verbannte DDR erwähnen müssen: Bei den Fahnenträgern. Schließlich musste man den Lesern erklären, wie es dazu gekommen war, dass von 1968 bis 1988 jeweils zwei „Deutsche“ die Fahne ins Stadion getragen hatten. Also raffte man sich bei den DDR-Fahnenträgern zu einer Fußnote auf. Hinter den Namen Karin Balzer, Manfred Wolke, Hans Reimann und Ulf Timmermann erschien ein Stern und der wurde am Ende der Seite mit dem Hinweis dem Leser so erklärt: „Starten für die DDR“. Die gab es also doch! Und nach dieser Variante waren es faktisch nur die vier Fahnenträger, die je für die DDR gestartet waren.
Bei den Medaillengewinnern hatte man keine Hemmungen, die Fälschungen fortzusetzen. Zum Beispiel: Unter der Titelzeile „Deutscher Amateur-Boxverband“
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erschien auch Wolfgang Behrendt mit seinem Sieg 1956, obwohl er nie für den DABV gestartet war, sondern immer für den „Deutschen Boxverband“ (DBV) und das war der DDR-Verband, der zum Beispiel mit Karl-Heinz Wehr über Jahre den Generalsekretär des Weltboxverbandes AIBA stellte.
Thomas Bach wird oft als aussichtsreicher Kandidat für die Funktion des IOC-Präsidenten genannt. Vielleicht sollte er vorher doch noch einen Lehrgang in deutscher Sportgeschichte absolvieren!
Und wenn er einmal dabei sein sollte, könnte er auch noch einen Mathematikkurs belegen, damit er künftig Auskunft geben kann, dass die Bundesrepublik während ihrer olympischen Existenz von 1952 bis 2008 insgesamt 659 Medaillen erkämpfte und die DDR von 1956 bis 1988 auf 570 kam! Das hätte man auch in der Mannschaftsbroschüre wenigstens erwähnen können, aber wer sollte auf diese riskante Idee kommen?
Donnerstag, den 2. August 2012
Nun noch ein Geständnis: Als die Entscheidung im Achterrudern fiel, habe ich mich zwar über den bundesdeutschen Sieg gefreut, aber heimlich auch den Briten die Daumen gedrückt. Damit niemand aus diesem Geständnis schließt, mir fehle es an Sympathie für die deutschen Sportler bei Olympia 2012, muss ich dem Geständnis noch eine Erklärung hinzufügen.
Wie mancher weiß, war ich lange Mitglied des Magdeburger DTSB-Bezirksvorstands und wenn sich auch die Aktiven der verschiedenen Sportarten in der Elbestadt nicht jeden Tag trafen, begegnete man sich natürlich öfter. Und auch als ich meine Laufbahn beendet hatte, traf ich oft noch den und jenen und natürlich auch Trainer. Und unter denen auch Jürgen Grobler, der schon 1970 Ruder-Cheftrainer in Magdeburg geworden war. Ich könnte eine lange Liste von Aktiven präsentieren, die er auf dem Weg zu olympischen Medaillen begleitet hatte. 1991 feuerten ihn die neuen deutschen Sportchefs, aber er stand nie in einer Schlange der Arbeitslosen, denn der britische Ruderverband engagierte ihn augenblicklich, und zwar nicht als Bootswart, sondern als Cheftrainer. Und auch seine neuen Schützlinge gewannen bei allen Olympischen Spielen allerlei Medaillen. Einer den er auch betreute, war der legendäre Steve Redgrave, der am Eröffnungsabend der Spiele das Feuer von David Beckham übernommen und ins Stadion getragen hatte. Grobler ist nach wie vor Cheftrainer, hatte aber mit seinem so erfolgreichen Achter Pech, als sich nacheinander zwei Schlagleute verletzten. Kurzum: Er betreute den britischen Achter, war schließlich lange Jahre mein Magdeburger Kumpel – da drückte ich ihm eben mindestens einen meiner Daumen. Und ich mache kein Hehl daraus, dass ich es auch bei den nächsten Entscheidungen tun werde, die auf der Ruderregatta-Strecke fallen. Übrigens: Er wohnt nicht nur in Henley, Englands berühmtestem Ruderort, sondern ist dort auch Ehrenbürger und wenn ich all die Auszeichnungen aufzählen würde, die die Briten dem Ex-Magdeburger – und Ex-DDR-Bürger - verliehen haben, brauchte ich einige Zeilen. Es könnte sein, dass er demnächst wieder eine erhält, denn das Ruder-Duell mit den Deutschen ging eindeutig an die Briten: viermal Gold, zweimal Silber, dreimal Bronze zu zweimal Gold und einmal Silber!
Diese Bilanz ergab sich aber erst Tage später. Wir aber mussten die entsprechenden Fernsehkanäle einschalten. Zum Beispiel den, der aus der Radsporthalle übertrug.
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GLÜCK HAUFENWEISE
Ohne die imponierende Leistung der beiden Sprinterinnen Miriam Welte und Kristina Vogel auch nur im geringsten mindern zu wollen, gestehe ich: Soviel Glück wie die hatte ich nie! Aber Glück gehört zum Sport und das hatten die beiden auch verdient! Erst wurden die britischen Radsprinterinnen wegen eines Wechselfehlers disqualifiziert und die im Grunde schon aus dem Rennen um die Goldmedaille ausgeschiedenen Miriam und Kristina kehrten auf die Bahn zurück, schoben ihre Räder noch einmal in die Startmaschinen und schwangen sich gegen die Chinesinnen in die Sättel. Es gab ihnen kaum jemand eine Chance gegen dieses Duo und sie verloren denn auch, freuten sich aber wie die Schneeköniginnen über Silber, als plötzlich jemand in ihre Boxe kam und ihnen mitteilte, dass sie nicht Silber sondern Gold erhalten würden – auch den Chinesinnen war ein Wechselfehler unterlaufen! "Soviel Glück auf unserer Seite - komisch" war alles, was sie da zu sagen wussten.
In der überfüllten Halle standen sie logischerweise bei allem Charme im Schatten eines Mannes, der wie Wrigley britische Radsportgeschichte geschrieben hatte. Wie populär dieser Chris Hoy schon vor jenem Abend war, verrät allein die Tatsache, dass die britische Mannschaft vor der Eröffnung eine Abstimmung durchgeführt hatte, wer die Fahne ins Stadion tragen soll. 542 Mitglieder hat die Mannschaft und 542 stimmten für Chris Hoy, dem Schotten, der nun an jenem Abend mit seiner fünften Goldmedaille einen Schwimmer übertraf, der es 1908 auf vier Goldene gebracht hatte. Chris Hoy hat an der Universität Glasgow Sportwissenschaften studiert und wurde zweimal mit einer Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Am 1. Januar 2009 war er von der Königin zum Ritter geschlagen worden, was ihm seitdem erlaubt, den Titel eines „Sir“ zu tragen. Dass der an jenem Abend im Mittelpunkt stand, wird jeder verstehen.
WAS SICH BEI DEN BOXERN TAT
Dann erreichte uns die Nachricht, dass bei den Boxern die Fetzen geflogen waren. Die Chefs der AIBA (Internationaler Boxverband) hatten den Technischen Offiziellen Aghajan Abijew aus Aserbaidschan gefeuert und nach Hause geschickt. Niemand erfuhr genau das Motiv dieser Entscheidung, aber Karl-Heinz Wehr, früher, wie schon erwähnt, Spitzenfunktionär der AIBA, konnte uns Auskunft geben, weil ihm Abijew kein Unbekannter war und er sich gut daran erinnern konnte, dass der Mann schon 1992 bei den Junioren-Weltmeisterschaften als Kampfrichter eine nicht allzu positive Rolle gespielt hatte. Man hatte damals beschlossen, ihn für alle Zeiten von der Liste der Kampfrichter zu streichen, aber daraus wurde nichts, weil Abijew einen „Ausweg“ fand. Der Mann ist Professor an der Universität in Baku und als der AIBA-Präsident Chowdry das nächste Mal nach Baku kam, erhielt er dort die Ehrendoktorwürde und da Abijew die auch schon dem IOC-Präsidenten Samaranch hatte zukommen lassen, dachte niemand mehr daran, ihn davonzujagen. Gegen einen deutschen Ringrichter wurde in London eine „Pause“ von fünf Tagen verhängt, aber um all die Hintergründe aufzuklären, brauchte man wohl Monate und ein paar routinierte Staatsanwälte. Es ist sicher auch kein Irrtum, wenn man vermutet, dass der Profiboxsport hier seine Finger im Spiel hat, denn der kann schließlich nur existieren – und vor allem kassieren -, wenn er Nachwuchs aus dem Amateurlager engagieren kann. Reizvoll war nur, dass der deutsche Ringrichter eine Entscheidung getroffen hatte, die einem Kubaner den Sieg
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bescherte. Aber niemand warf ihm vor, dass ihn Sympathie für Kuba dazu bewogen hatte. Das hätte so gar nicht ins Bild gepasst.
DER NEO-NAZISKANDAL
Unser nächstes Thema hat eigentlich unter den olympischen Ringen verdammt wenig zu suchen. Die bundesdeutsche Mannschaft sorgte für Aufsehen, als sie nächtens eine Ruderin nach Hause schickte. Von der 23-jährigen Nadja Drygalla war bekannt geworden, dass sie mit einem Rostocker Neonazi – vielleicht auch Ex-Neonazi – liiert gewesen war. Um das klarzustellen: Wir kämen nie auf die Idee, ihr diese Liaison an sich vorzuwerfen, dieweil es ihre Privatangelegenheit ist und bleibt.
Zu monieren aber ist, wie die Sportobrigkeit und sogar die Bundesregierung mit dieser Affäre umging. Und wenn das „ND“ die Frage aufwarf: „Wen geht es eigentlich etwas an, mit wem eine deutsche Olympiastarterin das Bett teilt?“ und vermutet: „Will die Öffentlichkeit hier nicht ein bisschen zu viel wissen über das Privatleben einer Sportlerin“ könnte man verunsichert werden.
So einfach – meinen wir – lässt sich dieses Problem nicht abhandeln.
Nehmen wir mal an, Nadja wäre mit ihrem Achter nicht im Hoffnungslauf ausgeschieden, sondern hätte eine Medaille errungen – wie hätte IOC-Vizepräsident Thomas Bach – immerhin der Mannschaftschef – in diesem Fall reagiert? Man kann sich das nicht ausmalen, wenn man bedenkt, dass die Entscheidung, Nadja den Auszug aus dem Olympischen Dorf zu „empfehlen“ erst zwei Nächte nach ihrem medaillenlosen Ausscheiden fiel. Wer sehr zynisch denkt, könnte unterstellen, dass sie im Dorf ihr Bett hatte, solange man hoffen konnte, dass sie eine Medaille holt...!
Als plötzlich alle wilden Eifer zeigten, die „Wahrheit“ aufzudecken, schoben die beteiligten Instanzen den Schwarzen Peter schneller weiter, als eine Runde Pokerspieler.
Der Sachverhalt: Nadjas Lebensgefährte genießt den Ruf eines Neonazis und nun taten alle so, als hätte man das durch puren Zufall – oder am Biertisch - in London erst erfahren. Festzustellen ist leidenschaftslos: Ihr Freund Michael Fischer – von dem es auch ein dieser Tage in London aufgenommenes Bild gibt – war keine Gelegenheits-bekanntschaft und im Ruderverband kein Unbekannter.
Der einen soliden Journalistenruf genießende Jens Weinreich hatte sich in der „Berliner Zeitung“ (4.8.2012) ausgiebig mit der Affäre beschäftigt und auch andere Quellen steuerten interessante Fakten bei.
So ergab sich: Michael Fischer war selbst einmal Ruderer. Und zwar keiner aus der Kreisklasse. Im August 2006 hatte er sich gemeinsam mit Nadja für die Junioren-WM in Amsterdam qualifiziert. Die Drygalla wurde mit dem Achter Dritte – Fischer gewann mit seinem Achter die Silbermedaille. Unmittelbar danach hatte ihn sein Heimatverein wegen seiner Aktivitäten für die Rechten vor die Alternative gestellt: Sport oder Rechtsextremismus. Dem Vereinsvorstand sollte man für diese Konsequenz noch nachträglich eine Auszeichnung überreichen! Er hatte – anders als jene linke Zeitung oder der IOC-Vizepräsident und die Minister – durchaus Wert darauf gelegt, zu wissen, wer mit wem in welchen Kreisen verkehrt.
Und Fischer standen die Rechten näher als das Rudern – bis auf Nadja - und so stieg er aus allen Booten und begann in Rostock ein Studium. Doch beließ er es nicht bei dem Besuch der Vorlesungen, sondern engagierte sich in der Organisation „Nationale Sozialisten Rostock“ (NSR), eine der 16 rechtsextremen Kameradschaften, die der
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Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommerns in seinem Jahresbericht 2010 notiert hatte. Vermerkt worden war auch, dass dieser NSR „maßgeblich“ die Aktivitäten der Neonazi-Szene präge und sich zum Kreis der „autonome Nationalisten“ zähle. Die Texte auf der Internet-Seite der NSR ließen auf eine „verfestigte neonazistische Ausrichtung der Mitglieder“ schließen.
Wann immer Nadja Drygalla ihm das erste Mal begegnete oder die Liaison einging - Fischer war für seine Haltung so bekannt, dass ihr das nicht entgangen sein kann. Und wenn er ihr das verschwiegen haben sollte, muss es ihr spätestens 2011 bekannt geworden sein, denn da kandidierte Fischer bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern für die NPD. (Ganz zu schweigen davon, dass es dem Vereinsvorstand auch nicht entgangen war!)
Nach Einschätzung der Regionalzentren für Demokratie und Toleranz umfassen die NSR einen harten Kern von 20 bis 50 Mitgliedern und fungieren mit ihrem aggressiven Auftreten als Vorbild für andere Kameradschaften im Land. Unter anderem hätten sie im Februar versucht, eine Gedenkveranstaltung für das Rostocker NSU-Mordopfer zu stören.
Zurück zu Nadja. Sie hatte 2008 ihre Ausbildung zur Polizistin fortgesetzt, gehörte zur Sportfördergruppe der Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern und trainierte im Olympischen Ruderclub Rostock.
Und dann – aus heutiger Sicht urplötzlich – quittierte sie ihren Dienst bei der Polizei. Und das vier Monate vor Abschluss der Ausbildung! SPIEGEL ONLINE ließ wissen, dass man über die Hintergründe höheren Orts im Bilde war: „Nach Informationen wusste das Schweriner Innenministerium seit dem Frühjahr 2011, dass Drygalla mit Michael Fischer liiert sein soll. Innenminister Caffier spricht etwas verklausuliert von Personen in ihrem Bekanntenkreis, die der `offen agierenden rechtsextremistischen Szene zugehörig sind´. Fischer, von Freunden `Fischling´ genannt, intensivierte 2011 seine Aktivitäten: Er meldete Demonstrationen an, lud bekannte Neonazis zu Vorträgen ein. Man soll auf Drygalla eingewirkt haben, zum 30. September einen Antrag auf Entlassung zu stellen.
Caffier könnte also um die angeblichen Kontakte gewusst haben, als er Drygalla und die anderen Sportler aus Mecklenburg-Vorpommern verabschiedete.“
Gemeint war der festliche Abschied der Landesregierung zu den Spielen nach London. Nachdem das Boot, in dem Nadja saß ausgeschieden war, erfuhr man nächtens, es habe ein Gespräch des Chefs de Mission mit ihr stattgefunden. Aus der Verlautbarung: „An dem Gespräch mit Vesper nahm auch Mario Woldt teil, Sportdirektor des Deutschen Ruderverbandes (DRV).“ Dann war das olympische Abenteuer für Nadja Drygalla beendet. Kurz vor Mitternacht verschickte der DOSB eine nüchterne und knappe Pressemitteilung, die darüber informierte, dass Nadja Drygalla das Olympische Dorf verlassen habe.
Weinreich dazu: „Der DRV behauptet nun, erst am Donnerstag `Erkenntnisse zum privaten Umfeld´ von Nadja Drygalla erhalten zu haben. Und das, obwohl der Neonazi Fischer in der Junioren-Nationalmannschaft ruderte? Was weiß ein Verband, der seine Sportler in wochenlangen Trainingslagern vorbereitet und über tausende leistungs-diagnostische Daten der Athleten verfügt, wirklich über die Menschen, die er für Olympische Spiele auswählt? Warum hat Drygalla im vergangenen Jahr, nachdem in Onlinemedien erstmals über die Verbindung berichtet wurde, die Polizeischule Güstrow verlassen? Das Bundesinnenministerium, Hauptsponsor des olympischen Spitzen-sports, teilte auf Medienanfrage mit: `Seit dem 30. September 2011 ist Frau Drygalla nicht mehr Polizeianwärterin.´ DOSB-Generaldirektor Vesper sagt, er glaube, `dass es
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vor einigen Monaten im Ruderverband ein Gespräch mit Drygalla gegeben habe´. Verantwortliche des DRV waren zur selben Zeit in Eton eingebunden, beim zweiten Finaltag der Ruderer. Vesper sagte, er wolle nicht über den DRV richten – und nicht über Drygalla. `Wir reden über eine 23-jährige junge Frau. Ich habe mit ihr intensiv über ihre Entwicklung und ihre Haltungen gesprochen.´“
In der bald darauf stattgefundenen Pressekonferenz stellte ein NDR-Reporter nach Vespers Versicherung, die Drygalla habe ihm versichert, das Grundgesetz zu respektieren, die Frage: „Wie kann jemand auf den Olympischen Werten, und auf den Werten des Grundgesetztes stehen, wenn er mit einem Rechtsradikalen das Leben teilt?“
Niemand wusste eine Antwort.
Wie auch so viele andere Fragen unbeantwortet blieben und an die unbegreiflichen Vorgänge rund um die Neonazi-Morde erinnerten. Ein Innenminister lässt einer Polizistin empfehlen, die Uniform auszuziehen, weil ihr Freund eine üble Rolle bei den Neonazis spielt und niemand stellt die Frage, ob sie dennoch geeignet sei, Deutschland bei Olympia zu vertreten? Kann man sich vielleicht daran erinnern, wie viel Aktive und Trainer von Olympia ausgeschlossen worden waren, weil von niemandem bestätigte sogenannte „Stasi-Akten“ gegen sie ins Feld geführt worden waren? Und das von Herren, die jetzt Nadja Drygalla über Nacht nach Hause schickten und versicherten, sie stünde auf dem Boden des Grundgesetzes.
Und dann trat Thomas Bach auf und wandte sich an die Berichterstatter in London mit einer, wie er sagte, persönlichen Bitte. „Treffen Sie die Unterscheidung zwischen diesem Einzelfall und unserer Olympiamannschaft“, sagte der DOSB-Präsident. „Es hat keiner aus der Olympiamannschaft verdient, in diese Sache hineingezogen zu werden. Das hat mit unserer Mannschaft, die sich klar zu unserem Motto 'Wir für Deutschland' bekennt, nichts zu tun.“ Er bitte, dies zu respektieren, schloss Bach.
Eine ungewöhnliche Bitte und wieder kam uns der Spektakel um die DDR-Sportler, die von Olympischen Spielen ausgeschlossen worden waren, in den Sinn. Hatte Bach je für einen von ihnen diese Bitte geäußert? Eine so berechtigte Frage, weil bei jenen Athleten irgendwelche anonymen Papiere auf dem Tisch gelegen hatten und keine Bindungen zu Neonazis, die für einen Landtag kandidiert hatten!
Ungefragt meldete sich als nächster der Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière zu Wort und kündigte an, man wolle „im Herbst weitersehen“, ob sie vielleicht in die Sportfördergruppe der Bundeswehr aufgenommen werden könnte. Wie sagt der Engländer? „No comment!“
Glauben Sie uns, wir hätten viel lieber nur über die Spiele geschrieben – über die US-amerikanische Tennisspielerin Williams, die im heiligen Wimbledon aus Freude über ihre Goldmedaille einen Jubeltanz aufführte oder über die Judoka Wojdan Sharkani aus Saudi-Arabien, der nach einer Sonderentscheidung des IOC gestattet worden war, mit Kopftuch anzutreten – aber nicht zuletzt die deutsche Mannschaft bescherte Skandale, die man nicht mit einer Randnotiz abtun kann.
Freitag, den 3. August 2012
Da wäre noch eine, die auf das Konto der Deutschen ging. Auf den ersten Blick könnte man glauben, es handele sich um eine Lappalie, einen Streit unter Bürokraten, aber dann stellte sich heraus, dass es keine Lappalie war. Wir hatten schon über die Prämien geschrieben, die in den verschiedenen Ländern gezahlt werden, aber dann
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fand jemand heraus, dass das in der BRD mit deutscher Gründlichkeit gehandhabt worden war und obendrein verheimlicht werden sollte. Ein Journalist hatte herausgefunden, dass die Bundesregierung mit der Sportführung einen Kontrakt vereinbart hatte, in dem bis zum Komma steht, zu wie viel Medaillen sich die Sportverbände verpflichtet haben und mit wie viel Geld sie rechnen können, wenn sie diese Medaillen mit nach Hause bringen. Der Journalist hatte darauf bestanden, diesen Kontrakt einsehen zu dürfen, was man strikt ablehnte. Was tut man in solchen Situationen? Man geht vor Gericht. Und dieses Gericht entschied zugunsten des Journalisten.
Und da wir nicht in London waren und auf einen Bus warteten, ließen wir uns auch in diesem Fall von Jens Weinreich den nötigen Kontakt vermitteln, und wenn er uns dafür eine Rechnung schicken sollte, hoffen wir auf Gnade. Das sind Auszüge aus der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, die den Prozess geführt hatte. „Wir haben vor Gericht gegen das Bundesinnenministerium gewonnen. Gestern hat das Verwaltungsgericht Berlin beschlossen: Das Ministerium muss uns die Medaillen-vorgaben aller Sportverbände offenlegen. Wir hatten das Ministerium am 6. Juli verklagt, weil es uns diese Infos gemeinsam mit dem Deutschen Olympischen Sportbund seit mehr als einem Jahr verweigert.“ (Autoren: Niklas Schenck und Daniel Drepper)
„Gold im Reiten und Rudern, Silber im Kanu, Fechten oder Turnen – all diese Medaillen werden aus Steuergeld bezahlt. Mehr als 130 Millionen Euro gibt das Bundesinnenministerium (BMI) jedes Jahr in den Spitzensport. Ein Teil des Geldes, mehr als zehn Millionen Euro, wird über Zielvereinbarungen vergeben. Diese Vereinbarungen haben die Verbände schon 2008 mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) geschlossen. Dort ist genau festgelegt, wie viele Medaillen die Verbände bei den Olympischen Spielen in London gewinnen müssen. Verpassen Sie die Ziele, kann das dazu führen, dass Gelder gestrichen, Trainer entlassen werden.
Von der Medaillenzahl ist zum Teil abhängig, was und wie viel der Staat finanziert. Trotzdem verhindern DOSB und BMI seit Jahren, dass die vereinbarten Ziele öffentlich werden. Selbst die Mitglieder des Bundestags-Sportausschusses haben in die Ziele keinen Einblick. Kritiker bezeichnen diese Art der intransparenten, medaillenfixierten Förderung als Planwirtschaft, als Relikt aus dem Kalten Krieg.“
Da traten wir auf die Bremse. Woher wussten die Herren, dass – es konnte ja nur die DDR gemeint sein – dort je dieser Stil von „Planwirtschaft“ im Hinblick auf Olympiamedaillen galt?
Nach diesem Hieb gegen links – vielleicht auch der Versuch einer Rechtfertigung - fuhren sie fort: „Bereits vor 14 Monaten hatten wir einen Antrag nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellt, der bis heute nicht vollständig bearbeitet ist. Die Zielvereinbarungen sind nach wie vor unter Verschluss. Da uns auf mehrmalige Anfrage weder DOSB noch Ministerium die Vorgaben an die Verbände mitteilen wollten, reichten wir am 6. Juli Klage beim Verwaltungsgericht Berlin ein. Unsere Begründung: Hier wird Steuergeld ausgegeben, das muss öffentlich sein. (…) Und was für uns noch wichtig war:
Da es dem Antragsteller hier darum geht, vor dem Hintergrund eines aktuellen Ereignisses, nämlich der gegenwärtig stattfindenden Olympischen (Sommer)Spiele zu berichten, benötigt er die begehrten Auskünfte jetzt und nicht zu einem ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft. Im Hinblick auf den verfassungsrechtlich verbürgten Wert der Pressefreiheit [...] ist in diesem Fall die Vorwegnahme der Hauptsache in Kauf zu nehmen.”
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Vielleicht werden wir also noch in den nächsten Tagen erfahren, wie die „Medaillen-Planwirtschaft“ funktioniert, seitdem der „Kalte Krieg“ vorüber ist.
SUPERHELD PHELPS
Es wurde höchste Zeit in irgendeine Olympia-Arena zurückzukehren. Im Grunde blieb gar keine andere Wahl als die Schwimmhalle und damit zu Michael Phelps. Wir haben schon vor einigen Tagen behauptet, er hätte Olympia-Geschichte geschrieben, der US-Amerikaner hat mit seinen 18 Goldmedaillen – und zwei bronzenen - ein dickes olympisches Geschichtsbuch hinterlassen! Als er mit 15 Jahren bei den Spielen 2000 in Sydney sein Debut gab, musste er sich mit einem fünften Platz zufrieden geben und kam nur in die Schlagzeilen, weil er der jüngste Teilnehmer war. Vier Jahre später in Athen war er für acht Wettbewerbe gemeldet. Ein Sponsor kündigte an, dass er bei einem Rekord eine Prämie von einer Million US-Dollar erhalten würde. Mit der 4×200-m-Freistilstaffel und der Lagenstaffel gewann er die Goldmedaillen fünf und sechs. Bei letzterer schwamm er nur im Vorlauf, da er seinem im Einzelfinale unterlegenen Konkurrenten Ian Crocker den Platz auf der Schmetterlingsdistanz überließ, um ihm doch noch zur olympischen Goldmedaille zu verhelfen. Mit insgesamt 8 Medaillen war er der erfolgreichste Teilnehmer der Spiele. Bei den Olympischen Spielen 2008 holte Phelps acht Goldmedaillen, drei davon mit der Staffel, wobei er bei sieben Siegen neue Weltrekorde aufstellte. Nun kamen noch einmal 4 Gold- und zwei Silbermedaillen hinzu, und allein wenn man diese Zahl liest, kann einem schwindlig werden.
Natürlich wurde auch er des Dopings verdächtigt. In einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung sagte er: „Jeder kann glauben, was er will. Ich weiß, dass ich sauber bin.“
Auch einiger Ärger spielte in seiner Laufbahn eine Rolle. 2004 wurde er wegen Trunkenheit am Steuer zu 18 Monaten Bewährung und zur Teilnahme an einer Entziehungskur verurteilt. Eine britische Boulevardzeitung veröffentlichte Anfang Februar 2009 ein Foto von ihm mit einer Wasserpfeife. Das sorgte wieder für Wirbel. Er entschuldigte sich. Mitte August 2009 wurde er schuldlos in einen Autounfall verwickelt, ohne dabei nennenswert verletzt zu werden, doch fand die Polizei bei dieser Gelegenheit heraus, dass er keinen gültigen Führerschein besaß. Also trotz eines Barren olympischen Golds: Auch nur ein Mensch!
Sonnabend, den 4. August 2012
Was war das für ein grandioser Abend! Vor allem für die Gastgeber. Eine Londoner Zeitung errechnete, dass es der erfolgreichste britische Olympia-Tag seit 104 Jahren war! Eine andere konstatierte, dass er das Königreich in den „olympischen Ausnahmezustand“ versetzte. Die Beatles-Ikone McCartney schwenkte im Rad-Velodrom nach dem Sieg der Verfolgerinnen die britische Flagge und sang mit der Menge „Hey Judge - na na na na". Später stimmte er im Olympiastadion „All you need is Love“ an und als die Briten dort in 47 Minuten drei Goldmedaillen errangen, kannte der Jubeltaumel keine Grenzen mehr. Jessica Ennis gewann den Siebenkampf, Rotschopf Greg Rutherford triumphierte im Weitsprung und Mo Farah holte sich Gold im 10.000-m-Lauf. Als der frühere Olympiasieger Sebastian Coe, der die Spiele nach London geholt hatte, in der Arena erschien, um Jessica das Gold zu überreichen, schien das Dach in Gefahr zu geraten, davonzufliegen.
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Bei all dem blieb nach turbulenten Minuten auch noch Zeit für Jubel der deutschen Schlachtenbummler auf den Rängen. Als der 800-m-Lauf der Siebenkämpferinnen zu Ende ging, zeichnete sich ab, dass Lilli Schwarzkopf Silber gewonnen haben müsste. Aber dann erschien auf der Anzeigetafel der alarmierende Hinweis „disqualifiziert“. Was dann folgte monierten manche als die erste schwache Minute der so brillanten Organisation: Die Kampfrichter hatten auf ihren Videogeräten ein Bein verwechselt! Sie hatten das Bein einer Russin, die die Bahnmarkierung überschritten hatte, mit dem von Lilli Schwarzkopf verwechselt. Proteste, Tränen, Aufregung und als Sebastian Coe erschien, war alles wieder im Lot und er selbst dekorierte sie mit der Medaille. Der „The Daily Telegraph" hatte sogar die Lautstärke des Jubels messen lassen und vermeldete am Sonntag, dass es 110 Dezibel waren, vergleichbar mit dem Geräusch, den ein startender Hubschrauber erzeugte.
Man hätte also begeistert von so viel Olympia ins Bett gehen können, hätten die Fernsehmoderatoren nicht noch eine „Schwurgerichtsverhandlung“ über das Abschneiden der deutschen Schwimmer ins Programm genommen. Delling, der den Ahnungslosen spielte, hatte Franziska von Almsick als Kundige vor die Kamera geholt und der einstige DDR-Star sollte nun die bundesdeutsche Misere analysieren. Sie war klug genug, sich zurückzuhalten, erwähnte aber, was man sicher in der Struktur des bundesdeutschen Verbandes verbessern könnte und nannte auch zwei Beispiele dafür, dass es Talenten sicher nützen würde, wenn sie nicht in ihren Heimatvereinen bleiben, sondern in Stützpunkte übersiedeln würden, in denen die besten Trainer tätig sind. Möglicherweise konnte sie sich selbst noch erinnern, welchen Weg sie in ihrer Jugend hinter sich gebracht hatte. Verschlüsselt riet sie: Das DDR-System wieder mal studieren! Und wem das nicht passt, der sucht sich das System in einem Land, das schon lange die Erfahrungen der DDR übernommen hatte. Davon gibt es genug
Kein Wunder, dass in dieser Debatte auch der Name Norbert Warnatzsch fiel. Klaus fand eine dpa-Meldung vom 16.1.2012 über ihn: Der Weg von Norbert Warnatzsch zeigt viele Facetten nationaler Sportgeschichte. Der erfolgreiche deutsche Schwimmtrainer erlebte Höhen und Tiefen in gleich zwei Systemen.
Jörg Woithe 1980 und Britta Steffen 28 Jahre später führte er zu Olympiasiegen, erlebte mit Franziska van Almsick Aufs und Abs. Deutschlands Wiedervereinigung bedeutete auch eine Zäsur in der Vita von Warnatzsch, der an diesem Montag seinen 65. Geburtstag feiert. „Ich habe die Wende so erlebt, dass man mich nicht wollte. Dass man gesagt hat: mit dir nicht. Und dann bin ich halt weggegangen“, blickt er ohne große Emotion zurück. (…) Auch wenn es schwierig war. Denn nach der Wende leistete er von 1991 an anderthalb Jahre Aufbauarbeit als Cheftrainer in Indonesien - ohne ein Wort Englisch zu sprechen. „Es war eine harte Zeit für mich, weil ich allein hinging, aber ich möchte die Zeit nicht missen.“
Zurück in Deutschland fand er dann bei der SG Neukölln eine sportliche Heimat. Die junge Franziska van Almsick ging durch seine Hände und kehrte 2001 für ihr großes Olympia-Ziel zurück. Mit ihr und Britta Steffen sind die absoluten Höhen und Tiefen im sportlichen Wirken von Warnatzsch verbunden. 2002 schwamm van Almsick bei der EM in Berlin Weltrekord, zwei Jahre später scheiterte sie einmal mehr an ihrem Olympia-Traum(a). Steffen hielt dem immensen Druck vier Jahre später stand und holte anders als „Franzi“ die ersehnten Olympiasiege. Im Juli 2011 erlebte sie dann ihr WM-Debakel, reiste vorzeitig aus Shanghai ab.
Während beider Tiefpunkte stellte sich Warnatzsch vor seine Sportlerinnen und übernahm die Verantwortung. „Bei Misserfolgen frage ich zuerst: Was hätte der Trainer
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anders machen können?“ Der „Perfektionist“ (Warnatzsch) ist eine Vaterfigur für sein Team. „Man muss aufpassen, dass man wach bleibt, streng, aber gütig. Der Papa schimpft manchmal, aber das Kind schimpft manchmal auch“, sagt der Coach, der mit 22 Jahren Nachwuchstrainer beim SC Dynamo Berlin wurde. Dort betreute er auch die spätere Olympiasiegerin Barbara Krause, von 1976 bis 1988 das Männer-Nationalteam.
Nach außen hin gelassen nimmt er zurückliegende Doping-Vorwürfe - ein Verfahren wurde 1997 wegen Geringfügigkeit eingestellt - und Fragen zu einer Stasi-Historie hin. „Die Situation ist doch die, dass meine Vergangenheit offen liegt. Das ist doch bekannt. Ich habe nie irgendwas verheimlicht.“ Als angestellter Trainer beim Club Dynamo Berlin, der dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war, wurde er automatisch in die Stasi-Hierarchie eingeordnet und hatte zuletzt den Rang eines Majors inne.
Er habe nie jemandem geschadet, sagt Warnatzsch, den am meisten Angriffe auf seine Athleten stören. „Das ist für meine Begriffe das Letzte. Wir haben ja nun alles gemacht, was nötig ist: Nachweise geführt, Blutprofile“, sagt er und wird immer noch emotional, wenn er auf die Doping-Verdächtigungen gegenüber Britta Steffen bei der WM 2007 angesprochen wird.
Ernster wird seine Miene auch, wenn er zum Rentnerdasein gefragt wird. „Ich fühle mich nicht so, dass ich das herbeisehne. Ich genieße es, mit jungen, intelligenten Leuten zusammenzuarbeiten.“
Uns geht das nichts an, aber vielleicht sollte man ihn noch mal fragen, was man ändern sollte, in der Struktur des deutschen Schwimmens.
Sonntag, den 5. August 2012
Der Sonntag begann, die erste Woche ging zu Ende. Erster Höhepunkt des Tages war der Marathonlauf der Frauen. Die Afrikanerinnen beherrschten lange die Szene. Die Strecke führte durch das Londoner Bankenviertel und man gewann den Eindruck, dass die Bankiers das Wochenende irgendwo im Grünen verbrachten. So gab es zum ersten Mal ungewohnte Zuschauerlücken. Die Keniarin Tiki Gelana holte sich das Gold vor ihrer Landsfrau Priscah Jeptoo und der überraschend starken Russin Tatjana Petkrowa Archipowa.
Auf den Höhepunkt dieses Tages musste man bis kurz vor Mitternacht warten: Das 100-m-Finale der Männer! Sie haben das sicher im Fernsehen verfolgt und so müssen wir ihnen nicht noch lang und breit erzählen, dass und wie der Jamaikaner Usain Bolt seinen Sieg von Peking vor vier Jahren wiederholte! Die Kommentatoren aller Stationen klagten, dass keine weiteren deutschen Medaillen hinzugekommen waren, aber auch dieses Lied kannte man ja doch schon.
Montag, den 6. August 2012
Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich sah mir die Halbfinals im Zweierkajak an. Nicht, weil ich ein Fan dieser Sportart wäre – ich fürchte, jedes Boot, in das ich klettern würde, kippt um -, sondern weil man sonst nie Zweierkajakrennen im Fernsehen sieht. Die Belgier stürmten mit den anderen los, wurden dann aber langsamer – und kamen nicht unter die ersten drei. Die Kamera fing für Sekunden ihre Gesichter ein, in denen man lesen konnte, wie groß ihre Enttäuschung war. Und ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal im Fernsehen ein Kanurennen gesehen hatte, und kam dann darauf, dass uns nur Olympia solche Bilder beschert. Wer überträgt sonst
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schon ein Kanurennen, obwohl es vielleicht attraktiver anzusehen ist, als ein Formel-I-Autorennen.
Mitten in das malerische Bild der hart kämpfenden Kanuten platzte die Nachricht des IOC, dass man den US-amerikanischen Judoka Nicholas Delpopolo wegen Dopings disqualifiziert habe. Die Fakten wurden minutiös mitgeteilt: „Unmittelbar nach seiner Teilnahme am Wettkampf am 30. Juli, lieferte Delpopolo, 23, eine Urinprobe ab, die positiv war und die verbotene Substanz 11-Nor-delta-9-Tetrahydrocannabinol-9-carbonsäure enthielt.“ Der Yankee hatte den siebenten Rang in der 73-kg-Klasse belegt, der ihm aberkannt wurde. Außerdem musste er sein Diplom als Teilnehmer der Spiele abliefern und ebenso den Olympia-Ausweis. Die IOC-Verwaltung wurde aufgefordert, die Diplome der Athleten, die die Plätze hinter ihm belegt hatten, einzuziehen und neue mit der nun geltenden Platzierung auszugeben. Keine Sensation, bei Olympia schon einige hundert Mal geschehen, einen Augenblick malten wir uns aus, was wir für Nachrichten zu lesen bekommen hätten, wenn es ein Chinese gewesen wäre. Inzwischen kamen noch einige Doping-Nachrichten hinzu – aber ein Chinese war nicht dabei!
Den Abend verbrachten wir wieder bei den Leichtathleten – vor dem Fernseher. Zwischendurch sah man mal die Scharen von Kartenlosen, die auf irgendeinem Flur auf den Zehenspitzen standen, um wenigstens einen Hauch Olympia zu erleben. Wir waren da eindeutig im Vorteil, zumal wir im Gegensatz zu denen, die in den Ehrenlogen saßen, sogar noch die Zeitlupenaufzeichnungen sahen, bis hin zu der nach Bolt geworfenen Flasche und der niederländischen Judoka-Athletin, die den Flaschenwerfer in einen soliden Griff nahm und der Polizei übergab. Edith Bosch heißt die Hüterin des olympischen Friedens und da sie vorher schon eine Bronzemedaille gewonnen hatte, hätte man ihr durchaus noch einen Extra-Blumenstrauß überreichen sollen. Die Richter sahen die Sache nicht so dramatisch, entließen den Randaleur aus der Haft und vertagten den Prozess gegen ihn auf den 3. September. Olympia sollte wohl nicht durch Plädoyers gestört werden!
Einer der vielen Höhepunkte dieses Abends war der 400-Meter-Triumph von Kirani James aus Grenada. Seine Goldmedaille erhöhte die Zahl der Medaillenländer auf 130! Der 19-Jährige kommt von der Insel, die Kolumbus einst entdeckte und deren Bewohner 1979 eine linke Regierung wählten, was den USA-Generalkonsul 1983 bewog, „Hilfe“ anzufordern. USA-Kriegsschiffe eröffneten das Feuer und als Spezial-Truppen am Strand landeten, war die Insel „befreit“ – viele Gräber erinnern heute noch daran. James konnte das nur von seinen Eltern erfahren haben. Seine Zeit von 43,94 Sekunden war sensationell. Die beiden anderen Medaillen blieben ebenfalls in der Karibik. Luquelin Santos aus der Dominikanischen Republik holte Silber und Lalonde Gordon aus Trinidad und Tobago Bronze. Was die Statistiker notierten: Zum ersten Mal seit 1896 – 1980 hatten die USA bekanntlich die Spiele von in Moskau boykottiert - war kein 400-Meter-Läufer aus den USA im Finale dabei.
Dem 19-Jährigen folgte ein älterer Herr: Acht Jahre nach seinem Olympiasieg in Athen triumphierte Felix Sanchez aus der Dominikanischen Republik noch einmal über 400 Meter Hürden. Michael Tinsley aus den USA holte sich Silber und Vize-Weltmeister Javier Culson aus Puerto Rico Bronze.
Im Kugelstoßen hockten zwei Magdeburgerinnen auf der Tribüne, weil sie die Qualifikation nicht überstanden hatten: Europameisterin Nadine Kleinert und Josephine Terlecki. Die EM-Fünfte Christina Schwanitz (LV 90 Erzgebirge) belegte mit 18,47
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Metern den elften Rang. Siegerin blieb die Weißrussin Nadeschda Ostaptschuk, die ihre Medaille allerdings wegen Doping schon bald wieder abliefern musste.
Im Stabhochsprung wollte die Olympiasiegerin von 2004 und 2008, die Russin Jelena Issinbajewa das dritte Gold nacheinander holen. Es kam bei schmuddligem Wetter zu einem dramatischen Wettkampf, den am Ende die Amerikanerin Jennifer Suhr (4,75 m) gewann, und zwar vor der Kubanerin Yarisley Silva, und dann erst war die Doppelsiegerin an der Reihe und rettete sich Bronze. Zwischendurch hatte die Deutsche Silke Spiegelburg geführt, die sich dann aber mit dem vierten Platz begnügen musste. Sie vergoss – wie die meisten Vierten - bittere Tränen und stellte ihrem Trainer eine Frage, die der selbst mit dem besten Willen nicht beantworten konnte: „Warum werde ich immer Vierte?“
Dienstag, den 7. August 2012
Ein Knopfdruck genügte und ich war im legendären Londoner Hyde-Park, wo das Triathlon der Männer ausgetragen wurde: Auch hier rundum alles knüppelvoll als die Teilnehmer in den Serpentinensee sprangen, um die 1,5 Kilometer hinter sich zu bringen. Ich machte mich kundig: Vor vier Jahren hatte der Kölner Jan Frodeno in Peking gewonnen! Diesmal hatte er wegen Wadenbeschwerden seine liebe Not, sich für London zu qualifizieren, der Verband bot ihm eine Chance sich bei einem Wettkampf in Kitzbühel noch zu qualifizieren, die er nutzte. Er war noch vorn mit dabei, als das 43-km-Radrennen durch den Park begann. Ich fragte Klaus, ob er wüsste, seit wann Triathlon auf dem olympischen Programm steht. Antwort: Seit 1994. Um 1920 hatte die erste Radfahren-Schwimmen-Laufen-Prüfung in Frankreich stattgefunden, dann geriet Triathlon in Vergessenheit, wurde erst Mitte der siebziger Jahre in den USA wieder entdeckt, und wenn mir nun jemand erzählen will, dass man es in der DDR mit kriti scher Skepsis einführte – 1983 war die Premiere in Rostock – kann ich ihn trösten: Auch das hatten wir herausgefunden. Die DDR-Sportführung hatte auf den englischen Begriff verzichtet und statt „Triathlon“ einen „Ausdauerdreikampf“ ausgetragen. Welches Vergehen!
Als man in London aus dem Wasser gestiegen war, hatte einer die vorgeschriebene Pause zwischen Schwimmen und Radfahren nicht auf die Sekunde eingehalten und eine 15-Sekunden-Strafe hinnehmen müssen. Dann folgte der 10-km-Lauf und ich gestehe, dass mein Interesse auch wuchs, weil zwei englische Brüder und ein Spanier die Spitze bildeten, aber einer der beiden Brownlees hatte noch irgendwo diese 15-Sekunden „abzusitzen“. Am Ende siegte Alistair vor dem Spanier Gomez. Des Siegers Bruder Jonathan entschloss sich im richtigen Augenblick in die „Strafzelle“ abzubiegen, dort 15 Sekunden keinen Schritt zu machen und dann den beiden hinterher zu stürmen – zu Bronze.
Der Abend gehörte Robert Harting, der in der wohl ältesten olympischen Disziplin – wir nehmen die Antike dazu -, dem Diskuswerfen nach einem dramatischen Duell mit einem Iraner Gold holte und entsprechend gefeiert wurde. Was uns auf den Keks ging: Der Fernsehkommentator kam nicht ohne eine dämliche Bemerkung über seinen Trainer Werner Goldmann aus, den er „umstritten“ nannte. Wann ist man bei wem „umstritten“. Wir blätterten uns noch mal durch die Mannschaftsbroschüre – die die DDR-Sieger kurzerhand bei den „Deutschen“ einreihte, was man durchaus als „umstritten“ bezeichnen könnte – und fanden dort auch den Harting-Trainer Werner Goldmann. Erinnern Sie sich noch, wie verbissen sich die zuständigen Instanzen
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bemüht hatten, ihn „auszusondern“ – und dank Hartings konsequenter Haltung scheiterten? Bei unserer Suche nach Goldmann stießen wir übrigens auf zahlreiche DDR-Trainer: Peter Selzer, Rainer Pottel, Ronald Weigel, Jürgen Schult, Dieter Kollark, die ähnlichen Ärger hatten und genötigt worden waren, eine Erklärung abzugeben, die die Überschrift „Doping“ trug, sich aber im Grunde gegen die DDR richtete. Schwamm drüber – der von Werner Goldmann trainierte Robert Harting holte Gold für die Bundesrepublik Deutschland!
Mittwoch, den 8. August 2012
Nein, die deutschen Medien hatten noch immer ein anderes Thema als Hartings Triumph. Noch immer den Fall Drygalla. Die „Frankfurter Rundschau“ (8.8.2012) hatte Späher nach Rostock entsandt: „Still ist es am Ufer der Warnow, nur das Schilf raschelt sanft neben dem Steg des Olympischen Ruderclubs Rostock. Ein schmaler Weg führt zu den Büros des Mecklenburgischen Ruderverbandes, hinter den großen Fenstern ist es dunkel, am Ende eines leeren Ganges liegen links die Umkleidekabinen der Ruderinnen. Am Spind von Nadja Drygalla hängt ein dunkelblaues Handtuch zum Trocknen.
STIMMUNGSBILD AUS ROSTOCK
Draußen vor dem Gebäude steht ein großer Mann, Halbglatze, Brille. Er trainiere nur die Kinder, sagt er. Zu den vergangenen Tagen wolle er nichts sagen. Er zückt sein Handy, wählt die Nummer des Verbandspräsidenten Hans Sennewald. `Ausgeschaltet, sagt er. `Kann man verstehen, nach allem, was los war.´
Wer wusste wann was?
Am Sonntag hatte Nadja Drygalla im Ruderclub ihr bisher einziges Interview der Deutschen Presse Agentur gegeben, seit sie aus London abgereist ist. (…) Aus dem Umfeld der Ruderin aber scheint niemand über sie reden zu wollen, und manche dürfen erst gar nicht.
Dreißig Kilometer entfernt vom Trainingsgelände des ORC steht ein Ausbilder auf dem Sportplatz der Polizei-Fachhochschule in Güstrow mit Klemmbrett in der einen und Stoppuhr in der anderen Hand, während die Polizeianwärter fünf Kilometer auf der Aschebahn rennen. Nadja Drygalla hatte die Schule im September verlassen, als dort ihre Beziehung zu Fischer bekannt wurde.
`Ich sag’ nichts´, sagt der Ausbilder. `Sprechen Sie mit meiner Vorgesetzten.´ Er zeigt auf das Gebäude am Rande des Platzes. Dort sitzt die Fachbereichsleiterin Anja Hamann in ihrem Büro und sagt, man habe sich bereits am Freitag mit dem Innenministerium verständigt, nichts über Nadja Drygalla zu sagen. Es tue ihr leid.
Selbst die NPD, die Drygalla nun zum Stichwort für ihre beliebte Opferrolle nehmen könnte, lässt zwar ihre führenden Köpfe süffisante Statements abgeben. David Petereit aber, Kreisvorsitzender in Rostock und Bekannter von Fischer, schickt nur per Mail einen Link zur Presseerklärung seines Landesvorsitzenden.
Im Zentrum von Rostock laufen die Olympischen Spiele in einem Gartencafé auf einem Fernsehbildschirm. Ein paar Meter weiter sitzen zwei Männer in Kapuzenjacken auf einer Bierbank. Der eine heißt Christoph, er hat schon vor zwanzig Jahren in Rostock gegen Rassismus demonstriert, wenige Tage, nachdem im Stadtteil
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Lichtenhagen ein Hochhaus brannte, in dem Vietnamesen wohnten; der andere hat 1998 mitansehen müssen, wie Rechte einen Freund krankenhausreif schlugen.
`Mich stimmt es nachdenklich, dass es einen Anlass wie jetzt Drygalla braucht, obwohl die Situation hier geprägt ist von einem rassistischen Alltag´, sagt Christoph. Er und Henrik arbeiten seit sieben Jahren für den Verein Soziale Bildung, der in dem alten Backsteingebäude neben dem Café seine Räume hat. Sie informieren Lehrer in Mecklenburg-Vorpommern über Rechtsextremismus, sie organisieren Projekttage, bei denen sie mit Schülern über Diskriminierung sprechen, auch über deren eigene Erfahrungen. `Die Bedrohung ist ständig präsent´, sagt Christoph, deshalb wollen er und Hendrik ihre Nachnamen nicht in der Zeitung sehen.
Dann erzählen sie von einem Somalier, der vor drei Wochen in Rostock zusammengeschlagen wurde; sie berichten von einer dunkelhäutigen Frau, der im März Rechte den Hitlergruß zeigten; von Buttersäure, die im Mai durch das Fenster des Peter-Weiss-Haus gekippt wurde, in einen Raum, in dem eine Lesung für Kinder stattfinden sollte.
Natürlich kennen sie Michael Fischer, der in Rostock für die NPD bei den Landtagswahlen kandidierte; den sie noch im Februar pöbelnd am Rande einer Gedenkveranstaltung für eines der NSU-Opfer mit seiner Kamera sahen; der auf dem rechten Blog von NPD-Mann Petereit Texte veröffentlicht, zuletzt im Juni, da nannte er die Teilnehmer einer linken Protestveranstaltung `Ausländerlobby´. Christoph und Henrik halten Fischers Behauptungen, aus der Szene ausgestiegen zu sein, deshalb für bloße Strategie. Auf seiner Facebook-Seite schrieb Fischer aus London über die `Schwarzen und Pakis´ in der U-Bahn. Dumm sei es gewesen das zu schreiben, sagte der nun am Montag. Es sei ihm klar, dass der Artikel nun `doof´ aussehe.
Christoph und Hendrik haben derzeit viel tun. Ende August ist der zwanzigste Jahrestag des Pogroms von Lichtenhagen. Sie haben 10.000 DVDs verteilt, darauf ein Dokumentarfilm über Lichtenhagen. Sie wollen informieren, aufklären. `Es gibt noch immer keine Gedenktafel für die Opfer´, sagt Christoph. Rostock, das wissen sie, wird nun für ein paar Wochen im Fokus stehen wegen des Jubiläums und auch wegen Nadja Drygalla. Vielleicht wird die Aufmerksamkeit dabei helfen, neue Gelder für ihren Verein zu sammeln. Ihre letzte Projektförderung des Bundes endete 2010. `Die jetzige Debatte ist schnelllebig´, sagt Christoph, `die Jugendlichen zu erreichen und den Rechten den Nährboden zu nehmen aber dauert.´
Und in Rostock gebe es noch immer Gegenden, die man besser meide, eine ist Toitenwinkel im Nordosten der Stadt. Die SPD hat hier ein Bürgerbüro, dessen Scheiben schon mehrfach eingeschlagen wurden. In einem gedrungenen Bau an der Einfahrt ins Viertel liegt über `Utes Bierstube´ ein Laden, der die in der rechten Szene beliebte Kleidung von Thor Steinar verkauft. Michael Fischer hat in Toitenwinkel seinen Wahlkampf gemacht.
Mit dem Auto sind es vielleicht zehn Minuten bis zum Olympischen Ruderclub. Es ist später Nachmittag und noch immer still auf dem Gelände, Grillen zirpen. Der Parkplatz aber ist voll. Vor dem Athletenhaus steht ein Mann im Anzug. Er nickt, stellt sich vor: Jörg Hähnlein, Schatzmeister. Er könnte jetzt etwas sagen, könnte sich distanzieren, könnte darüber reden, dass Sport dazu beitragen kann, Jugendlichen eine Perspektive zu geben, könnte schöne Sätze sagen, Rudern gegen Rechts, das klingt doch nach etwas. Hähnlein sagt: `Wir haben alles gesagt. Wir wollen jetzt erst mal wieder Ruhe in unseren Verein bringen.“ Das Schilf rauscht im Abendwind.
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So hatten die seit jeher dem Frieden dienenden Olympischen Spiele dafür gesorgt, dass in deutschen Landen die Vergangenheit wieder zum Thema wurde und zwar jene Vergangenheit, die die Olympischen Spiele am hemmungslosesten missbraucht hatten!
Selbst die Bundesregierung hielt Ausschau nach Rettungsringen: „Das Bundesinnen-ministerium erwägt die künftige Förderung von Spitzensportlern an ein Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen.“ Man habe schon seit Dezember 2011 darüber nachgedacht. Das „ND“ kommentierte diesen Plan mit der Schlagzeile „Extrem unsportlich“ und traf den Kern, denn nun droht die Gefahr, dass einem Athleten oder einem Trainer nicht vorgeworfen wird, ein Rechter zu sein, sondern ein „Linksextremer“ und da wäre man wieder bei den „Stasiakten“ angelangt!
Mithin: Diese Olympischen Spiele werden in London olympisch gefeiert und werden mit vielen Pluspunkten in die Geschichte eingehen, aber in deutschen Landen droht dem olympischen Geist Gefahr. Nicht wegen der Zahl der Medaillen, sondern wegen des – sagen wir mal – olympischen Alltags.
Beifall aber gilt vor allen Kommentaren den Medaillengewinnern – und zwar denen aller Nationen. Natürlich möchte man Sebastian Brendel die Hand schütteln, der im Canadier-Einer Gold holte, Max Hoff, der sich zu Bronze paddelte, Martin Hollstein und Andreas Ihle, die im Zweier auf Rang drei kamen, Carolin Leonhard, Franziska Weber, Katrin Wagner-Augustin und Tina Dietze, die im Vierer Silber erkämpften und den Tischtennispielern Timo Boll, Dimitrij Ovtcharov und Bastian Steger, die Bronze holten. Und dann natürlich dem 110-m-Hürden-Sieger der Leichtathleten Aries Merritt (USA), der Siegerin im Frauen-Weitsprung Brittney Reese und und und. Im Grunde müsste ich täglich eine Siegerliste präsentieren, aber dazu ist mein Tagebuch nicht umfangreich genug. Deshalb: Hurra den Siegern und Achtung den Verlierern!
Donnerstag, den 9. August 2012
Die für den deutschen Sport vielleicht wichtigste Nachricht dieses Tages wurde von den meisten Zeitungen nur „am Rande“ publiziert: Die Ankündigung, das Bundesinnenministerium werde künftig von allen Olympiateilnehmern ein schriftliches „Bekenntnis gegen Extremismus“ verlangen, wurde im Ministerium endgültig zu den Akten gelegt. Die Sorge, dass bei einer solchen „Verpflichtung“ auch „linke“ Athleten behelligt werden könnten, ist damit vom Tisch! Also könnte man den nächsten Medaillengewinnern zujubeln, hätte sich da nicht Kritik breitgemacht an der Kritik einiger Athleten. Es handelte sich um Medaillengewinner, die die Interviews nach ihren Triumphen benutzten, um Mängel des Leistungssportssystems der BRD zu äußern. Das aber stieß in den Medien auf Unwillen. Den ersten Rang dürfte die „Berliner Zeitung“ belegt haben, die ihren knallharten Artikel kurioserweise nicht mal im online erscheinen ließ – möglicherweise von schlechtem Gewissen getrieben.
Hier Auszüge: „Stellen Sie sich Folgendes vor: Im Hollywood & Highland Center, dem ehemaligen Kodak Theatre zu Los Angeles, werden die Oscars verliehen. Ein deutscher Schauspieler gewinnt in der Kategorie Bester Hauptdarsteller. (…) Alle sind begeistert - nur einer nicht: der deutsche Schauspieler, der die 45 für seine Rede vorgesehenen Sekunden nicht etwa zu einer Danksagung, sondern zu einer erbarmungslosen Abrechnung nutzt. (…) So mancher deutsche Medaillengewinner war mit seinem Auftritt nicht allzu weit von diesem Szenario entfernt. Lilli Schwarzkopf beispielsweise hatte noch keine fünf Minuten die Gewissheit, dass ihr nach allerlei Kampfrichterverwirrung doch noch Silber zukommen wird, schon begann die Siebenkämpferin vor der
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Fernsehkamera zu mosern. Richtig sauer sei sie wegen der Benachteiligung, die sie durch die Nicht-Akkreditierung ihres Vatertrainers erfahren habe. Und der Bundestrainer habe sich überhaupt nicht um sie gekümmert.
Auch Maximilian Levy wollte sich nicht so recht über den zweiten Platz im Keirin-Rennen freuen, wetterte lieber gegen den Bund Deutscher Radfahrer und dessen Präsi-denten Rudolf Scharping. Der Verband würde seine Erfolge und die der anderen Bahnradfahrer nicht entsprechend würdigen, und Scharping habe ihm noch nicht einmal gratuliert. (…) Schließlich überlagerte Sebastian Brendel sein Glück über Gold im Einer-Canadier mit dem während dieser Spiele unter den deutschen Athleten in Mode gekommenen Hinweis auf die Strukturprobleme des olympischen Sports in Deutschland. Die Unterstützung, die er als Bundespolizist erfährt, sei ihm nicht mehr genug, er wolle Kanuprofi werden.
Vielleicht sollten sich die deutschen Miesepeter gleich mal alle zusammentun, noch in London eine Interessengemeinschaft bilden und beim Internationalen Olympischen Ko-mitee mit einem Antrag vorstellig werden: Wir, die deutschen Sportler, bitten um die Aufnahme der Disziplin Meckern in das Programm der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro.“
Das klang mehr als bedenklich! Kritik ist nicht zugelassen und wer eine Medaille gewann, hat das Maul zu halten! Darf nicht – wie Lilli Schwarzkopf – monieren, dass man ihrem Trainer keinen Platz in der Olympiamannschaft überließ und darf auch keinen Anstoß daran nehmen, dass der Radsportpräsident nicht mal zu Silber gratulierte. Und Sieger Brendel darf nicht Anstoß daran nehmen, dass seine Trainingsvoraussetzungen unzureichend sind. Hatte man uns DDR-Sportlern nicht Jahrzehnte vorgeworfen, wir hätten unsere Meinung nicht äußern dürfen. Ich würde den BZ-Artikel als Pflichtliteratur empfehlen.
Im 10-km-Schwimmen der Damen – wieder war der Hyde-Park-See der Schauplatz und wieder waren Tausende gekommen – gab es den ersten ungarischen Olympiasieg durch Eva Risztov, die Haley Anderson und die Italienerin Martina Grimaldi auf die Plätze verwies. Mit Würde nahmen die Zuschauer, die gekommen waren, um ihre Keri-Anne Payne für eine Medaille zu bejubeln es hin, dass sie sich mit Rang vier begnügen musste. Elf Sekunden (!) hinter der Dritten kam die Mainzerin Angela Maurer auf den fünften Rang. Dass der öffentlich-rechtliche Fernsehsender sie für ein Nacktfoto-Magazin werbend, entkleidet präsentierte, tangierte ungeachtet ihrer bewundernswerten Figur für unsere Begriffe die Grenzen des guten Geschmacks. Einmal mehr erinnerten wir uns an Birgit Fischers Frage, wohin der olympische Geist gedriftet ist.
Das Nacktfotomagazin teilte übrigens mit, dass sich noch vier andere deutsche Olympionikinnen ausgezogen hätten – für entsprechendes Honorar, versteht sich!
Der Abend hatte wieder Höhepunkte serienweise zu bieten, und da sicher viele von Ihnen selbst am Fernseher saßen, muss ich das nicht wiederholen, um keine Langeweile zu verbreiten.
Hinreißend wie der Algerier David Rudisha seinen 800-m-Weltrekord lief, ohne seinen Rivalen unterwegs auch nur eines Blickes zu widmen. Und nicht minder imponierend wie Usain Bolt seinem 100-m-Sieg den über 200 m folgen ließ, „eskortiert“ von zwei Landsleuten und den sieggewohnten USA-Sprintern keine Chance lassend. Wenn wir erwähnen, dass Kuba nach unseren Statistiken noch nie eine Medaille im Zehnkampf gewann und Leonel Suarez dank eines Speerwurfs von 76,94 m Bronze holte, wird uns das niemand verübeln. Die beiden deutschen Speerwerferinnen Christina Obergföll und
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die angehende Ärztin Linda Stahl holten hinter der Tschechin Barbora Spotakova Silber und Bronze.
Die „Helden“ des Tages aber waren die Beachvolleyballer Julius Brink und Jonas Reckermann, die gegen das brasilianische Duo Gold holten. Und würden wir die Kanut(innen)en vergessen, die ein halbes Dutzend Medaillen geholt hatten, könnten wir in die Schar der Kritisierten geraten, die in London anzuwachsen droht.
Freitag, den 10. August 2012
Und die Kritik nahm zu! Die „Financial Times“, die sich ja sonst vornehmlich den Börsenkursen widmet, hatte aus London erfahren: „Die Stimmung im deutschen Olympiateam ist angespannt. Viele Sportler fühlen sich und ihre Leistung nicht genug gewürdigt. (…) Nehmen wir einen Olympioniken, zum Beispiel Christian Dünnes. Er ist Volleyballer und soeben von den Spielen ausgeschieden. Aus einem Gespräch über die Viertelfinal-Niederlage gegen Bulgarien entwickelt sich eines über die deutschen Probleme in den Ballsportarten, und schon ist man mittendrin im Grundsätzlichen: `Schade, dass die Olympia-Mannschaft so klein ist, sie geht immer weiter zurück, wie auch unsere Medaillenausbeute´, sagt also Christian Dünnes. Und er prophezeit: `Das dicke Ende kommt erst noch.´
Es ist dieser Tage gar nicht so leicht, deutsche Sportler zu interviewen, ohne bei düsteren Thematiken zu landen. Sie müssen dazu nicht erst angestachelt werden. Es spielt auch keine Rolle, ob sie gerade gewonnen oder verloren haben. Sie nehmen kaum ein Blatt vor den Mund, selbst wenn sie über Vorgesetzte oder Geldgeber sprechen. All das darf als Indiz dafür gelten, dass etwas nicht stimmt im deutschen Sport. Dass es Frustrationen gibt oder zumindest Melancholie.
Kleine Bilanz der letzten Tage: Der Kajakfahrer Andreas Ihle gewinnt Bronze und klagt danach, in Deutschland heiße es jetzt, `wir sind nur Dritter geworden´. Bahnradler Maximilian Levy gewinnt Silber und schimpft: `Von der Förderung her sind wir hoffnungslos unterlegen, im deutschen Sportsystem muss sich etwas Grundlegendes ändern.´ Diskuswerfer Robert Harting gewinnt Gold und zetert: `Jeder redet über Geld, aber wenn Sportler es tun, bekommen sie einen übergezogen.´
Deutschland, na klar, ist das Land des Meckerns. In einem Medaillenspiegel der Beschwerden würden Chinesen und Amerikaner keine Chance haben. Vielleicht könnte es trotzdem ein Fehler sein, das Wehklagen als Folklore abzutun oder als Lobbyismus einer Berufsgruppe, die mehr Geld herausschlagen will als die 132 Mio. Euro jährlich, die der Bund momentan für den Spitzensport gibt. Vielleicht lohnt es sich, genauer hinzuhören.
Dünnes also, 2,10 Meter groß, redet allenfalls im Wortsinne von oben herab. Er regt sich auch nicht auf oder wirft dem Reporter `kapitalgesteuerten Journalismus´ vor, wie die Badminton-Spielerin Juliane Schenk dieser Tage. `Ich beobachte einfach nur´, sagt er, außerdem legt er Wert auf die Feststellung, als Volleyballer noch vergleichsweise `auf Rosen gebettet´ zu sein. Weil es Länder gebe, wo man als Profi gut verdienen kann. Selbst hat er vier Jahre im italienischen Piacenza gespielt. Da habe er eine andere Sportkultur kennengelernt: `Die Italiener können mit Sport allgemein mehr anfangen. Es gibt dort weniger Ignoranz.´
Auch diese Bemerkung ließe sich natürlich problemlos als verklärte Sichtweise relativieren. Alternativ kann man sie als Wegweiser zum Kern des Trübsinns nehmen.
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Ja, es geht um Geld bei den klagenden deutschen Sportlern, um Förderung und Fernsehzeiten. Aber es geht auch um Anerkennung, Respekt.
Hürdensprinterin Carolin Nytra twitterte: `Leute, es ist teilweise echt lächerlich, wie die >Couch-Potatoes< sich das Maul über fehlende Medaillen zerreißen!´ Jeder Olympionike weiß um die Opfer, die er für seine Karriere bringen muss, und den allermeisten ist auch klar, dass sie mit dem Sport nie ihren Lebensunterhalt bestreiten werden können. Aber dafür, dass sie alle vier Jahre plötzlich zu Fahnenträgern des nationalen Prestiges erklärt werden, würden sie sich etwas weniger Gemecker wünschen. Sie fühlen sich im Stich gelassen von einer Gesellschaft, die sich als Sportnation versteht, weil sie sich während der großen Fußballfeste alle zwei Jahre zu Hunderttausenden auf Fanmeilen betrinkt. Die konsumiert, aber nichts tut. "Selber machen!", schrieb Nytra patzig.
Volleyballer Dünnes hat fast alle Themen durch, das Geld, das Fernsehen, die Fußballfixierung. Dann kommt er noch auf das, was er am Schlimmsten findet: die Zukunftsaussichten. In seinem westfälischen Landkreis habe es früher eine umkämpfte Meisterschaft mit acht Teams pro Altersklasse gegeben. Heutzutage stehe schon im Finale, wer sich überhaupt anmelde.
Außer Fußball und dem Computer gebe es nichts mehr für die Jungen, sagt er, und kommt damit zu seiner Prognose: `Die Generation, die nachwächst, das sind größtenteils neuntklassige Fußballspieler und zweitklassige >Counterstrike<-Spieler. Wie will Deutschland da bei Olympia 2024 eine Medaille holen?"
Das sind deutliche Worte, und zwar nicht von uns, sondern von den Athleten! Wir haben uns daran gemacht, eine grobe Übersicht zu Papier zu bringen, wer denn eigentlich wo sein Geld kassiert, aber das ist heute nicht mehr zu schaffen.
Der Abend begann mit Jubel und einem Hauch von „Trauer“. Beim Weltpokal in Canberra 1983 waren Silke Gladisch, Sabine Günther, Ingrid Auerswald und Marlies Göhr Weltrekord im DDR-Trikot mit 41,37 s gelaufen und die USA-Sprinterinnen holten sich nun Gold und diesen Fabel-Weltrekord mit 40,82 s. Da gilt es zu gratulieren!
Aber kaum hatten wir das tun wollen, teilte uns die ARD mit: „Die ehemalige Weltklassesprinterin Ines Geipel hat den Weltrekord in Zweifel gezogen“
Hatten die USA-Amerikanerinnen den Stab verloren oder waren sie gar in die falsche Richtung gelaufen? Nein, die Literaturprofessorin Geipel – ob man sie zu den „Weltklassesprinterinnen“ zählen kann, ist fraglich – sah eine Chance gegen die DDR ins Feld zu ziehen! Das ist ja schon vielen eingefallen, aber die Variante der Professorin war noch niemandem eingefallen. Hier ihr Zitat: „Ein hochgedopter DDR-Weltrekord, einfach ausgelöscht – es tut mir leid aber so eine Leistung ist ohne Chemie definitiv nicht möglich´, sagte die 52jährige.“ Wir holten Luft, gratulierten erst mal den Yankee-Mädchen, konstatierten einmal mehr, dass der Hass gegen die DDR grenzenlos ist und hielten es für überlegenswert, ob wir bei den US-Amerikanerinnen vielleicht noch entschuldigen sollten. Als Deutsche, für eine Deutsche, die dem Quartett unterstellte, gedopt in das Rennen gegangen zu sein – was sie damit beweisen wollte, dass sie einen DDR-Weltrekord ausgelöscht hatten!
Klaus war damals in Canberra dabei gewesen, auch als das australische Anti-Doping-Labor mitteilte, die Dopingkorntrollen seien negativ verlaufen!
Verlassen wir also den Lügensumpf und kehren ins olympische London zurück. Neben all den glanzvollen Leistungen dieses Abends war da noch eine „Affäre“, für die London und die britischen Olympia-Gastgeber Lorbeer verdienen. Die deutsche Hammerwerferin Betty Heidler hatte im fünften Durchgang 77,13 m geworfen, aber die
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elektronische Messanlage gab in dieser Sekunde ihren Geist auf und als man sie wieder in Gang gesetzt hatte, war der Messwert spurlos verschwunden. Dafür erschienen auf der Anzeigetafel 72,34 m und Betty lag damit auf einem hinteren medaillenlosen Rang. Die Regeln schreiben vor, dass dem Athleten bei einem Messfehler ein zusätzlicher Versuch gestattet wird. Das geschah dann auch, aber Betty erreichte nicht annähernd noch einmal ihre medaillenverheißende Weite. Noch einmal: Die Kampfrichter hatten die Regeln erfüllt und hätten nach Hause gehen können. Sie taten es nicht, obwohl ihnen der elektronische Defekt nicht anzukreiden war. Sie holten ein uraltes Bandmaß aus einem Keller, suchten die Einschlagstelle, fanden sie und vermaßen 77,13 m, was Betty die Bronzemedaille bescherte. Also: Hut ab vor dem Kampfgericht! Hut ab vor London!
Sonnabend, den 11. August 2012
In aller Frühe hatten wir uns hingesetzt und uns durch die schon erwähnte Mannschaftsbroschüre durchgeblättert und uns an einer Statistik versucht. Kern der Kritik war im Grunde: Zu wenig Geld! Zunächst also zu der Frage: Wer zahlt? Dass man uns nicht verraten wird, wie viel, lag auf der Hand. Warum die Gesamtzahl der Athleten nicht mit den offiziell angegebenen übereinstimmen, soll an einem Beispiel zu erklären versucht werden: Die für den Verein in Kroppach agierende Tischtennisspielerin Kristin Silbereisen wird mit zwei Berufen geführt: Sportsoldatin und Profi. Sportsoldaten sind 97mal aufgeführt, ohne dass irgendwo erklärt wird, was diese Berufsbezeichnung exakt bedeutet. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es bekanntlich keine Wehrpflicht mehr, also dürften sich die Damen und Herren freiwillig zur Bundeswehr gemeldet haben. Da nicht nur bei Kristin Silbereisen auch ein Beruf angegeben wurde, weiß niemand, sind die Betreffenden Soldat(in)en oder studieren sie Pädagogik? Und wenn sie Soldat sein sollten, erfährt man auch nicht, wodurch sich ein Sportsoldat von einem gewöhnlichen Soldaten unterscheidet. Und noch konfuser wird die Situation, wenn – wie bei Kristin – die Bundeswehr faktisch als Profimanager agiert. Einzige Erklärung: Die Bundeswehr zahlt. Und wenn: Aus welchem Fond? Und die Profis. Bei den Volleyballspielern sind allein sechs Aktive als Profis aufgeführt, die also von ihren Klubs bezahlt werden. Welche Rolle spielt bei denen der Deutsche Olympische Sportbund. Fest steht, dass die Armee allerlei Sold an Sportler zahlt. Genau waren es in der Londoner Männermannschaft 42 Prozent und in der Frauenmannschaft 40 Prozent. Wir verzichten auf mögliche Kommentare und Klaus erinnert sich an eine Pressekonferenz vor Jahr und Tag in Garmisch-Partenkirchen, auf der Willi Daume die DDR vor aller Welt anklagte, den Sport zu „militarisieren“, weil Armeesportklubs gegründet worden waren.
Wenn an der derzeitigen Situation im bundesdeutschen Sport Kritik geübt wird, schien uns der Silbermedaillengewinner von 1984 im Zehnkampf, Jürgen Hingsen, der Wahrheit am nächsten, der „völlig neue Strukturen“ in der Talentsicherung und Nach-wuchsförderung empfahl: „Es geht letztlich darum: Wollen wir als eine Weltnation auch im Sport dabei sein oder wollen wir den Anschluss verpassen? Das ganze Thema steht und fällt mit dem Schulsport, mit der Talentsichtung und mit der Zuführung von diesen Talenten in die Vereine.“
Klaus kam in den Sinn, dass die Schwimmhalle vor dem Hochhaus, in dem er in Berlin wohnt, seit Frühjahr nicht mehr wie seit Jahr und Tag von früh bis zum späten Nachmittag für den Schwimmunterricht genutzt werden kann, weil das Geld für die Dachreparatur fehlt und nun soll Geld beschafft werden. Aber bis das Dach fertig ist, fällt der Schwimmunterricht aus – und das es schon lange „marode“ war, wussten
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Aber solche Gedanken schwirrten schnell davon in den olympischen Himmel, als wir die letzten Berichte aus London in die Finger bekamen. Wir hatten schon erwähnt, dass ein Journalist gegen die Bundesregierung geklagt hatte und die daraufhin die „Medaillen-Zielvorgaben“ preisgeben musste.
Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus, als „Kommissar“ Klaus bei der Spurensuche auf die Ausgabe der Illustrierten „Stern“ vom 24. Juli 2012 stieß und dort las: „Im Vierjahresplan des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) steht schon fest, wie Deutschland bei den Olympischen Spielen in London abschneidet. So müssen allein die deutschen Leichtathleten in London acht Medaillen holen, zwei davon in Gold. Das wurde 2008 beschlossen, das sollen die Athleten ausführen. Bei Nichterfüllung des Planes drohen Geldentzug und Trainerentlassungen. Die deutsche Spitzensport-förderung arbeitet wie eine Planwirtschaft an der Produktion von Medaillen im Vierjahrestakt. Sie sollen das Ansehen Deutschlands steigern.“
Und als der Innenminister nun durch das Gericht gezwungen worden war, die „Pläne“ für das „Ansehen“ offenzulegen, schrieb der „Stern“ (10.8.2012): „Das deutsche Team hat sein Medaillenziel bei den Olympischen Spielen in London deutlich verfehlt. Dies geht aus den am Freitag vom Bundesinnenministerium erstmals veröffentlichten Zielvereinbarungen zwischen dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und den Fachverbänden hervor. Demnach waren in London insgesamt 86 Medaillen, davon 28 aus Gold, angestrebt worden. Nach 241 der 302 Entscheidungen hatte das 391-köpfige Team aber lediglich 38 Mal Edelmetall (10 Gold, 17 Silber, 11 Bronze) gewonnen. (…)
Das für Sport zuständige Innenministerium fördert den Spitzensport hierzulande derzeit mit knapp 133 Millionen Euro pro Jahr - Geld für Olympiastützpunkte, Forschungseinrichtungen und Verbände. Als Gegenleistung erwartet es möglichst viele Medaillen. Sie sollen das Ansehen Deutschlands steigern. Bei Nichterfüllung des Planes drohen Geldentzug und Trainerentlassungen. Recherchen der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", ausgewertet gemeinsam mit stern.de, offenbarten die Dimension des fragwürdigen Systems.
Laut den Unterlagen wurde von den 23 in London vertretenen Sportarten lediglich beim Tischtennis und im Kanu das vereinbarte Ziel erreicht. Die Schmetterkünstler hatten Bronze durch Dimitrij Ovtcharov und Bronze im Team gewonnen. Die Kanu-Flotte hatte die Vorgabe von insgesamt neun Medaillen schon vor dem letzten Finaltag am Samstag erfüllt. Die mit bisher fünf Plaketten dekorierten Leichtathleten hatten in den ausstehenden Wettbewerben noch die Chance, die angestrebte Marke von acht Medaillen, davon zwei aus Gold, zu erreichen. (…)
Ein Berliner Gericht hatte von Friedrich gefordert, die Informationen bis Freitag 15 Uhr zu publizieren. Ansonsten hätte sein Ministerium 10.000 Euro zahlen müssen. Es hatte dagegen Beschwerde eingelegt, aber unmittelbar vor Ablauf der Frist die Übersicht herausgerückt. Auf der Liste werden alphabetisch die Sportarten genannt und welche Medaillen erwartet werden.
`Nach dem Ausgang der Olympischen Spiele (in London - Anmerkung der Red.) werden wir gemeinsam mit dem Sport nach einer sorgfältigen sportfachlichen Analyse die notwendigen Schlüsse für die zukünftige Sportförderung ziehen´, kündigte Friedrich an. (…) Im Vierjahresplan des DOSB, der an sozialistische Planwirtschaft erinnert, wurde festgelegt, wie Deutschland bei den Olympischen Spielen in London abschneiden sollte. DOSB-Funktionäre und Beamte versuchten zu verhindern, dass Details aufgeklärt werden. Sie hielten Zahlen und Daten unter Verschluss, verweigerten Auskünfte selbst vor Gericht.“
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Und noch mal weit zurück in die Vergangenheit: War nicht bei uns alles geheimgehalten worden? Hatte nicht allein die „Stasi“ die „Akten“ gekannt? Darf man fragen, wie die Geheimhaltung heute geregelt wird? Was, wenn jener Journalist nicht den Prozess angestrengt hätte oder jemand ihm rechtzeitig „geraten“ hätte, darauf zu verzichten?
Der „Stern“ jedenfalls fand heraus: „Kaum ein Verband traut sich, öffentlich zu protestieren. "Ich höre immer wieder von Verbandsvertretern, Verhandlungen über die Zielvereinbarungen seien die pure Erpressung. Aber es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Öffentlich äußert fast niemand Kritik", sagte Martin Gerster, sportpolitischer Sprecher der SPD und Präsident des nicht-olympischen Sportakrobatik-Verbandes. "Die Zielvereinbarungen sind ein Machtinstrument des DOSB."
Antwort des Staatssekretärs für Körperkultur und Sport der DDR, des schwerkranken Günther Erbach: „So etwas hatten wir nie! Da haben sie uns überholt“
Auch an diesem Abend jagten sich die Höhepunkte. Der in Somalia geborene „Mo“ Fahra gewann zu den 5.000 m auch noch die 10.000 m und auch das unangefochten. Erwähnenswert noch, dass er alles gewonnene Geld in eine Stiftung zahlte, die sich um die Kinder in seiner Heimat kümmert.
Der Sprintstar Bolt holte in der Staffel seine dritte Goldmedaille – mit Weltrekord natürlich, im Speerwerfen gewann mit Keshorn Walcott ein krasser Außenseiter und holte die zweite Goldmedaille für seine Heimat Trinidad und Tobago – die erste stammte aus dem Jahr 1976! Fußball meldete einen neuen olympischen Zuschauerrekord: 1,5 Millionen Fans und obendrein eine faustdicke Überraschung, denn Mexiko, das schon nach 28 Sekunden das Führungstor gegen den Favoriten Brasilien erzielt hatte, gewann am Ende 2:1.
Sonntag, den 12. August 2012
Wieder drängten sie sich im Hydepark und feierten die Marathonläufer. Es gab noch eine faustdicke Überraschung: Der Favorit hieß Kiprotich und dann war da auch noch ein zweiter Läufer dieses Namens, nur hieß der Favorit Wilson Kiprovitch mit Vornamen und der Sieger Stephen. Und der Favorit stammt aus Kenia und der Sieger aus Uganda und dieses Land hatte bis dahin noch keine Medaille gewonnen und beendete die Spiele also mit Gold. Zwischen den beiden holte sich Abel Kirui aus Kenia Silber.
Noch eine Anmerkung: Wenn jemand monieren sollte, dass wir nicht alle deutschen Medaillengewinner gebührend gefeiert haben, hat er im Prinzip Recht, nur fehlte uns dazu der Platz. In den vielen dicken Büchern, die nach den Spielen erscheinen, finden sie garantiert alle!
Bliebe noch das Finale. Ach da gilt: In der Kürze liegt die Würze. Die Briten hatten sich zu einem spektakulären Musikfinale entschlossen und das war eine brillante Idee. Das Zeremoniell ist seit Jahrzehnten das gleiche und muss auch nicht noch einmal beschrieben werden: Flagge einholen, Feuer löschen und viel Beifall für die Gastgeber!
Wir waren nicht in London, können aber beeiden, dass die Briten es verdient hatten, zum dritten Mal olympischer Gastgeber zu sein und wenn noch irgendwo eine Goldmedaille zur Hand sein sollte, hat sie Sebastian Coe verdient, der alles arrangierte und bewies, dass er nicht nur ein großer Mittelstreckenläufer war, sondern auch ein nobelpreisverdächtiger Organisator. Dieser Gedanke brachte uns auf die Idee, ihn für den nächsten Friedensnobelpreis vorzuschlagen, denn Olympia hat bei allen Kriegen rundum, an den Frieden erinnert und zwar nachdrücklich!
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MEDAILLENWERTUNG
Platz Land Gold Silber Bronze Gesamt1 Vereinigte Staaten 46 29 29 1042 China 38 27 22 873 Großbritannien 29 1719 654 Russland 24 25 33 825 Südkorea 13 8 7 286 Deutschland 11 19 14 447 Frankreich 11 11 12 348 Italien 8 9 11 289 Ungarn 8 4 5 1710 Australien 7 16 12 3511 Japan 7 14 17 3812 Kasachstan 7 1 5 1313 Niederlande 6 6 8 2014 Ukraine 6 5 9 2015 Kuba 5 3 6 1416 Neuseeland 5 3 5 1317 Iran 4 5 3 1218 Jamaika 4 4 4 1219 Tschechien 4 3 3 1020 Nordkorea 4 — 2 621 Spanien 3 10 4 1722 Brasilien 3 5 91723 Weißrussland 3 5 5 1324 Südafrika 3 2 1 625 Äthiopien 3 1 3 726 Kroatien 3 1 2 627 Rumänien 2 5 2 928 Kenia 2 4 5 1129 Dänemark 2 4 3 930 Aserbaidschan 2 2 6 10Polen 2 2 6 1032 Türkei 2 2 1 533 Schweiz 2 2 — 434Litauen 21 2 535Norwegen 2 1 1 436Kanada 1 5 12 1837Schweden 1 4 3 838Kolumbien 1 3 4 839Georgien 1 3 3 7Mexiko 1 3 3 7
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41Irland 1 1 3 542Argentinien 1 1 2 4Slowenien 1 1 2 4Serbien 1 1 2 446Tunesien 1 1 1 347Dominikanische Republik 1 1 — 248Trinidad und Tobago 1 — 3 4Usbekistan 1 — 3 450Lettland 1 — 1 251Algerien 1 — — 1Bahamas 1 — — 1Grenada 1 — — 1Uganda 1 — — 1Venezuela 1 — — 152Indien — 2 4 657Mongolei — 2 3 558Thailand — 2 1 359Ägypten — 2 — 260Slowakei — 1 3 461Armenien — 1 2 3Belgien — 1 2 3Finnland — 1 2 364Bulgarien — 1 1 2Taiwan— 1 1 2Estland — 1 1 2Indonesien — 1 1 2Malaysia — 1 1 2Puerto Rico — 1 1 270Botswana — 1 — 1Gabun — 1 — 1Guatemala — 1 — 1Montenegro — 1 — 1Portugal — 1 — 1Zypern — 1 — 176Griechenland — — 2 2Katar — — 2 2Moldawien — — 2 2Singapur — — 2 280Afghanistan — — 1 1Bahrain — — 1 1Hongkong — — 1 1Kuwait — — 1 1Marokko — — 1 1Saudi-Arabien — — 1 1Tadschikistan — — 1 1
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ZUM DRITTEN MAL LONDON
London, das vom 27. Juli bis 12. August Gastgeber der Spiele war, schrieb in den fast 120 Jahren olympischer Geschichte zwei gravierende Kapitel und hat nun ein brillantes hinzugefügt!
1908 gab London sein Debut mit einer Veranstaltung, die was ihre Dauer betraf, einmalig blieb. Die 187 Tage (27. April bis 31. Oktober) wurden nie mehr übertroffen, allerdings lassen die Zahlen nicht auf Anhieb erkennen, dass man an der Themse damals faktisch Sommer- und Winterspiele austrug. Im Oktober 1908 waren zum ersten Mal auch Eiskunstlaufwettbewerbe mit Medaillen geehrt worden.
Weit gravierender als die Dauer der Spiele aber war die Tatsache, dass London in letzter Minute als „Ersatz“-Veranstalter eingesprungen war und damit faktisch die Fortsetzung der Spiele im Vierjahre-Rythmus sicherte.
BERLIN ODER ROM?
Die Vorgeschichte ist lang, illustriert aber die damalige olympische Situation. Nach dem gelungenen Auftakt in Athen waren die Spiele 1900 in Paris und 1904 in St. Louis fast zu Jahrmarktsfesten verkommen. Ursprünglich waren die Spiele 1908 nach Berlin vergeben worden, nachdem deutsche IOC-Mitglieder 1901 den Antrag gestellt hatten, sie dort auszutragen. Als 1903 überraschend Rom sein olympisches Interesse bekundete, machte IOC-Präsident Coubertin kein Hehl daraus, dass ihm die ehemalige Metropole des antiken römischen Reichs als olympische Kulisse reizvoller erschien als Berlin und tat das Nötige, um den Wechsel zu befördern. Dann aber zeigten die Römer unerklärlicherweise zunehmend weniger Interesse und im Januar 1906 löste sich das so spektakulär gebildete Organisationskomitee kommentarlos wieder auf. Nach dem verheerenden Ausbruch des Vesuv am 7. April 1906 hatte man auch ein triftiges Argument, auf die Bewerbung über Nacht zu verzichten. Italien brauchte jede Lire für den Wiederaufbau Neapels.
Also stand Coubertin plötzlich ohne Austragungsort für 1908 da, was durchaus das Ende der Olympischen Spiele hätte bedeuten können. Allerdings hatten sich inzwischen die Griechen wieder gemeldet und darauf bestanden, für alle Zeiten die „Heimat“ Olympias zu bleiben! Sie opponierten gegen Coubertins Plan, das Fest jeweils an eine andere Stadt zu vergeben und schlugen vor, den Abstand zwischen den Spielen auf zwei Jahre zu reduzieren und wollten zwischen den an andere Städte vergebenen Spielen alle vier Jahre in Athen Gastgeber sein.
DIE ROLLE FERENC KEMÈNYS
1906 fanden in Athen die einzigen „Zwischenspiele“ der olympischen Geschichte statt. Coubertin blieb ihnen demonstrativ fern. Auch ohne ihn arrangierten die Griechen erfolgreiche Spiele. Rund 900 Aktive kämpften in 15 Disziplinen um die Medaillen. Zum ersten Mal zogen die Aktiven bei einer Eröffnungszeremonie hinter ihren Landesfahnen ins Stadion. Bei den Siegerehrungen wurden die Nationalhymnen gespielt, und zum ersten Mal wurden die Athleten gemeinsam untergebracht, womit die Idee des Olympischen Dorfes geboren wurde.
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Coubertins Missbehagen über das Athener Fest war nicht unbegründet. Seine Abwesenheit hatten Rivalen nutzen wollen, um das so mühsam von ihm auf die Beine gebrachte IOC zu „reformieren“: Deutsche IOC-Mitglieder hatten mit den Schweden vereinbart, das Athener Organisationskomitee als neues IOC zu inthronisieren. Wes Geistes Kind die „Reformer“ waren, verriet allein die Tatsache, dass man das langjährige ungarische IOC-Mitglied Ferenc Kemény nicht in das neue IOC aufnehmen wollte - weil er Jude war.
Das zu erwähnen ist von Belang, denn der ungarische Pädagoge und Humanist hatte als erstes IOC-Mitglied, Kontakte zur damals gerade entstehenden Friedensbewegung geknüpft. Kemèny und seine Familie wurden während des Zweiten Weltkriegs Opfer der faschistischen Judenpogrome in Ungarn.
Zurück nach Athen ins Jahr 1906 und zu Coubertins Sorgen, wer Gastgeber der nächsten Spiele werden könnte. In Athen hatten sich die Briten kaum an den „Reform-vorschlägen“ beteiligt, aber bald erkannt, dass kaum eine Stadt bereit war, in der verbleibenden Frist von knapp zwei Jahren die Spiele zu übernehmen. Nach der Heimkehr der Offiziellen aus Athen führte man lange streng geheimgehaltene Verhandlungen in London und überraschte die Welt am 24. November 1906 mit der Mitteilung, die Spiele übernehmen zu wollen. Mit Lord Desborough war bereits einer der erfahrensten Organisatoren von Großveranstaltungen zum Präsidenten des Organisationskomitees gewählt worden und der entschied, dass neben den eigentlichen „Sommerspielen“ noch drei weitere Veranstaltungsphasen stattfinden sollten. Die „Frühjahrsspiele“ (Ende April bis Mitte Juni) umfassten vier Ballsportarten. Von Ende Juli bis Ende August folgten die „nautischen Spiele“ mit den Wassersportarten. Den Abschluss bildeten in der zweiten Oktoberhälfte die „Winterspiele“ mit Sportarten, die in Großbritannien traditionell hauptsächlich in der kühleren Jahreshälfte betrieben werden (Boxen und verschiedene Ballsportarten). Da eine Halle zur Verfügung stand, in der künstlich Eis erzeugt werden konnte, war es auch erstmals möglich, Wettkämpfe im Eiskunstlauf auszutragen. Coubertin machte aus seiner Begeisterung über dieses Angebot kein Hehl.
REDE COUBERTINS
Die Spiele wurden zum Höhepunkt der olympischen Geschichte. Am 31. Oktober 1908 fand im Londoner Restaurant Holborn ein Festbankett statt. Coubertin war nicht anwesend, weil er nach der Nachricht, dass seine Eltern kurz nacheinander gestorben seien, nach Hause gereist war. Sein Urteil – auch was die Zukunft der Spiele betraf – aber hatte er schon am 24. Juli bei einem Bankett der britischen Regierung geäußert: „Wir sind tief beeindruckt von dieser IV. Olympiade, die uns dank des Fleißes und der gewaltigen Anstrengungen der englischen Kollegen als Meilenstein auf dem Weg der technischen Perfektion in Erinnerung bleiben wird.
Die Fortschritte des Komitees, in dessen Namen ich die Ehre habe zu sprechen, sind bislang bemerkenswert und rasch erzielt worden. Aber wenn ich an die Anfeindungen denke, denen wir ausgesetzt waren, an die vielen Hinterhalte, an die vielen Hindernisse, die wir überwinden mussten, an unglaubliche Intrigen und Eifersucht, die uns in den vergangenen 14 Jahren begleitet haben, glaube ich manchmal, dass dieser Kampf eine
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Sportart ist, die uns von unseren Gegnern nach dem Prinzip auferlegt wird: `Ringen um jeden Preis´.
Letzten Sonntag, als in Saint-John eine Zeremonie zu Ehren der Athleten stattfand, hat der Bischof von Pensylvanien in begeisternden Worten wiederholt: bei den olympischen Spielen ist nicht der Sieg entscheidend, sondern die Teilnahme. Merken wir uns, meine Herren, diese starken Worte wohl.
Das Wichtige im Leben ist nicht der Sieg, sondern der Kampf. Das Entscheidende ist nicht jemanden besiegt zu haben, sondern sich gut geschlagen zu haben. Der Internationalismus, so wie wir ihn verstehen, besteht aus der Verehrung der Heimatländer und dem edlen Wettkampf der Sportler, deren Herzen höher schlagen, wenn als Lohn ihrer Arbeit die Landesfarben an den Masten hochgezogen werden. Auf Ihre Länder, meine Herren, auf den Ruhm Ihrer Fürsten, auf die Größe ihrer Regentschaft, auf den Wohlstand ihrer Regierungen und Völker.“
DIE ERSTE ANTI-DOPING-REGEL
Am 24. Juli war der Marathonlauf ausgetragen worden. Wenige Schritte vor dem Ziel war der Italiener Pietri vor Schwäche zusammengebrochen, hatte sich aber wieder aufgerafft und war von übereifrigen Helfern über die Ziellinie geführt worden, was ihm die Disqualifikation eintrug. Für die Akribie, mit der die Engländer die Spiele vorbereitet hatten, sprach die Tatsache, dass sie allein für den Marathonlauf ein 11 Punkte umfassendes Reglement formuliert hatten. Die erste Regel lautete: „1. Der Marathonlauf von 42 Kilometern wird auf einem auf öffentlichen Straßen von der Amateur-Athletik-Assoziation markierten Kurs gelaufen und endet auf der Aschenbahn des Stadions, wo noch eine Runde zu laufen ist.“ Regel 4: „Kein Teilnehmer darf am Start oder im Verlauf des Rennens Drogen zu sich oder entgegennehmen. Die Verletzung dieser Regel führt zur unwiderruflicher Disqualifikation.“ Nicht auszuschließen, dass dies die erste internationale Antidopingregel war, die allerdings davon ausging, dass Kampfrichter beobachtet hätten, wie ein Läufer eine Dopingpille schluckte. Die Disqualifikation Dorandos – die Eintragung seines Namens in die Startliste war einer der wenigen Fehler, die den Veranstaltern unterlief, denn er hieß nicht Dorando Pietri sondern Pietri Dorando – hatte die Gemüter im Stadion ereifert, zumal einer der als „Helfer“ an der Disqualifikation „Mitschuldigen“ Sir Conan Doyle – der Erfinder von Sherlock Holmes – war. Die britische Königin Alexandra zeichnete Dorando während der offiziellen Siegerehrung für den US-Amerikaner Hayes in der Königsloge mit einem goldenen Pokal aus und erntete dafür minutenlangen Beifall.
DIE STIEFEL DER TAUZIEHER
Bei aller Mühe, die sich die Briten gegeben hatten, faire Spiele zu organisieren - bei vorangegangenen hatten sich die Gastgeber oft unlautere Vorteile verschafft – kam es auch in London zu Konflikte auslösenden Kontroversen. Hoch schlugen die Wogen des Regelstreits zwischen den Briten und den Amerikanern in der Leichtathletik. Nach dem 400-m-Lauf drohten die Amerikaner sogar mit der Abreise. „In der Leichtathletik", schrieb Coubertin hinterher, „erreichte das anglo-amerikanische Duell seinen Höhepunkt. Man trug es von beiden Seiten mit solcher Erbitterung und Wut aus, dass man hätte meinen können, alle historischen Erinnerungen seien wieder erwacht und die nationale Ehre stünde auf dem Spiel.“
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Wie hektisch die Atmosphäre war, verrät auch ein Protest, der von amerikanischer Seite gegen die siegreiche britische Mannschaft im Tauziehen eingereicht worden war. Angeblich hätten die Londoner Polizisten - die Mannschaft der City Police gewann die Goldmedaille - Spezialschuhe getragen. In einem offiziellen englischen Bericht dazu heißt es: „Die Amerikaner waren prächtige Athleten, aber sie hatten nicht die geringste Ahnung davon, wie man eine Schlaufe richtig verankert. Sie waren beim besten Willen für diese Disziplin nicht zu gebrauchen und waren natürlich sehr überrascht, wie wenig ihre Kraft gegen die Geschicklichkeit auszurichten vermochte. Die englischen Polizisten trugen normale Schuhe. Als sie von dem Protest hörten, erklärten sie sich bereit, in Socken anzutreten."
Festzustellen ist dennoch vor allem: Mit London waren die Olympischen Spiele auf feste Gleise gerollt. Stockholm setzte das 1912 fort, Olympia war endgültig auf der Siegerstraße!
LONDON 1948: WIEDER RETTER IN DER NOT
1936 nutzte Hitler die Spiele, um der Welt seine Kriegspläne zu verschleiern und der Zweite Weltkrieg brachte den Rhythmus der Spiele ins Schlingern. Erst musste Helsinki die Spiele 1940 absagen, dann überfiel Japan China und die inzwischen nach Tokio vergebenen Spiele wurden abgesagt. Im Juni 1939 stimmte das IOC dessen ungeachtet über die Spiele 1944 ab und vergab sie nach London. Als der Zweite Weltkrieg vorüber war, übernahm London ohne Abstimmung die Spiele 1948. Ein gewagtes Vorhaben, denn inzwischen tobte der „Kalte Krieg" und gefährdete auch Feste wie die Olympischen Spiele. Auch in London wehte der eiskalte Wind des Antikommunismus, aber es fanden sich dennoch genügend Anhänger der olympischen Idee, die sich davon nicht beeindrucken ließen. An eine Teilnahme der Sowjetunion war allerdings noch nicht zu denken, schon weil das IOC Hemmungen demonstrierte, und die zu einer anderen Gesellschaftsordnung tangierenden Länder Osteuropas wurden mit Zurückhaltung empfangen, was Athleten wie Emil Zatopek zu spüren bekamen.
Ein neues Stadion stand nicht zur Verfügung. So musste man auf den guten alten Wembleyground zurückgreifen, konnte aber nicht einmal nötige Umbauten vornehmen, weil das Stadion inzwischen einem Windhundrennen-Unternehmen gehörte, dass sich nicht sehr kooperativ zeigte. Für die Boxer und Ringer fand man einen originellen Ausweg: Nach den Wettkämpfen der Schwimmer wurde im Wembley-Bad ein „Ponton" verankert, auf dem man den Ring und die Matte verankerte.
Vor allem aber wusste man nicht, wie man die Athleten entsprechend versorgen könnte. Die Schweden trugen sich mit der Absicht, ihre Mannschaft in Göteborg zu stationieren und die beteiligten Athleten täglich nach London zu fliegen. Doch dann wurde eine große europäische Aktion gestartet. Allein Dänemark lieferte 160.000 Eier. Die amerikanische Schwimmerin Brenda Heiser erinnerte sich: „Wir erwarteten ein England wie im Märchenbuch und Engländer wie die in England geborenen Hollywood-Filmstars. Aber England war düster, schäbig und verunstaltet, genauso wie die Nerven der Menschen. Unser Olympisches Komitee hatte als eine Geste des guten Willens beschlossen, ihr Los zu teilen. Wir sollten die gleichen Rationen wie die Engländer essen." Immerhin hatte das britische Ernährungsministerium entschieden, die Athleten
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entsprechend der geltenden Lebensmittelkarten für Schwerarbeiter zu versorgen. Die Amerikanerin klagte, dass ihre Mannschaft die einzige war, die sich daran hielt. „Unsere erbärmliche Verpflegung war kein Geheimnis. Die Argentinier aßen fette Steaks und bei uns waren Steaks, die wie Schuhabsätze sahen, für die reserviert, die ein Finale bestritten."
NUR SCHNEEWEISSE TAUBEN
Der 29. Juli war der Tag der Eröffnung. Der Hürdenolympiasieger von 1928, Lord Burghley, hielt die Eröffnungsrede: „Eine Traumvision ist heute schöne Wirklichkeit geworden. Als der Krieg, der die ganze Welt erfasst hatte, 1945 zu Ende ging, waren so viele Organisationen und Institutionen verschwunden, nur die stärksten haben überlebt. Wie, so haben sich viele gefragt, wie hat sich die große olympische Bewegung gehalten? Hier und heute in dieser großen Arena sind 4000 Athleten versammelt, die Blüte der Jugend der Welt, aus 59 Nationen. Sie sind dem Ruf gefolgt, und sie geben die Antwort auf diese Frage. Sie sind der Beweis für die Stärke der olympischen Bewegung.“
5000 Tauben - man hatte nur ganz weiße ausgesucht - stiegen in den Himmel dieses großen Nachmittags. Die ersten Spiele der Nachkriegszeit hatten begonnen, und die Welt hoffte, dass die Kette der Olympischen Spiele nicht mehr durch Mord und Terror unterbrochen würde!
DIE NIEDERLÄNDISCHE „KÖNIGIN“
Die Niederländerin Fanny Blankers-Koen war bei den Leichtathletinnen favorisiert, übertraf aber alle Erwartungen. Die 30-jährige Mutter zweier Kinder holte vier Goldmedaillen und den „Titel“ „fliegende Hausfrau". Ihr Londoner „Programm“:
Sonnabend: 100 m -12,0 s
Montagmittag: 100 m -12,0 s
Montagnachmittag: 100 m - 11,9 s, Olympiasieg
Dienstag: 80 m H - 11,3 s
Mittwochmittag: 80 m H - 11,4 s
Mittwochnachmittag: 80 m H - 11,2 s, Olympiasieg
Donnerstag: 200 m - 25,7 s
Freitagmittag: 200 m - 24,3 s
Freitagnachmittag: 200 m - 24,4 s, Olympiasieg
Sonnabend: 4x100 m - 47,6 s
Sonntag: 4x100 m - 47,5 s, Olympiasieg
Elfmal ging sie an den Start, und elfmal kehrte sie als Siegerin zurück! Ihr größtes Rennen lief sie in der Staffel: Als sie den Stab als letzte Läuferin der Niederlande übernahm, lagen die australische Schlussläuferin fünf Meter, die britische gut drei Meter und die kanadische zwei Meter vor ihr. Auf den letzten Metern ließ sie alle hinter sich. 1999 wählte die International Association of Athletics Federations (IAAF) Fanny zur Leichtathletin des Jahrhunderts. Später litt sie an Altersdemenz und verbrachte ihre letzten Lebensjahre in einem Pflegeheim in Hoofddorp, wo sie am 25. Januar 2004 im Alter von 85 Jahren verstarb.
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DAS GAILLY-DRAMA
Viele der Großen von einst fehlten in London. Sie waren auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs begraben worden.
Der Marathonlauf bereicherte die Geschichte dieser Prüfung um ein weiteres dramatisches Kapitel. Manches glich dem tragischen Finale, das vier Jahrzehnte zuvor Hunderttausende erregt hatte: Der erste, der auf die Aschenbahn kam, taumelte mehr, als er lief: Der Belgier Etienne Gailly. Bleich und seiner Sinne kaum mehr Herr, quälte er sich zum Ziel. Der Rest von Willen aber, der noch in ihm steckte, war nicht mehr stark genug, die Muskeln zu kontrollieren. Ein Läufer glitt an dem taumelnden Belgier vorüber und Sekunden darauf noch ein zweiter. Der Mann, der als erster die Aschenbahn betreten hatte, wurde nur Dritter, der Sieger Delfo Cabrera und kam aus Argentinien.
Doch der belgische Fastsieger wurde zwei Jahre später ein Opfer des nächsten Krieges! Die USA hatten, ihre Vormachtstellung in der UNO nutzend, eine „UNO-Streitmacht" für Korea beschließen lassen, die dort nur für US-amerikanische Interessen kämpfte. Gailly – Belgien gehörte schon zur NATO – geriet in diese Armee. Eines Nachts schleppten ihn Freunde schwerverletzt vom Schlachtfeld. Noch im Lazarett wusste er, dass er nie wieder auf einer Aschenbahn würde laufen können: Man hatte ihm einen Fuß amputieren müssen!
Auf dem Weg nach London hatte die olympische Flamme zum ersten Mal in der Geschichte am Grabmal eines Unbekannten eine Nacht verbracht. Das war in Brüssel gewesen, wo der Oberbürgermeister und der britische Botschafter im Schatten des Feuers derjenigen gedacht hatten, die weltweit in Soldatengräbern ruhten – und nicht ahnen konnten, dass ein Belgier schon bald nach Olympia ein Opfer eines weiteren Krieges werden sollte!
DER DRITTE ANLAUF
Als London sich zum dritten Mal um die Spiele bewarb war kein Mangel an Kandidaten. Bis zum Ablauf der Meldefrist am 15. Juli 2003 hatten sich neun Städte beworben: Havanna, Istanbul, Leipzig, London, Madrid, Moskau, New York, Paris und Rio de Janeiro. Nach der Überprüfung durch eine Evaluationskommission schieden Havanna, Istanbul, Leipzig und Rio de Janeiro aus. Im Verlauf der 117. IOC-Session in Singapur fand die Wahl am 6. Juli 2005 statt. Die erste Bewerbungsrede hielt Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac, für New York warb Hillary Clinton, danach wandte sich der russische Präsident Putin per Video in englischer Sprache an das IOC.
Der erste Wahlgang endete mit 22 Stimmen für London, 21 für Paris, 20 für Madrid. Im zweiten erreichte Madrid 32 Stimmen, London 27, Paris 25. Im dritten Wahlgang schied Madrid (31) hinter Paris (33) und London (39) aus. Im letzten erreichte London 54 Stimmen und Paris 50.
Eingeweihte schrieben das Ergebnis vor allem dem Umstand zu, dass London mit dem Mittelstrecken-Olympiasieger Sebastian Coe einen Mann zum Chef des Organisationskomitees berufen hatte, der eine kluge, weil sachliche Werbekampagne gesteuert hatte.
Seit der erfolgreichen Bewerbung plädierte er in vielen Ländern für wirksame Aktionen zugunsten der Jugend. Er stellte das Sport-, Erziehungs- und Gesundheitsprogramm „Internationale Inspiration“ vor, das inzwischen rund zwölf Millionen Kinder in 20 Nationen erreicht haben soll. In Bangladesch waren nach der
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Flutkatastrophe Zehntausende Kinder ertrunken, weil sie nicht schwimmen konnten. Mit Schwimmunterricht soll solchen Katastrophen nun begegnet werden.
AUCH GIFTMÖRDER AM START
Aber nicht alles in London trägt olympischen Glanz! Seit 1984 werden die Spiele bekanntlich hemmungslos vermarktet. Umso empörender war, dass die Olympiastadt den weltweit operierenden Chemieriesen Dow Chemical in den Kreis der Millionen-sponsoren aufnahm. Er hatte nicht nur die Katastrophe im indischen Bhopal – 20.000 Tote – mit zu verantworten, sondern auch den mörderischen Entlaubungskrieg gegen Vietnam.
Dow Chemical führte im Vorfeld der Spiele als „Begründung“ ins Feld, dass das Unternehmen die Firma Union Carbide erst Jahrzehnte nach dem Vietnamkrieg erworben habe. Sebastian Coe ignorierte das nicht, meinte aber: „Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass Dow Chemical zum Zeitpunkt des Unglücks in Bhopal und während der entscheidenden Auseinandersetzungen nicht verantwortlich war". In Indien ist man anderer Meinung. Einer der berühmtesten Hockeyspieler und auch olympischer Goldmedaillen-Gewinner, Aslam Sher Khan, wandte sich nun an Sonia Gandhi.
Es ist kaum damit zu rechnen, dass sich die Londoner Stadien ohne die Werbung des Chemieriesen präsentieren werden oder dass das Internationale Olympische Komitee dem Sponsor noch „kündigen“ wird, aber auch Olympia ist längst zum Faktor der Marktwirtschaft geworden, und Coubertin würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das noch erlebt hätte.
Vor allem aber erhöhte sich das Risiko, ungestörte Spiele zu erleben. Dass die Briten in letzter Stunde das Aufgebot der die olympischen Anlagen sichernden Kräfte verstärkte, signalisierte, wie ernst Scotland Yard seine Aufgabe nimmt. Dass sogar aus Afghanistan zurückgekehrte Soldaten eingesetzt werden – die dort Krieg führten und nun das Weltfriedensfest des Sports sichern helfen sollen – ist ein Aspekt, den die olympische Geschichte noch nicht erlebt hat.
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1964: HABEN UNSERE SPORTLER VERSAGT?
Auszüge des folgenden Artikels von Frank Rohde erschienen in der Stuttgarter „Sport-Illustrierten“ (24.8.1964) und werden zitiert weil sie überzeugend an die damalige Situation im deutsch-deutschen Sport erinnern, als noch niemand auf die Idee gekommen war, die Erfolge des DDR-Sports dem Doping und der „Stasi“ zuzuschreiben. Vor den Olympischen Spielen 1964 in Tokio hatte die DDR zum ersten Mal die Mehrheit in der sogenannten gesamtdeutschen Mannschaft gestellt. Sie stellte damit zum ersten Mal den Chef de Mission des Teams. Um den hatte es schon 1956 einen endlosen Streit gegeben. Der Vorschlag der DDR, sie stelle ihn bei Winterspielen und die BRD bei Sommerspielen war nach bundesdeutscher Intervention vom IOC abgelehnt worden. Man entschied: Den Chef de Mission stellt das Land, das die Mehrheit der Athleten stellt. Nach Cortina, Melbourne, Squaw Valley, Rom und Innsbruck erreichte die DDR in Tokio zum ersten Mal diese Mehrheit, was in der Bundesrepublik viel Vorwürfe gegen die eigene Sportführung auslöste. Vielleicht, weil auch die BRD-Mannschaft hinter dem Mitglied des ZK der SED, Manfred Ewald – Präsident des DDR-Sportbundes – ins Stadion marschierte. Die „Sport-Illustrierte“ hatte „Klartext“ gedruckt.
Der Herr Geschäftsführer sprach ins Mikrophon, die Stimme klang entschlossen: „Wir werden die Angelegenheit von einem unabhängigen Rechtsanwalt untersuchen lassen." Er sah gut aus, er paßte in die Landschaft - Sonne und See und eine steife Brise: Die Rede war von verleumderischer Beleidigung und übler Nachrede, die Drohung Schadenersatz marschierte im Geiste mit. Eine Schlagzeile hatte gelautet: „Geblieben ist ein handfester Kater."
Dr. Wolfgang Franke sprach für die Segler und für den westdeutschen Segler-Verband, und sein Zorn holt sich Nahrung aus der Zweideutigkeit der Schlagzeile und dem, was sich dahinter verbarg: Wodka und Krimsekt, Budweiser Bier und Burgunder, bezogen aus volkseigenen Beständen des Rostocker „Hotels am Bahnhof" und der Warnemünder „Atlantik-Bar". Allerdings - auch ohne augenzwinkernden Hinweis auf Räusche und Regatten lässt sich eins nicht verhehlen: Der Kater hat sich in den letzten Wochen, während der zahlreichen vorolympischen Planspiele zwischen Ost und West, ganz eindeutig zum Wappentier des westdeutschen Sports entwickelt.
Es war fast immer derselbe Vorgang, nach jeder neuen Ausscheidung, nach jedem neuen Reinfall. Man zählte die Häupter seiner Lieben, man addierte, man verglich, hie Ost, hie West, und immer bekam man eine Rechnung präsentiert, die einfach unglaubwürdig erschien: Seit 1956, als sich die erste gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft in Melbourne bei einer Gesamtstärke von 178 Athleten aus 141 westdeut-schen und nur 37 mitteldeutschen Sportlern rekrutierte, und seit 1960, als die 327 Olympiakämpfer für Rom nur noch in 194 Fällen aus Westdeutschland und schon in 133 Fällen aus der Sowjetzone stammten, hat sich das Verhältnis zugunsten der mitteldeutschen Athleten verschoben, bis hin zu einem deutlichen Plus von 96:66 auf halber Strecke der Ost-West-Ausscheidungen.
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Dazu der Ratzeburger Ruder-Professor Karl Adam: „Eine beschämende Tatsache", und er verwies in diesem Zusammenhang auf die 55 Millionen Einwohner in der Bun-desrepublik und auf die 17 Millionen in der Sowjetzone. Der Sommer 1964 sollte eigentlich ein olympischer Sommer wie jeder andere für die westdeutschen Sportler werden. Aber plötzlich waren in jenem Ost-West-Schauspiel, in dem sie sich - Macht der Gewohnheit - von vornherein die Hauptrollen reserviert hatten, für die meisten nur noch Statistenplätze frei, die nicht mehr zur Teilnahme an der Tournee nach Japan berech-tigten. Im Sommer 1964 war alle: anders, oder anders ausgedrückt: Diesmal waren die anderen besser: Der westdeutsche Sport hat - das ist getrost zu verallgemeinern - versagt, nicht nur so, sondern mit Pauken und Trompeten, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund: Er lieferte mit seinen Niederlagen der Sowjetzone begehrtes Material zu einer sicherlich fragwürdigen, aber nichtsdestoweniger eifrig verbreiteten These, die an westdeutschen Sportler-Stammtischen und in hiesigen Funktionärs-Kanzleien gar nicht geschätzt ist und die man dementsprechend auch nach der Art des feinen Mannes mit Verachtung straft.
Allen voran Willi Daume, oberster westdeutscher Sportfunktionär, Präsident des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olymischen Komitees. „Vielleicht erledigt sich ... Ihr Vorschlag von selbst, durch einen Wettbewerb um sportliche Höchstleistun-gen in den beiden Teilen Deutschlands festzustellen, wo das bessere politische System ist", hatte Daume „mit sportlichem Gruße" seinem Kollegen Rudi Reichert, dem Prä-sidenten des Deutschen Turn- und Sportbundes, Berlin 02 (Ost), Brüderstraße 5-6, unter dem 5. August 1958 geschrieben und gleichzeitig hinzugefügt: „Wie in totalitären Staaten Höchstleistungen gezüchtet werden, ist hinlänglich bekannt, auch wie Sie das zur Zeit machen. Es imponiert uns nicht."
Im Sommer 1964 imponierte es doch.
Westdeutschlands Segler-Präsident Dietrich Fischer zum Beispiel: „Die Segler der Zone haben durch intensives Training viel erreicht. Ihre Jollensegler sind wirklich erst-klassig." Der westdeutsche Sport hat sich mit einer neuen und zugleich für ihn unbequemen Situation abzufinden: Mit dem Plus in den gesamtdeutschen Ausscheidungen ist die Sowjetzone nach beinahe zwölfjährigem Querfeldeinrennen an ihrer sportlichen Endstation Sehnsucht angekommen. Sie wird mit ihren innerdeutschen Erfolgen hausieren gehen, sie wird die von ihr propagierte Überlegenheit des sowjet-zonalen kommunistischen Regime nicht mehr länger nur mit ideologischen Spruchweisheiten untermauern, sondern mit den Zahlen der Ost-West-Qualifikationen schwarz auf weiß dokumentieren zum erstenmal in Tokio, und die ganze Welt wird es erfahren. Soweit der Hintergrund zu den Niederlagen dieses Sommers. Wo aber liegt der Grund?
PERFEKTE VERSAGER
Es liest sich wie eine sportliche Bankrott-Erklärung: Die Fußballer enttäuschten, die Wasserballer spielten unter Niveau, und die Hockeyspieler, 1963 noch zur Mannschaft des Jahres hochgelobt, sorgten für eine Sensation, als auch sie es nicht schafften; die Boxer konnten sich gegenüber den Tagen vor Rom nicht steigern, ebensowenig wie die Schützen, die Turner verloren an Boden, den Seglern erging es noch schlimmer, so schlimm, daß am Ende ein Skandal stand, und die Turnerinnen schließlich versagten, wie man perfekter gar nicht versagen kann. (…)
Wir lasen bei anderen: „Der Deutsche Segler-Verband wird in Zukunft die Olympiakandidaten vorher fragen müssen, ob sie auch bereit sind, um eine Olympia-Fahrkarte zu kämpfen. Ob sie Trainingslager und Drill auf sich nehmen und selbst im
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Wettkampf sich mannschaftsdienlichen Anweisungen unterwerfen wollen. Wer hier ja sagt und Segeln als Kampfsport erwählt, wird dem fröhlichen Regattatreiben entsagen müssen" (Hamburger Morgenpost).
Warnemünde und Travemünde offenbarten die Sünden des Deutschen Segler-Verbandes:
1. Der Verband hat sich - seiner Einstellung gegenüber den Aktiven entsprechend - zuwenig um seine Spitzenathleten und deren Vorbereitung gekümmert. Im vergangenen Jahr waren zwar versuchsweise Lehrgänge unter der Leitung erfahrener Regattasegler eingeführt worden - man hatte von Talentförderung, von Konditionstraining und ähnlichen nützlichen Dingen geschwärmt, aber die Tendenz war lustlos gewesen: Ein interessierter Flying-Dutchmen-Segler reiste runde tausend Kilometer an die Ostsee, um schließlich feststellen zu müssen, daß der Lehrgang nicht mehr auf dem Programm stand. Dagegen die Zone: Seit den Tagen von Rom werden die besten Segler in Rostock und Ostberlin in den dortigen Klubs (Vorwärts und Empor Rostock und TSC Berlin) zusammengezogen und in regelmäßigen Lehrgängen ausgebildet. Der Westdeutsche Dr. Wolfgang Franke: „Der Aufwand an Zeit und Geld hat sich erfolgbringend für die Segler der Sowjetzone ausgezahlt."
2. Der Verband hat den Gegner nicht ernst genommen und ist so schlecht unterrichtet und mit mangelhafter Taktik in die Ausscheidungs-Regatten gegangen, sonst wäre er nicht so sehr von den Raffinessen östlicher Prägung überrumpelt worden.
Dagegen die Zone: Sie hatte vor den Ausscheidungen jedes Manöver tausendfach geprobt und auch das berühmt-berüchtigte Mannschaftssegeln konsequent bis zur Perfektion einstudiert. Der Westdeutsche Dr. Wolfgang Franke: „Die Fortschritte sind un-verkennbar und waren von uns in diesem Maße nicht erwartet worden."
DIE HOCKEY-SENSATION
Nur eines hörte man nicht, und gerade das hätte der Normalverbraucher des Sports zu gern gehört: was der Segler-Verband zu seinen eigenen Versäumnissen zu sagen hat. Für die Sensation sorgten die Hockeyspieler. Dies ist ihre Geschichte mit allen Kümmernissen. „Und wenn wir noch eine Stunde gespielt hätten - wir hätten kein Tor geschossen." Das Geständnis kam vom Halbrechten Schuler aus Nürnberg. Soeben war in Jena der Pfiff ertönt, der es genug sein ließ des grausamen Spiels: 140 Minuten Hockey in zwei Raten, aufgeteilt auf Westberlin und Jena. Aber es folgten zwei weitere Raten, noch einmal 140 Minuten, und am Ende stand die bittere Erkenntnis, dass zwei Jahre intensiver Arbeit umsonst waren, ohne Lohn. Die Niederlage fällt zurück auf einen Mann mit lichtem Scheitel, der im Herbst 1963 in Frankfurt vor dem wissenschaftlichen Ausschuss des Nationalen Olympischen Komitees glaubhaft darlegte, dass er sich als Trainer der westdeutschen Hockeymannschaft im Olympiajahr nicht empfehlen könne, und dann - wie aus böser Vorahnung - bekannte: „Ich habe Angst vor der Olympia-Qualifikation mit der Sowjetzone." Hugo Budinger wurde dennoch Bundestrainer. Wenige Monate später, Anfang 1964, kam der Mann erneut zu Wort: „Unsere Aktiven spielten, als wüssten sie nicht, um welch hohen Preis es in diesem Olympiajahr geht." Hugo Budinger meinte die wenig erfreulichen Leistungen beim 1:1 gegen Belgien in Köln und fand seine Vorahnungen bestätigt. Den nächsten Ausspruch tat der Mann am 7. Juni 1964, nach dem ersten Spiel und dem 4:2-Sieg seiner westdeutschen Schützlinge gegen die Zone in Berlin. „Etwas völlig Neues habe ich im Spiel der Mitteldeutschen, im Vergleich zu 1960, nicht gesehen." Hugo Budinger war auf dem Wege, seine Angst vor der Zone und seine Komplexe, die er seit 1960 und seit vier Aus-scheidungsspielen gegen die Zone in diesem Jahr hatte, zu überwinden.
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Acht Tage später, nach einer 0:1-Niederlage in Jena, hieß es lapidar bei ihm: „Ihr macht euch viel Arbeit." Hugo Budinger zweifelte wieder und stand vor der schweren Aufgabe, seinen Spielern für zwei weitere Kämpfe Ruhe und Kraft zu vermitteln.
Der letzte Satz des Mannes klingt nach Bankrott und ist auch nicht anders zu interpretieren, nachdem die westdeutsche Mannschaft, der hohe Favorit, ausgeschieden war: „Vielleicht spielte dieser Stamm zum letztenmal zusammen."
(…) Fehlt noch das Stichwort Fiasko.
Es spielte in Wolfsburg. Sieben gutgebaute junge Mädchen waren angetreten, um sich zu blamieren - so wie Irmgard Förster es befahl. Frau Irmgard Förster verkörpert die Frauenführung des westdeutschen Turner-Bundes und damit den Rückschritt.
Den Fortschritt demonstrierten an jenem Tag in Wolfsburg sieben andere gutgebaute junge Mädchen; sie waren die Vertreterinnen der DDR und Weltklasse. Wo sie Beifall kassierten, Bravo-Rufe und laute Bewunderung, da mussten sich die westdeutschen Turn-Twens mit Mitleid begnügen. Sie tun mir so leid, schien es im Echo von den Rängen zu tönen, und immer wieder: die armen, armen Mädchen. Währenddessen saß die versammelte Frauenführung wie hypnotisiert von den Leistungen der anderen und daher regungslos und sprachlos am Rande des Fiaskos und tat nichts, der Blamage ihrer Schützlinge ein Ende zu bereiten.
Wenig später reisten sie sogar nach Schwerin, zur Neuauflage des Fiaskos.
Frau Irmgard Förster und ihr Vorstand konnten ausgiebig studieren, was man in der Bundesrepublik von ihrem Treiben hielt:
„Für den Deutschen Turnerbund kann es jetzt nur entweder - oder geben. Endgültig zu verzichten oder wissenschaftlich und methodisch von der Jugend her intensiv neu aufzubauen. Nach dem ,alten Zopf' kann man wohl noch Turnfestspiele bestreiten, aber keine Olympia-Qualifikationen" (Berliner Morgenpost).
(…)
Unsere Bemerkungen zu drei Stichworten und drei Sportarten galten der Antwort auf die Frage: Wo liegt der Grund für das Versagen des westdeutschen Sports? So also sieht die Antwort aus:
1. Bei den Verbänden, die teilweise eine veraltete, teilweise eine lasche Einstellung zum modernen Leistungssport haben.
2. Bei den Verbänden, die sich nicht oder nur wenig um die Vorbereitungen ihrer Spitzenathleten kümmern.
3. Bei den verantwortlichen Trainern, die in vielen Fällen ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind.
4. Bei den Aktiven, die nicht bereit sind, sich den Erfordernissen ihres Sports und den Anordnungen des Verbandes oder des Trainers unterzuordnen und beharrlich auf Inividualismus pochen.
Da mag sich keine Sportart zu früh freuen; weiße Westen sind im olympischen Sommer selten. Dürfen es einige Sünden mehr sein? In Stichworten? Und in anderen Sportarten?
Boxen: Gerhard Dieter aus Berlin, einer der großen Favoriten nicht nur für das Ausscheidungs-Rangeln, sondern für Tokio selbst, scheiterte an einem Mann namens Winter, Heiko Winter, weil die Leute vom Zonen-Verband cleverer waren als die Kollegen aus dem Westen. Sie hatten alle westdeutschen Boxer lange vorher unter die Lupe genommen, per Film auf Herz und Nieren geröntgt und dann genau den Boxer als Gegner für den Favoriten Dieter ausgesucht, dessen Stil diesem am unbequemsten sein
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mußte. Weiter: Der westdeutsche Verband dagegen und seine Trainer waren ahnungslos, der Name Heiko Winter sagte ihnen nichts.
DER TRAINER SCHWIEG
Wasserball: Als die Sieben der Bundesrepublik durch ein 2:2 gegen die Zone in Wuppertal Olympia-Hoffnungen begraben mußte, saß Trainer Miklos Sarkany am Beckenrand und schwieg sich aus, weil er nichts zu sagen hatte: Ausgerechnet während der Ausscheidungen waren seine Schützlinge so schwach gewesen wie nie zuvor, regelrecht ausgebrannt, und ausgerechnet in den beiden Spielen gegen die Zone hatten sie völlig vergessen, einschließlich ihres Trainers, daß ein Wasserballspiel auch den Angriff kennt.
Fußball: Präsident Willi Daume selbst zog den westdeutschen Fußballbund zur Rechenschaft, nachdem dessen Vertretung gegen die Zone ausgeschieden war. Sein Vorwurf an die Adresse des Verbandes: man habe sich zu wenig um die Amateure und Olympia gekümmert und nur auf die Bundesliga und das Geschäft gestarrt .
Ringen: Auf der Einladung zu den Ost-West-Ausscheidungen in Zwickau und Hof lasen die Tokio-Kandidaten den frommen Wunsch: ….hoffe, dass Sie sich gut vor-bereitet haben." Absender war Bundestrainer Jean Földeak, der es eigentlich hätte wissen müssen: Hier endet ein Kapitel Schuld.
Klettern wir auf der Suche nach den Gründen der Niederlage eine Treppe höher, klopfen wir beim Deutschen Sportbund und beim Nationalen Olympischen Komitee an, jenen Körperschaften, von denen die erste verantwortlich ist für den gesamten Sport in der Bundesrepublik und damit auch für den Hochleistungssport und die andere ausschließlich für die Belange Olympias.
Von ihrem gemeinsamen Präsidenten Willi Daume stammt die Parole: „Lieber ein Volk von Sportlern als ein Volk von Weltmeistern." Sie stammt aus jüngster Zeit, aus dem Olympia-Sommer 1964. Dennoch: Willi Daume ist nicht zufrieden mit den Ergebnissen dieses Sommers; das offenbarte die Rüge für die Fußballer, das zeigte auch sein Einschalten in den Segelskandal.
Aber hat er selbst ein reines Gewissen, tut die westdeutsche Sportführung wirklich alles, um Erfolge auf dem Gebiet des Hochleistungssports zu garantieren. Es ist Kritik laut geworden in den letzten Wochen der Enttäuschungen, Kritik, die besagt, dass zuviel an Herrn Jedermann gedacht, dass seit 1961 zu häufig vom „Sport als Medizin für das sitzengebliebene Volk" gesprochen werde und dass sich der Leistungssport als Mauer-blümchen zu betrachten habe, ganz im Gegensatz zu anderen Ländern. (…)
Karl Adams Appell
„Bei uns in der Bundesrepublik wird der Sport nicht, als ein Mittel der Politik missbraucht", sagte Höcherl auf dem DSB-Bundestag. Das muss jedoch nicht heißen, dass dem Leistungssport in Westdeutschland der Gürtel so eng geschnallt wird, bis wir mit anderen Nationen nicht mehr mithalten können.
Auch in Frankreich, in der Schweiz und in den USA wird der Sport nicht politisch missbraucht, aber es hat sich schon lange die Erkenntnis durchgesetzt, dass Niederlagen im Sport sich sehr negativ auf das Prestige einer Nation auswirken können, vor allem politisch. Die Niederlagen der Westdeutschen bei den Ost-West-Ausscheidungen sind unter anderem unter diesem Gesichtspunkt zu sehen.
„Dem Zonenfunktionär", so erzählt Ruder-Erfolgs-Trainer Karl Adam, „habe ich gesagt: Mir tun Sie in der Eroberung der Majorität in der gemeinsamen Olympiamannschaft einen Gefallen; vielleicht werden dadurch einige Schlafmützen ge-weckt."
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BUNDESREGIERUNG
VERURTEILT
Im Sport sind Prozesse keineswegs selten, denn trotz der umfangreichen Regelwerke ist der Sport gegen Regelverletzer kaum gefeit. Jetzt fällte das höchste Gericht der Bundesrepublik sogar ein Urteil gegen die Regierung der Bundesrepublik, weil sie – verknappt formuliert – durch die Gauck-Behörde veranlasst worden war, einen Trainer zu bestrafen, was – so das höchste Gericht nun – rechtwidrig war. Verständlich, dass der Schuldspruch dies nicht auf Anhieb erkennen lässt, aber faktisch bleibt keine andere Deutung dieser Entscheidung.
Da sich das Verfahren sechs Jahre hinzog und in dieser Zeit zahlreiche Gerichte beschäftigte, wird jeder juristische Laie seine liebe Not haben, den Kern des Urteils noch treffend einzuordnen, zumal die Bundesregierung verständlicherweise darauf verzichtete, es umfassend in der Öffentlichkeit zu erörtern.
Das sogenannte Stasi-Unterlagen-Gesetz (offiziell: Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) war am 14. November 1991 vom Bundestag verabschiedet worden und wurde seitdem in einer Weise praktiziert, die Betroffenen wenig Möglichkeiten bot, sich juristisch zur Wehr zu setzen. Jegliche Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR wurde als strafbare Geheimdiensttätigkeit bewertet, die ins Feld geführten „Akten“, aber nie auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht.
Nun wurde ein Urteil gefällt, das im Grunde alle zuvor gefällten fragwürdig erscheinen lässt. Der durch das Urteil Freigesprochene heißt Ingo Steuer (*1966), wuchs in Karl-Marx-Stadt auf, wurde mit 18 Jahren Junioren-Weltmeister im Eiskunst-Paarlaufen, 1995 mit Mandy Wötzel Europameister, 1996 Vizeweltmeister und 1998 bei den Olympischen Spielen in Nagano Bronzemedaillengewinner. Nach dem Untergang der DDR wurde er Trainer. Das von ihm betreute Paar Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowsky wurde im Januar 2006 Vize-Europameister. Damit hatte es sich für die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Turin qualifiziert. Über Nacht entschied die höchste bundesdeutsche Sportinstanz, Steuer aus der Liste der Olympia-Teilnehmer zu streichen. Die beispiellose Entscheidung basierte auf dem „Beschluss“ einer vom DOSB berufenen Kommission, die allerdings in keinem Statut zu finden ist. Diese Kommission berief sich auf Akten, die ihr die bereits Kommission geliefert hatte und die angeblich „Stasi“-Tätigkeit Steuers nachwies. Der rief wegen der Entscheidung ein ordentliches Gericht an. Aufschlussreich ein Bericht des Berliner „Tagesspiegel“ (7.2.2006) über diese Gerichtsverhandlung: Richter „Wolfgang Krause versuchte es immer wieder. `Können wir denn nicht zu einer vernünftigen Lösung kommen?´ Krause leitet die Fünfte Zivilkammer des Landgerichts Berlin, er suchte einen Kompromiss, weil er ein Urteil im Fall des Eiskunstlauf-Trainers Ingo Steuer aus Chemnitz“ aus juristischen Gründen vermeiden wollte. „Doch die Anwälte des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) lehnten jedes Zugeständnis ab. Ingo Steuer, der frühere Stasi-IM `Torsten´, dürfe auf keinen Fall als Mitglied des deutschen Olympiateams nach Turin fliegen.“ Das Gericht war anderer Meinung: „Also entschied die Kammer: Ingo Steuer, Trainer des Paares Robin Szolkowy/Aljona Sawtschenko, darf offiziell in Turin seine Sportler betreuen. (…) für das Gericht war nicht nachvollziehbar, wie der Beschluss zustande gekommen ist,
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Steuer nicht zu nominieren. Entsprechende Unterlagen hatten die Richter nicht. Fast ein Dutzend Mal wies Krause, teilweise mit vorwurfsvollem Unterton, auf diesen Umstand hin. (…) `Ein rechtsstaatliches Verfahren des NOK ist nicht zu erkennen´, hieß es in seiner Urteilsbegründung. (…) Steuers Informationen an die Stasi, zumindest die bis Ende 1988, bewertete Krause als eher belanglos.“ Das Paar und sein Trainer reisten nach Turin, starteten dort, mussten sich aber nach diesem Nervenstress hinter zwei russischen und drei chinesischen Paaren mit dem sechsten Rang begnügen!
Als sich abgezeichnet hatte, dass sich die Justiz an die Gesetze halten würde, mühten sich Politiker das Gerichtsurteil zu korrigieren. Der damalige Innenminister Schäuble „beantwortete“ das Urteil des Berliner Gerichts damit, dass er die vom Innenministerium zu zahlenden Zuschüsse für den Eislaufverband sperrte!
Daraufhin stellte der Eislaufverband Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy vor die Wahl, entweder in Chemnitz von einer Russin oder in Chikago von einem Russen trainiert zu werden. Beide lehnten ab. Ihre Anwältin wollte das Bundesverfassungsgericht anrufen, das darauf hinwies, dass es noch auf die Zustellung des Urteils des Berliner Kammergerichts warten müsse, weil das Olympische Komitee der BRD dort Revision beantragt hatte. Die Revision wurde abgelehnt, aber der Schriftverkehr zog sich hin.
Der politische Machtmissbrauch hatte sich damit nicht erschöpft: Der Bundes-verteidigungsminister kündigte dem Soldaten Steuer fristlos!
Weitere Prozesse fanden statt und die Bundesregierung ließ sich, ohne auf Urteile zu warten, neue – die Erpressung fortsetzende - Varianten einfallen. Aljona – so meldete der “Spiegel” (10/2008) – “berichtete ihrer Anwältin unter Tränen von einer Begegnung, bei der man ihr gedroht hatte, ihr werde der Pass weggenommen, wenn sie weiter bei Steuer bliebe. Szolkowy, damals Sportsoldat, bekam Befehl, nicht mehr mit dem Coach zu trainieren. Einmal holte ihn ein Oberstabsfeldwebel vom Eis.“
Die Steuer-Anwältin formulierte den treffenden Vergleich: „Das Ganze ist hier nur noch wie Show-Boxen."
2012, also sechs Jahre nach den Spielen von Turin entschied der Bundesgerichtshof, dass die Haltung der Bundesregierung ungesetzlich war.
Das Urteil mit der laufenden Nummer 67/2012 lautete: „Der Kläger ist der Eiskunstlauftrainer Ingo Steuer. Er begehrt mit der vorliegenden Klage, die beklagte Bundesrepublik Deutschland zu verurteilen, ihn als Eiskunstlauftrainer von Soldaten der Sportfördergruppe, Disziplin Paarlauf, zu dulden, sofern Sportsoldaten ihn als Trainer haben oder wählen, er vom Spitzenverband, der Deutschen Eislauf-Union, beauftragt ist und der Deutsche Olympische Sportbund seine Tätigkeit befürwortet. (…)
Der für das Recht der unerlaubten Handlungen zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die dagegen eingelegte Revision der Beklagten“ – also der Bundesregierung – „zurückgewiesen.
Der Bundesgerichtshof in seiner Begründung: Indem die Beklagte nicht dulden will, dass der Kläger Sportsoldaten trainiert, greift sie in dessen eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, der eigentumsähnlichen Schutz genießt, ein. Dieser Eingriff ist rechtswidrig.“
Zur Erinnerung: Notwendig geworden war die Anrufung des Bundesgerichtshofs durch eine Kommission, der eine „Stasi“-Akte genügt hatte, Ingo Steuer von Olympischen Spielen ausschließen zu wollen.
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DAS „ROTFUCHS“-MÄRCHEN
Von KLAUS HUHN
Das größte Rätsel vermag kaum jemand zu lösen: Was mochte das im Grunde angesehene linke Magazin „Rotfuchs“ bewogen haben, sich mit der Entscheidung des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, an den Spielen 1984 in Los Angeles nicht teilzunehmen, zu befassen und dies obendrein in einer Weise, als habe man in der Redaktion Sympathie für den Antikommunismus empfunden?
In der Juni-Ausgabe las man fassungslos: „Für 1984 waren die Spiele an Los Angeles vergeben. Sollte man den Boykott von 1980 mit gleicher Münze heimzahlen? Sowohl die Bewahrung des olympischen Gedankens als auch das zu erwartende hohe Leistungsniveau einer DDR-Olympiamannschaft sprachen eindeutig für eine Teilnahme. Doch Erich Honecker entschied, ohne dazu eine Stellungnahme des Sports einzuholen, in `unverbrüchlicher Freundschaft mit der großen sozialistischen Sowjetunion´ nicht an den Spielen teilzunehmen. Am Ende war von den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft nur Rumänien in Los Angeles dabei."
Noch einmal: Es bleibt ein Rätsel, was die Redaktion bewogen haben kann, diesen Schwachsinn zu drucken?
Zu den Tatsachen: Die Olympischen Spiele 1984 waren erst nach endlosen Interventionen des IOC nach Los Angeles vergeben worden, weil das Weiße Haus die bei allen bis dahin stattgefundenen Spielen von den Regierungen der Gastgeberländer abgegebenen „Garantieerklärung“ gegenüber dem Organisationskomitee – von Washington verweigert worden war. Die USA wollten die Welt zwingen, an den ersten „privaten“ Spielen teilzunehmen! Da das IOC innerhalb weniger Monate keinen anderen Bewerber finden konnte, fand es sich damit ab.
Ausgetragen werden sollten die Spiele vom 28. Juli bis 12. August. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Wahlkampf, in dem USA-Präsident Ronald Reagan am 6. November 1984 wiedergewählt werden wollte, bereits seinen ersten Höhepunkt erreicht. Reagans Rivale Walter Mondale verkündete schon im Frühjahr: „Hier geht es nicht um Personen, sondern um die Zukunft unseres Landes.“ Gemeint war, dass eine Niederlage der USA vor eigenem Publikum gegen Mannschaften aus sozialistischen Ländern ein politisches Risiko bedeutete. 1976 hatte man sich in Montreal mit dem dritten Rang hinter der UdSSR und der DDR abfinden müssen, was in den USA wütend kommentiert worden war. Im eigenen Land hätte eine solche Niederlage noch viel schwerer wiegen müssen.
Um dem zu entgehen, begann der CIA einen Feldzug gegen die sozialistischen Länder, der als erstes in der Entscheidung gipfelte, die die bundesdeutsche Sportnachrichtenagentur SID bereits am 2.3.1984 behandelte: „Wenige Stunden vor der geplanten Anreise des sowjetischen Olympia-Attachés Oleg Jermischkin lehnte das Außenministerium in Washington eine Visa-Erteilung ab. OK-Präsident Peter Ueberroth protestierte offiziell bei der US-Regierung gegen diese Entscheidung, nannte sie `tief besorgniserregend und vor allem ihren Zeitpunkt erschwerend und unfair´. Ueberroth appellierte in einem Fernschreiben an UdSSR-Sportpräsident Marat Gramow, trotz der bedauerlichen Entwicklung zum baldmöglichsten Zeitpunkt einen neuen Attaché zu benennen.
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Das Nationale Olympische Komitee der UdSSR, das Jermischkin bereits Mitte September 1983 nominiert hatte, ist somit weniger als fünf Monate vor den Spielen als einzige grosse Sportnation in Los Angeles weiter ohne Verbindungsmann.“
Die „Begründung“ des USA-Außenministeriums lautete, Jermischkin sei ein KGB-Agent. Die Sowjetunion hätte also durch einen Verzicht auf Jermischkin vor aller Welt einräumen müssen, dass sie einen KGB-Agenten für eine führende Funktion in seiner Mannschaft nominiert hatte. Der Hinweis des Chefs des Organisationskomitees Ueberroth auf die unakzeptable Ablehnungs“frist“ von sechs Monaten musste als „unfreundlicher Akt“ verstanden werden und selbst Ueberroth machte daraus kein Hehl.
Nach dieser Brüskierung vor der Weltöffentlichkeit blieb der UdSSR gar keine andere Wahl, als auf den Start zu verzichten.
Auch gegen die DDR hatte man Maßnahmen ergriffen, die allen olympischen Regeln widersprachen. In einem Brief an Ueberroth hatte DDR-NOK-Präsident Manfred Ewald moniert: „Sie haben auf der 87. IOC-Session in Sarajevo nochmals betont, dass die Einreise aller Olympiateilnehmer entsprechend der Olympischen Charta mit Identitätskarten erfolgt. Inzwischen erheben jedoch Botschaften der USA – auch die hiesige – die Forderung namentliche Visalisten einzureichen, obwohl die Olympiaqualifikation unserer Sportler noch nicht beendet ist. Das widerspricht bekanntlich der Olympischen Charta und ist unzulässig.“
Kurzum: Als die sozialistischen Länder ihre Teilnahme abgesagt hatten, feierten die USA einen Jubelsieg bei den Spielen. Um Moskau unter Druck zu setzen, hatte man Rumänien durch eine enorme Dollarsumme bewegen können, ihre Mannschaft nach Los Angeles zu schicken. Erich Honecker vorzuwerfen, er habe versäumt vor seiner Erklärung die Sportführung der DDR zu konsultieren, rundet die unbegreifliche Darstellung ab.
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GEDENKEN
HORST GÜLLE
24. Februar 1932 – 3. April 2012
Der Name von Horst Gülle wird für immer verbunden bleiben mit der Entwicklung des Kinder- und Jugendsports und der Spartakiadebewegung in der DDR von Anbeginn. Das gilt insbesondere für die Wintersportmeisterschaften seit 1951, die Pionier-spartakiaden – von der ersten im Rahmen des ersten Pioniertreffens in der Wuhlheide in Berlin bis zur 6. Pionierspartakiade in Magdeburg 1965, an der bereits mehr als 6000 Mädchen und Jungen teilnahmen –, bis zu den ersten Kinder- und Jugend-Spartakiaden und dem Spartakiadesystem, von den Kreis- über die Bezirks-bis zu den Zentralen Kinder- und Jugend-Spartakiaden, die seit 1965 stattfanden. So wurden Millionen Kinder und Jugendliche angeregt, Sport zu treiben und sich gezielt auf sportliche Wettkämpfe vorzubereiten.
Die Lebensleistung von Horst Gülle zu würdigen, umfasst aber weit mehr als das Spartakiadesystem. Zu nennen sind, die „Kleine Friedensfahrt“, die seit Beginn der 1950er Jahre zunächst jeweils in den Etappenorten vor Ankunft der Friedensfahrer ausgetragen wurde und später nicht nur dort und zu diesem Zeitpunkt, sondern ebenfalls ein landesweites Wettkampfsystem mit zentralem Endausscheid umfasste. Zu nennen ist ebenso das System der jährlich ausgeschriebenen Pionierpokale für unterschiedlichste Mannschaftsleistungen, der „Internationale Vierkampf der Freundschaft“ mit seinem internationalen Finale, das Pionierdreikampfabzeichen, das seit Mitte der 50er Jahre erworben werden konnte oder die Touristen-Fünfkampf-Nadel. Unterstützt wurde die Fülle dieser Aktivitäten durch die verschiedenen Kinderzeitungen wie „Bummi“, „ABC-Zeitung“, „Trommel“ und „Fröhlich sein und singen“ ebenso wie durch „Egon Rolles fliegende Sportbrigaden“, die Ferienlager und Ferienspielplätze im ganzen Land besuchten. Als „Egon Rolle“ fungierte der Sportredakteur der „Trommel“, Herbert Janack, der jeweils mit einem LKW der Volksarmee und unterstützt durch zehn bis zwölf künftige Pionierleiter Sportgeräte aufbaute, Kleingeräte austeilte und vor Ort Wettbewerbe oder Möglichkeiten zum Ausprobieren und zum Probetraining organisierte.
Wie Horst Gülle selbst einschätzte, bot das Kinderfernsehen, eine „noch wirksamere Hilfe“, Kinder und Jugendliche für den Sport zu gewinnen. Monatlich schrieb er eine Kindersendung mit dem Hauptdarsteller „Fritzchen Spurtefix“ und später für den einstigen Geher Gerhard Adolf, genannt „Addi“, und die Sendung „Mach mit, mach’s nach, mach’s besser“.
Nachwuchs- und Nachwuchsförderung blieben stets die „eigentliche Aufgabe“ seines Wirkens, ob zu jener Zeit oder später als Generalsekretär (1966-1969) des Deutschen Verbandes für Leichtathletik der DDR (DVfL) und insbesondere als Stellvertretender Generalsekretär in diesem Verband (1969-1984) sowie seit 1984 als Generalsekretär im Deutschen Gewichtheber-Verband (DGV).
Für den Diplom-Sportlehrer und „Verdienten Meister des Sports“ Horst Gülle war ein tiefes Verständnis für die Langfristigkeit und Komplexität motorischer Lernprozesse und eines systematischen Leistungsaufbaus im Sport ebenso charakteristisch wie für die Individualität und die daraus resultierenden Möglichkeiten jedes Einzelnen. Das alles,
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die Fülle seiner Erfahrungen und sein nie erlahmender Optimismus fehlen uns seit seinem Ableben.
Hasso Hettrich
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ZIELE UNSERES VEREINES
Unser Verein lässt sich in seiner Tätigkeit von den olympischen Prinzipien leiten und tritt für Huma-nismus und Demokratie im aktuellen nationalen und internationalen Sportgeschehen ein. Wir unterstüt-zen alle Bestrebungen zur Verwirklichung des Rechts auf Ausübung des Sports in der Lebensgestal-tung der Individuen und sind den demokrati-schen wie allen fortschrittlichen Traditionen der deutschen Körperkultur und des Weltsports ver-pflichtet. Wir sind unabhängig. Wer Mitglied werden möchte, sollte einen Antrag schriftlich stellen an:
Sport und Gesellschaft e.V. Hasso Hettrich Triftstr.34 15370 Petershagen

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BEITRÄGE BEITRÄGE BEITRÄGE BEITRÄGE BEITRÄGE BEITRÄGE BEITRÄGE BEITRÄGE
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INHALT:INHALT: INHALT: INHALT:INHALT:
3 NÖTIGE ERINNERUNG AN EINEN NÖTIGEN APPELL
8 CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG
17 BLICK ZURÜCK AUF 1936 UND DAS „DORF DES FRIEDENS“
24 UMFRAGEN ZUM OLYMPISCHEN AUFSTIEG DER DDR
29 EIN KAPITEL GESCHICHTE DER VIERSCHANZENTOURNEE
36 DER LEICHTATHLETIK-LÄNDERKAMPF BRD-DDR 1988
39 EINE ERINNERUNG AN DIE FRIEDENSFAHRT
45 ERINNERUNG AN HEINZ SCHÖBEL
46 HEINZ-SCHÖBEL: ERINNERUNG AN MELBOURNE 1956
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NÖTIGE ERINNERUNG AN EINEN NÖTIGEN APPELL
Vor zehn Jahren erschien in einer Sonderausgabe der „Beiträge zur Sport-geschichte“ der von Gunhild Hoffmeister, Gustav-Adolf Schur, und Klaus Kös-te verfasste Appell: „Es ist zwanzig Jahre her, dass deutsche Sportlerinnen und Sportler aus Ost und West eine Initiative für den Frieden gründeten. Der Ruderolympiasieger von Mexiko, Horst Meyer, stand an ihrer Spitze. NOK-Präsident Willi Daume bekannte sich zu ihr, Willy Brandt schickte eine Gruß-botschaft an das 1985 arrangierte `Sportler-für-den-Frieden´-Sportfest in der Dortmunder Westfalenhalle: `Mein Wunsch ist, dass es mit dieser Veranstal-tung gelingt, ein Beispiel dafür zu geben, wie Sportler und sportinteressierte Bürger über sonst Trennendes hinweg friedlich und freundschaftlich einander begegnen und miteinander diskutieren´. Uns dieses Ratschlags erinnernd und darauf verweisend, dass der deutsche Sport Gastgeber für die Olympi-schen Spiele 2012 sein will, plädieren wir dafür, dass möglichst viele deut-sche Sportlerinnen und Sportler ihre Stimme gegen einen drohenden Krieg im Irak oder sonst wo auf der Weit erheben. Gerade weil auch der Sport seit jeher ein Symbol für friedliches Miteinander ist, gilt unser ganzes Engage-ment dem Frieden in der Welt.
Gunhild Hoffmeister
Berlin - Zweifache Silbermedaillengewinnerin im 1500-m-Lauf in München 1972 und in Montreal 1976 - Bronzemedaillengewinnerin über 800 in Mün-chen 1972
Gustav-Adolf Schur
Heyrothsberge - Zweifacher Radweltmeister 1958 und 1959 – Silberme-daillengewinner in Rom 1960 im 100-km-Mannschaftsfahren - Bronzemedail-lengewinner in Melbourne 1956 in der Mannschaftswertung
Klaus Köste
Kossen - Olympiadritter im Mannschaftsturnzwölfkampf in Tokio 1964 - in Mexiko-Stadt 1968 - Olympiasieger im Pferdsprung in München 1972“
Vom 16. Januar bis 1. März 2003 unterschrieben rund 700 Sportler den Appell. Er wurde an das zuständige UNO-Department gesandt, das den Ein-gang bestätigte.
Die Liste der Unterzeichner reichte – nach dem Alphabet gelistet – von Alemannia Aachen und Rudi Altig bis zu Katarina Witt und Erika Zuchold.
Wie man weiß konnte dieser Appell den Irak-Krieg nicht verhindern, in dem nach vorsichtigen Schätzungen 600.000 Menschen zu Tode kamen, rund 3 Billionen Dollar ausgegeben wurden und fast zehn Jahre währte. In der Zeit seit der Veröffentlichung des Appells haben nach den Feststellungen des Heidelberger Instituts für Konfliktforschung rund 20 Kriege in der Welt Tau-senden Menschen das Leben gekostet.
Der Verein „Sport und Gesellschaft“, der die drei Appell-Autoren zu seinen Mitgliedern zählt, hält es für geziemend, daran zu erinnern und zu versichern, dass dieser Appell so wichtig wie vor zehn Jahren ist und dankt noch einmal all denen, die sich damals entschlossen hatten, ihre Unterschrift zu leisten.
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Das erscheint umso dringlicher, da die Zahl deutscher Soldaten, die in fremden Ländern lebensgefährliche Dienste leisten in den letzten zehn Jah-ren zugenommen hat und Stimmungen forciert wurden, die diese Abenteuer stützen.
Man erinnert sich, dass es vor zehn zu einem Briefwechsel zwischen dem damaligen Präsidenten des zu jener Zeit noch fungierenden Nationalen Olympischen Komitees der BRD, Manfred Steinbach und Gustav-Adolf Schur gekommen war, der das Anliegen des Appells zum Thema hatte.
Aus dem offenen Brief Schurs an Dr. Steinbach: „Sehr geehrter Herr Stein-bach. Sie werden es mir sicher nicht verübeln, wenn ich Ihnen offenherzig meine Meinung und meine Bedenken zu Ihrer Erklärung vom 19.2.2003 im Interview mit dem Tagesspiegel über die `parteipolitische Motivation´ unseres Friedensappells mitteile. Der Sachverhalt ist mühelos überschaubar: Gunhild Hoffmeister, Klaus Köste und ich initiierten einen Appell, den Sie jetzt unter Verzicht auf jegliche Begründung als `antiamerikanisch´ und `politisch moti-viert´ bezeichnen. Wir drei Genannten gehören noch der Kriegsgeneration an und erkämpften gemeinsam neun olympische Medaillen, darunter drei in ge-meinsamen deutschen Olympiamannschaften.
Ich muss Ihnen nicht aus der Olympischen Charta zitieren, welche morali-sche Verpflichtung Sie mit der Übernahme der Funktion eines NOK-Präsidenten übernommen haben, doch ich wage zu bezweifeln, dass Ihre Er-klärung damit in Übereinstimmung zu bringen ist. Das für alle verbindliche Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bietet dafür ebenfalls keine Handhabe. Es heißt dort: `Niemand darf wegen ... religiöser oder politischer Anschauungen benachteiligt werden...´ (GG Art 3). Sie werden sich erinnern, dass sich in den achtziger Jahren eine Friedensbewegung unter den deut-schen Sportlern aus West und Ost formierte, die von zahlreichen Politikern unterstützt wurde. Ich darf darauf hinweisen, dass das zweite Fest dieser Ini-tiative in der überfüllten Dortmunder Westfalenhalle unter der Schirmherr-schaft des heutigen Bundespräsidenten Johannes Rau stand und von Willy Brandt begrüßt wurde. Zudem sollten Sie wohl auch zur Kenntnis nehmen, dass der damalige NOK-Präsident Willi Daume an diesem Fest teilnahm und sich zu seinen Zielen bekannte. Es ging damals, wie Sie sicher wissen, um das Problem der Stationierung von Atomraketen auf deutschem Boden. Un-ser Appell beruft sich ausdrücklich auf diese Traditionen und betont: `Uns dieses Ratschlages erinnernd und darauf verweisend, dass der deutsche Sport Gastgeber für die Olympischen Spiele 2012 sein will, plädieren wir da-für, dass möglichst viele deutsche Sportlerinnen und Sportler ihre Stimme gegen einen drohenden Krieg im Irak oder sonst wo auf der Welt erheben. Gerade weil auch der Sport seit jeher ein Symbol für friedliches Miteinander ist, gilt unser ganzes Engagement dem Frieden in der Welt.´ Die von Ihnen getroffene Feststellung, dass Saddam Hussein der Alleinschuldige sei, be-wegt uns deshalb nicht so sehr, weil wir weder zu entscheiden haben, noch entscheiden wollen, wer die entstandene Situation zu verantworten hat, ganz zu schweigen davon, dass so manche internationale Persönlichkeit - ich den-
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ke nur an den Papst - anderer Ansicht ist. Wir sehen als Sportlerinnen und Sportler die Verpflichtung, alle Bemühungen um den Frieden zu unterstützen. Doch sollten Sie uns weiterhin vorwerfen, dass eine Antikriegshaltung in je-dem Falle als antiamerikanisch zu bewerten ist, so würden Sie logischer-weise alle Bemühungen um den Frieden in den Vereinigten Staaten generell ignorieren und den USA bewusst jegliche Friedensbemühungen absprechen.
Ich darf Sie davon in Kenntnis setzen, dass bislang nahezu 700 namhafte deutsche Sportlerinnen und Sportler, Trainer, Sportwissenschaftler, Sport-journalisten und Sportpolitiker den Appell unterschrieben haben und wir fest darauf hofften, dass auch Sie uns wissen lassen, sich daran zu beteiligen. Wenn ich in diesem Zusammenhang darauf verweise, dass das auch sicher-lich im Sinne des Begründers der Olympischen Bewegung, Baron Pierre de Coubertin, gewesen wäre, der sich stets zum Frieden bekannt hat, dürfte das die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen wohl nur unterstreichen.
Abschließend noch ein ganz persönliches Wort. Sie schrieben: `Der Krieg darf nur das allerletzte Mittel sein´. Ich möchte Ihnen in dieser Frage ener-gisch widersprechen: Krieg sollte überhaupt kein Mittel der Politik sein! Letz-teres schreibe ich Ihnen auch im Namen
von Gunhild Hoffmeister, die ihren Vater im Zweiten Weltkrieg verloren hat. Glauben Sie uns, wir wissen, wovon wir sprechen! Mit sportlichen Grüßen
Gustav-Adolf Schur“
Steinbach antwortete: „Sehr geehrter Herr Schur, zuerst einmal möchte ich mich für Ihre kritischen Zeilen bedanken. Ich habe Verständnis für Ihre Reak-tionen, da durch die zum Teil verstellen Darstellungen meiner Äußerungen ein so nicht gewollter Eindruck entstehen konnte, der sich mit Ihren Intentio-nen verständlicherweise nicht deckt. Ich danke für Ihren geschichtlichen Rückblick, der mir genauso bekannt ist wie Ihnen. Selbstverständlich ist mir auch der Art. 3 des GG bekannt, Mir liegt es fern Sie oder andere zu benach-teiligen.
Meine Eltern gehören der Kriegsgeneration an. Ich bin in der Bun-desrepublik Deutschland aufgewachsen und war als Sportler immer auch ein Friedensbotschafter. Auch in Zeiten des `kalten Krieges´ habe ich meine Meinungsfreiheit als aktiver Sportler genutzt, um mich für Frieden unter den Menschen einzusetzen. Welche Initiative wird offiziell vom NOK unterstützt:
Die Dachorganisation des NOK das IOC hat zusammen mit der General-versammlung der UNO zuletzt im Januar 2002 mit die Friedensresolution 56175 Building a peaceful and better world through sport and the Olympic Ideal, frühere Resolutionen (z.B. 48111 vom 25. Oktober 1993) überarbeitet und aktualisiert. Dieser Friedensaufruf wird vom NOK für Deutschland unter-stützt und vertreten. Unter diese Resolution setzt das NOK seine Unterschrift. Dafür haben Sie sicher Verständnis und tragen diese Initiative von NOK und IOC mit.
Im Zuge des Autotelefon-Interviews mit ständigen Unterbrechungen und wohl daraus resultierenden Missverständnissen habe ich zu verschiedenen Sachverhalten meine Meinung geäußert. Ich habe mich unmissverständlich
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für den Frieden ausgesprochen. Ich habe auch gesagt, dass Sport im weite-ren Sinne bereits selbst eine gelebte Friedensbewegung ist und sich so ver-steht. Auch habe ich mich für die Friedensbewegung ausgesprochen und ge-sagt, dass ich mich darüber freue, dass sich Sportler für den Frieden einset-zen. Wie bereits oben ausgeführt fühlt sich das NOK der Friedensinitiative von IOC und UNO verpflichtet und unterstützt dort.
In einem anderen Zusammenhang, der nicht direkt mit Ihrem Frie-densappell im Zusammenhang steht, haben wir dann über unterschiedliche Friedensbewegungen und ihre unterschiedlichsten Motivationen gesprochen, von denen ich in den letzten Tagen ebenfalls zur Unterschrift aufgefordert wurde.
In diesem Interview habe ich meine persönliche Meinung dahingehend ge-äußert, dass ich wünschte, dass sich die Bemühungen um Frieden nicht schwerpunktmäßig an die Nationen richten sollten, die einen möglichen Krieg in ihrer Drohkulisse vorhatten, sondern an den Irak und insbesondere an Sa-ddam Hussein, die UNO-Resolution zu erfüllen und durch konsequentes Ab-rüsten den Krieg zu verhindern. Hierbei habe ich nicht explizit Ihre Initiative angesprochen, vielmehr haben wir allgemein über die verschiedensten Sichtweisen geredet.
Es ist richtig, dass ich gesagt habe, dass ich einseitig parteipolitisch moti-vierte Initiatoren als Präsident des NOK nicht unterstützen kann, da das NOK sich überparteilich verhält. Ich habe den mittlerweile rund 700 Unterzeichnern nicht parteipolitische Initiative unterstellt. Das möchte ich nochmals deutlich betonen.
Ohne Zweifel bin ich ein friedliebender Mensch, der keinen Krieg will. Ich akzeptiere Ihre Auffassung, dass Krieg überhaupt kein Mittel der Politik sein sollte. Bitte akzeptieren Sie dann auch im Zuge der Meinungsfreiheit meine Auffassung, dass die theoretische Möglichkeit des Krieges in die Drohkulisse mit aufgenommen werden kann. Ob dann das Mittel des Krieges tatsächlich zum Einsatz kommen sollte, ist noch mal eine ganz andere Entscheidung, die separat entschieden werden muss. Nur wenn schon im Vorhinein dieses In-strument bei der Drohung ausgeschlossen werden soll, schwächt dies die Durchsetzbarkeit von Abrüstungsforderungen.
Bitte akzeptieren Sie meine Sichtweise, so wie ich ihre akzeptiere. Uns al-len wünsche ich dass sich die Situation am Golf doch noch in letzter Minute ohne kriegerische Maßnahmen löst und befriedet werden kann.
Schurs Antwortbrief: „Sehr geehrter Herr Steinbach, vielen Dank für Ihre zügige und vor allem so sachliche Antwort. Ich war nie ein sonderlich guter Schwimmer, über Ihre Stärken oder Schwächen im Rennsattel weiß ich nichts - entscheidend scheint mir zu sein, dass wir uns als deutsche Sportler auch außerhalb des Bassins und der Rennstraße verste-hen. Ich kann mir dank Ihrer ausführlichen Schilderung des Zustandekom-mens jenes so ausgiebig zitierten Interviews nun ein Bild machen und akzep-tiere vor allem Ihre Feststellungen: `Ich habe den mittlerweile rund 700 Un-terzeichnern nicht parteipolitische Initiative unterstellt. Das möchte ich noch-
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mals deutlich betonen´ und `Auch habe ich mich für die Friedensbewegung ausgesprochen und gesagt, dass ich mich darüber freue, dass sich Sportler für den Frieden einsetzen.´ Damit wären unsere durch die unglücklichen Zitie-rungen entstandenen Meinungsverschiedenheiten eigentlich ausgeräumt, nur hielt es die CDU/CSU-Bundestagsfraktion leider für angeraten, unseren sach-lichen Disput mit einer Erklärung zu stören, der Ihnen vermutlich ebenso be-denklich erscheint, wie mir. Ich weiß nicht, wer Herrn Riegert ermächtigt hat, der Öffentlichkeit mitzuteilen: `Der Präsident des NOK, Klaus Steinbach, hat überzeugend und im Sinne des Sports den parteipolitisch motivierten Frie-densappell... entschieden zurückgewiesen. Es war ein plumper und vorder-gründiger Versuch einiger Sportlerinnen und Sportler, die parteipolitische In-strumentalisierung des Sports zu missbrauchen. Diese Sportlerinnen und Sportler haben dem Sport geschadet, nicht aber dem Frieden genützt... Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die klaren, deutlichen... Worte des Präsidenten des NOK...´ Wie sie an diesen Formulierungen mühelos erken-nen können, sind parteipolitische Interventionen tatsächlich vorhanden, nur nicht dort, wo die Medien sie ursprünglich entdeckt haben wollten. Noch ein-mal: Ich danke Ihnen für ihre ausgiebige Antwort und respektiere Ihre Hal-tung, so wie Sie - wie von Ihnen angedeutet - meine respektieren. Wir haben vielleicht ein kleines Beispiel dafür geben können, wie Deutsche miteinander umgehen sollten.“
Bekanntlich ist Steinbach nicht mehr Präsident des NOK, auch weil es in der Bundesrepublik gar nicht mehr existiert. Sein Nachfolger Thomas Bach hat sich – nach unserem Wissen – zur Frage Krieg und Frieden kaum geäu-ßert, geschweige denn zu Aktionen aufgerufen, die den Friedenswillen des Sports bekräftigt.
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CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG CARL DIEM WIEDER AUF DER TAGESORDNUNG
VON KLAUS HUHN
Im April 2002 hatte „Forum – Informationen der Deutschen Sporthochschu-le” - einen umfassenden Vortrag von Volker Kluge – lange Jahre Sportchef des FDJ-Organs „junge Welt” – über Carl Diem veröffentlicht, der mit den Worten endete: “So kontrovers diese Diskussion auch geführt wird, 40 Jahre nach seinem Tod adelt sie Diem eigentlich erst richtig. Dann muss er wirklich bedeutend gewesen sein, wenn er uns heute noch so beschäftigt. Oder so schlimm. Wie auch immer. Wieder einmal bietet sich also Gelegenheit, alles über ihn auf den Tisch zu legen! Was hat er geleistet, was verbrochen? Man kann aber auch den Kreis des Zirkels größer ziehen. Vielleicht ist es dann leichter entweder zu relativieren oder weniger nebulös zu empfehlen. Viel-leicht reicht es aber auch nur zu einer neuen Diskussionsrunde. In zehn Jah-ren...”
Kluge behielt mit seiner Zeitprognose Recht: 2012 begann eine neue Dis-kussionsrunde, in der allerdings bislang niemand auf die Idee kam, Diem auch noch zu „adeln“.
Die ihn möglicherweise hätten „adeln“ wollen, unterschlugen vorsichtshal-ber viele Lebenslauf-Fakten Diems. So auch die schon erwähnte Ausgabe des „Forum“, das unter „Lebensdaten und Tätigkeiten“ aufführte: „1917 – 1933 Generalsekretär des Deutschen Reichsschusses für Leibesübungen (DRAfL)“ und unterschlug, dass man ihn 1917 von der Front für einige Tage beurlaubt hatte, nur damit er in Berlin die Bezeichnung „Deutscher Reichs-ausschuss für Olympische Spiele” (DRAfOS) zu „Deutscher Reichsausschuss für Leibesübungen” (DRAfL) reduzierte, dabei alles daransetzend, den Antrag des ersten deutschen IOC-Mitglieds, Willibald Gebhardt, den Namen zu be-lassen, mit der Begründung abschmetterte, es würde wohl nach dem deut-schen Endsieg nie wieder Olympische Spiele geben. Derlei eignete sich auch kaum für olympischen „Adel“!
PROF: BECKER: NAZI-DENKEN
Der aktuelle Streit war durch zwei Interviews ausgelöst worden, den L.I.S.A., Wissenschaftsportal der Düsseldorfer Gerda-Henkel-Stiftung publi-ziert hatte. (Die Stiftung will die Erinnerung an Gerda Henkel aus der Familie des Waschmittelkonzerns wach halten.)
Das L.I.S.A.-Interview mit Dr. Frank Becker, Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen ist vom 18. 10. 2012 datiert.
„L.I.S.A.: Herr Professor Becker, Sie haben eine Biographie über Carl Diem geschrieben, die für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Um es gleich zu Beginn anzusprechen: War Carl Diem ein Nazi und Antisemit?
Prof. Becker: Diem war kein Nazi im Sinne von Parteimitgliedschaft, aber es finden sich in seinem umfangreichen OEuvre auch manche Versatzstücke
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nationalsozialistischen Denkens. Zudem hat er dem NS-Staat auf vielen Ebe-nen zugearbeitet. Trotz einer ab Sommer 1943 nachweisbaren Mitwisser-schaft um den Holocaust wollte er weiterhin Ämter erhalten, die sich nicht nur mit sportpolitischer, sondern auch mit allgemeinpolitischer Verantwortung verbanden. Im März 1945 hielt er in Berlin eine Durchhalterede vor Hitlerjun-gen, die für die bevorstehenden Kämpfe mit der Roten Armee an der Panzer-faust ausgebildet wurden – Diem stellte ihnen das Vorbild der todesmutigen Spartaner vor Augen. Antisemit war Diem in einer Variante, die vor allem in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg grassierte: Man feindete das Ju-dentum an, vermochte jedoch einzelne Juden zu akzeptieren, wenn sie assi-miliert waren.
L.I.S.A.: Worauf stützt sich Ihr historisches Urteil? Welche Quellen belegen Ihr Ergebnis?
Prof. Becker: Diem hat eine extrem umfangreiche Korrespondenz geführt und ein Tagebuch von mehreren tausend Seiten hinterlassen. Beide Quellen ermöglichen es, seine Denk- und Vorstellungswelt akribisch zu rekonstruie-ren. Dabei wird deutlich, dass antisemitische Äußerungen über Jahrzehnte hinweg fallen. Sie sind keineswegs, wie von apologetischer Seite behauptet wird, nur `Ausreißer´, die bestimmten Situationen geschuldet sind. Stattdes-sen wird eine dauerhafte intellektuelle Disposition sichtbar. Auch auf der Handlungsebene ist Diem belastet. 1940 beteiligte er sich an einer intentional antisemitischen Maßnahme der NS-Sportpolitik, bei der es darum ging, fran-zösische Sportfunktionäre, die möglicherweise Juden seien, aus ihren Ämtern zu entfernen.
L.I.S.A.: Ihre Einschätzung, dass Diem vom Vorwurf des Antisemitismus nicht freizusprechen sei, hat für eine Kontroverse gesorgt. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Sporthochschule Köln, die Sie mit einem Forschungsprojekt zu Carl Diem beauftragt hatten, weisen Ihren Be-fund zurück. Warum?
Prof. Becker: Zunächst sind nicht die genannten Institutionen auf den Plan getreten, sondern ein Projektbeirat. Dieses Gremium, das von einem Diem-Schüler geleitet wurde, hat in einer Stellungnahme zur Gesamtbeurteilung Diems all meine kritischen Befunde ausgeblendet. Der DOSB ist dieser Sichtweise anfangs gefolgt, hat dann aber genauer hingeschaut und sich vom Beirat distanziert, der sich aufgrund dieses Vertrauensentzugs Ende 2010 aufgelöst hat. An der Sporthochschule Köln ist es das `Carl und Liselott Di-em-Archiv´, das Diem gegen jede Kritik in Schutz zu nehmen versucht. Die-ses Archiv verwaltet den Nachlass der Eheleute Diem und wurde anfänglich von Carl Diems Witwe Liselott geleitet. Bis heute vertritt es in sehr kämpferi-scher Form die Interessen der Familie Diem.
L.I.S.A.: Wie sehr wirkte der (Un)Geist des Nationalsozialismus nach 1945 in den organisierten deutschen Sport hinein? Ging die DDR mit dieser Tradi-tion anders um als die Bundesrepublik?
Prof. Becker: Viele hoch belastete Sportfunktionäre übernahmen im west-deutschen Sport der Nachkriegszeit erneut wichtige Ämter. Ihnen kam die
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auch von Diem propagierte Legende, dem deutschen Sport sei 1933 zwar eine NS-Führung oktroyiert worden, er habe sich ansonsten dem Nationalso-zialismus aber weitgehend entzogen, selbstverständlich sehr entgegen. In den Sportverbänden bildete diese Gruppe den harten Kern des nun auch im Westen opportunen Antikommunismus. Einem demokratischen Neubeginn im deutschen Sportverbandswesen stand sie aber im Prinzip nicht im Wege. In der DDR wurde ein klarerer Schnitt gemacht. Diem, der unmittelbar nach dem Krieg mit der sowjetischen-deutschen Sportverwaltung in Ostberlin noch recht harmonisch zusammengearbeitet hatte, wurde als die rechte Hand des Reichssportführers, insgesamt als Erfüllungsgehilfe der Nazis bezeichnet.
L.I.S.A.: Seit einigen Jahren werden in Deutschland mehrere nach Carl Di-em benannte Straßen oder Institutionen umbenannt – unter anderen auch die Straße an der Kölner Sporthochschule. Zurecht? Anders gefragt: Was wiegt schwerer? Carl Diems Verstrickung in den Nationalsozialismus oder seine Verdienste um den deutschen Sport?
Prof. Becker: Das sind moralische bzw. geschichtspolitische Fragen. In der Gegenwart gilt: Straßen, deren Protagonisten NS-belastet sind, werden um-benannt, und diese Belastungen können auch durch Verdienste in anderen Bereichen nicht aufgewogen werden – dafür ist der Nationalsozialismus mit seinen Massenverbrechen ein zu exzeptionelles Phänomen gewesen. Inso-fern halte ich es auch für richtig, dass Carl Diem-Straßen umbenannt werden, wie es nach dem Erscheinen meiner Biografie schon in vielen deutschen Städten geschehen ist. In mancher Hinsicht ist Diem mit Hindenburg zu ver-gleichen, der auch kein dezidierter Nationalsozialist war, aber ein National-konservativer, der mit den Nazis letztendlich gemeinsame Sache gemacht hat. Zurzeit läuft durch Deutschland auch eine Welle der Umbenennung von Hindenburg-Straßen.“
PROF. KRÜGER: DIEM WAR „WICHTIGE FIGUR“
Am 26. 11. 2012 hatte sich der Münsteraner Prof. Dr. Michael Krüger zum Thema Diem und den Antworten des Prof. Becker geäußert.
„L.I.S.A.: Herr Professor Krüger, Sie haben sich als Sportwissenschaftler intensiv mit der Person und dem Wirken des deutschen Sportfunktionärs Carl Diem beschäftigt. Welche Bedeutung hat Carl Diem für den organisierten deutschen Sport?
Prof. Krüger: Diem war zweifellos eine wichtige Figur und Persönlichkeit des deutschen und olympischen Sports. Er steht einerseits dafür, dass wir heute den Sport als einen eigenständigen Bereich von Kultur und Gesell-schaft wahrnehmen. Andererseits steht Diem für die Verbindung der nationa-len Sportentwicklung zur internationalen, olympischen Bewegung. Dafür steht sein Engagement für die Olympischen Spiele von Berlin, die er zuerst 1916 hätte organisieren sollen.“
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Auch Krüger ignorierte also jeden Bezug zu Diems Auftritt 1917!
„Nachdem daraus wegen des ersten Weltkriegs nichts geworden war, konnte er diesen Traum aller deutschen Sportler 1936 in seinem Amt als hauptamtlicher Generalsekretär der Spiele von 1936 realisieren. … Jedenfalls ist es völlig unangemessen und irreführend, Diem beispielsweise mit Hinden-burg zu vergleichen, wie dies der Diem-Biograph Frank Becker getan hat. … Dieser schiefe Vergleich zeigt, wie sehr Herrn Becker die Maßstäbe entglitten sind …
L.I.S.A.: Sie haben vor einigen Jahren ein vom Deutschen Olympischen Sportbund mitfinanzierten Forschungsprojekts zu `Leben und Werk Carl Di-ems´ geleitet. Ein wichtiges Kapitel ist dabei die Rolle Carl Diems während des Nationalsozialismus. Eine Reihe von Historikern behauptet, Carl Diem sei ein Antisemit gewesen. Stimmt das?
Prof. Krüger: Das sind zwei Fragen: Erstens Diems Rolle im Nationalsozia-lismus. Dazu gibt es, wie Sie wissen, eine sehr umfangreiche und kontrover-se Debatte. Sowohl der Diem-Biograph Frank Becker als auch der Wissen-schaftliche Beirat kommen zu dem Ergebnis, dass Diems Rolle und Bedeu-tung im nationalsozialistischen Sport eher gering war. Nachdem die Olympi-schen Spiele von 1936 vorbei waren, hatte er im Prinzip seine Schuldigkeit für den nationalsozialistischen Staat erfüllt.“
Auch diese Behauptung Krügers unterschlägt Fakten. Das beweist ein Brief, den Werner Klingeberg – wie Diem 1936 im Organisationskomitee tätig – am 13. August 1940 aus Helsinki an Avery Brundage, den Präsidenten des US-amerikanischen Olympischen Komitees geschrieben hatte und in dem es heißt: „Ich flog vor ein paar Tagen nach Stockholm, um Diem zu treffen, der kürzlich Baillet-Latour in Brüssel besuchte. Er sagte mir, dass der Präsident“ (des IOC) „wohlauf ist und in seinem Haus in der Stadt lebt. Einer speziellen Bitte des deutschen Kanzlers Rechung tragen, wird er in jeder Hinsicht als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees respektiert.“
Damit dürfte bewiesen sein, dass Diem diese Reise im Auftrage Hitlers unternom-men hatte!
„L.I.S.A.: In den Medien ist die Frage um die Rolle Carl Diems während des Dritten Reichs zu einer Diem-Debatte bzw. Diem-Kontroverse erklärt worden. Wo verlaufen da genau die unterschiedlichen Konfliktlinien? Woran entzündet sich die Debatte konkret?
Prof. Krüger: Diem-Debatten gibt es schon lange. Sie waren der Anlass für das schon erwähnte Forschungsprojekt zu Leben und Werk Cal Diems, das ursprünglich vom Deutschen Sportbund und der Deutschen Sporthochschule angestrengt wurde. Die Krupp-Stiftung konnte dafür gewonnen werden, ein dreijähriges Postgraduierten-Stipendium dafür bereitzustellen. Herr Becker hatte sich dafür beworben und dieses Stipendium erhalten. Ich war Projektlei-ter, und wir haben drei Jahre lang von Anfang 2005 bis Ende 2007 sehr gut zusammen gearbeitet. Wir haben beispielsweise mehrere Fachtagungen durchgeführt, die dafür gedacht waren, einen größeren theoretischen und
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methodischen Rahmen für die Anfertigung der Diem-Biographie bereitzustel-len.
Die Unterschiede, die zu Kontroversen führten, lagen eigentlich weniger in inhaltlichen und fachlichen Fragen. Kritik ist Teil des wissenschaftlichen Er-kenntnisprozesses. Die Kontroverse oder genauer der Konflikt entstand zu dem Zeitpunkt, als das Projekt zu Ende war und erst einer von vier Bänden der Diem-Biographie vorlag. Es war der dritte (allerdings zuerst erschienene) Band über die NS-Zeit. In diesem Band hatte Frank Becker von sich aus eine Stellungnahme zum Umgang mit Diem für die Auftraggeber formuliert, die im Grunde darin bestand, dass er keine konkrete Empfehlung abgab. Er weiger-te sich auch, mit mir als Projektleiter und dem Beirat darüber zu sprechen. Als nun der Deutsche Sportbund den Beirat aufforderte, eine konkrete Emp-fehlung abzugeben, wie denn nun mit Diem-Straßen, Diem-Hallen usw. ver-fahren werden solle, lud der Beirat Herrn Becker ein, mit ihm darüber zu dis-kutieren. Er folgte der Einladung leider nicht. Der Beirat musste sich also selbst ein Urteil bilden. Es lautete, wie man im Einzelnen nachlesen kann, dass keine neuen Erkenntnisse vorlägen, die es rechtfertigen würden, über Diem eine Art damnatio memoriae (lateinisch. Zu deutsch: Verdammung des Andenkens. A.d.A.) zu verhängen. Vielmehr empfahl der Beirat, Diem zum Anlass für eine nachhaltige Diskussion zur Erinnerungskultur im Sport zu nehmen.
L.I.S.A.: Infolge der sogenannten Diem-Debatte sind zahlreiche nach Diem benannte Straßen und Institutionen umgewidmet worden. Zurecht?
Prof. Krüger: Ich finde nicht. Zumindest war und ist dies die Meinung des Wissenschaftlichen Beirats zum Diem-Projekt, der aus anerkannten Fachleu-ten besteht. Mit solchen Umbenennungen von Straßen wird auch die Chance verspielt, sich mit der Geschichte dieser Personen und wofür sie stehen, kon-struktiv auseinanderzusetzen. Sie werden als Erinnerungsort getilgt.“
WIE DIE SPORTLER DURCH FRANKREICH STÜRMTEN
Das schrieb Prof. Michael Krüger im Jahr 2012! Man möge sich mit der „Geschichte der Personen“ auseinandersetzen. Und auch mit Diem.
Worüber auseinandersetzen? Ob er ein Rassist war oder Antisemit? Es genügt, einmal mehr einen Diem-Artikel aus dem Jahr 1940 wiederzugeben, um zu dem Schluss veranlasst zu werden: Er stand nicht nur an der Seite der deutschen Faschisten, sondern feuerte sie noch an!
Hier der Text eines seiner vielen die Hitler-Armeen bejubelnden Beiträge: „Sturmlaufs durch Frankreich, wie schlägt uns alten Soldaten, die wir nicht mehr dabei sein können, das Herz, wie haben wir mit atemloser Spannung und steigender Bewunderung diesen Sturmlauf, diesen Siegeslauf verfolgt! Die fröhliche Begeisterung, die wir in friedlichen Zeiten bei einem kühnen kämpferischen sportlichen Wettstreit empfanden, ist in die Höhenlage des kriegerischen Ernstes hinaufgestiegen, und in Ehrfurcht, und mit einem inne-ren Herzbeben, in das etwas von jener fröhlichen Begeisterung hineinklingt,
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stehen wir staunend vor den Taten des Heeres. In ihnen zeigt sich, was der Deutsche kann, in ihnen wächst der Deutsche von heute über alles Frühere und über sich selbst hinaus.
Vielerlei sind die Gründe. Eine der Ursachen aber - das dürfen wir stolz verkünden - ist der sportliche Geist, in dem Deutschlands Jungmannschaft aufgewachsen ist. Da gab es nichts mehr von jener schlaffen Anstrengungs-scheu und platten Begehrlichkeit weichlicher Zeiten. Das Ideal eines gefahr-losen, von Versicherungsschutz gegen alle Unfälle des Lebens eingebettetes Dasein, des gut gemachten Bettes, des wohlbesetzten Tisches und des pen-sionsfähigen Lebensabends ist in der deutschen Volksseele verschwunden. Statt dessen Freude am Kampf, Freude an Entbehrung, Freude an der Ge-fahr. Nur in solcher Lebenshaltung kann Norwegen erobert, Frankreich durchstürmt werden.
Senken wir einmal die prüfende Sonde in das Entstehen dieser neuen Le-benshaltung. Suchen wir einmal den Pulsschlag dieser neuen. Jugend zu er-fassen ... im Sport ist sie groß geworden; Anstrengung im Wettkampf war ihr eine Lust. Wenn die Lungen jachten und das Herz in höchster Anstrengung klopfte, dann spürte sie den Rausch der Leistung. Schmerz verwandelte sich in Stolz, ob es die Püffe gegen das Schienbein beim Fußballspiel oder die Schläge gegen das Kinn beim Boxen oder die Schmerzen an Haut und Ge-lenken beim Marathonlauf oder bei der Radfernfahrt oder die Schrammen und Erfrierungen beim Bergsteigen waren. Wie ein edles Pferd beim Heran-nahen der Hürde anzieht, so spannte sich die Seele dieser Jugend bei An-strengung und Gefahr. Es reizte sie jede Prüfung dieser Art, und nur der galt als vollwertig, der mannhafte Prüfungen bestanden hatte.
Wir wollen nicht unsere Frauen dabei vergessen. … Die Frauen haben zwar am Sturmlauf durch Frankreich nicht unmittelbar teilgenommen, aber sie haben das Lebensgefühl mitbestimmt, das zu diesem Sturmlauf führte. Sie haben diese neue Generation als Mütter, Schwestern und Bräute mitgeschaf-fen, mitgehämmert.
Uns Daheimgebliebenen klingen die Marschlieder dieser Soldaten des Sturmschritts wie eine alte vertraute Melodie in den Ohren. Im Geiste mar-schieren wir mit und suchen uns die Erlebnisse der jungen Kriegsmannschaft vorzustellen. Die Tornister sind zwar etwas leichter geworden, dafür sind die Marschweiten länger und die Marschtritte schneller. Und so sehen wir sie hin-ter den motorisierten Einheiten herhasten, denn darauf kommt es entschei-dend an, dass die marschierende Infanterie nicht allzu lange nach den Kampfwagen und den motorisierten Einheiten das Schlachtfeld erreicht. …
So war es und so kam es, dass die deutsche Streitmacht in unvorstellba-rem Tempo siegte, und dass, wenn die Franzosen sich gegen die pfeilartig vorgestoßenen motorisierten Truppen im Flankenangriff zu wehren suchten, die deutsche Infanterie eben im Sturmlauf zur Stelle war und auch da den Sturmlauf zum Siegeslauf führte. Wer wollte schließlich daran vorbeisehen, dass in den Leistungen der Fallschirmtruppen ein Stück sportlich-turnerischen Wagemutes steckt, und wir wissen, dass es kein Zufall war,
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wenn unter den mit höchster Auszeichnung Bedachten sich der Olympiasie-ger Schwarzmann befand. Das ist wie ein Symbol für das junge Geschlecht: Olympiasieger und Held im ernsten Kampfe zugleich. Sportbegeisterte Solda-ten, sportbegeisterte Offiziere, Sport-Führer! Nennen wir noch einen: den General Dietl, den Helden von Narvik, uns altern Skiläufern als ein forscher, zäher, fröhlicher Sportkamerad wohl bekannt, der seinen sportlichen Geist seiner Truppe einzuimpfen wusste und der mit ihr dann Übermenschliches geleistet halt.
So kam es zum Sturmlauf durch Polen, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich, zum Siegeslauf in ein besseres Europa!“
Das hatte er vier Jahre nach den Olympischen Spielen geschrieben, deren Generalsekretär er gewesen war!
Ja, 1940. Und mehr als ein halbes Jahrhundert danach beklagte Professor Michael Krüger, nicht nur, dass ein paar Diem-Straßen umbenannt worden waren, sondern dass man seine Leistungen nicht gebührend würdigt und gei-fert gegen die untergegangene DDR, weil – siehe Prof. Becker – „in der DDR ein klarerer Schnitt gemacht wurde.“
„Gib mir ein Wort eines Menschen und ich bringe ihn an den Galgen" - mit diesem Bonmot des Kardinals Richelieu beginnt Alex Natan seine Kurzbio-graphie über Carl Diem … Die Widersprüchlichkeit `des´ Sports spiegelt sich auch in den Lebensläufen der Personen, die sich ihm verschrieben haben. Carl Diem ist das Paradebeispiel dafür. `Die Liste seiner Irrtümer (ist) be-trächtlich´, schreibt Natan - und darunter befinden sich auch solche, die ihn mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod `an den Galgen bringen´ können. Von Galgen ist natürlich heute nicht die Rede, aber Diems Name sollte von Straßenschildern und Sporthallen entfernt, sozusagen aus dem kollektiven Sportgedächtnis in Deutschland getilgt werden, wenn es nach dem Willen der modernen Tugendwächter der political correctness ginge, die sich - ohne sich dessen bewusst zu sein - auch der falschen Argumente kalter DDR-Krieger bedienen. Die Vorwürfe gegen Diem sind seit langem bekannt: Diem sei Op-portunist, Rassist, Militarist, Nationalist usw. gewesen, habe den Sport an die Nazis verraten und noch im März 1945 minderjährige Hitlerjungen zum sinn-losen Kampf gegen russische Truppen aufgestachelt.
Kürzlich hat nun der Gutachter und Diem-Kritiker Hans Jochen Teichler aus Potsdam festgestellt, dass die Verdienste Diems um Sport und Sportwissen-schaft in Deutschland schwerer wiegen als einige Worte, die ihn und das Er-be des bürgerlichen Sports an den `Galgen´ bringen sollten. Diem ist eine Person mit viel Licht und Schatten - darüber sind sich die Sporthistoriker bei aller Unterschiedlichkeit der Bewertung der Lebensleistung Diems einig. Trotzdem wird seit 50 Jahren über Diem nicht nur wissenschaftlich, sondern auch öffentlich gestritten. Die Geschichte dieser Diem-Rezeption zeigt des-halb, dass es nie nur um eine historisch-kritische Analyse und Auseinander-setzung mit dieser Zentralfigur der deutschen Sportgeschichte ging, sondern um Sportpolitik. Diem war von Anfang an ein Symbol des, Sports in Deutsch-land und Repräsentant eines bestimmten Sportkonzepts, genau gesagt eines
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`bürgerlichen´ Sportverständnisses, in dem Leistung, Spiel und Wettkampf im Mittelpunkt stehen und in dem der Sport einen Teil bürgerlicher und nationa-ler Kultur insgesamt darstellen soll. Er sah - wie Coubertin - im Sport ein Mit-tel der Erziehung von Menschen, Völkern und Nationen. Diese Erziehung be-inhaltete auch die Erziehung zu kämpferischen Tugenden und nationalem Selbstbewusstsein. … In der immer wieder aufflammenden Diskussion um Carl Diem sollten zwei Ebenen auseinandergehalten werden. Erstens die der differenzierten, wissenschaftlichhistorischen Analyse, die sich um ein besse-res Verständnis Diems und seiner Rolle im historischen Kontext zu bemühen hat. Dies ist ausführlich geschehen und wird sicher in Zukunft auch fortge-führt werden. Zweitens ist die Ebene der politischen und sportpolitischen Auseinandersetzung um Diem als Repräsentant einer spezifischen, bürgerli-chen Sporttradition zu unterscheiden. Dabei spielen historische Argumente eine wichtige Rolle, aber es ist die Aufgabe der politischen und sportpoliti-schen Entscheidungsträger, wie mit den unterschiedlichen Traditionen des Sports in Deutschland umgegangen wird: ob wir, der Deutsche Sportbund (DSB) und die Turn- und Sportverbände die Widersprüchlichkeit der Entwick-lung von Turnen und Sport (nicht nur in Deutschland) ertragen können oder lieber ausblenden wollen, was heute nicht mehr opportun erscheint - sei es der nationalistische Turnvater Jahn, Turn-Revolutionäre von 1848, kommu-nistische Arbeitersportler, jüdische Turn- und Sportvereine, Nazi-Spiele, Deutsche Kampfspiele oder Wehrsport in der DDR. Edmund Neuendorff, Carl Diem und Ritter von Halt gehören ebenso zur deutschen Sportgeschichte wie Fritz Wildung, die Olympiasieger Alfred und Gustav Felix Flatow, die im Kon-zentrationslager ermordet wurden, oder wie Manfred Ewald.
Das Beispiel DDR macht deutlich, dass die Abschaffung von Straßenschil-dern nicht gleichzusetzen ist mit kollektivem Vergessen, geschweige denn Verarbeiten. Auch ohne Bismarck- und Wilhelmstraßen triumphierte in der DDR der preußische Militarismus, auch im Sport, und der bürgerlich-olympische Leistungs- und Wettkampfsport feierte Siege, ohne daß im Arbei-ter- und Bauernstaat eine Sporthalle nach Carl Diem benannt worden wäre. Wie heuchlerisch und selbstgefällig die Diem-Kampagne geführt wird, sieht man daran, daß sie auch von Leuten betrieben wird, die noch vor wenigen Jahren in ihrem Verantwortungsbereich Sportlerinnen und Sportler mit staatli-chem Zwangsdoping drangsalierten und sie zum `Hass´ gegen die Sportler der BRD anstifteten, wie aus den SED-Akten zur DDR-Sportpolitik hervor-geht.
Wir sollten deshalb den Inquisitoren keine Chance geben, Menschen we-gen Worten `an den Galgen´ zu bringen oder Geschichte im Namen der Tu-gend auszublenden. Es ist ehrlicher, die Leistungen und Fehler unserer Vor-fahren auch als Teil unserer eigenen Geschichte anzunehmen und vielleicht aus ihnen zu lernen.“
Was Prof. Dr. Michael Krüger lernen und lehren möchte, offenbart seine Haltung gegenüber Diem, die unweigerlich zur Billigung jenes „Sturmlaufs durch Frankreich“ führt, der den Sport als die ideale Vorbereitung der Jugend
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für einen Krieg feiert. Wie vorteilhaft, dass die Verbreitung seiner Ansichten vierzig Jahre lang von der DDR begrenzt worden waren.
Und Hut ab, vor Männern wie Prof. Becker!
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BLICK ZURÜCK AUF 1936 UND DAS „DORF DES FRIEDENS“
VON JENS JENSEN
1971 erschien in der Bundesrepublik das vom NOK herausgegebene Buch „75 Olympische Jahre – NOK für Deutschland“. Als Autor fungierte Karl Adolf Scherer, der in dieser deutschen Olympia-Historie ohne Erklä-rung die Rolle der Spiele von 1936 und damit den Missbrauch Olympias durch Deutschland fast ignorierte. Übrig blieben bei ihm einige Bildseiten und der Absatz: „Hitler und Goebbels sahen in den Spielen ein handli-ches Instrument wirkungsvolle Propaganda und die einmalige und nun-mehr riesengroße Chance weiter Kreise der Weltöffentlichkeit durch wir-kungsvolle kulturelle und selbstverständlich auch sportliche Leistungen zu überraschen und für sich einzunehmen. Keine Kosten wurden ge-scheut.“
Auch in der Nachkriegs-BRD blieben Publikationen über 1936 Man-gelware. Mit keiner Silbe hatte jenes Standardwerk des BRD-NOK auch die Rolle des 1936 in Elstal entstandenen Olympischen Dorfs erwähnt. Zu jenen angeblich nicht „gescheuten“ Kosten gehörte auch eine Bro-schüre über das als „Dorf des Friedens“ deklarierte Olympische Dor, die in dem Standardwerk 1971 – im Vorfeld der Spiele von München - mit keiner Silbe erwähnt wurde.
Die folgenden Passagen, sind der Broschüre, die 1936 allen Teilneh-mern der Spiele geschenkt worden war, entnommen Sie charakterisieren den Stil der Nazipropaganda rund um die Spiele.
Wenn wir Unter den Linden nach dem Brandenburger Tor zugehen und durch dieses Tor hindurch, sehen unsere freudetrunkenen Augen die ferne Flucht der Charlottenburger Chaussee, die sich kilometerweit in genau west-licher Richtung schnurgerade erstreckt. Sie wechselt hier und da ihren Na-men, sie heißt nacheinander Bismarckstraße, Kaiserdamm und Heerstraße, aber erst nach etwa zehn Kilometern schlägt sie eine nördliche Richtung ein. Zu ihren Seiten wuchs das neue Berlin, das sie, nicht arm an wundervollen Straßen, zu ihren schönsten und prachtvollsten zählt. Wenn die Baumkronen des Tiergartens, der sie in ihrem ersten Teile säumt, sich zu einem Dach ge-schlossen haben, ist es (stehen wir am Brandenburger Tor, und sehen wir mit halbgeschlossenem Auge in die Ferne), als blickten wir durch ein mächtiges Teleskop: unbeschreiblich weit muß ein Eiland liegen. Und welch ein Wunder - nur dreißig Autominuten von dieser Stelle entfernt, von der aus wir das Wei-te erfassen, liegt das Dorf des Friedens: in einer Talmulde, umsäumt von ur-alten Kiefern und bisher einsam und unbeachtet. Die ewige Natur war mit sich allein geblieben, und als man diesen Flecken Erde zu einem olympi-
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schen Heiligtum erhob, erschloß es sich in seiner ganzen bezaubernden, un-berührten Pracht.
Was Jahrtausende verborgen blieb, ist nun die Heimat einer ganzen Welt geworden.
Der unendliche Friede dieses Dorfes beginnt nicht dort, wo sich das erste der Häuser erhebt. Wäre es so, bliebe er gewiß nur eine Episode, die Zeit würde das Vergessen herbeirufen, und wenn seine ersten Bewohner diese Welt verlassen, hätten wir ein Erbe, dessen Zukunft ungewiß ist. Den Frieden dieses Dorfes nährt die olympische Idee, die Jahrtausende überstanden hat, und die wir einer Krönung entgegenführen dürfen. Sie wird eine heilige Zere-monie sein: die Menschen aus mehr als fünfzig Nationen, die blühende Ju-gend aus allen Erdteilen, verneigt sich ergriffen vor dem Gott, der ihr das Le-ben geschenkt hat. Die Olympischen Spiele sind das Zeichen ihrer Dank-barkeit, das Wort von der Heiligkeit des Leibes tragen sie nicht auf den Lip-pen: sie kämpfen unter den ritterlichsten und friedlichsten Regeln und unter dem Olympischen Banner, auf dessen weißem Grunde sich die fünf Ringe symbolisch miteinander verflechten. Sie müssen bereit sein, sich auszuge-ben, der Idee der Spiele folgte das Höchstmaß der Leistung, und der Weg, der auf die Gipfel des sportlichen Könnens führt, ist unabsehbar weit. Im Wandel der Jahre werden oft auch die Ideen verfälscht, und diesem vielleicht unabänderlichen Schicksal sind auch die Olympischen Spiele nicht entgan-gen. Aber von Mal zu Mal hat man sie in der Neuzeit ihrem klassischen Vor-bild nähergebracht, und in Los Angeles, wo sie im Jahre 1932 vor sich gin-gen, faßte man eine uralte Tradition in eine neue Form: wie einst im klassi-schen Olympia die Kämpfer zu einer gewissen Zeit vor dem Beginn des Wettstreites die letzte Vorbereitung gemeinsam und in einem völlig von dem Alltag und der Öffentlichkeit abgeschlossenen Bereich vornahmen, innerlich und äußerlich der heiligen Idee verpflichtet, schuf man auf den von den Win-den des Pazifischen Ozeans umkosten Hügeln Kaliforniens, in der unmittel-baren Nähe der Millionenstadt, das erste Olympische Dorf. Hier lebte, man kann es nicht schöner und treffender ausdrücken, wie es in einer Überset-zung aus dem offiziellen Bericht von Los Angeles hieß, „eine große, glückli-che Familie aus vierzig Nationen, die den Politikern der Welt die Schamröte in das Antlitz jagen möchte, und nicht ein einziger Athlet vergaß auch nur ei-nen Augenblick lang das Land und das Blut, denen er entsprang". …
Die Straße, die aus dem Herzen der Stadt zunächst nach dem Westen weist, führt, am Olympischen Stadion vorbei, nach dem Norden. An der Fern-verkehrsstraße, die Berlin mit dem deutschen Welthafen Hamburg verbindet, ist das landschaftliche Eiland gelegen, in das die Architekten das Dorf des Friedens gebettet haben. … Wer über die sanft steigenden und fallenden Pfade unter den rauschenden Eichen, jungen Birken und alten Kiefern die Häuserreihen entlanggeht und das Wunder der märkischen Landschaft auf sich wirken läßt, schaut der Welt nicht in das materielle Antlitz. Wenn auch der Herrgott selbst den kostbarsten Beitrag geliefert hat, um ein liebevoll er-dachtes Dorf als eine wahre Weltheimat erstehen zu lassen - so gehörte dazu
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doch auch viel Geld. Der Wunsch des Führers und Reichskanzlers …, der der Schirmherr der XI. Olympiade ist, daß die Wehrmacht des Reiches diese olympische Stätte erbauen und betreuen sollte, kam ihrem eigenen Wunsche nach der tätigen Hilfe bei der Organisation der Weltspiele entgegen, und so hat der Mann, der das Banner des Friedens der deutschen Nation voranträgt, mit einer genialen Anordnung die Jugend aus mehr als fünfzig Nationen als die Gäste der jungen, sportlichen deutschen Wehrmacht eingeladen, die in ihrem Geist und in ihrer Haltung ein Heer des Friedens ist. Kann man sich, in der Tat, eine sinnvollere Verbindung vorstellen als diese? Das Olympische Dorf ist in einer Gegend errichtet worden, in der junge Menschen den Geist der Disziplin atmen: unweit eines großen Übungsgeländes der deutschen Wehrmacht. Die Welt hier und die Welt dort lebt nach den Gesetzen des un-bedingten Gehorsams, sie berühren sich durch die olympische Idee, die das unantastbare Privileg der Jugend ist. … Es wäre ungerecht, in diesem Punkte das erste Olympische Dorf von Los Angeles mit dem zweiten, mit dem von Berlin, zu vergleichen. Über jenem wölbte sich der unendliche Horizont eines unendlich großen Landes; die Sonne von Südkalifornien und die Winde des Meeres sind mit der Silhouette Los Angeles' eine ganz andere, aber nicht minder köstliche Szenerie gewesen. Die Wälder, Hügel und Seen der Mark sind deutsch, der Odem des märkischen Landes ist nun, auf diesem Flecken Erde, eine Weltheimat geworden. … In Los Angeles mag das Zusammenle-ber der olympischen Völkerfamilie noch ein Experiment gewesen ein - vier Jahre später erscheint es als daß sich die Welt das Dorf des Friedens schuf, das ihr die Wehrmacht eines friedliebenden Reiches schenkte ...
Wahrheiten über das „Dorf des Friedens“
und olympische Nachkriegsgeschichte
Schon der Titel des bereits erwähnten Buches über die Geschichte des NOK der BRD hatte eine obskure Fälschung präsentiert, denn es gab keine 75jährige Geschichte – zumindest von 1945 bis 1949 existierte aufgrund ei-nes Befehls der Alliierten der alle Sportorganisationen auflöste, kein „NOK für Deutschland“. Am 20. Juni 1949 – so wieder das Standardwerk - bereiteten unter anderem der Generalsekretär der Spiele von 1936, Carl Diem, und das IOC-Mitglied Herzog von Mecklenburg die Gründung eines „deutschen NOK für den Zeitpunkt vor, an dem Alliierte Hohe Kommission keine demütigenden Einspruch mehr erheben würde.“ Dieser Zeitpunkt schien den an dieser Gründung Beteiligten gekommen, als am 23. September 1949 die Bundesre-publik gegründet worden war. Tags darauf gründete deren Vizekanzlers Blü-cher – was gegen das IOC-Reglement der strikten Trennung von Regierun-gen und Olympischen Komitees verstieß – das „Nationale Olympische Komi-tee für Deutschland“. In einem Nebensatz hatte Scherer erwähnt, dass man „auf die Zustimmung und Mitarbeit der Sportführer der sowjetischen Besat-zungszone“ hoffte und „vom IOC die Anerkennung als verantwortliche olym-
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pische Organisation für alle vier Besatzungszonen“ erwartete. Das war die Geburtsstunde des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruchs im Sport und allein durch die in dem Komitee tätigen Persönlichkeiten auch die „Brü-cke“ zum Vermächtnis der Spiele von 1936.
Dass das IOC bei seiner Tagung vom 7. bis 9. Mai 1951, als es über die Aufnahmeanträge des „NOK für Deutschland“ und des „NOK der Deutschen Demokratischen Republik“ zu befinden hatte, vom bundesdeutschen NOK eine Erklärung forderte, die eine deutliche Distanzierung von der Nazivergan-genheit und damit auch vom Missbrauch der Spiele verlangte, wurde eben-falls nirgends erwähnt. Sie lautete: „Die deutsche Sportjugend missbilligt die von den Verbrechern des Naziregimes begangenen Grausamkeiten, die fast in aller Welt soviel Leid verursacht haben. Sie drückt an dieser Stelle ihr tie-fes Bedauern aus. Sie hofft, sich bald mit der Sportjugend der ganzen Welt verbinden zu können, um den Beweis ihres Willens für die Herstellung des Friedens zu arbeiten – das Endziel der Bemühungen des Wohltäters der Menschheit, des Barons de Coubertin – zu erbringen.“
Der üble Missbrauch der Berliner Spiele war zwar mit keiner Silbe erwähnt worden, aber der Hinweis auf Coubertin schien dem IOC zu genügen - das NOK der BRD wurde vom IOC anerkannt.
Und sehr bald wurde noch deutlicher, wie man in der BRD tatsächlich zu Olympia 1936 und den dafür Verantwortlichen stand. Mit Ritter von Halt wur-de nicht nur ein Mitglied des Organisationskomitees der Spiele von 1936, sondern auch der letzte „Reichssportführer“ am 6. Januar 1951 zum Präsi-denten des NOK der BRD gewählt!
Er gehörte zu denen, die nicht nur über das „Dorf des Friedens“ besser im Bilde war, als diejenigen, denen man die Broschüre zu lesen gegeben hatte.
So auch über das tragische Schicksal des Bürgermeisters des Olympi-schen Dorfes, Hauptmann Wolfgang Fürstner. Fast sechs Jahrzehnte nach der Gründung des NOK vergingen, ehe man sich wenigstens aufraffte, auf dem Berliner Invalidenfriedhof eine steinerne Platte über sein Grab zu sen-ken, die die hintergründige Inschrift trug: „Freitod als Ergebnis politischer Ver-folgung“.
Die Tatsachen: Wolfgang Fürstner war im Rang eines Hauptmanns zum Chef des Olympischen Dorfes kommandiert worden – nicht zuletzt als eine irreführende Geste gegenüber den USA, wo man lange gezögert hatte, eine Teilnahmemeldung zu den Spielen in Nazideutschland abzugeben. Eines der Bedenken breiter Kreise in den USA galt den Judenverfolgungen in Deutsch-land. Als Fürstner die Leitung des Dorfes übernahm, ließ man die USA wis-sen, dass er ein Halbjude sei. Kaum hatten die USA ihre Meldung abgeben, wurde ein Oberstleutnant von und zu Gilsa zum Dorfbürgermeister bestellt und Fürstner fungierte fortan nur noch als Stellvertreter. Als die USA-Mannschaft eintraf und das IOC-Mitglied McGarland zum amerikanischen Quartier geführt wurde, beorderte man demonstrativ Fürstner, den Gast durch das Dorf zu führen. Kurz darauf wurde Fürstner informiert, dass er
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nach den Spielen – und der Abreise der USA-Mannschaft – entlassen würde. Am 16. August endeten die Spiele am 19. erschoss sich Fürstner.
Die Nachricht muss damals weltweit Aufsehen erregt haben, denn die deutsche Botschaft in Tokio funkte den Wortlaut einer Nachricht, die in der weit verbreiteten Zeitung „Yomiuri Shimbun“ vom 28. August 1936 nach Ber-lin. Wortlaut: „Der `Schulze´ des Olympischen Dorfes in Berlin, Hauptmann Wolfgang Fürstner hat sich einige Tage nach dem glücklichen Ende der Olympischen Spiele das Leben genommen. Die Polizei hat zwar bekanntge-geben, dass er diese Tat aus Nervenschwäche, die er sich durch Übermü-dung zugezogen hatte, begangen habe. In Wirklichkeit aber ist er ein Opfer des brutalen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Da er Jude war, hat man an augenfälligen Plätzen im Olympischen Dorf Plakate mit den Worten: Nie-der mit dem Juden Fürstner! Angeklebt. Auch hat man ihm während der Olympischen Spiele seines Bürgermeisteramtes enthoben und ihm zum stell-vertretenden Bürgermeister des Olympischen Dorfes ernannt. Die japani-schen Kämpfer, die ihn persönlich kennen, werden seinen Tod tief bedauern.
Der Oberstleutnant von und zu Gilsa überlebte die olympischen Tage. Ge-gen Ende des Krieges berief man ihn zum „Kampfkommandanten" von Dres-den, damit er die Kunststadt als „Festung" bis zur letzten Patrone zu vertei-digt! Dass inzwischen bundesdeutsche Historiker „aufgeklärt“ haben, der Freitod Fürstners sei anderen Motive zuzuschreiben, kann nicht überraschen.
Guernica und das „Sudetenland“
Eine Formulierung in der Broschüre hätte schon damals zu denken kön-nen: „Der Wunsch des Führers und Reichskanzlers …, der der Schirmherr der XI. Olympiade ist, daß die Wehrmacht des Reiches diese olympische Stätte erbauen und betreuen sollte, kam ihrem eigenen Wunsche nach der tätigen Hilfe bei der Organisation der Weltspiele entgegen, und so hat der Mann, der das Banner des Friedens der deutschen Nation voranträgt, mit ei-ner genialen Anordnung die Jugend aus mehr als fünfzig Nationen als die Gäste der jungen, sportlichen deutschen Wehrmacht eingeladen, die in ihrem Geist und in ihrer Haltung ein Heer des Friedens ist.
Kann man sich, in der Tat, eine sinnvollere Verbindung vorstellen als die-se? Das Olympische Dorf ist in einer Gegend errichtet worden, in der junge Menschen den Geist der Disziplin atmen: unweit eines großen Übungsgelän-des der deutschen Wehrmacht. Die Welt hier und die Welt dort lebt nach den Gesetzen des unbedingten Gehorsams, sie berühren sich durch die olympi-sche Idee, die das unantastbare Privileg der Jugend ist.“
Der unüberlesbare Hinweis auf den Vergleich zwischen Olympia und einem faschistischen Truppenübungsplatz kann kaum nur als versteckter Hinweis auf Hitlers Pläne gedeutet werden.
Und tatsächlich wurde unter dem als Tarnung dienenden Flaggenwald vor den Toren des Dorfs des Friedens, ein mörderischer Krieg vorbereitet!
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Werner Beumelburg hat in seinem 1939 in der Verlagsbuchhandlung Gerhard Stalling (Oldenburg i. O./Berlin) erschienenen Buch „Kampf um Spa-nien - Die Geschichte der Legion Condor" auf Seite 22 Nazipolitik mit den Worten gepriesen: „Am 26. Juli 1936 empfing der Führer Adolf Hitler in Bay-reuth, wo er alljährlich zu den Wagnerfestspielen weilte, eine von General Franco aus Tetuan abgesandte Delegation, die aus zwei in Spanisch--Marokko lebenden Deutschen und einem spanischen Offizier bestand. Die Delegation übermittelte das dringende Ersuchen Francos, das Deutsche Reich möge ihm eine Anzahl von Transportflugzeugen zur Verfügung stellen, damit er seine marokkanische Fremdenlegion und die eingeborenen marok-kanischen Truppen auf das spanische Festland bringen könne ... Der Führer entschied am gleichen Tag ... daß dem Ersuchen Francos unverzüglich zu entsprechen sei ... in der ersten Besprechung wurde die ,Hispano-Marokkanische-Transport AG TetuanSevilla' gegründet, die schon in den nächsten Tagen ihre ersten Maschinen starten ließ, welche sie von der Luft-hansa mitsamt dem Personal übernahm. Gleichzeitig wurde eine merkwürdi-ge `Reisegesellschaft Union' ins Leben gerufen, die sich der Führung des Majors Alexander von Scheele alsbald in Döberitz zu versammeln begann ... Am 31. Juli 1936 verabschiedete der Staatssekretär der Luftfahrt, General der Flieger Milch in Döberitz jene schon erwähnte `Reisegesellschaft Union´. Die deutsche Hilfe, sprach er, werde auf Befehl des Führers dem nationalen Spanien gebracht ... Die Augen der Freiwilligen leuchteten. Sie waren von seltsamen Gefühlen beherrscht, als sie nachmittags in ihren neuen Zivilklei-dern mit Autobussen durch Berlin fuhren und sich auf denn Lehrter Bahnhof versammelten, wo ein Schild `Reisegesellschaft Union' sie am Zug zusam-menrief. Ihr gutgelaunter und in fremden Kriegen reich bewanderter Anführer Major von der Scheele brachte sie in Hamburg auf den Dampfer ,Usaramo', wo zunächst einige Auseinandersetzungen mit der Schiffsbesatzung stattfan-den, ob man die erste oder die dritte Schiffsklasse benutzen solle. Das Schiff war bis zum Rand der Ladeluken mit Flugzeugen, Bomben, Flakgeschützen und allem Zubehörbeladen. In der Nacht zum 1. August ging die ,Usuramo' in See."
Wohlgemerkt: Der Aufbruch der „Legion Condor", die Francos faschisti-schem Regime in den Sattel half und den über 300 Tote fordernden Luftan-griff auf die ahnungslose spanische Stadt Guernica 1937 ausführte, geschah nicht irgendwo oder irgendwann, sondern vor den Pforten des „Dorfs des Friedens" im Hof einer dem Dorf gegenüberliegenden Kaserne und konnte so gut getarnt werden, weil es mit Omnibussen geschah, die täglich Olympiateil-nehmer vom Lehrter Bahnhof abholte und ins „Dorf des Friedens“ brachte.
An dem Tag, an dem die „Usaramo" den „Kanal“ erreicht hatte, eröffnete Hitler die XI. Olympischen Sommerspiele und ließ die Welt glauben, dies sei eine Geste des Deutschen Reichs zum Frieden und zur Olympischen Idee!
Doch damit erschöpfen sich die Aktivitäten der in und um des „Dorfs des Friedens“ Tätigen nicht. Ranghöchster Offizier in Döberitz war Ernst Busch, der 1935 zum Generalmajor und Kommandeur der 23. Infanterie-Division in
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Potsdam ernannt worden, dem auch das Dorf unterstand und der demzufolge auch zum Organisationskomitee der Spiele gehörte. Drei Jahre später wurde er zum General der Infanterie des VIII. Korps in Breslau befördert, das zuerst im Sudeteneinmarsch 1938 eingesetzt war. Man bedenke: Ein Mitglied des Organisationskomitees der Spiele, das auch die tschechoslowakische Mann-schaft herzlich im `Dorf des Friedens´ begrüßt hatte, kommandierte wenige Monate später den Einmarsch in dieses Land!
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UMFRAGEN ZUM OLYMPISCHEN AUFSTIEG DER DDR
Dokumentation
Die Teilnahme der DDR an den Olympischen Spielen in München 1972 – mit eigener Mannschaft, Flagge und Hymne – hatte die zuständigen Instan-zen der BRD damals veranlasst, zahlreiche Meinungsumfragen in die Wege zu leiten, was erkennen ließ, wie diese Tatsache die Gemüter der bundes-deutschen Politiker beschäftigte. Heute erinnern nicht einmal Historiker mehr an diese Aktivitäten. Wir hielten es deshalb für dienlich, einen Beitrag des vom bundesdeutschen „Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen“ in Zusam-menarbeit mit einem Verlag herausgegebenen „Deutschland-Archiv“ aus dem Jahr 1974 zu veröffentlichen, der erkennen ließ, welche Rolle die sportlichen Erfolge der DDR spielte in der bundesdeutschen Politik spiel-ten.(DEUTSCHLANDARCHIV, 2/74):
Vielleicht, mehr noch als die Verhandlungen bezüglich eines „Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik'', der am 8. No-vember 1972 in Bonn von den Staatssekretären Bahr (Bundesrepublik) und Kohl (DDR) paraphiert wurde, dürften die Spiele der XX. Olympiade 1972 in München der bundesdeutschen Öffentlichkeit mit aller Deutlichkeit zu Be-wusstsein gebracht haben, dass die DDR der andere deutschen Staat – dem diese de-facto-Anerkennung, die viele Staaten, darunter die Bundesrepublik de jure noch immer nicht vollzogen haben, lange verweigert worden war - nunmehr tatsächlich als eigener Staat anzusehen sei.
Zum ersten Mal bei Olympischen Spielen präsentierte die DDR eine eigene Nationalmannschaft mit allen Symbolen staatlicher Eigenständigkeit. Wer dies mit solcher Selbstverständlichkeit und Sicherheit vor den Augen der ganzen Welt tut und darüber hinaus mit überragenden Erfolgen seine Athle-ten dafür sorgt, dass diese Symbole auch recht oft zur Geltung kommen ... der darf davon überzeugt sein, dass dies seine angezielte Wirkung, die in na-tionale und staatliche Repräsentanz nach außen und die Integration durch Identifikation im Innern nicht verfehlt ... Es kann lückenlos aufgezeigt werden, über welche Etappen der Weg der DDR im internationalen Sport zum Ziel führte. Weniger bekannt war und ist, welche Meinungen und Ansichten die Bevölkerung der Bundesrepublik zu diesen Problemen vertrat. Solange be-deutsame erfolge von DDR-Sportlern noch in der Minderzahl waren, lag kein Grund zur „Beunruhigung'' und damit zu einer besonderen Diskussion in der Öffentlichkeit vor. Dies begann sich Mitte der 60er Jahre zu dem Zeitpunkt zu ändern, als das „Sportwunder DDR'' aufblühte, als die Athleten der DDR sich anschickten, ihre Landsleute aus dem Westen in internationalen Wettkämp-fen zu übertrumpfen, und als der Sport der DDR sich auch in organisatori-scher Hinsicht international langsam zu konsolidieren vermochte.
Von da an verfolgte die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik die Auseinan-dersetzungen der beiden deutschen Staaten - international als „querelles al-
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lemandes" ein begriff - auf dem sportlichen und sportpolitischen Parkett mit größerem Interesse als zuvor ...
Die schon zu beginn der 50er Jahre einsetzende und nach und nach erfol-gende Aufnahme der nationalen DDR-Sportfachverbände in immer mehr in-ternationale Sportfachverbände gab der Sportführung der DDR auch immer mehr Argumente und dadurch Druckmittel in die hand, gegen die von den Sportfunktionären der Bundesrepublik gewünschte gesamtdeutsche Mann-schaft bei Olympischen Spielen vorzugehen.
1956, 1960 und 1964 hatte es diese gesamtdeutschen Mannschaften ge-geben, am 8. Oktober 1965 jedoch, auf der 63. Session des IOC in Madrid, erhielt das NOK der DDR die Berechtigung zur Entsendung einer eigenen Mannschaft zu allen kommenden Spielen. 1968 in Mexiko zwar noch unter der „gesamtdeutschen“ schwarzrot-goldenen Olympiaflagge mit den fünf olympischen ringen und der „gesamtdeutschen'' Beethoven-Hymne „an die Freude", doch ebendort wurde dem DDR-Sport die künftige absolute olympi-sche Gleichberechtigung zugesprochen, die – pikanterweise - 1972 in Mün-chen zum erstenmal voll zum Tragen kam.
Kurz nach dem IOC-Verdikt am 8. Oktober 1965 in Madrid über die ge-samtdeutsche Mannschaft, jedoch noch vor der Bewerbung Münchens für 1972, versuchte INFAS, Informationsstand und Einstellung der Bevölkerung der Bundesrepublik mit folgenden Fragen zu ermitteln:
„Wissen Sie, wie Deutschland bei den kommenden Olympischen Spielen vertreten sein wird? gibt es eine gesamtdeutsche Mannschaft oder stellen die Bundesrepublik und die Ostzone zwei getrennte Mannschaften?“
Rund zwei Drittel der Bevölkerung (64 Prozent) kannten die Entscheidung von Madrid, jeder zehnte (11 Prozent) aber glaubte noch an die Gemeinsam-keit.
Von denen, die vorgaben, am Sport interessiert zu sein, wussten fast drei viertel (73 Prozent) bescheid, von den nichtinteressierten zeigte sich immer-hin noch gut die Hälfte (55 Prozent) informiert.
Anhand der nächsten Frage sollte die Wertung dieses neuen Faktums festgestellt werden:
„Erstmals werden bei den nächsten Olympischen Spielen eine ostdeutsche und eine westdeutsche Mannschaft vertreten sein. Halten sie diese Entwick-lung für sehr schlimm, für weniger schlimm oder ist das letzten Endes ohne Bedeutung?“
Wenn auch die tendenziöse und bis zu einem gewissen Grad suggestive Formulierung dieser Frage es zweifelhaft erscheinen lässt, ein abgewogenes Meinungsbild zu gewinnen, so ist dennoch angesichts der unvermindert hart-näckigen Bemühungen der westdeutschen Sportführung um eine gesamt-deutsche Mannschaft das Votum der befragten bemerkenswert. Während deutlich weniger als die Hälfte (43 Prozent) dies „sehr schlimm" (33 Prozent) oder sogar „ohne Bedeutung“ (11 Prozent) sei. 13 Prozent machten keine Angabe ...
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Am 26. April 1966 in Rom, im Verlauf der 64. Session der IOC - waren die olympischen Spiele 1972 gegen die Konkurrenz aus Detroit, Montreal und Madrid nach München vergeben worden. Neben den Angriffen gegen Mün-chen selbst (Sitz von Emigrantenorganisationen, Stationierung der amerika-nischen Sender Radio liberty und Radio Free Europe, unmittelbare Nähe von Dachau, Abkommen von 1938) war es vor allem die von der Bundesregie-rung noch ungelöste Frage von Hymne, Flagge und Emblemen der DDR, die in der Kampagne der sozialistischen länder gegen München und gegen die Bundesrepublik hochgespielt wurde. Im November/Dezember 1966 stellte INFAS einer repräsentativen Auswahl von Bundesbürgern folgende frage:
„Wie Sie wissen, finden 1972 die Olympischen Spiele in München statt. Wenn dann Ostdeutschland darauf besteht, die eigene Fahne zu zeigen und die eigene Hymne zu spielen, soll die Bundesrepublik die ostdeutschen Sportler trotzdem hereinlassen?“
Die Einstellung der Bevölkerung konnte wiederum als Fingerzeig verstan-den werden, nur 18 Prozent waren unter den angegebenen Umständen da-gegen, DDR-Sportler nach München kommen zu lassen, angesichts der in einer nachhakenden Frage aufgeworfenen Perspektive („auch auf die Gefahr hin, dass dann die Olympiade nicht in München stattfindet?), rückten 6 Pro-zent von ihrem nein ab, so dass schließlich nur etwa jeder zehnte Bundes-bürger unerbittlich Hammer und Zirkel im Ährenkranz samt Becherhymne von westdeutschem Boden verbannt wissen wollte und bereit war, dafür ein scheitern der Olympischen Spiele in Kauf zu nehmen. Zwei Drittel (67 Pro-zent) jedoch hatten nichts dagegen, die Ostdeutschen mit ihren Staatssymbo-len hereinzulassen.
Die Frage, die jetzt noch übrig blieb, war die, wie viel stärker die DDR in München sein würde als die Bundesrepublik, denn wenn man eines inzwi-schen auch im westdeutschen Staat und Sport begriffen hatte, dann dies, dass man das nationale Ansehen mittels sportlicher Erfolge nur verbessern kann und dass man, um die DDR nicht zu rasch im internationalen Ansehen steigen zu lassen, sportlich nicht zu sehr den Anschluss verlieren durfte.
Die Sportpublizistik hatte schon seit etlichen Jahren (und sie tut dies heute noch) die Orientierung des westdeutschen Sports am Leistungsstandard des DDR-Sports in den Vordergrund gestellt, was dazu führte, dass keine Konkur-renz mehr gefürchtet wurde als die, des anderen deutschen Staates.
Wenn etwas für „unsere Sportler“ getan werden musste, dann deshalb, damit die DDR „uns“ nicht übertrumpfte. Eine Frage von Allensbach im April 1972 lautete denn auch:
„Liegt ihnen persönlich daran, dass unsere Sportler bei den Olympischen spielen gut abschneiden?"
Mehr als die Hälfte (54 Prozent) lag „viel“ und einem weiteren Viertel (25 Prozent) lag „etwas“ an dem guten Abschneiden „unserer Sportler" (diese Formulierung selbst weist tendenziell auf die auf Integration und Identifikation abzielenden Bemühungen hin), jedem Fünften (21 Prozent) war das „egal“...
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Die konkreten Fragen stellte emnid in zwei Untersuchungen im Juni/Juli 1971 (also ein Jahr vor den Spielen von München) und im Februar/März 1972 direkt nach den Winterspielen von Sapporo/Japan.
„Welches Land wird die meisten Medaillen gewinnen?" (Mehrfachnennun-gen waren erlaubt). Erwartungsgemäß rangierten die großen Favoriten UdSSR (74 Prozent) und USA (73 Prozent) mit sicherem Abstand an der Spitze. Doch schon an dritter Stelle platzierte sich die DDR mit 48 Prozent, womit sie die Bundesrepublik deutlich auf den vierten Rang (19 Prozent) ver-wies.
„Wird die Bundesrepublik Deutschland oder wird die DDR mehr Medaillen erringen“?, dieses „Problem'' hatte nicht nur die Sportfunktionäre beschäftigt, hielten 1971 45 Prozent der Befragten die DDR und 25 Prozent die Bundes-republik für stärker, so waren es im Februar/März 1972 schon 63 Prozent, die die DDR favorisierten. (Nur 16 Prozent die Bundesrepublik). sicher hatte hier die frische Erinnerung an die Erfolge Der DDR in Sapporo diese Meinungs-änderung mitbewirkt: zu recht, wie sich herausstellen sollte. Die DDR errang in München 66 Medaillen, die Bundesrepublik 40 …
Die durchschnittlichen 63 Prozent, die die DDR in Front gesehen hatten, sollten ihre Meinung begründen.
„Warum wird ihrer Meinung nach die DDR mehr Medaillen erhalten?“
Drei Antwortmöglichkeiten waren vorgegeben. Erwartungsgemäß ent-schied sich nur eine verschwindend kleine Minderheit von 6 Prozent für das von den sozialistischen Staaten propagierte ideologische Argument:
„Weil das der Ausdruck der Überlegenheit des kommunistischen Systems über die Demokratie westlicher Art ist."
(Hier ist eine Unterbrechung der Meinungsforscher unumgänglich: Nie-mand hätte die angeblich von den sozialistischen Staaten verbreitete „Lo-sung“ mit einer Quelle belegen können!)
Diese Begründung hat im Westen keine Chance anzukommen. Eher wäre vorstellbar, dass im gegebenen falle die Meinung vertreten würde, große sportliche Erfolge des Westens seien der Ausdruck der Überlegenheit des demokratischen über das kommunistische System.
Die beiden anderen hierzulande gängigen Argumente, dass nämlich drü-ben „der Staat mehr für den Sportler tut“ und dass „die Menschen in der DDR von Jugend an systematisch auf sportliche Höchstleistungen hingelenkt wer-den“, trafen dann auch annähernd gleichwertig (58 Prozent gegen 54 Pro-zent) auf die Zustimmung derer, die die DDR auf sportlichem Sektor höher einstuften ...
Noch während bzw. kurz nach den Spielen befragte Allensbach im Auftra-ge der illustrierten „stern“ einen repräsentativen Querschnitt der westdeut-schen Bevölkerung. Vier von fünf Fragen betrafen die DDR. Zunächst aber äußerten sich 62 Prozent zufrieden, 23 Prozent unzufrieden und 15 Prozent unentschieden über das Abschneiden der Mannschaft der Bundesrepublik. Gemessen an der Auffassung vom April 1972, wo 42 Prozent glaubten, es würde „bei uns nicht genug getan, damit unsere Sportler gut abschneiden",
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mussten sich etliche der Pessimisten auf die Seite der Zufriedenen geschla-gen haben. Zufrieden zeigten sich im grossen und ganzen auch die Sport-funktionäre und Politiker in ihren Stellungnahmen und Kommentaren nach den Spielen.
So manches Wort war vor den Spielen gefallen, und so manche Mutma-ßung darüber angestellt worden, wie wohl die Bevölkerung der Bundesrepub-lik den Landsleuten aus der DDR entgegentreten, ihre Erfolge und Misserfol-ge aufnehmen würde. War ein feindliches „Gegeneinander“, war ein geregel-tes „Nebeneinander“ oder war gar ein brüderlich-olympisches „Miteinander“ zu erwarten?
Die Zuschauer in den olympischen Wettkampfstätten erzeugten in einer gegenüber der eigenen Mannschaft keineswegs unengagierten Haltung demnach eine absolut faire und kosmopolitische Atmosphäre, die als Stim-mung speziell gegenüber der DDR vielleicht zwischen nebeneinander und miteinander anzusiedeln wäre ...
Eine gewisse Bestätigung dafür lässt sich aus den Antworten auf die frage: „Freuen Sie sich über die zahlreichen Medaillengewinne der Mannschaft der DDR oder ärgert sie das oder ist es Ihnen gleichgültig?" ablesen, denn mehr als die Hälfte (54 Prozent) der von Allensbach Befragten „freute sich“ dar-über, nur jeder Zehnte (12 Prozent) „ärgerte sich“, einem Drittel (34 Prozent) blieb dies „gleichgültig ...
In Kommentaren der Massenmedien war öfter die Ansicht zu vernehmen, dass die politische Führung der Bundesrepublik die hohe Investition „Olympi-sche Spiele in München“ nicht zuletzt deshalb getätigt habe, um nicht nur sich selber, sondern auch der DDR eine Möglichkeit zur Präsentation zu ge-ben … wenn (laut Allensbach), im September 1972 direkt nach den Spielen sich 53 Prozent der westdeutschen Bevölkerung (doppelt soviel wie vier Jah-re zuvor) für eine Anerkennung der DDR als Staat aussprachen (38 Prozent dagegen), dann mögen zu dieser „Normalisierung“ des innerdeutschen Ver-hältnisses die sportlichen Erfolg der DDR in den letzten Jahren etwas beige-tragen haben. für die internationale Aufwertung der DDR war der Beitrag ge-wiss erheblicher.
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EIN KAPITEL GESCHICHTE DER VIERSCHANZENTOURNEE
Von Klaus Huhn
Am Neujahrstag 1953 fand in Garmisch-Partenkirchen der erste Sprunglauf der Vierschanzentournee statt. Gewonnen wurde er vom Norweger Doel-plads. Nach dem letzten Springen in Bischofshofen musste er sich mit dem dritten Rang begnügen, Gesamtsieger war der Österreicher Sepp Bradl ge-worden. Am 6. Januar 1958 errang Helmut Recknagel den ersten DDR-Gesamtsieg, den er im Jahr darauf wiederholen konnte.
Vor fünfzig Jahren – in Oberstdorf begann die 11. Tournee – reiste die DDR-Mannschaft ins Allgäu, obwohl der bundesdeutsche Sportbund nach der Errichtung der Grenze den Sportverkehr mit der DDR zwar abgebrochen hat-te, diesen Abbruch aber nicht für internationale Veranstaltungen gelten las-sen wollte.
Hier ein Augenzeugenbericht vom 28. Dezember 1962: Am Freitagvormit-tag begann das Trainingsspringen kurz nach 10 Uhr, und entsprechend der Vereinbarung zwischen den Veranstaltern und der DDR-Mannschaftsleitung durften die DDR-Springer zwei Sprünge absolvieren, weil sie am Vortag erst nach Schluss des Trainings eingetroffen waren. Helmut Recknagel imponier-te mit zwei stilistisch gelungenen Sprüngen, deren zweiter er an der 70-m-Marke landete. Während die Springer die Bretter schulterten und zum Mittag-essen zogen, begannen in Oberstdorf hinter verriegelten Türen hitzige Ver-handlungen, die ein Telegramm ausgelöst hatte, das am späten Abend des Vortags in Bonn aufgegeben worden war.
Um die Situation verständlich zu machen, soll der Ablauf exakt chro-nologisch geschildert werden. In der Nacht zum 27. Dezember hatte die Mannschaft im D-Zug Berlin-München die Grenze passiert und war dort un-gewöhnlich höflich und zuvorkommend abgefertigt worden. Die bundesdeut-schen Kontrollbeamten wünschten der Mannschaft sogar Erfolg in Oberstdorf und begnügten sich damit, einige Personalien zu notieren. Gegen 14 Uhr war die Mannschaft in Oberstdorf eingetroffen und wurde dort herzlich begrüßt. Sie war schon nach wenigen Minuten im Besitz ihrer Startnummern für das Training. Die Veranstalter betonten, dass sie die DDR-Springer trotz einiger Medien-Nachrichten über ein Startverbot ausgelost hätten und regelten auch sogleich alle finanziellen Fragen.
Alles schien also in bester Ordnung. Dieses Gefühl wurde noch bestärkt, als am Abend ein bayrischer Regierungsvertreter in Oberstdorf anrief und versicherte, dass dem Start der DDR-Springer nichts im Wege stünde. Man würde allerdings nur die schwarz-rot-goldene Fahne mit den Olympiaringen als Symbol der Gemeinsamkeit hissen. Dagegen wandte niemand etwas ein, und am nächsten Morgen meldeten die bayrischen Morgenzeitungen über-einstimmend, dass Helmut Recknagel starten würde. Der „Allgäuer Anzeiger" berichtete das auf seiner ersten Seite der Freitagausgabe in Fettdruck, und die „Münchener Abendzeitung" widmete diesem Fakt sogar einen großen Kasten auf der Titelseite mit der Überschrift: „Die Sportmauer bröckelt -
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Weltmeister Recknagel springt in Oberstdorf und Garmisch." Auf einer hinte-ren Seite wurde eine Vielzahl von Stimmen dazu zitiert: „Willi Daume, der Präsident des Deutschen Sportbundes und des NOK, sagte in seinem Ur-laubsort Garmisch-Partenkirchen: Die Düsseldorfer Beschlüsse stehen einem Start der DDR-Springer in Oberstdorf und Garmisch nicht entgegen. Es han-delt sich um eine Veranstaltung der FIS (Internationaler Skiverband), und sol-che internationalen Konkurrenzen sind in den Düsseldorfer Beschlüssen aus-drücklich ausgenommen. Allerdings besteht ein Beschluss der Län-derminister, dass DDR-Sportmannschaften in der Bundesrepublik nicht star-ten dürfen. Die Entscheidung liegt beim bayrischen Innenminister in Mün-chen. Ich selbst möchte mich aus dem Fall völlig heraushalten.'
Noch am Donnerstagabend hat Staatssekretär Robert Wehgartner für den in Urlaub befindlichen bayrischen Innenminister Heinrich Junker den Start er-laubt."
In der Nacht tat sich folgendes: Der westdeutsche Ski-Präsident Dr. Heine erhielt ein Telegramm aus Bonn, in dem er aufgefordert wurde, sofort Willi Daume anzurufen. Interessant ist dieser Fakt vor allem für, die Beurteilung der Verbindungen zwischen dem westdeutschen Sport und Bonn ...
Dr. Heine wurde - so erzählte er in Oberstdorf - von Willi Daume informiert, dass der Start nicht gestattet werden dürfe. Dann reiste er nach Oberstdorf. Der Generalsekretär des Deutschen Skiläuferverbandes der DDR, Ludwig Schröder, der die Mannschaft nach Oberstdorf leitete, erklärte sich nicht be-reit, wegen diesen Hinweises auf den Start seiner Springer zu verzichten.
Es kam zu der Konferenz beim Oberstdorfer Bürgermeister und anschlie-ßend zu einer weiteren Besprechung beim Chef der Oberstdorfer Polizei. Der machte aus seinem Bedauern kein Hehl, verwies aber darauf, daß er Befehl erhalten habe, die DDR-Springer notfalls mit Gewalt am Betreten der Schan-ze zu hindern.
Die DDR-Springer kamen vom Mittagessen, legten ihre offiziellen Start-nummern an und zogen zur Schanze. Sie stiegen zum Schanzentisch hinauf und erfuhren dort von einem Polizisten, dass sie die Schanze nicht besteigen dürften. Ein Ordner forderte sie auf, die Schanze wieder zu verlassen.
Helmut Recknagel und seine Mannschaftskameraden weigerten sich und beriefen sich auf das „eiserne Gesetz“ der Skispringer, nie zu Fuß eine Schanze hinabzusteigen- Inzwischen waren sie von zahlreichen Fotografen umringt.
Dann erschien ein Zivilist hinter dem Schanzensprecher, den bis dahin niemand gesehen hatte und den auch niemand kannte. Er ließ wissen, dass er aus Bonn käme und dafür sorgen müsse, dass die DDR-Springer nicht teilnehmen. Eine Aufforderung, selbst zu den noch immer unter dem Schan-zentisch stehenden DDR-Springern zu gehen und ihnen mitzuteilen, dass die Regierung in Bonn ihren Start untersage. Der Angesprochene wies auf seine Halbschuhe und erklärte sich außerstande, sich zu den Springern zu bege-ben. Die Springer weigerten sich, zu ihm zu gehen. Daraufhin gab der Zivilist Order das Tretkommando auf die Schanze zu schicken und sie so zu blockie-
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ren. Die inzwischen die Tribünen füllenden Zuschauer wurden durch den Sprecher informiert, dass der Oberstdorfer Skiklub und der bundesdeutsche Skiverbandes informiert, strikte Weisungen des Bonner Innenministeriums erhalten hätten, den Start der DDR-Springer zu verhindern, was mit einem gellenden Pfeifkonzert kommentiert wurde.
Konfrontiert mit der Erklärung der DDR-Springer, sie würden keinesfalls die Treppe hinabsteigen, telefonierte der Zivilist ewig und gab dann Order das Tretkommando die Schanze zu räumen und den DDR-Springern zu gestatten den Aufsprunghang und den Auslauf auf Skiern hinabzufahren. Das Publikum feierte sie stürmisch.
Der Sprunglauf hatte seine Spannung verloren. Willi Egger, einer der bes-ten Österreicher meinte: „Man steht ganz anders im Auslauf, wenn man weiß, man kämpft gegen Recknagel. Müssen wir das also in Innsbruck nachholen!“
Dazu kam es dann auch noch zu Querelen an der Grenze zwischen der Bundesrepublik und Österreich. Was heute nur mehr wenige wissen: Wer als DDR-Bürger westwärts in ein anderes Land reiste, musste zu dieser Zeit noch einen „Allied Travel Passport“ in Westberlin beantragen, da die drei Westalliierten die DDR als „besetztes Gebiet“ betrachteten, das der „Oberho-heit“ der Alliierten unterlag und die Vorweisung dieser Pässe mit gültigen Vi-sum an den Westgrenzen forderten. Allerdings: Erst wenn jemand im Besitz dieses Passes war, konnte er beim Konsulat des Landes, in das er zu reisen hatte, sein Visum beantragen. Da die DDR nicht bereit war, sich dieser „Oberhoheit“ zu unterwerfen, waren die Grenzkommandos der BRD nicht be-reit DDR-Bürger mit ihrem DDR-Pass die Grenze nach Österreich passieren zu lassen, wohingegen Österreich den DDR-Pass längst anerkannte. So kam es oft genug vor, dass die Springer nach dem Auftakt in Oberstdorf und dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen nach Berlin zurückfahren, von dort den Zug nach Wien nehmen und von dort quer durch ganz Österreich nach Innsbruck reisten, was in zwei Tagen nicht zu schaffen war. Nach jenem von der Bundesregierung erlassenen Startverbot für die DDR-Springer er-zwangen die Österreicher, dass die DDR-Springer zu dem in diesem Jahr zweiten Springen nach Innsbruck die Grenze passieren durften und so kam es dort zu einem dramatischen Duell zwischen dem Weltmeister auf der klei-nen Schanze, dem Norweger Toralf Engan und dem Weltmeister auf der Großschanze, Helmut Recknagel. Engan siegte mit dem neuen Schanzenre-kord von 91 m vor Recknagel.
Von nun an galt generell das Startverbot für die DDR-Springer bei der Tournee, bis der bundesdeutsche Sportbund am 30. Oktober 1965 der Ge-fahr internationaler Isolierung aus dem Weg zu gehen versuchte und den deutsch-deutschen Sportverkehr wieder zuließ. Die Vierschanzen-Tournee war einer der ersten „Tests“ und endete einmal mehr mit derben Reaktionen aus Bonn. Noch immer galt für die Regierung, dass die DDR nicht existierte und sich demzufolge auch der Sport danach zu richten hatte. Eine Kollektion von bundesdeutschen Zeitungskommentaren illustriert die Reaktion Bonns,
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das keine Hemmungen hatte, sich in aller Öffentlichkeit als „Hauptschieds-richter“ aufzuspielen.
„Tagesspiegel“ (6.1.1966): „Gleich die erste größere Sportveranstaltung nach der Wiederaufnahme des gesamtdeutschen Sportverkehrs, das Ski-springen in Oberstdorf und Garmisch, endete für den Deutschen Skiverband mit einem Fehlsprung, bei dem so ziemlich alle Regeln gebrochen wurden, die der Deutsche Sportbund im Einvernehmen mit der Bundesregierung für den gesamtdeutschen Sportverkehr aufgestellt hat. Die Sportler aus Mittel-deutschland wurden in Oberstdorf und Garmisch als `Teilnehmer der DDR´ über den Lautsprecher und den Fernsehschirm ausgepriesen, womit nicht nur ein politischer Faupax begangen sondern auch noch zu einer Begegnung von `Nationalmannschaften´ emporgesteigert wurde ... Eine weitere Panne gab es an der deutsch-österreichischen Grenze, wo die sowjetzonalen Sportler mit Recht aufgehalten wurden, weil sie nicht die nötigen Papiere des Alliierten Reiseamtes für den Grenzübertritt nach Österreich, sondern nur ihren `DDR-Pass' vorweisen konnten. Sie wurden deshalb aus dem Bus geholt. Bin eili-ges Telefongespräch nach Bonn erreichte während des Feiertagsbetriebes im Innenministerium nur den dortigen Sportreferenten, der nun in einsamer Verantwortung die Entscheidung fällte, die sowjetzonalen Springer ohne die vorgeschriebenen Papiere ausreisen zu lassen. Damit schuf er einen bedenk-lichen Präzedenzfall, konnte aber angesichts der entstandenen Situation gar nicht anders handeln, wenn er einen unliebsamen internationalen Skandal vermeiden wollte, der für unpolitische Sportler wie eine sinnlose Bonner Schi-kane aussehen mochte.“
„Die Welt“ (3. 1.1966): „Mit Sprüngen von 88 und 89 Metern gewann Dieter Neuendorf (Brotterode) am Sonntag vor etwa 12 000 Zuschauern auf der Berg-Isel-Schanze in Innsbruck den dritten Wettbewerb der deutsch-österreichischen Vierschanzentournee der Skispringer. Für seine fabelhaft gestandenen Sprünge von 88 und 89 Metern erhielt der mitteldeutsche Ski-springer-Star die Gesamtnote von 225,1. Bis zum letzten Augenblick war es ungewiss, ob die mitteldeutschen Skispringer in Innsbruck überhaupt am Start sein werden. Die Sowjetzonenspringer waren als sie gemeinsam mit den Polen, Jugoslawen und Schweden von Garmisch nach Innsbruck fahren wollten, auf der deutschen Seite der Grenze gestoppt worden, weil ihnen der amerikanische Sichtvermerk zur Ausreise aus der Bundesrepublik fehlte.
Erst nach einer Intervention in Bonn konnten die Mitteldeutschen nach fast dreistündigem Aufenthalt an der Grenze ihre Fahrt nach Innsbruck fortsetzen. Durch diese Verzögerung kamen die schwedischen, jugoslawischen, polni-schen und mitteldeutschen Springer erst zehn Minuten vor Beginn der Veran-staltung in Innsbruck an, wo sie sofort an den Start gehen mussten.“
„Süddeutsche Zeitung“ (2.1.1966): „Der gesamtdeutsche Sportverkehr, vom Deutschen Sportbund am 30. Oktober in Köln beschlossen, ist noch nicht so recht in Schwung gekommen. Schon gar nicht auf Vereinsebene, wie man es erhofft und bezweckt hatte. Die Sowjetzone will als Mannschaft auf-treten, die DDR als selbständigen Staat durch den Sport dokumentieren. Das
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gelang ihr beim zweiten Wettbewerb der Schanzentournee in Garmisch-Partenkirchen durch die politische Arglosigkeit von Dr. Adolf Heine, dem obersten Repräsentanten im Deutschen Ski-Verband. Er ließ sich von den politisch geschulten Zonen-Offiziellen die Bezeichnung DDR für die mittel-deutschen Springer abhandeln. Den Protest der Bundesregierung registrierte man beim DSV zwar mit Bedauern, beherzigte ihn jedoch nicht. In seinem Pressedienst für die kommenden Biathlon-Weltmeistersohaften in Garmisch-Partenkirchen führte er `Ostdeutschland´ unter den Teilnehmern aus dem Ausland auf. Daraufhin zog Bundesinnenminister Paul Lücke seine Schirm-herrschaft für diese Veranstaltung zurück. „Es war ein Versehen“, entschul-digte man sich beim Deutschen Ski-Verband lau für den zweiten Streich wi-der die gesamtdeutsche sportliche Gemeinsamkeit unter Aussohluss politi-scher Ränkespiele der Zonenverbände.“
„Telegraf“ (19. 1. 1966): „Bonn sieht in der Formulierung der Presseveröf-fentlichung des DSV einen eklatanten Verstoß gegen sportliche und politi-sche Gepflogenheiten, nachdem der DSV bereits die Aktiven aus Mittel-deutschland bei der deutsch-österreichischen Vierschanzentournee in Gar-misch-Partenkirohen und Oberstdorf unter der Bezeichnung `DDR´ starten und protokollieren ließ. Das Bundesinnenministerium ist nicht mehr gewillt, die Pressemeldung den DSV als `Gedankenlosigkeit´ hinzunehmen.“
„Frankfurter Allgemeine“ (18. 1. 1966): „Was vor zwei Wochen in Oberst-dorf und Garmisch-Partenkirchen als `Gedankenlosigkeit´ begann, wie der Vorsitzende den Deutschen Ski-Verbandes, Dr. Adolf Heine, die Ansage und Protokollierung `DDR´ bei der Vierschanzentournee zu erklären versuchte, findet hier ihre bedauerliche Fortsetzung. Der Deutsche Sportbund hatte in einer ersten Stellungnahme zu der `Gedankenlosigkeit von Oberstdorf und Garmisch´ `von Folgen´ gesprochen. Auch er wird unglaubwürdig, wenn er als Dachverband das deutschen Sports diese Verantwortungslosigkeit einen deutschen Fachverbandes nicht mit aller Entschiedenheit zurückweist und seinen Stellungnahmen nicht auch den nötigen Nachdruck verleiht.“
„Süddeutsche Zeitung“ (24. 1. 1966): „Der geschäftsführende Vorstand des Deutschen Sportbundes und das Präsidium des NOK für Deutschland erör-terten am Samstag in Frankfurt mit beauftragten Präsidialmitgliedern des Deutschen Ski-Verbandes die Vorfälle, die im Zusammenhang mit zwei Win-tersportveranstaltungen in der Bundesrepublik standen und die zu Protesten der Bundesregierung führten. Zu der Sitzung verlautete vom DSB: `Die Vor-fälle werden bedauert, gemeinsam ist Vorsorge getroffen, dass sie sich nicht wiederholen.´“
„Frankfurter Allgemeine“(6. 1.1966): „Nicht einmal ganze drei Monate nach dem Spruch von Madrid, der die gesamtdeutsche Olympiamannschaft zwar sprengte, ihr jedoch einen Rest von Gemeinsamkeit beließ und damit der Sowjetzone die angestrebte Souveränität verweigerte, exemplifizierte Dr. Adolf Heine, Präsident des Deutschen Ski-Verbandes, wie er sich den ge-samtdeutschen Sportverkehr vorstellt: nicht von Verein zu Verein, wie es der
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Deutsche Sportbund vorgeschlagen hat und wünscht, sondern genau nach dem Geschmack Ost-Berlins, nämlich mit der Nationalmannschaft der DDR...
Ein Sportverband der Bundesrepublik war wieder einmal auf den Trick der Sowjetzone hereingefallen. Der irreparable Schaden vergrößerte sich dann noch, als die mitteldeutschen Springer auf ihrer Fahrt nach Innsbruck an der Grenze angehalten wurden. Was konnte man schließlich anders tun, als die Schlagbäume zu öffnen, um die Fortsetzung der Vierschanzentournee nicht zu gefährden. Die Zonen-Springer und ihre Funktionäre reisten nämlich ohne die notwendigen Papiere des alliierten Reisebüros.... Willi Daume, der so be-harrlich über die Freiheit den Sports wacht, wird nun nicht mehr umhin kön-nen, den Präsidenten der Fachverbände bestimmte gesamtdeutsche Spiel-regeln zu erläutern, wenn er als Gesprächspartner der Regierung jene geach-tete Stellung behalten will, die er sich in den letzten zehn Jahren erworben hat... Willi Daume hat in einer ersten Erklärung von Folgerungen gesprochen. Er wird sie zu ziehen haben; möglicherweise durch die Einrichtung einen ad-ministrativen DSB-Referats.“
WEISUNG DES INNENMINISTERS DER BRD
(Dokumentation)
Abschrift
Der Bundesminister des Innern Bonn, den 25. Juli 1969 Sp 1 – 37o 93o/8 – VS-HfD7 Fernruf 78-5179
Fernschreiben
An die
Innenminister (Senatoren für Inneres)
der Länder
Betr.: Verwendung der Symbole der "DDR” bei internationalen Sportveranstaltungen
I. Das Bundeskabinett hat in seiner Sitzung vom 22. Juli 1969 folgenden Beschluß gefaßt:
1.Die Bundesregierung hat wiederholt ihre Ansicht unter-
strichen, daß der Sport nicht der Politik zu dienen
Sie unterstützt deshalb grundsätzlich den Stand-
punkt, daß bei der Sportveranstaltungen auf das Hissen
von Nationalflaggen, die Verwendung von sonstigen
Staatssymbolen und das Abspielen von Staatshymnen
verzichtet werden sollte.
Die Bundesregierung erwartet daher, daß die deutschen
Veranstalter internationaler Sportbegegnungen auf dem
Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von sich aus
Bestrebungen entgegentretenb, die daraus hinaus laufen,
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-2-
die Sportbegegnungen ohne Rücksicht auf die besonderen
Verhältnisse im geteileten Deutschland für politische
Zwecke auszunutzen.
Sollte es sich gleichwohl nicht erreichen lassen, daß
die Protokollbestimmungen internationaler Sportföde-
rationen entsprechend gestaltet oder angewendet werden
oder wenigstens auf die besonderen Verhältnisse im ge-
teilten Deutschland Rücksicht genommen wird, so wird
die Bundesregierung die Befolgung der ordnungsgmäß
zustande gekommenen interntaionalen Regeln bei der
Durchführung der Veranstaltung nicht behindern. Sie
Stellt für diesen Fall vorsorglich klar, daß die
Einhaltung dieser Regeln und ihre Duldung durch die
Staatlichen Stellen ohne Bedeutung für ihre Politik
Der Nichtanerkennung der “DDR” sind.
2. Der Bundesminister des Innern wird beauftragt,
a) den Innenministern der Länder die Entscheidung
der Bundesregierung zu erläutern und die Landes-
regierungen zu veranlassen, die Bemühungen der
Bundesregierung zu unterstützen und in den Fällen,
für die der Beschluß 1. nicht gilt, auch künftig
nach den bisherigen Grundsätzen zu verfahren;
b) den Deutschen Sportbund von der Entscheidung der
Bundesregierung zu unterrichten.
II. Zur Erläuterung weise ich auf folgendes hin:
1. Die in Ziffer 1 Abs. 2 des Beschlusses ausgesprochene
Erwartung schließt ein, dass sich die Bundesregierung
vorbehält, in geeigntem Einzelfall auf den deutschen
Veranstalter internationaler Sportbegegnungen heranzu-
Treten, damit die besonderen Belange der Bundesrepublik
Deutschland bei der Durchführung dieser Veranstaltungen
Berücksichtigung finden.
2. Bei Sportveranstaltungen, die von dem Beschluß der
Bundesregierung nicht erfaßt werden, gelten die
Zwischen Bund und Ländern am 4.11. 1959 vereinbarten
Richtlinien, won ach das Zeigen der Flagge der “DDR”
Eine Störung der öffentlichen Odnung bedeutet.
Gegen sie ist polizeilich einzuschreiten.
...
Bonn, den 23. Juli 1969
Der Bundeminister des Innern
B e n d a
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DER LEICHTATHLETIK-LÄNDERKAMPF BRD-DDR 1988
Am 19. und 20. Juni 1988 fand der einzige Leichtathletik-Länderkampf zwi-schen der BRD und der DDR in Düsseldorf statt. Er wurde sowohl von den Frauen- als auch von der Männermannschaften bestritten und war von den BRD-Medien einmütig „heruntergespielt“ worden. So schrieb ein großes Blatt schon im Vorfeld: „Antreten zur Abfuhr: Die westdeutschen Leichtathleten haben am Sonntag und Montag in Düsseldorf einen Kampf durchzustehen, der schon vor dem Start deutlich verloren ist. Um das zu sagen, muss man kein Miesmacher sein. Es reicht das Amt des Leistungssportdirektors, des Cheftrainers der Männer oder Frauen, Horst Blattgerste, Paul Schmidt und Wolfgang Thiele sich sind einig: Die Männer und Frauen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) haben in der Gesamtwertung gegen die Mannschaft des Deutschen Verbandes für Leichtathletik (DVfL) der DDR, die in 8 der 38 Disziplinen Weltmeister stellt, nichts zu bestellen.
Bei wohlwollendem Hinsehen werden allerdings hie und da Erfolgslücken erspäht, die am ehesten von den Männern gefüllt werden könnten … Für die Athleten droht es eine Mutprobe, keine Kraftprobe zu werden. Funktionäre und Trainer schätzen die zu erwartende Demütigung als pädagogische Übung unter dem Stichwort: Aufklärungsarbeit. 96 Tage vor der ersten Leichtathletik-Entscheidung bei den Olympischen Sommerspielen sollen die Weltklasse-Athleten aus der DDR den deutschen Nachbarn Orien-tierungshilfe geben. Solche Standortbestimmungen unter verschärftem inter-nationalen Stress sind nach dem westdeutschen Debakel bei den Weltmei-sterschaften 1987 in Rom von den Leichtathleten beschlossen worden. „Wenn wir an die internationale Spitze zurückkehren wollen, müssen wir uns mit der Weltklasse messen", hieß es. Dass die Aufstrebenden dabei vorerst den kürzeren ziehen, kann nur helfen, die Augen zu öffnen. Isolierte Erfolgs-erlebnisse etwa bei deutschen Meisterschaften, wo selbst schwache Leistun-gen Titel bringen, weil es so viele noch schwächere gibt, bringen keinen Fort-schritt. Gute Zeiten und Weiten unter Druck gegen die Besten des Fachs zu liefern - nur so reifen Medaillenchancen.
Die offiziell erwünschte Degradierung könnte moralische Folgen haben. Wer so zusammengestaucht wird, wie es in Düsseldorf zu befürchten ist, rich-tet sich vielleicht nicht so rasch wieder zu voller Größe auf. Dennoch holt sich die sportliche Führung mit der DDR-Auswahl bewusst ein schlechtes Ergeb-nis ins Land. `Wir wollen die Athleten nicht in Watte packen´, sagt Blattgerste. Sie sollen erkennen, wie weit der Weg zur Weltspitze ist. Und das sehen sie am besten an der DDR. Schlimmer als in Düsseldorf kann es in Seoul nicht kommen.“
Die „FAZ“ schlug die gleichen Töne an: „Wenn heute die DDR-Leichtathleten eine Leistungsschau offerieren, brechen Berichterstatter aus der Bundesrepublik zur sportlichen `Wallfahrt´ auf. Aus Bewunderung ist in-zwischen eine Demutshaltung geworden. Das war zu Beginn der fünfziger Jahre noch ganz anders. Die DDR war `tiefste Sport-Provinz´, die man da-
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mals bei den ersten Meisterschaften der Leichtathletik am vorletzten Juli-Wochenende 1950 bei strömendem Regen in Halberstadt besichtigen konnte. Vor allem Athleten der älteren Jahrgänge, die den Zweiten Weltkrieg halb-wegs gesund überstanden hatten, setzten sich in Szene. Der 37 Jahre alte frühere Kugelstoß-Weltrekordhalter Emil Hirschfeld, Ende der zwanziger Jah-re erster 16-Meter-Kugelstoßer der Welt, belegte Rang zwei mit 12,70 Me-tern… Die Hochsprungsiegerin Karsten überquerte 1,50 Meter, die 100-Meter-Siegerin Stäps lief 13,0 Sekunden - es passte alles in den provinziellen Zuschnitt hinein. …
Doch am 25. Juni 1953 stellte Ursula Jurewitz aus Halle in Ost-Berlin einen Weltrekord über 400 Meter in 55,7 Sekunden auf. Er hatte zwar nur inoffiziel-len Charakter, weil diese Strecke noch nicht zum Standardprogramm gehör-te, aber man brauchte eben Federn im DDR-Sport, mit denen man sich schmücken konnte.
Bei. den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne gab es dann durch Christa Stubnick über 100 und 200 Meter sowie durch Gisela Köhler über 80 Meter Hürden und den Leipziger Außenseiter Klaus Richtzenhain die ersten olympischen Medaillen. Offiziell waren sie alle Mitglieder der gesamtdeut-schen Olympiamannschaft. In Tokio 1964 gewann die DDR durch Karin Bal-zer über 80 Meter Hürden dann die erste Goldmedaille. Die DDR löste sich von 1965 an rasch vom alten Niveau, zog vorübergehend mit der Bundesre-publik gleich und bald an ihr vorbei. Bei den Europameisterschaften 1966 in Budapest stellte die DDR schon acht Europameister, die Bundesrepublik zwei. Noch aber stand die Leichtathletik diesseits der Grenze auf breiterem Boden: Die Zahl der Medaillen und der Endkampf-Platzierungen insgesamt war besser. Doch auch das änderte sich. Die Doktrin in der DDR, Spitzen-könner im Sport den kleinen Eliten wie Wissenschaftlern oder Künstlern gleichzustellen, trug immer mehr und bessere Früchte.
Die DDR-Bilder von den Olympischen Spielen 1972 in München gingen um die Welt: Wolfgang Nordwig, Olympiasieger im Stabhochsprung; Renate Ste-cher, Olympiasiegerin über 100 und 200 Meter; Monika Zehrt, Olympiasiege-rin über 100 Meter Hürden in Weltrekordzeit; Peter Frenkel, Olympiasieger im 20 km Gehen; und die 4 x 400-m-Staffel der Frauen - Olympiasieger aus der DDR. Der Sturmlauf der DDR-Spitzenkönner in den siebziger und achtziger Jahren ist bekannt. Wenn es heute um Höchstleistungen im Laufen, Springen oder Werfen geht - die Asse der DDR sind dabei oder stehen wenigstens nicht weit entfernt. Talentsichtung und Talentförderung sind dank des elitären Förderungssystems auf den (Höhe-) Punkt gebracht. Und es sieht so aus, als sei man damit den anderen zumindest sportlich meilenweit voraus. So weit jedenfalls, dass eine Veränderung in nächster Zeit kaum vorstellbar ist.“
Er stellte sich auch bei jenem Länderkampf nicht ein. Die Bundesrepublik musste die bitterste Niederlage ihrer Leichathletik-Länderkampf-Geschichte hinnehmen: 151,5: 250,5!
Es waren zwei Schlechtwetter-Tage, die damit zum vorolympischen Härte-test wurden und die pessimistischen BRD-Voraussagen sorgten obendrein
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dafür, dass die Zuschauerränge fast leer blieben und erfüllten sich dann auch bei den Resultaten. Der erste Tag sorgte dafür, dass das Interesse am zwei-ten Tag noch nachließ: In den zehn Frauen-Disziplinen errang die DDR zehn Siege, darunter fünf Doppelsiege, die Männer kamen am ersten Tag auf vier Doppelsiege und vier „Einzel“-Erfolge! Damit waren alle Würfel gefallen!
Der 99-Punkte-Vorsprung kennzeichnete, dass die BRD bei dem „provinzi-ellen Zuschnitt“ angelangt war, mit dem die DDR in Halberstadt begonnen hatte…
Die Frauen dominierten mit 119,5:59,5 Punkten, und die Männer fügten ein überzeugendes 131:92 hinzu.
Sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern gab es dennoch eine Serie guter Leistungen, die ebenfalls vor allem auf das Konto der DDR-Aufgebote gingen. 19 Resultate waren gut genug, um unter den .ersten zehn der derzeitigen Weltjahresbestenlisten eingetragen zu werden - zwölf davon gingen auf das Konto der DDR-Frauen.
Es sei am Rande angefügt, dass sich bundesdeutsche Medien vergeblich mühten, die sportliche Atmosphäre zu vergiften. Sie wollten die Tatsache, dass die BRD den Ex-DDR-Kugelstoßmeister Schmidt aufgeboten hatte für einen kleinen DDR-Feldzug nutzen. Der Kölner „Express" bezeichnete die Affäre treffend einen Versuch, „den kalten Krieg zu schüren". Es blieb beim Versuch – beim Ungültigen.
Wäre noch zu erwähnen, dass Heike Drechsler mit 21,94 s für eine neue Jahresweltbestleistung über 200 m sorgte. Sie „entthronte“ niemanden, denn sie hielt auch die alte Bestleistung mit 21,99 s. Es sei auch nicht unterschla-gen, dass die Gastgeberinnen durch Heike Redetzky ihren einzigen Sieg fei-erten und den deutlich – mit zehn Zentimetern Vorsprung!
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EINE ERINNERUNG AN DIE FRIEDENSFAHRT
VON KLAUS ULLRICH
Im kommenden Mai ist es 65 Jahre her, dass in Warschau und Prag die ersten Friedensfahrten gestartet worden waren. Für die Teilnehmer aus nahezu 40 Ländern waren die Siegerehrungen oft stimmungsvolle Höhepunkte, bei denen auch zuweilen berühmte Künstler auftraten. Un-sere Episode erinnert daran.
Für mich als langjähriger Directeur der Friedensfahrt galt oft im Hinblick auf die Siegerehrung: Ruf einen Schauspieler an oder schreib ihm einen Brief, frag ihn, ob er sich die Zeit nehmen könne, am - sagen wir - Donnerstag, dem 22., gegen 18 Uhr, zur festlichen Eröffnung des Kongresses der Gesellschaft XYZ zu rezitieren. Er wird sicher in seinem Terminkalender blättern, wird - wenn er am Telefon ist - vielleicht noch einmal rückfragen: „Bitte schön, was war das gleich für eine Gesellschaft“, um dann, nebenbei das Honorar erkun-dend, halb und halb zuzusagen und vor allem aber die rechtzeitige Zusen-dung des Textes, den er vortragen soll, zu erbitten.
Die Friedensfahrt hatte meist kaum derlei Sorgen. Feierliche Eröffnungen und festliche Siegerehrungen forderten nun mal einen würdigen Rahmen. Zwei DDR-Nationalpreisträger waren es vor allem, die immer, wenn die Frie-densfahrt sie bat, ohne zu zaudern kamen: Harry Hindemith und Horst Drin-da. Dabei war Drinda das erste Mal auf recht ungewöhnliche Weise „enga-giert“ worden...
Als die Fahrt des Jahres 1963 - die Jubelfahrt Klaus Amplers - schon rollte, kabelte der Regisseur der Abschlusssiegerehrung in Berlin plötzlich ratlos nach Brno: „Rezitation im Programm noch immer ungeklärt Stopp“. Ich ent-schloß mich, Horst Drinda zu bitten, suchte mir noch am selben Abend seine Privatnummer und ließ mich noch nachts mit ihm verbinden. Nach einigen Entschuldigungen für die ungewöhnliche Störung kam die entscheidende Frage, ob es ihm möglich sei, am Nachmittag des 22. Mai in der Sporthalle an der Karl-Marx-Allee zu rezitieren.
Der gefeierte „Hamlet“ des Deutschen Theaters war längst nicht so ver-blüfft, wie ich befürchtet hatte. Seine Stimme ließ Begeisterung ahnen, der Spielplan, den er gleich zur Hand nahm, verriet, dass er an jenem Abend um 18 Uhr zur „Wilhelm-Tell“-Aufführung im Deutschen Theater sein musste, und sagte dennoch zu. Alles schien in bester Ordnung, als mich Drinda sechs Stunden vor der Siegerehrung noch einmal in unserem „Hauptquartier“ dem Berliner Gästehaus der Gewerkschaften anrief : „Ich bekam den Text sehr spät – aber vor allem gefällt er mir nicht sonderlich.“
Meine Antwort des Friedensfahrtdirektors war zunächst Schweigen. Fragte ich ihn halblaut: „Und nun?“
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„Ich habe mich hingesetzt und einen anderen Text geschrieben. Kann nicht mal jemand herkommen und beide miteinander vergleichen?“ Ich nahm mir die Zeit, um nach Niederschönhausen zu fahren. Ich traf den Schauspieler in der Badehose an seiner Schreibmaschine hockend und eben die letzten Wor-te tippend. Ich las beide Texte und gab zu, dass ich seinen für besser hielt.
Das war er, den er am Nachmittag vortrug:
Noch klingt in den Ohren
das Singen der Reifen,
das Jubelgeschrei vom Rande der Straßen.
Noch brennt auf der Haut
der Staub und der Regen,
der Wind und die Sonne der Strecke.
Noch sind in den Köpfen
die Bilder der Fahrt,
die Freuden und Schmerzen
jedes einzelnen Kilometers.
Die Fahrt ist zu Ende.
Nein.
Nur ein Teil.
Die Fahrt für den Frieden geht weiter.
Die weiße Taube fliegt weiter.
Vorbei an jubelnden Menschen,
die diese Fahrt feiern, weil sie Friedensfahrt heißt,
die diese Fahrer lieben, weil sie sich Friedensfahrer nennen.
Die Fahrt geht weiter über die Straßen.
Über Straßen, an denen wir wohnen.
Wir - Millionen von Menschen.
Wir kommen aus unseren Fabriken.
Wir kommen von unserem Tagwerk.
Wir kommen von unseren Feldern.
Wir kommen festlich geschmückt
und schmücken auch unsere Straße festlich
für Euch. Für die Sache des Friedens, die mit Euch fährt.
Wir bewundern Euren Kampf.
Eure Klugheit im Kampf,
Eure Kraft,
Die Strenge gegen Euch selbst
und Eure Gemeinsamkeit.
Wir lernen von Euch den würdigen Wettstreit,
in dem nicht Großmäuligkeit entscheidet
und nicht plumpe Gewalt.
Und jetzt, da wir Euch ehren - alle!
Ehren wir uns alle.
Denn Eure Fahrt für den Frieden
ging über die Straßen, an denen wir wohnen.
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Wir - Millionen von Menschen.
Unser Weg ist derselbe.
Heute und übers Jahr.
Immer.
Am Abend konnte der von den Friedensfahrern nach seinem Vortrag stür-misch gefeierte Schauspieler dann übrigens auch noch ein kleines Kapitel Friedensfahrt-Organisation erleben: Nach der „Tell“-Aufführung fuhr ihn ein Wagen zu einer ausgemusterten Dampferanlegestelle in Köpenick, an der das inzwischen mit den Friedensfahrern zur großen Seenrundfahrt ausgelau-fene Flaggschiff der Weißen Flotte nach kurzen Blinkzeichen pünktlich auf die Minute festmachte. Gefeiert wie ein Etappensieger, ging Horst Drinda für den Rest der ausgelassenen Nacht, der endgültig letzten Etappe, an Bord.
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DAS NEUESTE VON DER DOPINGFRONT
VON KLAUS HUHN
Unlängst sollten in Berlin Nägel mit Dopingköpfen gemacht werden. Eine halbe Million hatte die Bundesregierung ausgegeben, um unwiderrufbar do-kumentierte Antworten auf alle tausendmal gestellten Fragen über „Doping in Deutschland“ zu bekommen. Der Begriff „Deutschland“ könnte allerdings in die Irre führen. Seit über zwei Jahrzehnten wird die DDR beschuldigt alle er-kämpften Medaillen und sonstigen sportlichen Triumphe dem Doping zu ver-danken. Fragwürdige Prozesse waren geführt, Urteile gefällt worden und die DDR schien im Dopinggrab beigesetzt.
Doch dann maulten altbundesdeutsche Zweifler, übertönten zuweilen so-gar die Dopingopfer-Posaunen und deshalb sollten nun endlich etwa auf-spürbare West-Doping-Gewohnheiten erforscht, aktenmäßig erfasst und not-falls auch präsentiert werden.
Die mit einiger Spannung erwartete Stunde der Wahrheit aber endete mit einem Desaster. Die „Berliner Zeitung” – jeglicher DDR-Sympathie unver-dächtig - suchte sich ein Rattenloch und schrieb die Wahrheit tünchend: „Sogar Michael Vesper, dem Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), war anzumerken, dass er sich unwohl fühlt. (...) Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BiSp) hatte zur Präsentation des letzten Zwischenberichtes zum Forschungsprojekt `Doping in Deutschland´ geladen. Der DOSB hatte das Vorhaben vor fünf Jahren angeschoben. Es endete in einer großen Peinlichkeit, die Vesper sich gern erspart hätte: Deutschland hat sich bei der Aufarbeitung des Sportbetruges im westlichen Teil nach Kräften blamiert. (...) Das Doping der Bundesrepublik wurde ungefähr so sorgfältig bearbeitet wie die Pläne für Berlins neuen Großflughafen: Bruchlandung garantiert.” Die einzige Mitteilung, die man vermisste, war ein Hinweis darauf, dass die wichtigsten Dokumente versehentlich geschreddert worden waren.
Der „Berliner Zeitung” musste bescheinigt werden, dass sie mit ihrem Urteil über Doping in der Alt- und der Jung-BRD fast bis ans Schaffott vorgerückt war:
„Am Ende sollte ein Alibiprojekt stehen. Fertig sollte alles zwar schon werden, die deutschen Sportfürsten und Politiker wollten mit einem wissenschaftlich anmutenden Konvolut, schließlich international hausieren gehen können. Doch vorher ist offensichtlich unter dem Deckmantel der Bundesbürokratie und des Datenschutzes erfolgreich soviel Verhinderungsar-beit betrieben worden, dass wenige Enthüllungen zu befürchten waren.”
Letztlich blieben Enthüllungen völlig aus. Es blieb nur ein Geständnis: „Nahtlos passt sich die Peinlichkeit in die Chronologie des deutschen Antidopingkampfes ein: Mit Fug und Recht dürfen deutsche Ärzte für sich reklamieren, im internationalen Doping stets zu den führenden Köpfen gehört zu haben. Oft wussten Sportfunktionäre Bescheid oder forcierten das Treiben
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gar. Die strafrechtliche Verfolgung von Dopern, anderswo mit großem Erfolg betrieben, ist stets erfolgreich verhindert worden.”
Tags zuvor war schon der Ex-Bundestrainer Hansjörg Kofink zu Wort ge-kommen und der hatte im Hinblick auf die Untersuchungsresultate moniert: „Diese Aufklärung sollte einen Schlussstrich bringen. Dabei sollte möglichst viel unter den Teppich gekehrt werden. Und das lässt sich mit Wissenschaft nicht machen.“
Da irrte der ehrenwerte Kofink, denn – siehe oben – nicht viel, sondern al-les, was sich über Doping in der Alt-BRD ermitteln ließ, war vorerst unter den Teppich gekehrt worden.
Was ausgerechnet die „Frankfurter Allgemeine“ bewogen hatte, diesen Teppich doch noch mal zu lüften, wird kaum zu ermitteln sein. Jedenfalls widmete das Blatt eine ganze Seite und schockierte die jahrzehntelangen Ei-fer-Lügner durch ein Interview mit dem Sportsoziologen und Ehrenpräsiden-ten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Helmut Digel, und titelte dessen Geständnis mit den alarmierenden Worten: „Alle wussten vom Betrug im Westen“. Motiv für die Befragung war der immer noch schwelende Streit zwi-schen dem BISp – eine Instanz des Bundesinnenministeriums – und den vor vier Jahren engagierten Wissenschaftlern, die für hohe Gagen ermitteln woll-ten und sogar sollten, ob in der Alt-BRD auch gedopt worden war.
Das bewegte wohl doch nicht nur das Ministerium sondern auch viele Ge-müter, nachdem 22 Jahre lang von höchsten Instanzen beschworen worden war, dass die Doping-Unsitte deutschlandweit von der DDR dominiert worden war. Als die Dopingforscher im Frühjahr dieses Jahres nun bestätigten, was Fachleute von Rügen bis zum Bodensee lange gewusst hatten – das in der Alt-BRD emsiger als in der DDR gedopt worden war -, kündigte das Ministeri-um nicht nur die Verträge mit denen, die das ermittelt hatten, sondern forder-te sogar Honorar-Rückzahlungen, was in der Markt-Wissenschaft verständli-chen Staub aufwirbelte. Die möglicherweise auch von der FAZ gehegte Hoff-nung Digel könne das widerlegen, erwies sich als Fehlschluss. Die ihm ge-stellte Frage: „Stimmt es, dass sie die Protokolle zu Hause haben?“ verneinte der als Direktor des Tübinger Sportinstituts schon vor Jahren Zurückgetrete-ne mit einer Absage: „Das stimmt nicht. Ich habe meine handschriftlichen No-tizen aufgehoben.“
Die waren den Forschern offensichtlich nicht viel wert. Immerhin konnte der Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes mit einer schwer-wiegenden Aussage dienen: „Die Frage ist: Wie geht man miteinander um, wenn alles aufgedeckt ist? (…) Jeder Insider weiß, dass auch in der BRD in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren in einigen Sportarten nahezu flächendeckend gedopt wurde.“
Nach dieser Eröffnung weiß nun also nicht nur der Insider, sondern auch die Öffentlichkeit, dass die Behauptung zahlreicher Staatsanwälte, nur in der DDR sei „flächendeckend“ gedopt worden, zu den Akten gelegt werden kann, - wenn man auch fürchten muss, dass die schon bald geschreddert werden!
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Der Leser mag mir noch eine Abschweifung gestatten: Vor Jahr und Tag hatte mir Petra Felke, die seit dem 9. September 1988 mit 80,00 m den Speerwurf-Weltrekord hält, erzählt, wie sie 1997 in das Jenaer Kriminalkom-missariat in der Käthe-Kollwitz-Straße bestellt worden war um dort von zwei aus Berlin angereisten Kriminalbeamte nach Doping in der DDR befragt zu werden. Sie musste die beiden enttäuschen. In den Sinn kam es mir, weil die beiden Ermittlungsbeamten nicht nach Jena gereist waren, um die Untaten der NSU zu erforschen – sondern wegen des Dopings. Nun weiß ich durch die FAZ, dass sie deswegen doch nur den damaligen DLV-Präsidenten hät-ten fragen brauchen. Und ihre in Jena verbrachte Zeit durchaus der NSU hät-ten widmen können!
Doch das Lügenfeuer war noch längst nicht gelöscht.
Wieder musste die FAZ (30.11.2012) an die Front und zwar Digels Seite, denn schließlich brauchte die Affäre ja irgendeinen Hauptschuldigen. Um den Ärger auf die Spitze zu treiben hatte sich eine frühere Leichtathletin. Claudia Lepping, gemeldet und auf Fragen mitgeteilt: „War es dann nur eine Lüge oder nichts anderes als gezielte unterlassene Hilfeleistung, dass der Deut-sche Leichtathletik-Verband (DlV) mir antwortete, es handele sich `um ein Missverständnis´, als ich, knapp 20 Jahre alt, Juniorenmeisterin, ungedopt, ihm inmitten der Enthüllungen um das DDR-Doping Folgendes besorgt mit-teilte: Ob der DLV denn wisse, dass Athletinnen in einem westdeutschen Sprinterinnen-Klub nach Anabolika-Doping an Herz und Leber erkrankt sei-en? Dass der Vereins- und Bundestrainer dort ein Doping-Netzwerk mit Dräh-ten in die DDR und nach Übersee unterhielt? Dass Doping-Kontrolltermine frühzeitig verraten wurden?“
Digels Aussagen im ersten Interview bestätigte sie. „Im Interview sagt Herr Digel: `Man kann den Athleten nicht aus der Verantwortung entlassen.´ Ich wollte, der DLV hätte Verantwortung übernommen. Er wusste doch schon vor dem Fall des eisernen Vorhangs, was passierte, spätestens seit dem qualvol-len Tod der mit mehr als 100 Medikamenten abgefüllten westdeutschen Sie-benkämpferin Birgit Dressel mussten auch die nicht Eingeweihten verstanden haben, was lief. Ich habe damals dem DLV präzise von einem westdeutschen Trainer und Bundestrainer berichtet, der Talente mit dem vermeintlich attrak-tiven Versprechen in seinen Klub lockt: ,Dann zeigen wir dir, warum die DDR-Mädels so schnell sind.’ Nein, auch der DlV war nie eine glaubwürdige Schiedsinstanz, sondern Mitwisser und damit Mittäter. …
Konfrontiert mit dieser Kritik, reagierte Digel: „Frau Lepping hat recht. In der Amtszeit Digel hat es in der Tat diese Sünde gegeben.“
Staatsanwälte – vielleicht, weil doch fachkundig, sogar die, die in Scharen in die Ex-DDR geflogen worden waren, um Dopingtäter anzuklagen -, haben bislang nicht angekündigt, Ermittlungen einzuleiten…
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HEINZ SCHÖBEL
Im Jahr 2013 wäre Heinz Schöbel 100 geworden! Der am 14. Oktober 1913 als Sohn eines Metallarbeiters in Leipzig Geborene gehörte zu den pro-filiertesten Persönlichkeiten des DDR-Sports. Er hatte in Leipzig die Volks-schule besucht, schon früh seine Fußball-Leidenschaft entdeckt und wurde Mitglied im Arbeiter- Turn- und Sportbund. Von 1928 bis 1931 absolvierte er in seiner Geburtsstadt eine Ausbildung als Buchhändler. Von 1931 bis 1935 arbeitete er als Gehilfe in einem Verlag und wurde von 1938 an in dem re-nommierten Paul-List-Verlag tätig. Als dessen Verleger nach Kriegsende in den Westen wechselte, benannte er Schöbel zum Treuhänder des auch wei-ter in Leipzig existierenden Verlags, der in der Folgezeit die Bücher so ange-sehener Autoren wie Stefan Heym herausgab.
Nach 1945 wurde Schöbel Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), stimmte 1946 mit für die Vereinigung der beiden Arbei-terparteien und wurde danach Mitglied der SED. Im Jahr 1949 gründete er den wichtigen Fachbuchverlag Leipzig, den er später neben seiner Tätigkeit für den List-Verlag selbst leitete. Von 1968 bis 1978 war er Direktor des Deutschen Verlags für Grundstoffindustrie.
Ehrenamtlich leitete er von 1953 bis 1958 die Sektion Fußball des Deut-schen Sportausschusses, aus der 1958 der Deutsche Fußball-Verband der DDR hervorging. 1955 wurde er zum Präsidenten des Nationalen Olympi-schen Komitees der DDR gewählt und führte zahllose mühsame Verhandlun-gen mit den Funktionären des auf ein Alleinvertretungsrecht des NOK der BRD bestehenden bundesdeutschen Funktionären, wobei er viel Geschick bewies und manchen Triumph gegen die BRD-„Hardliner“ feiern konnte. Sein Ansehen unter den Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees führte dazu, das er 1966 in das IOC gewählt worden, dem er bis zu seinem Tode am 26. April 1980 angehörte. Im Präsidium des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR war er Mitglied von der Gründung der DDR-Sportorganisation bis zu seinem Tode.
Er schrieb interessante Bücher, bewahrte sich auch im Hause des Münch-ner List-Verlages einen Ruf als umsichtiger Verleger und war bei allen Olym-pischen Spielen, an denen die DDR teilnahm dabei. Die Athleten schätzten ihn vor allem als einen auch für ihre persönlichen Probleme Verständnis auf-bringenden Funktionär, der selten prinzipielle Reden hielt, aber immer für Späße zu haben war. Auch im IOC genoss er nicht zuletzt dank seiner um-fassenden Bildung hohes Ansehen.
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SCHÖBEL: GEDANKEN NACH MELBOURNE 1956
Nach der Rückkehr von den Olympischen Sommerspielen 1956 in Melbourne schrieb Heinz Schöbel ein Vorwort für den Olympiaband, in dem es hieß:
Für uns Deutsche waren die XV. Olympischen Spiele in Helsinki überschat-tet von der unseligen Spaltung unseres Vaterlandes, von der auch der Sport nicht verschont geblieben ist. In der Folge des zweiten Weltkrieges hatten sich in Deutschland zwei Staaten gebildet: die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Da das IOC bis zum Zeitpunkt der Spiele in Helsinki nur das Nationale Olympische Komitee der Bundesre-publik, nicht jedoch das Nationale Olympische Komitee der Deutschen De-mokratischen Republik anerkannt hatte, durften an diesen Spielen nur die Sportler der Bundesrepublik teilnehmen. Es war nur zu natürlich, dass auch die Sportler der Deutschen Demokratischen Republik danach drängten, in voller Gleichberechtigung mit den Sportlern der Welt auf den Olympischen Spielen ihre Kräfte zu messen. 1955 erkannte das IOC in Paris auf seinem 50. Kongress das Nationale Olympische Komitee der Deutschen Demokrati-schen Republik an. Damit trug es der Tatsache Rechnung, dass im deut-schen Sport zwei selbständige, unabhängig voneinander wirkende Sportor-ganisationen existieren, die die Interessen ihrer Sportler auch international wahrnehmen.
Mit der Anerkennung des Nationalen Olympischen Komitees der Deut-schen Demokratischen Republik verband das IOC für die beiden deutschen Komitees die Verpflichtung, zu den Olympischen Spielen 1956 eine gesamt-deutsche Mannschaft zu entsenden. In Verhandlungen, die sich mehrere Mo-nate hinzogen, haben dann 1955/56 die beiden Olympischen Komitees Deutschlands auf der Grundlage der Gleichberechtigung und der gegenseiti-gen Anerkennung Vereinbarungen über die Aufstellung und Entsendung ei-ner gesamtdeutschen Mannschaft zu den Olympischen Winterspielen nach Cortina d'Ampezzo (1956) und zu den Olympischen Sommerspielen nach Melbourne (1956) getroffen. … Diese gesamtdeutsche Mannschaft hat 1956 in Cortina d'Ampezzo und in Melbourne weit größere Erfolge errungen als die Mannschaft nur eines Teiles Deutschlands in Oslo und Helsinki. Die Sportler der Deutschen Demokratischen Republik hatten an diesem Erfolg einen we-sentlichen Anteil. Sie bewiesen damit die Stärke und die Kraft der demokrati-schen Sportbewegung, die auf dem besten Wege ist, in der Mehrzahl der Sportdisziplinen internationales Niveau zu erreichen. Mit Freude und Genug-tuung kann dabei festgestellt werden, dass olympischer Geist die deutschen Sportler in Cortina und in Melbourne zu hervorragenden Beweisen der Kame-radschaft und Verständigungsbereitschaft geführt hat. … Es zeigt, dass auch hier trotz Schwierigkeiten, die natürlich zu überwinden waren, der erstarkte olympische Gedanke Aufgaben lösen half, die ohne ihn wohl nicht lösbar ge-wesen wären. Das erfüllt uns mit Hoffnung sowohl für die endgültige Lösung
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des deutschen Problems als auch für die Klärung mancher Gegensätze, die noch immer die ganze Welt bewegen.
Freilich blicken wir in diesem Zusammenhang gegenwärtig mit tiefer Sorge auf die Deutsche Bundesrepublik, mit Sorge deswegen, weil sie mit ihrer Poli-tik und ihrer gefährlichen Remilitarisierung einen Weg eingeschlagen hat, der dem olympischen Gedanken völlig zuwiderläuft. Es ist uns bekannt, dass zu Beginn der Olympischen Spiele von Melbourne, als die Aggression in Ägyp-ten und die Konterrevolution in Ungarn die Welt an den Rand eines neuen Krieges brachten, in Bonner Regierungskreisen Erwägungen angestellt wor-den sind, die olympische Mannschaft der Bundesrepublik zurückzuziehen. Hierin wie in der gesamten Entwicklung der Bundesrepublik zeigt sich, dass in ihr Kräfte am Werke sind, die im Gegensatz zu dem olympischen Gedan-ken der Völkerverständigung und des Friedens stehen und nicht zögern wer-den, die Jugend der Welt auch in einen dritten Weltkrieg zu treiben. Diesel-ben Kräfte, die schuld daran waren, dass die Olympischen Spiele 1916, 1940 und 1944 nicht veranstaltet werden konnten und dass das IOC 1920, 1924 und 1948 die Teilnahme der deutschen Sportler ablehnte, sind wieder am Werk. Das ist ein Alarmzeichen. Der deutschen Sportjugend, und nicht nur ihr, droht neue tödliche Gefahr. Sie muss wachsam sein und solchen Men-schen scharf auf die Finger sehen, deren Schuld es ist, dass die modernen Olympischen Spiele schon dreimal nicht stattfanden und dass sie außerdem schon dreimal nicht an ihnen teilhaben durfte, durch deren Schuld ihr also von 60 Jahren der modernen Olympischen Spiele 24 Jahre sportlich verlo-rengingen. Nur, wenn diese die olympische Idee in ihrem Lebensnerv bedro-henden Kräfte des Militarismus und Faschismus überwunden werden und wenn an die Stelle der Politik der Stärke eine Politik der friedlichen Verstän-digung gesetzt wird, dann wird der Frieden erhalten bleiben. Nur dann wird die Jugend der Erde die Erfüllung ihrer Sehnsucht erhoffen können: in einer friedlich geeinten Welt die Kräfte im sportlichen Wettstreit zu messen. Nur dann wird es möglich werden, daß die Olympische Flamme leuchtet `durch alle Geschlechter zum Wohle einer immer höher strebenden, mutigeren und reineren Menschheit´.
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Sport und Gesellschaft e.V. Hasso Hettrich Triftstr.34 15370 Petershagen Deutschland
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1
BEITRÄGE
ZUR
SPORTGESCHICHTE
HEFT 36
2
SPORT UND GESELLSCHAFT e.V.
INHALT
FRIEDENSFAHRTKOMITEE „VERJÜNGT“
SEITE 3
DIE WAHRHEIT ÜBER DEN BETRIEBSSPORT IN DER DDR
Von HASSO HETTRICH SEITE 4
WISSENSWERTES UND FAST VERGESSENES ÜBER SPARTAKIADEN
Von KLAUS HUHN SEITE 13
MAHNUNGEN
Von PIERRE BARON DE COUBERTIN SEITE 17
DER RINGKAMPF DER RINGER
Von KNUT HOLM SEITE 24
SPORT IM BUNDESTAG
Rede des ABGEORDNETEN JENS PETERMANN (DIE LINKE)
SEITE 29
DER WEG VON LAKE PLACID NACH MOSKAU
Von KLAUS HUHN SEITE 31
WELTWEIT BEISPIELLOS: PARTY FÜR MEDAILLENLOSE
SEITE 46
DAS RADSPORT-MEKKA IN DER LENINALLEE
Von WULF FISCHER SEITE 48
DAS UNOLYMPISCHE OLYMPIABUCH
SEITE 50
… UND DIESES JAHR NACH WARSCHAU
Von WERNER STENZEL SEITE 54
BUCHTIPP: „DIE HOENEß-NUMMER“
SEITE 56
GEDENKEN – KLAUS KÖSTE
SEITE 58
GEDENKEN – Prof. Dr. paed. GÜNTER ERBACH
SEITE 60
3
FRIEDENSFAHRTKOMITEE „VERJÜNGT“
Es gilt einen ungraden „Gedenktag“ zu feiern: Vor 65 Jahren fand die erste Friedensfahrt statt, vor 63 Jahren hatte die erste Friedensfahrtmannschaft der DDR in Berlin den Zug nach Warschau bestiegen und schon als sie dort an-langte, hatte sie ein inzwischen in Vergessenheit geratenes Kapitel Sportge-schichte geschrieben: Zum ersten Mal nach Kriegsende waren deutsche Sportler zu einem Wettkampf nach Polen eingeladen worden und das 70 Ta-ge bevor der Vertrag über die Oder-Neiße-Friedensgrenze zwischen Polen und der DDR abgeschlossen wurde. Eine Grenze, die von der Bundesrepub-lik ignoriert und erst 20 Jahre später akzeptiert worden war. Diese Feststel-lung lässt sich nicht vermeiden, weil in Polen niemand auf die Idee gekom-men wäre, eine bundesdeutsche Mannschaft einzuladen. Zwei Jahre später rollte dieses Rennen auch durch Berlin, war zum von Millionen umjubelten Sportereignis unter dem Symbol von Picassos Friedenstaube und später das renommierteste Amateur-Etappenrennen der Welt geworden. Warum die Fahrt nach der Kehrtwende nach einem erfolgreichem comeback dann doch unterging, erklärte der Präsident des bundesdeutschen Radsportverbandes Werner Böhmer mit den Worten: „Es wird der Gedanke geschürt, wie toll das alles früher war. Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob wir das nicht wieder hin-kriegen. Eine Politik, die man in dieser Form nicht betreiben sollte.“ Mit sol-chen Thesen begrub er das Rennen politisch und fand genügend Verbünde-te!
Es überlebten das 1992 gegründete Kuratorium Friedensfahrt und das Mu-seum in Kleinmühlingen. Dieser Tage demonstrierte das Kuratorium, dass es weiterwirken wird. Sein langjähriger Vorsitzender Täve Schur wurde zum Eh-renpräsidenten gewählt, der Cottbuser Andreas Heinze zum 1. Vorsitzenden, Werner Stenzel zum Stellvertrter, Regina Hoffman-Schon, Horst Schäfer, Pe-ter Scheunemann und Thomas Adam als Beisitzer.
An der Seite des Kuratoriums steht der Verein Radfreizeit, Radsportge-schichte, Friedensfahrt, der sein 10jähriges Bestehen feiern konnte.
Und auch eine originelle Idee wird dafür sorgen, dass das Rennen nicht in Vergessenheit gerät: Der Kleinmühlinger Fuhrunternehmer Uwe Biermordt beschriftete die Plane seines Brummis mit dem Symbol „Course de la Paix“ und wird durch Europa steuernd, garantiert für Aufsehen sorgen. Hinzu kom-men die Aktivitäten des Vereins (siehe auch Seite 55) und die zahllosen Klei-nen Friedensfahrten, die vielerorts stattfinden.
Fazit: Die Friedensfahrt droht nicht, in Vergessenheit zu geraten…
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DIE WAHRHEIT ÜBER DEN BETRIEBSSPORT IN DER DDR
Von HASSO HETTRICH
Der Sport hat viele Gesichter: Jubel über erwartete Siege, Freudentaumel über unerwartete, Jammer über Niederlagen, Seelenschmerz über nie erwar-tete Schlappen. Es gibt im Sport keine Gefühlsrezepte.
Das gilt auch im Großen. Seitdem der DTSB im Dezember 1990 unterging wurde diese Gefühlspalette oft strapaziert. Die sportlichen DDR-Triumphe ge-rieten nicht in Vergessenheit und man unternahm viel, um diese Vergessen-heit künstlich zu erzeugen.
Nicht nur mir, der über Jahrzehnte Vorsitzender einer angesehenen Be-triebssportgemeinschaft war, schien es angebracht vor allem den Jüngeren darzulegen, wie diese Betriebssportgemeinschaften tätig waren, wer sie fi-nanzierte und demzufolge auch dirigierte, denn viele Spuren sind bereits verweht, sportliche Rekorde und Leistungen in Vergessenheit geraten.
Ohne einen knappen Blick in die Historie der Vergangenheit kommt man dabei nicht aus. Als nach dem Zweiten Weltkrieg in der damaligen sowjeti-schen Besatzungszone am 1. Oktober 1948 durch die Jugendorganisation FDJ und den Gewerkschaftsbund FDGB die Sportorganisation Deutscher Sportausschuss (DS) gegründet worden war, existierten viele Vorstellungen, wie diese neue Sportorganisationen strukturiert werden soll. Ein gemeinsa-mer Befehl aller vier Besatzungsmächte hatte die Auflösung aller bis 1945 existierenden Sportvereine veranlasst, da ihre Bindungen an faschistische Organisationen als erwiesen galten. Es kann nicht ignoriert werden, dass die-ser Befehl in den drei Westzonen nur halbherzig oder gar nicht realisiert wur-de. Die Konsequenz der sowjetischen Besatzungsmacht sorgte für klare Ver-hältnisse. So entstanden zunächst territoriale Sportgemeinschaften und nach der Enteignung der am Krieg beteiligten Konzerne auch in diesen nun volks-eigenen Betrieben erste Betriebssportgemeinschaften. Das geschah aller-dings nur zögerlich und wurde auch von vielen Sportfunktionären mit Skepsis beobachtet. Man war an das Leben in Vereinen seit Jahrzehnten gewohnt und wollte es beibehalten. So wurde das DDR-Fußballfinale 1951 in Dresden zu einer Art Kraftprobe der alten und neuen Struktur. Der letzte Meister in Nazideutschland Dresdner Sportclub (DSC) spielte nach den neuen Richtli-nien als SG Dresden-Friedrichstadt gegen die Betriebssportgemeinschaft – also BSG - Horch Zwickau. Obwohl sich im Grunde zwei renommierte Mann-schaften in diesem Spiel begegneten, wurde die Partie – auch von Anhä-ngern beider Seiten – zu einer Auseinandersetzung zwischen „alt“ und „neu“. Die Betriebssportgemeinschaft gewann 5:1 und der größte Teil der Sportge-meinschaftself wechselte bald darauf nach Westberlin.
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Die Betriebssportgemeinschaften wuchsen enorm, auch weil man in den nun volkseigenen Betrieben Direktoren als Partner hatte, die an sportlicher Betätigung der Belegschaften schon aus Gründen der Förderung der Ge-sundheit interessiert waren.
Und vor allem waren die in den Betrieben Tätigen an sportlichem Treiben interessiert. Es wird gern versucht, den Betriebssport als das Resultat ir-gendwelcher Entscheidungen der damaligen politischen Parteien – allen vo-ran natürlich der SED – darzustellen, das ist aber nur einer der vielen Versu-che die DDR mit Gewalt zu politisieren. Ich stelle die Frage, ob auf Wechsel-beziehungen zwischen politischen Kräften und dem Sport überhaupt verzich-tet werden kann, wenn es sich nicht – wie heute – um einen im Grunde rest-los kommerzialisierten Sport handelt.
Ein Vierteljahrhundert nach der Vereinnahmung des DTSB und damit auch der Betriebssportgemeinschaften versucht man immer noch mit viel Eifer, die tatsächlichen Leistungen der Betriebssportgemeinschaften zu ignorieren.
In der DDR gab es am Tag der Auflösung des DTSB in den Betrieben cirka 10.000 Betriebssportgemeinschaften. Heute gibt es auf deutschem Boden laut Betriebssportverband ca. 4700 Sportgemeinschaften in Betrieben und Einrichtungen. Diese Zahlen lassen sich allerdings in keiner Weise verglei-chen, denn – siehe oben – die Betriebe waren volkseigen und deshalb nicht irgendwelchen Aktionären gegenüber verpflichtet, Gewinn – konkreter Profit – zu erzielen.
Nach einer statistischen Erhebung des Betriebssportverbandes gab es per 31.12.2011 in Brandenburg eine Betriebssportgemeinschaft, in Sachsen zwei, in Sachsen-Anhalt neun, in Mecklenburg-Vorpommern eine und in Thü-ringen keine mehr.
In den neun BSGen in Sachsen-Anhalt waren 76 Mitglieder organisiert, in den zwei Sportgemeinschaften in Sachsen waren es 35 Mitglieder und in der einzigen BSG in Mecklenburg-Vorpommern zählt man 25 Mitglieder.
Erklärt jemand mir, der 31 Jahre Vorsitzender einer großen Betriebssport-gemeinschaft war – 18 Jahre in der DDR und 13 in der BRD – die Ursachen?
Einst hieß sie BSG Wohnungsbaukombinat und heute trägt sie den Namen Bau-Union Berlin.
In diesen drei Jahrzehnten habe ich Höhen und Tiefen erlebt. Umso inte-ressierter – das wird jeder verstehen – griff ich nach dem Buch „Betriebssport in der DDR“. Die Vorbemerkung verriet mir, dass diese Untersuchung im wis-senschaftlich kreativen Arbeitskreis um Prof. Dr. Hans Joachim Teichler ent-stand und von der humanistischen Fakultät der Universität Potsdam als Dis-sertation akzeptiert wurde. Konkret ging es um die BSG Stahl Brandenburg und war mehr oder weniger eine Lebensbiografie. Frau Dr. Uta Klaedtke, ge-boren 1964, war 1985 DDR-Meisterin im 10-km-Gehen gewesen. Nach ihrer aktiven Laufbahn ermöglichte ihr die DDR, Sportwissenschaften an der DHfK Leipzig zu studieren. Sie selbst hatte also nie eine BSG von „innen“ kennen-gelernt. Als ich unter den „Mitwirkenden“ auch noch die Namen von Prof. Hinsching und Prof. Teichler las, wuchs meine Skepsis. Beide hatten bislang
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zahlreiche Arbeiten über die vorgeblich negativen Seiten des DDR-Sports publiziert.
Ich verzichte darauf, das von Uta Klaedtke verfasste Buch über den Be-triebssport der DDR etwa beurteilen zu wollen. Ich begnüge mich mit wenigen Sätzen, die dem Leser offenbaren, wie auch sie das Thema DDR behandelte. „Der mehrmalige Sport pro Woche sollte `bis ins hohe Alter zu den Lebens-prinzipien des Menschen der Epoche des Sozialismus´ gehören. Diese uto-pisch anmutenden Forderungen bezüglich sportlicher Agilität kamen in den Folgejahren die meisten Mitglieder des Politbüros selbst nicht nach, wie jähr-liche Dokumentationen über den Leistungszustand der Politbüromitglieder beweisen. Sport wurde lediglich als Mittel zur idealen Ressourcenverwaltung“ betrachtet.
Oder: „Bei der Betrachtung des betrieblichen Sports bzw. der Maßnahmen, den Einzelnen hierbei zu funktionalisieren, wird der totalitäre Ansatz der SED-Diktatur deutlich.“
Solche Debilität ist kaum zu übertreffen: Die Losung „jeder in der Woche mehrmals Sport“ an Politbüro-Mitgliedern messen zu wollen, würde zum ei-nen unterstellen, dass ärztliche Patienten-Diagnosen in der DDR jährlich der Öffentlichkeit mitgeteilt wurden, was die Außerkraftsetzung der ärztlichen Schweigepflicht voraussetzen und zum anderen verlangen würde, Politbüro-mitglieder, die Auschwitz überlebt hatten und an den Mordlagerfolgen ihr Le-ben lang litten, nach ihrer sportlichen Aktivität zu bewerten.
Mithin: Diese Beispiele dürften genügen, um über den Stil dieser Autorin Aufschluss zu geben.
Festzustellen wäre also, dass hier eine weitere Publikation über den DDR-Sport entstanden ist, die vom Niveau her mit vorangegangenen zu verglei-chen ist und man sich weiter intensiv bemüht, die – siehe oben – „SED-Diktatur“ mit Hilfe es Sports nachzuweisen.
So bleibt nichts anderes übrig, als sich einmal mehr den Realitäten des Be-triebssports zuzuwenden. Ich gestehe: Als am 1. Oktober 1948 in den Leu-nawerken die erste Betriebssportgemeinschaft gegründet wurde, machten wir uns über diese neue Struktur kaum Gedanken.
Ich selbst war damals 16 Jahre alt und gründete in einer Landgemeinde ei-ne Sportgemeinschaft. Überall war die Begeisterung groß, wenn nach den vom Trümmerwegräumen geprägten Nachkriegsjahren endlich wieder etwas für die eigene Gesundheit getan werden konnte.
In Berlin gingen damals die Bauarbeiter – unterstützt von Tausenden frei-williger „Trümmerfrauen“ - mit Elan an die Beseitigung der Ruinen.
In der Chronik der Abteilung Fußball der Bau-Union Berlin schrieb Rechts-anwalt Uwe Schlosser: „Mitte des Jahres 1949 kam es in Berlin-Ost zur Bil-dung der ersten volkseigenen Betriebe, in denen sich wiederum fast gleich-zeitig Betriebssportgemeinschaften gründeten. Einer der ersten volkseigenen Betriebe in Berlin (Ost) war der VEB Bau, der am 1.7.1949 aus der Gemein-wirtschaftlichen Baugesellschaft Groß-Berlin mbH mit Sitz Unter den Linden 13 in Berlin-Mitte hervorging.“ Vorläufer war der Betrieb Bau-Union Süd ge-
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wesen, der auch den Sportplatz in Baumschulenweg wieder hergerichtet hat-te. Die ersten Wettkämpfe fanden am Rodelbergweg in Baumschulenweg statt und der Aufstieg in die erste Fußball-Kreisklasse wurde von einer Mann-schaft Bau geschafft. Die Betriebsleitung mit den Kollegen Butte, Busse, Ries, Geistert, Giebecke und Dürre waren von den Leistungen der sportlichen Bauarbeiter begeistert.
Ich fand eine Akte vom 5. Mai 1951 mit dem Protokoll der Betriebsleitungs-sitzung in dem unter Punkt 13 zum Betriebssport Stellung genommen wurde: „Mitglieder incl. Betriebsfremder ca. 399. Von der BSG wurde der Antrag auf Freistellung von 2 Kollegen und einer Schreibkraft gestellt, ferner für die Be-wachung der Sportplätze 2 Wächter. An Mittel stehen der BSG 10% des Di-rektorenfonds zur Verfügung. Höhe des Direktorenfonds hängt mit unserer Planerfüllung zusammen. Klärung konnte nicht herbeigeführt werden.“
Hier sollte erklärt werden, dass der Direktorenfonds sich aus dem Gewinn ergab, den der Betrieb erzielte. Und – im Gegensatz zu heute – diente dieser Fonds nicht der Honorierung der Direktoren, sondern wurde prozentual für soziale Aufgaben – zu denen auch der Sport gehörte – vergeben. In anderen Protokollen fand ich:
„14.7.1951: Abteilung Betriebssport stellt den Antrag auf Aufstellung von 2 Baubuden auf dem Sportplatz Baumschulenweg. Klärung übernimmt der Koll. Pfannmülle“ und „Bauvorhaben für die BSG sind Investitionen und müssen eingeplant sein resp. eingeplant werden. Die eingeplante Summe für 1951 betrug 12.000 Mark und ist zum größten Teil für andere Arbeiten verausgabt worden. Wir werden uns bemühen, zusätzliche Mittel zu erhalten, was aller-dings schwierig sein wird.“
Keines dieser Protokolle lässt darauf schließen, dass erst die Partei oder die Gewerkschaft gefragt werden musste, um den Sport im Betrieb zu för-dern.
Weitere BSGen entstanden in Baubetrieben. So im VEB Volksbau die Be-triebssportgemeinschaft Aufbau Zentrum am 12. Juni 1951. 36 Bauarbeiter waren versammelt, als der Bauarbeiter Alfred Seidel eine Sektion Tischtennis gründete. Übrigens: Der Vorsitzende von Aufbau Zentrum war parteilos. Nach weiteren Strukturänderungen der Baubetriebe vereinigten sich am 1.1.1962 der VEB Volksbau und der VEB Bau zum VEB Hochbau, aber die BSGen von Aufbau Zentrum und Aufbau Mitte blieben selbständig, ohne dass die „Partei“ eingriff!
In der BSG Aufbau Mitte existierten die Sektionen Tennis, Segeln, Volley-ball, Kanu und bei Aufbau Zentrum Federball, Tischtennis, Schach, Kegeln, Segeln, Rudern und Ski. Der Vorsitzende der BSG Aufbau Mitte war partei-los, der von Aufbau Zentrum war Mitglied der SED.
Und weiter zum Thema „SED-Diktatur“: Die Leiter der Sektionen Tennis, Kanu, Federball, Schach, Rudern, Ski, Tischtennis und Segeln waren partei-los, die der Sektionen Volleyball und Kanu Mitglieder der SED. Niemand mo-nierte das „Übergewicht“ der parteilosen Sektionsleiter!
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Wie aber hätte Uta Klaedtke das Seglerheim „Fraternitas“ in der Köpeni-cker Wendenschlossstrasse in die „SED-Diktatur“ einordnen mögen? Die Sowjetarmee hatte es bereits im November 1945 übergeben und 1946 wurde auf dem Seddinsee die erste Regatta gesegelt. In der Chronik der Gemein-schaft las man: „Zur Förderung des Jugendsports erhielt der Sportverein drei weitere Segelbootskörper vom Landesvorstand der SED Berlin als Ge-schenk“. Man zählte bereits 118 Mitglieder. Der Bootsbestand betrug 1951 48 Jollen und sieben Kielboote. Weil der Gemeinschaft die technische Basis fehlte und die Hafenanlage desolat war, entschlossen sich die Mitglieder, der BSG Aufbau Mitte beizutreten, nannten sich „BSG Aufbau Mitte, Sparte Fra-ternitas“. Alles ohne irgendeinen Beschluss der Partei aber von 1956 bis 1963 stellte der „Trägerbetrieb“, also der VEB Bau, für Instandsetzungsarbei-ten am Grundstück, an den Gebäuden und für den Neubau eines Boots-schuppens insgesamt 163.354 Mark zur Verfügung.
Die Schecks hatte nicht die Partei ausgeschrieben, sondern der Haupt-buchhalter des volkseigenen Betriebes. Bemerkenswert aber, sicher auch für die Autorin des „Betriebssports in der DDR“, dass Maurer sich aufwändiges Segeln und den gemeinhin respektablen Mitgliedsbeitrag eines Segelvereins leisten konnten!
Der enorme Zulauf machte Erweiterungen nötig. Die inzwischen auch Mit-glieder von Aufbau Zentrum gewordenen Segler in Neue Mühle trafen sich mit dem BSG-Vorstand und der Betriebsleitung und in dieser Sitzung wurde festgelegt, in Neue Mühle (Kreis Königs-Wusterhausen) ein weiteres Segel-objekt für Bauarbeiter zu errichten. Damit diese Fakten nicht anonym bleiben: Der Nachfolger des damaligen Vorsitzenden Alfred Seidel, Erich Paul, führte über viele Jahre Buch über die Aufbaustunden. Wohlgemerkt freiwillig geleis-tete Stunden und nirgends agierte die Partei. Danach wurden die ersten acht Sportboote gekauft, später waren es 42 unterschiedlicher Klassen von Opti-misten bis zu H-Jollen.
Wer nicht segeln sondern kegeln wollte, konnte dies jeden Montag von 16.30 bis 21.30 Uhr auf der im Sportlerheim Strehl, Libauer/Ecke Revaler Straße, auf zwei Bahnen tun. Vermutlich war der Ökonomische Direktor des Kombinats Mitglied der SED. In der BSG machte er sich einen Namen mit dem Vorschlag, das in dem Gebäude Rüdigerstraße befindliche Technische Kabinett jeden Donnerstag ab 16.30 Uhr den Schachspielern zur Verfügung zu stellen.
Nicht so leicht war es, den Tennisspielern eine Anlage zu schaffen. Hätte die Partei nicht intervenieren müssen, dass ein Baubetrieb diese Bourgeosie-Sportart nicht fördert? Wurde in den letzten Jahren nicht oft genug behauptet, diese Sportart hätte in der DDR auf einer schwarzen Liste gestanden?
1951 hatte sich bei Aufbau Mitte eine Tennissektion gegründet, die auf Tennisplätzen in Pankow, in der Schönhauser-Allee, in Friedrichshagen und in Treptow gastierte. Aber dann erwarb der volkseigene Baubetrieb Anlagen in Karlshorst und gemeinsam mit den Tennisspielern wurden die bis dahin
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vernachlässigten zwei Tennisplätze erneuert, ein Gebäude errichtet und Mitte der 50er Jahre bestaunte man eine attraktive Anlage und nutzte sie gründlich.
Volleyball musste Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre noch in freier Natur gespielt werden. Unvergessen: Als das Richtfest am Hochhaus an der Weberwiese gefeiert wurde, spielte dort eine Mannschaft aus Studenten und Bauarbeitern, die die Volleyballlegende Günter Haering 1951 gegründet hat-te. Und bei alledem galt festzustellen, dass weder der VEB Bau noch der VEB Volksbau allen Wünschen nach neuen Sportanlagen nachkommen konnte. Fußball, Schwimmen, Federball, Bogensport und Handball mussten vorerst noch Sportstätten anderer Betriebe oder Sportgemeinschaften in An-spruch nehmen.
Ich kann nur sagen: Damals half man sich untereinander, und zwar ohne finanzielle Forderungen in den Vordergrund zu rücken. So wurde unser Ru-derobjekt dem SC Grünau überlassen, weil dort die besten Voraussetzungen für ein Leistungszentrum gegeben waren.
Die Profilierung der volkseigenen Baubetriebe, die in Berlin vor immensen Aufgaben standen, führte ständig zu neuen Strukturen, denen die Betriebs-sportgemeinschaften Rechnung tragen mussten. Nicht, weil die Partei die Perfektion der „Diktatur“ verfolgte, sondern weil auch der Betriebssport finan-zierbar bleiben musste.
Am 1. Januar 1962 vereinigten sich der VEB Volksbau und der VEB Bau zum VEB Hochbau Berlin und zwei Jahre später wurde der Betrieb in VEB Wohnungsbaukombinat Hochbau Berlin umbenannt. Die Betriebssportge-meinschaften vereinigten sich am 22.1.1965 zu Aufbau Zentrum, zählten 816 Mitglieder und vereinigten folgende Sektionen: Segeln Wendenschloß, Se-geln Neue Mühle, Tennis, Tischtennis, Schach, Kegeln, Rudern, Volleyball, Bogenschießen und Federball.
Deren Entwicklung – das ergab eine Umfrage unter Verantwortlichen – er-folgte nicht nach SED-politischen Vorgaben. In dem Dissertationsbuch schrieb Frau Klaedtke kein Wort darüber, dass in allen BSGen – auch im Stahlwerk Brandenburg – bereits 1950 das Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der DDR wirksam war und – auch das soll erwähnt wer-den – 1951 die SED eine Entschließung verabschiedete, die Richtlinien für die Aufgaben auf dem Gebiet der Körperkultur und des Sports enthielt. Was sollte dagegen einzuwenden sein? Auch in der heutigen Bundesrepublik ha-ben die Parteien Thesen zum Sport in ihren Wahlprogrammen. Dass die durch die Kommerzialisierung des Sports kaum wirksam werden, unterschei-det sie allerdings von den Programmen der SED.
Wie konsequent die Förderung des Sports – und zwar nicht nur der Olym-piamedaillen bescherende – verfolgt wurde, bestätigt auch der Beschluss des Ministerrates der DDR vom 27.11.1968. Danach waren in Betrieben und Kombinaten Sportkommissionen zu bilden.
Im Wohnungsbaukombinat übernahm die Funktion des Kommissionsvorsit-zenden der Stellvertreter des Hauptdirektors für Ökonomie. Die Funktion des Sekretärs der Kommission übernahm der Vorsitzende der Betriebssportge-
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meinschaft. So konnte der gesamte Sport im Kombinat konsequent koordi-niert werden und vor allem dessen Finanzierung. Die Kommission tagte vier-mal im Jahr. Der Vorsitzende – und nicht ein Parteisekretär – schlug vor, die Sportanlagen durch konkrete Patenschaftsverträge den einzelnen Betriebstei-len zuzuordnen.
Hier ein Auszug aus dem Arbeitsprogramm der BSG vom 26.1.1974: „Zur besseren Unterstützung des Freizeit- und Erholungssports in den einzelnen Betrieben bzw. Direktionsbereichen werden folgende Patenschaftsbeziehun-gen geschaffen: Der Stammbetrieb mit der Sektion Pferdesport, der Betrieb 1 mit der Sektion Kanu, die Betriebsberufsschule mit der Sektion Segeln“ usw.
Die „Wissenschaftlerin“ versäumte auch den Lesern ihrer Dissertation mit-zuteilen – oder habe ich die Fußnote überlesen? – dass unsere und auch vie-le andere BSGen sich nicht nur um ihre Mitglieder kümmerten. In der von mir geleiteten bewirkte die enge Zusammenarbeit zwischen BSG und den Briga-den, die Einrichtung zweier Fußballligen, und zwar – wie im „großen“ – eine Fußballklasse und eine Fußballliga mit Auf- und Abstieg. Die Spiele wurden vornehmlich in der Turnhalle Rhinstraße ab 17.00 Uhr ausgetragen. Wohl-gemerkt: Es handelte sich um Bauarbeiter, die nicht im DTSB organisiert wa-ren und die auch nicht in die SED eintreten mussten, um mitspielen zu dür-fen! Wir kümmerten uns auch um Arbeiter, die aus anderen Ländern in die DDR gekommen waren und von denen viele im Arbeiterwohnheim in der Rhinstraße wohnten. Zum Finale der Saison fand im Kultursaal in der Rüdi-gerstraße jedes Mal ein großer Sportlerball statt, bei dem Meister, Fair-Play-Sieger und Torschützenkönige geehrt wurden.
Die Betriebssportgemeinschaft organisierte auch alljährlich Betriebs- und Kombinatssportfeste. Die ersten fanden im Stadion an der Siegfriedstraße statt und 1974 zogen wir in die Zachertstraße um, weil das Stadion in der Siegfriedstraße nicht mehr ausreichte.
Auch die BSG sah sich eines Tages nicht mehr imstande, diese Feste zu organisieren. Deshalb wurde jedes Jahres ein „Kombinats-Spartakiadeko-mitee“ gebildet. Niemand soll mich fragen, wer auf die Idee gekommen war, diesen Begriff zu wählen, der im DDR-Sport doch eigentlich für die Jugend-sportfeste verwendet wurde. Schon im Januar und Februar meldeten sich die ersten Brigaden für das Sportfest an. Weil auch diese Anlage nicht endlos war, konnten „nur“ 36 Mannschaften am Fußballturnier teilnehmen und 24 im Volleyball. Alles in allem trafen sich an die 4000 Beschäftigte des WBK und Gäste und ermittelten in über 20 Sportarten die Sieger. Wir luden oft Welt-meister und Olympiasieger als Gäste ein und sie kamen ohne nach einem Auftrittshonorar zu fragen.
Auch für diese Feste galt: Sie waren aus der Begeisterung am Sport ent-standen und nicht, weil die SED das angeordnet hatte. Bei Uta Klaedkte las ich auf Seite 445: „Mit der Gründung des Staatlichen Komitees und ihrer ein-zelnen Organe auf Stadt-, Kreis- und Landesebene sicherte sich die SED dauerhaften Einfluss auf die Belange des Sports. Der Typus des BSG-Leiters entstand. Dieser war ein Kader, welcher sich im Gehege von Gewerkschaft,
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Betriebsleitung, FDJ und in der Institution BSG, ihrer industriegewerkschaftli-chen übergeordneten SV und dem Kreissportausschuss parteipolitisch, ar-gumentiv und wirkmächtig positionieren sollte.“
So erfuhr ich endlich, wie ich BSG-Leiter geworden war und auch warum!
Ich habe mir mal die Mühe gemacht, zu ermitteln, welche Rolle SED-Mitglieder in den Sektionen spielten und auch noch zwei Zeitpunkte gewählt.
SEKTION 20.10.1978 30.11.1987
Bogenschießen Parteilos SED
Federball Parteilos SED
Fußball SED Parteilos
Gewichtheben Parteilos Parteilos
Handball Parteilos Parteilos
Judo SED SED
Kegeln Parteilos Parteilos
Leichtathletik Parteilos Parteilos
Pferdesport SED SED
Schach Parteilos Parteilos
Segeln/N.Mühle Parteilos SED
Segeln/W.schloss SED SED
Tennis Parteilos Parteilos
Tischtennis SED SED
Gymnastik Parteilos Parteilos
Volleyball SED Parteilos
Schwimmen SED SED
Allgem.Körpererz. Parteilos Parteilos
Wer diese Statistik aufmerksam studiert, wird Mühe haben, die Behauptung von der „führenden Rolle der Partei“ zu erkennen. Es trifft zu, dass die Partei Beschlüsse auch zum Sport fasste und dafür sorgte, dass sie umgesetzt wurden, aber weder Uta Klaedtke noch sonst wer hat mir beibringen können, dass diese Beschlüsse verwerflich gewesen sind und dem Sport geschadet haben. Es gilt eher, dass diese Beschlüsse in unserer BSG der Gesundheit aller dienten.
Aus meiner 31jährigen Tätigkeit als Vorsitzender der BSG kenne ich keine Maßnahme der Betriebsparteiorganisation, uns einen „Agit.-Prop.-Funktionär" aufzubürden. Die Parteiorganisation hat auch nie einen Schritt unternommen, jemanden in unsere Leitung zu „delegieren“. Das war auch deshalb nicht nö-tig, weil die kameradschaftliche Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Or-ganisationen für eine reibungslose Tätigkeit der Betriebssportgemeinschaft sorgte.
Noch eine wichtige Feststellung zu den Finanzen: Unser Finanzplan würde Seiten füllen. Allein die Gewerkschaft war durch landesweit geltende Be-schlüsse verpflichtet, uns sechs Prozent aus dem Gewerkschaftsfonds zu überweisen. Dass die Gewerkschaften heute eine solche Forderung als ab-surd bezeichnen würden, nähme ich ihnen nicht übel. Sie hätten wohl ange-
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sichts ihrer pausenlosen Lohnkämpfe nicht mal die Zeit, dieses Thema zu behandeln.
Allein dieser Beschluss, die Gewerkschaften zu Zahlungen zu verpflichten, trug uns folgende Summen ein: 1982 – 46.900 Mark; 1983 – 46.900 Mark; 1984 – 33.000 Mark; 1985 – 40.000; 1986 – 40.000 Mark; 1987 – 40.000 Mark; 1988 – 37.000 Mark; 1989 – 36.800 Mark.
Und das bei einer Aufnahmegebühr von 1,00 M für Erwachsene und 0,50 M für Schüler! Das wird man heute zweimal lesen müssen, um es zu glauben!
Hatte er diesen Aufnahmebeitrag entrichtet, konnte er mehrere Sektionen wählen, in denen er Mitglied werden wollte. Er konnte also am Wettkampfbetrieb teilnehmen, war wahlberechtigt in seinen Sektionen und konnte auch selbst gewählt werden. Außerdem konnte er alle Vergünstigungen, die DTSB-Mitgliedern gewährt wurden, in Anspruch nehmen. Konkret waren das Fahrpreisermäßigungen, Arbeitsfreistellungen, kostenlose sportmedizinische Untersuchungen und Versicherungsleistungen, die die Versicherung des DTSB offerierte.
Bliebe noch der monatliche Beitrag, den er zu entrichten hatte. 0,20 M hatten Schüler zu zahlen, 0,60 M Lehrlinge, Oberschüler, Studenten, Rentner und Hausfrauen und 1,30 M alle „Erwachsenen“. Für spezielle Aufgaben und Vorhaben konnten die Betriebssport- und sonstigen Gemeinschaften mit den Mitgliedern zusätzliche frewillige Beiträge vereinbaren.
Blieben noch zwei Schlussbemerkungen: Die eine formulierte Uta Klaedt-ke: „Bei der Betrachtung des betrieblichen Sports bzw. der Maßnahmen, den Einzelnen hierbei zu funktionalisieren, wird der totalitäre Ansatz der SED-Diktatur deutlich.“
Und zweitens die fast täglich verbreitete Mär: 1989 sei die DDR bereits zahlungsunfähig gewesen. Der Sport hätte notfalls mit einem Kredit aushel-fen können…
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WISSENSWERTES UND FAST VERGESSENES
ÜBER SPARTAKIADEN
Von KLAUS HUHN
Wie der Zufall so will, stieß ich unlängst im Internet – Fachleute nennen diese Tätigkeit „surfen“ (weil die deutsche Sprache den Begriff „suchen“ ver-kümmern ließ) – auf eine Internet-„Forum“-Seite, die sich dem Thema „Spar-takiade“ ausgiebig widmete. Der „Sitz“ dieser Seite mit dem Titel „Ossi-Forum“ ist in Baden-Württemberg und allein in jener Rubrik waren 2.282 Inte-ressenten gemeldet. Dieses Forum hat strikte Regeln, bis hin zum Urheber-recht, so dass ich den Text nur mit Zurückhaltung zitieren kann. Indes: Meine Verblüffung war immens genug, um – alle Rechte respektierend – wiederzu-geben, was ich zum Beispiel in einem Beitrag aus dem August 2009 las: „Ich habe heute ein dreistündiges Telefonat mit einem Jugendfreund gehabt, den ich 1981 in Berlin bei der Spartakiade kennenlernen durfte. Natürlich haben wir von dieser Zeit viele schöne Erinnerungen, eine Zeit, die so nie wieder-kommen wird. Dabei haben wir versucht, die Namen unserer Mannschafts-mitglieder zusammen zu bekommen. Aber nach 27 Jahren? Nicht nur, dass die Knochen müde werden, nein, nun lassen uns auch noch langsam unsere grauen Zellen im Stich. Ich hoffe, es gibt da jemanden, der uns weiterhelfen kann: Gibt es ein Archiv oder sonstiges, wo man die Teilnehmer der Sparta-kiade findet? Namentlich aufgeführt oder ähnliches? Wir waren damals mit der Bezirksauswahl N… im Bereich Handball vertreten. Wer kann uns helfen? Wir würden uns über wirklich weiterhelfende Hinweise freuen. Vielen Dank im voraus an alle, die uns bei der Suche helfen!!!
K.“
Einige Passagen weiter las ich: „(…)10.8.2009. Hallo alle zusammen, toll hier von der Kinder- und Jugendspartakiade zu lesen. Ich komme aus Torgau und habe an sämtlichen Leichtathletik-Wettkämpfen in Leipzig teilgenommen. Gibt es noch andere, die da auch mit gemacht haben? Oder vielleicht bei den Schulsportfesten in Torgau. Fand das immer ganz lustig. Leider hab ich keine Medaillen mehr – sind irgendwie alle weg. Wohne jetzt in HH und mach der-zeit Betriebssport. Hab wieder richtig Blut geleckt und denk oft an die tolle Zeit von damals. Würd mich freuen, wenn sich jemand meldet.“
Ich kann mich leider nicht melden, weil ich nie in Torgau gestartet bin und obendrein war ich damals schon viel zu alt, um noch an der Spartakiade teil-nehmen zu können.
Mein Staunen ließ nicht nach: Die Spartakiaden hatten offensichtlich in vie-len Köpfen überlebt!
Und ich erinnerte mich, einst eine halbe Seite der „Frankfurter Rundschau“ aus dem Jahr 1989 archiviert zu haben, die mich damals ähnlich überrascht hatte. Bianka Schreiber-Rietig hatte dort zum Thema Spartakiaden den Be-richt der bundesdeutschen Sportobrigkeit erwähnt, der nirgends veröffentlicht
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worden war: „Mittlerweile gelten verschiedene Sportbereiche der DDR als Musterbeispiele auch für die Bundesdeutschen. Im letzten Jahr waren Eduard Friedrich, Manfred Eglin (beide vom Bundesausschuss Leistungssport) und Peter Holz von der Stiftung Deutsche Sporthilfe in die DDR gereist, um bei einer Kreis-Kinder- und Jugendspartakiade einmal anschaulich zu studieren, wie denn in der Deutschen Demokratischen Republik Kinder an den Hoch-leistungssport herangeführt werden. Eindrücke und Erkenntnisse wurden in einem 49seitigen Bericht festgehalten. Und selbst eingefleischte Gegner des DDR-Sports waren nach der Lektüre überrascht, dass die Talentförderung wenig mit politischem Drill oder medizinischen Spukgeschichten, aber viel mit systematischer wissenschaftlicher Arbeit zu tun hat. Berührungsängste gibt es für bundesdeutsche Sportfunktionäre nun etwa auf dem Sektor Talentför-derung nicht mehr. Vor einigen Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, in dem sensiblen Bereich Kinder- und Hochleistungsport öffentlich Anregungen aus der DDR zu diskutieren. Berührungsängste gibt es für bundesdeutsche Sportfunktionäre nun etwa auf dem Sektor Talentförderung nicht mehr. Vor einigen Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, in dem sensiblen Bereich Kinder- und Hochleistungssport öffentlich Anregungen aus der DDR für gut, vor allem auch auf das bundesdeutsche System übertragbar zu halten. BAL-Direktor Eduard Friedrich, in der DDR aufgewachsen und ein exzellenter Kenner des dortigen Sportsystems, formuliert das so: `Da haben einige er-kannt, dass es keine Geheimnisse gibt, sondern alles seriöse Erkenntnisse sind, die zu einem erfolgreichen Talentförderungssystem zusammengestellt wurden. Und die Kritiker, die ständig von politischem Missbrauch des Sports reden, haben auch gemerkt, dass ein Großteil der Erkenntnisse ideologie-neutral sind.´
Eine sportliche Grundausbildung steht für Kinder in der DDR in der Vor-schule und Schule zunächst einmal auf dem Stundenplan. Während regel-mäßiger Sportunterricht da gewährleistet ist, werden Kinder in der Bundesre-publik in ihrem Bewegungsdrang selten richtig gefördert, müssen in der Schu-le häufig auf Sportunterricht verzichten (noch immer gibt es nur selten eine dritte Sportstunde in der Praxis) und auch im Freizeitbereich ist das Bewe-gungsfeld von Kindern eingeengt.“
Das waren fundamentale Feststellungen, und zwar nicht einer Journalistin, sondern der für den Leistungssport in der BRD zuständigen Funktionäre. Feststellungen, die von Belang sind, weil die Erkenntnisse des Jahres 1988 – auf 49 Seiten festgehalten! – nach 1990 nicht mehr galten und seitdem durch Dopinglegenden ersetzt wurden. Geändert hat sich im alt-bundesdeutschen Sport also herzlich wenig, nur wurden dessen – von Experten ermittelte – Nachteile auf die neuen Bundesländer übertragen. Die Tatsache, dass sich die Spartakiadesieger – und auch die Verlierer – von einst noch heute be-geistert an diese Feste erinnern, ist mit den erwähnten Worten der Teilneh-mer-Kronzeugen mühelos zu belegen, und dass es Zeiten gab, in denen man im DDR-Sport ein fundiertes Vorbild sah, wird durch jenes Dokument nach-gewiesen, das die „Studienreise“ 1988 in die DDR belegt.
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Und um das Thema Spartakiade nicht nur mit Internet- und Zeitungs-Zitaten zu behandeln, sei hier noch ein Film über die Spartakiade erwähnt, der von überfüllten Rängen in Münchens Olympischem Dorf stürmisch gefei-ert worden war.
Ein gutes Jahr vor dem Auftakt der Spiele 1972 war der DTSB informiert worden, dass man die Errichtung eines Kinos im Olympischen Dorf plane und alle interessierten Länder auffordere, Kurzfilme zu liefern, die dort aufgeführt werden könnten.
Man grübelte in Berlin, welcher Film wohl geeignet sein könnte, im Münch-ner Olympiakino aus der DDR gezeigt zu werden? Als einer der auch Konsul-tierten, riet, den erfolgreichsten Dokumentarfilmer der DDR, Andrew Thorndi-ke, („Das Russische Wunder“) nach seiner Meinung zu fragen. Wir saßen Stunden beisammen, ich mühte mich, ihm die Situation im Olympischen Dorf zu beschreiben und dann lautete eine seiner ersten Fragen: „In welcher Sprache sollten wir ihn drehen?“
Es war im Grunde die gravierende Frage, denn die zu erwartenden Zu-schauer mochten an die fünfzig Sprachen sprechen. Thorndikes Konse-quenz: „Also ein Stummfilm!“ Seine Idee: Den Film musikalisch zu unterma-len und dazu Tafeln, auf denen in mindestens zehn Sprachen das gefilmte Ereignis in Stichworten vorgestellt wird.
Blieb noch die entscheidende Frage: Und das Thema?
Jemand schlug die Spartakiade vor. Thorndike hatte nie zuvor eine erlebt, mochte kein Sportfest filmen.
„Wo finden die denn statt?“
„In jedem Sommer überall! In allen Kreisen der DDR!“
„Und wo finden die schönsten statt?“
„In den schönsten Gegenden.“ Einer warf Wenigerode in die Debatte. Im Harzvorland an der Bode gelegen, überragt von einem Schloß (16. Jahrhun-dert, Renaissancebau; Heimatmuseum) und der Stiftskirche (1129; romani-sche flachgedeckte Basilika; reiche Plastik, Kirchenschatz). Rathaus mit Re-naissance-Portal und Roland (14. Jahrhundert), Fachwerkbauten in allen Straßen. Thorndike faszinierten die Fachwerkbauten und das Schloss. Er fuhr nach Wernigerode, stieg Schultreppen hinauf, kletterte an einem Schanzen-hang herab, bestaunte neue helle Turnhallen und bewunderte Übungsleiter und Sportler, die in alten dunklen Hallen nicht minder fleißig trainierten. Über-all traf er Menschen, die er, ohne eine Sekunde zu zögern, auf seine „Beset-zungsliste“ schreiben ließ. Frau R. zum Beispiel aus Bad Suderode, Sportleh-rerin mit Leib und Herz und Seele, die sich vormittags nach der Pausenklingel richtete und nachmittags kaum Pausen kannte, wenn sie sich um den außer-schulischen Sport kümmerte. Zudem: Ein Gesicht mit klaren Zügen unter grauem straffen Haar, gütig und mit dem sofort erkennbaren Verständnis für junge Menschen. Eine Turnstunde mit ihr – die wollte Thorndike als eine Epi-sode filmen. Seite um Seite füllte sich das Drehbuch.
Er begann den Film mit einer Landkarte, die die DDR mit vielen feinen Li-nien zerlegte und damit dem Zuschauer einen Begriff von den über 200 Krei-
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sen vermittelte, in denen überall Kreisspartakiaden ausgetragen wurden. Al-les schien im Griff, als das Wetter am lange vorbereiteten Drehtag einen rie-sigen Strich durch alle Ideen zog. Die Kameras standen auf den ausgesuch-ten Standpunkten, für Sonnenlicht bestimmter Farbfilm war in den Kassetten – und dann strömender Regen! Wird ein Spielfilm gedreht, werden die Akteu-re mit dem Hinweis nach Hause entlassen: Kommt wieder, wenn die Sonne scheint. Aber nun? Die Aktiven wollten laufen, springen, boxen; der Regen störte sie kaum und nie zuvor hatten sie erlebt, dass eine Spartakiade wegen schlechten Wetters verschoben worden wäre.
Zugegeben: Einiges wurde Andrew Thorndike zuliebe getan. Man bat diese oder jene Schule, an einem Sonnenschein-Tag, noch in die Arena zu mar-schieren und für stimmungsvolle Szenen zu sorgen.
Im Verlauf dieses regennassen Tages aber wuchs auch die Begeisterung des Regisseurs vor denen, die sich Tag für Tag um den Sport der Mädchen und Jungen kümmerten. In Bad Suderode war er begeistert von der Atmo-sphäre der Turnstunde bei Frau R. und filmte Kleinkinder bei ihren ersten Schwimmversuchen und einen Halbschwergewichtsboxer, der sein Können mit Lust und Liebe an Jüngere weitergab.
Der Stapel der Filmrollen wuchs und als man an den Schneidetischen da-rangehen wollte, die halbe Filmstunde aus all dem Material herauszufiltern, geriet man sich sogar in die Haare, stritt Nächte hindurch, schnitt hier und da, holte aber auch Herausgeschnittenes wieder heran.
Der Film hieß „Start“, und wenn je von einem mühsamen Start die Rede hätte sein können, dann kam dieser in die engste Wahl. Aber es wurde ein prächtiger Film und lief im Olympischen Dorf von München mehr als zehnmal. Mit riesigem Erfolg, weil jeder Besucher auf Anhieb verstand, worum es wo ging und der Höhepunkt war, wenn das Publikum im 80-m-Lauf der Zwölfjäh-rigen die Aktiven auf der Leinwand anfeuerten und dieser Beifall von Mal zu Mal zunahm. Der Film ging um die Welt. In Kairo kamen die Professoren der Filmhochschule und die Professoren der Sporthochschule, die sich sonst sel-ten treffen, in das Kulturzentrum der DDR und sahen gemeinsam den Film. Die einen staunten über den „stummen“ Stimmungsfilm und die herrlichen Bilder und die anderen über die Spartakiade, die Mannschaft aus Bad Su-derode und malerischen Fachwerkhäuser von Wernigerode.
Nur Erfolge also? Der Leichtathletik-„Cheftrainer“ der Schule, der Bio-logielehrer, schüttelt energisch den Kopf. Weil er seine Sprinter auf der Stra-ße laufen lassen mussten, sie hatten keine Laufbahn. Ein Jahr später war die neue Anlage fertig! Eltern halfen, Betriebe gaben Geld dazu, und als man am 1. Juni die noch frische Anlage einweihen wollte, durfte man sie zwar nicht betreten, weil es wieder mal regnete, aber wer wollte, konnte sich den bei den Olympischen Spielen so gefeierten Film ansehen – in dem es auch reg-nete!
Mithin: Niemand weiß mit Sicherheit, wo jener Film geblieben ist, aber – siehe oben – es sind da genug, die die Bilder der Spartakiade noch im Kopf haben!
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COUBERTINS MAHNUNGEN
Die „modernen Olympischen Spiele“ haben, seitdem sie auf den Markt gerieten, manches von dem verloren, was ihr „Erfinder“ Cou-bertin einst im Sinn hatte. Wir hielten es für sinnvoll, das mit einem Beitrag zu betonen, den Coubertin 1887 als Leserbrief an eine Pari-ser Zeitung gesandt hatte.
An „LE FRANCAIS“, Paris
Dienstag, den 30. August 1887
DIE ÜBERBELASTUNG
Wir haben von mehreren Freunden des FRANCAIS Beiträge zur Frage der Überbelastung erhalten. Diese Frage gehört zu denen, die gegenwärtig auf das Lebhafteste die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit beanspruchen; und sie verdient es in jeder Hinsicht.
Heute veröffentlichen wir eine Studie zu diesem Thema, mit der Monsieur Pierre de COUBERTIN sich an uns gewandt hat. Unser ausgezeichneter Mit-arbeiter hat die an den großen englischen Universitäten angewandten Me-thoden beobachtet, die bei der jungen Generation die Entwicklung der physi-schen Kraft und der intellektuellen Fähigkeiten in ein Gleichgewicht bringen sollen. Auf der Grundlage der in England gewonnenen Ergebnisse schlägt der Autor die Lösung des Problems vor. ...
Die Akademie für Medizin ist bei dem edlen Ziel, die Überbelastung zu be-seitigen, dabei, sich selbst zu überlasten. In einer beträchtlichen Anzahl von Sitzungen hat sie wohl eine noch beträchtlichere Anzahl von Referenten an-gehört, die – wie ich glaube – keine Schwierigkeit gehabt haben, ihre Hörer von der Existenz dieses Schulübels zu überzeugen und von der Notwendig-keit, es verschwinden zu lassen.
Die Überbelastung – „ein barbarisches Wort“, hat geistvoll M. Jules SIMON gesagt, und man kann ihn für diese Schöpfung nicht tadeln, da sie ja dazu dient, eine Barbarei zu kennzeichnen. Die Überbelastung ist in diesem Winter groß in Mode. Ich glaube selbst, daß sie wahrhaftig die höchste Bestätigung durch die Öffentlichkeit erfahren hat, indem sie einen Platz in den Revuen und den Chancons der Kaffeekonzerte erhielt. Es wäre bedauerlich zu sehen, daß eine Frage, die so ernst ist und die es erfordert, mit einer großen Zu-rückhaltung behandelt zu werden, jetzt in ein Aufbegehren umschlägt und ei-nes Tages zur fixen Idee wird. In Frankreich gelangt man nur zu leicht von ei-ner Übertreibung in die andere, und so wie die Auffassung sich nicht ohne die Hilfe eines Gesetzes oder Reglements durchzusetzen vermag, ist es mehr als sonst notwendig, vor überstürzten Reformen zu warnen.
Da die Krönung der geistigen Überbelastung die vergessenen Gesetze der Hygiene sind, könnte niemand die Akademie für Medizin dafür tadeln, daß sie sich mit dem Problem befasst. Aber daraus zu formulieren „den Wunsch, die
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großen Reformen zur Art und zu den Programmen auf den gegenwärtig ge-bräuchlichen Unterricht angewendet zu sehen“ – davon ist man weit entfernt. Ist dieses Mittel gut? Man darf es bezweifeln. Gewiß arbeiten unsere Schüler zuviel. Ihre Programme sind zu umfassend, und der Unterricht selbst verdien-te eingegrenzt zu werden, denn man sollte nun klarer erkennen, daß dies besser ist als viele Dinge nur oberflächlich zu tun.
Aber wenn man sich darauf beschränkt, die Unterrichtsstunden zusam-menzudrängen, ohne etwas an ihre Stelle zu setzen, dann verlohnt sich das wirklich nicht. Ging es lediglich um eine Verlängerung dessen, was man an den Colleges Rekreation nennt? Es ist immer noch besser, daß die Kinder über ihre Schulbank gebeugt sitzen bleiben, als daß sie innerhalb der vier Mauern des Schulhofes einen verkrüppelten Baum umkreisen. Man hat of-fensichtlich für den Geist zuviel getan, aber man hat vor allem nicht viel für den Körper getan; die Zeit für die Rekreation zu erhöhen, heißt nicht, die Lü-cke zu schließen. Man kann den Kindern gut raten zu spielen, aber was meint man, mit wem sie spielen sollen, wenn man sie auf diese Schulhöfe losläßt, die auch nur für ein Sechstel von ihnen zu eng sind? Es ist dies wirklich eine ein wenig ironische Empfehlung, und sie würde unsere Nachbarn in England und Deutschland mitleidig lächeln lassen. Ja, ich weiß, es gibt „Promenaden“. Diese ungesunden Wanderstrecken quer durch Paris. Kann man ohne Herz-beklemmung ansehen, wie die langen Reihen von Schülern gezwungen sind, ihre wöchentlich schulfreie Zeit auf diese ungesunde Weise zu verbringen? Wenn man die Dauer ihrer Lernzeit verringert, dann wird es zweifellos zwei dieser Promenaden pro Woche anstelle einer geben. Sicher ein schöner Fortschritt! Das ist nicht das rechte Mittel – wir müssen andere suchen. Viele unserer Pariser Oberschulen sind alte Bauten. Die Belüftung ist schlecht, die Klassenzimmer sind meist ungesund. Man versteht, daß diese Bedingungen nicht günstig für die physische Entwicklung der Kinder sind, und alle getroffe-nen Hygienemaßnahmen können angesichts dieser Einrichtungen nur bejaht werden. Aber es gibt auch andere, neu gegründete, wo diese Maßnahmen schon angewendet worden sind. Ich besuchte im Frühjahr das Lyzeum Jan-son De Sailly in Pasey, Rue de la Pompe. Entlang der Gebäude verlaufen große offene Galerien, und die Fassaden sind aufgelockert durch farbige Steine, die einen „dem Auge angenehmen und gefälligen Eindruck“ vermit-teln, sagte mir mein Erklärer. Und noch mehr: dank der durchdachten Anord-nung eines Wandelganges kann man unter einem Schutzdach von einem Ende zum anderen des Lyzeums gehen. Gewiß spielt man dort nicht mehr als anderswo, trotz der Wandmosaiken, und die Kinder würden vielleicht allen diesen schönen Dingen einen größeren Garten vorziehen, in dem sie ganz ungezwungen herumspringen könnten, selbst auf die Gefahr hin, dann und wann ein paar Regentropfen abzubekommen.
In dem gleichen Lyzeum Janson, wie in vielen anderen, gibt es eine Turn-halle und einen Fechtsaal. Der Sport ist auf diese Weise ausreichend vertre-ten. Gewiß spielt das Turnen eine Hauptrolle und ich verneine durchaus nicht das Fechten. Ich glaube jedoch, folgende Einschränkung machen zu müssen:
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Das Turnen hat seinen Platz in der Rekreation, und da es viele Schüler für ein Schwebereck gibt, kann jeder Schüler kaum mehr als eine Kippe pro Tag, mit Ausnahme von Donnerstag und Sonntag machen...
Warum ist also die Turnhalle nicht immer geöffnet mit dem Recht der Kin-der, ihren Bizeps immer dann zu stärken, wenn es ihnen gefällt? Solange das Turnen auf diese Weise reglementiert wird, wird es keine großen Dinge er-warten lassen. Was das Fechten angeht, die gleiche Bemerkung. Der Lehrer kann sich jedem nur einige Augenblicke widmen, und wenn er die Anfänger einen gegen den anderen fechten läßt, nehmen sie falsche Gewohnheiten an, die sie in der Folgezeit hindern, ein guter Fechter zu werden.
Ich möchte hinzufügen, daß das Fechten – dieser ausgezeichnete franzö-sische Sport, in dem wir fast das Monopol haben – nicht gerade geeignet ist, von den Kindern anerkannt zu werden. Es ist gut, daß sie sich ihm von Kind-heit an verschreiben; das Florett erfordert Geistesgegenwart, Erfahrung und eine vielseitige körperliche Entwicklung.
Im Sommer gibt es kühle Bäder. Das gilt für zwei Monate im Jahr. In der übrigen Zeit wäscht man sich nicht. Es wird offenkundig, daß sich die Zahl derjenigen erhöht, die das System des Reinigens nützlich finden, um nicht zu sagen notwendig – sowohl für die Gesundheit als auch physisch und mora-lisch. Aber die Umsetzung der Theorie in die Praxis ist eine mühselige Ange-legenheit. Alles in allen kenne ich eine Oberschule, die ein Schwimmbad be-sitzt, das Lyzeum in Vanves – übrigens mit einer ganz besonderen Sorgfalt organisiert. Unglücklicherweise war das Schwimmbecken nicht überdacht und im Winter nicht nutzbar.
Eine simple Parallele: In Starrow bei London zahlt jeder Schüler (es sind nur 400) ungefähr 35 Franc pro Jahr für den Unterhalt des Schwimmbeckens. Das ist nicht teuer. Ich weiß nicht wie viel die Erstinstallation gekostet hat. Aber es lohnt sich, ein Opfer zu bringen. Würde man die Turnhallen öffnen und Schwimmbecken bauen, wäre die bereits gestellte Frage der Überbelas-tung einen Schritt zu ihrer Lösung weiter, und zwar ohne daß es nötig wäre, Unterrichtsstunden und Studium viel zu verkürzen. Jede hygienische Vor-sichtsmaßnahme, jede Übung – militärisch oder nicht – können nicht die Spiele ersetzen. Es gibt in unserer Nachbarschaft ein Volk, das man gern in seinen sportlichen Neigungen als übertrieben einschätzt. Man braucht nicht zu befürchten, diesen Nachbar zu kopieren. Würde man es jedoch tun, könn-te man vermeiden, in die gleichen Fehler zu verfallen, und man könnte es besser machen als der Nachbar.
Ich habe mich oft gefragt, weshalb die Spiele in England so bedeutende Resultate zeitigen, weshalb sie allgemein so verbreitet sind und woher ihre Popularität kommt.
Das hat drei Ursachen:
Ihre Verschiedenartigkeit, die Freiheit ihrer Organisation und schließlich die Ermutigung, die ihr durch die öffentliche Meinung zuteil wird.
Die Verschiedenartigkeit ist eine unerläßliche Bedingung. Wie ist zu erwar-ten, daß Kinder, deren Charakter, Kraft und physische Eignung so unter-
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schiedlich sind, Freude daran haben, ein und dasselbe Spiel zu betreiben? Die Dinge liegen jedoch anders, und man erreicht sein Ziel, indem man ein Spiel anordnet und den Kindern Strafarbeiten und Strafen auferlegt, die nicht daran teilnehmen oder die nicht viel zum Üben beitragen. Dieses Denken ist wohl lächerlich. Um nun unverdiente Bestrafung zu vermeiden, lernen die Kinder zu heucheln und geben vor zu spielen, bis der Aufsichthabende wie-der den Rücken kehrt und die Schüler die unterbrochene Unterhaltung wieder aufnehmen können. Gott weiß, worum sie sich dreht! – Bei den seltenen Ge-legenheiten, zu denen ich französische Schüler sah, die sich frei für irgendein Spiel gruppieren durften, habe ich immer den Eifer bemerkt, den sie an den Tag legten. Sie hätten sich sonst nicht so bemüht. Aber diese Möglichkeit der Vereinigung, diese Autonomie – ein Schatzmeister, der benannt wurde, um minimale Mitgliedsbeiträge zu erheben, die dazu bestimmt sind, das Funktio-nieren zu sichern oder einige nötige Dinge anzuschaffen – alles das verdop-pelte ihren Drang.
Gleichzeitig damit entstand ihr Wetteifer, der immer leichter zwischen Gruppen als zwischen Individuen zu aktivieren ist. Diese Besonderheiten fin-den sich überall in den englischen Spielen wieder.
Was die den Spielen zu gebende Ermutigung anbelangt, ist es nicht genug, daß sie von den Lehrern kommt. Was die Kraft in England ausmacht, ist, daß die Ermutigung von der gesamten Öffentlichkeit kommt. Wieso zeigen die Jungen keinen Enthusiasmus für irgendwelche Wettbewerbe der Erwachse-nen, ausgebildeten und intelligenten Männer – wieso zeigen sie keine Bereit-schaft, daran teilzunehmen? Die Öffentlichkeit bei uns blieb in dieser Hinsicht kühl. Aber es geht eine unleugbare Veränderung vor sich, und die Kör-perübungen gelangen zu Ehren. Man hat Fecht- und Turnwettbewerbe einge-führt; es sind weitere und häufigere notwendig. Man braucht Preise und Bei-fall.
Das Problem ist also, in unsere schulischen Gewohnheiten Spiele einzu-führen, die sich unter drei Aspekten abzeichnen: Verschiedenartigkeit, Grup-pierung und Popularität. Das heißt, sie müssen allen Altersstufen und allen Eignungen dienen, sie müssen von den Spielenden selbst organisiert wer-den, die sich auf ihre Art und Weise gruppieren, und daß die Spiele schließ-lich Wetteifer und Begeisterung wecken. Hierbei gibt es ernsthafte Schwierig-keiten zu überwinden, von denen einige besonders typisch für Frankreich sind.
Die erste Schwierigkeit vor allem kommt aus der Situation unserer Ober-schulen, die fast immer in Städten existieren, in Hauptorten der Departe-ments oder in großen Industrie- und Handelszentren. Man findet kaum Aus-nahmen. Die Zahl der Schüler ist gleichermaßen ein Hemmnis, wenn es sich um Spiele handelt, die sich natürlich nur mit einigen organisieren lassen. Es wird dann notwendig, die Gruppen zu multiplizieren; das bedeutet Platz- und Kostenaufwand. Nun ist in den großen Städten der Boden sehr teuer. Ande-rerseits quälen sich die Eltern ohnehin ab, ihren Kindern eine bessere Erzie-hung zuteil werden zu lassen, und sie zeigen wenig Freude, die Gebühren für
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die Erziehung erhöht zu sehen. Man könnte antworten, daß es falsch sei, Oberschulen anderswo als auf dem Lande zu errichten. Da es dort anderer-seits weniger bevölkert ist, könnte alles um so besser gehen. Aber das sind Reformen, vor allem die erste, die sich nicht von heute auf morgen realisieren lassen. Es ist gut, mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge zu rechnen und sich dann zu einem Zeitpunkt zu einigen, da man weiteres tun kann.
Gelände zu finden, ist der erste Punkt. Es ist überall schwierig – in Paris scheint es unmöglich zu sein. In der Provinz läßt sich immer noch eine Hin-tertür finden. Aber in Paris? Es wäre notwendig, daß jede Oberschule außer-halb ihres Festungswerkes ein Feld beachtlicher Größe hätte. Man könnte hier in 4 aufeinanderfolgenden Stunden zweimal in der Woche spielen. Frei von gefürchteten Hemmnissen, denn es wäre unzweckmäßig, alle Abteilun-gen am gleichen Tage spielen zu lassen. Im Winter könnte man Fußball vor-sehen, das erfordert keine hohen Anlagekosten. Im Sommer wären es Cri-cket oder Rasentennis, die an unseren Oberschulen Freude schaffen. Letzte-re Sportart, an der man in Frankreich Geschmack zu gewinnen beginnt, setzt eine sorgfältige Unterhaltung voraus, Schläger und Bälle. Aber dessenunge-achtet kann man sich mit einem befestigten Sandboden oder Asphaltboden begnügen, das reduziert die Kosten beträchtlich. Warum wurde Cricket bisher bei uns so gering geschätzt? Es ist ein ausgezeichnetes Spiel, sehr interes-sant, es schult die Disziplin und weckt den Gemeinschaftsgeist. Die Vervoll-kommnung liegt nur in der Kraft des Spielers.
Ein Engländer nannte Cricket das Habeaskorpus seiner jungen Landsleute. Es ist tatsächlich gut für ihre fundamentale Erziehung. Die Aufzählung der weiteren Spiele, die es verdienten, bei uns eingeführt zu werden, würde zu lang. Jede Saison hat ihre Anhänger, und man kann sagen, daß es für jeden Geschmack etwas gibt. Man findet jedoch noch andere Formen der Unterhal-tung. In der Mehrzahl der englischen Oberschulen existieren eine Art Werk-räume, wo die Schüler sich mit unterschiedlichen Arbeiten der Tischlerei, ja sogar der Kunsttischlerei unter der Leitung eines erfahrenen Arbeiters be-schäftigen.
Ich habe solch eine Werkstatt sehr häufig gesehen, vor allem in der schlechten Jahreszeit, und ich brauchte nie nach dem Nutzen zu fragen.
Offensichtlich sind die größten Vorbehalte gegenüber solchen Neuerungen die Kosten, die sie verursachen. Gesetzt den Fall, die Oberschulen besäßen ein ziemlich entlegenes Spielterrain, dann muß man an die Gelder für die Be-förderung denken. Das ist ein Detail von besonderer Bedeutung. Aber die Ei-senbahn gibt Dauerkarten, und die Kosten könnten minimal sein.
In Frankreich tritt die Frage des Geldes manchmal in einer sehr unglückli-chen Form auf. Wir haben die Besonderheiten des Egalitätsgeistes. Das ist nicht immer tadelnswert. Aber unter dem Vorwand, schließlich gerade nicht die weniger Reichen zu treffen, verdammt man jene, die mehr für eine echte Kostenverringerung etwas tun könnten. In einem Fall darf man sich keines-wegs knausrig zeigen, das ist im Falle der Erziehung. Für den Körper und für
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den Geist ist der Moment entscheidend, und die geringste Nachlässigkeit könnte verhängnisvolle Konsequenzen haben. ...
Der Staat, der bei uns eine so wohlhabende Persönlichkeit ist, könnte, wie mir scheint, Gelände abgeben oder verpachten. Ist es zuviel seine Großzü-gigkeit zu erwarten, und hat er nur ein Herz für das, was mit der Politik zu-sammenhängt? Wir hoffen nein.
Aber wie es ratsam ist, zwei Sehnen auf seinem Bogen zu haben, wäre es wichtig, daß die Oberschulen Hilfe von einer Vereinigung erbitten, von einer Liga, die zu gründen wäre, um die Einführung der Spiele zu erleichtern, und durch alle möglichen Mittel zu ermutigen. Wäre es so schwierig, eine solche Liga zu etablieren und zu unterhalten? Auf alle Fälle wäre ein solcher Ver-such der Mühe wert.
Die Vereinigung könnte das Material zu günstigen Preisen liefern. Es blie-ben dann nur geringe notwendige Beiträge, daß die Kinder sich als Herren und Eigentümer ihrer Spiele fühlen könnten. Weiter wäre nichts erforderlich.
Wenn die finanzielle Frage auch die wichtigste ist, die einzige ist sie nicht. Viele Väter beunruhigen sich ohne Zweifel, daß sich Gelegenheit bieten könnte, der Aufsicht zu entweichen, sie sehen einen Riß in der Disziplin, der sie ihre Kinder gern ständig unterworfen sehen möchten. Ich habe nicht die Absicht darüber zu diskutieren, ob die engherzige Aufsicht, die man in Frank-reich praktiziert, gut oder schlecht ist. Sicher wird es nicht schwieriger sein, auf einem Platz in freier Natur zu spielen als in Korridoren oder in den Höfen. Die Spiele werden zu Beginn vielleicht einige Gehirne in Wallung bringen, aber sie werden sich schnell beruhigen. Es ist nötig, daß die Kinder angeregt werden, daß sie sich für etwas begeistern.
Welchen besseren Ausweg kann man für ihre überschüssige Kraft, für ihr natürliches Bedürfnis nach Austoben und Bewegung finden? Schließlich sagt man, daß die Spiele Zeit beanspruchen, und daß diese das Lernen be-schneidet! Es ist so, daß die von der Akademie für Medizin geforderten Modi-fikationen zu berücksichtigen sind. Aber man wird zugeben, daß – bevor man alles umstößt, um diese Reformen anzuwenden – es falsch wäre, etwas durchzuführen, was diese Reformen überhaupt erst notwendig machte. Bevor man einen Platz abräumt, muß man Maß nehmen, um nicht eine übertriebe-ne Bresche zu schlagen, die man dann zum Teil wieder auffüllen müßte.
Ich bin überzeugt, daß die Erfahrung sehr rasch zeigen wird – und zwar besser als alle Überlegungen -, daß das wirkliche Mittel gegen Überlastung oder vielmehr gegen Effekte, die man ihr zuschreibt, nicht in der Schwächung und Verlangsamung des Lernens liegt, sondern in dem Gegengewicht, das der Sport der intellektuellen Ermüdung bietet. Es ist der Sport, der das zer-brochene Gleichgewicht wieder festigt. Er muß seinen markierten Platz im Gesamtsystem der Erziehung haben, er muß es durchdringen. Dann wird man bald seine Vorteile erkennen: physische Vorteile, er ist es, der die Ge-sundheit stabil erhält; moralische Vorteile, denn er schafft ... ruhige Sinne und Vorstellungen und entspannt die Nerven; selbst soziale Vorteile, denn er dient dazu, in die Gesellschaft der Kinder die Regeln hineinzutragen, die die
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Gesellschaft der Menschen beherrschen. Er schafft einen gekräftigten Kör-per, einen Willen, der den Körper beherrscht und ihn anregt. Die Menschen werden schließlich Respekt vor der Autorität haben, anstelle der revolutionä-ren Verbitterung, die immer in Rebellion gegen die Gesetze steht.
Pierre de COUBERTIN
(Übersetzung aus dem Französischen: Marianne Walther)
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DER RINGKAMPF DER RINGER
Von KNUT HOLM
Als Pierre Baron de Coubertin sein Vorwort für die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen schrieb, schien er bereits geahnt zu haben, welche Gefahren seinem damals noch als abenteuerlich betrachteten Vorha-ben vor allem drohten. Da war zum einen der Kommerz und zum anderen die Politik. Mit der waren die Spiele zum Beispiel in Deutschland konfrontiert worden, noch ehe sie begonnen hatten. Der „Erfinder“ der Spiele war ein Franzose und die waren spätestens seit 1870 die Erzfeinde der Deutschen. Dass sich ein tapferer Mann namens Dr. Willibald Gebhardt um den Franzo-senhass der Politiker nicht scherte und mühsam eine Mannschaft formierte, trägt man ihm bis heute nach. Und wer diese Feststellung für eine Übertrei-bung hält, sollte daran erinnert werden, dass der Vorschlag des Vereins „Sport und Gesellschaft“ ihn posthum in die mit soviel Spektakel gegründete „Halle des Ruhms“ aufzunehmen bis zur Stunde negiert wurde!
Coubertin hatte in jenem Vorwort geschrieben: „Überall hatte ich Zwietracht und Bürgerkrieg zwischen den Anhängern oder den Gegnern der einen oder anderen Übungsart gesehen, ein Zustand, der mir aus einer übermäßigen Spezialisierung zu entspringen schien. (…) Dazu kam noch ein anderer Um-stand: Der Geschäftsgeist drohte mehr und mehr in Sportkreisen Eingang zu finden. Da, wo man nicht offen um Geldpreise lief oder rang, fühlte man nichtsdestoweniger eine Neigung zu bedauerlichen Abmachungen und in das Bestreben zu siegen mischte sich häufig alles andere ein als Ehrgeiz und Ge-fühl für Ehre.“
Seitdem Coubertin den „Geschäftsgeist“ als eine Gefahr für Olympia er-kannt hatte, sind 117 Jahre vergangen, seitdem er starb 76 Jahre. Er hatte garantiert nie vor einem Fernseher gesessen und auch nicht ahnen können, dass diese weltweit auch von den Sportanhängern so begrüßte Errungen-schaft eines Tages die Olympischen Spiele „übernehmen“ und dann das Pro-gramm nach ihren von den Einschaltquoten bestimmten Einnahmen gestalten würden, assistiert von der Sportartikelindustrie. Dass die gemeinsam hinter dieser im Grunde absurden Entscheidung stehen, wird schon durch die Ant-wort auf die Frage geklärt, wer denn überhaupt diese Entscheidung traf?
Zu Coubertins Zeiten wurden solche Entscheidungen vornehmlich durch die regelmäßig von ihm arrangierten Olympischen Kongresse getroffen. Nach seinem Rücktritt Mitte der zwanziger Jahre nahm der Trend zu, auf Kongres-se zu verzichten und dem IOC die alleinige Macht zu sichern. 1930 fand für Jahrzehnte der letzte statt. Erst als die sozialistischen Staaten darauf bestan-den, sich an Coubertins Grundsätze zu erinnern, fand 1973 im bulgarischen Badeort Warna nach 43jähriger „Pause“ der nächste Kongress statt, der übri-gens den Titel „Sport und Weltfrieden“ trug. 1981 wurden in Baden-Baden so ausschlaggebende Beschlüsse wie der Verzicht auf die Amateurregeln ge-fasst. Nach 1994 vergingen wieder 15 Jahre, ehe in Kopenhagen der bislang letzte Kongress stattfand. Damit wäre belegt, dass im Grunde seit 1930 das
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IOC die wichtigsten Entscheidungen selbst traf, was verheerende Folgen zei-tigte, weil in diesem Komitee längst gefährlicher Lobbyismus herrschte. Viele IOC-Mitglieder waren von Unternehmen engagiert worden und vertraten de-ren Interessen.
Damit wäre man bei der zweiten Frage: Warum war ausgerechnet das Rin-gen als nicht mehr olympiawürdig erklärt worden?
Die führt zurück zum ersten Komplex und zum Lobbyismus. Die Fernseh-multis hatten festgestellt, dass Ringen geringere Zuschauerquoten aufwies, als spektakulärere und vom Zuschauer in seinen Entscheidungen leichter verfolgbare Sportarten. Dies wiederum wirkte sich auf die Einnahmen aus, die die Werbeeinblendungen sicherten. Die Sportartikelindustrie erwies sich als konzilianter Partner: Was ließ sich an Ringertrikots und den seit 1896 kaum wesentlich modernisierten Matten verdienen? Vergleicht man die Uten-silien der Ringer mit denen, die zum Beispiel die an Stelle der Ringer als Kandidaten weit oben rangierenden Rollsporter benötigen, vermag selbst der Laie mühelos die „Marktlage“ erkennen.
Ausschlaggebend aber waren die Fernsehmultis, deren Olympia-Umsätze phantastisch gestiegen sind.
In den letzten Jahren ergaben sich unglaubliche Gewinne – auch für das IOC! Zusammen mit den Winterspielen 2010 in Vancouver kam das Komitee – steuergünstig in Lausanne sesshaft – bei den Londoner Spielen 2012 auf einen Rekordumsatz von mehr als sieben Milliarden Dollar (5,8 Milliarden Eu-ro). Das ergab eine Berechnung der Nachrichtenagentur dpa. Die Vorgänger-Spiele in Turin 2006 und Peking 2008 hatten dem IOC 5,45 Milliarden Dollar eingebracht.
Der Gesamtumsatz errechnete sich aus einer Bilanz aus vier Kategorien: Fernsehrechte, Zahlungen von Sponsoren, die dafür die olympischen Ringe in ihrer Werbung verwenden dürfen, Eintrittskarten und Lizenzen. TV-Rechte und die Zahlungen internationaler Sponsoren werden vom IOC durch Verträ-ge direkt geregelt. Eintrittskarten und Lizenzen werden von den Veranstaltern selbst gemanagt. Die letzten Summen, die das IOC für die Fernsehrechte einzunehmen gedenkt, lagen nach den Berechnungen von Fachleuten bei 3,91 Milliarden Dollar, eine Preissteigerung von etwa 40 Prozent. dpa: „Man muss das IOC nicht unbedingt als mildtätig bezeichnen. Fest steht allerdings, dass es seine Geschäftspartner umfassend bedenkt. Nur knapp zehn Prozent der Gesamteinnahmen behält der olympische Großunternehmer für sich. Das bedeutet nach den London-Spielen einen Zuwachs um mehr als 700 Millio-nen Dollar, mit dem er seinen Vierjahres-Haushalt bestreitet und seine Rück-lagen von etwa 600 Millionen Dollar anreichern kann. Diese `Kriegskasse´ dient als Risikoversicherung für wirtschaftlich schwere Zeiten oder gar den Ausfall Olympischer Spiele.“
Zahlungen leistet das IOC auch an die 26 anerkannten internationalen Sportverbände und 205 Nationalen Olympischen Komitees (NOK). Die Ver-bände sollen Summen um 350 Millionen Dollar kassieren, genaue Zahlen fin-den sich nirgendwo.
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Zurück zu den jetzigen tatsächlichen Besitzern der Spiele, den Fernseh-multis: Allein der TV-Riese NBC zahlt 4,38 Milliarden Dollar allein für die US-amerikanischen-Fernsehrechte an den Spielen von 2014 bis 2020!
Mithin: Coubertins Warnung vor dem „Geschäftsgeist“ ist schon längst kei-ne „Einmischung“ mehr, sondern faktisch die Umwandlung der einst vom IOC – offiziell auch heute noch – veranstalteten Olympischen Spiele in einen weltweit operierenden Multi-Konzern, der es sich leisten kann, weniger Profit sichernde Sportarten auszusortieren.
Nebenbei noch die Frage: Wer traf im Auftrag des Konzerns die Entschei-dung, Ringen von der Liste der olympischen Sportarten zu streichen?
Es war das Exekutivkomitee des IOC, das faktisch als Aufsichtsrat fungiert. Nächste Frage: Wer sitzt in diesem Komitee? Das sind die „Aufsichtsräte“: Der als Präsident des IOC fungierende belgische Arzt Jacques Rogge – dreimal bei olympischen Segelregatten gestartet – die Vizepräsidenten Ser Miang Ng aus Singapur, der als Lieblingssportart ebenfalls Segeln angab, Thomas Bach (BRD), Olympiasieger im Fechten 1976, lange Jahre Direktor bei der Sportschuhfabrik Adidas und bei Siemens, Nawal El Moutawakel aus Marokko, die 1984 die 400 m Hürden gewonnen hatte, und der Schotte Craig Reedie, der als Finanzberater tätig ist und nebenbei Badminton spielen soll, der als Rechtsanwalt tätige australische ehemalige Rudersteuermann John Coates, der Südafrikaner Sam Ramsamy, der schon mal die Schwimm- und die Fußballmannschaft der Provinz Natal vertreten haben soll, die Schwedin Gunilla Lindberg, die Mitglied im IOC-Komitee Frauen und Sport ist, der auf Taipeh lebende Chinese Ching-Kuo Wu, der schon mal in einer Universitäts-Basketball-Mannschaft spielte, der Schweizer René Fasel, Eishockeyspieler in Fribourg und später Eishockeyschiedsrichter, der Ire Patrick Joseph Hi-ckey, Träger eines schwarzen Gürtels im Judo, Claudia Bokel aus der Bun-desrepublik Deutschland, die 2004 in der Fecht-Mannschaft Silber erkämpfte, der Sohn des letzten spanischen IOC-Präsidenten Samaranch, der als Un-ternehmensberater tätig ist und in Spanien Vizepräsident des Modernen Fünfkampfverbandes sein soll, Sergej Bubka aus der Ukraine, der als Stab-hochspringer an vier Olympischen Spielen teilnahm und einmal Gold gewann, und der Guatemalteke Willi Kaltschmitt Lujan.
Damit stünde zumindest fest: Ein Ringer war nicht dabei, als man ent-schied, Ringen aus dem Olympischen Programm zu streichen!
Fragt sich der Laie: Wer könnte denn in diesem Kreis auf die Idee gekom-men sein, künftig auf die seit 1896 ausgetragene Sportart zu verzichten?
Die Antwort könnten nur Eingeweihte geben, die zum Beispiel wissen – und für sich behalten – wie viel die Fernsehmultis dem oder jenem gezahlt haben. Der Brite Andrew Jennings, der auch in Hinterzimmern des IOC zu verkehren pflegt, beschrieb in seinem Buch „Olympia-Kartell – Die schäbige Wahrheit hinter den fünf Ringen“ (1996) ziemlich genau, wie Taekwondo ins olympische Programm gelangte: „Wie stolz werden die jungen Taekwondo-kämpfer sein, wenn sie im Jahr 2000 in Sydney zum erstenmal auf der Matte stehen. Mit noch größerem Vergnügen wird jedoch Mickey Kim sie betrach-
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ten. Die Welt wird Athleten erblicken, die entschlossen sind, ihrem Land, ih-rem Sport und dem olympischen Idealismus Ehre zu machen. Mickey Kim aber hört die Kasse klingeln: Dollars, D-Mark und englische Pfund. Jeder Sportler, jeder Kampfrichter und jeder Funktionär mußte ihm Gebühren für das Privileg bezahlen, an den Jahrtausendspielen teilzunehmen.“
Allerdings hat die Anti-Ringer-Entscheidung ein Echo ausgelöst, mit der diejenigen, die sie in die Wege leiteten, nicht gerechnet hatten.
Mit allen Vermutungen, was sich vor der Entscheidung hinter den Kulissen abgespielt haben könnte, muss man vorsichtig sein, um nicht mit massiven juristischen Klagen konfrontiert zu werden, aber seitdem Russlands Präsident Putin die Schar der Ringerfans verstärkte, fühlt man sich sicherer.
Ganz zu schweigen vom Bundesminister Schäuble, der sich – im Sport – öfter mal auf die Seite der Tatsachen begibt. Ich vermute mal, dass er Thomas Bach anrief und wissen wollte, ob er etwa auch gegen die Ringer gestimmt habe und von ihm keine Antwort bekam, was letztlich auch eine Antwort war. Die bewog Schäuble – Respekt! – an die Öffentlichkeit zu gehen und Bach einen Brief zu schreiben, der bis zum Redaktionsschluss der „Bei-träge zur Sportgeschichte“ auch nicht beantwortet worden war.
Inzwischen war weltweit ein Protesttsunami losgestürmt. In 177 Ländern der Erde wird gerungen und 177 Ringerverbände protestierten. In der Bun-desrepublik wurden 57.411 Unterschriften gegen den Beschluss gesammelt. In Bulgarien gab ein Olympiasieger seine Goldmedaille zurück und Präsident Putin hatte nicht nur seinen Protest bekundet, sondern Order erlassen, ein Komitee zu gründen, das die nötigen Schritte einleitet, um die Entscheidung zu korrigieren. Der russische Sportminister Witali Mutko und alle drei russi-schen Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Alexander Popow, Wladimir Smirnow und Schamil Tarpischew, traten dem Komitee bei und auch Alexander Karelin, die berühmteste Ringerlegende der Neuzeit, ist mit der Partie. Der Abgeordnete der Staatsduma aus Sibirien kann obendrein die Autorität seiner Funktion einbringen: Seit vorige Woche gehört er zum Bu-reau des Verbandes, der als eine Folge der IOC-Entscheidung vom vergan-genen Dienstag seinen Präsidenten verlor.
Der ehemalige Präsident des Ringerverbandes der DDR, Dr. paed. habil. Alfred Borde, der Chefverbandstrainer des DDR-Ringerverbandes, Willi Tep-per, der frühere Generalsekretär des Verbandes, Erhard Richter protestierten nachdrücklich und die Weltmeister Roland Gehrke und Uwe Neupert forder-ten, umgehend den Beschluss zu annullieren.
Der Präsident des Ringerverbandes Griechenlands, Kostas Thanos, sprach davon, dass die Herren des IOC den olympischen Geist töten. Markus Sche-rer, Olympiazweiter 1984, sagte: „Wenn Olympia 2020 in der Türkei stattfin-den sollte – ohne Ringen –, das wäre wie Gulasch ohne Fleisch“.
Die Entscheidung muss das IOC im Spätsommer fällen, aber inzwischen zeichnet sich ab, dass das Komitee, in dem die Nationalen Olympischen Ko-mitees (ANOC) vereinigt sind, gegen die Entscheidung des Exekutivkomitees votieren wird. Am 5. März kam folgende Nachricht aus Sydney: „Ringen kann
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beim Kampf um seinen Olympia-Status auf die Unterstützung der Nationalen Olympischen Komitees bauen. Er werde sich in Gesprächen mit dem IOC da-für einsetzen, dass der Traditionssport im olympischen Programm bleibt, er-klärte Scheich Ahmad Al-Sabah, Präsident der Vereinigung aller Nationalen Olympischen Komitees (ANOC). `Wir haben großes Interesse daran, dass Ringen olympisch bleibt´, sagte Al-Sabah nach einer Sitzung des ANOC-Vorstandes am Dienstag in Sydney. `Wir respektieren die Beschlüsse und Empfehlungen des IOC, ich bin aber zuversichtlich, dass die Abstimmung der Session zugunsten von Ringen ausfallen wird´, sagte Al-Sabah, der seit April 2012 ANOC-Chef ist. Er ließ auch wissen, dass seine Organisation eng mit dem Internationalen Ringer-Verband (FILA) zusammenarbeiten würde, um die jahrtausendealte Sportart vor dem drohenden Olympia-Aus zu retten.“
Damit dürften die Ringer neue Hoffnungen schöpfen!
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SPORT IM BUNDESTAG
REDE DES ABGEORDNETEN JENS PETERMANN (DIE LINKE)
(206. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20. November 2012)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Sportfreund Peter Danckert, du hast völlig recht: Sport kommt in dieser Bun-desregierung zu kurz. Richtig ist auch: Die Strukturen des Sports sind nicht in Ordnung. Passend zur aktuellen Haushaltsdebatte um die Förderung des Spitzensportes durch den Bund kommen die Forderungen der Sportminister-konferenz, die Ende letzter Woche im thüringischen Eisenach getagt hat. Die Forderungen sind nicht ganz neu. Es geht um bessere Absprachen der Bun-desländer, mehr Geld und bessere Effizienz, eine hochwertige akademische Trainerausbildung, die Stärkung des Ehrenamtes und der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, aber auch um den Kampf gegen Gewalt und Rechts-extremismus.
Die Antworten der Koalition auf diese Forderungen sind mehr als einsilbig. Als hätte es die Kritik am Abschneiden der Olympiamannschaft in London und am völlig verkorksten Engagement im Antidopingkampf nicht gegeben, geht die Koalition mit dem Haushalt zur Sportförderung eingefahrene Wege weiter. Daran ändert übrigens auch die über Nacht noch schnell beschlosse-ne geringfügige Erhöhung des Sportetats nichts.
(Beifall bei der LINKEN)
Gelingt es ihr einerseits gerade noch so, den völligen Zusammenbruch des Antidopingkampfes durch einen Zuschuss an die NADA zu verhindern, streicht sie im gleichen Atemzug Mittel für die Trainerausbildung.
Dieser Haushalt ist ein Dokument für drei Jahre schwarz-gelbe sportpoliti-sche Ideenlosigkeit. Allerdings hat auch der Deutsche Olympische Sportbund einen beträchtlichen Anteil an dieser Lage und steht nun vor einem Scher-benhaufen seiner konservativen Sportpolitik. „Wir machen alles richtig und deshalb so weiter wie bisher, nur brauchen wir dafür mehr Geld“, lautet die kaum nachvollziehbare Schlussfolgerung aus London in Kurzfassung. Dieser verkürzten Sicht schließt sich auch das BMI an und weicht einer ergebnisof-fenen Debatte über die Sportförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aus.
Zum einen ignorieren Sie die Hinweise auf offensichtlich notwendige Ver-änderungen, die vor allem aus den Reihen der Sportlerinnen und Sportler sowie der Trainerinnen und Trainer laut wurden, zum anderen verstecken Sie sich hinter der angeblichen Unzuständigkeit des Bundes. Aus Sicht der Lin-ken gibt es aber eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für den gesam-ten Sport, also den Spitzensport, den Breiten- und Schulsport, aber auch für die Sportanlagen.
(Beifall bei der LINKEN; Gisela Piltz (FDP):
Das werden Sie in den Ländern nicht hinkriegen!)
Sie verweisen immer darauf, dass die Länder die alleinige Verantwortung für den Schulsport haben. Nun zeigt sich aber, dass es so nicht funktioniert.
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Die föderalen Unterschiede im Bildungssystem beeinträchtigen nicht nur den Schulsport, sondern auch den Nachwuchs im Leistungssport. Hier ist ein dringendes Umdenken erforderlich.
Die Hauptverantwortung für die Sportstätten haben bekanntermaßen die Kommunen. Allein hier gibt es einen Sanierungsstau von 40 Milliarden Euro. Die kommunale Agenda ist jedoch übervoll von Aufgaben, und das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Angesichts der unterfinanzierten Kommunen ist auch hier ein Umdenken dringend erforderlich.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen einen offenen Denkwettbewerb zu den Strukturen der Sport-förderung. Eigentlich wäre es an Ihnen, Herr Minister Friedrich, endlich dafür den Startschuss zu geben. Er hört gerade nicht zu.
(Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister: Doch! Doch!
Ich höre zu!)
Okay, prima. Was spricht eigentlich gegen ein effizientes Bundessportmi-nisterium, um das Geld für den Sport, das derzeit in neun Ministerien lagert, zu bündeln? Mehr Kreativität ist auch gefragt, wenn es um die duale Karriere von Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern geht. Bundeswehr, Polizei und Zoll reichen als Berufsperspektiven längst nicht mehr aus. Die Kooperation mit Hochschulen und Wirtschaft aber läuft schleppend. Hier müssen dringend Lösungen gefunden werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Auf all diese Fragen gibt die Koalition keine richtungsweisende Antwort. Ihr Haushalt verdient damit leider nur das Prädikat „mangelhaft“.
Ganz zum Schluss noch eine Frage, Herr Minister: Wie kommen Sie ei-gentlich angesichts von 180 Toten durch rechten Terror seit 1990 dazu, im-mer noch von einer linksextremistischen Gefahr zu fabulieren? Das ist nicht nur mir völlig schleierhaft. Stellen Sie sich endlich den Realitäten!
(Beifall bei der LINKEN)
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DER WEG VON LAKE PLACID NACH MOSKAU
Von KLAUS HUHN
Seit Jahren veröffentlichen wir Dokumente, die bisher in keiner anderen deutschen Publikation erschienen sind – vornehmlich Do-kumente aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepub-lik Deutschland, die allerdings erst nach 30 Jahren freigegeben wer-den. So können wir nun erst die Vorgeschichte des Olympiaboykotts der Spiele von Moskau 1980 enthüllen. Das Geschehen wurde maßgeblich durch den Umstand geprägt, dass die USA vor Moskau Gastgeber der Winterspiele in Lake Placid waren und die dort ter-mingemäß stattfindende IOC-Tagung nutzen konnte, um den Boy-kott vorzubereiten und sogar darauf setzte, das IOC auf dieser Sit-zung zu bewegen, die Moskauer Spiele zu „verlegen“.
Die IOC-Tagung fand am 9.2.1980 im Lake-Placid-Club-Hotel statt – dort waren schon die Spiele 1932 eröffnet worden – und die Eröffnungszeremonie war für den 13.2.1980 geplant. Diese Vorbe-merkung war vonnöten, um die Zusammenhänge besser nachvoll-ziehen zu können.
Bereits am 23. Januar hatte USA-Präsident Carter dem NOK der USA fol-gende Botschaft gesandt:
„Als Präsident dieses Landes und als Ehrenpräsident des Olympischen Komitees der Vereinigten Staaten schreibe ich Ihnen heute, um Ihnen meine Ansichten hinsichtlich der XXII Olympischen Spiele mitzuteilen, die in diesem Sommer in Moskau abgehalten werden sollen.
Ich sehe in der sowjetischen Invasion und der versuchten Unterdrückung Afghanistans eine ernste Verletzung des Völkerrechts und eine überaus erns-te Bedrohung des Weltfriedens. Diese Invasion ist ebenso eine Gefahr für die benachbarten unabhängigen Länder sowie für den Zugang zu einem wesent-lichen Teil der Ölvorräte der Welt. Sie bedroht daher unsere nationale Si-cherheit wie auch die Sicherheit dieses Gebietes und der gesamten Welt.
Wir müssen der Sowjetunion klar vor Augen führen, daß sie eine unabhän-gige Nation nicht einfach niedertrampeln und sich gleichzeitig gegenüber der übrigen Welt so verhalten kann, als wäre nichts geschehen. Wir müssen klar-stellen, daß sie für derartige Aggressionen einen hohen wirtschaftlichen und politischen Preis bezahlen muß. Deshalb habe ich die schweren wirtschaftli-chen Maßnahmen angeordnet, die am 4. Januar verkündet wurden, und des-halb unterstützen andere freie Länder diese Schritte. Deshalb hat auch die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit der überwältigenden Mehrheit von 104 zu 18 Stimmen die Invasion verurteilt und den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen gefordert.
Ich möchte meine eigene persönliche Verpflichtung gegenüber den Grundsätzen und Zielsetzungen der olympischen Bewegung noch einmal be-kräftigen. Ich bin der Ansicht, daß es wünschenswert ist, Regierungspolitik
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aus den Olympischen Spielen herauszuhalten – aber hier steht viel mehr auf dem Spiel.
In der Sowjetunion stellen internationale Sportwettbewerbe an sich schon einen Aspekt der sowjetischen Regierungspolitik dar, wie dies auch bei der Entscheidung, in Afghanistan einzufallen, der Fall ist. Der Leiter des Moskau-er Olympischen Organisationskomitees ist ein hoher sowjetischer Regie-rungsvertreter.
Die sowjetische Regierung mißt der Abhaltung der Olympischen Spiele 1980 in Moskau enorme politische Bedeutung bei, und sollte die Olympiade wegen der sowjetischen militärischen Aggression in Afghanistan nicht in Moskau abgehalten werden, dann kann dieses machtvolle Signal der Empö-rung der Welt dem sowjetischen Volk nicht vorenthalten werden; es würde in aller Welt widerhallen. Vielleicht wird es vor zukünftigen Aggressionen ab-schrecken.
Ich fordere daher das Olympische Komitee der USA auf, zusammen mit anderen Nationalen Olympischen Komitees das Internationale Olympische Komitee davon in Kenntnis zu setzen, daß Moskau ein ungeeigneter Ort für ein sportliches Fest wäre, auf dem Frieden und guter Wille gefeiert wird, soll-ten die sowjetischen Truppen nicht in vollem Umfange innerhalb des nächs-ten Monats aus Afghanistan abgezogen worden sein. Sollte die Sowjetunion ihre Truppen in dem oben genannten Zeitraum nicht abgezogen haben, for-dere ich das Olympische Komitee der USA auf, vorzuschlagen, die Spiele entweder an einen anderen Ort, wie Montreal, oder an mehrere andere Orte zu verlegen oder sie für dieses Jahr abzusagen. Sollte das Internationale Olympische Komitee einen solchen Vorschlag des Olympischen Komitees der USA zurückweisen, dann fordere ich das Olympische Komitee der USA sowie die Olympischen Komitees anderer gleichgesinnter Länder auf, sich nicht an den Moskauer Spielen zu beteiligen. In einem solchen Fall und falls geeignete Vorkehrungen getroffen werden können, spreche ich mich dafür aus, daß diese Länder alternative eigene Spiele an einem anderen Ort oder an anderen Orten in diesem Sommer durchführen. Die Regierung der Ver-einigten Staaten ist bereit, allen solchen Bemühungen ihre volle Unterstüt-zung zu gewähren.
Aus Ihrem Schreiben an mich und Ihrem Zusammentreffen mit Außenmi-nister Vance sowie mit Lloyd Cutler weiß ich um Ihre tiefe Sorge um die Män-ner und Frauen in aller Welt, die sich unermüdlich in der Hoffnung auf eine Beteiligung auf die Olympischen Spiele 1980 vorbereitet haben. Ich teile Ihre Sorge. Ich würde die Beteiligung von Sportlern aus der gesamten Welt an Olympischen Sommerspielen oder anderen Spielen in diesem Sommer au-ßerhalb der Sowjetunion unterstützen, genauso wie ich die Sportler aus der gesamten Welt in Lake Placid anläßlich der Olympischen Winterspiele be-grüße.
Ich hege tiefste Bewunderung und tiefsten Respekt für die Sportler und ih-rem Streben nach großen Leistungen. Niemand versteht besser als sie die Bedeutung von Opfern zur Erreichung erstrebenswerter Ziele. Es gibt aber
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kein Ziel von größerer Bedeutung als das Ziel, um das es hier geht: Die Si-cherheit unseres Landes und den Frieden der Welt.
Ich fordere das Internationale Olympische Komitee ferner auf, einen weite-ren Schritt zur Beseitigung zukünftiger politischer Konkurrenz unter den Län-dern zu ergreifen, die sich um die Ausrichtung Olympischer Spiele bemühen. Daher rufe ich alle Nationen auf, sich bei der Unterstützung eines permanen-ten Austragungsortes für die Olympischen Sommerspiele in Griechenland zu-sammenzuschließen und einen entsprechenden ständigen Austragungsort für die Winterolympiade zu suchen.
Der Weg, den zu beschreiten ich hier fordere, ist notwendig, um den Frie-den der Welt in dieser kritischen Zeit sichern zu helfen. Die wichtigste Auf-gabe für die führenden Persönlichkeiten der Welt – öffentliche wie private –
ist es, vor einer Aggression abzuschrecken und den Krieg zu verhindern. Aggressionen zerstören die internationale Freundschaft und den guten Wil-len, die die Olympische Bewegung zu fördern sucht. Wenn es unsere Antwort auf eine Aggression ist, den internationalen Sport, als sei nichts geschehen, in der Hauptstadt des Aggressors weiter zu betreiben, dann werden andere Maßnahmen zur Abschreckung vor einer Aggression unterminiert.
Der Geist und die Zukunft der Spiele hängen zum gegenwärtigen Zeitpunkt von mutigen und entschlossenen Aktionen ab. Ich ersuche Sie um Ihre Unter-stützung und Ihre Hilfe bei der Mobilisierung der Unterstützung anderer Olympischer Komitees in aller Welt.“
Dieser Appell war von Carter bereits vorher an Regierungen ge-sandt worden, von denen er sicher zu sein glaubte, dass sie sich an seinem Boykott beteiligen würden. Als Fußnote: Bemerkenswert der Hinweis auf „den Zugang zu einem wesentlichen Teil der Ölvorräte der Welt.“ Beispiellos in der olympischen Geschichte!
In Bonn beeilte man sich Zustimmung zu signalisieren und informierte dementsprechend das Bundeskabinett. Das Hauptproblem schien die zu-nächst ablehnende Haltung der Sportführung zu sein, die die Regierung überwinden sollte.
Betr.: Olympische Sommerspiele 1980 in Moskau
Bezug: Schreiben des Präsidenten der USA an den Herrn
Bundeskanzler vom 20.01.1980...
Zweck der Vorlage: Zur Unterrichtung für die Kabinettssitzung
am 23.1.1980
Amerikanischer Boykottappell
... In seinem Schreiben an den Bundeskanzler, das gleichzeitig an
die Regierungen der Länder gegangen ist, deren Sportler an den Spielen teil-nehmen, bittet Präsident Carter die nationalen olympischen Komitees zu ei-ner gleichen Haltung zu bewegen.
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Die Bundesregierung hat den Appell des Präsidenten der Vereinigten Staaten durch die Erklärung des Regierungssprechers vom 20.01.1980 aufgenom-men.
Das Bundesministerium des Innern teilte dem Auswärtigen Amt
und dem Bundeskanzleramt gestern mit, daß Bundesminister Baum den Ge-neralsekretär des Europarats gebeten habe, die Sportministerkonferenz zur Erörterung der Situation einzuberufen. Ziel des Treffens soll es sein, einen Meinungsaustausch zwischen den Sportministern über die amerikanische Ini-tiative einzuleiten. Konkrete Aktionen sind nicht vorgesehen.
...
2. Das CDU-Präsidium verabschiedete inzwischen eine Entschließung, in der es heißt, nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, der den Frieden in der Welt bedrohe, würde eine Teilnahme an den Spielen in Mos-kau dem olympischen Gedanken widersprechen. Deshalb unterstütze die CDU die Haltung des amerikanischen Präsidenten und bitte die zuständigen Gremien des deutschen Sports, auf die Teilnahme an der Olympiade zu ver-zichten, falls die Sowjetunion ihre Truppen nicht aus Afghanistan zurückzie-he.
3. Die Sportverbände bleiben bei ihrer einheitlichen Ablehnung eines Boy-kotts der Olympischen Spiele.
a) NOK-Präsident Daume äußerte mehrfach vor der Presse, er halte einen Boykott nicht für ein geeignetes Mittel, politische Forderungen durchzuset-zen. Daume will die Generalversammlung des NOK einberufen, um eine Entscheidung über den Antritt der deutschen Mannschaft in Moskau her-beizuführen.
b) DSB-Präsident Weyer erklärte ebenfalls vor Pressevertretern, politische Probleme sollten nicht mit Sportmitteln gelöst werden.
c) B. Beitz, Mitglied des IOC: Olympiade dürfe nicht als Hebel zur Ausübung politischen Drucks benutzt werden.
(Ähnlich Lord Killanin, IOC-Präsident)
4. Nach Pressemeldungen vertreten prominente deutsche Sportler unter-schiedliche Ansichten, sind jedoch überwiegend gegen den Boykott einge-stellt.
5. Die Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit auf den Appell der Ameri-kaner sind ebenfalls unterschiedlich.
Die deutsche Presse vertritt überwiegend die Ansicht, ein Boykott der Spiele werde die UdSSR mehr treffen als die bisher geplanten wirtschaftlichen Sanktionen. Auf der anderen Seite dürfe man sich kaum der Illusion hinge-ben, hierdurch werde ein Abmarsch der sowjetischen Truppen aus Afghanis-tan beschleunigt. Einige Pressestimmen befürworten Solidarisierung mit den Amerikanern und gemeinschaftlichen Boykott. Andere Pressestimmen verhal-ten sich skeptisch und befürchten, Boykottmaßnahmen könnten das Ende des Olympiagedankens bedeuten.
Ausländische Reaktionen:
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Die nachfolgenden Informationen basieren auf der bisher unvollständigen Be-richterstattung durch die deutschen Auslandsvertretungen und die Presse, daher wurden die wichtigsten deutschen Botschaften durch Drahterlaß gebe-ten, rechtzeitig vor der Sitzung des Sportausschusses des Deutschen Bun-destages (am 23.1.1980 um 15.15 Uhr) über die Reaktionen der Gastländer ausführtlich zu berichten.
Regierungen
- Fürsprecher des Carter-Vorschlags:
Großbritannien, Saudi-Arabien, Qatar, Dschibudi, Fidschi, (lt.
Rundfunkmeldung WDR vom 22.1.) Australien, Neuseeland,
Niederlande
- Gegner des Boykotts:
Frankreich, (lt. irischem Erziehungsminister) Irland
- Bisher abwartend, zurückhaltend:
Kanada: zieht Verlegung der Spiele Boykott vor, weißt im übrigen
auf Autonomie der Sportverbände hin.
Skandinavische Länder: Zurückhaltung unter Hinweis auf Auto-
nomie der Sportverbände.
Japan, China: Wollen sich an Haltung der westlichen Staaten
orientieren
Indonesien, Malaysia: Werden sich evtl. islamischem Olympia-
Boykottaufruf anschließen
Afrikanische Staaten: (lt. DB Botschaft Moskau vom 21.1.)
Boykott durch afrikanische Staaten angesichts der Fixierung
der Afrikaner auf die Apartheidsfrage unwahrscheinlich. ...
Außenpolitische Bewertung
... Es ist denkbar, daß Carter mit seinem Ultimatum viele Staaten der Dritten Welt, die die Sowjetunion zwar verurteilt haben, sich aber zu Sanktionsmaß-nahmen nicht bereit fanden, überfordert hat. Es ist eine Sache, von der Olympiade in Moskau wegzubleiben, es ist aber für die meisten ungebunde-nen Staaten eine ganz andere Sache, sich zur gleichen Zeit für eine ameri-kanisch geführte Gegenolympiade zu entscheiden.
Der Boykott der Olympiade würde die sowjetische Führung stark treffen (ho-her Prestigeverlust, Ausfall von beträchtlichen Deviseneinnahmen usw.). In-sofern wäre der Boykott eine außerordentlich wirksame Sanktionsmaßnah-me.
Entsprechend sowjetischer Mentalität würde der Boykott allerdings Gegen-maßnahmen provozieren.
Freilich würde auch die sowjetische Bevölkerung, die sich darauf eingestellt hat, daß nun zum ersten Mal die Olympiade in einem sozialistischen Land, und zwar in der Sowjetunion, einer Weltmacht und großen Sportnation, aus-gerichtet wird, tief getroffen werden. Sie würde sich geächtet fühlen und den Grund dafür nicht begreifen. Sie würde sich um ihre Regierung scharen, ihre Introvertiertheit, ihr Mißtrauen gegenüber der Außenwelt würde wieder ver-
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festigt werden, Prozesse, an denen über lange Jahre gearbeitet wurde und die der Westen betrieben hat, würden zurückgenommen. ...
gez. Dr. Möller
Als nächstes folgte im Archiv des Auswärtigen Amtes der Bericht des Bon-ner Botschafters Stoessel über seine Verhandlungen in Washington.
Akte: RL 204
Bonn, den 31. 1. 1980
VERMERK
Betr.: Vorsprache Botschafter Stoessel bei StS van Well
am 31. 1. 1980, 19:00 Uhr.
hier: Olympische Spiele in Moskau
Botschafter begann Gespräch mit dem Hinweis, er habe dringende Instruk-tionen, folgendes vorzutragen: Am 1.2. träfen sich - soweit der amerikani-schen Seite bekannt - die Nationalen Olympischen Komitees der Neun und der Nordischen Staaten in Frankfurt/Main, um ihre Haltung zur Frage der Ab-sage, Verlegung oder Verschiebung der Olympischen Spiele zu beraten. In Washington sei man nach wie vor der festen Überzeugung, daß der SU ein klares Signal in dieser Frage gegeben werden müsse. Hinzukomme, daß sich auch die öffentlichen Meinungen in den westlichen Ländern in die gleiche Richtung bewegten.
Die amerikanische Seite sei besorgt, daß das Treffen in Frankfurt bereits eine Entscheidung treffen könne, die Einladung anzunehmen und einige Re-gierungen versucht sein könnten, einer eigenen Entscheidung unter Hinweis auf die Zuständigkeit ihrer NOK's auszuweichen. Eine solche Entwicklung müsse ernste Folgen für die bilateralen Beziehungen der USA zu diesen Ländern haben.
Die USA hofften, daß die NOK's in Frankfurt keine positive Entscheidung im Hinblick auf eine sowjetische Einladung zur Teilnahme an den Olympi-schen Spielen treffen würden, oder zumindest eine Entscheidung bis zur Zeit nach dem Treffen des Executive IOK (7.2.) und des vollen IOK wenige Tage später verschieben würden.
Botschafter übergab „talking-points“ und unterstrich nochmals die große Bedeutung, welche die amerikanische Regierung dieser Frage beimesse.
StS van Well erläuterte unsere Haltung zu den Olympischen Spielen und wies auf folgendes hin:
- Treffen der Außenminister der Neun in Brüssel mit dem Ziel, eine ge-meinsame Position zu finden.
- Das deutsche NOK werde in Frankfurt keine Entscheidung fällen, denn das Präsidium des NOK, das in Frankfurt teilnehme, benötige hierzu die Ent-scheidung des vollen NOK; dieses habe jedoch noch nicht entschieden und werde dies wohl erst kurz vor dem 19.5. (Schlußtermin) tun. (Botschafter Stoessel warf ein, es gebe Nachrichten, daß die Sowjets den Termin für die Annahme der Einladung auf den 1.3. vorverlegen wollten)
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- Wir beobachteten mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklung in den USA (Kongress, NOK, öffentliche Meinung)
- Wir hätten stets die Auffassung vertreten, daß wir nicht in die Entschei-dungen der Sportverbände eingreifen wollten, andererseits gingen wir davon aus, daß die Haltung der Bundesregierung in die Überlegungen der Sportver-bände, und des NOK, einfließen werde.
StS unterstrich abschließend nochmals, daß es seiner Kenntnis nach in Frankfurt nur zu einem Meinungsaustausch kommen werde. Dieser werde zwar einen gewissen Trend erkennen lassen, endgültige Entscheidungen seien jedoch nicht zu erwarten.
Die amerikanische Haltung, wie sie Botschafter Stoessel erläutert habe und wie sie aus den „talking-points“ hervorgingen, würden dem NOK (Herrn Trö-ger) zur Kenntnis gebracht.
Stoessel
DIE VORGÄNGE IN LAKE PLACID
Nach der Erklärung Carters war die Situation klar: Wie nie zuvor in der Ge-schichte der modernen Olympischen Spiele hatte ein Staatsoberhaupt vom Internationalen Olympischen Komitee verlangt, die Spiele zu verlegen, zu verschieben oder sogar abzusagen, hatte es aber auch übernommen, die Winterspiele in Lake Placid am 13. Februar zu eröffnen.
Am Sonnabendabend – 9. Februar – kam das IOC im Agora-Theater des Hotels zusammen. Auf der uralten Bühne zu der nur eine wacklige Treppe hinaufführte waren die berühmtesten Künstler der USA wie Shirley Temple bereits in den zwanziger Jahren aufgetreten. An diesem Abend waren alle Sherriffs aus der Umgebung zusammengeholt worden, um den Eingang zum Hotel zu überwachen. Killanin hatte den am Nachmittag eingetroffenen USA-Außenminister Cyrus Vance in einem Vier-Augen-Gespräch darauf hingewie-sen, dass es nur seine Aufgabe wäre, die IOC-Mitglieder willkommen zu hei-ßen und die Tagung zu eröffnen. Mitarbeiter des IOC verteilten Killanins Re-de und betonten, dass sie die Rede von Vance nicht verteilen würden.
Killanin begann seine Ausführungen mit den Worten: „Die Eröffnung dieser Session des IOC ist die bedeutendste, die dieses Gremium seit seiner Grün-dung 1894 je vereinte.“ Sichtlich bewegt unterstrich er seine ablehnende Hal-tung zu der amerikanischen Boykottaufforderung, wich an dieser Stelle plötz-lich von seinem Redemanuskript ab und sagte: „Das sind unsere Spiele und nicht die Spiele der USA oder irgendeines anderen Staates!“
Dann verließ er die Bühne, stieg die enge Treppe hinab und wandte dem hinaufsteigenden Vance demonstrativ den Rücken zu und gab ihm nicht die Hand.
Vance, dem die durch Killanins Rede entstandene Situation im Saal nicht entgangen war, widmete 44 Worte der Begrüßung der zu den Spielen nach Lake Placid gekommenen Aktiven und IOC-Mitgliedern und 765 Worte dem Versuch, die IOC-Mitglieder für einen Boykott Moskaus zu gewinnen, wobei
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er noch heftigere Vokabeln als Carter verwendete. Seine eigentliche Aufga-be, die IOC-Session zu eröffnen, vergaß er darüber. Killanin holte es am Sonntagmorgen nach. Der Ire, dem letztlich die Rettung der Olympischen Spiele zu verdanken ist, bildete auch ohne Abstimmung eine dreiköpfige Kommission, die dafür sorgen sollte, dass die Spiele in Moskau auch stattfin-den und berief Willi Daume in dieses Trio, dem danach nichts anderes übrig blieb, als sich im IOC für Moskau einzusetzen. Und dann erklärte Killanin: „Nehmen Sie zur Kenntnis: Wenn niemand in Moskau sein sollte – ich bin da!“
Der Verlauf der Sitzung bewog Carter darauf zu verzichten, die Winterspie-le zu eröffnen. Über Nacht mussten die bereits verteilten Programmhefte mühsam wieder eingesammelt, neue gedruckt werden und Vizepräsident Mondale als Eröffner der Spiele angekündigt werden. Inzwischen hatte sich Carter einfallen lassen, Box-Weltmeister Muhamad Ali auf eine Blitzreise nach Afrika zu schicken, um afrikanische NOK´s zur Absage zu bewegen. „Ali ging k.o.“ titelte eine nigerianische Zeitung, und auch in anderen Ländern war die Reaktion so heftig, dass Ali sich nach der Rückkehr weigerte, selbst den Boykottaufruf zu unterschreiben.
Noch einmal soll betont werden: Lord Killanin erwarb sich bereits in Lake Placid das Verdienst, die Spiele vor dem Untergang bewahrt zu haben!
Doch selbst nach dessen Triumph, glaubte Carter, das Blatt noch wenden zu können. Die „Washington Post“ berichtete bald darauf, dass der stellver-tretende Rechtsberater des Weißen Hauses, Joseph Onek, gegenüber Mit-gliedern des NOK der USA allen Ernstes gedroht hatte, Washington sei durchaus imstande, das Internationale Olympische Komitee zu „zerstören“. Das amerikanische IOC-Mitglied Douglas F. Roby sagte der Zeitung, dass er zwar selbst nicht an der Besprechung mit Onek teilgenommen, aber gehört habe, „daß sie wahnsinnig verlief, und angekündigt worden war, man werde das IOC zerstören, wenn es nicht kapituliere“.
„Bericht zur Lage der Nation, abgegeben von Bundeskanzler Helmut Schmidt vor dem Deutschen Bundestag am 20.3.1980 (Auszug)
Die Bundesregierung hält es für unerläßlich, daß die Sowjetunion die Be-dingungen schafft, unter denen Sportler aus allen Staaten an den Olympi-schen Sommerspielen teilnehmen können. Wir haben dies mehrfach erklärt. Auch heute sind diese Bedingungen nicht gegeben; denn Besatzung und Kämpfe in Afghanistan dauern unvermindert an. Die Olympische Idee ist aber seit ihren Anfängen im klassischen Griechenland untrennbar mit dem Zu-stand des Friedens unter den Völkern verbunden. Wenn der Friede Afghanis-tans nicht wiederhergestellt wird, so wird eine gemeinsame Konsequenz un-vermeidlich.“
„Erklärung der Bundesregierung vom 28. Februar 1980 (Auszug)
Zur Frage der Teilnahme an den Olympischen Sommerspielen 1980 in Moskau ist die Bundesregierung auch heute noch der Meinung, daß es an
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der Sowjetunion liegt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Mann-schaften aus allen Ländern an diesen Spielen teilnehmen können. Diese Vo-raussetzungen sind gegenwärtig nicht gegeben; vielleicht sollte man auch formulieren: noch nicht gegeben.
Nach den Regeln des Internationalen Olympischen Komitees haben die Nationalen Olympischen Komitees bis Ende Mai Zeit, sich zu den Spielen an-zumelden. Ich gehe davon aus, daß die europäische und die amerikanische Haltung spätestens zu diesem eben von mir genannten Zeitpunkt in eins zu-sammengeflossen sein wird. Ich setze in dem Zusammenhang hinzu: Ich möchte wegen der Sommerspiele 1980 keinem Wunschdenken Vorschub leisten.“
„Bundesminister Genscher:
Ein zweites Wort will ich zu den Olympischen Spielen sagen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich gehöre nicht zu denen, die in diesem Zu-sammenhang das Wort `Boykott´ verwenden, weil die Frage, ob der Westen diese Spiele boykottiert oder nicht, eine Umkehrung der Verursachung ist. Nicht derjenige boykottiert diese Spiele, der sich verweigert, weil Olympische Spiele nicht Spiele des Friedens sind, sondern derjenige, der dem morali-schen Anspruch der Olympischen Spiele durch sein Verhalten die Grundlage entzogen hat.
Weil das so ist, hat der Bundeskanzler die Sowjetunion aufgefordert und fordere ich die Sowjetunion auf, daß sie die Voraussetzungen dafür schafft, daß die Mannschaften aus allen Staaten der Welt an den Olympischen Spie-len teilnehmen können. Denn jetzt sind nach unserer Überzeugung – auch das hat der Bundeskanzler gesagt – diese Voraussetzungen nicht gegeben.
Meine Damen und Herren, das Nationale Olympische Komitee der Bundes-republik Deutschland hat im Gegensatz zu manchen anderen Nationalen Olympischen Komitee eine, wie ich finde, sehr kluge und verantwortungsvolle Erklärung abgegeben. Es hat einerseits seine alleinige Zuständigkeit für die Entscheidung über die Teilnahme zum Ausdruck gebracht. Andererseits hat es gleichzeitig gesagt, es werde bei dieser Entscheidung politische Gesichts-punkte berücksichtigen. So verstehen wir staatsbürgerliche Verantwortung einer unabhängigen Sportorganisation in einer freien Gesellschaft.
Wenn das NOK seine Entscheidung zu treffen hat, hat es Anspruch auf ei-ne verbindliche Stellungnahme der Bundesregierung, und diese wird ihre Stellungnahme in Wahrnehmung ihrer Verantwortung für die Außenpolitik dieses Landes geben, in Wahrnehmung einer Verantwortung, die sie sich von niemandem abnehmen läßt und die sie auch anderen nicht zuweist oder auf-drückt.
Bis dahin werden wir alles tun, um eine übereinstimmende Haltung auch der europäischen Partner herbeizuführen. Was der Bundeskanzler hier über das Zusammenfließen europäischer Haltung und amerikanischer Haltung ge-sagt hat, ist der Ausdruck unseres Versuchs und unserer Bemühungen, in
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dieser Frage letztlich die westlichen Positionen zusammenzuführen. Das ist der Gegenstand dessen, worum wir uns jetzt bemühen.“
Schon lange vor den Lake-Placid-Ereignissen hatten sich bundesdeutsche Medien gegen eine Teilnahme an den Spielen in Moskau engagiert. Der Bonner General-Anzeiger hatte bereits 1974 Zweifel geäußert, „ob man sich in Moskau tatsächlich an die sogar von KPdSU-Chef Breshnew höchstper-sönlich verbürgte Freizügigkeit für Teilnehmer, Berichterstatter und Zuschau-er der Olympischen Spiele gebunden fühlen wird, wenn es in sechs Jahren soweit ist.“
Als 1976 das olympische Feuer in Montreal verloschen und die Flagge mit den fünf Ringen dem Oberbürgermeister von Moskau traditionell zur Aufbe-wahrung übergeben wurde, hatte das vielseitige Trommelfeuer gegen die Spiele in Moskau begonnen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Hans-Joachim Jentsch empfahl auf einer Sportkonferenz seiner Partei in Wiesba-den: „Die westlichen Länder dürften angesichts einer Einheitsfront des Ost-blocks und der Dritten Welt die Gefahr nicht ausschließen, daß nur die Alter-native zwischen einer wesentlichen Umgestaltung der Olympischen Spiele oder einer europäisch-nordamerikanischen Restolympiade mit einer oder mehreren Gegenolympiaden bleibe.“ (Die Welt, 25.1.1978) Die gleiche Zei-tung erschien am 20. August mit der Schlagzeile „Nehmt den Sowjets die Olympischen Spiele weg!“
Die bundesdeutsche CDU ließ NOK-Präsident Daume wissen: „Deshalb unterstützt die CDU die Haltung des amerikanischen Präsidenten und bittet die zuständigen Gremien des deutschen Sports, auf die Teilnahme an der Olympiade in Moskau ... zu verzichten.“ (Zitiert nach Knecht „Der Boykott“ 1980, S. 94)
Daume ließ seinen Pressesprecher erklären: „Wir gestehen den Parteien selbstverständlich ihre politischen Meinungen zu ... Aber wir brauchen keine Belehrungen durch die Parteien, noch ist der deutsche Sport selbständig.“ (Ebenda, S. 96)
Die letztlich Betroffenen, die Aktiven, wehrten sich mit Nachdruck gegen einen Boykott. Im Olympischen Dorf von Lake Placid – einem Gefängnis – war Moskau ein ständiges Thema. Die bundesdeutsche Mannschaft ent-schloss sich, ein Telegramm an den Bundeskanzler zu senden: „Die Medail-lengewinner ... senden namens der gesamten Mannschaft herzliche Grüße ... Wir bitten Sie, sich dafür einzusetzen, daß auch unsere Olympiamannschaft für Sommersport an den Olympischen Spielen in Moskau teilnehmen kann.“ (Ebenda, S. 142)
Aufschlussreich auch die Aktivität des Fechtolympiasiegers von 1976, dem heutigen IOC-Vizepräsidenten, Thomas Bach. Er wandte sich in gleichlau-tenden Telegrammen an die Parteivorsitzenden von CDU, SPD, CSU und FDP: „Mit überwältigender Mehrheit haben sich die Aktivensprecher der olympischen Sommer-Fachverbände gegen einen Boykott der Olympischen
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Spiele in Moskau entschieden ... Der deutsche Sport darf nicht zu einem In-strument der Politik werden." (Ebenda, S. 140)
Das aber war er längst und niemand sollte es heute leugnen wollen. Die Bundesregierung wandte sich mit der „Empfehlung“ an das Nationale Olym-pische Komitee (von denen im olympischen Regelwerk bekanntlich verlangt wird: „... haben ihre Unabhängigkeit zu wahren und jeglichem Druck, sei er politischer, konfessioneller oder ökonomischer Natur, zu widerstreben“), die unmißverständlich abgefaßt war: 1. Die Bundesregierung empfiehlt dem Na-tionalen Olympischen Komitee, ... keine Mannschaft oder einzelne Sportler zu den Olympischen Sommerspielen in Moskau und Tallinn zu entsenden. (Ebenda, S. 162)
Willi Weyer, Präsident des Sportbundes der BRD (DSB) und früher Minister der FDP, erwies sich als eifrigster Gehilfe der Regierung. Und es scherte ihn auch nicht, dass er seine Haltung rapide änderte. In der ersten Phase der Auseinandersetzungen hatte er noch erklärt: „Die Olympischen Spiele sind eine Angelegenheit des IOC, nicht irgendeiner Regierung, weder der USA noch der UdSSR. Mich wundert immer wieder die Leichtfertigkeit, mit der man politische Probleme plötzlich in den Sport hineinträgt ... Man kann nicht den Sport, der nach unserer Philosophie kein Staatssport ist, plötzlich für staatliche Aufgaben einsetzen.“ (Ebenda, S. 78)
Über Nacht – offensichtlich energisch von Bonn gedrängt – trat er im NOK mit einer extrem anderen Meinung auf: „Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben an das Nationale Olympische Komitee für Deutsch-land appelliert, keine Mannschaft und keine einzelnen Sportler zu den Olym-pischen Sommerspielen ... zu entsenden ... Das Präsidium des DSB bekennt sich zu ihr und bekräftigt, daß der Sport nicht von internationalen politischen Entwicklungen isoliert gesehen werden kann. Das Präsidium bittet das Natio-nale Olympische Komitee, ... eine Entscheidung zu treffen, die der gemein-samen Verantwortung gerecht wird und die in vielen Jahren gefestigte Part-nerschaft zwischen Sport und Staat nicht gefährdet. (Ebenda, S. 171)
Vergleicht man die beiden Erklärungen, wird deutlich, wie heftig der Druck der Bundesregierung gewesen sein muss. Daume – auch durch seine ihm in Lake Placid übertragene Funktion dem IOC gegenüber verpflichtet – sollte durch Weyer unter Druck gesetzt werden.
Am 15. Mai fiel in einer Vollversammlung des NOK die Entscheidung – sie fiel gegen Olympia. Von den 99 abgegebenen Stimmen hatten 59 für einen Boykott votiert und 40 dagegen. Die Entscheidung war letztlich durch eine im Grunde unzulässige Abstimmung entstanden: Man hatte die Wintersportver-bände mit abstimmen lassen, obwohl die ja nicht betroffen waren. Eingeweih-te hatten hinterher festgestellt, dass 13 Stimmen der Winterverbände den Ausschlag gegeben hatten!
Daume zog eine vernichtende Bilanz: „Man hat überhaupt nicht über die Zusammenhänge Bescheid gewußt. In der ganzen Geschichte ist im Verlauf der letzten Monate so viel Dilettantismus und mangelnde Planung offenkun-dig geworden. Von Strategie will ich überhaupt nicht reden. Das ist schon de-
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primierend ... Es ist der Dilettantismus auf amerikanischer Seite ... wollen die Amerikaner Gegenspiele machen, ohne überhaupt zu wissen, wie das zu-sammenhängt und daß das Weiße Haus gar keine Gegenspiele machen kann ... Also das ist alles so dilettantisch, daß man nur den Kopf schütteln kann.“ (Ebenda, S. 197)
Der Präsident des DTSB der DDR, Manfred Ewald, 48 Stunden vor der Ab-stimmung in die BRD gereist, hatte dort mit Weyer konferiert. Es gab folgen-de Mitteilung in der Zeitung: „Im Verlaufe eines Gespräches mit dem Präsi-denten des DSB ersuchte er diesen, sich entsprechend den Beschlüssen des IOC und der Olympischen Charta für eine Teilnahme an den Olympischen Spielen einzusetzen. Ein solch positiver Beschluß des NOK der BRD käme der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit im internationalen Sport auf bila-teraler und multilateraler Ebene sowie der Entspannung, der Völker-verständigung und der Festigung des Friedens zugute.“ (Neues Deutschland, 14.5.1980)
Der Appell blieb erfolglos, obwohl in Nachbarländern alarmierende Ent-scheidungen fielen. Frankreichs NOK beschloss 48 Stunden vor der Ent-scheidung der BRD, seine Mannschaft nach Moskau zu entsenden, Großbri-tannien, Australien, Italien entschieden sich ebenfalls für eine Teilnahme, obwohl ihre Regierungen – dem US-amerikanischen Druck folgend – Maß-nahmen gegen die NOK trafen. So verweigerte die australische Regierung der Mannschaft die Reise nach Moskau zu bezahlen. Die weltberühmte Schwimmerin Dawn Fraser organisierte ein Hilfskomitee und brachte die nö-tige Summe innerhalb weniger Stunden zusammen. Zu ihren eifrigsten Hel-fern gehörte die Seeleute-Gewerkschaft. Schiffsbesatzungen überwiesen aus vielen Häfen der Welt, stattliche Summen. In England sorgten Rentner für ei-ne Spendenaktion.
Unser Bericht behandelt nicht die Moskauer Spiele, sondern nur das Um-feld.
„Das Pressezentrum, reflektiert die Spiele wie ein Spiegel. Gewinnt ein Ita-liener überraschend im Ringen, spürt man es am Lärm in dem Saal, in dem die Schreibmaschinen mit der italienischen Tastatur stehen. Erkämpft ein Schweizer Judoka die erste Goldmedaille für sein Land in dieser Disziplin, sind für mindestens zwei Stunden die `deutschen Maschinen´ vornehmlich von Schweizern besetzt, und nach den Leichtathletik-Triumphen der Briten war einen Abend lang dort nur mühsam ein freier Platz zu finden, obwohl noch in keinem Pressezentrum der olympischen Geschichte so viele und so großzügige Arbeitssäle installiert worden waren wie hier.
Das Pressezentrum reflektiert auch die paar Flecken auf dem Spiegel: Un-weit der begeisterten Italiener, die Claudio Pollio besangen, nicht weit ab- von den Schweizern, die Jörg Röthlisberger jubelnde Zeilen widmeten, und der Briten, die von Steve Ovett und Allan Wells schwärmten, sitzen Tag für Tag einige, die verzweifelt zu Papier zu bringen versuchen, dass diese Olym-pischen Spiele gar keine sind. Sie teilen keine Freude – weil sie es nicht dür-fen – und zerbrechen sich den Kopf, wie man Olympische Spiele so ver-
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schwinden lassen könnte, wie es die Magier mit dem berühmten Kaninchen tun.
Allerdings: Sie sind eine Minderheit, und sie tragen in dem großen Haus am Subowski-Boulevard ihr eigenes Schicksal – man übersieht sie.
Frankreichs größte Sportzeitung „L'Equipe“ widmete dem Montag die sie-benspaltige Schlagzeile auf der Titelseite `Viva Menneo, Dombrowski Hour-ra!´ Das ist die vorherrschende Melodie, nach der im Pressezentrum die Tas-ten geschlagen werden. (ND, 31.7.1980)
In der BRD waren sogar die Fernsehübertragungen von den Spielen auf ein Minimum reduziert worden, was allerdings vom Publikum nicht wider-spruchslos hingenommen wurde. Die „Stuttgarter Zeitung“ meldete am 28.7.1980: „Nur zwei Sekunden war Harry Valerien verwirrt, dann hatte er die Situation im Griff: Im `Aktuellen Sportstudio´ des ZDF hatten am Samstag-abend zwei Demonstranten blitzschnell ein Spruchband hinter Valerien auf-gezogen. Gefordert wurde – live von der ZDF-Mattscheibe – mehr Olympia-Fernsehen aus Moskau.
`Was soll denn das?´, fragte Valerien zunächst sichtlich überrascht, um dann mit Gelassenheit die beiden von der Bildfläche zu bugsieren. Die Dis-kussion über das Olympia-Fernsehen in der Bundesrepublik – so zeigt auch dieses Beispiel – geht weiter. Die Beschwerden bei ARD und ZDF haben sich zwar in Grenzen gehalten, aber `sie kommen noch´ (ARD-Mitarbeiter). Und der, der dies sagt, hat am Telefon für Olympia-Kritiker nur noch den Satz pa-rat: `Wenden Sie sich doch bitte an Herrn Schwarzkopf.´
Aber Klaus Schwarzkopf, der als ARD-Programmdirektor für den Olympia-Teil-Boykott des Fernsehens mitverantwortlich ist, will und kann wohl auch nichts mehr ändern. Die Bundesbürger bleiben bis zum Ende der Olympi-schen Spiele in Moskau weitgehend `TV-ausgesperrt´.
Dies machten ARD und ZDF am Wochenende noch einmal offiziell deut-lich. Als man zu bemerken glaubte, dass die Verantwortlichen einige Minuten an ihre täglichen Viertelstunden-Berichte aus Moskau angehängt hatten, rea-gierten beide Seiten mit dem Hinweis: Auch in der zweiten Olympia-Woche würden außer in ihren Sportsendungen in der abendlichen aktuellen Bericht-erstattung zwischen 15 und 30 Minuten über die Moskauer Spiele berichtet, hieß es. `Der genaue Umfang wird jeweils von ARD und ZDF von Tag zu Tag anhand des Informationsangebots festgesetzt. Dies entspricht den Pro-grammabsichten, die ARD und ZDF bereits am 3. Juni schriftlich und münd-lich bekannt gegeben hatten.´
Nach einer Woche Olympia in Moskau ist festzustellen, daß von Olympia-Stimmung in der Bundesrepublik keine Rede sein kann. Das Fehlen der ei-genen Mannschaft, aber auch die Zurückhaltung der Medien hat dazu beige-tragen. Viele, die dennoch live dabei sein wollen, haben sich etwas einfallen lassen. Das Nachbarland, bei dem die meisten Bundesbürger `mal rein-schaun´, die DDR, nimmt in ihrer Fernsehberichterstattung Anteil. Der `Deut-sche West´ wird bedauert.“
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Das galt auch für die Athleten. Der Mainzer Zehnkämpfer Guido Kratsch-mer zum Beispiel saß in Moskau auf der Tribüne und zitterte um einen Zehn-kampf-Weltrekord, den der Brite Daley Thompson nach dramatischem Ver-lauf um 194 Punkte verfehlte. Die „Frankfurter Rundschau“ (28.7.1980): „Das Lenin-Stadion war Treffpunkt von Thompsons Triumph und Kratschmers Tra-gik. In Montreal nur von dem großen Bruce Jenner bezwungen, bei der EM in Prag dann verletzt und in Moskau nun ohnmächtig und verbittert. Weil Fortu-na ihm schon zum zweiten Mal eine Fratze zog, weil sich der Sportler den Sportlern beugen musste und weil man ihm die Chance seines Lebens raub-te.“
Von der bundesdeutschen Öffentlichkeit ignoriert worden war, die Tatsa-che, dass drei US-Amerikaner ungeachtet des Boykotts in Moskau an den Start gegangen waren. Die Agentur sid meldete (30.7.1980): „Boykott des Boykotts – Drei Amerikaner starten bei Olympia 1980, in Moskau: Die Boxer Alberto Mercado (19), Luis Pizarro (17) und Jose Angel Molina (21) klettern mit USA-Paß für Puerto Rico in den Ring. Streng genommen boykottiert das Boxertrio den Olympia-Boykott gleich zweimal. Denn Puerto Rico ist den Ver-einigten Staaten von Amerika assoziiert. Damit haben alle Einwohner der Ka-ribikinsel eine doppelte Staatsangehörigkeit und sind zugleich US-Bürger.
Wie die Regierung in Washington, verordnete auch der Gouverneur Carlos Bascelo in San Juan die Nichtteilnahme in Moskau. Puerto Ricos Nationales Olympisches Komitee aber stellte seinen Verbänden die Entscheidung frei. Vor dem politischen Druck kapitulierten die Basketballer und Leichtathleten. Sie blieben zu Hause. Nur der Boxverband nominierte Weltcupsieger Alberto Mercado für das Olympiaturnier und gab ihm in Luis Pizarro und Jose Angel Molina zwei Sparringspartner mit auf die Reise, die in Moskau an Ort und Stelle zu Olympioniken gekürt wurden. Während ausgerechnet Fliegenge-wichtler Mercado seine Hoffnungen wegen einer Augenbrauenverletzung be-reits in der Vorrunde begraben musste, sind seine Sparringspartner über Nacht zu Medaillenkandidaten avanciert. Beide boxten sich ins Viertelfinale durch und kämpfen hier bereits um Bronze. Drei Boxer, ein Trainer, fünf Sportfunktionäre und rund 80 Touristen aus Puerto Rico, das 1952 erstmals an Olympischen Spielen teilnahm und noch immer auf seine erste Medaille wartet, sind zur Zeit in Moskau. Ein Start von Schwimm-Weltrekordler Jesse Vassallo (200 und 400 m Lagen) fiel ins Wasser, weil er bei den Panamerika-nischen Spielen und den Weltmeisterschaften in Berlin dem USA-Team an-gehörte. Starts für zwei NOKs aber verbietet der Internationale Schwimmver-band. Aus Enttäuschung über den Boykottbeschluß wollte Vassallo seine Laufbahn sogar beenden.“
Blieben noch die von der USA-Regierung finanzierten „Gegenspiele“ in Philadelphia. Die „Stuttgarter Zeitung“ (18.7.1980): „Schwacher Start – Einen enttäuschenden Auftakt nahm das Internationale Leichtathletiksportfest von Philadelphia, das von seinen Veranstaltern als „Ersatzolympiade“ für die in Moskau nicht anwesenden Athletinnen und Athleten angekündigt worden war, vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und auch von vielen
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NOKs strikt abgelehnt wurde. Nur die Nationalmannschaften der USA, Kana-das, Kenias und der Bundesrepublik Deutschland verliehen der im Stadion der Universität von Pennsylvania ausgetragenen, kurzfristig organisierten Veranstaltung einige Qualität, während die Teilnehmer aus 24 übrigen Län-dern zumeist als exotische Kulisse dienten. Ein heftiges Gewitter, das den Platz innerhalb von Sekunden buchstäblich leerfegte und zu einer einstündi-gen Unterbrechung führte, störte die Stimmung zusätzlich.
Seinen Saisonhöhepunkt überschritten hat Zehnkampf-Weltrekordhalter Guido Kratschmer (Mainz): Am Ende des ersten Tages belegte er mit 4104 Punkten nur den vierten Rang.“
„Relativ schwach blieben die Ergebnisse auch am zweiten Tag bei den in Philadelphia/USA stattfindenden `Freiheitsspielen´“ meldete die „Stuttgarter Zeitung“ (19.7.1980). „Für das wertvollste Resultat sorgte der amerikanische Weitspringer Larry Myricks mit 8,20 m. Als bester von vier deutschen Teil-nehmern belegte der Kölner Joachim Busse mit enttäuschenden 7,68 m den vierten Rang. Niederlagen bezogen ebenfalls die als Favoriten nach Übersee gereisten deutschen Hochspringer. Weltrekordler Dietmar Mögenburg blieb mit 2,22 m vier Zentimeter hinter den beiden Amerikanern Benn Melde und Mat Page und 13 Zentimeter unter seinem Weltrekord. Im Diskuswerfen be-legte Hein Direk Neu (Leverkusen) Platz sechs mit 57,12 m.“
Im „Spiegel“ (31/1980) verschlüsselte Horst Vetten den Erfolg von Moskau mit den sybillinischen Worten: „Mittlerweile wird der Chor der Stimmbrüchigen leiser, die auf dieser gemischten Veranstaltung in schöner Dissonanz den Boykott teils in Chorälen, teils mit Spottliedern besingt. Die normative Kraft des Faktischen – in diesem Falle des hochleistenden Muskels und seiner Faszination aus Publikum – lässt ahnen, wo der Boykott von den Historikern geführt werden wird: als Fußnote der Geschichte, als Atemlosigkeit eines Kurzstreckenläufers.“
Fußnote des Autors: Sollte ein Leser die Frage nach der Nichtteil-nahme der DDR an den Spielen in Los Angeles stellen, würde ich ihn daran erinnern, dass das Auswärtige Amt der BRD die Akten erst nach 30 Jahren freigibt. Das wäre im Jahr 2014…
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WELTWEIT BEISPIELLOS: PARTY FÜR MEDAILLENLOSE
Bei Olympischen Spielen gab es keine Mannschaft, die jedesmal auch eine Party für medaillenlos gebliebene Teilnehmer galt. Die erste hatte 1972 statt-gefunden – vielleicht auch, um in der BRD zu demonstrieren, dass es in der DDR doch nicht nur um Medaillen ging. Wir veröffentlichen die Berichte von diesen Empfängen, die am 25. Februar 1988 und am 28. September 1988 in Calgary und Seoul im ND erschienen waren.
CALGARY
Die Neugier war groß, als DDR-Sportler in ihren schmucken Anzügen mit dem Emblem auf der Brust im Restaurant des Calgary-Towers, eines Aus-sichtsturms im Herzen der Stadt, eintrafen. Schon vor ihrer Ankunft hatte sich im Tower herumgesprochen, dass sie von der Mannschaftsleitung geehrt werden sollten. Die übrigen Gäste fragten: Wer hat die meisten Medaillen ge-wonnen? Staunen bei der Antwort, dass keiner von ihnen eine Medaille ge-wonnen hatte. Warum denn nicht die Besten gekommen seien, lautete die nächste Frage. Die Aussage, dass es bei diesem Treffen gerade um jene ge-he, die gekämpft und dennoch „verloren“ hatten, stieß auf Unglauben bei den Kanadiern rundum. Aufgewachsen und lebend in einem Gesellschaftssystem, ein System in dem nur der Erfolgreichste, der „Größte“ im Mittelpunkt steht, konnten sie nicht verstehen, dass der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR und Leiter der bisher so erfolgreichen Olympiamann-schaft, Manfred Ewald, ausgerechnet Unterlegene zu einer gemütlichen Run-de in einem der markantesten Bauwerke der Stadt empfing, ein Ereignis übri-gens, das bei Olympischen Spielen schon eine lange Tradition hat.
Die Aussagen zweier Beteiligter bezeugen, welches Gewicht die Party hat. Silke Braun, mit 18 Jahren die jüngste jemals bei Olympia in einer DDR-Mannschaft eingesetzte Skilangläuferin, die in der Staffel um einen Medail-lenplatz zusammen mit ihren drei Gefährtinnen kämpfen wollte, in den Minu-ten der Entscheidung aber so aufgeregt war, dass nichts mehr gelingen woll-te, bekannte: „Es ist schön, dass bei uns auch nicht so erfolgreiche Sportler nicht vergessen werden. Das gibt Mut, neue Ziele anzustreben.“ Während sie neue Olympiastarts vor sich hat, war es für den Rennschlitten-Fünften Mi-chael Walter der letzte. Der knapp 28jährige betonte: „Ich habe alles dafür getan, um zu einer Medaille zu kommen, aber ich konnte nach einer Verlet-zung noch nicht wieder meine Höchstform erreichen. Dass ich in dieser Run-de dabei bin, betrachte ich als Dank der Mannschaftsleitung für meinen Ein-satz.“
SEOUL
Mannschaftsleiter Horst Röder erinnerte unter schattenspendenden Bäu-men eines Gartenrestaurants an eine Stunde im 37. Stock eines Montrealer Hochhauses. An einer großen Tafel hatten DDR-Athleten im „Einmarschan-zug“ Platz genommen. Gläser wurden gefüllt, angestoßen. Gäste horchten
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die Ober aus, erfuhren, dass es sich um Aktive aus der DDR handele, und ein betuchter Herr trat mit der Bitte um zwei Kornelia-Ender-Autogramme für seine Töchter an den Tisch. Man bedeutete ihm, dass die Rekord-schwimmerin nicht mit von der Partie sei, aber den Töchtern vielleicht auch mit anderen Autogrammen eine Freude zu bereiten sei. Der Kanadier war angetan von der Aufgeschlossenheit an jenem Tisch und bat um ein Auto-gramm von dem Athleten, der die meisten Medaillen habe. Man eröffnete ihm, dass leider kein einziger Medaillengewinner dabei sei, und verblüfft frag-te der Unbekannte: „Und was feiern Sie?“ Das erfuhr ein, kanadischer Jour-nalist und schrieb in der „Montreal Gazette“ damals einen Leitartikel über die Haltung der DDR zu Siegern und Verlierern.
In Seoul – so Horst Röder – wolle man diese Tradition fortsetzen und de-nen danken, die trotz allen Eifers und Kampfgeists nach jahrelangem hartem Training medaillenlos heimkehren. Mancher sei auch dabei, dessen „Schick-sal“ in Kampfsportarten subjektiv entschieden worden sei, vor allem aber sei zu sagen, dass keine Mannschaft nur aus Siegern besteht, sondern eben aus Gewinnern und Verlierern.
Gläser wurden gefüllt, man stieß an, danach kostete man koreanische Kü-chenspezialitäten, und am Ende dankte ein diesmal leer augegangener frühe-rer Olympiasieger für die unbeschwerte Stunde: Udo Beyer. Unter den Gäs-ten dieses ungewöhnlichen Empfangs – so ungewöhnlich, dass der US-amerikanische Produzent des Seoul-Olympia-Films ein Kamerateam ge-schickt hatte – waren die Boxer Siegfried Mehnert, Rene Suetovius, Torsten Schmitz, der Fechter Uwe, Proske, die Leichtathleten Axel Noack, Detlef Mi-chel, Silvio Warsönke, Udo Beyer, die Radsportler Maic Malchow, Michael Hübner, die Ringer Olaf Koschnitzke, Maik Bullmann, die Ruderer Uwe Hepp-ner, Carl Ertel, der Judoka Udo Quellmalz, der Gewichtheber Mario Schult, die Ruderinnen Kerstin Spittler, Katrln Schröder, die Sportschützen Uwe Pot-teck, Andreas Wolfram und Jürgen Raabe, die Schwimmer Raik Hannemann, Annett Rex, Susanne Börnicke und Jörg Hoffmann und die Wasserspringerin Brita Baldus.
Bei Tisch gestand Udo Beyer, dass er verständlicherweise mit einem wei-nenden und einem lachenden Auge in dieser Gesellschaft sitze und sich mehr über die Bronzemedaille gefreut hätte. Michael Hübner erzählte den Schwimmerinnen, was ihn bewogen hatte, als Ersatzmann der Radsprinter Maic Malchow für seine 1000-m-Zeitfahrt warmzufahren: „In diesen Augenbli-cken vor dem Start ist man glücklich, wenn man einen Freund in der Nähe weiß. Das entspannt, und nichts ist in solchen Augenblicken wichtiger als Lo-ckerheit.“
Sieger wissen allemal, wie man feiert. An diesem Nachmittag de-monstrierte die DDR-Mannschaftsleitung, dass in unserer Republik nicht nur der Sieg zählt. So wurde die Stunde zu einem kleinen Kapitel Geschichte des DDR-Sports – am Vorabend des 40. Geburtstages unserer Sportorganisation.
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DAS RADSPORT-MEKKA IN DER LENINALLEE
Von WULF FISCHER
Zu DDR-Zeiten erschien regelmäßig ein „Jahrbuch des Sports“, das die wichtigsten Resultate enthielt und Reportagen und Betrachtungen von Fach-leuten. Dem Buch des Jahrgangs 1977 entnahmen wir einen Beitrag, der an die weltweit einzige Radrennbahn erinnert, die ausschließlich Amateuren vorbehalten war.
Du lässt Deine Karte entwerten, musst noch 20 Meter gehen, öffnest erst eine, dann eine zweite Tür, und dann bist Du drin. Du hörst einen alten Mann rufen: „Nehm'se noch'n Programm. Den ,Radsportler‘ ham' wa auch noch da. Zusammen nur 'ne runde Mark.“ Eigentlich brauchte er das gar nicht zu rufen, denn wer zum Winterbahnrennen in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle erscheint, der braucht das halt – vor allem das Programm. In der Halle kannst Du nach links oder nach rechts oder auch geradeaus gehen, aber es ist ei-gentlich egal, denn überall ist es mühsam, vorwärts zu kommen. Die Leute drängeln überall gleich viel. Aber das nimmst Du in Kauf, denn Du bist ja erst mal drin. An diesem Abend ist gerade Internationale Sprintermeisterschaft, und Du bist einer der 3000 Kartenbesitzer, während 16.000 ihre Bestellungen umsonst abgegeben hatten. Also, was soll's ... Solltest Du hungrig sein, Bü-fett neben Büfett – scheinbar ohne Personalsorgen – harren Deiner. Die Bu-lette – größer und fleischiger als die der MITROPA – kostet soviel wie Pro-gramm und „Radsportler“ zusammen, Brause gibt's, auch Bier. Solcherma-ßen ausgerüstet und gestärkt, kannst Du Deinen Platz suchen. Es ist mög-lich, dass Dir auf dem Weg dorthin ein Mann begegnet, den Du schon oft ge-sehen hast, in der Zeitung oder im Fernsehen. Es kann auch sein, dass Du einem Weltmeister begegnest, doch das ist hier nichts Außergewöhnliches. In diesem Velodrom – das Journalisten ein Mekka des Radsports genannt ha-ben, dessen 171 Meter lange Bahn als Lattengebirge apostrophiert wurde –, hier begegnest Du auf Schritt und Tritt der Radsportprominenz.
Guido Costa, Italiens Meistermacher, der viele Olympiasieger und Weltmei-ster an die Weltspitze führte, sagte im vergangenen Jahr: „Hier sind die Akti-ven die Könige. Und ich bin besonders froh, dass diese Arena ganz allein den Amateuren gehört. Sie sind die Hauptdarsteller, ihnen gehört der Abend.“
Du musst Dich also nicht wundern, wenn Dir hier die Creme des internatio-nalen Bahnradsports vorgestellt wird. Hier kannst Du sie treffen, sehen, auch fragen, Männer wie Huschke, Grünke oder Geschke, den sie alle „Tutti“ rufen, auch Morelon war schon hier, der Feuerwehrmann aus Paris, der nunmehr achtfache Weltmeister. Sie alle könnten Dir erzählen, dass sie diese Halle lieben, dass sie von der Atmosphäre stimuliert werden. Thomas Huschke, der Verfolgungsweltmeister, würde sagen, dass er diese Winterbahnabende nutzt, um sich für die Höhepunkte des nahenden Sommers fit zu machen. Für ihn waren die ungezählten Siegerschleifen stets auch ein Schritt auf die Sie-gerpodeste der Sommerbahnen. Einen anderen Gesichtspunkt würde Jürgen Geschke, der Altmeister unserer Sprinter, in die Debatte werfen. Die Sach-
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kenntnis der Zuschauer lobt er stets, auch den Kontakt, die Brücken, die ihre Zurufe zu den Fahrern bauen. Dieser bescheidene Sportsmann hat sich da-ran gewöhnt, dass gerade ihn die Sprüche und Wünsche der Fans überschüt-ten. Er, bereits über dreißig, nimmt es deshalb keinem übel, wenn es plötzlich von ganz oben schallt: „,Tutti‘, Du gewinnst hier noch mit 50!“ Geschkes Beliebtheit entspringt in erster Linie der sportlichen Leistung, die er stets aufs Neue zeigt.
Du wirst aber auch bemerken: Dieser Mann ist einer der freundlichsten Sieger des Abends. Seine Siegerrunden fährt er mit strahlendem Lächeln, er winkt mit der Schleife, er grüßt seine Fans, man merkt, das alles macht ihm Spaß. Er ist in der Lage, diesen Hauch von hoher sportlicher Leistung und hautnahem Kontakt zum Publikum, dieses schwer erklärbare Gemisch von Entspannung und unmittelbarem Erleben, bis zur Neige auszukosten. Er könnte Dir vielleicht sagen, dass man hier an jedem Rennabend zusammen-treffen kann wie in einer großen Familie.
Wenn Du als Neuling in diesem Mekka des Radsports erscheinst, im Run-dentaumel eines Zweier-Mannschaftsrennens ein wenig die Übersicht ver-lierst, kannst Du Dich ruhig an Deinen Nachbar wenden. Die Möglichkeit, auf einen Experten zu treffen, ist relativ groß. Er wird Dir schon sagen, warum der Grünke, der Weltmeister nämlich, jetzt dieses tut, jenes aber lässt. Er wird auch gleich aufschrecken, wenn er hört, dass der Sprecher einen Run-dengewinn für die Kombination Nr. 12 verkündet, den dritten vielleicht. Er wird entweder zustimmen oder aber sofort lautstark seinen Protest anmelden. Wie auch immer – Winterbahnpublikum ist temperamentvoll und nicht auf den Mund gefallen.
Im allgemeinen passieren derartige Verzählpannen aber nicht, denn die Organisatoren und Funktionäre hinken in ihrer Leistung dem sportlichen Ni-veau nicht hinterdrein. Für alles ist gesorgt. Der Mann an der Glocke dort un-ten hat sich noch nie verrechnet, die Bahnerbauer aus Köpenick wachen Abend für Abend argwöhnisch darüber, dass sich ja nicht eine Latte löst, denn die Sicherheit der Rennfahrer ist natürlich im Radsport-Mekka, Berlin, Leninallee, oberstes Gebot. Du wirst auch sehen, dass es selbst im tiefsten Winter durchaus Abend für Abend frische Blumen geben kann; ein Blumen-bindemeister mit Herz für die Rennfahrer liefert Tag für Tag, jahrelang nun schon. Frauen erfolgreicher Rennfahrer müssen nicht erst bis zum 8. März warten, ehe es die ersten Blumen des Jahres gibt. Du kannst Dich in der Pause wieder ein wenig stärken oder Du mogelst Dich nach hinten, um Dir die Rennfahrer anzusehen, wenn sie ihren Wettbewerb beendet haben. Dir wird auffallen, dass sie alle, die oft Könige und Giganten genannt werden, ei-gentlich überhaupt nicht so heroisch wirken, wie Du es Dir nach Lesen der Zeitung eventuell vorgestellt hast. Sie haben es dann auf einmal eilig, unter die Dusche zu kommen, damit sie dann von der Tribüne aus auch mal die Konkurrenz von oben herab betrachten können.
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DAS UNOLYMPISCHE OLYMPIABUCH
Zur Geschichte des Sports und der Olympischen Spiele – korrekter des Missbrauchs Olympischer Spiele – gehört auch ein zwar in Vergessenheit ge-ratenes aber keineswegs vergessenes Buch, das die sogenannte Olympische Gesellschaft der Alt-BRD 1972 bereits im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 in München herausgebracht hatte. Der Werbeslogan: „Diese Material-sammlung, die von Pädagogen ausgewählt und zusammengestellt wurde, gehört in jede Schule, in die Hände jedes Schülers und Lehrers.“ Selten zu-vor waren Olympische Spiele so hemmungslos benutzt worden, um Politik – konkret, die der Alt-Bundesrepublik – zu verbreiten. Die Gesellschaft zur För-derung des olympischen Gedankens in der DDR hatte bereits im Vorfeld der Spiele diesen Missbrauch verurteilt.
Wir publizieren Zitate und Kommentare aus der damals in der DDR verbrei-teten Broschüre.
Buchseite 110:
Deutsche Truppen wandten in Südafrika beim Hereroaufstand erstmals drahtlose Telegraphie an.
Kommentar: Wurden bei diesem Hereroaufstand von deutscher Seite nicht auch andere Mittel angewandt? Tatsächlich war die Zahl der in der früheren deutschen Kolonie Hingemordeten nie exakt bekannt gegeben worden. Un-bestritten ist, dass man Tausende Frauen, Kinder und Männer in die Tro-ckensavanne getrieben hatte und dort verhungern und verdursten ließ! Die drahtlose Telegraphie übertrug die Todesschreie der Unglücklichen jedoch nicht ...
Buchseite 120:
Am 1. August begann der erste Weltkrieg. Jubelnd zogen die deutschen Soldaten an die Front, mit Blumensträußen in den Läufen der Gewehre. Das Jahr 1916 war das Jahr der Materialschlachten, der Kampf um Verdun, die Schlacht an der Somme, der erstmalige Einsatz von Giftgas. 28 Staaten wa-ren am ersten Weltkrieg beteiligt.
Kommentar: War das der erste Weltkrieg? 48 Wörter und vier Zahlen? Kein Wort über die Ursache, über diejenigen, die den Krieg vom Zaun brachen und für die – später noch aufgezählten – Millionen Toten verantwortlich waren. Kein Wort über den eine Neuaufteilung der Erde anstrebenden deutschen Imperialismus. Nur jubelnde Soldaten – von denen 1.808.545. nie mehr heimkehrten. Materialschlachten, Verdun, Somme, Giftgas. Das Buch war für Schüler ab zwölf Jahre bestimmt und trug auf dem Umschlag die fünf olympi-schen Ringe!
Buchseite 122:
In Rußland ging ein zweijähriger Bürgerkrieg zu Ende. Die „Rote Armee“ besiegte die weißrussisehen Generale Koltschak und Denikin, im darauffol-genden Jahr auch Wrangel auf der Krim und zaristische Resttruppen in der Äußeren Mongolei. Auch ausländische Interventionsversuche wurden abge-wiesen.
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... Drei europäische Dynastien mußten nach dem Weltkrieg abdanken: Die Romanows in Russland, die Habsburger in Österreich und die Hohenzollern in Deutschland. In Russland kam es zur Gründung der Sowjetunion.
Kommentar: Drei Dynastien mussten abdanken. Die „Pädagogen“, die das Buch geschrieben hatten, schienen dies für bedauerlich zu halten.
Buchseite 126
Nur mit Hilfe der Reichswehr und nationaler Kampfverbände konnte die po-litische Einheit Deutschlands gesichert werden.
Kommentar: Typisch bundesdeutsche Geschichtsschreibung, wie man ihr heute noch begegnet!
Buchseite 142:
1940 besetzten deutsche Truppen Dänemark und Norwegen. Auch Lu-xemburg, Belgien und Holland schützte ihre Neutralität nicht vor dem deut-schen Zugriff. Nach dem „Blitzfeldzug“ gegen Frankreich zogen deutsche Truppen in Paris ein. Durch diesen Erfolg schien der Friede in greifbare Nähe gerückt.
Kommentar: Damit waren Hitlers Überfälle und Blitzkriege faktisch für die bundesdeutschen Schüler gerechtfertigt! Deutsche Truppen hatten Dänemark und Norwegen „besetzt“ und der Überfall auf Paris ließ den „Frieden“ in greif-bare Nähe rücken. Gemeint war der faschistische Frieden in einem faschisti-schen Europa! Den „Frieden“ der Protektorate, Generalgouvernemente und Konzentrationslager ...
Buchseiten 302 und 304:
Das war damals ...
Der Panzergraben kam aus dem Wald, riß ein paar Felder quer auf und lief in das Tal auf den Bahndamm zu, der am Dorf vorbeiführte ... Am Bahndamm saßen die Jungen und klapperten mißmutig mit ihren Kochgeschirren. Es war Mittag, und die Essenholer mußten gleich kommen. Sie würden mit dem pferdebespannten Leiterwagen von der Straße abbiegen und auf dem Fuß-ballplatz, der zwischen Bahndamm und Straße lag und vor dem Pan-zergraben vorläufig endete, wie gewohnt halten ... „Einen Ball müßte man haben“, sagte einer der Jungen ...
Zwei Tage später war der Ball da.
Am nächsten Tag spielten die Jungen gegen eine Mannschaft der Fremd-arbeiter…
Das Spiel am Bahndamm war zu Ende. Und in jenem Augenblick, da der Schlusspfiff ertönte, geschah es, dass die Spieler aufeinander zuliefen und einander dankten. So verließen die Spieler müde und glücklich, den Platz: der Rechtsanwaltssohn von der Mosel, der Schlosser aus Schitomir, der Oberschüler von der Nahe, der Teepflücker aus Batumi, der Bauernjunge vom Hunsrück, der Warschauer Student und der Schreinerlehrling aus dem rheinhessischen Dorf.
Kommentar: Möchte jemand noch mehr über diesen so „sportlichen Krieg“ erfahren? Man beachte: „Glücklich“ war der Schlosser aus Schitomir nach dem Spiel mit denen vom Platz gegangen, die seine Familie ermordet hatten,
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glücklich auch der aus Batumi verschleppte Teepflücker und glücklich schließlich der Student aus Warschau, der Stadt, in der Massenmord zum Tagesgeschehen zählte. Aber die Soldaten spielten Fußball mit denen, die sie als „Fremdarbeiter“ am Leben gelassen hatten, weil sie ihrer Arbeitskraft bedurften. Fassungslos liest man diese Variante, im Vorfeld Olympias dem Faschismus olympische Züge zu verleihen!
Buchseite 144:
In der sowjetischen Besatzungszone vereinigten sich auf sowjetischen Druck KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, und es begann die konsequente Kollektivierung der Landwirtschaft und die Enteig-nung der Privatindustrie.
Buchseite 153:
Auf Antrag der Bundesregierung verbot das Bundesverfassungsgericht die Kommunistische Partei. Hitler wurde amtlich für tot erklärt.
Kommentar: Auch nahezu überflüssig, aber doch bemerkenswert, wie die beiden Fakten in einem Absatz untergebracht worden waren.
Buchseite 124:
Für Antwerpen und Belgien war es eine Prestigefrage, die ersten Olympi-schen Spiele nach dem Krieg durchzuführen ... Sofort ergaben sich aber poli-tische Schwierigkeiten. Friedensfest ja, aber nicht mit Deutschland, Öster-reich und Ungarn. Darüber wurde im IOC erbittert diskutiert. Coubertin wei-gerte sich entschieden, die Mittelmächte auszuschließen.
Kommentar: Eine schlichte Coubertin-Lüge, denn der hatte erklärt: „Es wa-ren erst wenige Wochen verstrichen, dass der letzte deutsche Soldat Belgien geräumt hatte und dass an der Kriegsfront der letzte Kanonenschuss ver-klungen war. Mit gesundem Menschenverstand sagte man sich, dass es un-vorsichtig sein würde, wenn sich deutsche Mannschaften vor 1924 in dem olympischen Stadion zeigen würden.“
Buchseite 26:
(Über eine angeblich in Melbourne beobachtete Szene): Gerade in dem Augenblick, als das ungarische Volk um seine Freiheit rang, rangen in die-sem 10.000-m-Lauf ein Russe, ein Ungar um die Führung. Der Russe ge-wann, aber nicht geringer war die Leistung, die der Ungar, dem die silberne Medaille zufiel, vollbrachte. Er lief nicht nur, er schleppte mit sich als unsicht-bare Last das Schicksal seiner Heimat ... Zwischen ihn und den Ungarn aber senkte sich herab jener unheimliche eiserne Vorhang
Kommentar: Einmal mehr: Antikommunismus pur!
Buchseite 164:
Der Krieg in Vietnam erreichte seinen Höhepunkt. Reguläre Truppen aus Nordvietnam und die Vietkong entfesselten eine Offensive, die das Land in ein Chaos stürzte.
Kommentar: US-Amerikaner waren weit und breit nicht zu sehen…
Buchseite 151:
Das IOC erkannte nur ein Nationales Olympisches Komitee für Deutsch-land an und forderte die Sportführung der SBZ auf, sich diesem westdeut-
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schen NOK anzuschließen bzw. mit ihm ein gemeinsames NOK zu bilden. Eine solche Einigung kam nicht zustande. Damit blieb den Sportlern der SBZ der Weg nach Helsinki verschlossen.
Kommentar: Diesmal vom früheren Geschäftsführer des faschistischen Reichssportbundes – und späteren Geschäftsführer des westdeutschen Sportbundes –, Guido von Mengden: „Eine spätere Geschichtsschreibung wird wohl zu dem Ergebnis kommen, dass eine Zusammenlegung der beiden deutschen NOK's damals an der Haltung der Vertreter der Bundesrepublik gescheitert ist.“ (Jahrbuch des Sports, Seite 37)
Buchseiten 278 und 280:
Der deutsche Radsportbahn-Vierer war trotz eines überlegenen End-laufsieges über Dänemark disqualifiziert worden, weil Jürgen Kissner in der letzten Runde in einem Zustand momentaner Verwirrung Henrichs angeblich abgeschoben hatte ... Niemand konnte erklären, wie es zu diesem Missge-schick gekommen war, auch Jürgen Kissner nicht, der gestand: „Im gleichen Augenblick, als ich Henrichs berührte und er mich anschrie, die Hand wegzu-nehmen, wusste ich, welche Dummheit ich begangen hatte.“ ... Der Ostberli-ner Bahnkommissar Jürgen Gallinge entschied, unterstützt von offenkundig unfähigen Offiziellen, sofort auf Disqualifikation.
Kommentar: Schuld an allem waren immer die „Ostdeitschen“.
Buchseite 175:
Seit die Industrie entstand, zog es immer mehr Menschen vom flachen Land in die Großstädte ... Hinzu kam der Riesenstrom der Flüchtlinge aus dem Osten, eine Wanderbewegung, die es zahlenmäßig mit der Völkerwan-derung vor 1500 Jahren aufnehmen kann.
Kommentar: Noch ein Kapitel Urgeschichte!
Buchseite 93:
Die Geschichte des Sports in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ohne das Werk Carl Diems und ohne die Wirkung seiner Persönlichkeit nicht zu denken ... In Carl Diem hatte eigentlich Pierre de Coubertin einen schöpferischen Nachfolger seiner geistigen Konzeption des modernen Olympismus gefunden ... Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass durch den zweiten Weltkrieg Diem die offizielle Plattform für ein internationa-les Wirken entzogen wurde ...
Kommentar: Man hätte etwas vermisst, wäre da nicht noch der Nazi Diem gerühmt worden. Aber das musste man den Kindern doch noch beibringen!
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DIESES JAHR NACH WARSCHAU
Von WERNER STENZEL
Seit 1993 finden deutsch-polnische Radtouren der guten Nachbarschaft statt. 20 Jahre gemeinsame Rad- und Wandertouren – anlässlich dieses Ju-biläums lud der Landsportbund Gorzów (LZS) Ende April Freunde der Ge-sellschaft für gute Nachbarschaft zu Polen ein, um gemeinsam zu feiern.
Die sich in einer Atmosphäre besten Einvernehmens, der Vertrautheit und Herzlichkeit trafen, hatten längst Ländergrenzen und Sprachbarrieren über-wunden. Da erinnerte man sich an schwierige Grenzpassagen mit verloren gegangenen, aber damals notwendigen Personalpapieren. Es ging um Fahr-räder, die auf Lokomotiven befestigt wurden, um pünktlich ein Camp zu errei-chen oder darum, wie bei sengender Hitze auf dem Weg zur Schneekoppe die letzten Wasservorräte geteilt wurden. Die Radtouren sind eben keine kommerziellen Veranstaltungen, wie es in den jährlichen Teilnehmerheften heißt.
Wie kam es zu den Touren? In der DDR gegründet, fragten sich Mitglieder der Gesellschaft für gute Nachbarschaft zu Polen, welche ganz persönlichen Schritte in veränderter Situation zur Verständigung getan werden könnten. In einer Zeit, da so viel über das ‚Haus Europa‘ und Aussöhnung geredet wurde. Auf diese Art fanden wir 1992 beim Landsportbund Gorzów (LZS) offene, zu-verlässige Partner.
Als 1993 die erste Fahrt von Kostrzyn/Küstrin über Gorzów nach Słubice/ Frankfurt/Oder gestartet wurde, 500 km in 7 Tagesetappen, gehörten zu den ‚Zugpferden‘ Täve Schur und Rolf Töpfer. Beide halfen als Friedensfahrer zu Beginn der 1950er Jahre mit ihrem persönlichen Einsatz bitteres Leid zu überwinden und machten die Idee der Völkerverständigung für Millionen Menschen erlebbar. Die Teilnehmer der Nachbarschaftstouren wussten, auf solche Leute ist Verlass. Was die anpacken, hat Bestand. Bis zum heutigen Tag sind die beiden Radsportler gern gesehene Gäste unserer Veranstaltun-gen und des in Kleinmühlingen entstandenen Friedensfahrtmuseums.
Die Radtouren brachten Leute zusammen: Aus allen Berliner Bezirken, ne-ben den östlichen auch aus zahlreichen westlichen Bundesländern. Manch Abend geriet so zum deutsch-deutsch-polnischen Gespräch.
Für die Organisation der Radtouren ist es der größte Erfolg zu erleben, wie über die Jahre aus gegenseitiger Neugier Sympathien und schließlich Freundschaften entstehen, jährlich 60 – 90 Teilnehmer zu den Veranstaltun-gen kommen.
Unsere Rad-Wege führten entlang von Oder und Neiße, folgten der Weich-sel von Warschau nach Krakau, nach Danzig und in das Bieszczady–Gebirge.
Nicht verschwiegen werden darf: Ohne Bruno Schultz hätten die deutsch-polnischen Radtouren so nicht stattgefunden. Jahrgang 1932, wuchs er mehrsprachig in Alexandrów, in der Nähe von Łódż zwischen Deutschen, Po-
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len und Juden auf. Harte Jugendjahre ließen ihn frühzeitig die Frage stellen, warum die Menschen sind wie sie sind und welche Ursachen gesellschaftli-chen Zuständen zugrunde liegen. Sein Lebensmotto ‚Die Hauptsache mein Nachbar ist ein Mensch‘ machte Bruno zu einem, der Leute zusammenbrach-te, unabhängig von Nationalität, Religion oder Weltanschauung. Auf seine Ini-tiative kam es bereits 1973 zur Städtepartnerschaft Potsdam – Opole. Sein Hauptaugenmerk galt dem Lehreraustausch. Es war also kein Zufall, dass die 20. Radtour 2012 von Potsdam nach Opole führte. Bruno Schultz, viel zu früh verstorben, ist Ehrenbürger beider Städte und wurde vom Präsidenten des Nachbarlandes mit dem Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen ausgezeichnet. Sicher ist es ganz in seinem Sinne, dass eine Reihe langjähriger aber auch neuer Teilnehmer am 21. Juni 2013 in Berlin nach Warschau starten werden. Wir wünschen allen eine gute Fahrt und immer hindernisfreie Straßen…
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BUCHTIPP: „DIE HOENEß-NUMMER“
Vor kurzem erschien im Nora-Verlag ein Buch von Klaus Huhn über Hoeneß. Dies ist eine Leseprobe
Die Hamburger „Zeit“ verriet nicht, wann sie sich mit ihm in einem seiner Münchner Lieblings-Restaurants getroffen hatte. Nur: „Es ist der erste som-merähnliche Tag.“ Das Magazin mit dem Interview erschien am 2. Mai, man wünscht sich, dass die Unterhaltung nicht am 1. Mai stattgefunden hat. Aus vielerlei Gründen.
Sie wollen wenigstens einen wissen? Nehmen wir den: Bei der Berliner DGB-Kundgebung hatten sich viele ein Hoeneß-Plakat auf den Rücken ge-schnallt, das sein strahlendes Gesicht zeigte und in weit lesbaren Lettern den Text: „Der Wohltäter `Hallo Ulli, haste mal `ne Mark? Ich muß meine Steuern noch bezahlen!“
Für diese demonstrierenden Gewerkschaftler war es um den Steuerbetrü-ger gegangen, während „Die Zeit“ den Börsen-Spekulanten ins Zentrum rück-te und dazwischen liegen Welten - wird man noch erfahren.
Hoeneß ist seit Jahren ein Idol! Bewundert, bejubelt, vergöttert. Und natür-lich auch literarisch geehrt.
Die erste Auflage des Buches „Hier ist Hoeneß“ war 2010 erschienen, die fünfte 2012 und die trug auf dem Deckel den roten Aufdruck „Spiegel-Bestseller“. Ich war sicher, dass ich solche Anerkennung nie erreichen würde, aber es reizte mich ein wenig, herauszufinden wie man solche „Titel“ erringt und so schwang ich mich auf, auch ein Buch über Hoeneß zu schreiben. Ei-nes der vielen Motive für diese Waghalsigkeit war, offen gestanden, dass Hoeneß, der nie Hemmungen hatte, irgendjemanden „abzuwatschen“, eines Tages Gregor Gysi einen „Clown“ nannte. Mir war klar: Gysi braucht keinen Anwalt, denn schließlich ist er selber einer, aber in diesem Fall hatte sich Hoeneß einmal mehr ins Abseits begeben und das wird bekanntlich zumin-dest auf dem Rasen durch einen Pfiff geahndet!
Für Sekunden hatte ich die beiden vor Augen, den bulligen Bayern-Helden und den eleganten – hoffentlich verübelt er mir das nicht – Kommunisten. Mit beiden hatte ich irgendwann irgendwo schon mal kurze Gespräche geführt und von beiden hatte ich ein ziemlich scharfes Bild auf meiner Hirn-Festplatte. Das Duo passte irgendwo nicht zusammen, Der eine schien Ge-setze nicht sonderlich ernst zu nehmen und der andere dürfte nicht gerade ein Fussball-Experte sein, Aber das sollte nicht das Thema meines Buches werden, sondern viel mehr die Tatsache, dass beide oft in den Schlagzeilen zu finden und auch nicht ohne Makel sind. Genug der Vorrede. (…)
Damals, im Jahr 1972, hatte mir Hoeneß ungemein imponiert, weil er zwar schon im Trikot des FC Bayern spielte und damit eigentlich in der Erster-Klasse-Gagen-Kategorie, es aber abgelehnt hatte, einen der damals üblichen Profiverträge zu unterschreiben. Er – so ließ er jedenfalls nicht nur an Telefo-nen verlauten – wolle um jeden Preis an den Olympischen Spielen teilneh-
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men. Mir waren bis dahin in den – unmissverständlich formuliert – kapitalis-tisch beherrschten und sportlich längst kommerzialisierten Ländern nur weni-ge Athleten begegnet, denen das Erlebnis Olympia wichtiger war, als ein mo-natlicher Scheck. Und nun tauchte dieser Hoeneß – alle rühmten sein Talent – auf und verlängerte meine karge Liste. Ich muss noch eine Einschränkung machen: Es gab natürlich rund um die Welt genügend Töchter und Söhne steinreicher Eltern, die sich solchen Verzicht leisten konnten und einmal be-gegnete ich sogar einem Kronprinzen – sogar als Fahnenträger eines jetzt in große Nöte geratenen Landes –, den ich logischerweise nicht nach seinen Einkünften zu fragen gewagt hätte. Das alles bewog mich damals schon, mich für den Hoeneß-Lebenslauf zu interessieren. (…)
Hoeneß dürfte schon früh erkannt haben, dass es im Leben nicht so sehr um Olympia-Medaillen oder Bundesliga-Tore, sondern vor allem ums Geld-verdienen, genauer ums Geldvermehren ging. Über sein Spielergehalt verlor er selten viele Worte, aber seine Wege in die Geldwelt wurden bald publik. Noch als Spieler hatte er 1978 mit Magirus-Deutz einen Sponsorenvertrag für den Verein abgeschlossen, um mit dem dabei kassierten Geld die Rückholak-tion von Paul Breitner zu ermöglichen. Der Nutzfahrzeughersteller geriet al-lerdings schon bald selbst in finanzielle Schwierigkeiten und so musste Hoeneß als Manager neue Geldgeber suchen, was ihm mühelos gelang. Mit den Spielern hatte er nur noch am Wochenende zu tun, die Woche über traf er sich mit Direktoren und Aufsichtsräten.
Und auch dabei beließ er es nicht. 1985 hatte er gemeinsam mit Werner Weiß die heutige HoWe Wurstwaren in Nürnberg gegründet. Auf deren Inter-net-Seite erfährt der Kunde: „Der Tradition verpflichtet – von Nürnberg bis in die ganze Welt. Mit einer Gesamtproduktionsleistung von bis zu 4 Mio. Stück pro Tag gehört das Nürnberger Unternehmen HoWe Wurstwaren KG zu den führenden Herstellern im Segment Nürnberger Rostbratwürste.“ (…)
Damit der „kleine Mann auch was zu essen habe“, sei Hoeneß auch für den Mindestlohn, den er in seiner Nürnberger Wurstfabrik HoWe mit 7,50 Eu-ro längst eingeführt habe. Er zahle auch gerne fünf Prozent mehr Reichens-teuer, aber deshalb gehe es „dem kleinen Mann kein Stück besser.“ Es brin-ge nichts, immer nur gegen die Reichen zu sein, denn „wenn die Unterneh-mer alle in die Schweiz gehen, ist auch keinem geholfen´.“
Was sich tatsächlich in seiner Wurstfabrik tat, war keineswegs rühmlich und erboste alle Gewerkschafter. Auch die Nebenbemerkung über die Funk-tion der Schweiz ist vielsagend und ging davon aus, dass alle Zuschauer im Bilde seien, wo man sein Geld deponiert, wenn man als „Reicher“ mit Ärger zu rechnen hat.
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GEDENKEN
KLAUS KÖSTE
(26.2.1943 – 14.12.2012)
Diese Passage ist in der Regel bewegenden Nachrufen gewidmet. Und es gab viele Bewerber, die sich bereit erklärt hatten, Klaus Köstes Leben und Verdienste zu würdigen. Aber dann erreichte uns der Bericht der in Leipzig stattgefundenen Trauerfeier für Klaus und wir entschlossen uns, ihn an Stelle eines Nachrufs zu veröffentlichen:
Auf dem Gelände der ehemaligen Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) nahmen am 19. Januar 2013 nahezu 600 Trauergäste und seine An-gehörigen tiefbewegt Abschied von Leipzigs Turn-Olympiasieger Klaus Kös-te. In einer liebevoll gestalteten und seiner großen Lebensleistung angemes-senen Trauerfeier ließen Weggefährten, Partner und Freunde mit zu Herzen gehenden Worten noch einmal die Laufbahn des internationalen Ausnahme-könners vorüberziehen, fundiert durch Filme und Bilder, die allen die Tragik seines viel zu frühen Todes noch einmal bewusst machte. Im Vordergrund standen die charakterlichen und menschlichen Werte Köstes, die schmerzlich erkennen ließen, welchen Verlust der deutsche Sport und die nationale und internationale Turnfamilie erlitten hatten.
Es war wohl eine der schwersten Aufgaben seines Lebens für den ehema-ligen Dekan der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig, Prof. Dr. Jürgen Krug, die Trauerrede zu halten.
Der Hochschullehrer und Trainingswissenschaftler, der schon als Junge einst selbst neben Klaus Köste geturnt hatte, erinnerte noch einmal an die Lebensetappen des „Turnbuben“, der von seinem Vater die ersten Übungen gelernt hatte, würdigte, warum dieses Talent, sich schon bald den Spitz-namen „Sputnik“ erwarb und konsequent Schritt für Schritt den Weg zum Leistungsturner zurücklegte, dann dem legendären Viktor Tschukarin begeg-nete, der ihm prophezeite: „Du kannst mal ein ganz Großer werden!“ Er schil-derte, wie „Sputnik“ zum Kämpfer „Cassius“ heranwuchs, nachdem ihn Trai-ner wie Jochen Nonnast und sein Freund und ehemaliger Mitstreiter, Sieg-fried Fülle, schließlich zu internationalen Triumphen und zum Olympiasieg führten.
Mancher seiner Weggefährten kam in dieser Stunde zu Wort und jeder von ihnen schilderte mit eigenen Gedanken den persönlich empfundenen Schmerz, den der Verlust Köstes bei ihm hinterlassen hatte. Einer seiner engsten Freunde, Dr. Matthias Brehme erinnerte sich bewegt an die ersten internationalen Wettbewerbe, an das harte Training, und auch an gemeinsa-me Erlebnisse. Seine Stimme ließ ahnen, welch tiefe Gefühle ihn bewegten.
Auch Ute Kahlenberg-Starke, die wenige Meter vom Hörsaal entfernt, An-fang der sechziger Jahre die erste deutsche Turn-Europameisterin der DDR geworden war, mühte sich, die menschliche Seite dieses Verlusts zu schil-dern und erinnerte daran, wie sich Klaus Köste in vielen, schwierigen Situati-
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onen immer als Mann mit Rat und Tat erwiesen hatte und immer jemand blieb, auf den man sich hundertprozentig verlassen konnte...
Katja Stieler, ehemalige Deutsche Mehrkampf-Vizemeisterin (2005) und Hochschulmeisterin – jetzt angehende Journalistin – hatte für die ARD einen bewegenden Film gedreht, in dem Klaus Köste, auch in die Zukunft blickend über die Werte des Lebens aus seiner Sicht Auskunft gegeben hatte und zwei Dinge besonders hervorhob: die von ihm errungenen Medaillen und den Friedensappell, zu dem er gemeinsam mit Gunhild Hoffmeister und Täve Schur gegen den drohenden Irak-Krieg aufgerufen hatte und der trotz heftiger Medienattacken ein beispielloses Echo gefunden hatte. Bewegt erlebten die Gäste im Film den letzten „Start“ dieser unvergessenen Persönlichkeit.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Eberhard Gienger, selbst früherer Reckweltmeister nannte Köste ein Vorbild. „Einst lebten wir in zwei verschie-denen, getrennten Welten, aber die Hochachtung füreinander war immer da, später ist es sogar eine Freundschaft geworden und glücklich schätzen darf sich, wer Klaus Köste seinen Freund nennen durfte!“
Für den Deutschen Turner-Bund ergriff deren Vize-Präsidentin für den Olympischen Spitzensport, Rosemarie Napp, das Wort und verwies auf den herausragenden Platz, den der erste Turn-Olympiasieger der DDR in der deutschen Sportgeschichte einnimmt.
Die Radsportlegende Gustav Adolf „Täve“ Schur erinnerte in der ihm eige-nen, unverwechselbaren Art, neben der sportlichen Wertschätzung auch an die gemeinsame politische Zusammenarbeit als „linkes Duo“ im Bundestag: Schur als der Abgeordnete, Köste als seine verlässliche rechte Hand! Es wa-ren viele Vertreter der Partei „DIE LINKE“, die Klaus Köste die letzte Ehre er-wiesen, so Dr. Barbara Höll (MdB) und Volker Kühlow, Mitglied des Säch-sischen Landtags.
Für „Turnsachsen“ hatte der Ehrenpräsident des Turnverbandes, Dr. Harry Schwarz, das Wort ergriffen und den unermüdlichen Turnfunktionär gewür-digt, von dem es so gut wie nie eine Absage zu einer Veranstaltung gab.
Der enge Freund der Familie und ehemalige Judo-Verbandstrainer Norbert Littkopf – als musikalisches Talent hinreichend bekannt – ließ seine Trauer durch Mundharmonika-Klänge ahnen, die Klaus Köste so sehr geliebt hatte. Bürgermeister Michael Faber vertrat die Turn- und Sportfeststadt. Vom Welt-turnverband FIG erwies Wolfgang Willam dem Toten die letzte Ehre.
Im Saal saßen viele ehemalige Athleten von Weltruf, so Erika Zuchold, An-gelika Keilig-Hellmann, Dr. Steffi Biskupek-Kräker, Sylvia Hindorff, Jana Vo-gel, Kerstin Kurrat-Gerschau, Peter Weber, Reinhard Tietz, Dieter Hofmann, Andreas Hirsch und der Olympiasieger Holger Behrendt.
Bewegt hörte das große Auditorium zum Schluss gefasste Dankes-Worte seiner Witwe, Sabine Köste, die mit ihrer Rede im Namen aller Angehörigen bewundernswürdige Stärke bewies und allen dankte, die an der Seite ihres Mannes sein Leben mitgestaltet hatten. Ihre Schlussworte empfanden alle: „Klaus wird für immer bei uns bleiben!“
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GEDENKEN
Prof. Dr. paed. GÜNTER ERBACH
(22.1.1928 – 4.6.2013)
Als er nach langer schwerer Krankheit starb, hatte er ein in vielfacher Hin-sicht erfülltes Leben hinter sich, ein Leben, das vor allem der Schaffung der ersten ausbeuterlosen Gesellschaft auf deutschem Boden gewidmet war. Auch sein Lebensweg widerspiegelte dieses Anliegen: Der ehemalige Land-arbeiter wechselte 1946 vom Acker zur Universität und als die neue Gesell-schaft sich auch auf den Weg zu einer neuen demokratischen Sportbewe-gung begab, leitete er von 1953 bis 1955 die erste Zentrale Sportschule in Strausberg und von 1955 bis 1956 die Abteilung Wissenschaft im Staatlichen Komitee für Körperkultur und Sport. Danach promovierte er an der ersten deutschen Sportuniversität, der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, und wechselte bald darauf als Dozent an diese Hochschu-le. Dort wurde er schon bald zum Rektor gewählt und war sieben Jahre in dieser Funktion tätig. Es wäre nicht übertrieben, würde man in dieser Stunde versichern, dass man ihn immer rief, wenn neue Probleme zu lösen waren. 1974 wurde er zum Staatssekretär für Körperkultur und Sport berufen und 1983 zum Präsidenten des DDR-Fußballverbandes gewählt. Sein Ruf als Au-torität auf dem Gebiet des Sports verbreitete sich auch international und so wählte man ihn schon 1963 als Mitglied in den Weltrat für Körperkultur und Sport und 1973 in dessen Exekutive. Es fällt schwer, diesen Weg mit weni-gen Worten skizzieren zu wollen, denn man darf nicht versäumen, festzustel-len, dass die Erfolge des DDR-Sports zu einem im Weltsport beispiellosen Kesseltreiben auch gegen Günter Erbach führte. Es liegen nach Ablauf der in der Bundesrepublik geltenden 30jährigen Sperrfrist für interne Dokumente in-zwischen genügend Quellen vor, die das Ausmaß dieser Kampagne ahnen lassen. Das sportliche Duell um die olympischen Medaillen eskalierte in Bonn zum Politikum ersten Grades. Man denunzierte die DDR beim IOC wegen der angeblichen „Staatsamateure“, begann schon früh mit Dopingverleumdungen und immer stand Günter Erbach in der ersten Reihe der „Täter“. Und immer hat er in solchen Auseinandersetzungen seine Standfestigkeit bewiesen.
Nach dem Untergang der DDR folgte auch im Sport der grenzenlose „Ra-chefeldzug“.
Als wir 1998 den 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Sportaus-schusses gebührend feierten, ergriff auch er auf der Festsitzung das Wort und man sollte einige Sätze aus dieser Rede in dieser Stunde zitieren: „Wenn wir nunmehr acht volle Jahre nach dem staatlichen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland ... aus Anlass eines bedeutenden Gedenk-tages neuerer deutscher Sportgeschichte den öffentlichen Versuch wagen, Ereignisse und Entwicklungslinien des DDR-Sportgeschehens wieder wach-zurufen, so zeugt das einerseits wohl schon rein zeitlich von der Schwierig-keit des Unterfangens, andererseits aber auch von dem Bedürfnis, zu histori-scher Wahrheitsfindung beizutragen. ...
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Wir sind allesamt Zeitzeugen dieser Entwicklung und sowohl menschlich, politisch und wissenschaftlich wohl erfahren genug, die Bausteine für eine ob-jektive und damit möglichst wahrheitsgetreue Darstellung der DDR-Sportentwicklung zusammenzutragen, denn diese wird wie vieles in den ver-gangenen Jahren durch einseitige und vorverurteilende Wertungen so ent-stellt, dass eine den Realitäten entsprechende Sicht nur in wenigen Fällen oder nur im Detail erkennbar ist. Quellenwiedergaben nach dem Prinzip einer Vorverurteilung lassen die Absichten leicht erkennen. Auch immer wiederkeh-rende Wiedergaben von Geheimdienstaufzeichnungen, die bekanntlich nicht dazu gefertigt wurden, um einmal objektive Geschichtsdarstellungen zu ver-mitteln, vermögen solchen Arbeiten keinen wissenschaftlichen Anstrich zu geben.
Den meisten von uns wird beim Lesen diverser Publikationen ... und auch den Darlegungen vor der `Enquetekommission´ des Deutschen Bundestages nicht entgangen sein, dass diese vordergründig bestimmt sind von einer sehr einseitigen, anklagenden ja fast fanatischen Besserwisserei, aus verletztem Selbstwertgefühl oder gar Siegerpositionen heraus, obwohl dazu wohl im Sport keinerlei Grund bestand noch besteht, wenn man denn bereit wäre, die konkreten auch sportpolitischen Verhältnisse und auch Gegensätzlichkeiten dieser Jahrzehnte weltpolitischer Auseinandersetzung um die Sicherung des Friedens und die Rolle des Sportes dabei ernsthaft zugrunde zu legen.
Vor allem aber muss ein realistisches Sportgeschichtsbild dem einsatzbe-reiten Wirken Hunderttausender Übungsleiter und Funktionäre aller Ebenen, der Sportlehrer und der Trainer, Sportwissenschaftler und Sportmediziner, der Techniker und Arbeiter in den Sportstätten und vieler ehrenamtlicher Hel-fer gerecht werden. ...
Ich meine, es gehört heute mehr Mut dazu, die positiven Resultate der DDR-Sportentwicklung darzustellen, als bei jeder sich bietenden Gelegenheit die DDR und ihren Sport zu verleumden und bösartige Absichten zu unter-stellen.
Letzteres erfolgt immer heftiger in Medien und Publikationen und seit 1991 ... in einer der großangelegtesten Aktionen der politischen Strafverfolgung in der deutschen Geschichte gegen den Sport, in diesem Falle gegen den DDR-Sport und viele ihrer Verantwortlichen in den laufenden Prozessen. ...
In historischer Rückschau ... wage ich die These, dass die Sportentwick-lung in der DDR beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft historisch von neuer Qualität war, denn erstmalig in deutscher Sportgeschichte waren Kör-perkultur und Sport im Ganzen völlig gleichberechtigt mit anderen gesell-schaftlichen Erscheinungen und durch Gesellschaft und Staat voll anerkannt. Der Sport in der DDR war philosophisch und ideologisch begründet, er war verfassungsrechtlich festgeschrieben, durch eine Vielzahl gesetzlicher Rege-lungen für alle zugängig, er war politisch gewollt und wurde sportpolitisch auf allen Ebenen arbeitsteilig gefördert und organisiert. Er wurde mit seinen Zie-len und Möglichkeiten für Gesunderhaltung, Erhöhung der Leistungsfähigkeit und Lebensfreude gleichermaßen durch Gesellschaft und Staat getragen und
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gefördert. ... Es scheint mir nachdenkens- und bemerkenswert, dass in acht Jahren Anschlusszeit der DDR an die Bundesrepublik von den Fernsehstati-onen des Ostens ... - also im Sendegebiet der neuen Bundesländer - unzäh-lige Fernsehproduktionen des DDR-Fernsehens DFF aus unterschiedlichs-tem Genre - Filme aller Art, ernste und heitere, dramatische und staatstra-gend historische, wiederkehrend auch Weihnachts- und Silvesterproduktio-nen - zur Freude der Ostbewohner wiederaufgeführt wurden und werden. Selbst der Festzug zur 750 Jahrfeier Berlins mit dem freundlich winkenden Erich Honecker (wenige Jahre zuvor - 1985 - mit dem Olympischen Orden in Gold ... geehrt) und das Festkonzert der NVA waren in voller Länge zu se-hen.
Keiner aber hat bisher eine Wiederaufführung der Sportschau oder des Festumzuges der Leipziger Turn- und Sportfeste erlebt, die bekanntlich in Idee und Choreographie eine sportlich-künstlerische Gesamtleistung von ho-her Güte darstellten und Ausdruck der Leistungsfähigkeit des DDR-Sports waren und bleiben.
Ob das vielleicht an den Bildern und Aussagen der Osttribüne liegt? Viel-leicht oder sogar sicher hat das etwas mit den Leistungen und Wahrheiten zu tun, die durch optimale Beziehungen zwischen Gesellschaft, Staat und Sport entstanden sind und in der Symbiose von Sport, Kunst und Politik für die Öf-fentlichkeit eindrucksvoll sichtbar wurden.“
Auch in dieser Stunde noch beeindruckend seine souveräne sachliche Dik-tion, die sich so sehr von der all jener unterscheidet, die noch immer lärmend ihren Feldzug gegen die DDR führen.
Wäre noch zu betonen, dass Günter Erbach sein Leben lang Kommunist war, seine Haltung nie verriet und wir ihn nie vergessen werden!
Margot Budzisch / Klaus Huhn

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BEITRÄGE
ZUR
SPORTGESCHICHTE
BUCH DES
DEUTSCHEN SPORTS
HEFT 37
SPORT UND GESELLSCHAFT e.V.
2
3
INHALT
ÜBER EIN GOLDENES BUCH
Seite 4
BESCHLUSS DER MITGLIEDERVERSAMMLUNG
Seite 6
DIE NAMEN IM GOLDENEN BUCH
Seite 7
DAUMES BAHNSTEIG-KOMPLOTT
Von KLAUS HUHN
Seite 26
DEUTSCHE UND OLYMPIA
DOKUMENTATION
Seite 37
WAHRHEITEN ÜBER LOS ANGELES
Von FRANK CRONAU
Seite 44
WIE DAS SPORT-FERNSTUDIUM IN DER DDR BEGANN
Von EDGAR HAASE
Seite 50
DOKUMENT EINES ARBEITER-TURNVEREINS
AUS DEM JAHRE 1850
Von WILLI SCHRÖDER †
Seite 54
ERINNERUNG AN PIERRE DE COUBERTIN
Von HEINZ SCHÖBEL †
Seite 57
GEDENKEN AN REINHARD ZIMPEL
Von ALFONS LEHNERT
Seite 61
4
ÜBER EIN
GOLDENES BUCH
ZUR EINFÜHRUNG
Bücher über den Sport und seine Werte sind zu Tausenden geschrieben
worden, über Stars des Sports und ihre Eigenschaften
wohl sogar Zehntausende. Alljährlich finden obendrein weltweit
Auszeichnungen statt, an denen sich nicht selten Millionen Abstimmende
beteiligen. Dennoch geraten viele der berühmten Athleten in
unserer schnelllebigen Zeit viel zu flink in Vergessenheit. Dem versuchen
viele Organe abzuhelfen, indem sie sich mühen, den Ruhm
der Stars in die Ewigkeit zu transferieren. Zu diesen Bemühungen
darf man die rühmenswerte Initiative der Deutschen Sporthilfe zählen,
die – unterstützt von zahlungskräftigen Unternehmen – eine
„hall of fame“ (deutsch: „Halle des Ruhms“) gründete, in der Glorie
in zeitlichen Abständen gespeichert wird. Allerdings erwies sich
bald, dass man außer Siegerlorbeer auch primitive Politik mit auf
das Podest zerrte. Als man einen ungemein populären zweifachen
Radweltmeister in die Ruhmes-Halle holen wollte, dessen Ruf in jeder
Hinsicht untadelig war, wurde als hemmender Makel verkündet,
dass er für eine linke Partei sowohl in der Volkskammer der DDR als
auch im Bundestag saß. Sein unerschütterliches Bekenntnis zu den
Linken missfiel Rechten und Reichen und so verriegelte man vor
ihm den Weg in jene Halle, womit der von vielen verurteilte Kalte
Krieg wieder auflebte!
Einem Mann wie Dr. Willibald Gebhardt – von unserem Verein vorgeschlagen
aber ebenfalls nicht in die Halle aufgenommen –, der
mit viel persönlichem Engagement dafür gesorgt hatte, dass
Deutschland an den ersten Olympischen Spielen 1896 teilnahm,
war kaum zu linkes Engagement vorzuwerfen, aber zu viel Sympathie
für Frankreich, dem Geburtsland der Spiele. Der Verein sah in
solchen Einschränkungen unsportliche Regsamkeit und strebte nach
einer aufrichtigeren Basis. Die glaubte er in einem „Goldenen Buch
des Deutschen Sports“ gefunden zu haben. Um nicht in Verdacht zu
geraten, „Ossis“ gegen „Wessis“ ausspielen zu wollen, baten wir als
5
ersten den inzwischen zum Präsidenten des Internationalem Olympischen
Komitees gewählten Tauberbischofsheimer Thomas Bach
darum, in diesem Buch genannt zu werden. Er antwortete dem Präsidenten
unseres Vereins: „Das von Ihnen initiierte `Goldene Buch
des Sports´ ähnelt in seinem Anliegen der `hall of fame´ der Deutschen
Sporthilfe. Der Deutsche Olympische Sportbund unterstützt
diese Inititative der deutschen Sporthilfe und ich bin der Überzeugung,
dass es keine zwei konkurrierenden Einrichtungen geben sollte.
Dies würde den Sportlern nicht gerecht werden. Daher bitte ich
um Ihr Verständnis dafür, wenn ich von der Aufnahme meines Namens
absehen möchte.“
Wir trugen dem persönlichen Wunsch des IOC-Präsidenten Rechnung
– nicht beurteilend, ob er der olympischen Idee Rechnung
trägt – verzichteten aber nicht auf das „Goldene Buch“, dieweil wir
meinen, dass nicht eine Versammlung von Aufsichtsratsvorsitzenden
über den Ruhm zu befinden hat, sondern eher Persönlichkeiten,
die selbst beachtliche sportliche Leistungen vollbrachten oder sich
in der Geschichte des deutschen Sports durch unvergessenes Engagement
hervortaten.
Dieses Buch kann ergänzt werden…
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Beschluss
der Mitgliederversammlung von Sport und Gesellschaft e. V.
vom 16. August 2011
Die Mitgliederversammlung beschließt zur Wahrung der Traditionen
im deutschen Sport ein
Goldenes Buch
einzuführen.
Eingetragen in das Goldene Buch können deutsche Bürger
werden, die einen hohen ethischen und moralischen Beitrag
zur Entwicklung von Körperkultur und Sport in Deutschland
geleistet,
die nationale und internationale Spitzenleistungen erzielten
und erzielen und
als Übungsleiter, Trainer, Funktionäre oder Wissenschaftler
den Sport entsprechend dem Fairplay und der Völkerverständigung
entwickelt haben.
Jeder Bürger hat unabhängig von seinem weltanschaulichen
oder religiösen Bekenntnis das Recht, Vorschläge für die Eintragung
in das Goldene Buch zu unterbreiten.
Die Vorschläge müssen den erwähnten Bedingungen entsprechen.
Der Ehrenrat des Vereins entscheidet über die Aufnahme.
Die Eintragungen erfolgen in der Regel an zwei besonderen
Tagen: Dem 2. August – Geburtstag Werner Seelenbinders
(1904) - oder seinem Todestag, dem 24. Oktober (1944).
Einstimmig beschlossen.
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DIE IM GOLDENEN BUCH EINGETRAGENEN
RUDI ALTIG
(* 1937)
Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Profirennfahrer: Verfolgungsweltmeister
1960 und 1961, Sieger der Spanien-Rundfahrt 1962, bei acht Tourde-
France-Etappen erfolgreich, Sieger von Mailand-San Remo und Straßenweltmeister
1966. Der gebürtige Mannheimer engagierte sich nach dem Ende
seiner Laufbahn bei der Tour der Hoffnung für krebskranke Kinder, betreute
mehrmals die bundesdeutsche Amateurmannschaft bei der Friedensfahrt und
wurde mit dem Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz geehrt.
HELMUT BANTZ
(1921 – 2004)
1945 geriet er in englische Kriegsgefangenschaft. Als Gefangener betreute
und trainierte er Turner Großbritanniens, die an den Olympischen Spielen
1948 teilnahmen. Als aktiver deutscher Turner nahm er an den olympischen
Spielen 1952,1956 und 1960 teil und wurde 1956 Olympiasieger im Pferdsprung.
Damit gewann er als 35jähriger die erste deutsche Goldmedaille im
Turnen nach dem Zweiten Weltkrieg. In den nachfolgenden Jahren war er in
Argentinien, Afrika und Asien als Lehrer, Berater und Trainer im Turnen tätig.
HELMUT BEHRENDT
(1904 – 1985)
Er begann seine sportliche Laufbahn mit 15 Jahren in Königsberg, spielte von
1929 - 1933 Fußball beim Arbeitersportverein Fichte Südost Berlin, wurde
von den Faschisten 1935 auch wegen seiner Aktivität, den politischen Missbrauch
der Olympischen Spiele 1936 zu verhindern, zu sieben Jahren Zuchthaus
verurteilt und danach in die Konzentrationslager Sachsenhausen und
Mauthausen verschleppt. Er war von 1952 bis 1973 Generalsekretär des
NOK der DDR und wurde 1978 vom IOC mit dem Olympischen Orden ausgezeichnet.
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WOLFGANG BEHRENDT
(* 1936)
Der Berliner war 20 Jahre alt, als er bei den Olympischen Spielen in Melbourne
die Box-Goldmedaille im Bantamgewicht gewann. Er hatte seine
Laufbahn bei der BSG Einheit Weißensee begonnen. Nach einer Lehre als
Fernsehkameramann wechselte er zur Zeitung „Neues Deutschland“, war 26
Jahre als Sportfotograf tätig und gewann auf Weltausstellungen der Sportfotografie
in Damaskus und Peking zwei Goldmedaillen. Er ist Botschafter der
Stiftung Kinderhospiz, die sich um erkrankte Kinder mit begrenzter Lebenserwartung
bemüht.
GRETEL BERGMANN-LAMBERT
(* 1914)
Ihre sportliche Laufbahn begann in Ulm. 1933 wurde sie als Jüdin aus der
Sportbewegung ausgeschlossen, wanderte nach England aus, gewann die
britische Meisterschaft im Hochsprung. Um durch eine Geste der drohenden
Absage der USA-Mannschaft zu den Spielen 1936 zu entgehen, zwang man
sie, nach Deutschland zurückzukehren, wo sie mit 1,60 m den deutschen Rekord
einstellte. Am Tag nach dem Aufbruch der USA-Mannschaft teilte man
ihr mit, dass sie aus der deutschen Olympiamannschaft ausgeschlossen sei.
1937 floh sie in die USA.
MANFRED VON BRAUCHITSCH
(1905 – 2003)
Einem alten schlesischen Adelsgeschlecht entstammend, gehörte er lange zu
den erfolgreichsten deutschen Mercedes-Autorennfahrern, gewann den Großen
Preis von Monaco und den von Frankreich. Als sich der in Bayern Ansässige
1953 für die Einheit im deutschen Sport engagierte, wurde er wegen
Hochverrats, Geheimbündelei und Staatsgefährdung angeklagt, floh aus der
Haft in die DDR und wurde dort zum Präsidenten der Olympischen Gesellschaft
gewählt. Das IOC zeichnete ihn 1988 mit dem Olympischen Orden
aus.
SIEGFRIED BRIETZKE
(* 1952 )
Er gehörte zu den erfolgreichsten deutschen Ruderern, gewann dreimal in
Folge olympisches Gold 1972 (Zweier ohne), 1976 und 1980 (Vierer ohne),
1974, 1975, 1977 und 1979 die Weltmeisterschaft. Von 1980 bis 1988 war er
als Trainer tätig und von 1981 bis 1990 persönliches Mitglied des NOK der
DDR und bis 1993 Mitglied des NOK für Deutschland. 1984 wurde er mit dem
Olympischen Orden ausgezeichnet.
9
PROF. DR. med. habil. HERMANN BUHL
(* 1935)
Der 3000-Hindernisläufer aus Hainsberg gehörte bei internationalen Meisterschaften
nicht zu den Erfolgreichsten. Nach dem Titelgewinn 1958 reichte es
bei den Europameisterschaften nur zum elften, vier Jahre später nur zum
vierten Rang. Bei den Olympischen Spielen in Rom 1960 schied er bereits im
Vorlauf aus. Weit erfolgreicher war er nach seinem Medizinstudium, bei dem
er sich vor allem der Sportmedizin gewidmet hatte. Er hatte in Kienbaum bei
Berlin ein Höhentrainingszentrum entwickelt. Nach 1990 übernahm er neben
Forschungsprofessuren an der Universität Paderborn, umfassende Lehrtätigkeiten
an den Universitäten Marburg, Gießen und Würzburg. Hervorzuheben
sind neben den Lehrtätigkeiten und den Beschäftigungen als ärztlicher Direktor
verschiedener Kurkliniken (Bad Soden, Bavaria, Bad Wildungen) die intensive
Auseinandersetzungen mit der Hypoxie (Höhentraining) in Prävention
und Sport.
MARIANNE BUGGENHAGEN
(*1953)
Sie gilt weltweit als eine der erfolgreichsten Behindertensportlerinnen. Die
Volleyballspielerin war nach einer Operation querschnittsgelähmt und begann
mit Elan ihre Laufbahn als Behindertensportlerin. Sie errang schon bei ihren
ersten DDR-Meisterschaften in der Leichtathletik acht Titel. Später gewann
sie bei Weltmeisterschaften und den Paralympics 30 Siege. In der ARDSportgala
1994 wurde sie zur beliebtesten Sportlerin und in ihrer Heimatstadt
Ueckermünde zur Ehrenbürgerin gewählt.
WALDEMAR CIERPINSKI
(*1950)
Der Hallenser hatte eine vielseitige Sportler-Laufbahn hinter sich – Turner,
Angler, Boxer, 3000-m-Hindernisläufer – ehe er sich für den Marathonlauf
entschied. 1976 in Montreal als Außenseiter am Start, schaffte er den Sieg
vor dem Favoriten Frank Shorter (USA). Vier Jahre später wiederholte der
Hallenser seinen Triumph in Moskau und wurde 1984 nur durch den Olympiaboykott
am möglichen dritten Sieg gehindert. Immerhin blieb er bis heute der
einzige Deutsche, der olympische Marathongoldmedaillen gewinnen konnte.
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WILFRIED DIETRICH
(1933 – 1992)
Der Schifferstädter nahm für die BRD an fünf Olympischen Spielen teil und
gewann fünf Medaillen, darunter eine goldene. Er gehörte zu den wenigen
Weltklasseringern, die in beiden Stilarten antraten. Höhepunkte waren seine
Duelle in München gegen den mit 200 kg schwersten Aktiven der olympischen
Ringergeschichte, Chris Taylor. Im Freistil gewann der US-Amerikaner,
im griechisch-römischen Stil triumphierte Dietrich durch einen spektakulären
Überwurf. Sein Versuch, als Catcher erfolgreich zu sein, scheiterte.
RONALD EILENSTEIN
(* 1959)
absolvierte bis zur Beendigung seiner Karriere als Fallschirmspringer im Jahre
2000 über 5940 Sprünge. Der Diplomsportlehrer wurde 1984 Weltmeister
im Einzelspringen (Gesamteinzelwertung). 1986 und 1988 wurde er Weltmeister
im Figurenspringen. Er gehörte 1988 zu jenen Athleten, die während
der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Seoul mit dem Fallschirm
punktgenau im Stadion landeten.
KARIN ENKE-RICHTER
(*1961)
Sie wurde für ihr Lebenswerk als erste Eisschnellläuferin mit der „Jacques
Favart-Trophy“ geehrt. Sie nahm an den Olympischen Spielen von 1980 bis
1988 teil und gewann drei Gold-, vier Silbermedaillen und eine Bronzemedaille.
Bei den Sprintweltmeisterschaften von 1980 bis 1988 gewann sie sechs
Gold- und zwei Silbermedaillen und im Mehrkampf errang sie fünf Gold- und
zwei Silbermedaillen. 17-mal trug sie sich in die Siegerliste bei DDRMeisterschaften
ein.
PROF. DR. paed. GÜNTER ERBACH
(1928–2013)
Von 1946 bis 1949 Studium der Pädagogik an der Universität Greifswald, Aspirantur
an der Humboldt-Universität zu Berlin (1949-1953), Promotion zum
Dr. paed. an der DHfK 1956, Professor für Theorie und Geschichte der Körperkultur
seit 1960, Rektor der DHfK 1956-1963; stellv. Vorsitzender des
Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport der DDR sowie Vorsitzender
des wissenschaftlichen Rates 1965-1974, Staatssekretär für Körperkultur und
Sport der DDR 1974-1989 und Vorsitzender des Komitees für Körperkultur
bis 1990. Mitglied der Kommission für Sportsoziologie im Conseil International
pour I’Education Physique et le Sport (CIEPS) des Weltrates 1963-1990,
Mitglied des Exekutivkomitees der CIEPS 1973–1983, seit 1983 Ehrenmitglied
auf Lebenszeit. 2000 wurde er dessen ungeachtet wegen nicht bewiesenem
angeblichem Doping von einem Gericht der Bundesrepublik zu einem
Jahr Gefängnis verurteilt.
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MANFRED EWALD
(1926–2002)
Er war von 1948 bis 1952 Sekretär im Deutschen Sportausschuss und von
1952 bis 1960 Staatssekretär und Vorsitzender des Staatlichen Komitees für
Körperkultur und Sport beim Ministerrat der DDR, von 1961 bis 1988 Präsident
des DTSB der DDR und von 1973 bis Januar 1990 zugleich Präsident
des NOK der DDR. Er gehörte von 1963 bis 1990 der Volkskammer der DDR
an. Sein Wirken galt dem Kinder- und Jugendsport ebenso wie dem Freizeitund
Leistungssport. In der sportinteressierten Öffentlichkeit wurde er als „Architekt
und Baumeister“ des Sports in der DDR gewürdigt. Das IOC zeichnete
ihn mit dem olympischen Orden in Silber aus. Auf Betreiben der Bundesregierung
– Forderung des Ministers Kinkel – wurde er im Juli 2000 zu 22 Monaten
Gefängnis wegen angeblichen Dopings verurteilt. Die vom Gericht bestellten
Gutachter befanden allerdings: „Die beschriebenen gesundheitlichen
Schäden ließen sich nicht zweifelsfrei auf das frühere Doping zurückführen
und könnten verschiedene andere Ursachen haben.“
Dr. Klaus Huhn
( *1928 )
Er ist seit mehr als 65 Jahren Buchautor und Sportjournalist und wurde 1988
mit dem Sportjournalisten-Ehrenpreis des Internationalen Olympischen Komitees
ausgezeichnet. Von 1946 bis 1990 war er Sportchef der Tageszeitung
Neues Deutschland, wurde 1979 zum Generalsekretär der Europäischen
Sportjournalistenunion (UEPS) gewählt, war 17 Jahre lang Mitglied deren
Vorstands und dann aus dem bundesdeutschen Sportjournalistenverband
“ausgeschlossen“. Die UEPS wählte ihn daraufhin als Ehrenmitglied auf Lebenszeit.
34mal fungierte er als Directeur des weltweit bedeutesten Amateur-
Etappenrennens und fungierte auch als DDR -Radsportpräsident. Nach 1990
gründete er den Spotless-Verlag, in dem rund 240 Bücher erschienen.
Die mexikanische Stadt Anteguera verlieh ihm die Ehrenbürgerwürde.
Herbert Fechner
( 1913 –1998 )
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges zunächst in Kriegsgefangenschaft
wurde er 1951 Stadtrat für Volksbildung bzw. Gesundheits- und Sozialwesen,
war von 1953 bis 1961 stellvertretender Oberbürgermeister von Berlin (Ost),
von 1967 bis 1974 Oberbürgermeister von Berlin (Ost)
und ab 1974 Vorsitzender der Interparlamentarischen Gruppe und Mitglied
des Präsidiums der Liga für Völkerfreundschaft der DDR.
Er war Präsident des Bundes Deutscher Segler (BDS) der DDR von 1960 bis
1990, Mitglied des Permanentkomitees der Internationalen Renn-Segel-Union
(IYRU ) und wurde mit der höchsten Auszeichnung der IYRU, dem „Kreuz in
Gold“ geehrt.
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JULIUS FEICHT
(*1921)
Er ist eine Schwimmikone. 2011 wurde er bei den Europameisterschaften der
Senioren Sieger im 50-m-, 100-m-, 200-m- und 400-m-Freistilschwimmen. Mit
90 Jahren fuhr er im Juni 2012 nach Riccione/Italien und nahm an den Weltmeisterschaften
der Masters teil. Er behauptet von sich, dass er besser
schwimmen als laufen kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er der erste
Schwimmer, der den „Schmetterlingsstil“ geschwommen ist. „Jule“ war Olympiatrainer
und nahm an drei Olympischen Spielen teil.
BIRGIT FISCHER
(* 1962)
Sie ist die erfolgreichste Rennkanutin der Welt und die erfolgreichste deutsche
Teilnehmerin an Olympischen Spielen. Sie nahm in der Zeit von 1980
bis 2004 sechsmal an Olympischen Spielen (außer 1984) teil und gewann
insgesamt acht Gold- und vier Silbermedaillen. Die Diplomsportlehrerin ist
zugleich 27fache Weltmeisterin.
ALFRED FLATOW
(1869 – 1942)
Er startete bei den I. Olympischen Spielen 1896 in Athen und gewann am
Barren und mit der Mannschaft. Nach der Rückkehr wurde er von der Turnerschaft
wegen „undeutschen“ Verhaltens ausgeschlossen, weil auch dieser
Verband „internationale Spiele“ ablehnte. 1903 gehörte er zu den Mitbegründern
der Jüdischen Turnerschaft, dem ersten jüdischen Sportverband in Europa.
1938 floh er vor den Nazis in die Niederlande, wurde dort nach dem
Einmarsch der Hitler-Armee verhaftet und kam im KZ Theresienstadt um.
DR. paed. RUTH FUCHS
(* 1946)
Sie gilt mit zwei Olympiasiegen, zwei EM-Titeln und sechs Weltrekorden als
die erfolgreichste Speerwerferin aller Zeiten. Ihre Laufbahn hatte an der Kinder-
und Jugendsportschule Güstrow begonnen, später startete sie für den
SC DHfK, dann für den SC Motor Jena und wurde elfmal DDR-Meisterin.
1984 promovierte die gelernte Medizinisch-technische Assistentin und wurde
in das Frauenkomitee des Internationalen Verbandes (IAAF) gewählt. Von
1990 bis 2000 war sie Abgeordnete des Deutschen Bundestages.
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DR. WILLIBALD GEBHARDT
(1861 – 1921)
Der Berliner Chemiker war das erste deutsche Mitglied des IOC. Er hatte sich
1896 erfolgreich für eine Teilnahme Deutschlands an den I. Olympischen
Spielen in Athen eingesetzt, was ihm viel Ärger eintrug, weil die deutsche
Sportführung den Start bei den von dem Franzosen Coubertin initiierten Spielen
ablehnte. 1907 zwang man ihn wegen seiner internationalistischen Haltung
zum Rücktritt aus dem IOC. Mehrere Versuche des Vereins, Gebhardt
für die sogenannte „hall of fame“ vorzuschlagen, scheiterten in den letzten
Jahren.
STEFFI GRAF
(* 1969)
Als Siebenjährige gewann sie ihre ersten Tennis-Turniere, wurde bereits mit
13 Jahren Tennisprofi und feierte nicht weniger als 107 Turniersiege, darunter
allein sieben Erfolge in Wimbledon. Sie stellte einen legendären Rekord
auf, als sie sich 377 Wochen an der Spitze der Weltrangliste behauptete.
Nach dem Sieg beim Demonstrationsturnier in Los Angeles gewann sie die
Olympia-Goldmedaille 1988 in Seoul. Sie gründete die Stiftung „Children for
tomorrow“, die sich weltweit um traumatisierte Kinder bemüht.
GERHARD GRIMMER
(*1943)
Er gewann 1970 und 1971 als erster und einziger Mitteleuropäer den 50-
Kilometer-Skilanglauf am Holmenkollen in Norwegen, wurde bei den Weltmeisterschaften
1970 Vizeweltmeister über 30 Kilometer mit der Staffel. Bei
den WM 1974 wurde er als erster und bisher als einziger deutscher Athlet
Weltmeister über 50 Kilometer, darüber hinaus gewann er über 15 Kilometer
Silber. Er nahm an drei Olympischen Spielen teil.
Von 1981 bis 1990 war er Leiter des Sportclubs ASK Vorwärts in Oberhof
und wurde 1990 zum Präsidenten des Thüringer Skiverbandes gewählt. Von
1991 bis 2003 arbeitete er als Referent in der Abteilung Leistungssport des
Landessportbundes.
RICO GROSS
(* 1970 )
Er gehört im Biathlonsport zu den Ausnahmeerscheinungen am Ende des 20.
und Beginn des 21. Jahrhunderts. Er wurde mit der Staffel Olympiasieger
1992, 1994, 1998 und 2006 und gewann 1992 und 1994 jeweils eine Silbermedaille
im 10-km-Sprint. Er wurde dreimal Juniorenweltmeister und bei den
Senioren gewann er acht Weltmeistertitel, davon vier Titel in den Einzeldisziplinen
(20-km- und 12,5-km-Verfolgung) und viermal mit der Staffel.
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HELGA HAASE
(1934 – 1989)
war die erste Eisschnellläuferin der Welt, die eine olympische Goldmedaille
gewann. Bei den Winterspielen in Squaw Valley 1960 stand das Eisschnelllaufen
der Frauen neu auf dem Programm. Ihrem Trainer hatte die USARegierung,
ungeachtet des Protestes des IOC, die Einreise verweigert, so
dass er sie telefonisch „betreuen“ musste. Ihr Triumph über 500 m wurde in
der DDR entsprechend gefeiert, 48 Stunden später kam die Medaille über
1000 m hinzu. Sie wurde 1961 in den Bundesvorstand des DTSB gewählt.
GEORG HACKL
(*1966)
Der gelernte Schlosser nahm sechsmal an Olympischen Winterspielen teil
(1988 bis 2006) und gewann im Rennschlittensport drei Goldmedaillen (1992,
1994, 1998) und zwei Silbermedaillen jeweils im Einsitzer. Mit der Mannschaft
war er siebenmal und im Einsitzer dreimal Weltmeister (1989, 1990,
1997). Er errang insgesamt 33 Weltcupsiege. Seit 2004 ist er Schirmherr der
Stiftung Juvenile Adipositas.
RUDOLF HARBIG
(1913 – 1944)
Der Dresdner schien seine olympischen Hoffnungen 1936 auch in der 4x400-
m-Staffel durch eine Erkrankung begraben zu müssen, qualifizierte sich aber
bei der letzten Ausscheidung, setzte sich als letzter Läufer zeitgleich gegen
den Kanadier Loaring durch und gewann Bronze. Über 800 war er bereits im
ersten Vorlauf ausgeschieden.1939 erzielte er zwei Weltrekorde: 46,0 s über
400 m und 1:46,6 min über 800 m, nachdem er schon 1938 Europameister im
800-m-Lauf und in der 4x400-m-Staffel geworden war. Der Ende der dreißiger
Jahre weltbeste Mittelstreckler wurde in den faschistischen Krieg geholt
und starb 1944 an der Ostfront.
RÜDIGER HELM
(*1956)
Er bestimmte fast ein Jahrzehnt die Weltspitze im Kanurennsport. Er siegte
im Einerkajak von 1978 bis 1983 bei allen Weltmeisterschaften und gewann
1976 und 1980 die olympische Goldmedaille. Die dritte Goldmedaille errang
er mit der Mannschaft im K 4. Hinzu kamen drei Olympische Bronzemedaillen
und insgesamt zehn Weltmeistertitel, sechs Silber- und zwei Bronzemedaillen.
Das Internationale Olympische Komitee verlieh ihm das Ehrendiplom des
Fair-Play-Komitees.
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PROF. DR. Ing. et paed. habil. GERHARD HOCHMUTH
(1927–2011)
Seit 1953 war er am Institut für Sportphysik der DHfK Leipzig mit dem Aufbau
des Fachgebietes Biomechanik beauftragt, 1966 bis 1969 Professor mit
Lehrauftrag für Biomechanik des Sports und 1969 bis 1990 Professor für Biomechanik
sportlicher Bewegungen an der DHfK und am Forschungsinstitut
für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig. Sein Lehrbuch „Biomechanik sportlicher
Bewegungen“ erschien 1967 zeitgleich in Berlin(Ost) und in Frankfurt
am Main in mehreren Auflagen sowie in englischen, spanischen, japanischen
und arabischen Lizenzausgaben. Er wurde 1987 als erster mit dem Geoffrey-
Dyson-Lectur durch die International Society of Biomechanics geehrt. Er war
Mitglied des Sprungkomitees des Internationalen Skiverbandes (FIS) 1966
bis 1998, Ehrenmitglied des FIS-Sprungkomitees und Technical FIS-Expert
Jumping.
GUNHILD HOFFMEISTER
(*1957)
Die zweifache Silbermedaillengewinnerin bei Olympischen Spielen im 1500-
m-Lauf, 1972 in München und 1976 in Montreal, und Bronzemedaillengewinnerin
1972 über 800 m wurde 1974 Halleneuropameistern über 1500 m und
belegte über 800 m den zweiten Platz. Sie errang 14 DDR-Meistertitel, acht
über 1500 m und sechs über 800 m. Die erfolgreiche Mittelstrecklerin absolvierte
die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig als Diplomsportlerin
und gehörte zu den Initiatoren des Friedensappells deutscher
Sportlerinnen und Sportler 2003, die gegen den Krieg im Irak Tausende Unterschriften
sammelten und nach New York sandten. Das zuständige UNODepartement
bestätigte den Eingang.
WOLFGANG HOPPE
(* 1957)
Der Apoldaer folgte als Motocrossfahrer einer „Familientradition“, wechselte
dann zum Zehnkampf und 1981 zu den Bobsportlern, bei denen er es zum
weltweit erfolgreichsten Piloten brachte: 17 Titel und 33 Medaillen! Er nahm
von 1984 bis 1994 viermal an Olympischen Spielen teil und holte zwei Gold-,
drei Silbermedaillen und eine Bronzemedaille. Die Bürger seiner Heimatstadt
wählten ihn in den Stadtrat. Der Trainer der Frauen-Bob-Nationalmannschaft
ist Botschafter der Stiftung Kinderhospiz Tambach-Dietharz.
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RUDOLF ISMAYR
(1908–1988)
Der Bayer war Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts im Gewichtheben
(Mittelgewicht) dominierend. Er wurde 1932 Olympiasieger und gewann 1936
bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille. Insgesamt stellte er 13 Weltrekorde
und 19 deutsche Rekorde in seiner Gewichtsklasse auf. Nach 1945
engagierte er sich im Kampf gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik
Deutschland.
HERBERT JENTER
(1930–2012)
ist der erfolgreichste deutsche Volleyballtrainer. Als Trainer der
DDR-Nationalmannschaft (Männer) von 1958 bis 1974 und 1979 bis
1988 gewann die Nationalmannschaft unter seiner Leitung 1969
den Weltpokal, 1970 den Weltmeistertitel und 1972 bei den Olympischen
Spielen die Silbermedaille. Als Clubtrainer errang er mit
dem SC Leipzig den Europapokal der Landesmeister, der 1964 das
erste Mal ausgetragen wurde.
MARITA KOCH-MEIER
(* 1957)
Die Wismarerin beherrschte über Jahre in der Frauen-Leichtathletik die
Sprintszene. Sie lief 16 Weltrekorde, gewann olympisches Gold und Silber
und war bei den Weltmeisterschaften 1983 mit drei Titeln und einer Silbermedaille
die erfolgreichste Teilnehmerin. Ihre glanzvollste Leistung war der
400-m-Weltrekord, den sie mit 47,60 s 1985 in Canberra erzielte und den
seitdem niemand in Gefahr brachte. Die Modeboutique-Besitzerin wirbt bei
Veranstaltungen für das tägliche Sporttreiben.
DR. paed. THOMAS KÖHLER
(*1940)
Mit 13 Jahren bestritt er seine ersten Rennrodel-Wettbewerbe. Schon mit 17
Jahren wurde er in die Nationalmannschaft der DDR berufen. 1962 errang er
seinen ersten von drei Weltmeistertiteln und war zwei Jahre später Mitglied
der gemeinsamen Olympiamannschaft. Er gewann im Einsitzer und 1968 im
Doppelsitzer die Goldmedaille und im Einsitzer die Silbermedaille. Dreimal
war er DDR-Meister und fünfmal mit Michael Bonsack im Doppelsitzer Titelträger.
Von 1968 bis 1976 war er Cheftrainer der DDR-Rennrodler und damit
einer der jüngsten Cheftrainer eines Fachverbandes. Von 1981 bis 1990 fungierte
er als Vizepräsident für Leistungssport im DTSB und war persönliches
Mitglied im Nationalen Olympischen Komitees der DDR.
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PROF. DR. paed. THEODOR KÖRNER
(* 1932)
Bei den zweiten Weltmeisterschaften 1966 im Rudersport eroberte die Nationalmannschaft
Männer der DDR unter der Leitung von Verbandstrainer Theo
Körner erstmals den 1. Platz in der Nationenwertung, der unter seiner Führung
24 Jahre lang erfolgreich verteidigt werden konnte. Insgesamt wurden
bei Olympischen Spielen 17 Gold-, 5 Silber- und 6 Bronzemedaillen gewonnen,
bei den Weltmeisterschaften 44 Gold-, 22 Silber- und 13 Bronzemedaillen
sowie bei Europameisterschaften 12 Gold-, 11 Silber- und 3 Bronzemedaillen.
Bei den Olympischen Spielen 1976 gewannen – zum Beispiel – alle
Mannschaften und eingesetzten Athleten eine Medaille, in den 14 Entscheidungen
insgesamt neun Gold-, drei Silber- und zwei Bronzemedaillen.
Theo Körner war von 1972 bis 1992 Mitglied des Verwaltungsrates der internationalen
Ruderföderation (FISA) und von 1976 bis 1986 Vorsitzender Leistungssportkommission
der FISA.
Anlässlich des Jubiläumsrudertages des Deutschen Ruderverbandes (DRV)
in Köln 2008 wurde Prof. Dr. Körner Ehrenmitglied des DRV.
KLAUS KÖSTE
(1943 - 2012)
Der in Frankfurt/Oder Geborene begann seine Erfolgsserie als Pioniermeister
1957 und begann bei den DDR-Meisterschaften der Erwachsenen 1961 mit
den Titeln im Pferdsprung und an den Ringen. Bei den drei Olympischen
Spielen, an denen er teilnahm, gewann seine Mannschaft jedes Mal die
Bronzemedaille. 1972 in München hatte er auf eine Medaille am Barren gehofft
– und gewann dann die goldene im Pferdsprung 0,025 Punkte vor dem
Favoriten Klimenko. Seine Karriere nahm ein jähes Ende: Beim Training 1974
riss seine Achillessehne.
WALTRAUD KRETZSCHMAR
(*1948)
Sie gehörte zu den erfolgreichsten Handballerinnen der DDR und wurde bereits
als Jugendliche in die DDR-Auswahlmannschaft berufen. Sie war mit der
Nationalmannschaft der DDR dreimal Weltmeisterin (1971, 1975, 1978), gewann
mit der Mannschaft vom SC Leipzig den Europapokal der Landesmeister
(1966, 1974) und wurde zehnmal mit dem DDR-Meistertitel geehrt. Sie
gehörte 15 Jahre der Nationalmannschaft der DDR an, absolvierte 217 Länderspiele
und erzielte 727 Treffer. Der Sohn der gelernten Bankkauffrau, Stefan,
sowie ihr Ehemann Peter (Pit) waren ebenfalls erfolgreiche Spieler der
Nationalmannschaft Handball. Mutter, Vater und Sohn brachten es auf 501
Länderspiele und warfen 1631 Tore.
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JUTTA LAU
(* 1955)
1976 und 1980 wurde sie Olympiasiegerin im Doppelvierer und war viermal
Weltmeisterin (1974, 1975, 1978 und 1979). Sie studierte an der Deutschen
Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, gehört zu den erfolgreichsten
Rudertrainern der Welt und wurde 2001 als erste Frau vom Internationalen
Ruderverband (FISA) als „Welttrainerin des Jahres“ ausgezeichnet. Die von
ihr trainierten Ruderinnen errangen Gold-, Silber- und Bronzemedaillen bei
Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, so bei Olympischen Spielen
Beate Schramm (1988), Birgit Peter (1988, 1992), Kathrin Boron (1992, 1996,
2000, 2004) und Katrin Rutschow-Stomporowski (2004). 2010 nahm Jutta
Lau das Angebot an, bis 2013 in China als Rudertrainerin zu arbeiten.
CHRISTA LUDING-ROTHENBURGER
(* 1959)
Sie war die erste Frau, die sowohl bei Olympischen Winter- als auch bei
Sommerspielen Medaillen gewann. Sie siegte im Eisschnelllauf 1984 über
500 m und 1988 über 1000 m, gewann 1988 eine Silbermedaille und 1992
eine Bronzemedaille auf der 500-m-Distanz. 1988 wurde sie in Seoul Silbermedaillengewinnerin
im Bahnradsport (Sprint), nachdem sie bereits 1986
Weltmeisterin im Bahnradsport (Sprint) und 1987 Vizeweltmeisterin geworden
war.
LUZ LONG
(1913 – 1943)
Der Leipziger lieferte sich bei den Olympischen Spielen 1936 ein dramatisches
Duell mit dem schließlich die Goldmedaille gewinnenden USAmerikaner
Jesse Owens, wobei seine während des Wettkampfs demonstrierte
Sportfreundschaft mit dem „Neger“ den Unwillen der Nazi-Gastgeber
auslöste. Owens äußerte sich Jahre später noch voller Achtung dazu. Long
gewann die Silber- und bei den Europameisterschaften 1938 in Paris die
Bronzemedaille. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er auf Sizilien
schwer verletzt und starb in einem britischen Hospital.
19
JUTTA MÜLLER
(* 1928)
wurde zu ihrem 80. Geburtstag Ehrenbürgerin von Chemnitz. Ihre erfolgreichsten
Eiskunstlauf-Schützlinge hatten drei olympische Goldmedaillen,
zehn Weltmeistertitel, 18 Europameisterschaften und 42 DDR-Meistertitel errungen.
Sie war zunächst als Neulehrerin tätig und hatte erste Erfolge im
Kunstlaufen gefeiert. Danach studierte sie an der DHfK, führte ihre Tochter
Gabriele Seyfert zu Titeln und viele erfolgreiche Aktive – darunter Jan Hoffmann,
Katarina Witt, Anette Pötzsch, – zu glanzvollen Erfolgen.
UWE NEUPERT
(* 1957)
Der Freistilringer, der 19 Medaillen bei internationalen Meisterschaften und
Olympischen Spielen gewann, ist der erfolgreichste DDR-Ringer aller Zeiten.
1978 errang er zunächst den Europameistertitel und wurde danach Weltmeister.
1982 erkämpfte er erneut den WM-Titel, war zweimal Vizeweltmeister
(1977, 1979) und gewann viermal Bronze. Bei den Olympischen Spielen
1980 errang er die Silbermedaille und bei den Europameisterschaften drei
Silber- und drei Bronzemedaillen. Er absolvierte die Deutsche Hochschule für
Körperkultur (DHfK) in Leipzig als Diplomsportlehrer und machte nach der
Zusammenführung der beiden deutschen Ringerverbände 1990 auf die Konzeptionslosigkeit
im Deutschen Ringerbund aufmerksam.
GUNDA NIEMANN-STIRNEMANN
(*1966)
Das erste Gold ihrer Laufbahn gewann sie bei der Kreis-Kinder- und Jugendspartakiade
und diese Liste der Erfolge setzte sich in den nachfolgenden Jahren
fort. Bei Olympischen Spielen gewann sie drei Gold-, vier Silbermedaillen
und einmal Bronze. Sie erkämpfte acht Europa- und 19 Weltmeistertitel (acht
im Mehrkampf und elf auf den Einzelstrecken), stellte 19 Weltrekorde auf und
erzielte 19 Gesamtweltcuperfolge. Sie wurde im Jahr 2000 von den Eissportinstitutionen
als „Eisschnellläuferin des Jahrhunderts“ geehrt
FRANK-PETER ROETSCH
(* 1964)
Bevor der zweifache Juniorenweltmeister im Biathlon zu den Senioren „aufstieg“,
wurde er 1983 im Alter von 18 Jahren Vizeweltmeister der Senioren
über 20 km und mit der Staffel. Das war der Auftakt einer von Medaillen gesäumten
Karriere: 1984 Olympisches Silber, vier Jahre später zweimal Gold.
Bei den Weltmeisterschaften war er fünfmal erfolgreich und gewann fünfmal
Silber. Als herausragend gilt der Gewinn von drei Goldmedaillen bei den
Weltmeisterschaften 1987.
20
MATTHIAS SAMMER
(*1957)
Er spielte bis 1990 bei Dynamo Dresden. Beim VfB Stuttgart, Inter Mailand
und Borussia Dortmund unterschrieb er seine nächsten Verträge und avancierte
dann zum Sportdirektor bei Bayern München. In der U 16 bis U 23 gehörte
er der DDR-Nationalmannschaft an, wurde mit der U 18 Europameister
und mit der U 20 dritter bei den Weltmeisterschaften. Er gehörte der Olympiaund
Weltmeisterschaftmannschaft der DDR an und spielte von 1990 bis 1997
für Deutschland. Er wurde 1996 Fußballer Europas und 1995 und 1996 bester
Fußballer Deutschlands.
WERNER SCHIFFNER
(1915 – 1999)
Der als Amateur erfolgreiche Radrennfahrer wechselte nach 1945 zu den
Profis, weil die Alliierten den Radsport der Amateure zu den verbotenen
Kampfsportarten zählten, Profis aber als Unterhaltungskünstler starten ließen.
Als die Demokratische Sportbewegung 1948 gegründet wurde, kehrte er
zu den Amateuren zurück, wurde danach Trainer und führte die Mannschaft,
die nach dem Zweiten Weltkrieg den polnisch-deutschen Sportverkehr wieder
aufnahm, 1950 zur Friedensfahrt. 1954 war er Gründungsmitglied des SC
DHfK Leipzig und bis 1966 in diesem Sportclub als Cheftrainer Radsport tätig.
Seine Schützlinge gewannen drei Weltmeistertitel („Täve“ Schur, Bernhard
Eckstein), vier Einzel- und sieben Mannschaftssiege bei der Friedensfahrt.
HEINZ SCHÖBEL
(1913 – 1980)
Der Leipziger hatte den Buchhändlerberuf erlernt und machte eine ungewöhnliche
Karriere, als ihm der westdeutsche List-Verlag die Leitung seines
Leipziger Unternehmens übertrug. Der begeisterte Fußballer – von 1928 bis
1931 für den Arbeiter-Turn- und Sportbund spielend –, wurde 1953 zum Präsidenten
des DDR-Fußballverbandes und 1955 zum Präsidenten des NOK
gewählt. Bei zahllosen IOC-Sessionen mühte er sich um die Anerkennung
des DDR-NOK, erwirkte 1965 – nach vielen an bundesdeutschen Interventionen
gescheiterten – die olympische Anerkennung der DDR. 1966 wurde er
ins IOC gewählt.
21
JOCHEN SCHÜMANN
(*1954)
Der erfolgreichste deutsche Segler nahm sechsmal an Olympischen Spielen
(1976 bis 2000) teil, gewann drei Goldmedaillen und eine Silbermedaille.
1976 siegte er im Finn-Dinghi, 1988 und 1996 mit Bernd Jäkel und Thomas
Flach in der Soling-Klasse und 2000 mit Gunnar Bahr und Ingo Borowski
Zweiter im Soling. Er errang fünf Weltmeister- und sieben Europameistertitel
und war Sportdirektor der Schweizer Jacht „Alinghi“, die 2003 und 2007 den
„America`s Cup“ gewann.
RALF SCHUMANN
(*1962)
Der Meißner begeisterte sich für das Sportschießen und wurde in seiner
Laufbahn der erfolgreichste deutsche Sportschütze. Er nahm er an sieben
Olympischen Spielen in der Disziplin Olympisch Schnellfeuer (1988 bis 2012)
teil, gewann drei Goldmedaillen (1992, 1996, 2004), zwei Silbermedaillen
(1988, 2008) und belegte 2000 in Sydney den fünften Rang. Er war viermal
Weltmeister in der Einzeldisziplin und zweimal mit der Mannschaft, errang 13
Europameistertitel (7 Einzel-, 6 Mannschaftstitel) und 39 Weltcupsiege. Ab
2006 arbeitete er als Trainer in Suhl.
GUSTAV-ADOLF SCHUR
(* 1931)
Der Magdeburger holte bei Olympischen Spielen Bronze- und Silbermedaillen,
wurde zweimal Amateur-Straßenweltmeister und vergab einen dritten
Sieg, um durch Eckstein den Titel für die DDR-Mannschaft zu sichern. Er gewann
zweimal die Friedensfahrt, das bedeutendste Amateur-Etappenrennen
der Welt und wurde 25 Jahre nach dem Ende seiner Karriere zum „größten
Sportler aller Zeiten der DDR“ gewählt. Der Asteroid 2000 UR wurde nach
ihm „Täve“ benannt. Er war in die Volkskammer der DDR und in den Bundestag
der BRD gewählt worden.
FRITZ SDUNEK
(*1947)
Er gewann in seiner aktiven Boxer-Laufbahn von 129 Kämpfen 99 und war
DDR-Studentenmeister. Nach seinem Studium an der DHfK) in Leipzig war er
Trainer beim SC Traktor Schwerin und trainierte die Europameister im Amateurboxen
Richard Nowakowski (1977, 1981), Rene Breitbarth (1985), Michael
Timm (1985) sowie den Olympiasieger von 1988 Andreas Zülow. 1991
bis 1992 war er Cheftrainer der Nationalmannschaft der Niederlande. In seiner
Trainerlaufbahn nach 1992 im Profiboxen betreute er insgesamt 14
Weltmeister in verschiedenen Verbänden.
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WERNER SEELENBINDER
(1904 – 1944)
Der Berliner feierte seinen ersten großen Erfolg als Ringer bei der Spartakiade
1928 in Moskau, wo er das Turnier in seiner Gewichtsklasse gewann.
Nach 1933 illegal gegen die Nazis kämpfend, entschloss er sich, einen möglichen
Olympiaerfolg 1936 während der Siegerehrung für eine antifaschistische
Aktion zu nutzen, wurde aber nur Vierter. Nach zwei Bronzemedaillen
bei den Europameisterschaften 1937 und 1938, seine illegale Tätigkeit fortsetzend,
wurde er 1942 verhaftet, zum Tode verurteilt und am 24. Oktober
1944 in Brandenburg enthauptet.
WOLFGANG UHLMANN
(* 1935)
Er erlernte das Schachspiel im Alter von zwölf Jahren, als er wegen einer
Krankheit anderthalb Jahre ans Bett gefesselt war. Mit 18 Jahren nahm er an
den ersten internationalen Wettkämpfen teil. Er war der erste Schachsportler
aus der DDR, dem 1959 der Titel „internationaler Großmeister“ verliehen
wurde, er gewann mehr als 30 internationale Turniere und errang elfmal den
DDR-Meistertitel. Er nahm elfmal an der Schacholympiade teil und bezwang
in seiner Laufbahn u.a. die Weltmeister Bobby Fischer (USA) und Michael
Botwinnik. Er machte sich auch einen Namen als Autor von Schachbüchern.
FRANK ULLRICH
(*1958)
1980 war er in Lake Placid der erste Olympiasieger aller Zeiten über 10 km
und zeitgleich der erste Olympiasieger im Biathlonsport. Er gewann 1980
noch zwei Silbermedaillen (20 km und Staffel), nachdem er 1976 bereit eine
Bronzemedaille mit der Staffel errungen hatte. Neun Titel bei Weltmeisterschaften
und vier Weltcupgesamtsiege gehören außerdem zur Bilanz seiner
aktiven Laufbahn. Er absolvierte die DHfK in Leipzig, schloss das Studium als
Diplomsportlehrer ab und war seit 1987 Trainer der Nationalmannschaft der
DDR. Sein erfolgreichster Athlet: der dreifache Olympiasieger von 1992 und
1994 sowie achtfache Weltmeister Mark Kirchner. Seit 1998 war er Bundestrainer
Biathlon (Männer) und übernahm 2012 die Aufgaben als Bundestrainer
Skilanglauf.
FRITZ WALTER
(1920 – 2002)
Der Kaiserslauterer erzielte in 384 Fußballspielen 327 Toren. 1954 war er als
Kapitän maßgeblich am Weltmeisterschafts-Triumph der bundesdeutschen
Nationalmannschaft in Bern beteiligt. Er blieb 30 Jahre lang dem 1. FC Kaiserslautern
treu und lehnte Fabelangebote von Atletico Madrid, Inter Mailand
und Racing Paris ab. Man ernannte ihn zum Ehrenspielführer der Nationalmannschaft
auf Lebenszeit.
23
RENATE STECHER
(* 1950)
Die studierte Sportlehrerin wurde 1971 in Helsinki Europameisterin im 100-mund
200-m-Sprint und holte dazu noch Staffelsilber. Ein Jahr später gewann
sie bei den Olympischen Spielen in München zwei Gold-, zwei Silbermedaillen
und einmal Bronze. Die dritte Goldene errang sie bei den Olympischen
Spielen 1976 in Montreal. Sie war die erste Frau, die im 100-m-Lauf unter 11
Sekunden blieb. Insgesamt errang sie in den Disziplinen 100 m, 200 m und
mit der 4x100-m-Staffel 22 DDR-Meistertitel.
ULRICH WEHLING
( *1952)
Der in Halle (Saale) Geborene und in Oberwiesenthal Aufgewachsene schaffte
es als bislang einziger Athlet dreimal in Folge bei Olympischen Winterspielen
die Nordische Kombination (1972 bis 1980) zu gewinnen. 1970 hatte
er noch in Johanngeorgenstadt den Eid für die Teilnehmer der Kinder- und
Jugendspartakiade gesprochen, zwei Jahre später startete er in Sapporo und
machte die 5:30 min Vorsprung des finnischen Sprungsiegers Miettinen wett.
Zu den drei Goldmedaillen kamen noch die für vier Weltmeisterschaften.
Heute ist er vom Internationalen Skiverband als Direktor engagiert.
JENS WEISSFLOG
(* 1964)
Der in Erlabrunn Geborene ist einer der erfolgreichsten Skispringer der Welt.
1984 wurde er Olympiasieger auf der Normalschanze und Zweiter auf der
Großschanze. 1994 siegte er auf der Großschanze und gewann mit der
Mannschaft den Olympiasieg. Noch nie konnte ein Skispringer einen Olympiasieg
nach so langer Zeit wiederholen – und dazu noch in zwei Stilarten.
Auf der Normalschanze wurde er 1985 und 1989 Weltmeister. Er verbuchte
33 Weltcuperfolge und war Sieger der Vierschanzentournee.
PROF. DR. paed. GEORG WIECZISK
(1922–2011)
Nach seinem Studium (Geschichte, Soziologie, Sport) an der Berliner Humboldt-
Universität mit anschließender Aspirantur promovierte er 1956. Von
1959 bis 1960 war er Direktor der Forschungsstelle der DHfK Leipzig,
1960/61 Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatlichen Komitees für Körperkultur
und Sport der DDR. Seit 1961 zuständig für Forschung und Lehre am
Institut für Körpererziehung und 1969 bis 1987 Professor für Theorie, Geschichte
und Soziologie an der Humboldt-Universität. Von 1959 bis 1990
Präsident des DVfL und Mitglied des NOK der DDR. Mitglied des Councils
der Europäischen Leichtathletik-Assoziation 1979 bis 1987 und 1972 bis
1991 der Exekutive der internationalen Amateur-Leichtathletik-Förderation.
Ehrenmitglied der EAA seit 1987 und der IAAF seit 1991. Olympischer Orden
des IOC 1986.
24
HANS-GÜNTER WINKLER
(* 1932)
Er gilt als der populärste deutsche Reitsportler. Im Jahre 2002 erhielt er die
Auszeichnung „Weltbester Springreiter bei Olympischen Spielen“, an denen
er sechsmal teilnahm (1956 bis 1976) und stets Medaillen gewann. Er war
insgesamt fünfmal Olympiasieger (im Einzelspringen 1956 und mit der Mannschaft
1956, 1960, 1965 und 1972). Zweimal wurde er Weltmeister, einmal
Europameister. Hans Günter Winkler ist Mitglied des Ehrenkomitees der spanischen
Hofreitschule.
HELGA WISCHER-TRANTOW
(*1932)
Sie gehört zu den erfolgreichsten Sportanglerinnen weltweit und wurde aufgrund
ihrer Leistungen 1988 in das Guinnessbuch der Rekorde eingetragen.
Sie errang insgesamt 32 Weltmeistertitel, davon 29 in den Einzeldisziplinen,
erzielte 16 Weltrekorde. Ein Höhepunkt waren die Weltmeisterschaften 1961
in Dresden, sie gewann sieben Weltmeistertitel und stellte zwei Weltrekorde
auf. Die Englischlehrerin absolvierte zunächst die Deutsche Hochschule für
Körperkultur (DHfK) in Leipzig und anschließend ein Studium der Anglistik.
KATARINA WITT
(* 1965)
Wo rote Teppiche ausgerollt werden, ist sie meist in der Nähe. Sie gewann
als Eiskunstläuferin olympisches Gold und olympisches Silber, dazu Titel bei
Europameisterschaften. Ein Kanadier erfand den Slogan „Schönstes Gesicht
des Sozialismus“. Sie tingelte nach der sportlichen Laufbahn in Revuen,
stand vor Filmkameras, nahm Preise entgegen, ließ sich feiern und Schlagzeilenautoren
mühten sich seit 1990 die DDR aus dem Hintergrund zu verdrängen.
BÄRBEL WÖCKEL
(*1955)
Sie ist die erste und bisher einzige deutsche Leichtathletin, die vier Olympische
Goldmedaillen gewann. Sie siegte 1976 im 200-m-Lauf und mit der
4x100-m-Staffel und wiederholte diese Erfolge bei den Olympischen Spielen
1980 in Moskau. Bei den Europameisterschaften 1982 in Athen war sie mit
zweimal Gold und einmal Silber erfolgreichste Teilnehmerin. Mit der 4x100-
m-Staffel gewann sie bei den Landesmeisterschaften der DDR 1974, 1977,
1978 und 1981 bis 1984 jeweils den ersten Platz.
25
PROF. DR. phil. GÜNTHER WONNEBERGER
(1928–2011)
Von 1947 bis 1949 studierte er Philosophie, Geschichte und Kulturgeschichte
an der Universität Leipzig und promovierte 1956 zum Dr. phil. an dieser Universität.
Von 1957 bis 1991 lehrte er an der Deutschen Hochschule für Körperkultur
(DHfK) in Leipzig und wurde 1967 zum Professor für Geschichte
und Zeitgeschichte der Körperkultur berufen. 1967 bis 1972 war er Rektor der
DHfK. Günther Wonneberger war Gründungsmitglied des International Committee
for History and Physical Education (ICOSH) und dessen Präsident von
1971 bis 1982 und in dieser Zeit Mitglied der Exekutive des Weltrates für
Sport und Körpererziehung bei der UNESCO (CIEPS).
26
DAUMES BAHNSTEIG-KOMPLOTT
Von KLAUS HUHN
Das Olympiajahr 1964 ist ein halbes Jahrhundert her. Was sich rund um
dieses Jahr im deutsch-deutschen Sport zutrug, ist als maßgebliches Kapitel
der Einmischung Bonner Politik ins Sportgeschehen zu bewerten, wurde aber
– durchaus verständlich – von den in der BRD tonangebenden Medien in historische
Fernen gedrängt. 1964 und was sich vorab und danach zutrug, markiert
den Gipfel der Einmengung der Politik in den Sport, wie er – darf man
behaupten – weltweit in anderen Breitengraden kaum zu erkennen war. Viele
Akteure dieser von Bonn gesteuerten Ränke sind verstorben, und kaum jemand
scheint an einer „Aufarbeitung“ der Ereignisse interessiert. Das bewog
die „Beiträge“ einen Augen- und Ohrenzeugen vieler Beratungen um seine
Erinnerungen zu bitten.
Man schrieb den Dezember des Jahres 1962. Grauer Regen trieb über den
Genfer See. In den am Ufer verkehrenden Elektro-Eilzügen hatten die
Schaffner längst die Heizungen geschaltet, und in Lausanne, wo die Dampfer
nach Evian auslaufen, drängte sich die kleine Schar, die ans andere Seeufer
wollte, unter dem schmalen Stegdach. Hoch über dem Genfer See und den
Dächern von Lausanne klapperte Frau Zangghi in der bejahrten Villa „Mon
Repos“ auf ihrer Schreibmaschine. Sie hatte schon für den Baron de Coubertin
alle Büroarbeiten erledigt, fand noch heute mühelos jede Kopie der Briefe
des Begründers der Olympischen Spiele und wusste auch, wo sie die auf
dem Dachboden versteckten Restexemplare seiner Bücher für ihr besonders
sympathische Gäste versteckt hatte. (Ich weiß es genau, weil ich eines Tages
zu ihnen gehörte.)
Die vier Sprachen perfekt beherrschende Frau war seit Jahrzehnten der
gute Geist des Internationalen Olympischen Komitees und kümmerte sich
auch um die vielen hektischen Konferenzen, die vor allem in den fünfziger
Jahren in der Villa stattfanden. Deren Zahl hatte extrem zugenommen, seitdem
die „deutsche Frage“ auf der Tagesordnung erschienen war. Der exakte
Anlass vollzog sich, nachdem 1951 in der DDR das Nationale Olympische
Komitee gegründet worden war und seinen Aufnahme-Antrag an das IOC gerichtet
hatte, verbunden mit der Bitte, an den nächsten Olympischen Spielen
1952 – winters in Oslo und sommers in Helsinki – teilnehmen zu dürfen. Die
Bonner Regierung sah darin eine Gefährdung ihres auf höchster politischer
Ebene besiegelten „Alleinvertretungsanspruchs“ und beauftragte alle in Frage
kommenden Instanzen – allen voran ihre IOC-Mitglieder – die olympische
Anerkennung der DDR mit allen Mitteln zu vereiteln.
Obwohl die olympischen Statuten jede politische Einmischung von Regierungen
seit Ewigkeiten untersagt hatten, erfüllten jene IOC-Mitglieder – der
inzwischen nach Schleswig-Holstein übergesiedelte Herzog von Mecklenburg
und der letzte Nazi-Reichssportführer und Direktor der Deutschen Bank, Rit27
ter von Halt – haargenau, was ihnen Bonn aufgetragen hatte und sorgten
entscheidend dafür, dass der Antrag des NOK der DDR abgelehnt wurde. Sie
nutzten dafür die Klausel, wonach jedes Land nur mit einem NOK und somit
auch nur einer Mannschaft vertreten sein dürfe. Dass es sich bei der BRD
und der DDR um zwei voneinander unabhängige Länder handelte, wurde bekanntlich
später sogar von der UNO anerkannt! Da die Mehrheit der IOCMitglieder
sich jedoch 1952 von der „Ein-Land-These“ überzeugen ließen,
konnte die DDR nicht an den Spielen in Oslo und Helsinki teilnehmen. Allerdings
hatte das bundesdeutsche NOK allen profilierten DDR-Athleten versprochen,
in der bundesdeutschen Mannschaft starten zu dürfen, wenn sie
die DDR verlassen würden.
Die DDR stellte auf den IOC-Tagungen 1953 und 1954 neue Aufnahme-
Anträge für die sich aber jedesmal Ablehnungs-Mehrheiten fanden. Dass sich
die Bundesrepublik 1955 – das IOC tagte in Paris – mit einer völlig neuen Situation
konfrontiert sah, war sowohl den beachtlichen Leistungen der DDRAthleten
als auch klugen Schritten der DDR-Funktionäre zuzuschreiben.
Nur ein Beispiel: Als die DDR-Mannschaft von den Weltfestspielen 1953 in
Bukarest zurückkehrte, nahm sie an einem Sportfest in Budapest teil, zu dem
sich auch IOC-Präsident Brundage als Gast angesagt hatte. Die zu den besten
Mittelstrecklerinnen jener Zeit gehörende Hallenserin Ulla Donath war
dort für den 800-m-Lauf gemeldet. Als man erfahren hatte, dass Brundage zu
erwarten sei, baten die DDR-Funktionäre die gastgebenden Ungarn eine
Programm-Änderung vorzunehmen. Der 800-m-Lauf wurde durch einen 880-
Yards-Lauf (804,672 m) ersetzt, eine Distanz, die in England und den USA
damals noch oft bestritten, bei Olympischen Spielen oder großen internationalen
Treffen kaum mehr ausgetragen wurde. Demzufolge wurde auch der
880-Yards-Weltrekord nur selten angegriffen. In Budapest absolvierte Ulla
Donath die Distanz in brillanten 2:12,16 min. und verbesserte damit den bis
dahin von einer Britin gehaltenen Weltrekord um fast zwei Sekunden. (Die
800-m-Marke hatte sie nach 2:11,8 min. passiert und damit „im Vorbeigehen“
auch noch einen neuen DDR-Rekord über diese Strecke aufgestellt!) Brundage
war davon angetan, Zeuge eines Weltrekords gewesen zu sein und antwortete
auf die Frage eines Journalisten, wie lange die DDR wohl noch von
Olympischen Spielen ausgeschlossen werden würde, entschlossen: „Das klären
wir!“
Zwischendurch fanden Verhandlungen zwischen beiden Olympischen Komitees
statt und wie die bundesdeutsche Seite sie führte, verrät ein Dokument,
das in einem bundesdeutschen Buch (Kühnst, „Der missbrauchte
Sport“, Köln 1982) abgedruckt wurde: Es handelt sich um einen Brief Ritter
von Halt an Adenauer: „Auch diese Besprechungen leitete ich so, daß sie ergebnislos
verlaufen mußten. Die Beratungen selber waren außerordentlich
schwierig, weil die Vertreter der Ostzone sich zu jedem Entgegenkommen
bereit erklärten.“
Schon bald aber hatte der listige Brundage eine Lösung gefunden, die den
BRD-Regierenden wenig Möglichkeiten ließ, ihre Politik ins Feld zu führen,
28
der DDR aber die ersehnte Chance bot, bei den Olympischen Spielen zu
starten. Die nächste Tagung des IOC fand 1955 in Paris statt und dort schlug
Brundage dem IOC vor, beide deutsche Länder künftig in einer Mannschaft
starten zu lassen, was den ständig beschworenen Alleinvertretungsanspruch
nicht tangierte, der DDR aber das Recht der Teilnahme an den Spielen einräumte.
Das Komitee stimmte dem Vorschlag mit überwältigender Mehrheit
zu – nur das einzige anwesende bundesdeutsche IOC-Mitglied votierte dagegen!
Gleich nach dieser Entscheidung sah sich Brundage allerdings mit einer
Serie von bundesdeutschen Interventionen konfrontiert, die mühelos die politische
Absicht Bonns erkennen ließ, den Start der DDR doch noch zu vereiteln.
Auch hierfür eins von vielen Beispielen: Coubertin, der Begründer der modernen
Olympischen Spiele, hatte in seinem „Reglement“ für den „Bürovorsteher“,
der für jede Mannschaft vor, während und nach Ende der Spiele den
Kontakt mit den Organisatoren zu pflegen hatte, bereits achtzig Jahre vorher,
den Titel „chef de mission“ gewählt, was durchaus dem französischen Vokabular
entsprach. Das hatte die Bundesregierung bewogen die Forderung erheben
zu lassen, diesen „chef“ habe in jedem Fall die BRD zu stellen. Es
entbrannte ein langwieriger Streit, in dessen Verlauf die DDR als Kompromiss-
Lösung vorgeschlagen hatte, für die bei Sommerspielen größere Mannschaft
einen bundesdeutschen „chef“ zu nominieren und für die kleinere Wintermannschaft
einen aus der DDR. Die BRD-Sportführung aber bestand darauf,
in beiden Mannschaften den „chef“ zu benennen! In keinem Fall sollte
die DDR diesen „chef“ – unter anderem hatte der morgens die Autobusse für
die Mannschaften zeitkorrekt anzufordern! – stellen. Daume flog im Auftrage
Bonns mehr als einmal zu Brundage nach Chikago, um diese Entscheidung
durchzusetzen, was ihm nicht gelang. Brundage – klug genug, um zu begreifen,
dass er ein politisches Verdikt erlassen sollte – fand schließlich eine
„sportliche“ Lösung: Der Teil der Mannschaft nominiert den „chef“, der nach
den Ausscheidungen die Mehrzahl der Athleten stellt. In Melbourne 1956 war
das Verhältnis 138:32 zugunsten der BRD gewesen und Daume machte kein
Hehl daraus, dass er damit dieses Problem für die nächsten Jahrzehnte gelöst
sah und kehrte auch mit derlei Kommentaren aus Chikago zurück. Die
Kehrseite hatte er übersehen: Durch diese Entscheidung erlangten die bisher
rein sportlichen Ausscheidungswettkämpfe über Nacht einen völlig neuen
Charakter. Von nun an war jeder Platz in der Mannschaft ein Schritt auf dem
Weg zum „chef“!
Ungeachtet aller Verhandlungen der beiden deutschen NOK hatte Daume
– im Auftrage Bonns – ständig Schritte unternommen, die „Teil-Anerkennung“
der DDR wieder aufzuheben. So hatte er zwischen den Spielen von Melbourne
1956 und Rom 1960 den DSB-Bundestag einen Beschluss fassen
lassen, der alle internationalen Weltsportverbände aufforderte, wegen des
„Terrors und der Unterdrückung in der Zone ihre Haltung gegenüber der Zone
zu überprüfen“. Dieser Antrag hatte in Hamburg einstimmige Billigung und
29
Beifall gefunden, war zwar von keinem Weltsportverband auch nur zur
Kenntnis genommen worden, demonstrierte aber unzweideutig, wie der (bundes)
Deutsche Sportbund sogar die Bonner Politik-Vokabeln benutzte.
In Rom 1960 kommandierte das Bonner Auswärtige Amt den seit 1952 in
seinen Diensten stehenden Diplomaten Werner Klingeberg – 1936 Leiter der
Sportabteilung im Organisationskomitee der Olympischen Spiele in Berlin –
ins Olympische Dorf und räumte ihm dort ein Büro beim bundesdeutschen
„chef de mission“ ein, womit geklärt war, wer der „chef“ der Zukunft sein sollte.
Dass er am nächsten Tag ohne Aufsehen wieder verschwand, war allein
der Tatsache zuzuschreiben, dass die italienische Massenillustrierte „Via
Nuove“ sein Vorleben enthüllt und auch mitgeteilt hatte: „Insbesondere hat
Klingeberg die Aufgabe, sich mit Sportlern der DDR in Verbindung zu setzen
und sie zur Republikflucht zu überreden.“ (zitiert in „Neues Deutschland“,
20.8.1960).
Ein einziges Mal kam Bonn nicht umhin, eine in Rom arrangierte DDRTrauerfeier
zu respektieren. Als Staatspräsident Wilhelm Pieck verstarb, galt
es, das Programm der deutsch-deutschen Mannschaft zu ändern: Der für den
Sonnabend geplante internationale Abschiedsempfang der Mannschaft
musste um 24 Stunden verschoben werden, weil die Trauerfeier der DDRMannschaft
zeitgleich mit der in Berlin stattfinden sollte. Die BRD-Offiziellen
akzeptierten diese Verschiebung und auch die Tatsache, dass alle DDRAthleten
einen Trauerflor trugen, wodurch auf gramvolle aber auffällige Weise
das erste Mal sichtbar wurde, dass es sich um zwei deutsche Mannschaften
handelte. Was im bundesdeutschen Lager allerdings missfiel. Der Gewichtheber-
Olympiasieger von 1932 und Zweiter von 1936, Rudolf Ismayr aus
München und dort im bayerischen Staatsdienst tätig, bat darum, das Wort ergreifen
zu dürfen und wandte sich mit den Worten an die Trauerfeier: „Im
Namen vieler Sportler der Bundesrepublik möchte ich euch zum Tode eures
Staatspräsidenten unser tiefempfundenes Beileid übermitteln.“
Am 13. August 1961 schloss die DDR ihre Grenzen. Tage und Nächte hatte
man in Bonn nach einer schroffen „Antwort“ gesucht und keine gefunden.
Den Handelsverkehr abzubrechen erwies sich als unmöglich, weil das auch
die bundesdeutsche Wirtschaft lahmgelegt hätte, den Verkehr abzubrechen,
hätte Europa lahmgelegt, wäre also auch keine Lösung gewesen. In dieser
Situation der Ratlosigkeit kam man auf die Idee, den Sport als „Waffe“ zu benutzen
und untersagte jeden deutsch-deutschen Sportverkehr. Selbst der
IOC-Präsident Brundage hielt diesen Schritt für Anlass genug, am 28. August
einen Brief an das NOK der DDR zu schreiben: „Seien Sie versichert, dass
die Lage wie immer in Übereinstimmung mit den olympischen Grundsätzen
behandelt werden wird.“ Solche Reaktion ist ohne Beispiel in der olympischen
Geschichte.
Der Geschäftsführende DSB-Vorstand und das NOK-Präsidium hatten sie
mit ihrem gemeinsamen Beschluss ausgelöst, in dem zu lesen war: „Dieses
Vorgehen widerspricht den Prinzipien der Menschlichkeit und verletzt auch alle
sportlichen Grundsätze. Damit hat die SBZ den gesamtdeutschen Sport30
verkehr unterbunden. Sie trägt dafür die alleinige Verantwortung. (…) können
die Sportverbände der Bundesrepublik auch an internationalen Sportveranstaltungen
innerhalb der SBZ nicht teilnehmen. Verhandlungen über gesamtdeutsche
Fragen haben unter diesen Umständen keinen Sinn, sie werden ab
sofort eingestellt.“ Weiter Daume: „Für das Regime der Zone war der gesamtdeutsche
Sportverkehr schwerpunktmäßig immer nur ein Mittel zur
Durchsetzung politischer Ziele. In den ersten Jahren sah das Regime im gesamtdeutschen
Sportverkehr ein Mittel, die Bundesrepublik politisch zu unterwandern.“
Daume hatte sich zuvor bereits selbst widerlegt, denn dieser Abbruch war
am 16. August 1961 verkündet worden, aber schon am 12. März 1961, hatte
er selbst in Genf der BRD-Eishockey-Nationalmannschaft untersagt, die Kabine
zu verlassen, um zum fälligen Weltmeisterschaftsspiel gegen die DDR
anzutreten. Der „Spiegel“ (13/1961): „schüttelte Willi Daume in Genf einen
neuen Vorschlag aus dem Ärmel, um im Falle einer Niederlage Westdeutschland
außer einer sportlichen nicht auch noch eine nationale Schmach zu bescheren:
Siegerehrung ohne Fahnen und Hymnen, dafür mit Sportlergruß
und Handschlag. Indes, die Veranstalter der Weltmeisterschaft zeigten wenig
Verständnis für solche deutschen Nöte und Clownerien. Sie verlangten kategorisch,
die Bundes-Schlenzer sollten entweder die in den Turnierbestimmungen
vorgeschriebene Siegerehrung respektieren oder ihren ostdeutschen
Brüdern die Siegespunkte kampflos überlassen.
Die westdeutsche Mannschaft, entschied sich – von Sportpräsident Daume
kommandiert – daraufhin in letzter Minute zum Verzicht. Vergebens warteten
ihre ostdeutschen Gegner mit gezückten Schlägern auf das bundesrepublikanische
Team. Was unter allen Umständen vermieden werden sollte, war
eingetreten: DDR und Spalterflagge vertraten Deutschland allein.“
Wie die Welt das sah? „Das Ganze ist eine Schande“, polterte der kanadische
Vizepräsident des Internationalen Eishockey-Verbandes, Robert Le Bel,
„Kriminell!“ übertrumpfte ihn Kanadas Verbandschef Jack Roxborough. Und
der Engländer John Ahearne, Präsident des Internationalen Eishockey-
Verbandes, zeigte sich von dem westdeutschen Verzicht „angeekelt“.
Nach dem 16. August 1961 begannen die für die bundesdeutschen Aktiven
rauen Folgen. Die 1962 nach Leipzig vergebenen Schwimm-Europameisterschaften
fanden ohne die bundesdeutschen Spitzenschwimmer statt, die sich
Tribünenkarten im Stadion kauften und erlebten, wie andere die ihnen fast sicheren
Medaillen holten! Im gleichen Jahr fanden in Belgrad die Europameisterschaften
der Leichtathleten statt. Um die in dieser Sportart noch deutschdeutsche
Mannschaft zu ermitteln, überredete der Präsident des bundesdeutschen
Verbandes, Dr. Danz, den Vorstand des europäischen Verbandes
die Ausscheidungen in Prag (Tschechoslowakei) und Malmö (Schweden)
austragen zu lassen. Es fällt schwer, sich heute vorzustellen, dass die ins
Belgrader Stadion – Schauplatz der Europameisterschaften – einziehende
deutsche Mannschaft in der Tschechoslowakei und in Schweden ermittelt
worden war. Der Präsident des Leichtathtletik-Weltverbandes IAAF, Marqu31
ess of Exeter (Großbritannien), war dann auch nicht bereit, noch einmal Bonner
Weisungen zu folgen. Er flog nach Belgrad und lud am 14. September
1962 die Leitung des DDR-Verbandes zu einem Gespräch, in dessen Verlauf
er sich detailliert informieren ließ, wie es zu dem Abbruchbeschluss des bundesdeutschen
Sportbundes gekommen war. 48 Stunden später lud er beide
deutsche Mannschaftsleitungen zu einer Konferenz und gab gegenüber Danz
zu verstehen, dass der Weltverband den bundesdeutschen Verband von internationalen
Titelkämpfen ausschließen würde, sollten solche Forderungen
noch einmal erhoben werden. Als Danz glaubte, auch noch laut werden zu
dürfen, zwang ihn der Marquess, eine Erklärung abzugeben, dass er noch
vor dem in den Tagen darauf stattfindenden Kongress des IAAFWeltverbandes
garantieren würde, bis zum 1. Juli 1963 Verhandlungen mit
dem DDR-Verband über alle künftigen Ausscheidungen auf deutschem Boden
aufzunehmen. Damit hatte er – zumindest für die Leichtathletik – den
Abbruchbeschluss faktisch aufgehoben. Nach seiner Rückkehr informierte er
Willi Daume und dem dürfte spätestens an diesem Tag klar geworden sein,
dass der Abbruch nicht länger aufrechtzuerhalten war. Seine Versuche, die
Bundesregierung davon zu überzeugen, dass man einen Rückzug ins Auge
fassen müsste, scheiterten. Niemand war in Bonn bereit, den Beschluss aufzuheben,
zumal niemand wusste, wie er diesen Schritt begründen sollte.
Daume hatte längst begriffen, dass selbst das IOC nicht mehr bereit war,
die von Daume pausenlos erhobenen Forderungen auch nur zu erörtern. Er
schien alles auf eine Karte setzen zu wollen, und schrieb am 20. Oktober
1962 einen Brief an das IOC, in dem er neun Punkte zu „unabdingbaren
Forderungen” für die Bildung der gemeinsamen Olympia-Mannschaft erhob,
Forderungen, die er noch nie erhoben hatte. Es handelte sich faktisch um ein
Ultimatum, das Verhandlungen zwischen beiden deutschen Komitees ebenso
ausschloss wie die 1956 und 1960 praktizierten Ausscheidungen. Wer sich
fragte, was er damit erreichen wollte, konnte nur zu dem Resultat gelangen,
dass er jegliche Verhandlungen zwischen beiden Komitees unmöglich
machen wollte.
Man könnte allerdings auch zu dem Schluss gelangen, dass er seine
aussichtslose Situation erkannt hatte und klug genug war, zu begreifen, dass
nur zwei Mannschaften als Ausweg blieben. Da ihm Bonn das aber strikt
untersagt hatte, spekulierte er darauf, jemanden aus dem IOC dazu
überreden zu können und sich dann in Bonn darauf zu berufen, dass es sich
um eine Entscheidung des IOC handelte. Zunächst aber war da der Brief vom
20. Oktober und die neun “Forderungen”, die er von sich aus als
“unabdingbar” erklärt hatte.
Die gemeinsame Mannschaft sollte nach seinen „Punkten” unter das
„Patronat des IOC” gestellt und von einem von ihm nicht näher bestimmten
Mannschaftsführer geleitet werden. Damit sollte die bis dahin vom IOC
ausdrücklich dekretierte Gleichberechtigung beider Komitees aufgehoben
werden, denn bis 1960 hatten bekanntlich die beiden NOK-Präsidenten die
Mannschaften zu den Spielen geführt. Eine weitere Forderung war, alle
32
Ausscheidungen in Ost- und Westberlin auszutragen. Da die beiden Hälften
Berlins nach Daumes Ansicht außerhalb der Viermächte-Vereinbarung für
Deutschland einer besonderen Viermächte-Vereinbarung unterstand, hätten
diese Ausscheidungen demzufolge „außerhalb” der BRD und der DDR
stattgefunden und den Abbruchbeschluss nicht verletzt. Ich weiß aus sicherer
Quelle, dass Daume Scharen von teuren Rechtsanwälten engagiert hatte, die
ihm diese Variante empfahlen. Inzwischen hatte der IOC-Kanzler Mayer dem
Präsidenten des NOK der DDR, Heinz Schöbel, bereits mitgeteilt, dass er von
sich aus drei der neun Punkte gestrichen habe.
Ein weiterer Versuch, Brundage zu Hilfe zu rufen, scheiterte. Der IOCPräsident
war nicht bereit, wegen eines Treffens der beiden NOK`s nach Europa
zu reisen, benannte aber „Deutschland“-Experten, die er nach Lausanne
bat, damit sie dort mit den beiden Delegationen die Situation beraten sollten.
Damit nähern wir uns dem Datum, mit dem dieser Beitrag begann, also
dem 8. Dezember 1962. Das Trio, das Brundage nominiert hatte, bestand
aus den beiden Schweizer IOC-Mitgliedern, Kanzler Otto Mayer, dessen Bruder
Albert, Oberbürgermeister von Montreux, und dem Ägypter Taher Pascher,
der nicht unter Zeitnot litt, seitdem er nach dem Sturz des ägyptischen
Königs Faruk (23. Juli 1952), zu dessen engstem Umfeld er gehört hatte,
meist ziellos durch Europa reiste.
Nach den gescheiterten neun Punkten – im Oktober war niemand bereit
gewesen, sie auch nur zu erörtern – und auch der in Belgrad geäußerten
Drohung Exeters musste Daume damit rechnen, dass Brundage dessen Position
folgen könnte. In seiner Not schmiedete er einen Plan, der mehr als
abenteuerlich war: Er wollte eines der drei IOC-Mitglieder vor Beginn der Zusammenkunft
überreden, für Tokio zwei deutsche Olympiamannschaften vorzuschlagen
und sich dann in Bonn darauf berufen, dass er gegen diesen Beschluss
des IOC kaum etwas ausrichten könnte.
Da er sich mit den beiden Schweizer Brüdern durch einen großmäuligen
Auftritt überworfen hatte – die Details zu beschreiben, würde zu sehr in die
Länge führen, doch soll erwähnt werden, dass es sich um Albert Mayers Abwesenheit
bei Diems Beisetzung handelte – blieb nur der Ägypter. Der – zu
jener Zeit ohne festen Wohnsitz – war für ihn nicht erreichbar gewesen. Also
entschloss er sich, ihn auf dem Bahnsteig in Lausanne abzufangen. Als Taher
Pascher ausstieg, stand Daume vor ihm und lud ihn zu einem Kaffee ein.
Der durch die Ereignisse in seiner Heimat und den Verlust seiner Position in
Kairo ohnehin enervierte Ägypter hörte sich Daumes Vorschlag konsterniert
an und beschloss, keinen Schritt in seinem Sinne zu unternehmen.
Taher Pascher kam eine knappe halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit
und Daume noch eine weitere halbe Stunde später. Daume berief sich darauf,
dass der Taxifahrer den Weg zum Haus des IOC nicht gefunden hätte,
was so ungefähr die einfältigste Ausrede war, die er finden konnte.
Der Vormittag verging mit belanglosen Reden.
Beim Mittagessen – die IOC-Mitglieder hatten Gründe gesehen, die Gäste
nicht einzuladen, um die Situation unter sechs Augen zu erörtern – erzählte
33
der Ägypter den beiden fassungslosen Schweizern, warum er tatsächlich zu
spät gekommen war. Albert Mayer sah die einmalige Gelegenheit, sich als
derjenige feiern zu lassen, der endlich die leidige „deutsche Frage“ gelöst,
rechnete mit lobenden Worten Brundages und eröffnete die Nachmittagssitzung
mit dem Vorschlag, künftig zwei deutsche Mannschaften starten zu lassen.
Die DDR-Delegation hielt den Vorschlag nach den bisherigen Erfahrungen
in allen Konferenzen mit der BRD-Delegation für abwegig und glaubte,
hier trifft diese Redensart „im falschen Film zu sein“, als Daume den Vorschlag
begrüßte. Albert Mayer rief umgehend nach Frau Zangghi, die das
Protokoll aufsetzte und vervielfältigte. Die Schar der Journalisten wuchs von
Minute zu Minute und die Botschaft, dass künftig zwei deutsche Mannschaften
bei Olympia starten würden, flog um die Welt: „Für die Olympischen Spiele
des Jahres 1964 in Tokio und Innsbruck werden Deutschland-West und
Deutschland-Ost eigene Mannschaften an den Start bringen. ... Dieser Beschluss
ist die logische Folgerung von Schwierigkeiten, die sich gegenwärtig
für die Bildung einer total vereinigten deutschen Mannschaft ergeben würden.
Er dient am besten dem olympischen Geist.“
In der sogleich einberufenen Pressekonferenz, fragten die Journalisten als
erstes: „Was hat Willi Daume dazu gesagt?"
„Zugestimmt, sofort und ohne Vorbehalt“, versicherte Kanzler Otto Mayer.
„Aber er hatte doch Forderungen aufgestellt. Es sollten zum Beispiel nur
gemischte Mannschaften gebildet werden?“
„Davon war heute nie die Rede!“
Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (10. Dezember 1962) meldete aus
Lausanne „`Wir haben uns geeinigt. Das Gespräch verlief überraschend glatt,
und wahrscheinlich brauchen wir nicht mehr zusammenzukommen´, hatte
Willi Daume nach der Sitzung hinter verschlossenen Türen gesagt. Daume
meinte weiter, dass die Bildung getrennter Mannschaften angesichts der innerdeutschen
Schwierigkeiten die einzige Möglichkeit gewesen sei. `Auf diesem
Weg tun wir dem olympischen Geist einen besseren Dienst´, sagte der
NOK-Präsident. Im Grunde sei diese Lösung kaum etwas anderes, als die
Legalisierung eines bestehenden Zustandes. Daume erklärte in Lausanne vor
Pressevertretern: `Das ist die beste Lösung. Auf diese Weise kann die Olympiade
durch keinerlei politische Ereignisse mehr gestört werden. Die Sportwelt
hat überdies offensichtlich langsam genug von dem ostwestdeutschen
Sportstreit. Stellen Sie sich vor, wir hätten uns wirklich hier auf eine gesamtdeutsche
Vertretung einigen können. Dann kommt es vielleicht morgen
oder übermorgen zu einem separaten Friedensvertrag, und was machen wir
dann mit unserer gesamtdeutschen Equipe?´ Daume meinte, es wäre überdies
eine den Athleten kaum zumutbare Belastung gewesen, vor den Spielen
für die Ausscheidungen quasi eine Vorolympiade durchmachen zu müssen.
Für Tokio kommen nur Leute in Spitzenform in Betracht. Diese Formspitze
müsste bereits für die Ausscheidungen erreicht und dann noch bis Tokio
durchgehalten werden Eine derart nervliche und körperliche Belastung wäre
einfach zu groß.“
34
Noch einmal: Das hatte der gleiche Willi Daume allen Ernstes am 8. Dezember
1962 in Lausanne erklärt. Der gleiche Willi Daume, der 50 Tage zuvor,
dem IOC seine „unabdingbaren Forderungen“ zugesandt hatte und der in
zahllosen Erklärungen und Reden jede Vereinbarung mit der DDR abgelehnt
hatte.
35 Tage später zitierte ihn das „Spandauer Volksblatt“ (15.1.1963) mit einer
Erklärung, die selbst den Wohlwollendsten die Frage stellen ließ „Wieder
mal im falschen Film?“ Man las: „Lausanner Vorschläge waren von vornherein
unannehmbar. Der IOC-Präsident hat dem NOK der Bundesrepublik die
Entscheidung überlassen, ob es getrennte Mannschaften mit jeweils eigenen
protokollarischen Mannschaften haben will, was zur Folge hätte, daß die
Sowjetzone als vollwertiges Mitglied anerkannt würde. Diese Möglichkeit ist
für uns selbstverständlich undiskutierbar.´“
Zwischen den beiden Äußerungen lagen 35 Tage, ein Weihnachtsfest und
der Jahreswechsel. Und auch die Erklärung eines Bundesministers, nämlich
Lemmer: „Nach den überaus ermutigenden Erfahrungen mit einer gesamtdeutschen
Mannschaft bei den letzten Olympischen Spielen kann man überhaupt
kein Verständnis dafür aufbringen, wenn das Internationale Olympische
Komitee, daß sich in den vergangenen Jahren immer sehr konstant verhalten
hat, jetzt glaubt an eine politische Fiktion Konzessionen machen zu müssen.“
Der in Hamburg erscheinende „Sport“ (21.1.1963) schrieb: „Was sich hinter
den Kulissen abgespielt hat, um die verblüffende Wandlung der Standpunkte
in dem Zeitraum zwischen der Lausanner Zusammenkunft des IOC-Kanzlers
Otto Mayer und Mohamed Taher Pascha, des Europabeauftragten von IOCPräsidenten
Brundage, mit den beiden deutschen NOK zu bewirken, wir wissen
es nicht. Es lässt sich nur ahnen. (…) Der IOC-Kanzler hat von `überraschender
Schwenkung´ Willi Daumes in dieser Frage gesprochen. Darin
steckt ein Vorwurf, den Daume nicht mit dem Hinweis entkräften kann, er sei
bei der Lausanner Begegnung mit dem NOK Ost zum Pokerspiel genötigt
worden. Es ist nicht gut, im Sport mit verdeckten Karten zu spielen! Was dabei
herauskommen kann, ist Misstrauen und Uneinigkeit im eigenen westlichen
Lager. Die internationale Sport-Korrespondenz Stuttgart hat mit IOCKanzler
Otto Mayer gesprochen und Erstaunliches in Erfahrung gebracht.
Sagte Mayer: ,Ich bin mehr als überrascht, dass sich Herr Daume so geändert
hat. Er war damals mit dem Kompromissvorschlag ganz einverstanden
und machte nur zur Bedingung, dass sich sein NOK am 12. Januar in Frankfurt
anschließt. Ja, der Vorschlag geht sogar auf Herrn Daume selbst zurück
(...) Ich weiß nicht, ob auf den westdeutschen NOK-Präsidenten von irgendeiner
Seite ein Druck ausgeübt wurde“.
Der Reporter der „Frankfurter Rundschau“ berichtete von der Pressekonferenz,
die Daume eiskalt nach seiner Januar-Kehrtwendung gegeben hatte:
„`Das Ganze ist doch nur ein Pokerspiel, meine Herren!´ Mit diesem Ausruf
schüttelte der erste Sportler der Bundesrepublik, Willi Daume, die schwierige
Frage eines Journalisten von sich ab.“
35
Nach einer nichtöffentlichen Vollversammlung des NOK verlas Präsident
Daume zum Beginn einer zweieinhalbstündigen Pressekonferenz eine Elf-
Punkte-Erklärung. Die entscheidende Stelle war der neunte Punkt: „Der Präsident
des IOC, Avery Brundage, und das deutsche IOC-Mitglied, Willi Daume,
trafen sich am 7.1.1963 in Chicago, um die Frage der deutschen Olympia-
Mannschaft für 1964 eingehend zu überprüfen. Dabei ergab sich, daß der
Lausanner Vorschlag nicht in Übereinstimmung mit den Regeln und gültigen
Beschlüssen des IOC gebracht werden kann. Der IOC-Präsident stellte vielmehr
fest, daß das IOC auf der Bildung einer gemeinsamen deutschen
Mannschaft auch für 1964 bestehen würde, und entschied, daß diese Mannschaft
nach Maßgabe des Briefes zu bilden sei, den das IOC unter dem 22.
Oktober 1962 an die beiden deutschen NOK gerichtet hat.“
Dass die Reise nach Chikago die Folge eines Eingriffs der Bonner
Regierung war, lässt sich leicht nachweisen. Der Bonner Regierungssprecher
von Hase hatte öffentlich angekündigt: „Das Bundeskabinett werde sich mit
dem Vorschlag vom 8. Dezember beschäftigen.”
Nach der Kehrtwende Daumes war faktisch aber auch der so spektakulär
verkündete und oft genug für die „Ewigkeit” beschworene Abbruchbeschluss
vom 16. August 1961 annulliert. Wortlos! Man würde wieder nach den vor
dem 16. August 1961 vereinbarten Schritten eine gemeinsame Olympiamannschaft
formieren und die dafür nötigen Ausscheidungen würden an den
Orten in der DDR und in der BRD ausgetragen, die die Sportverbände
miteinander vereinbart hatten.
Diese Ausscheidungen wurden 1964 ausgetragen und endeten zum ersten
Mal mit einer Mehrheit von DDR-Athleten in der deutsch-deutschen
Mannschaft. Die Folge: An der Spitze dieser Mannschaft zog Manfred Ewald
als “chef de mission” ins Stadion. Dass er seit langem Mitglied des
Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei war, löste in Bonn
verständlicherweise Tobsuchtsanfälle aus!
1965 tagte das IOC in Madrid und wieder lag dem Komitee ein Antrag der
DDR vor. In einer umfassenden diplomatischen Aktion hatte die
Bundesregierung alle Botschafter in den Ländern, deren IOC-Mitglieder
möglicherweise für die Ablehnung des Antrags votieren würden, aufgefordert,
die IOC-Mitglieder zu Gesprächen in die Botschaften einzuladen und sie zu
überzeugen, dass sie im Sinne der BRD stimmen. Um jeden Preis sollten
Briefe vermieden werden. Bis auf eine Ausnahme kamen alle Eingeladenen
dem Anliegen nach. Der BRD-Botschafter in der Schweiz hatte Albert Mayer
mehr als einmal eingeladen, aber Mayer hatte nicht reagiert. Wie er mir in
einem persönlichen Gespräch zu verstehen gab, hatte das auch persönliche
Gründe. Die Familie seiner griechischen Frau war von der Nazi-Wehrmacht
ermordet worden.
Schließlich ignorierte der Botschafter die Weisung aus Bonn und schrieb
Mayer einen Brief mit den Bonner „Empfehlungen”. Als Mayer nach Madrid
kam, winkte er mich zur Seite und gab mir als erstem diesen Brief zu lesen.
Tags darauf meldete er sich als erster zu Wort, ließ die übrigen IOC36
Mitglieder wissen, dass er über ihre Einladungen in die Botschaften im Bilde
sei und las dann den Brief mit den Bonner „Empfehlungen” vor. Präsident
Brundage unterbrach anschließend die Sitzung, bat Daume zu einem
Gespräch und teilte ihm mit, dass die DDR damit so gut wie anerkannt sei.
Am Abend, Daume hatte inzwischen ein Völkerrechtsgutachten verteilen
lassen, das eine gemeinsame Mannschaft zur völkerrechtlichen Pflicht
erklärte und den früheren DDR-Radsportpräsidenten als Zeugen für die
Verletzung des Amateurparagraphen in der DDR auftreten lassen wollen,
beantragte der König von Griechenland die Anerkennung der DDR, die fast
einmütig erfolgte.
In Grenoble und Mexiko startete die DDR zum ersten Mal mit eigenen
Olympiamannschaften – 15 Jahre nach Ulla Donaths Budapester Rekordlauf!
Dr. Heinz Schöbel betonte, dass durch diese auch von Willi Daume
akzeptierte Regelung wenigstens auf olympischem Gebiet und was die
Verhandlungen zwischen den Verbänden betrifft jene Situation
wiederhergestellt wurde, die vor dem 16. August 1961 bestand. Das
Olympische Komitee der DDR habe stets die Weisungen und Regeln des
IOC befolgt, habe immer gefordert, die guten Beispiele vergangener
Olympischer Spiele zu nutzen und sehe sich mit dem Ergebnis der Beratung
vom 6. Februar in seinem jahrelangen Bemühen um diese von olympischer
Gleichberechtigung getragenen Prinzipien erfolgreich. Die Mitglieder des
Präsidiums des NOK sprachen der Verhandlungsdelegation ihr vollstes Vertrauen
aus und unterstrichen ebenfalls, dass es richtig war, die olympische
Idee und ihre Regeln mit Nachdruck und Eifer zu vertreten. Das IOC habe
diese Bemühungen des NOK der DDR zweifellos, bei seiner Entscheidung
nicht übersehen.
37
DEUTSCHE UND OLYMPIA
I. WIE DEUTSCHLAND 1896 DIE TEILNAHME
AN OLYMPIA ABSAGTE
Von FERDINAND GOETZ
Wie viele andere Länder war auch Deutschland 1896 dazu eingeladen
worden, die antiken Olympischen Spiele in moderner Form wiederaufleben
zu lassen. Zu dem vom Initiator dieses Vorhabens, dem französischen
Baron de Coubertin bereits 1894 mit dieser Absicht einberufenen
Kongress waren auch deutsche Sportfunktionäre eingeladen worden,
doch verhinderte der Militärattaché der deutschen Botschaft, dass die
Einladungen sie erreichten. Allerdings zeigte die Deutsche Turnerschaft
auch kaum Interesse, an Olympischen Spielen teilzunehmen, die ein
Franzose vorgeschlagen hatte. Nachfolgend die Antwort des Präsidenten
dieser maßgebenden deutschen Sportorganisation Dr. F. Goetz.
Die Deutsche Turnerschaft hat es entschieden abgelehnt, sich an den im
Jahre 1896 in Olympia geplanten Spielen zu beteiligen. Der Zentralverein zur
Förderung der Jugendspiele hat unumwunden erklärt, daß eine Beteiligung
Deutschlands an dieser Veranstaltung unsrer nationalen Selbstachtung nicht
entsprechen würde. Die deutschen Sportkreise stehen den Olympia-Spielen
von 1896 fast durchweg ablehnend gegenüber. Weder die Ruderer noch die
Radfahrer, noch der Fahr- und Rennsport wollen mit der Sache etwas zu tun
haben.
Trotzdem wird in den Berliner Zeitungen versichert, daß die „Beteiligung
Deutschlands“ an den Olympia-Spielen gesichert sei. Das Wahre an dieser
Sache ist, daß der griechische Gesandte Rangabe es verstanden hat, den
Vorsitzenden der im Sommer dieses Jahres im alten Reichstagsgebäude
stattgehabten und mindestens äußerlich ohne jeden Erfolg abgeschlossenen
Ausstellung für Sport, Spiel und Turnen für eine deutsche Agitation zugunsten
des Olympia-Spieles zu interessieren, und daß der Erbprinz zu Hohenlohe-
Schillingsfürst den Vorsitz in dem Agitationsausschuß übernommen hat,
über dessen nationale Stellung er offenbar nicht genügend unterrichtet gewesen
ist. Demgegenüber erscheint es doch nötig, dieser Sache einige Aufmerksamkeit
zu schenken. Vorweg möchten wir bemerken, daß in den bekanntesten
Fachkreisen die Angelegenheit mit gewissenhafter Sorgfalt geprüft
ist [...]. An sich war die Anregung schon ein Unsinn, und zwar ein doppelter.
Olympia war der Glanzpunkt nationaler althellenischer Herrlichkeit –
1896 soll es eine „internationale“ Veranstaltung geben.
Olympia war die Betätigung einer auf harmonische Allgemeinbildung hinzielenden
Leibesübung – 1896 soll gerade das in Deutschland so sehr verhaßte
einseitige Sportfexentum seine Triumphe feiern. Den Gipfelpunkt von
Olympia bildete der Fünfkampf – 1896 soll die athletische Kraftleistung, das
38
auf Spitze getriebene Spezialistentum entscheiden. Kurz, die Sache ist das
genaue Gegenteil von allem, was wir Deutschen anstreben und – beiläufig
bemerkt – als unser geistiges Erbe klassisch-griechischen Denkens und
Empfindens betrachten. Aber auch mit der internationalen Seite der Sache
hat es von Anfang an gehapert. In dem Pariser Ausschuß waren alle möglichen
Herren Länder vertreten. Argentinien, Australien, Uruguay, sogar „Böhmen“
durch einen Gymnasialprofessor aus Klatovy (Klattau?). Nur Deutschland
war nicht nur nicht eingeladen, sondern geflissentlich außer acht gelassen.
Da der Generalsekretär des „Internationalen Komitees der Olympischen
Spiele“ dies in einem geharnischten Schreiben an von Rangabe bestreitet, so
wollen wir den Beweis für unsere Behauptung nicht schuldig bleiben. Nun ist
es aber doch eine nicht wegzuleugnende Tatsache, daß Deutschland in aller
fördersamen Leibeszucht so seine eigene Stellung einnimmt, die man nicht
gut übersehen kann, ohne sich unsterblich lächerlich zu machen. Daher denn
in letzter Zeit von Griechenland aus der eingangs gekennzeichnete Sirenensang
angestimmt ist. Deutscherseits kann und darf es aus Gründen der nationalen
Selbstachtung auf diese geschmacklose Zumutung nur eine Antwort
geben: wir danken verbindlichst, wir bleiben zu Hause. – Neben diesen politischen
hat die Sache aber auch ihre großen sachlichen Bedenken. Das von
Franzosen und Südamerikanern, Griechen und sonstigen interessanten Herren
entworfene Programm beweist, daß die Welt sich in diesen Köpfen mindestens
anders als in deutschen spiegelt. Sie haben keine Ahnung von dem
durch die Deutsche Turnerschaft und Sportwelt gehenden Zuge nach geläuterter
Form der Leibesübung; ihre Kraftmeierei, wie sie in dem Athletentum
zum Ausdruck kommt, ist uns ebenso zuwider wie die Einseitigkeit in allen
anderen Sports. Vom Schießen, für das der Hauptwert auf das gerade jetzt in
der französischen Armee geübte Revolverschießen und derlei Firlefanz gelegt
ist, wollen wir schon gar nicht reden. Wir wissen, was wir in diesen Dingen
wollen, und damit gut! Wir wissen auch, daß durch die einzelnen deutschen
Sports (beiläufig bemerkt, ist das kein Fremdwort, sondern gut deutscher
Ausdruck!) der Zug nach engerem Zusammenschlusse geht. Die Verständigung
wird und muß sich auch finden, und dann wollen wir deutschnationale
Festspiele feiern! Nach Olympia gehen wir nicht.
Daß mit Ausnahme der Norweger sämtliche europäische Turnerbünde eine
Beteiligung und fast alle aus grundsätzlichem Gegensatze zu dem Athener
Festprogramm abgelehnt haben, ist in der „Deutschen Turn-Zeitung“ schon
erwähnt. Der Bericht über den Beschluß des Kongresses des französischen
Turnerbundes gegenüber den Festen in Athen liegt noch nicht vor – aber die
Leitung des Bundesorgans „Le Gymnaste“ erklärte am 5. Oktober Callot, einem
warmen Befürworter der Teilnahme in Athen, gegenüber wörtlich: „Bevor
man, selbst wenn man sie modernisieren wollte, die Feste, die einst der
Ruhm der Athener waren, wiederherzustellen (restaurer) sucht, bevor man
denkt, das von der hellenischen Jugend verlassene Stadium wieder zu beleben,
haben wir uns vor allem mit unserem Bundesfest zu beschäftigen, dessen
Ruhm uns zuerst am Herzen liegt.“ So urteilen die eigenen Landsleute
39
Coubertins, nachdem in dem genannten Artikel des „Gymnaste“ schon vorher
ausgesprochen war, daß das Komitee für die Olympischen Spiele nichts erfunden
habe, indem es Schwimmen, Velocipedfahren und Kampf (escrime, d.
h. Schießen, Fechten n. d.) auf sein Programm gesetzt habe – wozu da die
Kräfte zersplittern, die der französische Turnerbund für sich brauche. Die
Krone setzt dem Ganzen der leider vom Prinzen Philip von Hohenlohe-
Schillingsfürst wohl in voller Unkenntnis der Verhältnisse unterzeichnete, von
Dr. W. Gebhardt in leichtfertiger Weise verfaßte Aufruf des „Komitees für die
Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen“ auf. Ganz abgesehen
von internationalen Phrasen, heißt es da, daß die Sportsleute der Erde
(?) das Unternehmen mit Enthusiasmus begrüßt hätten – wo und welche wird
nicht gesagt –, nur Deutschland habe sich ferngehalten, weil infolge der Unkenntnis
Coubertins mit den sportlichen Verhältnissen Deutschlands und wegen
der Unhöflichkeit einiger Deutscher angesehenen Namens, an die er sich
ohne Erfolg um Auskunft gewendet habe, es auf dem Kongreß in Paris nicht
vertreten gewesen sei, und Coubertin danach habe annehmen müssen, daß
Deutschland absichtlich nicht vertreten gewesen sei! Wie verträgt sich solche
gekünstelte, eines Deutschen unwürdige Behauptung mit den Äußerungen
Coubertins im „Gilblas“? Die Schamröte steigt uns ins Gesicht, wenn wir lesen,
wie dem Sohn des deutschen Reichskanzlers hier übel und falsch berichtet
wurde! Gebhardt stellt noch eine Denkschrift in Aussicht; sie mag nur
kommen, wenn sie im gleichen Geist der Unrichtigkeit und Schönfärberei geschrieben
ist, wird sie wenig fruchten! Zu bedauern ist das „Griechische Komitee
in Athen“, welches der Deutschen Turnerschaft sowie dem Zentral-
Ausschuß für Jugend- und Volksspiele und dem Bund für Sport, Spiel und
Turnen freundliche Einladungen schickte und diese jetzt nach der Entlarvung
Coubertins wiederholt hat; zu bemerken aber ist, daß der Belgische Turnerbund,
wie sein Präsident am 6. September im „Gymnaste“ schrieb, und ebenso
die übrigen Turnerbünde Europas, schon im Sommer (depuis quelques
mois, seit einigen Monaten) zu den Festen in Athen eingeladen worden sind
– die Deutsche Turnerschaft aber Ende November und allem Anschein nach
auf eine aus Deutschland erst ergangene Anregung – also in einer so späten
Zeit, die die Vorbereitung einer würdigen Beteiligung – Anfang April ist das
Fest – schon unmöglich machte. Wollte man also, wie das Komitee schreibt,
gerade aus Deutschland eine weitgehende Beteiligung haben, weil dort Leibesübungen
gepflegt werden, wie sonst nirgends in der Welt, so mußte man
Deutschland monatelang früher als die anderen rufen – die Versicherung,
daß Coubertin gegen die ihm in den Mund gelegten Äußerungen protestiert
habe, ist jedenfalls wahr –, aber wir können diesem Herrn so wenig wie Gebhardt
Glauben schenken, so leid uns auch dabei das „Griechische Komitee in
Athen“ tut, dem zuliebe man sich über manches hinwegsetzen könnte. Coubertin
ist nach wie vor der Generalsekretär des Unternehmens – wir haben
nicht nur die Ehre der Deutschen Turnerschaft, sondern die des ganzen Reiches
zu vertreten!
40
II. ATTACKEN GEGEN OLYMPIA 1916
Die Olympischen Sommerspiele 1916 waren vom IOC nach Berlin vergeben
worden. Nachdem das deutsche Kaiserreich den Ersten Weltkrieg vom
Zaun gebrochen hatte, war man an den Spielen nicht mehr interessiert. In der
Folge das Zitat einer Sportzeitschrift und ein Auszug aus dem Protokoll, der
1916 stattgefundenen Sitzung, die den Begriff „Olympia“ aus dem Namen des
für die Veranstaltung zuständigen Gremiums entfernte.
FORT MIT DEM „INTERNATIONALEN OLYMPIA“!
In Nr. 33 der Deutschen Turn-Zeitung gibt Herr Carl Diem – der übrigens
für sein Vaterland in Ehren mit hinausgezogen ist – bekannt, daß die Versendung
der Einladungen zu den Olympischen Spielen 1916 auf eine friedlichere
Zeit verschoben werden. Die Mitteilung schließt mit den Worten: „Andererseits
darf man wohl damit rechnen, daß der moderne Krieg nicht gar so lange
dauern wird, so daß lange vor dem Festtermin (!) der Olympischen Spiele
wieder Frieden herrscht und sich die Völker zum sportlichen Wettbewerb zusammenfinden.“
Nein Herr Diem! Friede mag und wird ja hoffentlich bis 1916
wieder herrschen. Aber daß wir die Herren Sportmänner aus England, daß
wir Belgier, Franzosen, Russen und wie alle die liebenswerten Freunde heißen,
in zwei Jahren schon wieder freundlich zum „sportlichen Wettbewerb“ in
Berlin empfangen sollen – das ist ein Gedanke, der einem höchstens die
Schamröte ins Gesicht steigen macht. Mag der Olympia-Ausschuß nun dastehen
wie der betrübte Lohgerber, dem die Felle fortgeschwommen sind:
Die Narbe ob der Niedertracht, mit der man unsere Landleute, mit der man
friedliche Männer, ja Frauen und Kinder, nur weil sie Deutsche waren, ringsum
behandelt, mißhandelt, beraubt und geschändet hat – diese Narbe wird
auch 1916 noch brennen, mag der Völkerkrieg dann auch vorüber sein. Wir
werden sie einfach in Deutschland nicht dulden diese Ausländer, geschweige
denn ehren als Sporthelden und Rekordbrecher! Das ist vorüber! Was in Lüttich,
in Brüssel, in Antwerpen, in Paris geschehen an himmelschreienden
Schandtaten, das Verhalten der Engländer gegen harmlose Deutsche in ihrem
Lande, jener Engländer, die sich sonst als die Erbpächter der Freiheit
und Menschlichkeit anpreisen – das alles kann selbst der beschränkteste
deutsche Michel in der Frist von 2 Jahren weder vergeben noch vergessen
haben. Wie auch die ehernen Würfel des Krieges für uns fallen mögen: unsere
deutsche Jugend kann in Zukunft nur an sich selbst erstarken. Nur im eigenen
Volkstum dürfen und müssen wir die Wurzeln unserer Kraft suchen.
Der Ausländerei sind wir wahrhaftig nun für lange Zeiten, hoffentlich für immer,
müde. Damit komme uns so bald keiner mehr! Wenn die schwere Blutarbeit
vorüber und es dann gilt, im Frieden weiterzuarbeiten an der körperlichen
Kräftigung der deutschen Jugend, dann wollen wir getrost anderen die
Freude an der Veranstaltung „internationaler Olympien“ überlassen. Für uns
ist dann nur eine Kampfstätte möglich auf deutschem Boden zum Wettbe41
werb in körperlichen Leistungen; das ist die des Deutschen Kampfspielbundes,
sei es zu Füßen des Völkerschlachtdenkmals, sei es im Stadion zu
Charlottenburg. Aber fort mit allem, was welsch ist! Davon haben wir nun für
Jahrzehnte genug und übergenug!
Bonn, im August 1914
Ferd. Aug. Schmidt
(Körper und Geist 23, 1914/15, S. 147)
DIE NAMENSÄNDERUNG
Vizepräsident v. Oertzen verliest folgenden Antrag des Vorstandes:
Gemäß Beschluß der Wettkampf-Ausschußsitzung vom 10. Februar 1916
ist eine Namensänderung des Deutschen Reichsausschusses für Olympische
Spiele als wünschenswert bezeichnet worden. Der Kriegsvorstand beantragt,
diesem Beschlusse Rechnung tragend, die Änderung unseres Namens in
Deutscher Reichsausschuß für Leibesübungen e. V.
Begründung:
Die Entwicklung unseres Ausschusses ging über seinen Namen hinaus.
Zuerst als lose Vereinigung zur Vorbereitung der Teilnahme Deutschlands an
den Internationalen Olympischen Spielen gegründet, wandelte er sich im Jahre
1904 in einen festen Bund unter dem jetzigen Namen. Nach Beitritt der
Deutschen Turnerschaft vereinigte er alle ausübenden Hauptverbände
Deutschlands für Leibesübungen. Mit diesem Augenblick entstand schon die
Gesamtheit der Aufgaben, die weit über die Beteiligung an den Internationalen
Olympischen Spielen hinaus reichte. Noch konnte man den Namen gelten
lassen, solange die Internationalen Spiele und als Voraussetzung für sie die
Nationalen Olympischen Spiele den Höhepunkt des sportlichen Lebens darstellten
und als solcher auch Ausdruck für das Ganze sein dürften.
Der Krieg hat, soweit wir in die Zukunft schauen können, die Fortsetzung
der alten Internationalen Olympischen Spiele auf Menschenalter hin unmöglich
gemacht. Unsere Nationalen Olympischen Spiele erhalten einen deutschen
Namen. Unsere vielen Aufgaben neben der Veranstaltung der wiederkehrenden
„Deutschen Kampfspiele“ verlangen Ausdruck in unserer Bezeichnung.
Mittelsamt für die Verwaltung des gesamten Gebietes der Leibesübungen
wollen und sollen wir sein. Daher mag der neue Name in dem Worte
„Deutscher Reichsausschuß für Leibesübungen“ (D. R. A.) dies alles zusammenfassen.
Angesichts der Notwendigkeit, die vielen gleichstrebigen, aber im Aufbau
auseinanderlaufenden Verbände und Gründungen, die vor dem Kriege und
während des Krieges entstanden sind, zu einheitlicher Arbeit zusammenzufassen,
was spätestens mit dem Wiedereintritt des Friedens geschehen muß,
ist es notwendig, schon heute unseren Namen so zu ändern, daß er das
deckt, was unsere Aufgabe ist.
Im Anschluß an die vorstehende Begründung gibt der Vorsitzende ein
Schreiben des Dr. Gebhardt, des Mitbegründers des D. R. A. zur Kenntnis,
der sich gegen eine Namensänderung ausspricht. Das Bedürfnis, nach dem
42
Kriege eine friedliche Verständigung zwischen den Völkern herbeizuführen,
würde auch wieder internationale Olympische Spiele bringen, und Deutschland
sollte durch Veranstaltung solcher Spiele die versöhnende Hand reichen.
Graf Sierstorpff gibt einige Bedenken gegen eine Namensänderung zur
Erwägung anheim. Heute hätten wir noch keine Übersicht, wie es nach dem
Kriege bei uns aussehen würde. Zweifellos habe uns der internationale Verkehr
sehr gefördert, und gerade die beiden Nationen, von denen wir manches
gelernt hätten, nämlich Schweden und Amerika, ständen uns zurzeit nicht
feindlich gegenüber. Als Vertreter Deutschlands im internationalen Olympischen
Komitee könne er mitteilen, daß dieses nie aufgehört habe zu bestehen.
Nachdem angesichts des Krieges der Franzose Baron de Coubertin sein
Amt als Vorsitzender niedergelegt habe, sei dieses auf einen Neutralen, den
Schweizer Baron Godefroy de Blonay übergegangen. Ein weiteres Bedenken
sei die Möglichkeit, daß die Förderer, die angesichts der bevorstehenden internationalen
Olympischen Spiele ihre Beiträge gezahlt und sich an den bestehenden
Namen gewöhnt hätten, bei einer Namensänderung ihre Unterstützung
zurückzögen.
Auch Dr. Jäger (Vertreter des Deutschen Ski-Verbandes) wünscht dringend,
daß sich die Versammlung dem Vorschlage des Vorstandes anschließen
möge.
Graf Sierstorpff weist, um Mißverständnissen vorzubeugen, darauf hin, daß
er sich nicht gegen eine Namensänderung ausgesprochen, sondern nur einige
entgegenstehende Bedenken zur Berücksichtigung erwähnt habe. Die
Namensänderung wird angenommen.
Die Versammlung stimmte dem zu.
(Auszug aus: Protokoll der Hauptversammlung vom 25.1.1917, Stadion-
Kalender 3.4.5, 1917-1919, S. 31-32;)
SCHANDE DURCH ZULUKAFFERN
Erst recht hätte geschichtlicher Sinn davon abhalten sollen, „internationale“
Olympien ins Leben zu rufen. Das alte Hellas bestand aus zahlreichen Stadtrepubliken,
die sich stets grimmig haßten und befehdeten. Die Stammesverwandtschaft
schützte nicht davor, daß bei den zahllosen Kämpfen, welche eine
griechische Stadt gegen die andere führte, oft genug die gesamte männliche
Bevölkerung einer überwundenen Stadt einfach ausgemordet wurde,
während man die Frauen, Mädchen und Kinder in die Sklaverei verkaufte.
Nur für die Dauer der olympischen Spiele waltete für alle Hellenen Gottesfrieden
und ruhten alle Feindseligkeiten. Hier auf dem geweihten Boden Olympias
fühlte sich der Hellene als Hellene, d.h. als Angehöriger des einen stolzen
und bevorzugten Volksstammes, dem jeder Nichthellene als Barbar galt: Das
olympische Fest „war die einzige Offenbarung der Einheit des Griechenvolkes,
mochte es im Mutterlande oder in den Kolonien leben“ (Jak. Burckhardt;
Griechische Kulturgeschichte, Bd. IV, S. 90). Wenn je eine große geschichtlich
denkwürdige Veranstaltung stets einen ganz ausschließlich nationalen
Charakter trug, dann waren es die olympischen Spiele. „Internationales
43
Olympia“: das bedeutet einen Widersinn in sich, der alle geschichtlichen
Überlieferungen ins Gesicht schlägt. Ist es doch nicht einmal die kaukasische,
die weiße Rasse, welche die „internationalen Olympien“ begeht. Bei
den Marathonläufern der olympischen Spiele in St. Louis 1904 sah ich unter
den Teilnehmern an diesem Wettlauf – es waren 53, wenn ich mich recht erinnere
– vier Zulukaffern mit um das Siegeszeichen, den Marathonpokal, laufen!
Kann man in größerem Maße die Erinnerung an eine der schönsten und
eigenartigsten Kundgebungen des Hellenentums fälschen als dadurch, daß
man den Namen des ersten griechischen Nationalfestes auf eine internationale
Veranstaltung überträgt?
(Schmidt, Ferdinand August, Olympia, Körper und Geist 23, 1914/15, S.
266;)
OLYMPIA WEGWISCHEN
In einem Aufruf verkündet Herr Geheimrat Goetz, der Vorsitzende der
Deutschen Turnerschaft, daß der Europäische Krieg der „Olympischen Spielerei“
den Todesstoß versetzt habe, und findet es unbegreiflich, daß der Generalsekretär
der Olympiade 1916, Herr Diem, kürzlich angekündigt hat, die
unterbrochenen Vorarbeiten würden nach Beendigung des Krieges wieder
aufgenommen werden. Herr Diem ist als einer der ersten zur Verteidigung
des Vaterlandes mit ins Feld gezogen; bevor er antworten kann, können Wochen
vergehen. Als sein langjähriger Freund und Mitarbeiter am großen Ziel
glaube ich daher in seinem Sinne Herrn Goetz erwidern zu sollen, daß er die
Olympischen Spiele falsch eingeschätzt. Ihr Sinn und ihre Bedeutung als die
einer Kulturtat ist von Diem und anderen oft genug bewiesen worden; deshalb
werden wir Deutschen, die wir jetzt mit dem Schwert in der Hand die
Menschheitskultur verteidigen, unbedenklich 1916 im Frieden für sie eintreten
können. Daß uns die Engländer, die größten Versager von 1912, die Belgier,
Franzosen und Russen, die in Stockholm Helden waren, nicht in Berlin besuchen
werden, dessen können wir sicher sein; uns aber kann an der Mitwirkung
von Österreich-Ungarn, Italien, Schweden, Norwegen, dem hoffentlich
wieder selbständigen Finnland, Dänemark, Amerika u.a.m. genügen. Was an
dem Olympischen Komitee des Baron de Coubertin noch falsch sein sollte,
das wird dieser Krieg wegwischen, und wir werden 1916 unseres Reiches
Herrlichkeit bei den Olympischen Spielen voll Stolz der ganzen Welt zeigen
dürfen. Die paar hunderttausend Mark, die für eine angemessene Vorbereitung
vielleicht hingehen, bringen der Volksgesundheit und dem Volkswohlstande
Millionen ein, das lehrt uns die Geschichte der bisherigen Olympiaden,
also auch darum wollen wir an Berlin 1916 festhalten!
(Markus, Karl, Leserbrief Düsseldorfer Zeitung, Ende August 1914; Carl-
Diem-Institut;)
44
WAHRHEITEN ÜBER LOS ANGELES
Von FRANK CRONAU
Dieser Beitrag ist dem im Sportverlag erschienenen Buch “SPORT 84”
entnommen.
Die Geschichte der Olympischen Spiele ist reich an sportlichen Glanzleistungen,
ebenso an Kuriositäten, leider auch an Versuchen, das große Fest
nur als bunten Vorhang für wenig festliche Anliegen zu benutzen, und
schließlich an Experimenten, das weltweite Interesse an dem Ereignis in Gewinn
umzuwandeln, den man in jenen Breiten, wo derlei versucht wird, unmissverständlich
Profit zu nennen pflegt.
Los Angeles 1984 darf man wohl als eine konzentrierte Mischung jener den
sportlichen Leistungen folgenden, im Grunde genommen antiolympischen
Elemente betrachten. Antiolympisch, weil die olympische Charta ziemlich
präzise vorschreibt, was das Ziel der Spiele sein soll: „Die Entwicklung der
physischen und moralischen Qualitäten – der Grundlagen des Sports – zu
fördern; die Jugend durch den Sport im Geiste eines besseren gegenseitigen
Verstehens und der Freundschaft zu erziehen und somit zur Errichtung einer
besseren und friedlicheren Welt beizutragen; die olympischen Prinzipien weltweit
zu propagieren, um damit den guten Willen auf internationaler Ebene zu
wecken; die Sportler der Welt alle vier Jahre zu einem großen Fest des
Sports, den Olympischen Spielen zu laden."
Als die Spiele 1984 eröffnet wurden, teilte der Präsident des Organisationskomitees,
Peter Ueberroth, der Weltöffentlichkeit mit, daß die USA mit
diesem Ereignis zwei Botschaften zu vermitteln trachten, deren erste das
„Wiederaufleben des Stolzes auf unser Land“ sei. Der Präsident der USA
nannte die Spiele in gleicher Stunde in einem Rundfunkinterview die Quelle
eines „neuen Patriotismus“.
In der olympischen Charta sind diese Anliegen jedoch nicht zu finden. Im
Gegenteil, die allererste Instruktion der olympischen Charta enthält den Satz:
„Das IOC ist allerdings der Ansicht, dass das olympische Ideal dann gefährdet
ist, wenn sich – abgesehen von der ganz legitimen Weiterentwicklung des
Sports – gewisse Tendenzen ausbreiten, die vor allem auf die nationale Verherrlichung
errungener Erfolge abzielen, anstatt den Akzent auf das gemeinsame
Bemühen in ritterlichen und freundschaftlichen Wettstreit zu setzen,
dem Sinn und Zweck Olympischer Spiele.“
Gerade daran aber war schon bedenklicher Mangel, lange bevor die Spiele
begannen, und dies wiederum ergab sich vor allem aus der Absicht, sie zum
„Wiederaufleben des Stolzes“ und als Antrieb für einen „neuen Patriotismus“
zu nutzen.
Das ließ sich allerdings nur mit einiger Sicherheit auch erreichen, wenn die
dafür benötigten Sieger zur Verfügung standen. Die aber kann man nur mit
Berufssport mühelos „produzieren“, indem man das Resultat eines als sportlichen
Vergleich ausgegebenen Zweikampfs im Vorhinein festlegt. Der Ama45
teursport bietet da kaum Möglichkeiten, und so musste ein Weg gefunden
werden, auf dem die ärgsten Rivalen bereits im Vorfeld eliminiert werden
konnten.
Man muss nicht Weltjahresbestenlisten und Turnierresultate studieren, um
zu wissen, dass die Aktiven aus den sozialistischen Ländern seit Jahrzehnten
in vielen Sportarten dominieren – schon immer übrigens zum Missvergnügen
der US-amerikanischen Politik. Beweis: Als 1952 in Helsinki die Sowjetunion
zum erstenmal an den Olympischen Spielen teilnahm, wurde in den USA lange
vor dem Auftakt die Losung ausgegeben „Beat the Russians“ (Schlagt die
Russen). Und als ein solcher Triumph nicht auf Anhieb zu gelingen schien –
so offenbart ein US-amerikanisches Standardwerk über Olympia – bereiteten
„die Gerüchte, daß die Roten gewinnen würden, sogar den Offiziellen im State
Departement einige inoffizielle Sorgen“.
Drei Jahrzehnte später – und mitten in einer Phase, die Jonathan Sanders,
ein amerikanischer Politikwissenschaftler von Rang, mit den Worten skizzierte:
„Die Reagan-Administration hat eine antisowjetische, antisozialistische
und antirussische Haltung bezogen ... und das hat alles auf einen abgrundtiefen
Punkt geraten lassen“ – mussten die Sorgen im State Departement logischerweise
weit größer sein: Die „Russen“ ausgerechnet in Los Angeles
möglicherweise nicht schlagen zu können, brachte nämlich das Risiko mit
sich, statt wiederauflebenden „Stolz“ und „Patriotismus“ – immer wieder sei
betont, dass es sich um Zitate handelt, die in der Stunde der Eröffnung der
Spiele vor aller Welt geprägt wurden und nicht irgendwo beim Plausch am
Kamin – Depression auszulösen. Dem galt es vorzubeugen, und das tat man
mit aller Kraft!
Nur unter diesen Vorzeichen ist die Vorgeschichte der Spiele der XXIII.
Olympiade zu verstehen.
Es begann damit, dass die Bevölkerung der Millionenstadt am Pazifik mit
überwältigender Mehrheit bekundete, jeglichen städtischen Zuschuss für die
Spiele zu verweigern. Das war schon keine Kuriosität mehr, sondern ein
schockierendes Novum in der Geschichte der Spiele: Gäste einzuladen und
daran die Bedingung zu knüpfen, dass sie mit ihren Darbietungen den Besuch
finanzieren, war noch niemandem eingefallen. Das Resultat war ein privates
Organisationskomitee, dessen lauthals verkündetes Ziel – die Spiele
mit Profit zu beenden, so wie man ein geschäftliches Unternehmen in den
USA gemeinhin nur startet, wenn man des Gewinns so gut wie sicher sein
kann – im krassen Gegensatz zur Charta stand, am Ende aber akzeptiert
wurde, weil ausgerechnet in diesem Jahr kein anderer Bewerber zur Wahl
stand. Zitieren wir eine kompetente Stimme zu dem, was sich daraus ergab,
aus der „Los Angeles Times“: „Der Exekutivdirektor des IOC, Monique Berlioux,
beklagte in der ABC-Show `Diese Woche´ den Mangel an Mitwirkung
der US-Regierung an der Lösung der olympischen Probleme und gab zu bedenken,
dass das private Organisationskomitee gar nicht imstande war, die
Sowjetunion im Hinblick auf die Sicherheitsfragen zu beruhigen.
46
`Es ist klar, daß eine private Organisation weniger tun kann als eine Regierung
´, betonte Berlioux. 1978 habe das IOC Monate hindurch gegen die Bildung
eines privaten Komitees als Veranstalter der Spiele gekämpft und habe
es am Ende akzeptiert, als klar wurde, dass ein Regierungskomitee nicht mit
öffentlicher Unterstützung würde rechnen können.“
Dass das Organisationskomitee fortan vor allem um Profit bemüht war, bei
komplizierten Fragen auf Washington verwies und – um nur ein Zitat wiederzugeben
– die dortigen Politiker wie der stellvertretende Unterstaatssekretär
Kenneth W. Dam dann notfalls versicherte: „Die Olympiade ist eine private
Angelegenheit“, ergab am Ende ein Pingpongspiel, dessen Ziel allein darin
bestand, Spiele zu arrangieren, die auch tatsächlich dem „Stolz“ und dem
„Patriotismus“ zu dienen versprachen.
Es ließen sich unzählige Beweise dafür anführen, wie die olympische Charta
verletzt wurde – selten mit der Axt, meist mit der Feile –, aber fast alle Verletzungen
liefen darauf hinaus, die gefährlichsten sportlichen Rivalen bei den
Bemühungen um ein patriotisches Freudenfest auszusperren. Jedes dieser
Beispiele wirkt für sich betrachtet nicht sonderlich gefährlich, aber hier drängt
sich der Vergleich zu den von der CIA verminten nikaraguanischen Häfen
auf: Eine Mine wäre zu finden gewesen, aber die Vielzahl musste Kapitäne
bewegen, die Häfen zu meiden, zumal Minen unausrechenbar sind – ähnlich
den Aktionen in Los Angeles.
Begnügen wir uns mit zwei Fakten. In Sarajevo hatte das IOC verkündet,
dass die von der CIA betriebenen Sender „Free Europe“ und „Radio Liberty“
künftig von der Olympiaberichterstattung ausgeschlossen würden. Dafür waren
rechtliche und moralische Gründe maßgebend gewesen, die das kanadische
Mitglied der IOC-Exekutive Richard Pound mit den Worten zusammenfasste:
„Nach unserer Ansicht sind die Sendungen von `Radio Free Europe´
in fremden Sprachen nach Osteuropa gerichtet und haben keine speziellen
Aufgaben, um den Sport in den USA zu popularisieren. Wir können keinen
Nutzen in solchen Akkreditierungen sehen.“
Wohlgemerkt: Das IOC ist der Veranstalter der Spiele, es überträgt einer
Stadt deren Ausrichtung.
Die Stadt Los Angeles scherte sich nicht im Geringsten um die Meinung
des IOC und akkreditierte die Sender. Nicht nur das: Obwohl alle Rundfunkanstalten,
die aus Los Angeles berichteten, im Rundfunkzentrum untergebracht
waren, räumte man diesen Sendern ein Büro im Pressezentrum ein –
von wo die Sendungen aufwendig ins Rundfunkzentrum überspielt werden
mussten –, um deren Präsenz zur unübersehbaren Provokation zu eskalieren.
Die olympische Regel 38 der olympischen Charta lautet: „Zur Erleichterung
der Zusammenarbeit zwischen dem Organisationskomitee und den NOK benennen
letztere nach Absprache mit dem Organisationskomitee einen `Attaché
´ für ihr Land. Der Attaché sollte die Sprache des Landes sprechen, für
das er bestimmt ist.“
47
Das NOK der UdSSR benannte gemeinsam mit dem Organisationskomitee
einen versierten Attaché, der selbst einst als Boxer sportlich aktiv gewesen
war und danach Sportwissenschaften studiert hatte. Das State Department
verweigerte ihm am Tage vor der Ankunft – seine Kinder waren bereits in der
zuständigen Schule in Los Angeles eingetragen – das Einreisevisum, weil er
angeblich „Agent eines Geheimdienstes“ sei. Dieser spezielle „Ballwechsel“
in dem schon erwähnten Pingpongspiel war so gewagt, dass selbst der Präsident
des Organisationskomitees Peter Ueberroth – um sein Gesicht zu
wahren – offiziell protestierte und die Entscheidung „tief besorgniserregend
und unfair“ nannte. FBI-Experten antworteten, dass es notwendig gewesen
sei, von Anfang an „Härte zu zeigen“. Als sich das NOK der UdSSR schweren
Herzens entschloss, nicht an den Spielen teilzunehmen, meldete die
BRD-Nachrichtenagentur dpa sogleich aus Washington: „Die USA haben am
Mittwoch erklärt, dass sie nichts unternehmen wollen, um die UdSSR zu einer
Revision zu bewegen.“ Und die Bonner „Welt“ ließ sich aus der USamerikanischen
Bundeshauptstadt berichten: „Auf einer kurzfristig einberufenen
Pressekonferenz im Weißen Haus lehnte es Präsident Reagan ab, eine
aktivere persönliche Rolle dabei zu spielen, die Sowjets zu überreden, ihre
Entscheidung rückgängig zu machen.“
Die „Los Angeles Times“ kommentierte das Resultat der Operation, die zur
erfolgreichen „Aussperrung“ sozialistischer Länder geführt hatte, am 3. Juni
mit den Worten: „Es ist Zeit, die Musik anzustimmen, die Flagge zu hissen,
die Kanonen abzufeuern! Feiert die Helden und fahrt fort mit der Party! Sagt
dem Iwan `Auf Wiedersehen´, und sollte irgend jemand fragen: War es nicht
bedauerlich, dass die Russen nicht hier waren? wird man kühl antworten:
Waren Sie nicht da? Mir ist es gar nicht aufgefallen!“
Damit war also der Weg frei für die Demonstration des „wiederauflebenden
Stolzes“ und des „neuen Patriotismus“, und die für alle Fälle vorher noch mobilisierten
antikommunistischen Terrorgruppen konnten wieder in die Reserve
versetzt werden.
Die USA-Athleten – viele von ihnen hervorragend vorbereitet und in glänzender
Verfassung – sammelten soviel Medaillen wie seit 1904 in St. Louis
nicht, als nur eine Handvoll Europäer die beschwerliche Reise angetreten
hatte.
2263 Jahre vor den Spielen in Los Angeles hatte der König von Epirus,
Pyrrhus, nach einem Sieg seiner Truppen verzweifelt ausgerufen: „Noch so
ein Sieg, und wir sind verloren.“ Trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen
sind, wurde man in Los Angeles daran erinnert, denn der Triumph des
„neuen Patriotismus“ hatte viel von einem Pyrrhus-Sieg.
48
AUS DER ERKLÄRUNG DES DDR-NOK VOM 10. MAI 1984:
Am Donnerstag, dem 10. Mai 1984, tagte in Berlin das Nationale
Olympische Komitee der DDR. Auf der Grundlage eines vom Präsidenten des
NOK der DDR, Manfred Ewald, gegebenen Berichtes wurde nach
eingehender Beratung einstimmig folgende Erklärung des Nationalen
Olympischen Komitees der DDR beschlossen:
Das Nationale Olympische Komitee der DDR schätzt die Olympischen
Spiele seit jeher als ein weltweites Symbol der Völkerverständigung, der
Erhaltung des Friedens und der Freundschaft zwischen den Sportlern aller
Kontinente.
In diesem Sinne haben die Sportler der Deutschen Demokratischen
Republik seit 1956 an allen Olympischen Spielen teilgenommen und mit
ihrem Auftreten und ihren hohen sportlichen Resultaten einen wertvollen
Beitrag zur Verwirklichung der olympischen Ideale geleistet. (...)
Auch auf die Spiele der XXIII. Olympiade 1984 in Los Angeles haben sich
unsere Sportlerinnen und Sportler seit Jahren sehr zielstrebig und fleißig vorbereitet,
um ihre Heimat im olympischen Geist würdig zu vertreten.
Jedoch die ständige politische Einmischung der USA-Administration in die
Vorbereitung der Olympischen Spiele und die wiederholten Verletzungen der
Olympischen Charta seitens der Organisatoren schufen seit langem
ernsthafte Gefahren für die Teilnahme unserer Sportler an den Wettkämpfen
unter gleichen, ehrlichen und fairen sportlichen Bedingungen.
In ihrem Interesse und im Streben nach Verwirklichung der olympischen
Ideale hat sich das NOK der DDR viele Male an das Internationale
Olympische Komitee und an die Organisatoren der Spiele von Los Angeles
gewandt, um die Einhaltung der Regeln und Bestimmungen der Olympischen
Charta zu erreichen.
Mit seinem offenen Brief vom 11. April 1984 an den Präsidenten des
Organisationskomitees hat der Präsident des NOK der DDR nochmals auf die
Verletzung der Olympischen Charta hingewiesen und die Probleme sichtbar
gemacht, deren umgehende Klärung für die Teilnahme der Sportler der DDR
an den Spielen der XXIII. Olympiade unerläßlich ist.
Dieser Brief wurde bis heute nicht beantwortet, und wir müssen auch feststellen,
daß sich nichts zum Guten geändert hat. (...)
Trotz vielfältiger Bemühungen durch das NOK der DDR gibt es bisher
keine verbindlichen Zusagen des Organisationskomitees
bezüglich der Unterbringung der Olympiamannschaft der DDR;
zur Akkreditierung und für entsprechende Arbeitsmöglichkeiten für die erforderlichen
Trainer, Ärzte, Masseure, Mechaniker usw., die für die ordnungsgemäße
Betreuung der DDR-Olympiamannschaft unbedingt notwendig sind;
die Trainingsmöglichkeiten für die DDR-Sportler zu gewährleisten;
auf die Abgabe von Teilnehmerlisten für die Einreise der offiziellen
Olympia-Delegation zu verzichten; (...)
49
Unter diesen von der USA-Regierung und dem Organisationskomitee zu
verantwortenden Umständen ist die Erfüllung des humanistischen Anliegens
der olympischen Bewegung und die Verwirklichung der olympischen Idee der
Freundschaft, der Verständigung und des Friedens nicht gegeben.
Das Nationale Olympische Komitee der DDR hat daher in Wahrnehmung
der Verantwortung für den Schutz der Ehre, der Würde und des Lebens der
Sportler und unter Beachtung der Tatsache, daß somit keine regulären
Bedingungen für die Teilnahme der DDR-Sportler gegeben sind, entschieden,
nicht an den Spielen der XXIII. Olympiade 1984 in Los Angeles teilzunehmen.
ZITATE:
unsere zeit (22.5.84):
Willi Daume, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees und Präsident
des Nationalen Olympischen Komitees der Bundesrepublik, hat Verständnis
für die Absage der Sowjetunion zu den Olympischen Spielen in Los
Angeles, in einem Interview mit einer Wochenzeitung warf Daume den USA
vor, sich in vielen Dingen nicht an das olympische Reglement gehalten zu
haben.
„Sie haben zum Beispiel kein einheitliches Olympisches Dorf gebaut. Das
gehört zu den Dingen, die nicht mehr zu ändern sind. Die Amerikaner haben
im übrigen sehr wenig Gefühl für die Empfindungen der Griechen etwa bei
dem Fackellauf, sie sind nonchalant über vieles hinweggegangen, nach dem
Motto: wir machen das schon.“
afp: (Agence France Press – 19. 3. 84)
Die amerikanischen Geheimdienste werden nach einer Meldung der „Los
AngeLes Times“ die sowjetische Delegation bei den Olympischen Sommerspielen
genau unter die Lupe nehmen. Ein namentlich nicht genannter FBIAgent
sagte gegenüber der Zeitung, die 800 Personen starke Abordnung, die
alle genauestens überprüft werden, auch die anderen Sportler aus den Ostblock-
Ländern werden einer sorgfältigen Prüfung unterzogen, gab der Beamte
bekannt.
50
WIE DAS SPORT-FERNSTUDIUM
IN DER DDR BEGANN
Im September 1953 wurden an der Deutschen Hochschule für Körperkultur
(DHfK) in Leipzig die ersten Fernstudenten immatrikuliert. Es war
weltweit das erste Sport-Fernstudium, wahrgenommen von Lehrern,
Trainern und ehrenamtlichen Übungsleitern. Edgar Haase, erster kommissarischer
Leiter der verantwortlichen Hauptabteilung beschrieb in
„Theorie und Praxis“ (10/1953) die Struktur der Einrichtung.
Die Ankündigung, dass an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in
Leipzig das Fernstudium aufgenommen wird, löste bei vielen Sportlern und
Sportlerinnen freudige Zustimmung aus. Sie können nunmehr Diplomsportlehrer
werden, ohne ihre Berufsarbeit unterbrechen zu müssen. Schon immer
hatte ihnen das Ziel, an der Deutschen Hochschule für Körperkultur studieren
zu können, vor Augen geschwebt, aber es ließ sich nicht erreichen; sie mussten
aus vielerlei Gründen in ihrem Beruf bleiben und konnten ihre Arbeit nicht
für mehrere Jahre unterbrechen.
EINE GESELLSCHAFTLICHE NOTWENDIGKEIT
Die gegenwärtige Unmöglichkeit, alljährlich für alle offenen Stellen, die mit
Wissenschaftlern besetzt werden mussten, Absolventen der Universitäten
und Hochschulen zu bekommen, beweist hinreichend diese Behauptung. Es
muss also versucht werden, mehr Wissenschaftler als bisher auszubilden,
mehr Arbeiter und Bauern als bisher zum Hochschulstudium zu delegieren.
Aber die Kapazität der Universitäten und Hochschulen ist begrenzt, ihre Aufnahmefähigkeit
kann gegenwärtig nicht wesentlich erhöht werden. Zudem
werden Produktion, Verwaltung und andere Bereiche unseres gesellschaftlichen
Lebens nicht fortwährend eine große Anzahl Arbeitskräfte zum
Studium schicken können, ohne selbst argen Mangel zu leiden. Hier schließt
das Fernstudium eine Lücke; es gestattet dem Fernstudenten, an seinem Arbeitsplatz
zu bleiben und zugleich eine abgeschlossene Hochschulbildung zu
erlangen.
Auch auf dem Gebiete der Körperkultur ist der Bedarf an wissenschaftlich
ausgebildeten Fachkräften sehr groß. Nur zu einem ganz geringen Teil kann
ihn die Deutsche Hochschule für Körperkultur mit den alljährlich abgehenden
Diplomsportlehrern decken. Wenn es aber gelänge, die Zahl der Absolventen
zu vervielfachen, so könnten wir dieses Problem schon ein wenig besser lösen.
Dazu bietet uns das Fernstudium die Möglichkeit. Der Fernstudent bleibt
im Beruf, vermindert also nicht die Zahl der Arbeitskräfte und erwirbt doch eine
abgeschlossene Hochschulbildung.
51
Das Fernstudium – auch das Fernstudium an der Deutschen Hochschule
für Körperkultur – ist also gesellschaftlich notwendig. Es entspricht aber zugleich
auch dem persönlichen Bedürfnis vieler, sich umfangreiches Wissen
und Können anzueignen, um auch ihre eigene Qualifikation und Lebensgrundlage
zu verbessern.
DIE FORMEN DES FERNSTUDIUM
Die Erkenntnis, dass das Fernstudium für Diplomsportlehrer gesellschaftlich
notwendig ist, gebietet uns, es durchzuführen und zwingt uns zu überlegen,
wie man es am besten organisieren kann. Dabei darf nicht zugelassen
werden, dass zwischen dem Diplom, das ein Fernstudent erwirbt, und dem
Diplom, das ein Direktstudent erhält, ein wesentlicher Unterschied besteht.
Der Studienplan des Direktstudiums muss als Grundlage für den Studienplan
des Fernstudiums dienen. Abstriche beim Fernstudium können nur vorgenommen
werden, sofern sie die Qualität der Ausbildung nicht beeinträchtigen.
Außerdem muss man berücksichtigen, dass die Besonderheiten des Studiums
für Diplomsportlehrer, die sportpraktischen Übungen und die lehrpraktische
Ausbildung, nicht geschmälert werden dürfen, weil hauptsächlich
sie die Mittel sind, mit deren Hilfe der künftige Diplomsportlehrer die Erziehung
unter den Sportlern und Sportlerinnen praktisch durchführt.
Diese Überlegungen lassen es als real erscheinen, die Dauer des Fernstudiums
auf fünf Jahre festzusetzen und den Fernstudenten neben seiner Arbeit
im Beruf wöchentlich mit 19 bis 20 Stunden für sein Studium und für sein
Training zu belasten.
DER „TAG DER PRAKTIKA“
Sieben bis acht Stunden entfallen auf den „Tag der Praktika“, der mittwochs
abgehalten wird. Dieser „Tag der Praktika“ ist zum allergrößten Teil
mit sportpraktischen Übungen ausgefüllt. Bei fortschreitendem Studium wird
er aber auch mit praktischmethodischen Übungen, Hospitationen und Lehrversuchen
belegt. So sieht z.B. im ersten Studienjahr der Studienplan am
„Tag der Praktika“ folgendermaßen aus:
8-10 Uhr Gymnastik
10-11 Uhr Konsultation in Gesellschaftswissenschaft
11-12 Uhr Leichtathletik
14-16 Uhr Handball, späterhin Volleyball
16-17 Uhr Konsultation in Pädagogik
Der „Tag der Praktika“, für den Fernstudenten ein bezahlter arbeitsfreier
Tag neben seinem regulären Urlaub, ist im Fernstudium an der Deutschen
Hochschule für Körperkultur ebenso wie in anderen Hochschulfernstudieneinrichtungen
innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik neu. (...)
Die Hauptformen des Fernstudiums sind das Selbststudium und das
Selbsttraining. Im Selbststudium erwirbt sich der Fernstudent während des
52
ersten Studienjahres die theoretischen Grundlagen in Gesellschaftswissenschaft
und Pädagogik. Für beide Disziplinen wendet er wöchentlich je
vier Stunden auf. Dazu kommen noch zwei Stunden Selbsttraining in Leichtathletik
und eine Stunde Selbsttraining in Gymnastik. Insgesamt sind das im
ersten Studienjahr elf Stunden Selbststudium und Selbsttraining. Man muss
aber noch darauf aufmerksam machen, dass der Fernstudent außerdem für
kleinere schriftliche Kontrollarbeiten aus der Gesellschaftswissenschaft und
der Pädagogik Zeit haben muss. Rechnen wir dafür noch wöchentlich zwei
Stunden, so umfasst der Wochenstundenplan des Fernstudenten insgesamt
zwanzig Stunden. Diese zwanzig Stunden zusätzliche Belastung entstehen
ihm für dreißig Wochen im Jahr; denn das Studienjahr erstreckt sich nur über
diesen Zeitraum.
Aber Selbststudium und Selbsttraining werden nicht zu dem gewünschten
Erfolg führen, wenn der Fernstudent nicht angeleitet wird, wie er studieren
und wie er trainieren soll. Deshalb wird von der Deutschen Hochschule für
Körperkultur zu jedem Fachgebiet eine Anleitung ausgearbeitet und dem
Fernstudenten ausgehändigt. Diese „Anleitung für das Fernstudium“ enthält
auf sportpraktischem Gebiet Stundenbilder für den Unterricht am „Tag der
Praktika“ (für den Lehrer) und gegebenenfalls Hinweise oder auch einen gegliederten
Plan für das Selbsttraining, auf theoretisch-wissenschaftlichem
Gebiete einen genauen Zeit- und Themenplan mit eingehenden Literaturangaben
für das Selbststudium und Hinweise dazu, wie man mit dem Buch arbeitet,
wie man konspektiert, gliedert, zusammenfasst, Kenntnisse ansammelt
und daraus Erkenntnisse gewinnt, die die Praxis bestimmen.
Diese Mühe würde sich nicht lohnen, wenn die Deutsche Hochschule für
Körperkultur keine Kontrolle darüber hätte, ob der Fernstudent gewissenhaft
studiert und ordentlich gelernt hat. Deshalb wird sie von ihm kleinere Kontrollarbeiten
anfertigen lassen, die ihr die Möglichkeit geben festzustellen, ob und
wo sie helfen muss.
DER WOCHENENDLEHRGANG
Wie man aus dem skizzierten Studienplan für den „Tag der Praktika“ ersieht,
ist Leichtathletik nur mit einer Stunde angesetzt worden. Das ist natürlich
sehr wenig und steht mit der Stundenanforderung im Direktstudium nicht
im Einklang. Dort sind wöchentlich zwei Stunden Leichtathletik vorgesehen.
Sicherlich muss der Direktstudent auch noch trainieren, wenn er seine Leistungen
steigern will. Wie will man aber bei einer Stunde Leichtathletik vom
Fernstudenten dieselben Leistungen verlangen wie vom Direktstudenten? In
dieser einen Stunde erhält der Fernstudent das Programm für sein zweistündiges
Selbsttraining. Jedoch werden sich auch dabei noch Mängel einstellen.
Deshalb sind Wochenendlehrgänge geplant, die etwa aller vier Wochen stattfinden,
insgesamt sieben bis acht im Jahr. In diesen Wochenendlehrgängen
sollen die Fernstudenten in längeren Zeiteinheiten unterrichtet werden, damit
die sportpraktischen Fertigkeiten vervollkommnet und das theoretisch53
wissenschaftliche Niveau gehoben werden können. Um also beim Beispiel
Leichtathletik zu bleiben, möchten wir ausdrücken, dass die Lehrkraft im Wochenendlehrgang
Gelegenheit haben wird, vielleicht zweimal zwei Stunden
mit den Fernstudenten zu arbeiten, etwa sonnabends von 16 bis 18 Uhr und
sonntags von 8 bis 10 Uhr. Dasselbe wäre – allerdings aus Gründen allzu
starker physischer Belastung nicht im gleichen Wochenendkurs – in Gymnastik
möglich.
Aber nicht nur auf die Sportpraxis hat der Wochenendlehrgang Einfluss,
sondern auch auf die theoretischen Fächer. So ist es durchaus möglich, dass
Konsultationen, Seminare oder Vorlesungen auf irgendeinem Fachgebiet angesetzt
werden, wenn der Stand der Studienarbeit unbefriedigend ist.
Der Wochenendlehrgang beginnt sonnabends 16 Uhr (16 bis 18 Uhr, 20
bis 22 Uhr) und endet sonntags 16 Uhr (8 bis 12 Uhr, 14 bis 16 Uhr).
ZWISCHEN- UND ABSCHLUSSPRÜFUNGEN
Eine weitere Hilfe für den Fernstudenten besteht darin, dass die Fachgebiete,
für die er Zwischenprüfungen ablegen muss, sich nicht häufen. Am Ende
des ersten Studienjahres z.B. hat sich der Fernstudent nur in zwei Fachgebieten
Zwischenprüfungen zu unterziehen... In Pädagogik, Gymnastik,
Handball und Volleyball legt er sogar eine Abschlussprüfung ab. Diese Fachgebiete
kehren im Studiengang nicht wieder, es sei denn, dass sich der Fernstudent
im vierten und fünften Studienjahr als Spezialgebiet Gymnastik mit
Gerätturnen, Handball oder Volleyball wählt. Der Vorteil besteht also darin,
dass die Zwischenprüfungen zahlenmäßig gering sind und die Abschlussprüfungen
dann vorgenommen werden, wenn die betreffende Disziplin im Verlauf
des Fernstudiums abgeschlossen ist und nicht mehr wiederkehrt. Das
wirkt sich so aus, dass der Fernstudent in jedem Studienjahr Abschlussprüfungen
in mindestens zwei Fachgebieten ablegt und so das fünfte (letzte)
Studienjahr fast ausschließlich dazu verwenden kann, seine Diplomarbeit zu
verfassen und sich auf die Abschlussprüfung im Spezialfach vorzubereiten.
Um den Fernstudenten eine intensive Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen
zu ermöglichen, werden Prüfungsschwerpunkte festgelegt, Vorlesungen
und Seminare gehalten und Konsultationen angesetzt.
DIE AUßENSTELLEN
Die wichtigste Einrichtung innerhalb der Hauptabteilung Fernstudium sind
die Außenstellen; denn hier wird die unmittelbare Erziehungsarbeit geleistet.
Ab 1. September 1953 wurden elf solche Außenstellen eingerichtet, und zwar
in Berlin, Potsdam, Frankfurt (Oder), Cottbus, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Erfurt,
Schwerin, Magdeburg, Halle und Leipzig. Neun von diesen Außenstellen
werden mit einer ständigen wissenschaftlichen Fachkraft besetzt, zwei (Potsdam
und Leipzig) nebenberuflich verwaltet. Die Tätigkeit des Außenstellenleiters
ist sehr vielseitig und verantwortungsvoll.
54
DOKUMENT EINES
ARBEITER-TURNVEREINS VON 1850
Der Jenaer Sporthistoriker Willi Schröder (1925-2012) hatte beim Aufbau
des Jahn-Museums in Freyburg (Unstrut) 1953 eine Urkunde der Geschichte
des Arbeitersports aus dem Jahre 1850 entdeckt und sie in einer Ausgabe
der „Theorie und Praxis der Körperkultur“ (Berlin 4/1953) publiziert. Nach 60
Jahren wiederholen wir den Abdruck.
„Ich bringe dieses früheste Zeugnis für eine selbständige proletarische
Turnorganisation in Deutschland zur Veröffentlichung, weil ich es für die Erforschung
der Geschichte der proletarischen Turn- und Sportbewegung von
großer Wichtigkeit halte.
Wir feiern in, diesem Jahre den Tag der 60. Wiederkehr der Gründung des
Deutschen Arbeiter-Turnerbundes, die vom 21. bis 22. Mai 1893 in Gera erfolgt
war. Sie war: das Ergebnis des erbitterten Kampfes der deutschen proletarischem
Turner um eine unabhängige Turnorganisation, der schon seit
1848 geführt worden war. Zu den ersten Vorläufern des Arbeiter-
Turnerbundes zählt der Arbeiter-Turnverein von 1850, dessen Bestehen für
uns ein Beweis für die revolutionären Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung
und die großen Traditionen der Demokratischen Sportbewegung ist.
Es handelt sich bei dem Dokument um die Bescheinigung über die Mitgliedschaft
des `Bürgers Otto Aldag´ zu dem genannten Verein, um die Beurteilung
seiner Arbeit im Arbeiter-Turnverein und die Bitte um Unterstützung
Aldags durch die `Turnbrüder´. Ich nehme an, Aldag wollte auf Wanderschaft
gehen und brauchte das Gutachten, um in Arbeiter- und Turnerkreisen Aufnahme
zu finden.
Die Bedeutung des Dokumentes liegt darin, daß es uns als Zeugnis für das
Bestehen, einer Arbeiter-Turnorganisation nach der Revolution von 1848
dient. Es ist bekannt, daß die revolutionären Turner im Juli 1848 auf dem 2.
Hanauer Turntag aus dem Deutschen Turnerbund ausgetreten waren und
sich im Demokratischen Turnerbund zusammengeschlossen hatten. Dieser
Turnerbund, der für die Errichtung der Demokratischen Republik kämpfte, erstarkte
vor allem in den Industriegebieten Deutschlands, die immer Zentren
der Arbeiterbewegung gewesen sind.
In Leipzig soll neben einer kleinen Gruppe der Deutschen Turner ein tausend
Mann starker Demokratischer Turnverein bestanden haben.1) Der Arbeiter-
Turnverein, der durch dieses Schriftstück belegt wird, ist wahrscheinlich
aus diesem Demokratischen Turnerbund hervorgegangen. Es ist beachtlich,
daß er in Leipzig 1850 noch nicht von der Reaktion zerschlagen worden
war.
Weitere Forschungen müßten zu klären versuchen, ob Mitglieder des geheim
organisierten Bundes der Kommunisten in ihm mitgearbeitet haben.
55
Friedr. Engels charakterisiert die Arbeit der Kommunisten im Jahre 1850 mit
den Worten: `Der Bund fing an, in den Arbeiter-, Bauern- und Turnvereinen in
weit größerem Maße als vor 1848 die dominierende Rolle zu spielen ... Der
Bund war unbedingt die einzige revolutionäre Organisation, die in Deutschland
eine Bedeutung hatte.´2)
Leipzig ist immer ein Zentrum der proletarischen Turnbewegung geblieben.
August Bebel berichtet von der Gründung einer Turnabteilung in einem
Leipziger Arbeiter-Bildungsverein, dem er 1861 selbst beitrat und der in seiner
Art eine `Musteranstalt´ wurde.3) Sogenannte `freie Turner´, d.h. klassenbewußte
Arbeiter, die nach ihrem Ausschluß aus der Deutschen Turnerschaft
eigene proletarische Turnvereine gegründet hatten, gab es nachweislich auch
in Leipzig unmittelbar vor und nach dem Sozialistengesetz.4) Während des
Sozialistengesetzes fanden die Leipziger Turner Mittel und Wege, trotz des
Verbotes aller Arbeitervereine weiterzuturnen.5)
Das Emblem des Arbeiter-Turnvereins mit den schwerthaltenden, gefaßten
Händen und die Inschrift `Alles durch die Arbeit, alles für die Arbeit´ lassen
auf eine klassenbewußte, revolutionäre Haltung seiner Mitglieder schließen.
Die Umschrift `Stark, Frei ... Gut und Treu´ unterscheidet sich, was den Gehalt
anbelangt, qualitativ von Jahns Losung `Frisch, fromm, fröhlich, frei´, die
die Deutsche Turnerschaft übernahm. (...)
Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Reaktion diesen Arbeiter-
Turnverein verfolgt und bald verboten hat. Sein Kampf war aber nicht umsonst.
(...) Das Symbol der vereinten Hände, daß die Partei der Arbeiterklasse
auch heute wieder in ihren Fahnen und Abzeichen trägt, ruft alle Menschen
auf, vereint gegen einen imperialistischen Krieg und für ein glückliches
Leben in Frieden und Sozialismus zu kämpfen.
DER WORTLAUT DES HANDGESCHRIEBENEN DOKUMENTS:
Gut Heil!
Bürger Otto Aldag war seit dem 1.ten April 1850 Mitglied des (unleserlich)
Turnvereins und hat sich in dieser Zeit durch gründliche und gewissenhafte
Erfüllung seiner Pflichten sowie durch ein in jeder Beziehung musterhaftes
Betragen unserer aller Anerkennung erworben.
Indem wir ihm deshalb Zeugniß aus Pflicht und Gewissen ertheilen, richten
wir an alle Turnbrüder die Bitte im vorkommenden Falle mit Rath und That zu
unterstützen und so es nöthig erscheint ihm ihren Beistand angedeihen
zu lassen
Der Arbeiterturnverein
Für denselben der Vorstand
Engels Obmann
Engelhard Cassirer
Beck Schriftführer
56
1) Kurzer Abriß der Geschichte der Körperkultur in Deutschland seit 1800 von G. Erbach, P.
Marschner, H. Schuster, H. Simon, G. Wieczisk, G. Wonneberger und L. Skorning (Gesamtleitung),
Sportverlag Berlin 1952, S., 150
2) Fr. Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, Beilage zum Manifest der Kommunistischen
Partei, Verlag Neuer Weg, Berlin 1945, S.55
3) Aug. Bebel: Aus meinem Leben, Bd. 1, Dietz Verlag, Berlin 1946, S. 56
4) Frey: Streitschrift für Mitglieder des Arbeiter-Turnerbundes, Arbeiter-Turnverlag, Leipzig
1907, S. 67.
5) Vgl. Kurzer Abriß, a. a. 0., S. 206-208.
57
ERINNERUNG AN DR. HEINZ SCHÖBEL:
WIE COUBERTIN WIRKLICH DIE MODERNEN
OLYMPISCHEN SPIELE ERFAND
Vor 150 Jahren war Baron de Coubertin am 1. Januar 1863
geboren worden. Vor 100 Jahren – am 14. Oktober 1913 – war
Heinz Schöbel, erstes DDR-Mitglied des Internationalen Olympischen
Komitees geboren worden. Wir hielten diese Gedenktage
für einen adäquaten Anlass Auszüge eines 1965 erschienenen
Beitrags von Heinz Schöbel über Coubertin zu publizieren.
Die von Ernst Curtius 1875 begonnenen und systematisch durchgeführten
Ausgrabungen in Olympia ließen nicht nur die alten Anlagen und Bauwerke
wieder ans Licht des Tages treten, sondern es wurde durch sie auch die Idee
der Olympischen Spiele neu belebt, die einst in Griechenland so wirksam
gewesen war. An Anläufen zur Wiederbelebung des Gedankens der Olympischen
Spiele hatte es vorher nicht gefehlt. Schon Jean-Jacques Rousseau
(1712-1778) hatte in seinem 1762 erschienenen Erziehungsroman „Emile“ im
Zusammenhang mit der Pflege der Leibesübungen von den Olympischen
Spielen gesprochen. In Deutschland waren bei dem Erziehungsreformer Johann
Bernhard Basedow (1724-1790) und um die gleiche Zeit bei der
Herrnhuter Brüdergemeinde in Niesky Gedanken einer Wiederbelebung der
Olympischen Spiele laut geworden. Der große humanistische Denker Johann
Gottfried Herder (1744-1803) hatte in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschheit“ nachdrücklich auf die erzieherische Bedeutung der
Olympischen Spiele hingewiesen. Außerdem hatte sich seit den Jahren der
Französischen Revolution und gewiß nicht unbeeinflußt von ihren erzieherischen
Gedanken in Deutschland Johann Christoph Friedrich GutsMuths
(1759-1839), der Wegbereiter des Turnunterrichts an den Schulen, in Wort
und Schrift unermüdlich dafür eingesetzt, die Erneuerung der Olympischen
Spiele der Griechen zu erwägen.
Auch in anderen Ländern, vor allem in dem politisch noch sehr unruhigen
Griechenland, erwog man den Gedanken der Wiederbelebung der Spiele.
Verständlicherweise begegnete der Gedanke gerade in Griechenland im Hinblick
auf die große griechische Vergangenheit in der Antike dem regsten Interesse.
Hier hatten in Athen 1859, wenige Jahre nach dem bedeutenden Vortrage
von Ernst Curtius in der Singakademie zu Berlin, im Beisein des Königs
Otto I. dank der Initiative des Majors Evanghelos Zappas die ersten „panhellenischen
Spiele“ der Neuzeit stattgefunden. Sie waren ausschließlich für
griechische Wettkämpfer offen gewesen und hatten ebenso wie die bis 1889
noch viermal veranstalteten folgenden Spiele nur einen geringen sportlichen
58
Wert. Doch waren sie ein Zeichen dafür, daß der Gedanke der Olympischen
Spiele begonnen hatte, die Geister zu bewegen.
Das Verdienst, die Idee der Wiederbelebung der Olympischen Spiele verwirklicht
zu haben, kommt jenem Manne zu, den heute alle Welt als den Begründer
der Olympischen Spiele der Neuzeit rühmt: dem französischen Baron
Pierre de Coubertin (1863-1937). (…)
Es kann hier nicht im einzelnen von den Kämpfen gesprochen werden, die
Coubertin zu bestehen hatte, um seine Idee gegen den Unverstand seiner
Umwelt – vor allem gegen nationalistischen Dünkel – durchzusetzen. Auf sich
allein gestellt, nur bei Gelegenheit von wenigen Getreuen unterstützt und zunächst
ohne die für ein solches Vorhaben erforderlichen finanziellen Mittel,
ging er an die Verwirklichung seiner großen Pläne. Er stand vor einer unerhört
schwierigen Aufgabe, die zu bewältigen ihm nur Schritt für Schritt möglich
war.
Zunächst gelang es ihm 1894, einen internationalen Kongreß nach Paris
einzuberufen, der wieder in den Räumen der Sorbonne, dieses ehrwürdigen
Zentrums französischer Gelehrsamkeit, stattfand. Coubertin hatte es verstanden,
zu diesem Kongreß im sportlichen Leben führende Männer aus zwölf
Ländern um sich zu sammeln, darunter auch Vertreter aus den damals maßgeblichen
Sportländern England und USA, deren Mitwirken an seinem großen
Plan unerläßlich war. Die von ihm jahrelang geleistete Arbeit begann hier
die erstenFrüchte zu tragen. Auf dem Kongreß wurde dank der Initiative Coubertins
und dank der von ihm ausstrahlenden Überzeugungskraft einstimmig
der denkwürdige Beschluß gefaßt, die Olympischen Spiele, die dem griechischen
Altertum mehr als elfeinhalb Jahrhunderte ihren Stempel aufgedrückt
hatten, zu erneuern und sie aller vier Jahre jeweils in einem anderen
Lande feierlich durchzuführen. Zugleich wurde das Internationale Olympische
Komitee (IOC) gegründet, dem Coubertin als Generalsekretär, später als
Präsident und von 1925 bis an sein Lebensende (1937) als Ehrenpräsident
vorstand.
Schon bei der Einberufung des Gründungskongresses war Coubertin
mehrfach auf eine chauvinistische Engstirnigkeit gestoßen, die unvereinbar
ist mit der vom Gedanken demokratischer Gleichberechtigung erfüllten olympischen
Idee. Bezeichnend für die nationalistische Überheblichkeit, der er
begegnete, war nicht nur die Weigerung des französischen Turnerbundes,
sich mit dem „Sieger von Sedan“ an einen Tisch zu setzen, sondern vor allem
auch die Tatsache, daß kein Vertreter Deutschlands der Einladung Coubertins
Folge geleistet hatte, da man sich auf deutscher Seite gegen den internationalen
Charakter der Spiele wandte und die Durchführung nationaldeutscher
Spiele propagierte. Das Deutsche Reich war als einzige Großmacht auf
dem Gründungskongreß nicht vertreten.
Im Frühjahr 1896 war die erste Etappe auf dem mühevollen Wege Coubertins
erreicht. Seine Energie und sein diplomatisches Geschick hatten es zuwege
gebracht, daß vom 5. bis 14. April 1896 die ersten Olympischen Spiele
der Neuzeit abgehalten wurden. Sie wurden in Anerkennung ihrer großen, so
59
eng mit der Geschichte des griechischen Volkes verknüpften Überlieferung
an traditionsreicher Stätte in Athen ausgetragen, im gleichen Stadion, das
einst von Perikles begründet und von Herodes Atticus in Marmor ausgebaut
worden war und das man jetzt für die neuen Spiele wiederhergestellt hatte.
Die Tatsache, daß sie an die Olympischen Spiele der Antike anknüpften und
deren Traditionen fortführten, verlieh ihnen ihre besondere Weihe, und das
Wissen darum war bei den teilnehmenden aktiven Sportlern wie bei den Besuchern,
wie wir aus vielfachen Berichten wissen, unmittelbar lebendig.
Der Siegeslauf der modernen Olympischen Spiele, denen Coubertin in genialer
Voraussicht den Weg bereitet hatte, war durch die Hindernisse, die
man ihnen entgegenstellte, nicht mehr aufzuhalten. Von Olympiade zu Olympiade
gewannen die Spiele an Bedeutung und Popularität. Die Internationalisierung
des Sports, die ein Kennzeichen der modernen Olympischen Spiele
ist und die im Gegensatz zu den im wesentlichen auf die Griechen beschränkten
Olympischen Spielen der Antike stand, wurde zweifellos zur gleichen
Zeit durch die ökonomische Entwicklung der fortgeschrittensten Länder
des 19. Jahrhunderts begünstigt. (...)
Wenn von Coubertin und seinen Anhängern proklamiert wurde, daß die
modernen Olympischen Spiele die Tradition der Olympischen Spiele der Antike
wiederaufnehmen und fortführen sollten, so ist gleichzeitig festzustellen,
daß die modernen Spiele von Anfang an mehr als ein Abbild der antiken
Spiele waren, da sie die ganze Menschheit einbezogen und internationalen
Charakter trugen. Dies muß als Verdienst ihres Begründers betrachtet werden.
Es erscheint deshalb wichtig, noch kurz die Grundsätze zu beleuchten,
die für Coubertin ausschlaggebend waren und die dank seiner Initiative das
Gesicht der heutigen Olympischen Spiele bestimmen.
An erster Stelle ist hier das fundamentale Prinzip der Gleichberechtigung
zu nennen. Coubertin hat dieses Prinzip nach allen Seiten tief und folgerichtig
durchdacht. Es bildet die Grundlage nicht nur für das Verhältnis der einzelnen
Sportarten untereinander, sondern auch für die Beziehungen der an den
Olympischen Spielen teilnehmenden und teilnahmeberechtigten Sportler und
ihrer Herkunftsländer. (…)
Bei alledem hat Coubertin ebensowenig wie die Griechen der Antike die
Olympischen Spiele als Selbstzweck betrachtet. Sie bedeuteten ihm ein hohes
Fest der Lebensfreude und des friedlichen Wettstreits. Doch sah er in
ihnen auch zugleich ein wirksames Mittel zur Völkerverständigung. Sie sollten,
so wünschte er, auf dem Prinzip der gegenseitigen Achtung basieren, um
dadurch „in zäher Arbeit friedliche Zeiten vorbereiten“ zu können. Es ging ihm
also letzten Endes mit den Spielen um die Erfüllung des uralten Menschheitstraumes
vom ewigen Frieden, eines Traumes, der heute für alle Völker aktuell
ist wie kein anderes Problem. Indem Coubertin von Anbeginn den olympischen
Gedanken unserer Zeit mit den Ideen des Friedens, der Völkerverständigung
und der gegenseitigen Achtung verband, gab er diesem Gedanken
zugleich einen bedeutenden gesellschaftlichen Inhalt, der den Spielen
starke Lebenskraft verbürgt. (…)
60
Am Ende unserer Betrachtung über die Neubegründung der Olympischen
Spiele durch Pierre de Coubertin liegt es nahe, die olympische Idee der Antike
mit derjenigen unserer Zeit zu vergleichen. Dies geschieht am besten,
wenn wir die Kalokagathia, das griechische Ideal der Harmonie von Körper
und Geist, der „pédagogique sportive“, dem Prinzip der sportlichen Erziehung
bei Coubertin, gegenüberstellen, aus dem der olympische Gedanke der Neuzeit
erwachsen ist. Coubertin kennzeichnet den Inhalt seiner Erziehungsgrundsätze
in dreifacher Weise : als Kult der Schönheit, Freude an der Muskeltätigkeit
und Dienst an Familie und Gesellschaft. Hier ergibt sich in der Tat
ein auffälliger Gleichklang: Der Kult der Schönheit deckt sich weitgehend mit
der Komponente des „Schönen“ („kalos“) als Streben nach körperlicher
Ebenmäßigkeit. Die Freude an der Muskeltätigkeit findet ihre Parallele in der
antiken Agonistik, die der Kalokagathia ihren besonderen Akzent verlieh und
den tragfähigen Boden für die Olympischen Spiele des Altertums darstellte.
Was den Dienst an Familie und Gesellschaft angeht, so könnte man vergleichsweise
an die Ekecheiria denken, wobei selbstverständlich die unterschiedlichen
gesellschaftlichen Voraussetzungen zu berücksichtigen sind. In
beiden Fällen ergeben sich als Kern der Friedensgedanke und das Streben
nach Verständigung und Freundschaft auf der Basis gegenseitiger Achtung.
Die Übereinstimmung der Zielstellungen ist unverkennbar: Beide erstreben
die menschliche Vervollkommnung, und beide räumen dem sportlichen Tun
hierbei einen entscheidenden Platz ein. Auch wir bekennen uns zu diesem
echt humanistischen Ethos, wenn wir als Ziel der Erziehung das Streben
nach geistigem Reichtum, moralischer Sauberkeit und körperlicher Vollkommenheit
bezeichnen und auf diese Weise die Idee der Olympischen Spiele in
unsere Obhut nehmen.
61
GEDENKEN
Dr. paed. REINHARD ZIMPEL
(31. Dezember 1925 – 10. September 2013)
Zweieinhalb Jahre Soldat in der faschistischen Wehrmacht, eine schwere
Kriegsverwundung, vier Jahre Kriegsgefangenschaft und Arbeit Untertage in
einer Kohlengrube und nach der Entlassung war die Heimat im Niederschlesischen
nicht mehr zugänglich. Er fand seine ausgesiedelte Mutter in Leipzig.
Diese Stadt wurde seine neue Heimat, in der er bis an sein Lebensende wirkte.
Der Krieg und seine Folgen raubten ihm den größten Teil seiner Jugend
und seine Schlussfolgerungen aus dieser Vergangenheit - „Nie wieder Krieg
und eine friedliche Zukunft für die Jugend!“ – prägten seine weitere Lebenseinstellung.
Seine Erfahrungen wurden 1940 durch den Besuch der Antifa-
Zentralschule des Komitees Freies Deutschland, die durch deutsche Antifaschisten
und einstige Offiziere der Wehrmacht geleitet wurde, theoretisch
fundiert.
In Leipzig arbeitete er in der Jugendorganisation mit, war Mitglied der
Kommission Jugend und Sport sowie Instrukteur für die Leipziger Hochschulen,
schließlich war er Leiter des Bezirks-Clubhauses der Jugend. In den 60er
Jahren des vorigen Jahrhunderts war er Mitorganisator der Laufbewegung
und selbst auch jahrzehntelang aktiver Teilnehmer.
Sein langjähriges erfolgreiches Wirkungsfeld war die Ausbildung und Erziehung
im und durch Sport, so von 1962 bis 1966 an der Deutschen Hochschule
für Körperkultur (DHfK) und von 1967 bis 1990 bis zu seiner Abwicklung
am Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS). Reinhard Zimpel
hat es stets verstanden, Aufgaben im Beruf und im Ehrenamt miteinander
zu verbinden, so seine Verantwortung in den Leitungen von DHfK und FKS
und die umfangreiche ehrenamtliche Tätigkeit im Vorstand des Sportclubs
DHfK. Den meisten Studenten und Angehörigen der DHfK und des FKS ist
Reinhard Zimpel bekannt durch seine Arbeit im Prozess der Ausbildung des
wissenschaftlichen Nachwuchses. Als Leiter der Personalabteilung hat er mit
dazu beigetragen, dass zunächst an der Forschungsstelle und dann am FKS
insgesamt 192 junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter ihre Dissertation
erfolgreich verteidigten. Unvergessen ist auch seine Tätigkeit als Mitglied
des Vorstandes im Sportclub DHfK und als Leiter der Sektion Radsport von
1966 bis 1973. Zu den aktiven Athleten gehörten damals Gustav-Adolf Schur,
Bernhard Eckstein, Klaus Ampler, Günther Lux u.a., die nicht nur das Leistungsniveau
in der DDR bestimmten, sondern im Straßenradsport dreimal
den Weltmeistertitel gewannen und mehrere Friedensfahrtsieger stellten. Für
den langjährigen Kapitän der Mannschaft, Gustav-Adolf Schur, war Reinhard
Zimpel nicht nur der Sektionsleiter, sondern Nachbar im Wohnumfeld und
Freund der Familie, eine Freundschaft, die auch mit dem Tod von Reinhard
nicht endete.
62
Nach 1973 übernahm Reinhard Zimpel die Leitung der Sektion Leichtathletik
des SC DHfK. Die Athletinnen und Athleten dieser Sektion errangen
Meistertitel bei Europa- und Weltmeisterschaften und Medaillen bei Olympischen
Spielen, zum Beispiel Margitta Gummel, Ingrid Lotz, Martina Hellmann
und Stefan Junge.
Für seine Tätigkeit hat sich Reinhard Zimpel systematisch und hartnäckig
qualifiziert. Noch während seiner Tätigkeit in der Jugendorganisation in
Leipzig hat er die Parteihochschule besucht und das Studium mit einem
Staatsexamen für Gesellschaftswissenschaften beendet. Sein externes Studium
an der DHfK schloss er 1963 als Diplomsportlehrer ab. Und während
seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am FKS promovierte er mit
Erfolg zu einem zeitgeschichtlichen Thema.
Im Nachruf zum Tod des Leipzigers Fritz Thomas schrieb Klaus Huhn:
„Nun ist Fritz anderen Mitgliedern des `llegalen Gebietskomitees´ gefolgt.“
Seit dem Tod von Fritz Thomas vor acht Jahren tagte und tagt dieses „Komitee“
am historischen Ort im ehemaligen Sportclub DHfK in der Friedrich-
Ebert-Straße. Mit Reinhard Zimpel verabschiedete sich nach kurzer Krankheit
ein weiteres Mitglied aus diesem Kreis als sich sein Leben, ein Leben für die
Jugend und den Sport vollendet hatte.
Prof. Dr. Alfons Lehnert

---

1
39
BEITRÄGE ZUR SPORTGESCHICHTE
7 DAS JUBILÄUM EINER DDR-ERFINDUNG
13 WAS DAS IOC FÜR PLÄNE HAT
22 BONNS FELDZUG GEGEN LEICHTATHLETIK-EM
32 ÜBER DIE MODERNE LAUFBEWEGUNG IN
DEUTSCHLAND
40 DAS FERNSTUDIUM AN DER DHFK
44 DIE „UNTERSCHLAGENEN“ FUSSBALLLÄNDERSPIELE
2
VEREIN FÜR SPORT UND GESELLSCHAFT e. V.
Hasso Hettrich – Triftstr. 34 – 15370 Petershagen
Unkostenbeitrag 3,50 € - Versandkosten 1,50 €
3
ERKLÄRUNG DES VEREINS
Berlin ist Sitz des Vereins „Sport und Gesellschaft“, der vor allem ehemalige
DDR-Sportwissenschaftler und Olympioniken vereint und seit 19 Jahren
zweimal jährlich die Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“ herausgibt.
Auf der Vorstandssitzung am 7. November wurde die folgende Erklärung beschlossen,
die sich mit den Bewerbungen der Städte Berlin und Hamburg für
die Olympischen Sommerspiele 2024 oder 2028 befasst:
„Wann und wo immer von Olympia die Rede ist, geht es um ein Fest des
Friedens! Deshalb engagiert sich der Verein für die Spiele, wo immer sie
stattfinden. Da es jetzt um die Bewerbung einer deutschen Stadt geht, muss
daran erinnert werden, dass es in Deutschland schon manchen Streit gab.
Schon vor 120 Jahren vor den ersten Spielen, als die führenden Sportverbände
eine Teilnahme ablehnten, weil deren „Erfinder“, Pierre de Coubertin,
Franzose war und die seit Sedan in Deutschland politisch verhasst waren.
Die Spiele fanden bekanntlich dennoch 1896 in Athen statt. Die wider den
Willen der Obrigkeit startenden deutschen Athleten wurden damals aus ihren
Verbänden ausgeschlossen. Als der Siegeszug der Spiele nicht mehr aufzuhalten
war, beeilte sich Berlin sich für 1916 zu bewerben, zog dann aber den
Ersten Weltkrieg dem sportlichen Friedensfest vor. 1936 missbrauchte Hitler
die Spiele, um die Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs zu tarnen und ließ
Kommunisten wie Werner Seelenbinder, die das vereiteln wollten, ermorden.
Eine Bewerbung für 2000 scheiterte, wohl auch, weil die Welt fürchtete, ein
neues „Großdeutschland“ könnte als Gastgeber agieren wollen. (Berlin erhielt
von 89 IOC-Mitgliedern 9 Stimmen.)
2014 bewerben sich nun Hamburg und Berlin für 2024 oder 2028 und
noch ehe überhaupt geklärt ist, ob die Spiele an der Spree oder an der Alster
gefeiert werden, haben sich in beiden Städten Komitees gegründet, die dagegen
agieren. Ihr gewichtigstes Argument sind die zu erwartenden Kosten,
was wenig überzeugend ist, weil man allein die nicht unbeträchtlichen Bewerbungsaufwendungen
hätte halbieren können, wenn sich das bundesdeutsche
Olympische Komitee für eine Stadt entschieden hätte. In beiden Städten
wurden Milliarden für dubiose Projekte – Flughafen und Elbphilharmonie –
vergeudet.
Die 1984 in Los Angeles begonnene Kommerzialisierung der Olympischen
Spiele – die Regierung des Gastgeberlandes hatte keine Bürgschaft
übernommen und damit die Spiele der Marktwirtschaft überlassen - führte zu
einer enormen Verteuerung der folgenden Olympischen Feste. Deutschland
stellt zum ersten Mal in den 120 Jahren mit Thomas Bach den Präsidenten
des Internationalen Olympischen Komitees. Er sollte das Erbe des Franzosen
Coubertin durchfechten, in dem er die zunehmende Kommerzialisierung
nachdrücklich reduziert. „Sport und Gesellschaft“ plädiert deshalb für alle Aktivitäten,
die der Fortsetzung der besten Traditionen der olympischen Geschichte
gerecht werden.“
4
FRAGEN AN EINEN ABGEORDNETEN
Sehr geehrter Herr Dr. Hahn
Im Vorstand des Vereins „Sport und Gesellschaft“ las man mit großem
Interesse die Rede, die Sie Anfang November zur Begründung des Antrags
für ein Anti-Doping-Gesetz vor Abgeordneten des Bundestages gehalten hatten.
Unser besonderes Interesse war der Tatsache zuzuschreiben, dass einige
unserer Mitglieder in den sogenannten „Doping-Prozessen“ verurteilt worden
waren und die von uns seit 19 Jahren herausgegebene Zeitschrift „Sport
und Gesellschaft“ das Thema des öfteren behandelt hatte. Der Vorstand kam
schließlich überein, Ihnen diesen Brief zu schreiben, der unseren Standpunkt
darlegt. Es geht uns keinesfalls um einen Briefwechsel und erst recht nicht
um einen Wer-hat-Recht-Disput, sondern um die Mitteilung unserer Haltung
zu einigen Standpunkten ihrer Darlegungen.
Mit Klaus Huhn gehört eines unserer Vorstandsmitglieder zu durchaus
Doping-Kundigen, da er 39 Jahre Directeur des größten Amateur-
Etappenrennens der Welt (Friedensfahrt) war, das als erstes in der Welt ein
rollendes Dopinglabor in Betrieb genommen hatte. Dieses Labor lieferte das
Ergebnis der Befunde der ersten drei im Ziel und fünf am Start ausgeloster
Fahrer. Erst wenn die Ergebnisse der Untersuchungen vorlagen, fand die
abendliche Etappen-Siegerehrung statt. Zudem war es das erste Labor, in
dem jeweils ein Dopingmediziner der drei Veranstalterländer und weitere Mediziner
aus den Teilnehmerländern tätig waren. Nur am Rande soll erwähnt
werden, dass die oberste Sportbehörde der BRD ihrem Radsportverband
mehrmals die Teilnahme an dem Rennen untersagt hatte. Das Motiv für die
Nichtteilnahme war der Name Friedensdahrt.
Sie begannen ihre Rede mit der Feststellung: „Über die Dopingpraktiken
im Leistungssport der DDR ist in den Jahren nach 1990 umfänglich berichtet
worden, und daran, dass es in vielen, insbesondere den olympischen Sportarten
ein organisiertes und politisch gestütztes Doping-System gegeben hat,
gibt es heute keine ernsthaften Zweifel mehr. Dieser Teil der deutschen
Sportgeschichte wurde in den letzten zwei Jahrzehnten sehr intensiv aufgearbeitet
– was notwendig war –, er wurde aber leider häufig auch politisch instrumentalisiert.
Ja, in der DDR wurde gedopt, aber dennoch wurde die
Mehrzahl der sportlichen Erfolge ostdeutscher Athleten – nach allem, was
bisher bekannt ist – nicht mit unlauteren Mitteln erzielt.“
Schon dieser erste Absatz warf zahlreiche Fragen auf.
Wie wir den Biographien der Bundestagsabgeordneten entnahmen,
promovierten Sie zur „Politischen Kultur im letzten Jahr der DDR“ sodass
man erwarten darf, dass Sie auch über die Ereignisse der Nach-DDR-Jahre
exzellent informiert sind. Unsere erste Frage lautet demzufolge, wer denn
über die „Dopingpraktiken im Leistungssport der DDR umfänglich berichtete?“
5
Sie werden einräumen, dass es vor allem Medienautoren waren, deren
Sachkenntnis begrenzt war. Von Fachleuten stammt faktisch ein einziges
Gutachten weltweit respektierter Dopingfachleute. Gemeint sind die Herren
Prof. Dr. med. Lübbert und Prof. Dr. med. Rietbrock, die vom Landgericht
Berlin-Moabit aufgefordert worden waren, eine Expertise (von ihnen am 27.7.
1998 eingereicht) für die Verhandlungen gegen DDR-Trainer und DDRSportfunktionäre.
Wenn Sie konstatieren, dass es angeblich keine „ernsthaften
Zweifel“ am DDR-Doping gab, wollen wir Sie darauf hinweisen, dass dieses
Gutachten vom Gericht ignoriert wurde und der Vorsitzende Richter Bräutigam
auf die Rückseite der Begründung seines Urteils handschriftlich angemerkt
hatte: „Ob Ihre Kritik berechtigt ist, zweifle ich doch an. Es ist für uns
mehr bewiesen, als Sie doch annahmen.“ Eine unseres Wissens ungewöhnliche
Methode, Gutachtern ein ihre Feststellungen nicht berücksichtigendes
Urteil zu „begründen“.
Rietbrock hatte seinen Brief an Richter Bräutigam (28.12.1998) mit den
Worten enden lassen: „Ich habe versucht, die wissenschaftlichen Aspekte
unmissverständlich darzulegen, da im Urteil Feststellungen getroffen wurden,
die teilweise unwissenschaftlich sind und im Widerspruch zu unserem Gutachten
stehen.“ Soviel zum Sachverhalt an sich.
Ihre nächste Feststellung lautete: „Dieser Teil der deutschen Sportgeschichte
wurde in den letzten zwei Jahrzehnten sehr intensiv aufgearbeitet –
was notwendig war –, er wurde aber leider häufig auch politisch instrumentalisiert.“
Auch diese Meinung ist nach unserer Ansicht widersprüchlich, denn: Wer
waren diejenigen, die das „DDR-Doping“ „intensiv aufarbeiteten?“ Sie gaben
die Antwort im gleichen Satz: „leider auch häufig politisch instrumentalisiert.“
Ist Aufarbeitung überhaupt zu akzeptieren, wenn sie „politisch instrumentalisiert“
wurde? Wir fürchten, dass die Antwort nur „Nein“ lauten kann.
Nächster Satz: „Ja, in der DDR wurde gedopt, aber dennoch wurde die
Mehrzahl der sportlichen Erfolge ostdeutscher Athleten – nach allem, was
bisher bekannt ist – nicht mit unlauteren Mitteln erzielt.“
Auch eine nach unserer Ansicht umstrittene Feststellung. Denn: Sollte in
der DDR gedopt worden sein, wären die beachtlichen Leistungen der Athleten
nach den Regeln aller Verbände und auch des Internationalen Olympischen
Komitees „mit unlauteren Mitteln erzielt worden“, denn es existiert keine
Regel, die „lauteres Doping“ zulässt. Bei Internationalen Meisterschaften
und erst recht bei bei Olympischen Spielen wurden gründliche Dopingkontrollen
vorgenommen. Zudem wurden auch unangekündigt Dopingkontrollen in
den Trainingsphasen vorgenommen. Zweimal wurden DDR-Athletinnen des
Dopings überführt: Die Berliner Kugelstoßerin Ilona Slupianek war im Oktober
1977 von der Europäischen Leichtathletikunion wegen Dopings für ein Jahr
gesperrt worden.
Unstrittig dürfte sein, dass in der DDR auf Doping spezialisierte Experten
an Athleten Medikamente vergaben, die nicht auf der Doping-Liste standen
6
aber leistungsfördernd waren. Das klassische Beispiel dafür war der Fall der
Neubrandenburger Sprinterin Katrin Krabbe, deren Trainer ihr das Asthmamittel
Clenbuteol gegeben hatte. Zu diesem Zeitpunkt stand es nachweisbar
nicht auf der Dopingliste. Dennoch wurde sie nachträglich des Dopings beschuldigt
und mit einem Jahr Startsperre bestraft, die später noch um zwei
Jahre verlängert wurde. Katrin Krabbe führte gegen diese also irreguläre
Sperre vor dem Landgericht München zwei Prozesse, gewann beide und die
IAAF musste ihr Schadenersatz in Höhe von 1,2 Millionen DM (rund 700.000
Euro) zahlen. Demzufolge wäre ihr Fall von der Liste der zwei DDRDopingtäterinnen
zu streichen.
Sie fuhren fort: „Gedopt wurde – und auch das wird heute niemand
mehr leugnen – auch in Westdeutschland, wenn auch vielleicht nicht im gleichen
Umfang.“
Erlauben Sie auch zu dieser Formulierung unumgängliche Fragen:
„Was bewog sie zu der sich auf den Umfang beziehenden Behauptung? Hat
irgendjemand den einzigen nachgewiesenen Dopingfall der DDR mit der Zahl
der international nachgewiesenen und belangten Dopingvergehen der BRD
abgeglichen? Wurde zum Beispiel irgendwann in der BRD gefordert, den
Mord – die extrem klingende Vokabel lässt sich belegen – an Birgit Dressel
zu verfolgen? Wikipedia meldet 2014 zu ihrem Tod 1960: `Zur Todesursache
wurde ermittelt, dass Dressel seit 1981 Patientin des Freiburger Sportmediziners
Professor Armin Klümper war und zuletzt in 16 Monaten etwa 400 Spritzen
erhalten hatte. Sie erhielt das Anabolikum Stromba (ein auf der Liste geführtes
Dopingmittel) und nahm am Schluss die Höchstdosis von sechs Tabletten
wöchentlich ein. Im Februar 1987 hatte ihr Klümper 15 verschiedene
Arzneimittel gespritzt, darunter tierische Zellpräparate, die zu Dauerimmunreaktionen
des Körpers führten. Dressel nahm 20 verschiedene Präparate von
drei Ärzten ein.´“
Sie erwähnten auch: „Der heutige Bundesfinanzminister Schäuble soll
laut der früheren ARD-Sendung >Kontraste< schon 1977 zu den damals
längst verbotenen Anabolika geäußert haben: >Wir wollen solche Mittel nur
eingeschränkt und unter ärztlicher Verantwortung einsetzen, weil es offenbar
Disziplinen gibt, in denen heute ohne den Einsatz dieser Mittel der leistungssportliche
Wettbewerb in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden
kann.<´“
Das sagte ein BRD-Minister 1977 und Sie sagen 2014 das in der DDR
intensiver gedopt wurde als in der BRD!
Die anderen Passagen Ihrer Rede kann man nur in jeder Hinsicht und
der Fraktion der Linken dazu gratulieren, dass sie diese Anträge gestellt hat.
Ob das jedoch – der Verdacht ließe sich nicht unterdrücken – nur mit Nachdruck
zu fordern ist, wenn man als eine Art „Alibi“ behauptet, in der DDR sei
intensiver gedopt worden als in der DDR, erschien uns fragwürdig.
7
DAS JUBILÄUM EINER DDR-ERFINDUNG
Erfindungen müssen bei Patentämtern angemeldet werden. Deren
Urkunden tragen Daten. Deshalb vorweg: In dem von mir beschriebenen
Fall könnte Streit aufkommen. Das Datum besagter Urkunde lautet: 26.
September 1955, denn an diesem Tag war die Patenturkunde für
schneelose Sprungschanzen eingetragen worden. Aber schon am 21.
November 1954 erlebten rund 15.000 Zuschauer in Oberhof das erste
echte Mattenspringen der Welt, sodass es mir legitim erschien, diesen
Tag in den „Beiträgen“ gebührend zu feiern. Es war immerhin die Premiere
einer Erfindung, die das Skispringen revolutionierte! In dem 1955 gesiegelten
Dokument ist Hans Renner – am 10. Juli 1970 nur 50jährig
verstorben - als Erfinder eingetragen. Für Ahnungslose: Als Bürger der
Deutschen Demokratischen Republik!
Um nicht verdächtigt zu werden, der DDR unverdienten Lorbeer zukommen
zu lassen, sei betont: Versuche, Schnee auf Sprungschanzen
zu ersetzen begannen schon vor über hundert Jahren. Verlässliche Daten
liegen allerdings kaum vor. Überliefert ist, dass 1905 bei einem Zirkus-
Busch-Gastspiel in den USA norwegische Skispringer auf einer mit
Kokosmatten belegten Anlage gesprungen waren. 1926 präsentierte der
Engländer Ayscough Kunstschnee, auf dem man in London Skiläufe
veranstaltete. 1927 wurde in einer Berliner Sporthalle eine Schanze installiert,
auf der Nachwuchsspringer aus dem Erzgebirge 14 m weit
sprangen.
Der später als Olympiasieger berühmt gewordene Norweger Birger
Ruud sprang 1928 in Schildhorn an der Havel bei Berlin auf einer mit
Tannennadeln belegten Schanze im Sommer 22 Meter weit und in den
30er Jahren soll die Berliner Skimannschaft „Pallas“ in einem Eispalast
auf einer Bürstenschanze beträchtliche Weiten erzielt haben. 1931 – verraten
Armee-Chroniken – habe die französische Fremdenlegion
Sandskier in der Sahara getestet, setzte die nicht sonderlich erfolgreichen
Versuche aber nicht fort. Mitte der 30er Jahre erlebte man ein
Showspringen in einem New Yorker Kaufhaus, dessen Schanze mit Borax
belegt worden sein soll. Verlässliche Chronisten versichern: Ähnliche
Versuche mit Pulver, Gummi, Chips und sogar Mandelschalen, hatten
immer Attraktionen zum Ziel und selten sportlichen Wettstreit.
DIE ERSTE WELTMEISTERSCHAFT MIT DER DDR
1954 fanden im schwedischen Falun – berühmt geworden vor allem
die legendäre schwedische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Selma
Lagerlöf – Skiweltmeisterschaften statt. Die schwedische Regierung
8
scherte sich damals den Teufel um die politische Intervention der Bundesregierung
und lud deshalb auch die DDR ein, obwohl Bonn alle Verbündeten
dringend ersucht hatte, deren Starts zu vermeiden. Es war somit die erste
Weltmeisterschaft, an der die DDR teilnahm, wenn man von der Schachweltmeisterschaft
1949 absieht, zu der Edith Keller-Herrmann nach Moskau
eingeladen worden war.
Man hatte in der DDR keinerlei Erfahrungen mit Welt-Titelkämpfen, formierte
eine Mannschaft mit Langläufern und Springern, doch hielt sich die
Begeisterung der entsandten Aktiven schon nach den ersten Falun-Tagen in
Grenzen. Vor allem die Springer machten aus ihren Hemmungen keinen
Hehl, als sie die Schanze sahen und einige Probesprünge riskierten. Ihr Trainer
Hans Renner, der in der DDR zuweilen selbst noch an Sprungläufen teilnahm,
erzählte oft im kleinen Kreis, dass ihm am Morgen der Entscheidung,
einer der nominierten Aktiven in seinem Zimmer aufgesucht und inständig
gebeten hatte, mit seiner Startnummer teilzunehmen. Der Aktive hatte sich
auf keine Debatte mit dem Trainer eingelassen, sondern unmissverständlich
erklärt: „Ich steige da nicht hinauf“. Andere Aktive eiferten ihm nach, sodass
am Nachmittag nur drei der acht gemeldeten DDR-Aktiven teilnahmen. Als
Bester kam der Thüringer Franz Renner auf den 50. Rang der 69 Teilnehmer.
Harry Glaß´ Gesamtnote belief sich 159,5 Punkte, somit 72,5 Punkte weniger
als der gefeierte finnische Weltmeister Matti Pietikäinen. Theoretisch hätte
man Glaß einen dritten Sprung gestatten müssen, um auch nur in die Nähe
des Weltmeisters kommen zu können.
Auch die übrigen DDR-TeilnehmerInnen waren nicht sonderlich erfolgreich.
Einer von ihnen hatte ein Schwede die in einer Zeitung erschienene
Karikatur zugesteckt, auf der man Kampfrichter sah, die unter dem Zieltransparent
einen Holzstoß aufgeschichtet und in Brand gesetzt hatten, um sich zu
wärmen. Der Mond lächelte mitleidig vom Himmel und ein des Weges kommender
Spazierläufer hatte die Runde gefragt: „Was treibt ihr denn noch
hier?“
Ihre Antwort lautete: „Wir warten auf die ostdeutsche Frauenstaffel!“
Als die Mannschaft in die DDR heimkehrte, blockierte Blockeis die Sassnitzer
Hafeneinfahrt. Stunden brauchte das Fährschiff, um ankern zu können.
Entnervt stieg die Mannschaft die Gangway hinab. In dem Schlafwagen, der
sie zu den Meisterschaften nach Oberhof bringen sollte, waren längst die Briketts
aufgebraucht und nur weil ich auf Bitten des Schlafwagenschaffners, mit
dem ich auf einem Abstellgleis des Fischkombinats „eingeparkt“ war, den
Parteisekretär um einige Schippen bat, konnten wir bei der Ankunft wieder
anheizen.
Hans Renner, mit dem ich seit Wettkämpfen in Klingenthal und Oberhof
befreundet war, lud mich in sein Abteil ein, in dem sich nach und nach auch
andere Trainer einfanden. Einziges Thema der Runde waren die bitteren Tage
von Falun und die in Oberhof zu erwartenden Fragen.
Einer meinte „Es war ein Waterloo!“ Der Schaffner langte tröstend Bier9
flaschen durch die Abteiltür, Verschlüsse sprangen auf, man trank in
langen Zügen.
Ich habe das entscheidende Thema dieser Fahrt bis heute nicht
vergessen und auch nicht, dass Hans Renner es mit seiner These prägte:
„Schnee müssen wir erfinden oder in Zukunft zu Hause bleiben!“
Einer erinnerte sich, dass man es in Oderwitz (Oberlausitz) mit aufgeschütteten
Fichtennadeln versucht und die Skier mit Petroleum eingepinselt
hatte. Der Erfolg war mäßig. Inzwischen hatte man auch weltweit
manches probiert.
Renner ließ sich von seinen Versuchen nicht abbringen und stieß
eines Tages auf PVC-Platten, die sich aber als zu stumpf erwiesen. Verärgert
warf er sie in seinen Garten. Als er morgens, immer noch grollend,
mit der Hand über die Platten fuhr, konstatierte er, dass sie der Morgentau
gleitfähiger hatte werden lassen. Allerdings erwiesen sie sich nun
sogar als zu glatt und das brachte ihn auf die Idee, die Platten zu zerschneiden
und die Streifen am oberen Rand zu befestigen, sodass bürstenartige
Formen entstanden. Das erwies sich als die Lösung: Die Skier
glitten über diese Bürsten, wenn sie zuvor dosiert genässt worden waren.
Hans Renner riet, die Streifen zu Matten zu bündeln. Die sollten im
Schanzenanlauf und auf dem Aufsprunghang überlappend auf Drahtnetzen
befestigt werden.
Damit hatte man einen soliden Plan. Schon der Versuch, ihn umzusetzen,
kostete Geld. Das wurde ihm umgehend bewilligt: 40.000 DM. In
den Betrieben hatte sich längst herumgesprochen, worum es ging. Man
empfing ihn mit offenen Armen. Techniker setzten sich mit ihm an einen
Tisch und begannen den Entwurf umzusetzen.
Am 26. September 1955 ging die Nachricht um die Welt, daß sich
die Springer der Deutschen Demokratischen Republik vom Schnee unabhängig
machen konnten und damit vielleicht einen jahrzehntelangen
Vorteil der Nordländer ausgeglichen hatten.
Doch ein paar hundert Kunststoffmatten machten noch keinen
Olympiasieger.
Hans Renners Plan ging weiter und löste nicht nur Begeisterung
aus. Blieben die Springer in ihren Dörfern und trainierten dort bei ihren
Übungsleitern ließen sich die Erfahrungen der Erfahrensten kaum vermitteln.
Verstreut lebten damals die besten Springer und Läufer im Thüringer
Wald und im Erzgebirge. So forderte nicht nur Renner: Konzentration
der Talente! In anderen Ländern wurde Konzentration durch das
Geld reguliert. In der DDR sollte Überzeugung das Geld ersetzen.
In den Betriebssportgemeinschaften war man anfangs wenig begeistert.
Die Losung „Die Besten in die Klubs!“ überzeugte nur wenige!
Es dauerte bis die Überzeugung sich durchsetzte. Ein entscheidendes
Argument half die Vorbehalte zu überwinden: Bevor die ersten Trainingspläne
geschrieben wurden, kümmerte man sich um die berufliche
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Entwicklung der Aktiven. Verträge wurden mit Betrieben geschlossen, wer
Lust verspürte zu studieren, wurde in den Klubs auf die Aufnahmeprüfungen
vorbereitet. Das erwies sich als überzeugender als Geld!
ENTSCHEIDUNG IN EINER WALDSCHNEISE
Am 12. Januar 1955 fiel weitab von den großen Schanzen und bevölkerten
Kurorten in einer verträumten Waldschneise unweit von Zella-Mehlis der
erste Test, ob man auf dem richtigen Weg war. Auf einem Sprunghügel in
Heinrichsbach trafen die sorgfältig vorbereiteten Springer des neugegründeten
Sportclubs Motor zum ersten mal bei den Kreismeisterschaften auf die
Kandidaten aus den Betriebssportgemeinschaften und Sportgemeinschaften.
Der Triumph war komplett: Werner Lesser schraubte den Schanzenrekord
auf 45 Meter, niemand hätte ihm den Titel des Kreismeisters streitig machen
können. Hinter ihm kam der 17jährige Helmut Recknagel — nach den Wettkampfbestimmungen
noch Angehöriger der Jugendklasse A — mit sechs
Punkten Rückstand auf Rang zwei. Der noch ein Jahr jüngere Adolf Baldauf
wurde Dritter. Erst auf dem sechsten Rang folgte mit Mühlfeld ein Vertreter
der Allgemeinen Klasse aus den Sportgemeinschaften. Man wagte viel und
beschloss, die „Mattenspringer“ für die Skiflugwoche der FIS in Oberstdorf zu
melden.
„Dein Tip?“ Fragte ich damals Renner. Der zauderte keine Sekunde:
„Zwei unter den ersten Zehn!“ Er las den Zweifel in meinem Gesicht. Ich erinnerte
ihn an Falun. Er wiederholte seine Prophezeiung. Und triumphierte:
Harry Glaß kam auf den fünften Platz, Werner Lesser wurde zehnter. Auf
dem Kampfrichterturm fragte ein älterer Herr mit schneeweißem Haar nach
dem Trainer der DDR-Springer. Er schüttelte Renner die Hand: „Ich möchte
Ihnen gratulieren, Sie haben großartige Springer“. Es war der Norweger Sigmund
Ruud aus der berühmtesten Skispringerfamilie der Welt. Und er gratulierte
nicht nur: „Ich möchte Ihre beiden Jungen zum Holmenkollen einladen,
vielleicht lässt es sich trotz der Kürze der Zeit noch einrichten.“
Eine Einladung zum Holmenkollen? In diesem Augenblick wusste Hans
Renner, dass er auf dem richtigen Weg war: „Kunst“schnee und die Konzentration
der Talente! Der Ausklang der Saison fand auf der Krokiewschanze in
Zakopane statt. Harry Glaß belegte gemeinsam mit dem Finnen Pentti hinter
dem Österreicher Steinegger den zweiten Platz und dem Trio folgte Werner
Lesser! Die DDR war „über Nacht“ in die Weltelite der Skispringer aufgerückt.
MEHRHEIT IN PARIS
1955 traf sich das Internationale Olympische Komitee an traditionsreicher
Stätte, in Paris nämlich wo der französischen Humanist Baron Pierre de
Coubertin 1894 der Welt vorgeschlagen hatte, dem Beispiel der Antike folgend,
moderne Olympische Spiele zu veranstalten. 1924 folgten den inzwi11
schen erfolgreichen Sommerspielen zum ersten Mal Winterspiele. Nun empfahl
der Präsident des Komitees, der US-amerikanische Millionär, Avery
Brundage, auch die Aktiven der DDR teilnehmen zu lassen, was ihm erbosten
Widerspruch der BRD eintrug. Deren Politik basierte auf der These, dass
die BRD allein die Deutschen in der Welt vertrete. Brundage hatte diese Haltung
lange akzeptiert, aber – auch da selbst 1912 Olympiateilnehmer – eines
Tages diese Politik nicht mehr hinnehmen wollen, nicht zuletzt auch beeindruckt
von den sportlichen Leistungen der DDR-Athleten. Er war überzeugt,
eine auch den bundesdeutschen Ansprüchen rechtfertigende Lösung gefunden
zu haben: Die Aktiven beider deutscher Staaten starten in einer Mannschaft!
Eine Variante, die er für alle Seiten für akzeptabel hielt, da die Bundesrepublik
ja ständig ein Gesamtdeutschland forderte. Er erfuhr schon am
Tag vor der Abstimmung, dass die BRD dagegen votieren würde, was er sich
nicht erklären konnte. Auch die heute in der BRD wirkenden Sporthistoriker
übergehen diese Abstimmungshaltung mit Vorliebe, wohingegen bei Brundage
erste Zweifel aufkamen.
Das mag ihn bewogen haben, vor der Abstimmung für die Anerkennung
der DDR zu plädieren. Als die Stimmen ausgezählt wurden, kam keine Handvoll
Gegenstimmen zusammen. Der Präsident des bundesdeutschen NOK,
Ritter von Halt, machte kein Hehl daraus, dass seine darunter war. Und er
unternahm auch einiges, um die DDR doch noch von Olympia fernzuhalten.
So setzte er durch, dass nicht die Trainer aus Ost und West sich einigten,
wer für die Cortina-Mannschaft nominiert wird, sondern sorgte dafür, dass die
Vierschanzentournee den Ausschlag gab. Aber auch das half wenig: Harry
Glaß und Werner Lesser qualifizierten sich!
AUF NACH CORTINA
Also reisten die beiden zusammen mit Eisschnellläufern und Skilangläufern
gemeinsam nach Cortina und mussten warteten bis zum letzten Tag. Alle
hatten noch in Erinnerung: In Falun 1954 hatte Harry Glaß den 64. von 69
Plätzen belegt.
Die Entscheidung begann. Werner Lesser landete bei 77,5 Metern und
erhielt von den Kampfrichtern beachtliche 54 Haltungsnoten. Er konnte zufrieden
sein, hatte allein vier Finnen und Norweger hinter sich gelassen. Dann
Harry Glaß: Ein glanzvoller Flug, der ihn hinuntertrug bis zu der Position, wo
der letzte Weitenmesser stand. „83,5 Meter“ telefonierte der zum Kampfrichterturm.
Dazu zweimal die Haltungsnote 18,5 und einmal die Note 18,
dann die 60 Punkte für die größte Weite – das ergab 115 Punkte und die erreichte
niemand sonst, denn der Finne Aulis Kallakorpi war zwar auch bei
83,5 m gelandet, hatte aber einen halben Haltungspunkt weniger bekommen.
Der Mann, den Bonn eigens nach Cortina geschickt hatte, um irgendwie zu
verhindern, das die DDR-Hymne gespielt würde, war dem Nervenzusammenbruch
nahe.
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Nun lag Glaß nach dem ersten Durchgang an der Spitze der Weltelite!
Alle fieberten dem zweiten Sprung entgegen, Harry wartete sehnsüchtig,
dass die Startnummer „46“ aufgerufen würde. Aber nicht nur er wartete darauf.
Natürlich Hans Renner, die Journalisten auf der Pressetribüne, die
knapp 20.000 Zuschauer und vor allem Millionen daheim in der Deutschen
Demokratischen Republik, die an den Lautsprechern hockten oder die wenigen
Fernsehschirme umlagerten. Vor allem im Erzgebirge saßen sie vor den
Häusern, hatten die Radios in die Fenster gerückt, und in den Lokalen wagten
sie kaum ein Bier zu bestellen, so sehr fürchteten sie, es könnte ihnen
etwas entgehen. Alle dort waren stolz auf „ihren“ Harry, der einer der ihren
war, einer der mit ihnen früher unter Tage erzführendes Gestein gesprengt
hatte und dem sie nun die Daumen drückten, weil er den Ruhm ihres Ortes in
die Welt trug und auch den Ruhm der DDR.
Harry ging unter den Bäumen am Schanzenturm auf und ab. Er wollte
die Erregung abschütteln und konnte es nicht. Er starrte zum Turm hinauf,
sah seine Rivalen hinunterspringen und kämpfte mit seinen Nerven.
„Werner Lesser“ dröhnte es aus den Lautsprechern, und er reckte den
Kopf Der Freund kam die steil abfallende Betonbahn hinunter, schwang sich
genau ab und verschwand dann hinter den Köpfen der Zuschauer. „77,5 Meter“
hallte es in allen Sprachen herauf „Nun hat er es hinter sich“, ging es ihm
durch den Kopf und er sah ihn im Geist vor sich, wie er im Auslauf die Bindungen
lockerte und zur Seite trat, dorthin, wo die anderen standen. Gemeinsam
mit dem Blondschopf aus Brotterode hatte er in den letzten Monaten
viele denkwürdige Erfolge errungen, ihre Namen waren um die Welt gegangen,
waren zum Begriff geworden und hatten die Skiwelt aufhorchen lassen.
Aus den Verlachten von Falun waren Favoriten Rivalen geworden. Der
nächste wurde angesagt: „Antti Hyvärinen“. Harrys geübtes Auge sah, wie
genau der Finne den Absprung erwischt hatte.
„84 Meter“. Harry kannte die italienischen Zahlen gut genug, wusste
schon bei der ersten Silbe, dass damit eine wichtige Entscheidung gefallen
war, denn nach dem ersten Durchgang hatten sie den Anlauf verkürzt. Die
stille Hoffnung auf das olympische Gold schien ihm in endlose Ferne entrückt.
Das kostete Nerven. Er kam bis auf 80,5 m, aber die Addition der Haltungsnoten
ergab nur 56,5 Punkte und das waren zu wenig für Gold!
Aber bei der Siegerehrung wurde zum ersten Mal die Flagge der DDR
gehisst und das Land jubelte: Nur zwei Finnen, die alles auf eine Karte gesetzt
hatten vor ihm, aber alle Norweger, Schweden, Österreicher, Schweizer
hinter ihm!
Und deshalb galt es den 60. Jahrestag dieses Triumphes zu feiern!
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WAS DAS IOC FÜR PLÄNE HAT…
In Monaco traf sich unlängst das Internationale Olympische Komitee und
obwohl die diesjährige Tagung des Internationalen Olympischen Komitees
schon im Februar in Sotschi stattgefunden hatte, berief der IOC-Präsident
Thomas Bach (BRD) die Mitglieder zu einer Tagung Anfang Dezember nach
Monaco. Er versicherte, triftige Gründe zu haben.
Eine renommierte deutsche Sportnachrichtenagentur kündigte die außerplanmäßige
Tagung folgendermaßen an: „Thomas Bach, Präsident des
Internationalen Olympischen Komitees, will die größten Veränderungen in der
jüngeren Geschichte der olympischen Bewegung vornehmen und braucht dafür
die Mehrheit des IOC. Von Freitag (5.12.2014) an trifft sich die Exekutive
des Weltverbandes im Grimaldi-Forum von Monaco zu Vorgesprächen. Montag
und Dienstag stimmen dann 115 IOC-Mitglieder auf ihrer Session im
Kongresszentrum des Fürstentums über die Aufnahme der Agenda-Punkte
ab. Klar ist: Die dramatisch gesunkene Anzahl von Bewerbern für die Ausrichtung
von Olympischen Winterspielen hat zuletzt verdeutlicht, dass ein
`Weiter so´ nicht möglich ist. Der Gigantismus der 50-Milliarden-Dollar-Spiele
von Sotschi war noch einmal Wasser auf die Mühlen der Kritiker. Bach kommentierte
die Situation so: `Jetzt ist die Zeit da für den Wechsel.´
Vor zwei Wochen präsentierte Thomas Bach die 40 Verbesserungsvorschläge
seines Programms. Die wohl wichtigsten Änderungen betreffen das
Bewerber-Verfahren. Olympia soll billiger werden und sich den Bedürfnissen
der Stadt anpassen. Teure Präsentationen werden reduziert, Reisekosten
übernommen.
Das IOC stellt den derzeit 50 Millionen Euro teuren Bewerbungen einen
`signifikanten finanziellen Beitrag´ in Aussicht. Zudem wird der Vertrag mit
der Ausrichterstadt (Host City Contract) öffentlich gemacht. `Die Vorschläge
der Olympischen Agenda 2020 sind so gestaltet, dass der Bewerber-Prozess
auf einen positiven Weg geführt werden kann´, sagte Norwegens Wintersport-
Legende und IOC-Mitglied Ole Einar Björndalen über die Reform.
Weniger Gigantismus soll auch in Bezug auf die Teilnehmerzahl erreicht
werden. Die Obergrenze bei Sommerspielen wurde auf 10.500 Athleten festgelegt.
Die Zahl der Entscheidungen soll 310 nicht überschreiten. Diskriminierungen
von Athleten und Olympia-Teilnehmern wegen ihrer sexuellen Neigungen,
die vor allem im Vorfeld der Winterspiele in Sotschi zum Thema geworden
waren, sollen laut Bach bald der Vergangenheit angehören.
Von großer Bedeutung ist die Agenda für den Deutschen Olympischen
Sportbund (DOSB), der sich mit Hamburg oder Berlin für Olympische Sommerspiele
2024 bewerben will.“ Beenden wir hier das Agenturzitat, denn
Bachs Vorstellungen galten künftigen Spielen und nicht den Aussichten der
Kandidaten.
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Da die Redaktion der „Beiträge“ in der Regel selten aktuelle Themen mit
eigenen Bemerkungen kommentiert, sei als erstes darauf verwiesen, dass die
Olympischen Spiele eine immerhin rund 120jährige Geschichte hinter sich
haben, in der sich verständlicherweise vieles veränderte. Ein einziger Hinweis
zu diesem Thema: 1896 war an die Teilnahme von Frauen nicht zu denken!
Um den historischen Weg der Spiele mit einem frühen Beispiel zu illustrieren,
sei hier der Begründer, Baron Pierre de Coubertin zitiert, der wohl
1910 ähnliches im Sinn hatte, wie Bach 2014, und ein „neuzeitliches Olympia“
gefordert hatte:
„...Im neuen Olympia müssen zwangsläufig zahlreiche Gebäude vorhanden
sein, wie aus unserer Untersuchung über eine mögliche Organisationsform
hervorgehen wird. Häufig werden diese Gebäude durch ihre Zweckbestimmung
miteinander in Verbindung stehen. Es wäre wirklich von Nachteil,
wären sie räumlich zu weit getrennt. Und darüber hinaus würde auch die
Schönheit der Anlage leiden, weil es unmöglich wäre, in einem Blick alles zusammen
zu erfassen. Der große Künstler Bartholdi pflegte zu sagen, die Silhouette
eines Bauwerks müsse genügen, bereits von weitem seinen Zweck
erkennen zu lassen. Das sagt man so hin. Es steht aber doch fest, dass das
neue Olympia nicht aus einzelnen Bauten bestehen darf, die verstreut in einem
Kurpark liegen ...
Nun ja! Die Lösung ist zweifellos schwierig. Denn seit fünfzig Jahren haben
wir massenweise Kasinohäuser und Krankenhäuser gebaut oder bauen
sehen, aber weder unsere Generation noch eine der unmittelbar voraufgehenden
haben jemals vor etwas gestanden, das von nahem oder von weitem
einem Olympia geglichen hätte. Und wenn damit das Problem auch nur um
so schwerer lösbar wird, gewinnt es damit nicht auch an Interesse?...
III. PROGRAMM FÜR DIE SPIELE
Als im Jahre 1894 die Olympischen Spiele wieder eingeführt wurden,
vereinbarte man ausdrücklich, dass sie weitestmöglich alle in der heutigen
Welt praktizierten Formen körperlicher Übung einbeziehen sollten. Diesem
Wunsch wurde bei den Spielen der IV. Olympiade 1908 in London voll entsprochen.
Hinsichtlich der Zahl der abgewickelten Wettkämpfe wird das Programm
der Spiele in London sicherlich nie übertroffen werden… Wie dem
auch sei, wir werden uns davon leiten lassen, um die Liste der Sportarten
aufzustellen, für die das neue Olympia eine Heimstatt sein sollte, wobei einzelne
Wünsche, die das Internationale Komitee äußern, oder gewisse Entscheidungen,
die es treffen wird, stets Berücksichtigung finden werden: beispielsweise
die Streichung des Bahnradsports, (womit gleichzeitig die Radrennbahn1)
von der Liste der zu planenden Baulichkeiten gestrichen wird.
Es bleiben stets fünf große Abteilungen, aus denen sich die Architekten
ihre Anregungen holen müssen: turnerische und leichtathletische Sportarten,
Kampfsportarten, Wassersport, Reiten und schließlich Sportspiele.
Der modernen Industrie ist es gelungen, Kunsteis herzustellen, es ist
aber wenig sinnvoll, auf den Zeitpunkt zu warten, da es durch eine perfektio15
nierte Chemie auf bergigen Hängen haltbaren Dauerschnee geben wird.
Folglich ist der Eislauf der einzige der drei großen Wintersportarten, der im
äußersten Falle noch in der olympischen Arena Platz hätte. Der Aufwand wäre
enorm hoch, Länge und Breite der Bahn dagegen zwangsläufig begrenzt.
Bleiben wir lieber dabei, diese besonderen Sportarten an anderer Stelle im
Winter als Nordische Spiele zusammenzufassen…
IV. TEILNAHMEBERECHTIGTE
Wie viele Sportler werden im neuen Olympia an den Spielen teilnehmen?
Die Frage gilt den Teilnehmern am Architekturwettbewerb, um die sie
sich mit Recht Gedanken machen müssen. Die Anzahl der Sportler und die
Anzahl der Zuschauer sind zwei ganz wesentliche Angaben. Davon hängen
die Größenverhältnisse der neuen Stadt ab… Bei den Athleten erhebt sich
vorab ein Problem: die Qualifizierung. Es ist klar, daß zu den Olympischen
Spielen nicht all und jeder Zutritt haben kann, in einer Zeit, da bei der weltweiten
Popularität des Sports eine solche Gastfreundschaft schließlich leicht
zu mehr als zehntausend Meldungen führen und damit wirklich endlose Ausscheidungskämpfe
notwendig machen würde ...
Das Problem der Qualifizierung hat mehrere Aspekte. Es kann technischer,
ethnischer, sozialer und moralischer Natur sein. Bei den Griechen sah
das anders aus ...
Bis jetzt haben die Nationalen Olympischen Komitees, die in jedem Land
im Hinblick auf die Spiele gebildet worden sind, die Ausscheidungskämpfe
durchgeführt oder, noch einfacher, die Sportler unter denen ausgesucht, die
die Möglichkeit hatten, die Reise anzutreten, und die würdig waren, ihr Land
zu vertreten, sowie das Können besaßen, wenn schon keine Siege zu erringen,
so doch sich ehrenvoll zu platzieren...
Welche Wege man am Ende zur technisch-sportlichen Qualifizierung
auch beschreitet, es wird immer notwendig sein, die Zahl der Teilnehmer auf
soundsoviel Sportler pro Land und Sportart zu beschränken. Und zweifellos
wird die solcherart festgelegte maximale Teilnehmerzahl nur selten erreicht
werden; denn wenn auch die Länder mit beträchtlichen Quellen an Aktiven
und an Geld in der Lage sein werden, alle ihnen zu Gebote stehenden Vorteile
zu nutzen, so werden die weniger wohlhabenden Länder im allgemeinen
nur ein paar wirklich chancenreiche Sportler delegieren ...
V. ZUSCHAUER
... Es ist zur Gewohnheit geworden, den Erfolg einer Festveranstaltung
nach der Zahl der Anwesenden zu beurteilen. Je größer die Menge, um so
größer die Freude, sagt der Bauer. Wollte man diesen rauhen Grundsatz in
Permanenz und definitiv auf die Olympischen Spiele anwenden, würden wir
den schwersten aller Irrtümer begehen...
Bei dem Tempo, das die Entwicklung genommen hat, kann man die Zeit
bereits absehen, da ein Sättigungspunkt in Sportveranstaltungen erreicht ist,
da sie nicht mehr Mode sind und da das Interesse der Nichtsportler verlorengeht.
Dann kann es passieren, daß der Appell an die Massen mit Plakaten,
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Reklame usw. nicht zum Ziel führt ...
…Es gibt eine Kategorie von Menschen, die um so mehr Interesse an
einer Veranstaltung finden, je höher der Eintrittspreis ist. Diese Kategorie gab
es früher schon in Athen. Heute finden wir sie überall dort, wo die Zivilisation
ein wenig vorangekommen ist.
Aber würden wir über dieses Thema sprechen, kämen wir von unserem
eigentlichen Anliegen ab. Das Problem `Gewinn und Verlust´ gehört nicht in
die Kompetenz der Architekten, die vor der Aufgabe stehen, für die modernen
Olympiaden einen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft würdigen Rahmen
zu schaffen. Wir kamen ja auch nur darauf, um schließlich einen Näherungswert
für Zuschauerzahlen zu ermitteln. Nun, wir werden einen Durchschnitt
von zehntausend in Vorschlag bringen. Wir sind weit entfernt von den 70.000
oder 80.000 Zuschauern, die in den Stadien von Athen oder London eingepfercht
waren...
VI. FEIERLICHKEITEN
Das Kapitel der `Zeremonien´ - jeder wird das begreifen - ist eines der
wichtigsten, das es in Regeln zu fassen gilt. Gerade hier soll sich ja die
Olympiade von einer einfachen Serie Weltmeisterschaften unterscheiden. Sie
bedingt eine Feierlichkeit und ein Zeremoniell, die ohne das Ansehen, das
sich aus ihrer Würde herleitet, nicht am Platze wären.
Und dann gilt es auch, unnützes Gepränge zu vermeiden und strikt die
Grenzen des guten Geschmacks und des Maßhaltens zu wahren .
In Olympia kam man zusammen, um in die Vergangenheit zu pilgern und
gleichzeitig auch ein Glaubensbekenntnis an die Zukunft abzulegen. Und
das würde den erneuerten Olympiaden wirklich auch gut anstehen. Ihre Aufgabe
und ihr Auftrag sind es, das, was war, und das, was sein wird, über die
schwindende Zeit hinweg zusammenzuführen. Sie sind im wahrsten Sinne
des Wortes die Feste der Jugend, der Schönheit und der Kraft. Hier müssen
wir also das Geheimnis der Zeremonien suchen, die wir einführen wollen . . .
Bei den letzten Olympiaden wurde die Eröffnung der Spiele mit einem
recht angemessenen Bemühen um Feierlichkeit verkündet. Wir sagen: Bemühen,
denn die Anwesenheit der Monarchen oder Staatsoberhäupter, die
1896, 1904 und 1908 die feierlichen Worte sprachen, genügte nicht, dem Ereignis
die Bedeutung zu verleihen, die ihm gebührt hätte.
…Die Preisverteilung ging bislang in höchst schäbiger und gewöhnlicher
Form vor sich. Die Preisträger erschienen im Straßenanzug, ohne Ordnung
und ohne den geringsten Sinn für das Ästhetische. London brachte da etwas
Neues. Die Mehrzahl der jungen Leute erschien in ihrer entsprechenden
Sportkleidung, und dieser einfache Fakt genügte bereits, die feierliche Handlung
in ihrem Äußeren völlig zu verändern. Aber 1908 vergaß man die Musik
zu den Spielen vom Anfang bis zum Schluß; man beschränkte sich völlig auf
Blechmusik und auf die alten Platten der Gesangvereine. Gewaltige Chorgruppen,
im Wechsel mit entferntem Trompetenspiel, bilden recht eigentlich
die Grundlage olympischer Symphonien, die die Musiker der Zukunft zwei17
felsohne komponieren wollen und werden ...
Wer das heute liest, wird zugeben, dass manche Forderung Coubertins
antiquarisch klingt, aber eben den Weg der Spiele markiert.
Die Veränderung, die Coubertin aus dem Grab getrieben hätte, fällt in
das Jahr 1984 und soll hier dokumentarlos locker beschrieben werden.
Bei den Olympischen Spielen 1972 war der Grieche Lord Killanin dem
US-Amerikaner Avery Brundage als IOC-Präsident gefolgt. Brundage – ein
aus ärmlichen Verhältnissen aufgestiegener US-amerikanischer Baulöwe und
Millionär, der bei den Spielen 1912 im Leichtathletik-Fünfkampf den sechsten
Platz belegt hatte -, sicherte die Spiele vor dem entscheidenden Schritt zur
Kommerzialisierung und riskierte dabei eine olympische Katastrophe. Österreichs
berühmtester Skirennläufer Karl Schranz hatte in seinem Leben vier
Chancen vergeben, neben all seinen Weltmeistertiteln beim vierten Anlauf
endlich eine olympische Goldmedaille zu erringen. 1960 hatte er einen unerlaubten
Ausflug nach Las Vegas unternommen und war von seiner Mannschaft
gesperrt worden, vier Jahre später zwang ihn eine Erkältung ins Bett,
1968 lief ihm in Grenoble ein Polizist über die Piste und nun hoffte ganz Österreich,
dass seine Pechsträhne in Sapporo zu Ende gehen würde. Die folgenden
Zeilen schrieb ich unverbindlich, denn nie wurden die Hintergründe
restlos aufgeklärt. Der Fabrikant seiner Skier nutzte die Stimmung im Land
und betrieb ausgiebige Werbung mit Schranz, wohl wissend, dass dies nach
den damals geltenden Regeln zu seiner Disqualifikation führen musste. Da er
durchaus nicht sicher sein konnte, dass Schranz die Goldmedaille holen würde,
nahm er die Konsequenzen in Kauf, weil eine Sperre für weit mehr Werbung
sorgen würde, als ein Platz hinter dem Olympiasieger. Brundage ahnte,
was auf ihn zukommen würde, denn eine Mannschaft, die einen Nicht-
Amateur für die Spiele meldete, musste damit rechnen, von den Spielen ausgeschlossen
zu werden. Da sich Frankreich in diesem Fall mit den Österreichern
solidarisch erklärt hatte, drohten die Spiele ohne Favoriten stattzufinden
und damit zu scheitern. Viele Mitglieder des IOC rieten Brundage, einen
Kompromiss zu schließen und Schranz starten zu lassen, aber der berief sich
auf die Regeln und wollte um jeden Preis die Kommerzialisierung der Spiele
verhindern. Schranz wurde also gesperrt. Sein Skifabrikant engagierte Anwälte,
die Schranz-Erklärungen formulierten. Zum Beispiel: „Ich bin für Olympische
Winterspiele, Arme und Reiche, Profis und Amateure, Schwarze und
Weiße starten dürfen. Sie müssen für alle offen sein.“
Als das IOC zu seiner entscheidenden Sitzung zusammentrat, spielte
Brundage seinen letzten Trumpf aus: Eine Anzeige, in der Schranz für eine
Kaffee-Firma geworben hatte. 14 IOC-Mitglieder stimmten dennoch für ihn,
aber 28 votierten für seinen Ausschluss von den Spielen! Die Mannschaft war
offiziell ausgeschlossen worden, erhielt aber die Erlaubnis zu starten.
Als Schranz mit seinem Skifabrikanten in Wien landete, feierten ihn
Zehntausende. Brundage aber konnte sich rühmen, die olympischen Prinzipien
bewahrt zu haben.
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Bei der IOC-Tagung im Sommer kandidierte Brundage nicht mehr, sein
Nachfolger Killanin wahrte die Traditionen. Als der US-amerikanische Außenminister
bei der Eröffnung der IOC-Sitzung zu den Winterspielen in Lake
Placid (1980) die Mitglieder aufforderte, die Sommerspiele in Moskau (1980)
zu boykottieren, erklärte Killanin: „Und wenn niemand von ihnen in Moskau
sein sollte – ich werde da sein!“ So bewahrte auch er die Olympischen Traditionen.
Vier Jahre später in Los Angeles war der Spanier Samaranch IOCPräsident
und der gestattete dem Organisator der Spiele auf die seit 1896
geltende Verpflichtung der Gastgeberländer, notfalls alle Unkosten zu übernehmen,
zu verzichten. Damit war dem Kommerz bei Olympia Tür und Tor
geöffnet. Die Folgen blieben nicht aus. Wer sich Olympische Spielen leisten
konnte, bewarb sich und wer von ihnen über unbeschränkte Mittel verfügte,
konnte sicher sein, bei der zur Versteigerung verkommenen Vergabe erfolgreich
zu sein.
Und dann wurde Thomas Bach, ein Bundesdeutscher, zum IOCPräsidenten
gewählt und plädierte – ein verdienstvoller Schritt – für eine Reform
der Spiele, der sich auch den Kosten widmete. Er ging mit 40 Reformvorschlägen
an die Öffentlichkeit, denen das IOC im Dezember zustimmte.
Zusammengefasst ließen sich seine Vorschläge so lesen:
BEWERBUNG UM OLYMPISCHE SPIELE
- Insgesamt Anpassung des IOC an die Gegebenheiten eines Bewerbers
durch Reduzierung von Anforderungen, dadurch geringere Kosten und größere
Nachhaltigkeit.
- Maximale Nutzung bestehender und vermehrter Rückgriff auf temporäre
Anlagen.
- Ausrichtung von Vorrundenwettkämpfen auch außerhalb der Ausrichterstadt,
bei Sportarten und Disziplinen in Ausnahmefällen aus Gründen der Geografie
und der Nachhaltigkeit auch außerhalb des Ausrichter-Landes.
- Mehr Transparenz durch Veröffentlichung des Ausrichtervertrags durch
das IOC, einschließlich der Zahlungen an den Olympiaorganisator.
- Strikte Trennung zwischen Etats für die Durchführung der Spiele und Investitionen
in die langfristige Entwicklung einer Stadtinfrastruktur und genaue
Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Mitteln.
- Kritischere Bewertung der Evaluierungskommission als bisher im abschließenden
Report an die IOC-Mitglieder. Er soll mehr Risikobericht sein
und zu einer besseren Unterscheidbarkeit der Kandidaten führen.
- Bei der Bewerbung Kostenreduzierung durch die Begrenzung auf nur
noch vier Präsentationen: vor den IOC-Mitgliedern, den beteiligten internationalen
Verbänden, der Vollversammlung der NOKs und der entscheidenden IOCSession.
Das IOC will die Nachhaltigkeit zu einem Gebot für den gesamten
olympischen Sport machen und dabei Standards setzen. Dazu gehört die Bildung
einer Kommission Umwelt/Nachhaltigkeit und eine Kooperation mit der
UNO-Umweltorganisation UNEP.
- In die fundamentalen Prinzipien der IOC-Charta soll als Reaktion auf
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die Winterspiele im russischen Sotschi das Verbot auf sexuelle Diskriminierung
hinzugefügt werden.
PROGRAMM OLYMPISCHER SPIELE
- Größere Flexibilität durch ein Programm, dessen Umfang nicht
über Sportarten (bisher maximal 28 im Sommer, sieben im Winter), sondern
über die Anzahl der Disziplinen bestimmt wird. Festschreibung der Wettkämpfe
im Sommer auf 310 (bisher 302) und die Beibehaltung der Gesamtzahl
der Athleten auf maximal 10 500; bei Winterspielen maximal 100 Wettkämpfe
(zuletzt 98) und 2900 Athleten (zuletzt 2841).
- Das IOC räumt der Olympiastadt das Recht ein, für ihre Heimspiele
einen Wettbewerb oder sogar Sportarten vorzuschlagen, die — abhängig
vom IOC-Votum — dann ins Programm aufgenommen
SCHUTZ SAUBERER ATHLETEN
- Jeweils 10 Millionen Dollar für die Entwicklung neuer wissenschaftlicher
Nachweismethoden von Doping und den zu verstärkenden Kampf gegen
Wettbetrug und Korruption.
TRANSPARENZ
- Darstellung der Finanzen des IOC durch IFRS (Internationale Rechnungslegungsvorschriften
für Unternehmen). Veröffentlichung eines jährlichen
Aktivitäts- und Finanzberichts einschließlich der Zuwendungen für IOCMitglieder.
OLYMPISCHER FERNSEHKANAL
- Schaffung eines globalen digitalen TV-Senders („Die Heimat des
olympischen Sports“) als Plattform, um den olympischen Sport zwischen den
Spielen zu promoten. Das IOC ist Finanzier und Organisator über sein Tochterunternehmen
OBS, das bei Olympischen Spielen als sogenannter Host
Broadcaster das Hauptsendesignal für alle TV-Stationen mit Senderechten
liefert.
OLYMPISCHE JUGENDSPIELE
- Überprüfung der erstmals 2010 in Singapur und 2012 in Innsbruck abgehaltenen
Wettkämpfe für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren durch eine
Kommission mit Sportverbänden und NOKs. Verschiebung der Jugendspiele
auf nichtolympische Jahre erstmals 2023 statt 2022. dpa/nd
DIE FRAGEN DER FAZ
In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (NET) beantwortete
Bach Fragen von Evi Simeoni zu seinen Vorschlägen:
Sie haben Ihre 40 Empfehlungen an die IOC-Vollversammlung öffentlich
gemacht, mit der Sie Ihre Organisation fit für die Zukunft machen wollen.
Welche Reform ist die wichtigste?
Man darf nicht einen Punkt herausgreifen. Diese gesamte Agenda ist wie
ein Puzzle. Sie haben 40 Einzelstücke, aber die müssen zusammen ein Bild
ergeben. Das Bild, die Vision dahinter ist ein IOC, das die Einzigartigkeit der
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Olympischen Spiele sichert und den Sport in der Gesellschaft stärkt. Wie das
bei einem Puzzle so ist - wenn man eines rausnimmt, stimmt das Bild nicht
mehr. Deswegen sind sie alle wichtig.
Eines der Puzzleteile betrifft eventuell auch Deutschland mit seiner möglichen
Bewerbung für Sommerspiele 2024. In Zukunft sollen olympische
Gastgeber Entscheidungen in eine andere Stadt oder gar ein anderes Land
auslagern können, um Kosten zu sparen oder der Nachhaltigkeit nachzukommen.
Eine Doppelbewerbung haben Hamburg und Berlin zwar ausgeschlossen.
Aber auch Sie könnten auf diese Weise vernünftiger wirtschaften.
Ich werde nicht auf die Bewerbung aus einem einzelnen Land eingehen.
Die Idee hinter dieser Öffnung ist, dass wir durch mehr Flexibilität mehr Vielfalt
erzeugen wollen. Damit wird auch Ländern oder Städten, die bisher nicht
in der Lage waren, Olympische Spiele zu organisieren, weil das Korsett der
Anforderungen ihnen zu eng war, erlaubt, sich zu bewerben. Auf der anderen
Seite aber, das muss man auch sehen, muss das Prinzip der Olympischen
Spiele erhalten bleiben. Es macht die Einzigartigkeit aus, dass die Athleten
aus allen 205 Nationalen Olympischen Komitees und aus allen Sportarten an
einem Ort zusammen treffen. Das muss gewahrt bleiben. Das heißt, die Flexibilität
darf nicht den Olympic Spirit zunichtemachen. Dass wir die Auslagerung
einzelner Vorkämpfe oder Sportarten genehmigen würden, wäre aber
auch an eine Voraussetzung gebunden: Es wäre eine Begründung nötig, die
mit Fragen der Nachhaltigkeit, des späteren Nutzung oder der Geographie zu
tun haben.
Wie sähe das konkret aus? Eine Rodelbahn in einem anderen Land?
Oder ein Anlage für Kanuslalom?
Ich will nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun und werde Ihnen nur
allgemeine Beispiele nennen. Lösungen wie wir sie jetzt beispielsweise im
Segeln haben, das aus geographischen Gründen außerhalb der Stadt stattfinden
kann. Oder dass eine potentielle Kandidatenstadt sagt, wir würden
gerne Vorrundenspiele in bestimmten Sportarten in einer anderen Stadt veranstalten,
weil wir für den Bau einer neuen Sportstätte keine Nachnutzung
haben. Im Fußball gab es das zum Beispiel. Das würde auch möglich für andere
Sportarten. Oder man könnte auch sagen, aus Gründen der Nachhaltigkeit
muss man eine ganze Sportart auslagern.
Wie wollen Sie dann ausschließen, dass bestimmte Athleten den Olympischen
Geist nur noch durch Fernwirkung erleben?
Nach den Wettkämpfen müssen die Athleten die Möglichkeit haben, ihre
olympische Erfahrung zu machen. Sie kommen noch ins Dorf. Um sicherzustellen,
dass die Interessen der Athleten im Mittelpunkt bleiben, werden wir in
den Evaluierungskriterien ein neues Thema einführen, das heißt `Athletes
Experience´. Der Kandidat muss uns immer sagen, welche Auswirkung hat
eine Entscheidung für eine vorübergehende oder ganze Auslagerung von
Wettkämpfen für die Athleten.
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Gespannt werden auch die Programmänderungen verfolgt. Was genau
wird kommen? Welche Verbände können sich warm anziehen - oder aufatmen?
Konkrete Fragen kann man jetzt noch nicht beantworten. Es geht darum,
und darin besteht Einigkeit auch mit den internationalen Verbänden, dass wir
mehr Flexibilität im olympischen Programm bekommen. Wenn wir die Flexibilität
geschaffen haben, kann die Diskussion folgen, wie man diesen Spielraum
ausfüllt.
Ist diese Empfehlung - Nummer 10, auch deshalb so allgemein formuliert,
weil man sie so besser durch die Session bringt? Viele Mitglieder vertreten
ja auch die Interessen einzelner Sportarten.
Nein, sie ist sehr klar formuliert. Die Empfehlung heißt ja auf der einen
Seite, dass man für die Größe der Spiele klare Limits setzt. Das bedeutet,
dass wir die Spiele nicht größer, aber vielfältiger machen wollen. Wir wollen
mehr Vielfalt in den Bewerbungen und mehr Vielfalt im Programm, und deswegen
werden diese Grenzen eingezogen. Für den Winter erstmals. Aber die
bisherige Limitierung auf 28 Sportarten, die eine sehr artifizielle war und sich
durch nichts logisch erklären ließ außer durch die Tradition, dass es halt einmal
irgendwann 28 Sportarten waren, wird aufgegeben. Das Programm wird
also hinterher nicht mehr nach Sportarten auswertet, sondern jede der - in
Rio 306 - Entscheidungen einzeln.
Wer entscheidet dann?
Das wird auch in Zukunft in Konsultation mit den Fachverbänden passieren.
Die Entscheidungen über die Sportarten trifft dann die Session, die Entscheidungen
über die Events trifft das Exekutivkomitee.
SPARSAMKEITS-VORSCHLAG
Wenn wir Bach richtig verstanden haben, will er die Spiele sparsamer
gestalten, eine Forderung, der man nur zustimmen kann. Ausgerechnet in
seinem Heimatland konnte er damit nicht beginnen. Zwei Städte – Berlin und
Hamburg – bewarben sich um Spiele und kaum jemand dürfte begreifen, was
daran „sparsam“ sein soll? In beiden Städten haben sich Gruppen gebildet,
die den Stadtverwaltungen energischen Widerstand ankündigen, Gruppen mit
den verschiedensten Motiven, wobei vor allem die Kosten eine Rolle spielen.
Der erste Schritt zur Sparsamkeit wäre noch vor Weihnachten eine Konferenz
gewesen, bei der Fachleute entscheiden, welche Stadt die olympiareifere wäre.
Diese Entscheidung soll im März fallen und vielleicht käme jemand auf die
Idee, die Kosten zu errechnen, die in beiden Städten bis dahin entstehen und
dann Herrn Bach ein erstes Beispiel für olympische Sparsamkeit liefern.
1)Seine Meinung zum Bahnradsport faßte Coubertin einmal wie folgt zusammen: „Was nun den Radfahrsport
in der Rennbahn betrifft, so kann man gar nicht genug Schlechtes davon sagen. Das Schauspiel,
das ein Velodrom gibt, ist weder ästhetisch noch sportlich“ Aber diese Meinung hielt der Entwicklung nicht
stand, und so gehört der Bahnradsport nach wie vor zum Standardprogramm der Spiele.
(A.d.Herausgebers)“
22
BONNS PAUSENLOSER FELDZUG GEGEN
DIE DDR UND DIE LEICHTATHLETIKEUROPAMEISTERSCHAFTEN
Die ersten Europameisterschaften der Leichtathleten fanden bereits
1934 statt und danach einigten sich IOC und der Leichtathletik-Weltverband
sie jeweils im „Mitteljahr“ zwischen den Spielen stattfinden zu lassen. Die
zweiten Titelkämpfe waren 1938 geteilt, die Männer starteten in Paris, die
Frauen in Wien, also in dem damals schon von Nazi-Deutschland okkupierten
Österreich. 1946 waren die den Zweiten Weltkrieg verschuldenten Staaten –
an der Spitze Deutschland – von der Teilnahme ausgeschlossen. Der Höhepunkt
der Titelkämpfe in Oslo war das internationale Debut der Sowjetunion,
die mit sechs Goldmedaillen auf den zweiten Rang der Länderwertung gelangte.
Auch 1950 in Brüssel waren die Deutschen noch nicht zugelassen.
1954 – Austragungsort der EM Bern - war eine Vereinbarung der inzwischen
existierenden beiden deutschen Verbände getroffen worden, wonach
die besten Athleten in einer gemeinsamen Mannschaft an den Start gehen
sollten. Doch als der Leichtathletikkongress begann, votierte der Präsident
des bundesdeutschen Verbandes, Dr. Danz, gegen die Aufnahme der DDRAthleten
in die Mannschaft und erreichte nach einer längeren Rede, dass die
Mehrheit des Kongresses gegen den Start der DDR stimmte. Die bereits auf
dem Flugplatz wartenden Athleten mussten wieder nach Hause fahren.
Der DDR-Verband gab eine Erklärung ab, in der es hieß: „Alle sollen
wissen, dass wir uns deswegen nicht entmutigen lassen und weiterkämpfen
werden, bis man unsere Forderungen anerkennt und uns in die IAAF aufnimmt.
Wir werden weiterkämpfen, indem wir neue Rekorde aufstellen, neue
Bestleistungen erzielen, bis man uns eines Tages nicht mehr übersehen
kann.“
Nach den Titelkämpfen beklagten bundesdeutsche Medien das mäßige
Abschneiden der Mannschaft – die UdSSR hatte 16 Goldmedaillen errungen,
die BRD auf dem fünften Rang nur die beiden vom Sprinter Fütterer errungenen
– und meinten, eine „gesamtdeutsche“ Mannschaft wäre erfolgreicher
gewesen. Ein Vorwurf, der aber mit Bonns politischen Forderungen kollidierte.
Fachleute erinnerten daran, dass die DDR-Meisterin Christa Stubnick-
Seliger die unbestritten schnellste europäische Sprinterin war und wenige
Wochen vor Bern in Budapest mit der Weltklassezeit von 23,6 Sekunden die
sowjetische Sprinterin Itkina bezwungen hatte. Die war in Bern mit 24,3 Sekunden
Europameisterin über 200 m geworden.
1958 - Bei den nächsten Titelkämpfen in Stockholm, startete eine gemeinsame
Mannschaft beider Verbände, die mit ihren Erfolgen allerdings getrennt
gewertet wurde. Die DDR belegte bei ihrem EM-Debut mit zwei Silberund
drei Bronzemedaillen den 9. Rang in der Medaillenwertung.
23
1962 - Vier Jahre später wurden die Europameister in Belgrad ermittelt
und die DDR rückte im Medaillenrang auf den achten Platz (1 – 6 – 1) vor.
Vorausgegangen waren den Titelkämpfen einmal mehr Interventionen
der Bonner Regierung. Nach dem Abbruch des Sportverkehrs zwischen
beiden deutschen Staaten nach dem 13. August 1961 bestand
Bonn darauf, dass die Ausscheidungen für die gemeinsame Mannschaft
nicht auf deutschem Boden stattfinden dürften, eine Forderung,
mit der der Gipfel der Kontroversen erreicht wurde: Eine „gesamtdeu tsche“
Mannschaft entsteht im Ausland! Es kam zuvor in Zürich zu einer
dramatischen Sitzung der Delegation der IAAF mit den Vertretern der beiden
deutschen Verbände. Entnervt willigte die IAAF ein, die Ausscheidungen in
Prag und Malmö stattfinden zu lassen.
1966 war Budapest Schauplatz der Europameisterschaften und
inzwischen hatte die IAAF der DDR eine eigene Mannschaft zugestanden,
nicht zuletzt, weil die Delegierten der meisten Länder nicht
mehr bereit waren, Bonns Forderungen zu erfüllen. Doch die Hoffnungen,
der deutsch-deutsche Streit sei nun endlich beigelegt, erwies
sich als Irrtum: Bonn forderte von den Ungarn, dass bei Siegerehrungen
die DDR-Hymne nicht gespielt und auch die DDR-Flagge nicht
gehißt werden dürfte. Man hält solche Forderungen heutzutage für
unglaubwürdig, was den Autor bewog, die dem Archiv des Auswärt igen
Amtes der Bundesregierung nach der Sperrfrist von 30 Jahren
entnommenen Dokumente zu zitieren.
DOKUMENT 2
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt Band 1618/IV 5 - 86 - 10/10)
II A 1 - 85.50/1 Bonn, den 29. August 1966
V e r m e r k
Betr.: Europäische Leichtathletik - Meisterschaften in Budapest;
hier: Verwendung der Embleme, Fahnen und der Hymne der SBZ
Anlg.: - 1 -
1. Für die am 29.8. (abends) in Budapest beginnenden europäischen
Leichtathletik-Meisterschaften ist am Vorabend in Durchbrechung der bestehenden
Regelung des Internationalen Leichtathletik-Verbandes der Beschluß
gefaßt worden, ausnahmsweise in Budapest die Embleme sowie
Fahnen und Hymne der SBZ zu verwenden. (…)
2. Der für Sportangelegenheiten zuständige Bundesminister des Innern
sowie das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium für gesamtdeutsche
Fragen sind mit dem Auswärtigen Amt in dieser Angelegenheit in Verbindung.
Das Bundeskanzleramt sowie die Abteilungen IV und II sind der
Auffassung, daß die Mannschaft aus der Bundesrepublik Deutschland den
Spielen fernbleiben müßte, wenn die vorbezeichnete Ausnahmeregelung für
die Veranstaltung in Budapest tatsächlich praktiziert wird.
24
Der Bundesminister des Innern hat sich schließlich bereitgefunden, den
Präsidenten des Deutschen Sportbundes, Daume, aufzufordern sicherzustellen,
daß eine Diskriminierung der Bundesrepublik Deutschland bei den
Wettkämpfen unterbleibt. (vgl. beiliegendes Telegramm des BMI an Herrn
Daume vom 29. 8.).
Eine diplomatische Intervention gegenüber der ungarischen Regierung ist
schon deshalb nicht möglich, weil keine diplomatischen Beziehungen bestehen.
Hiermit
Herrn D II I. V.
vorgelegt.
gez. Wieck
DOKUMENT 4
822206 daume d 1.9.1966 15.45 Uhr
an das bundesministerium des innern
z. hd. von herrn staatssekretaer prof. dr. ernst
betr.: angelegenheit budapest
sehr geehrter herr staatssekretaer,
der guten ordnung wegen teile ich noch mit, dass ich heute nacht den
praesidenten des deutschen leichtathletik-verbandes telefonisch in budapest
erreichen konnte. ich habe ihm die stellungnahme der bundesregierung,
wie abgesprochen, zur kenntnis gegeben. (…)
aus budapest wurde mir noch berichtet, dass der internationale leichtathletik-
verband wohl unter dem druck der ungarischen regierung gehandelt
hat, die erklaert haben soll, dass man dort nichts anderes taete, was mit
umgekehrten vorzeichen in den nato-laendern geschehe. angeblich ist die
ganze veranstaltung gefaehrdet gewesen. (…) heute nachmittag tritt der
council der federation zusammen, und bei der gelegenheit wird, ihren wuenschen
entsprechend, die sache nochmals vorgetragen. mit einer aenderung
der jetzt in budapest gegebenen verhaeltnisse ist jedoch nicht zu rechnen,
auch nicht damit, dass unsere mannschaft abreisen wird. in diesen falle
waere die reaktion gleichermassen in west und ost auch mit sicherheit
hoechst negativ (…)
mit vorzueglicher hochachtung
ihr sehr ergebener
gezeichnet willi daume +++
Weit mehr Aufsehen als die Bonner Intrigen erregten die Leistungen der
DDR-Leichtathleten.
Hier ein minimaler Pressespiegel: „Chris Chataway in „The Sunday Times",
Großbritannien: „Ostdeutschland zeigte sich als das Phänomen dieser
Wettkämpfe." „Kansas Uutiset", Finnland: „Der Erfolg Ostdeutschlands bei
den Europameisterschaften in Budapest war von derartiger Klasse, daß er
als wahres Wunder eingeordnet werden kann.“
25
„Demokraten", Dänemark: „Die neue athletische Großmacht heißt Ostdeutschland.
Mit der Olympiasiegerin Karin Balzer und Manfred Matuschewskis
Goldmedaille hat Ostdeutschland insgesamt acht Goldmedaillen
errungen und wurde damit bestes Land bei den Europameisterschaften. Ein
Triumph von bedeutenden Dimensionen, wenn man in Betracht zieht, daß
es das erste Mal ist, daß die Ostdeutschen bei einer Europameisterschaft
als selbständige Mannschaft auftreten konnten."
„Corriere della Sera", Italien: „Ostdeutschland ist die große Offenbarung
dieser Meisterschaften.
WUT IN BONN
„Der Spiegel", Hamburg, schilderte die Reaktion in Bonn auf die Erfolge der
DDR-Leichtathleten : „Gegen 15 Uhr klingelte am letzten Mittwoch bei dem
Dortmunder „Eisengießer" Willi Daume das Telephon. Am Apparat war Professor
Werner Ernst, Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Er verscheuchte
Daumes gute Laune.
Der Staatssekretär behelligte den Präsidenten des Deutschen Sportbundes
und des Nationalen Olympischen Komitees mit dem leidigsten Hick-Hack in
der Geschichte des Sports seit Ende des zweiten Weltkrieges — dem alle
Jahre wiederkehrenden Hader um Hymnen, Flaggentuch und Wappenzeichen
..
Professor Ernst ersuchte den deutschen Sportchef im Auftrage der Bundesregierung,
bei der IAAF in Budapest zu protestieren. Falls der Protest erfolglos
bliebe, so empfahl Ernst, möge die deutsche Sportführung ‚Konsequenzen
ziehen' und ihre Athleten nach Hause schicken.
Daume: „Wie soll ich denn in Budapest erreichen, was Bonn nicht mal
beim NATO-Partner Holland durchsetzen kann."
Hetze gegen Marquess of Exeter
Der Hass gegen die DDR führte zu einer grenzenlosen Hetze gegen
den IAAF-Präsidenten.
Die Welt", Hamburg: „Der internationale Leichtathletik-Verband unter
Leitung des querköpfigen Marquess of Exeter stand offensichtlich unter so
hartem politischen Druck, dass er eine Lösung gebar, die hart an der Grenze
der Schizophrenie liegt ..."
Das offizielle Organ des DLV, „Leichtathletik" schrieb: „So haben die
hohen Herren selbst die Politik ins Spiel gebracht, auch wenn ihr Präsident
meint, das sei nicht der Fall. Seine Logik ist eine andere als die des normalen
Menschenverstandes ..."
„Bild“: „In den letzten Wochen haben der Bundespräsident und der Bundeskanzler,
meistens auch der Bundesinnenminister, jede der sportlichen Gelegenheiten
genutzt, Sportlern der Bundesrepublik zu internationalen Erfolgen
zu gratulieren. Seltsamerweise konnte aber keiner der in Budapest recht erfolgreichen
Leichtathleten — sie gewannen immerhin 21 Medaillen — auf ein
Telegramm aus Bonn weisen.
26
Wir fragten DLV-Präsidenten Dr. Danz. Der hörte sich in der Geschäftsstelle
des DLV um, weil er an ein Versehen glaubte. Und er fragte auch in
Bonn nach. Da erhielt er die Antwort, man habe absichtlich die Leichtathleten
übergangen. Der Grund: Die Mannschaft des DLV war nicht protestierend
aus Budapest abgereist, weil dort die Zone zwar als ,Ost-Deutschland',
aber mit eigener Fahne und Hymne startete .. "
Was wird in München werden?
Für 1972 wurde die Stadt München mit der ehrenvollen Aufgabe betraut;
die Olympischen Sommerspiele durchzuführen. Nach den skandalösen
Vorfällen von Budapest sind selbst westdeutschen Journalisten schwere
Bedenken gekommen.
„Die Welt", Hamburg: Allmählich wenden sich alle Augen der Olympiade
1972 in München zu; die auch für den Abschalt-Sport (das westdeutsche
Fernsehen hatte bei der Diskus-Siegerehrung von Budapest abgeschaltet
und die Fernsehzuschauer mit der vorbereiteten Tafel „Tonstörung“ belogen.
A.d.A) einen Höhepunkt darstellen dürfte zumal kaum anzunehmen ist,
dass unsere Sportler der Empfehlung ihrer Regierung, nach DDR-Hymnen
einfach abzureisen, in München eher folgen werden als in Budapest."
„Augsburger Allgemeine", Augsburg: „Wir sehen nach Lage der Dinge
nicht, wie sich diese Entwicklung noch aufhalten oder wieder zurückdrehen
ließe. Ganz augenscheinlich sind die Realitäten stärker, als man in der
Sportführung der Bundesrepublik und im Bundeskabinett glauben mochte.
1969 - Wer geglaubt hatte, dass die Geschichte der Leichtathletik- Europameisterschaften
in Budapest ihren politischen Höhepunkt erreicht hatte,
sah sich drei Jahre später in Athen eines besseren belehrt: Bonn erklomm
einen neuen Gipfel! Und wenn die bundesdeutsche Sportwelt noch heutzutage
mit Vorliebe die angeblichen Dopingvergehen der DDR an Domglocken
hängt, geschieht das auch mit der Absicht, die Politattacken Bonns in Vergessenheit
geraten zu lassen. Die seriöse Hamburger „Zeit“ hatte Adolf
Metzner engagiert, um den skandalösen Sachverhalt mit 2600 Worten „umzuschreiben“
und der ließ sich – vermutlich gut bezahlt – dazu überreden.
(In jener Zeit soll übrigens auch seine SS-Vergangenheit an die Öffentlichkeit
gelangt sein, was jedoch niemanden sonderlich tangierte…)
Um nicht in Verdacht zu geraten, die „Beiträge“ würden die Tatsachen
aus DDR-Sicht darstellen, hielten wir uns vor allem an die „Zeit“ und die Gefahr,
dass wir damit unerlaubtes Nachdrucken betreiben sahen wir durch die
Verjährungsfrist beseitigt – der Beitrag wurde vor nahezu 20 Jahren publiziert….
„Nicht der Schatten der Akropolis, den ein Festredner bei der Eröffnungsfeier
beschwor, lag über den IX. Europameisterschaften der Leichtathleten
– der Boykott der Mannschaft aus der Bundesrepublik verdüsterte in
den ersten Tagen die sportliche Szene. Gegen Schluss, als die Finalkämpfe
sich dramatisch zusammenballten, diktierte aber wieder der Sport das Geschehen.
(…)
27
Ins Pantheon der deutschen Märtyrer ist ein neuer Dulder eingezogen:
Jürgen May, Weltrekordläufer seines Zeichens, vor drei Jahren noch Galionsfigur
des DDR-Sportes, heute als Flüchtling geschundener Held im subversiven
Kalten Krieg zwischen Ost und West. Seine Geschichte ist fast eine
Tragödie. Der Leidensweg eines Mannes, der die Freiheit wählte und
zwischen die Mahlsteine der großen Politik geriet. Die lückenlose Schilderung
der Stationen seiner Passion gerät zur Analyse einer bundesdeutschen
Niederlage.“
Zum Sachverhalt: Es ging gar nicht um einen Flüchtling, sondern eben
um eine Figur, die Bonner Politik im Sport praktizieren sollte!
Der hatte in Budapest 1996 einen chancenreichen Mannschaftskameraden
überreden wollen, im Finale mit den Schuhen einer Firma anzutreten,
mit der sein Verband keinen Vertrag hatte. Zu jener Zeit war es üblich geworden,
dass die Schuhkonzerne mit Medaillen für ihre Produkte warben
und dies gut honorierten. Der Favorit, den May hatte überreden wollen,
lehnte ab und entschloss sich, seinem Verband das Komplott zu enthüllen.
May wurde nach den Regeln, die weltweit dafür galten, von seinem Verband
bestraft und zwar mit einer lebenslangen Sperre. Eine Sperre, die der
Höchststrafe entsprach. May wandte sich an den Internationalen Verband
und erwirkte in einer Revisionsverhandlung die Reduzierung der Strafe auf
eine zweijährige Sperre. Niemand hatte ihn „gefoltert“, aber der erwähnte
Schuhkonzern hielt sich für so mitschuldig, dass er May einen falschen
Pass beschaffte und seinen Wechsel von der DDR in die BRD arrangierte.
Das wiederum betrachtete die Bundesregierung als ideale Gelegenheit, zum
Alleinvertretungsanspruch zurückzukehren und ihn für die BRD vor Ablauf
der vom Internationalen Verband verhängten Sperre bei den Europameisterschaften
für die BRD starten zu lassen. So weit die Fakten. Nun die „Zeit“
mit Autor Metzner, der – das nur am Rande erwähnt – erst lange nach Ablauf
der „Meldefrist“ bekannte, hoher SS-Offizier gewesen zu sein.
Hier weitere Passagen seines Textes: „Als Jürgen May mit der deutschen
Mannschaft nach Athen flog, um an den IX. Europameisterschaften in
der Leichtathletik teilzunehmen, ahnte er allein Böses. Zu oft schon hatte
die Keule der DDR-Politruks ihn getroffen.
Völlig unverständlich ist es aber, dass Danz geglaubt haben soll, diese
brisante Affäre geheimhalten zu müssen, um, wie er in Athen sagte, die
Vorbereitungen der Athleten nicht zu stören! Nicht genug damit: Danz unterrichtete
später in Schwetzingen auch noch seinen Vorstand, insgesamt fünf
Herren. Doch keiner von ihnen erkannte offenbar den politischen Zündstoff
und die Notwendigkeit, einen solchen Vorfall, wie es heißt, `transparent´ zu
machen. Außerdem hätten sofort Kontakte mit den zuständigen Ministerien
in Bonn aufgenommen und entsprechende völker- und staatsrechtliche Gutachten
erstellt werden müssen. Nichts von alledem geschah. Danz glaubte
28
mit Hilfe seiner imaginären kameradschaftlichen Beziehungen zu den IAAFKollegen
unter der Hand den Fall noch bereinigen zu können.“
Wahrscheinlicher ist, dass man glaubte, den Start von May erzwingen
und damit für einen Präzedenzfall sorgen zu können. Aber die „Zeit“ glaubte
offensichtlich, eine Gelegenheit zu finden, den DDR-Leichtathletikverband
diskreditieren zu können und fuhr fort: „Während `drüben´ politische Generalstabsarbeit
von professionellen Funktionären geleistet wird, sind `hüben´
gutgläubige Dilettanten am Werk. Diese merken nicht, wie sehr auch die
westlichen Funktionäre in den Weltsportverbänden den Ostblockprofis auf
den Leim gehen oder aber, was noch schlimmer ist, aus persönlichen Gründen
handeln, um mit den Oststimmen wiedergewählt zu werden. So werden
sie zu Figuren, in dem von den DDR-Politruks – im zuständigen Ministerium
beschäftigen sich allein elf Funktionäre nur mit diesen Fragen – meisterhaft
gelenkten Spiel.
Als Avery Brundage noch aus moralischen und völkerrechtlichen Gründen
für die gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft focht, war in den meisten
internationalen Fachverbänden die entsprechende DDR-Organisation als
selbständiges Mitglied längst aufgenommen. Inzwischen wurde auch der
IOC-Präsident an einer verwundbaren Stelle, seiner Eitelkeit, gepackt. In einem
Leipziger Verlag gab man eine Biographie über ihn heraus, die ausgerechnet
den Multimillionär aus Chicago unter die Genies unserer Zeit einreihte.
Beim diesjährigen Turn- und Sportfest in Leipzig war Brundage gefeierter
Ehrengast, während er in Stuttgart beim Erdteilkampf deswegen
ausgepfiffen wurde. Überall wird die geschickte Taktik der kommunistischen
Politiker sichtbar, deren Erfolge sich fast zwangsläufig einstellen. Im Westen
aber glaubt man oft noch, es mit Sportführern zu tun zu haben und begreift
nicht, wie sehr im Osten der Leistungssport ein Instrument der Politik ist.“
Die Intensität, mit der Bonn den internationalen Sport zu missbrauchen
trachtete, wurde auch von Metzner ignoriert, der bedenkenlos fortfuhr:
„Wenn dann in einem Fall wie dem des Jürgen May die schon am Sandkasten
durchgespielten Züge erkennbar werden und die Schläge niedersausen,
ist es für eine gezielte Gegenwehr zu spät, und die große Ratlosigkeit bricht
wie jetzt in Athen aus. Hier haben nun, da die Führung versagte, die bundesdeutschen
Athleten gehandelt: Sie erklärten sich mit ihrem Team-
Kameraden solidarisch. In der ersten Empörung wurde mit 52:10 für den
Boykott gestimmt. Später, als die Kämpfe näher rückten und die Medaillen
sich immer mehr in Nichts auflösten und sich gewisse Kompromisse andeuteten,
fiel die Mehrheit mit 29:27 Stimmen nur noch sehr knapp aus. Eine
Führung existierte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die Aktiven, denen die
Mitbestimmung seit Mexiko zugesprochen war, praktizierten die Alleinbestimmung
und heimsten den Beifall der deutschen Presse ein. `Bild´ stiftete
70 Goldmedaillen, für jeden vorsorglich eine!
Aber auch den jungen, intelligenten Athleten fehlt es noch an Menschenkenntnis
und Lebenserfahrung, um in dem ungleichen Kampf auf die
29
Dauer erfolgreich zu sein – so sehr man ihren Entschluss, der für die meisten
Verzicht und Opfer bedeutete, respektieren muss. Sie wurden aber von
unsichtbaren Gegnern gezwungen, zum falschen Zeitpunkt zu handeln. Von
der internationalen Sportpresse verstand in dem herrschenden Tohuwabohu
kaum jemand diesen spontanen Schritt, wenn auch Mannschaft und Begleiter;
um Verständnis warben.“
Wer sollte diesen in Bonn lange vorbereiteten „spontanen Schritt“ akzeptieren?
Um den Boykott zu rechtfertigen, log Metzner weiter: „Jürgen May war
schon in seiner Erfurter Zeit durch intensive Westkontakte aufgefallen und
galt deshalb als politisch unzuverlässig.“
Wie wollte Metzner das beweisen? Das war zu jener Zeit gar nicht nötig!
Dann ein unumgänglicher Hauch an Wahrheit: „Als ihm in Budapest
1966 bei den VIII. Europameisterschaften zwei seiner westdeutschen
Freunde, der ehemalige Meistersprinter Fütterer und der 1500-Meter-
Meister Eyerkaufer, einen Geldbetrag von einer westdeutschen Sportschuhfabrik
zusteckten, was verraten wurde, `sperrte´ ihn der DVfL (Deutscher
Verband für Leichtathletik) auf Lebenszeit. Bei dem Stellenwert des Sportes
in der sozialistischen Gesellschaft bedeutet dies eine Ächtung, ja ein moralisches
Todesurteil. May duckte sich nicht. Mit Hilfe Eyerkaufers floh er in
den Westen.“
Metzner „legte nach“: „Daß es sich um ein staatspolitisches und nicht
um ein sportliches Urteil handelte, geht schon daraus hervor, daß der Europameister
von 1966 und 1969 im 10 000-Meter-Lauf, der linientreue Jürgen
Haase, für das gleiche Delikt Pardon erhielt.
Die IAAF revidierte dann die drakonische Strafe und reduzierte die
Sperre auf zwei Jahre.“
Womit – für den ahnungslosen Leser kaum erfassbar – bestätigt worden
war, dass auch die IAAF Mays Haltung für einen Regelverstoß hielt und
ihn nach den Regeln sperrte!
Metzners Versuch, daraufhin die Haltung der IAAF aus Bonner Sicher
zu kritisieren: „Nun aber traf ihn, nach einer Sitzung der Jury d’appel der
IAAF, erneut eine Sperre, die bis zum 1. Juni 1970 währt. Diese Sitzung war
ein, Satyrspiel (…) In diesem Augenblick hätte Max Danz mit Völker- und
staatsrechtlichen Gutachten aufwarten müssen, was wohl auch zu einer Zurückweisung
des westdeutschen Protestes geführt hätte, da man den Boykott
aller Ostblockstaaten fürchtete. Aber der Marquess of Exeter hätte mit
seinem Pochen auf die IAAF-Statuten, die für diesen Fall gar nicht vorgesehen
sind, eine schlechte Figur gemacht, ebenso wie der Holländer Adrian
Paulen, der dem Europarat der IAAF vorsteht. Paulen fand statt überzeugender
Argumente nur ordinäre Schimpfworte, als ein westdeutscher Journalist
und ehemaliger Europameister ihn darauf aufmerksam machte, dass
die Dinge wesentlich komplizierter seien.“
30
Dann gestand Metzner, dass es gar nicht um den tatsächlichen Regelverstoß
Mays – den „Schuhhandel“ – ging, sondern einmal mehr um den
Bonner Alleinvertretungsanspruch: „Die Entscheidung gegen May stützte
sich auf den Paragraphen 12 Absatz 9e der IAAF-Statuten. Dieser lautet –
schwer verständlich –, dass ein Start erlaubt wird `... bei einem Wechsel in
der Nationalität durch Naturalisierung oder Registrierung in einem anderen
Land oder durch anderes Ersuchen nach Staatsbürgerschaft in der Art, die
in diesem Lande gesetzlich anerkannt ist, vorausgesetzt, daß der Nachsuchende
mindestens drei Jahre in diesem Lande ansässig war von dem letzten
Tage an, an dem er sein früheres Land vertrat.´“
May war von einem „Deutschland“ ins andere gewechselt und das durfte
– aus Bonner Sicht – nicht durch die für solche Schritte übliche Sperre
belangt werden. Da man der Mannschaft den Sachverhalt mit den Bonner
Argumenten begründet hatte, war es zu der Abstimmung gekommen, die
eine deutliche Mehrheit für den Boykott der Europameisterschaft ergab. Als
man den tatsächlichen Sachverhalt mitteilte blieb noch eine Mehrheit von
zwei Stimmen (29:27) für die Nichtteilnahme.
Nun schaltete sich die griechische Regierung ein. Metzner: „Am späten
Nachmittag des ersten Wettkampftages bat der griechische Generalsekretär
für Sport, Constantine Aslanides, Danz zu sich und erklärte ihm, dass die
griechischen Sportler 1972 nicht nach München kämen, wenn die Deutschen
nicht antreten würden; außerdem würde das olympische Feuer nicht
freigegeben.“
Olympische Spiele in München ohne in Olympia entzündetes Feuer?
Bonn hatte sein Polit-Pokerspiel verloren! Danz, Arzt und bei aller Politdisziplin
dem Sport verbunden, mühte sich, die Katastrophe abzuwenden.
Er teilte den Griechen mit, dass die bundesdeutschen Leichtathleten an den
Staffeln teilnehmen würden. (Auch ein Schritt, der in der Geschichte der Europameisterschaften
beispiellos war!)
Bonn warf das Handtuch – und suchte einen Schuldigen! Man fand ihn
schnell: Danz!
Verzweifelt konstatierte Metzner: „In Wirklichkeit ist aber die ungleiche
Kräfteverteilung in diesem Kalten Krieg schuld an dem Debakel. Auf der einen
Seite stehen versierte Profis mit einer klaren Strategie, auf der anderen
beruflich überlastete Amateure, ohne jede Konzeption. Das hierarchische
Prinzip in den bundesdeutschen Sportverbänden mit ihren ehrenamtlichen
Funktionären ist hoffnungslos unterlegen. Dem glänzend funktionierenden
Generalstab von drüben müsste wenigstens ein Braintrust (Hirn-Trust
A.d.A.) hochbezahlter Manager entgegengestellt werden.“
Dieses Urteil für die bundesdeutschen Leichtathletikfunktionäre war
vernichtend und ignorierte, wer die wirklich Schuldigen waren: Bonns Politiker.
Bis zur Stunde hat sich kein bundesdeutscher Sporthistoriker gefunden,
der dieses Kapitel des Versuchs, den Weltsport politisch zu erpressen „aufgearbeitet“
hat!
31
1971 war Helsinki Schauplatz der EM. Die DDR-Mannschaft holte zum
dritten Mal die meisten Medaillen: 12 goldene, 13 silberne und 7 bronzene.
1974 in Rom waren es „nur“ 10 Titel, die die DDR-Mannschaft errang,
aber auch die reichten für den ersten Platz in der Medaillenrangbilanz.
1978 waren es in Prag zwar zwei mehr, aber die Sowjetunion errang 13
und löste die DDR an der Spitze ab.
1982 begann der Marathonlauf dort, wo der erste 1896 begonnen hatte
– in Marathon. Jeder der 35 Läufer aus 21 Ländern erhielt am Start einen
Ölzweig und mit dem Niederländer Nijboer gewann einer der Favoriten und
Waldemar Cierpinski aus der DDR feierte einen besonderen Triumph: zwei
Olympiasiege, Vierter bei den Europameisterschaften in Prag und nun
Sechster in Athen! Am gleichen Tag unterbot die DDR-Frauenstaffel über 4-
mal-400-m den sechs Jahre alten Weltrekord um 0,18 Sekunden. Mit 13
Goldmedaillen wurde einmal mehr der erste Rang belegt.
1986 feierte man die Titelkämpfe in Stuttgart und kam mit 11 Goldmedaillen
deshalb nur auf den zweiten Rang, weil die Sowjetunion drei Silberund
vier Bronzemedaillen mehr erkämpft hatte.
1990 verabschiedete sich die DDR am 27. August von den Leichtathletik-
Europameisterschaften, hatte von 23 Titelkämpfen an 10 tei lgenommen
und belegt in der bislang geführten Medaillen-Rangliste
hinter der Sowjetunion (121 Goldmedaillen), Großbritannien (90)
ebenfalls 90 den dritten Platz!
32
ÜBER DIE MODERNE LAUFBEWEGUNG
IN DEUTSCHLAND
KLAUS HENNIG
Zwei Beiträge widmet Dr. Detlef Kuhlmann, Professor an der Universität
Hannover, einem sportlichen Ereignis, dem Jubiläum des 1. internationalen
Volkslaufes im bayrischen Böblingen im Oktober 1963, das mit einer Festveranstaltung
und Festvorträgen sowie mit Laufveranstaltungen begangen wurde.
50 Jahre sind immer der Rede wert und werden landauf landab als Jubiläum
gefeiert. In zwei Ausgaben immerhin des offiziellen DOSB-Organs
„DOSB Presse“ v. 24.09. (15) und 15.10. 2013 (16) - nicht etwa in der örtlichen
Presse der bayrischen Provinz - wird daran erinnert, dass am 13. Oktober
1963 die Geburtsstunde der modernen Laufbewegung „IN UNSEREM
LANDE“ und an anderer Stelle der „LAUFBEWEGUNG IN DEUTSCHLAND“
schlug.
Dazu eine erste Anmerkung: Will D. Kuhlmann glauben machen, dass
sich die `moderne Laufbewegung` - einmal abgesehen vom Böblinger Volkslauf
1963 - ausschließlich in einem Teil Deutschlands etabliert hat? Hier dürften
sich die Leser aus Rostock, Schwerin, Dresden oder Suhl fragen, die
eventuell die vergangenen 50 Jahre bewusst erlebt oder wörtlich „durchlaufen“
haben: WO lebten und liefen WIR denn? Manches mag der informatorischen
Enge der 60-er und 70-er Jahre geschuldet sein. Immerhin schien dem
Autor selbst wohl auch einiges ergänzungswürdig. In seinem zweiten Beitrag,
dem vom 15. Oktober 2013, grenzt er mit der Klammer ein „...der Laufbewegung
in (West-) Deutschland...“. Mit Blick auf die ´50 Jahre moderne Laufbewegung
´ soll hier auch ein Detail nicht unterschlagen werden: das Alter des
Autors wird in einem Beitrag in der „Uni-Zeitung“ Hannover (20) mit 51 Jahren
angegeben.
Wenn man die Freude hatte, Dr. Detlef Kuhlmann bei einigen seiner lebendigen
und immer mit aktuell – informativem Zahlenwerk untersetzten Vorträge
zu erleben, liest man sich auch in seine Darstellung zur Entstehung und
Entwicklung der Laufbewegung gern ein. Zunächst also in seine „Laudatio auf
50 Jahre moderne Laufbewegung in Deutschland“ und nachfolgend auch in
den Bericht „50 Jahre Volkslauf in Deutschland – eine laufende Erfolgsgeschichte“.
In beiden Texten richtet er den Blick auf das Phänomen des sich rasch
verbreitenden Laufens in der BRD. Gewiss folgt der Leser D. Kuhlmann darin,
dass der damalige Böblinger Volkslauf mit über 1.600 Teilnehmern ein
Signal für eine neue Bewegung gesetzt und das bis dahin geübte leichtathletische
Laufen bereichert hat. Als Beleg dafür wird das beachtliche Ansteigen
der Zahl der Läufer auf heute über 2 Millionen an fast 4000 Laufveranstaltungen
des Volkslaufkalenders angeführt. Von den 4000 Laufgelegenheiten er33
wähnt Kuhlmann als einzige namentlich den Berlin-Marathon. Andere ebenfalls
sehr populäre Laufveranstaltungen bleiben ungenannt. Was ihn sicher
ehrt: er hat den Berlin-Marathon 18 mal nicht schlechthin absolviert, sondern,
wie man auch erfährt, mit der „ewigen Startnummer“ 322 durchlaufen.
D. Kuhlmann verweist auf die hunderttausende Jungen und Älteren, die
neue Wege für ihre Gesunderhaltung gesucht und in der freien Natur auf
Park- und Waldlaufstrecken oder mitten in der Stadt aktiv geworden sind.
Diejenigen – wie vom Autor hervorgehoben – die mit „Trimm Dich durch
Sport“ und „Trimm-Trab ins Grüne“ angeregt oder durch Volksläufe motiviert,
ihre passive Lebensweise mit der des regelmäßig Trainierenden getauscht
haben. Und dann, darf man Kuhlmann freundlich erinnern, wurden auch die
häufig zitierten und gern angenommenen Slogans „Lerne laufen ohne zu
schnaufen“ und „Ein Schlauer trimmt die Ausdauer“ noch in die Öffentlichkeit
getragen.
Der Leser erfährt auch, dass der Autor unzweifelhaft Sachkenntnis in inhaltlichen
und organisatorischen Fragen mit eigener Aktivität als Läufer und
zugleich als ehrenamtlicher Lauftrainer verbindet. Aber was will Kuhlmann –
fragt man sich beim Weiterlesen - sagen, wenn er äußert: „Die Laufbewegung...
hat die Menschen aus dem Stadion getrieben – weg vom sturen Rundenlaufen
auf der 400-m Bahn...“?
Dazu eine zweite Anmerkung: Wurde denn, blicken wir zurück, von irgendeiner
kompetenten Stimme und möglicherweise aus dem Kreis derjenigen
die konzeptionell oder handfest organisierend in der Laufbewegung tätig
waren, jemals ein derartiger Gedanke artikuliert? Und wenn, dann wäre der
gewiss irgendwann kommentiert worden. Überdies darf man sich die Frage
stellen, wie Querfeldein- und Waldläufe, die bereits um 1900 stattgefunden
haben – mit eigenem Charakter und zumeist geringen Teilnehmerzahlen – so
der Lauf von Grünau nach Eichwalde bei Berlin am 26.05 1900 (18) oder der
Waldlauf im Berliner Vorort Hohen Neuendorf am 29.07.1900 damals oder
heute in Bezug „...zum sturen Rundenlaufen...“ zu betrachten sind?
Was hier offensichtlich angesprochen und mit der begrifflichen Fassung
„moderne Laufbewegung“ gedeutet werden soll, stellte sich Anfang der
1960er Jahre doch so dar: eine leichtathletische Bewegungsform, der Lauf
über längere Distanzen mit großen Teilnehmerfeldern, tritt aus dem Gefüge
der festgeschriebenen Wettkampfdisziplinen der Sportart heraus. Laufstrecken
auf Straßen und im Gelände, Städteläufe, Läufe in landschaftlich reizvollen
Gebieten oder mitunter auf historischen Wegführungen, alle Varianten
von Streckenlängen, Teilnahme mit oder ohne Vereinsausweis und ein zunehmend
farbiger organisatorischer Rahmen prägten bald das neue Bild vom
Laufen. Die einen, vom Nutzen überzeugt, die anderen eher auch der Freude
wegen, erschließt sich eine rasch zunehmende Zahl von Menschen, die aktiver
sein wollen, das Laufen.
All dies markante Neuerungen im Sport, die in den heimischen und internationalen
Sportgremien und in Kongressen Aufmerksamkeit finden. Übri34
gens eine der ersten breiten Bewegungen im Sport, denen bald viele weitere
folgen. Auch das IOC nimmt die Aktivitäten wahr und gibt im Rahmen der
„Sport for all“ Aktion mit dem „Olympic Day“ den Startschuss zu werbend gestalteten
Laufveranstaltungen in aller Welt.
Wer aber von den zahllosen Läufern - damit kommen wir auf Detlef
Kuhlmann zurück - sollte sich „aus dem Stadion getrieben“ gesehen haben?
Eine solche krass formulierte Äußerung verwischt wohl, was tatsächlich vor
sich ging und konstruiert Widersprüchlichkeiten, die real nicht bestanden. Natürlich
löste die heranwachsende neue Laufbewegung Reaktionen vor allem
in Verbandsgremien der Leichtathletik aus. Keineswegs nämlich gingen
überall Funktionäre und aktive Leichtathleten mit wehenden Fahnen auf die
„Neuen“ zu, die auch eigene unkonventionelle Vorstellungen von der Organisation
und Gestaltung des Laufens vertraten. Das Stadion und die Laufbahn
selbst erwiesen sich für die Läufer allerdings kaum jemals als Hindernisse.
Schließlich wurden auch reizvolle Halbstunden- und Stundenläufe, Paarläufe
u.a. auf den Rundbahnen mit z.T. großem Echo ausgetragen. In der Praxis
haben sich die Läufer die Stadien also durchaus zunutze gemacht.
Es geht uns keineswegs hier um simplen Streit über die eine oder andere
Formulierung. Man darf daran erinnern, dass das neue stetig wachsende
Läuferfeld auch seinerseits eigene Propheten, manche Streitpunkte und mitunter
erfrischende Gedanken zutage förderte. Das wiederum kann überhaupt
nicht verwundern und sollte nicht überbewertet werden. Schließlich ist historisch
verbürgt, dass neue Entwicklungen in der Geschichte des Sports immer
heftige verbale Konfrontationen und handfeste Fehden auslösten. Als Beispiele
können die Etablierung der Spielsportarten in und neben den deutschen
Turnvereinen oder der Kampf um die Rechte der Frauen im Sport und
die Auseinandersetzungen des Sports mit den Reformbewegungen gelten.
Selbst die Teilnahme deutscher Sportler an olympischen Wettkämpfen löste
in den Anfängen der Olympischen Bewegung heftige Streitigkeiten aus.
Eine dritte Anmerkung soll der Tatsache gewidmet werden, dass Mitte
der 60er Jahre, in der DDR, der andere Teil der Laufbewegung in Deutschland
ihren Anfang nahm. Das konnte bei der Datenlage in Böblingen 1963
keine Rolle gespielt haben, dürfte aber doch wohl in der Gegenwart zur
Kenntnis genommen werden.
Zunächst sei auch an die für alle offenen Frühjahrs- und Herbstwaldläufe
bereits in den fünfziger Jahren erinnert, die flächendeckend im ganzen Lande
– der noch jungen DDR - als sportliche Saisonauftakte und -abschluß breit
popularisiert und organisiert wurden. Ebenso wurden seit jener Zeit Waldlaufmeisterschaften
der Leichtathleten ausgetragen. Die Kanuten und Ruderer
absolvierten ihre Waldlaufmeisterschaften vor Saisonbeginn auf dem
Wasser.
Die ersten kleinen Schritte zu gesundheitsförderndem Laufen im Rahmen
von Laufveranstaltungen und Laufgruppen – also mit dem eindeutigen
Blick auf die Gesundheit - sind Mitte der sechziger Jahre in Leipzig, in Berlin
35
aber auch an anderen Orten gegangen worden, ohne dass die Öffentlichkeit
zunächst davon in erhöhtem Maße Kenntnis genommen hätte. Manche unter
den ersten volkssportlichen Laufveranstaltungen in der DDR, Straßen-, Waldoder
Geländeläufe, wiesen noch relativ kleine Teilnehmerfelder auf. Auch der
Kreis der Beteiligten, überwiegend aktive und ehemals aktive Leichtathleten –
einige Enthusiasten und Neueinsteiger eingeschlossen - ließ keine Überraschung
erkennen. Bald bewegten sich aber auch ehemalige und noch aktive
Skilangläufer, Orientierungsläufer, Radsportler, Ruderer, Kanuten u a., in der
noch jungen Laufszene.
Als eigentlicher Auftakt für die Laufbewegung können der 1966 gestartete
Lauf von Leipzig-Liebertwolkwitz nach Trebsen (Sachsen) über ca. 20 km
(10), dann schon 1967 ein Lauf in Friedrichroda/Thür. mit rd. 1.000 Aktiven
sowie weitere Läufe in Berlin mit 250 und in Freyburg mit 400 Beteiligten gelten.
Im darauf folgenden Jahr wurden schon 650 Laufveranstaltungen gezählt.
(5)
Die Ideen und organisatorischen Maßnahmen für weitere werbend wirkende
Läufe mit neuem Gesicht gingen nun mehr und mehr von den aktiven
Teilnehmern selbst aus. Wer an einem neuen Gesundheitslauf teilgenommen
hatte, bemühte sich nicht selten, bald selbst eine derartige Veranstaltung zu
organisieren.
In diesen Jahren - und das wirkte sicher als weiterer Faktor - besaßen
die Leichtathletik und insbesondere das Laufen bei jung und alt eine außerordentlich
hohe Popularität, hatten doch in den 50- und 60-er Jahren DDRMittel-
und Langstreckenläufer ihren bemerkenswerten Weg in die Weltspitze
genommen. Athleten wie Helfried Reinnagel, Rolf Donath, Klaus Richtzenhain
und Siegfried Herrmann, Siegfried Valentin, Fritz Döring, Herrmann
Buhl, Hans Grodotzki, Fritz Janke und viele andere erzielten achtbare, ja
sensationelle Wettkampferfolge auf der internationalen Ebene. Es verwundert
deshalb nicht, dass die DDR-Weltklasseläufer zu jener Zeit unzählbare Anhänger
im Lande besaßen, die ihnen auch nacheifern wollten.
Als 1967 unter der Formel „Lauf Dich gesund“ Leitidee, Motiv, Organisationsformen,
trainingsmethodische Tips und schließlich werbende Laufveranstaltungen
gebündelt wurden, war ein erfolgversprechender neuer Weg eingeschlagen
worden. Den Initiatoren war bewusst, dem Laufen musste ein
qualitativ neues Image geschaffen werden. Das wird schon mit Persönlichkeiten
und Namen verdeutlicht, die sich an die Spitze der noch jungen Bewegung
setzten. Dem Arbeitskreis „Lauf Dich gesund“ gehörten als Schirmherr
der Berliner Herzspezialist Prof. Dr. W. Wollenberger sowie der DTSBVizepräsident
Prof. Dr. E. Buggel, Vertreter des DDR-Leichtathletikverbandes
(DVfL) und verschiedener Medien sowie erfahrene Praktiker an.(5) Jetzt fanden
größere und kleinere „Lauf Dich gesund“-Veranstaltungen feste Stammplätze
in Veranstaltungskalendern der Sportgemeinschaften und ein zunehmend
breites Echo in den Medien. Erste - auf praktische Anwendung hin angelegte
- Publikationen wie die Broschüre „Lauf Dich gesund - 50 Fragen und
36
Antworten“ 1968 (4) und „Lauf Dich gesund“ - Faltblätter (3) vermittelten, gestützt
auf trainingswissenschaftliches und sportmedizinisches Wissen, auf
welche Weise Gesundheitstraining im Laufen für Anfänger und Fortgeschrittene
gestaltet werden kann.
Die junge Laufbewegung besaß eine ausgezeichnete Startposition mit
Blick auf die potentiellen Aktiven aber auch auf die zu gewinnenden Organisatoren.
Die Männer und Frauen der ersten Stunde konnten auf vorhandene
Substanz und Erfahrung aufbauen. Immerhin bestand ein gut entwickeltes
Netz von traditionellen Wettkämpfen und Veranstaltungen in der Leichtathletik.
Organisatorische Kenntnisse konnten ungehindert auf die neuen Laufveranstaltungen
hinüber transferiert werden. Beispiele sind die jeweils jährlichen
Frühjahrs- und Herbstwaldläufe in allen Kreisen. Zu verweisen ist auch auf
die jährlichen Waldlaufmeisterschaften der Schüler und Berufsschüler, die in
den Schulen, Städten und allen Kreisen stattfanden. Hier waren nahezu alle
Jugendlichen in der Regel mehrmals an Laufwettbewerben aktiv beteiligt.
Mit diesem Hintergrund fand die Laufbewegung bald offene Ohren in vielen
Sportgemeinschaften. Wo sich neue Organisationsteams formierten,
brachten Fachkräfte und viele Sportlehrer ihre Erfahrungen ein. Hier fanden
sich auch begeisterte Anhänger des Laufens ein, die bislang keine Bindungen
zur organisierten Leichtathletik oder überhaupt zum Sport besessen hatten.
Nicht zu übersehen sind übrigens auch Wirkungen von außen. Woche
für Woche strahlten vor allem über die Medien Informationen über Fitnessund
Laufaktionen in westeuropäischen und anderen Ländern in die DDR hinein.
Im Rahmen der offiziellen Kontakte des DTSB bzw. der Sportwissenschaft
in andere Länder wurden u.a. die „Trimm“-Aktionen in den skandinavischen
Ländern ebenso mit Interesse aufgenommen, wie gleichartige Veranstaltungen
und Programme in der Tschechoslowakei oder in Polen.
Aus dem Jahr 1972 datieren erste Impulse für eine Entwicklung einer
neuen attraktiveren und breiteren Bewegung. In den Kreisen der DDRSportjournalisten,
maßgeblich inspiriert durch Klaus Weidt, wurde mit dem
traditionellen Entfernungsmaß der „MEILE" eine Idee geboren, die das
Laufen - und andere ausdauerfördernde Sportarten - in ein neues Licht
setzen sollte. In Beratungen zwischen Journalisten, Sportwissenschaftlern,
Sportmedizinern und erfahrenen Fachkräften aus Sportgemeinschaften
bzw. den Fachverbänden fand man mit der Meilendistanz ein niedrigschwelliges,
wohl für Laufanfänger durchaus zugängliches Motiv. Das
gilt für die „Meile" mit einer eigenen Laufstreckenlänge, nämlich der jewe iligen
Jahreszahl - beginnend 1974 = 1974 Meter. In den darauffolgenden
Jahren maß die Meile dann jeweils 1975...1976 Meter usf…
Um mehr Menschen, vor allem die wenig sportlich Aktiven, zu erreichen,
fokussierte man sich nicht allein auf das Laufen, sondern bezog
auch das Wandern, das Radfahren, Schwimmen, Wasserwandern und
Skilaufen mit ein. Die jeweiligen Meilenstrecken wurden jeweils an die
37
sportarteigene Belastung angepasst: Schwimmen = 400 m, Wandern =
4000 m, Wasserwandern = 4000 m, Skilaufen = 4000 m, Radfahren: 8000
m. Der „Meilen-Pass", in allen Medien vom Fernsehen über den Rundfunk
bis in die regionalen Zeitungen vorgestellt und regelmäßig auf den Spor tseiten
veröffentlicht, regte dazu an, in einem halben Jahr 25 Meilen in einer
oder mehreren der genannten Bewegungsarten zurückzulegen. (17; 21)
Einerseits konnte also mit der Meile ein landläufig bekanntes Motiv
eingesetzt werden. Andererseits beging man den Weg, über niedrigschwellige
sportliche Aktivität Ziele für dauerhaftes Tun zu setzen. Die
jeweilige Jahreszahl = Streckenlänge kann ebenfalls als fassliche Marke
verstanden werden. Die dann schließlich von Helmut Wengel, Sportjournalist
in Erfurt, geprägte Formel “EILE MIT MEILE" erwies sich für die
rasante Verbreitung vor allem der gesundheitsdienlichen Fortbewegungsarten
als außerordentlich glücklicher, auch in der internationalen
Fachwelt bestaunter Treffer.
1974 wurde das Meilenkomitee der DDR — vor 40 Jahren - gebildet.
Schrittweise, oft auf Initiative von Sportjournalisten, formierten sich gleichartige
Komitees in Bezirken und Kreisen, in denen jeweils Journalisten,
Vertreter der jeweiligen regionalen DTSB-Vorstände bzw. erfahrene Organisatoren,
in der Regel aus Sportgemeinschaften oder auch Sportärzte tätig
waren. Die Meilenkomitees sahen ihr Aktionsfeld in der Öffentlichkeitsarbeit,
so in der Verbreitung der Termine in nächsten Umfeld u.a. in den
örtlichen oder regionalen „Meilenkalendern", aber auch im Aufbau und in
der Organisation von Meilenläufen bzw. -wanderungen usw. sowie in der
Herausgabe von Publikationen. So erschienen die Broschüren „Meilenf ibel"
1976 (17) „Meilenmagazin" 1978 (8), „Lauftreff" 1980 (2) bzw. „Laufen
und Wandern" 1982 (7). Auf örtlicher Ebene vermittelten viele weitere eigene
Schriften und Werbefaltblättern Erfahrungen und Hinweise für das
Lauftraining - bevorzugt für Laufanfänger.
Die „Meile" erreichte bereits mit ihrem Start am 20. April 1974 eine
beachtliche Popularität. Sportidole wie Täve Schur in Magdeburg und Roland
Matthes in Erfurt liefen begleitet von tausenden Läufern die erste
Meile. Die hieß 1974 „Jubiläumsmeile" und 1995 „Freundschaftsmeile"
sowie 1976 „Olympiameile" usf.. Der Bezug zu aktuellen Ereignissen und
eine sehr lebendige, humorvolle und lebensnahe Öffentlichkeitsarbeit in
den Medien erzeugte eine hohe Aufmerksamkeit.
Einsteiger und Interessierte konnten von Fachkräften, Übungsleitern und
Sportlehrern betreut werden, für die der DTSB zentrale Lehrgänge eingerichtet
hatte.
Lauftreffs wurden überwiegend von den Sportgemeinschaften, hier und
da auch von den Kreisvorständen des DTSB aufgebaut und getragen. Buggel
und Buggel berichten von 200 Sportgemeinschaften, die schon 1968 in Städten
und Dörfern gemeinsames, regelmäßiges Laufen pflegten. (5)
In den Lauftreffs und in Laufkursen entstanden Ideen wie z.B. im thü38
ringischen Weimar. Dort honorierte man die Teilnehmer an Anfängerkursen
mit einer Urkunde, die den Namen des Kursbesuchers auswies und
mit dem Text „Vom Laufbaby zum Laufwunder" zugleich einen spaßigen
Titel verlieh. Bei den Laufveranstaltungen und Lauftreffs konnte eine wahre
Flut originell gestalteter Symbole, Souvenirs oder Laufaccessoires,
gleich ob T-Shirts, Slips, Stirnbänder oder Caps, Gläser, Teller, Becher
o.ä., erworben werden. Als sehr begehrt erwies sich das „Meilentrikot" in
weiß für 100 Meilen, in blau (500 Meilen) und gelb (1000 Meilen).
Die große Anziehungskraft der Laufveranstaltungen findet ihre Erklärung
in der perfekten Organisation vom Meldevorgang bis zum Ergebnisheft
aber ebenso auch ihrer phantasievollen und lebendigen Gestaltung.
Als Beispiele sind der Schweriner 5-Seen-Lauf, der Karl-Marx-Städter
Stauseelauf (heute Chemnitz), der Flößtallauf in Gräfenroda, der Mühltallauf
bei Eisenberg. Burgenläufe wie in Belzig aber auch an den drei Gleichen
bei Erfurt oder der GutsMuths-Rennsteiglauf, der Harzgebirgslauf,
der Kyffhäuserlauf u.v.a.m. zu nennen. Alle diese großen und weithin bekannten
Laufveranstaltungen haben ein eigene Geschichte ihres Werdens
und Wachsens und auch der z. T. erheblichen Hürden, die sich ihnen mitunter
anfangs in den Weg stellten. (12; 14)
Einige Zahlen liefern zumindest tendenziell Auskünfte über das
Wachsen und die Popularität der Laufbewegung: So nahmen 1988 laut
Statistik des DTSB an über 34.900 Laufveranstaltungen in der DDR mehr
als 1.903.000 Aktive teil. An etwa 31.700 Wanderungen beteiligten sich
über 1.052.000 wanderfreudige Bürger. Im gleichen Jahr existierten 3.948
Lauftreffs, die von rd. 268.000 Lauffreunden besucht wurden.(10)
In einem kurzen Abriss zur Entstehung der Laufbewegung — das 50-
jährige Jubiläum steht noch bevor! - sollte hier gezeigt werden, dass sich
in Deutschland weitaus mehr bewegt hat und auf professionelle Organisation
gestützt war, als in manchen historisierenden Darstellungen über den
Freizeit- und Gesundheitsport in der DDR zu finden ist. Gleichzeitig darf
daran erinnert werden, dass in europäischen und weltweiten Gremien des
Sports, so u.a.in der Europäischen Sportkonferenz (ESK) und in der ICCSPE
sowie in den damaligen „Trim and Fitness-Konferenzen" bzw. in
weiteren Kongressen, Darstellungen über den Breiten- und Freizeitsport
und auch über die Laufbewegung in der DDR gebührende Aufmerksamkeit
gefunden haben. Umso mehr darf der Läufer, Mitorganisator und Beteiligte
an internationalen Begegnungen erstaunt sein, dass in der Gegenwart
Verschweigen, Verkleinern und Abwerten noch immer in so breitem Ausmaß
praktiziert werden.
Von ihren Anfängen an hat die Laufbewegung einen besonderen Rang
und breites öffentliches Interesse erreicht. Dafür spricht der große, ja massiver
Zuspruch, wie ihn in der DDR keine andere Sportart in kurzer Zeit je erlebt
hatte. Aufschluss darüber liefern Publikationen über die Laufbewegung in
der DDR, Schriften und Bildmaterial aus der Laufbewegung und manche
39
Zahl. Man wird über 50 Jahre Laufbewegung in der DDR bald zu sprechen
haben!
Ausgewählte Quellen:
1.Ausdauerentwicklung im Freizeit- und Erholungssport und Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetrieb.
Tagungsbericht, Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig, Institut Freizeit- und Erholungssport,
Leipzig 1978 * 2.Bartel, W., Israel, S.: Lauftreff, Hrsg. Bundesvorstand des DTSB der DDR u. a., Berlin 1984
* 3.Bartel, W.:"Fahr mit - bleib fit", „Lauf mit — bleib fit", „Wandere mit — bleib fit", Faltblätter, Hrsg. DEWAG
Magdeburg, 1979 * 4.Beuker, F., Kabisch, D. Kramer, M., u.a.: Lauf Dich Gesund! 50 Fragen 50 Antworten,
Hrsg. Zentraler Arbeitskreis, DTSB-Bundesvorstand, Berlin 1968 * 5.Buggel, I. u. Buggel, M.: „Lauf Dich
Gesund" S. 25-29. In: Beiträge zur Sportgeschichte, Heft 30, Spotless.Verlag Berlin 2010 * 6.Israel, S.; Ehrler,
W.; Vietor, G,: Ausdauertraining und Gesundheit, Hrsg. Deutsches Hygiene Museum, Dresden in Zusammenarbeit
mit dem Institut Freizeit- und Erholungssport der DHfK Leipzig, 1979 * 7.Heinz, A.: u. a.,
Ges.red.: Dr. K. Hennig, Laufen und Wandern, Hrsg. Bundesvorstand d. DTSB d. DDR, Berlin 1982 *
8.Hennig, K., Lemke, E., Weidt, K., u. a.: Meilenmagazin, Hrsg. Bundesvorstand d. DTSB d. DDR, Berlin
1978 * 9.Hennig, K, Aufgaben für die weitere Entwicklung der Laufbewegung, In: Protokollband des 2. Thüringer
Läufertages, Jena 1981, S. 1-3 * 10.Hennig, K.: Die Laufbewegung in der DDR: ein Exkurs. In Hinsching,
J. (Hrsg.) Alltagssport in der DDR, Meyer & Meyer Verlag, Aachen 1998, S 90- * 11.Köhler, H. u. a.
:Laufen, Sportverlag, Berlin 1982 * 12.Kremer, H.-G.: Vergangenheit-Gegenwart Zukunft des Guts-
MuthsRennsteiglaufes als Beispiel für die Lauf - und Wanderbewegung in der DDR. In: Protokollband
I., Wissenschaftliches Kolloquium des GutsMuths-Rennsteiglaufes. Schmalkalden 1977,
S 13-26 * 13.Kremer, H.-G.: Motive und Einstellungen bei Teilnehmern an Lauftreffs". Theorie und Praxis
der Körperkultur, Berlin 32 (83) 4, S. 280-281 * 14.Kremer, H.-G.: Der Rennsteiglauf: Symbol der Laufbewegung
in der DDR. In Hinsching, J. (Hrsg.), Alltagssport in der DDR, Meyer & Meyer Verlag Aachen
1998, S 227-258 * 15.Kuhlmann, D.: Laudation auf 50 Jahre moderne Laufbewegung in Deutschland. In:
DOSB-Presse, vwvw.dosb.de/dosb-presse,Nr. 39 I 24.09.201316.Kuhlmann, D.:In: DOSB-Presse,
www.dosb.de dosb-presse, Nr.42 I 15.10.2013 * 17.Lemke, E. u.a.: Meilenfibel, Gesellschaft zur Förderung
des Olympischen Gedankens, Berlin 1976 in der DDR, Sonderheft 1976, * 18.Querfeldein hat lange Tradition
in: Sport für Berlin, Okt.-Nov. 2013 S. 173 * 19.Weidt,K. „Deutschlands ältester Waldlauf..." In:
Laufend im Osten, Hrsg. REISEZEIT Tourismus GmbH, Berlin, o.J. S. 2020.Uni-Zeitung Hannover v.
31.05.2006: Dr. Detlef Kuhlmann — Professor an der Universität Hannover * 21.Weidt, K.: „Muskeln und
Meilen" S. 19-24 In: Beiträge zur Sportgeschichte, Heft 30, Spotless.Verlag Berlin 2010
40
DAS FERNSTUDIUM AN DER DHFK IN LEIPZIG
1953 BIS 1970
WILLI RÜMMLER
Die Notwendigkeit, ein Fernstudium einzuführen, ergab sich aus dem
Mangel an Fachkräften in allen Bereichen der Gesellschaft, auch in allen Bereichen
des Sports. Um diesen Mangel zu beheben, wurde zunächst die Zahl
der Hochschulen in der DDR verdoppelt. Das war aber nur möglich, wenn
zunächst in kurzzeitigen Lehrgängen ausgebildete oder auch unausgebildete
Lehrkräfte eingestellt wurden, die dann neben ihrer beruflichen Tätigkeit in
einem Fernstudium eine volle akademische Ausbildung erwerben konnten.
Im Sport verband sich solch eine Lösung mit erheblichen Schwierigkeiten.
Denn es gab damals weltweit keinerlei Erfahrungen mit einem Fernstudium
zur Ausbildung von Sportlehrern. Es fehlten also sowohl Erfahrungen als
auch Nachweise für die Realisierbarkeit solch eines Studiums. Ausgewiesene
Fachleute bezweifelten, dass solch ein Schritt auf ein völlig unbekanntes
Ausbildungsterritorium erfolgreich sein würde, Trotzdem beschloss der Senat
der DHfK am 11. Dezember 1952 während seiner 27. Beratung - nach Drängen
der neuen Sportführung - mit einem Fernstudium für Diplomsportlehrer
ab 1. September 1953 zu beginnen.
Das hieß, nicht nur eine Vielzahl von Fachkräften auszubilden, um den
dringend benötigten Nachholbedarf an Fachkräften zu lindern und schließlich
gerecht zu werden. Sondern dazu bedurfte es auch einer speziellen Fernstudienmethodik
und einer speziellen Fernstudienausbildung.
Die Grundsatzentscheidungen für solch ein Studium hatte der Gesetzgeber
bereits 1950 getroffen, da die Hochschulen jeweils gleichermaßen für
das Direkt- und das Fernstudium verantwortlich waren. Demzufolge lag die
Hauptverantwortung in der Hand des Rektors. Das Statut der DHfK vom 1.
April 1954 bestätigte das im § 43 nachdrücklich. Der Rektor hatte die Aufgabe,
ein zentrales Leitungsorgan zur Koordinierung, Anleitung und Kontrolle
des Fernstudiums in Form einer Hauptabteilung (HAF) einzurichten. Und für
die Ausbildung der Fernstudenten waren als dezentrale Ausbildungseinrichtungen
Außenstellen (AS) aufzubauen.
Für die Inhalte und die fernstudiengerechte Ausbildung trugen die Leiter
der Institute der Hochschule die Verantwortung. Das hieß u.a.: Spezielle
Stoffverteilungspläne zu erarbeiten, Lehr- und Studienmaterialien für die
Hand der Fernstudenten zu entwickeln, in Lektorentagungen die nebenamtlichen
Lektoren anzuleiten und insgesamt eine gleichwertige Ausbildung abzusichern.
ZUM AUFBAU DES FERNSTUDIUMS FÜR DIPLOMSPORTLEHRER IN
DEN 1950ER JAHREN
1953 begannen 296 Fernstudenten ihre Ausbildung. Bis 1957 erhöhte
sich Anzahl auf 700, bis 1960 auf 1126 und umfasste damit mehr als 50 Pro41
zent, der an der DHfK immatrikulierten Studentinnen und Studenten.
In den Anfangsjahren waren dafür die notwendigen Bedingungen zu
schaffen bzw. weiter zu vervollkommnen. So wurden die zunächst erarbeiteten
Studienpläne seit 1955 fernstudiengerecht ausgeformt. Die ersten Lehrmaterialien
der Institute erschienen zunächst als „Lehrbriefreihen" in Einzelheften,
später als Lehrbriefe oder Lehrhefte in einem Band, danach als Lehrbücher.
Wie im Direktstudium wurden auch die Fernstudenten in den Außenstellen
in Seminargruppen zusammengefasst. Ihre Ausbildung erfolgte an
wöchentlichen „Konsultationstagen" und durch Konsultationen im Umfang
von sieben Stunden. Die Hauptform dieses Studiums war das eigenverantwortliche
Selbststudium. Das erforderte, das Selbststudium und die Konsultationen
optimal miteinander zu verbinden. Edgar Haase — der erste Leiter der
HAF an der OHM — fand dafür eine praktische Lösung, die sich nach 1956 immer
wieder bewährte: Kontrolle des Selbststudiums (ca. 20 Prozent), Wiederholung und
Vertiefung der Lehrstoffes (ca. 40 Prozent), Vorbereitung des neuen Lehrstoffes für
das Selbststudium (ca. 40 Prozent). Seine wissenschaftlichen Untersuchungen fasste
er in einer Dissertation (Universität Leipzig 1964) zusammen.
Nach mehreren Veränderungen bildeten sich acht Außenstellen des Fernstudiums
heraus — Berlin, Cottbus, Dresden (Meißen), Erfurt, Karl-Marx-Stadt
(Chemnitz), Leipzig, Magdeburg und Rostock.
Als Leiter der Außenstellen waren Dozenten vorgesehen. Es standen aber
zunächst nur Absolventen der DHfK und des Instituts für Körpererziehung von der
Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg zur Verfügung. Nur drei kapitulierten vor
den anfänglichen Schwierigkeiten, sodass bald ein fester und eingearbeiteter
Stamm von Leitern der AS den Auf- und Ausbau des Fernstudiums selbständig löste.
DER AUFBAU DES TRAINERFACHSCHULFERNSTUDIUMS (TFF)
Der akademische Senat der DHfK beschloss während seiner 102. Beratung
am 10. Juli 1958 die Einführung des Trainerfachschulfernstudiums (TFF) an der
Hochschule. Mit der „Anordnung über die Einrichtung, Organisation und Durchführung
eines Fachschulfernstudiums für Werktätige" vom 21. Juli 1956 (Gesetzblatt
der DDR Teil I Nr. 68, 5. 609 f). der „Anordnung für das Trainerwesen" vom 12.
April 1958 und auf der Grundlage der „Anweisung über die Einrichtung des Fachschulfernstudiums
für Trainer" des Staatlichen Komitees für Körperkultur und
Sport..." vom 2. Mai 1958 wurde die rechtliche Stellung des Trainers neu festgelegt
und seine Ausbildung darauf ausgerichtet, ihm dafür das erforderliche wissenschaftliche
Rüstzeug zu vermitteln.
Mit dem Studienjahr 1958/1959 beginnt das dreijährige Fachschulfernstudium
mit der Immatrikulation von 185 Fernstudentinnen und -studenten. Im Studienjahr
1959/1960 werden nochmals Trainerinnen und Trainer aus 12 Sportarten immatrikuliert,
sodass schließlich 647 Trainerinnen und Trainer aus 29 Sportverbänden das
TFF erfolgreich absolvieren. Ein Teil von ihnen entwickelte sich zu den „Erfolgstrainern
der ersten Generation" und trug zu den Erfolgen der DDR-Athletinnen und -
athleten bei den Olympischen Spielen 1964, 1968 wie auch in den nachfolgenden
42
Jahren bei. Diesen Trainern standen für ihre Ausbildung jeweils 48 arbeitsfreie Tage
zur Verfügung. Die Grundausbildung erfolgte mit einem Anteil von 38 Prozent von
14tägigen Konsultationen an den AS, die Spezialausbildung in Theorie und Praxis mit
62 Prozent in Lehrgängen an der Hochschule in Leipzig.
Die Außenstellen waren bei ihrem Auf- und Ausbau sowohl auf die vorhandenen
örtlichen Einrichtungen und Anlagen angewiesen als auch auf Praxispartner für
die Ausbildung.
DER AUSBAU DES FERNSTUDIUMS AN DER DHFK IN DEN 1960ER JAHREN
In diesem Jahrzehnt wurde die Grundlegung des Fernstudiums abgeschlossen,
das Gesamtsystem des Fernstudiums an der DHfK vervollständigt, die Erfahrungen
aus den 1950er Jahren zu Arbeitsmethoden und -aufgaben u.a. umgesetzt mit dem
Ziel, der Stabilisierung und weiteren Erhöhung der Effektivität.
Die Anzahl der Fernstudenten wurde in diesem Zeitraum nicht weiter erhöht,
aber die Zahl der Ausbildungsaufgaben erweitert und die Ausbildung vervollkommnet.
Das galt besonders für die Ausbildung der Diplomsportlehrer. Zunächst wurde
1963 nun unter der Regie der AS - der Einführungslehrgang wieder aufgenommen.
Die Studienplankommission bemühte sich, den stärker naturwissenschaftlich orientierten
Studienplan für das Direktstudium auf die Bedingungen des Fernstudiums
zu übertragen. Der neue Studienplan für das Fernstudium von 1965 enthielt
nun 19,2 Prozent Unterricht in naturwissenschaftlichen Disziplinen gegenüber
8,4 Prozent zu dem bis dahin gültigen. Dafür standen auch rechtzeitig
die neuen Studienanleitungen zur Verfügung. Und zum Kreis der auszubildenden
Fernstudenten gehörten nun auch neu in der Sportorganisation
angestellte Kreissportlehrer und ehemalige Leistungssportler, die im Sport
bzw. im Bildungssystem tätig waren.
Die „Direktive" von 1960 legte die Weiterführung des TFF fest, erweitert
auf eine Studienzeit von vier Jahren. Aufgestockt wurden vor allem die naturwissenschaftlich
und sportmedizinisch orientierten Fächer.
Die meisten Studenten waren nun Nachwuchskader im Alter von 25 bis
35 Jahren. Sie mussten sowohl einen Vorkurs absolvieren als auch eine Aufnahmeprüfung
ablegen.
„Voraussetzung für die Steigerung der sportlichen Leistung ist eine große
Anzahl gut ausgebildeter Kader", so heißt es in der „Richtlinie" des
Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen über die Qualifizierung
von Funktionären des DTSB zu Sportlehrern vom 26. September 1960. Da
die AS der DHfK diese Aufgabe nicht auch noch übernehmen konnten, wurde
ein kombiniertes Fachschulstudium etabliert. Die Studierenden wurden an der
DHfK immatrikuliert, die auch die Verantwortung für den Inhalt der Ausbildung
übernahm. Die Ausbildung selbst erfolgte an der Zentralschule des DTSB in
Bad Blankenburg unter Anleitung und Kontrolle der Hauptabteilung Fernstudium
(HAF) und der Institute der DHfK.
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Die Studenten absolvierten im ersten und sechsten Semester ein Direktund
vom zweiten bis fünften Semester ein Fernstudium. Die Anleitung und
Kontrolle des Fernstudiums übernahmen Lehrkräfte der Zentralschule jeweils
an zwei Tagen im Monat an den Stützpunkten Berlin, Güstrow, Greiz-Werdau
und Bad Blankenburg. Von 1961 bis 1969 beendeten in den ersten sechs
Matrikeln 523 Studentinnen und Studenten solch ein Studium, von 1961 bis
1977 in 14 Matrikeln insgesamt 1.148. Darunter befanden sich vier Vorsitzende
von Bezirksvorständen des DTSB, drei Clubleiter, vier Generalsekretäre
von Sportverbänden sowie 182 Vorsitzende von Kreisvorständen des
DTSB. Für die Bezirksorganisationen und für die Sportvereinigungen ASK
und Dynamo wurden - laut Abschlussbericht - im Durchschnitt 70 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter qualifiziert, für Berlin die doppelte Anzahl.
Am 15. Februar 1966 beschlossen das Ministerium für Volksbildung und
das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport eine Vereinbarung über
die „Ausbildung der in der Schulpraxis tätigen Sportlehrer im Fernstudium
der DHfK". Vorgesehen war in der Zeit von 1967 bis 1973 eine Ausbildung
von vier Matrikeln an den AS Leipzig und Magdeburg. Das Fernstudium der
DHfK leistete solidarische Hilfe und Unterstützung. da die im Aufbau befindliche
Fachrichtung "Körpererziehung" am Pädagogischen Institut Magdeburg
diese Aufgabe — zeitbedingt - nicht lösen konnte. Die Studenten waren zwischen
25 und 35 Jahre alt und bereits als Sportlehrer in den Klassen 5 bis
10 der allgemeinbildenden Schulen eingesetzt. Bis 1973 wurden 118 Absolventen
als Diplomsportlehrer für das Fach Körpererziehung ausgebildet,
sieben wechselten auf eigenen Wunsch in das Fernstudium für Diplomsportlehrer
der DHfK.
Am 1. September 1960 war das zentrale Leitungsorgan als Hauptabteilung
Fernstudium, Lehrgangswesen und Weiterbildung neu gegründet worden.
Aber 1966 führte es nun wieder den Namen Hauptabteilung Fernstudium
(HAF). Die Abteilung Weiterbildung musste bereits 1963 aufgelöst werden,
da sich die angestrebte systematische Weiterbildung der Absolventen
der DHfK nicht realisieren ließ. Durch das Auslaufen der Lehrgänge im TFF und
das Anwachsen der Trainerlehrgänge für Ausländer wurde im Jahr 1966 die Abteilung
Lehrgangswesen zur Hauptabteilung (HA) Ausländerstudium umgebildet.
An den Außenstellen verbesserten sich sukzessive die Arbeitsbedingungen u.
a. durch die Anstellung eines Mitarbeiters aus den Reihen der Absolventen,
wodurch eine Abgrenzung der Arbeitsbereiche Diplom und TFF möglich wurde.
Ein Ausbau erfolgte auch in den örtlichen Bildungs- und Sporteinrichtungen, vor
allem durch die Zusammenarbeit und Bündelung der Kräfte.
Zugleich eröffneten sich, bedingt durch die erfolgreiche Entwicklung, neue
Aufgabenfelder. Die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) wurden - zum Beispiel
zu Spezialschulen des sportlichen Nachwuchses und entwickelten sich zu einem
unverzichtbaren Teil im System des Leistungssports. Für nicht wenige ihrer Absolventen
mit Abitur - oft noch mit Leistungsauftrag, für den die Sportclubs (SC) verantwortlich
waren - war es naheliegend, nun ein Sportstudium aufzunehmen. Das
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heißt, die Verantwortungsträger waren aufs Neue herausgefordert, neue Lösungen
waren zu finden. Das Fernstudium der DHfK konnte somit von seiner Gründung bis
zu seiner „Abwicklung“ 1990 auf eine überaus erfolgreiche Entwicklung zurückblicken.
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DIE „UNTERSCHLAGENEN“ FUSSBALLLÄNDERSPIELE
Wer die Frage, wie oft die Nationalmannschaften der DDR und der BRD
aufeinandertrafen, zur Preisfrage erheben und die mit „einmal“ beantworten
würde, wäre zwar offiziell im Recht, tatsächlich aber im Unrecht! Das mag
absurd klingen, was wiederum den Autor nicht irritiert. Wer wie die UNO davon
ausgeht, dass es sich bei DDR und BRD um zwei Staaten – lies: Länder
– handelte, muss sich belehren lassen, dass sich beide Nationalmannschaften
sechsmal gegenüberstanden und die DDR dreimal gewann!
Wer diese Feststellung bezweifelt, kann sich auf die FIFA und sogar auf
den Fußballverband der DDR berufen – wäre aber dennoch nicht im „Statistik“-
Recht!
Einer der vielen Gründe für diese fast kuriose Feststellung sind auch die
politischen Turbulenzen, die mit den „gesamtdeutschen“ Olympiamannschaften
verbunden waren. Denn: Im Vorfeld dieser Entscheidungen trafen die Nationalmannschaften
allein viermal bei sogenannten „Olympiaqualifikationen“
aufeinander und wie immer man diese Spiele beurteilt – es bleiben Spiele
beider Länder, also „Länderspiele“!
Warum die FIFA und der bundesdeutsche Fußballverband diese Länderspiele
spurlos verschwinden lassen wollte – wie übrigens viele Begegnungen
bei Olympia – haben sie nie und nirgends erklärt oder gar begründet. Nochmal:
Es war dies kein ein innerdeutscher Streit, aber er kam den von der
Bundesregierung forcierten Maßnahmen durchaus entgegen.
Ausgangspunkt für die statistischen Unterschlagungen dieser Olympiaspiele
war die Tatsache, dass niemand verbürgt garantieren wollte, dass die
Spieler dieser Mannschaften den Kriterien olympischer Amateure entsprachen,
denn niemand wagte endgültig zu befinden, ob alle bei Olympia teilnehmenden
Fußballspieler Amateure von der Art waren, wie sie das olympische
Reglement vorschrieb und auch nach den jüngsten Vorschlägen vorschreibt.
Darüber ließe sich übrigens ausgerechnet im Hinblick auf die Spieler
beider deutscher Staaten nicht streiten. Bundesdeutsche Medien bezeichneten
DDR-Spieler mit Vorliebe als „Staatsamateure“, wobei das IOC bekanntlich
solchen Status gar nicht kannte. Auch, weil diese angeblichen Staatsamateure
im Grunde gegen keine olympische Regel verstießen: Sie gingen
geregelter Arbeit nach oder studierten und das DDR-Sportsystem gestattete
es ihnen „nebenbei“ zu trainieren oder Wettkämpfe zu bestreiten, ohne deswegen
berufliche Nachteile hinnehmen zu müssen.
BRD-Fußballspieler aber wurden als Profis offen auf dem „Markt“ gehandelt,
gingen nur selten konsequenter Arbeit nach und wurden in der Regel
von Managern „betreut“, die hemmungslos als faktische Menschenhändler
operierten und daraus auch keinen Hehl machten. Der Hader begann schon
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in den frühen Olympiajahren, als 1920, 1924 und 1928 England das Turnier
„boykottierte“, weil es keine Amateure zu nominieren bereit war. Vielleicht war
das einer der Gründe, warum man bei der FIFA auf die „Länderspiele“ verzichtete.
Man wollte vielleicht damit Grenzen andeuten, die offiziell nicht vorhanden
waren, obwohl kaum ein IOC-Mitglied zu glauben bereit war, alle
Olympiateilnehmer würden einen Acht-Stunden-Arbeitstag absolvieren und
sich in der verbleibenden Freizeit auf die Spiele vorbereiten und auch noch
nach Rekorden streben. Und Bonn wiederum war zufrieden, dass in diesem
Sportsektor wenigstens bei Olympia die DDR nicht als „Land“ geführt wurde!
Wir gehen indes davon aus, dass es sich um Länderspiele handelte,
dieweil man sie weder als Punkt-, Pokal-, oder Freundschaftsspiele einordnen
konnte.
Das erste dieser Länderspiele fand am 16. September 1959 statt. Der
verzweifelte Versuch Bonns, dieses Länderspiel keinesfalls je als solches in
Statistiken auftauchen zu lassen, erzwang man beim IOC eine Variante, dem
man nie zuvor oder danach folgte: Es war ein Spiel ohne Zuschauer. Damit
war zwar nicht der Tatbestand eines Länderspiels aufgehoben, aber man
konnte sich darauf berufen, dass es kaum Zeugen gab. Journalisten erzwangen
ihre Zulassung und berichteten auch über das „Geisterspiel“. Es fand jedenfalls
statt, dauerte 90 Minuten und wurde nach den geltenden Fußballregeln
ausgetragen. Das ist inzwischen 55 Jahre her, doch haben Journalisten
– wie ich – es noch gut in Erinnerung.
Die Bundessrepublik ging in Führung – durch ein Eigentor! Am Ende
stand es 2:0 und man erinnerte sich in der DDR vergeblich des kurz zuvor
stattgefundenen umjubelten Siegs über Wales, der für Aufsehen gesorgt hatte
und Olympia-Hoffnungen hatte aufkommen lassen.
Eine Woche später fiel in Düsseldorf die Entscheidung. Beim Rückspiel
galt wiederum die zuschauerlose Variante. Nicht mal die Stadien waren benannt
worden. Man beschränkte sich auf die Ankündigungen: Die Spiele finden
im „Raum Berlin und Duisburg“ statt.
Tatsächlich traf man sich am 23. September im Düsseldorfer „Rheinstadion“.
Spickenagel hütete das DDR-Tor, Ducke führte den Sturm. Nach 14
Minuten gab der niederländische Schiedsrichter Martens einen Elfmeter für
die DDR. Schröter verwandelte ihn sicher. Man begann zu hoffen, aber 18
Minuten später erzielte Thimm den Ausgleich als ein Rückgabefehler unterlief.
Wilkening erzielte das 2:1 für die Gastgeber. Die Abseitsreklamationen
waren berechtigt, nützten aber nichts.
Vier Jahre später musste sich erneut das IOC mit dem Spiel befassen.
Man schrieb den 20. August 1963 und im damaligen Sitz des IOC, der Villa
Mon Repos verhandelten IOC-Beauftragte der DDR und der BRD stundenlang
über die Austragungsorte der Ausscheidungen. Im Fußball war
keine Einigung zu erzielen. Vor Beginn der Abschluss-Pressekonferenz
bat Willy Daume noch einmal um eine Pause, in der er ausgiebig telefonierte.
Als er in den Saal zurückkehrte, steuerte er auf den Generalsek47
retär des NOK der DDR, Helmut Behrendt, zu und erklärte ihm: „Sagen
Sie Ihren Fußballleuten, daß sie zu dem vereinbarten Spiel einladen
sollen."
Helmut Behrendt glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Hatte
man deswegen bis nach Lausanne reisen und dort stundenlang verhandeln
müssen?
Am 28. Mai 1963 hatten sich die Vertreter der beiden deutschen Fußballverbände
in Eisenach getroffen und vereinbart, zwei Ausscheidungsspiele
in Karl-Marx-Stadt (13. September) und Hannover (22. September) zu bestreiten.
Als man auseinanderging, wusste man sogar, welche Hosen und
Jerseys beide Mannschaften tragen würden. Alles schien klar. Über Nacht
verweigerte Daume seine Zustimmung. Er erinnerte an seine „neun unabdingbaren
Forderungen" und verlangte vom westdeutschen Fußballverband,
er sollte das zweite Spiel nicht in Hannover, sondern in Westberlin austragen.
Sein von Bonn kommandierter Ortswechsel sollte das offiziell nicht zur Bundesrepublik
gehörende Westberlin ins Spiel bringen. Selbst der westdeutsche
Verband sah keinen triftigen Grund dafür, noch hielt er es für nützlich, die
eben unterschriebene Vereinbarung wieder aufzukündigen. Schließlich entschied
IOC-Präsident Brundage: „Ich werde keine Konzentration von Ausscheidungen
in Westberlin zulassen!" Also blieb Daume keine andere Wahl
als Helmut Behrendt ins Bild zu setzen, dass es bei dem ursprünglichen Spielort
bliebe.
Am 14. März 1963 fand das dritte Länderspiel zwischen beiden Mannschaften
statt. Mit Zuschauern! Immerhin 55.000.
Nach bewegtem Spiel behielt die sich steigernde DDR-Olympiaauswahl
mit 3:0 die Oberhand. Die Elf der DDR, klug eingestellt von ihren Trainern
Karoly Soos und Hans Studener, ließ schon bald ihre Vormachtstellung spüren.
Selbst der zeitweilige Ausfall Nachtigalls — ein klares Foul im Strafraum
von Zott bestrafte der Engländer Dagnali nicht — hinderte die Elf nicht, gerade
in dieser Phase das 1:0 zu erzielen. Die Entscheidung fiel, als Nachtigall
nach seiner kurzen Behandlungspause im Torraum zwei Spieler austrickste,
den Ball zu Stöcker schlenzte und der Magdeburger unhaltbar verwandelte.
Schließlich das 3:0 (57.). Fräsdorf sah Nöldner auf der rechten Seite freistehen.
Der schoss zwischen den Beinen des Torhüters besonnen ins Netz.
Am 22.9. fand in Hannover das Rückspiel statt. Es wurde von der BRD
mit 2:1 gewonnen. Das Gesamtresultat von 4:2 reichte für die DDR, um
„Deutschland“ in Tokio fußballerisch zu vertreten.
Dem Rückspiel waren zahlreiche Querelen vorausgegangen, die möglicherweise
angezettelt worden waren, um die DDR zum Verzicht zu veranlassen.
Es begann damit, dass das Spiel im Fernsehen nicht übertrugen wurde.
Telefongespräche der Journalisten wurden um Stunden verzögert und
dann pausenlos unterbrochen. Das zwang die Reporter gleich nach dem Abpfiff
an die Grenze zu rasen, um von dort die Berichte durchzugeben. Nach
Spielschluss umringten rund 50 Rowdys den Mannschaftsbus, provozierten
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die bereits eingestiegenen Ersatzspieler, aber als die Mannschaft kam, wurden
die Randaleure von DDR-Anhängern in die Flucht geschlagen.
Danach musste sich die DDR-Elf in der Olympia-Vorrunde behaupten
und traf als erstes auf die Niederlande. Ein magerer 1:0-Sieg in Den Haag
wahrte die Chancen. Am Ostersonnabend fand im überfüllten Rostocker Ostseestadion
das Rückspiel statt, das mit dem schockierenden 1:0 der Gäste
nach drei Minuten begann. Dann aber bekam die DDR das Spiel in den Griff,
gewann 3:1 und musste nun gegen die UdSSR antreten. Lange führte die
DDR 1:0, kurz vor dem Abpfiff fiel der Ausgleich. Das Rückspiel in Moskau
sah die Gastgeber in Führung gehen, aber dann fiel noch der Ausgleich. Da
damals weder Verlängerungen noch Elfmeter-Duelle im Reglement standen,
fand eine dritte Partie in Warschau statt und in der triumphierte die DDR mit
einem sensationellen 4:1. Gegen den Iran (4.0), Rumänien (1:1), Mexiko
(2:0), Jugoslawien (1:0), die CSSR (1:2) spielte sich die Mannschaft in die
Endrunde und errang gegen die VAR (3:1) die Bronzemedaille.
Nachdem die DDR nach der Entscheidung des IOC 1965, die Mannschaft
als selbständige Vertretung antreten zu lassen, keine Ausscheidungen
mehr gespielt werden mussten, begegneten sich beide Mannschaften das
nächste Mal am 8. September 1972 in der Vorschlussrunde des olympischen
Turniers. Die beiden ersten Mannschaften einer Vorrunde qualifizierten sich
für die nächste Runde, die Sieger der 2. Finalrunde bestritten das Endspiel,
die Zweitplatzierten spielten um die Bronzemedaille. In der 1. Finalrunde traf
die DDR auf Ghana, Kolumbien und Polen. Die Afrikaner und die Südamerikaner
wurden mit 4:0 und 6:1 überzeugend bezwungen. Polen trat im letzten
Gruppenspiel wie die DDR mit der kompletten Nationalmannschaft an und
gewann mit 2:1. So kam es zu der Begegnung der beiden deutschen Mannschaften.
24 Stunden vor dem Anpfiff kam es zu einer Begegnung zwischen
dem DDR-NOK-Präsidenten Heinz Schöbel und Manfred Ewald mit Willi
Daume, die damit endete, dass Daume erhöhte Sicherheitsmaßnahmen für
das Spiel zusagte, nachdem die DDR-Mannschaft massive Drohungen erreicht
hatten. Die Entscheidung fiel am späten Abend des 8. September
vor 80.000 Zuschauern im Olympiastadion. Pommerenke brachte die
DDR in der 12. Minute in Führung, Hoeness erzielte 19 Minuten später
den Ausgleich. In der 53. Minute erzielte Streich durch einen Kopfball
das 2:1, doch schon wenige Minuten später fiel der Ausgleich. Gegen
die nun stürmisch angefeuerte BRD-Auswahl erzielte Vogel acht Minuten
vor dem Ende den Siegtreffer. Damit war das Spiel um die Bronzemedaille
erreicht. Das wurde gegen die UdSSR bestritten, die durch
Blochin und Churzilawa 2:0 in Führung ging. In der 38. Minute verwandelte
Kreische einen Handelfmeter und Vogel erzielte zwölf Minuten
vor dem Abpfiff mit einem unhaltbaren 30-m-Schuss den Ausgleich.
Da es um Medaillen ging, wurde das Spiel 30 Minuten verlängert,
die torlos blieben und das IOC entscheiden ließ, beiden Mannschaften
die Bronzemedaille zu vergeben. Sie trug zum dritten Rang
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der Medaillenwertung der DDR bei! Das offizielle Standdardwerk des
NOK der BRD erwähnte das Ergebnis nicht…
1974 kam es dann bei den Fußball -WM-Vorrunden-Spielen zur
sechsten Begegnung beider Länder. Auch um die Begegnung abends
im Fernsehen übertragen zu können, änderte man – den Regeln widersprechend
– den Anstoßbeginn und ließ Chile und Australien bereits
am Nachmittag gegeneinander spielen. Deren 0:0 sicherte der
DDR unabhängig vom Ausgang des Abendspiels den Weg in die Runde
der letzten acht. Vergeblich warnte BRD-Trainer Schön seine Elf
danach vor der Begegnung mit den „anderen“ Deutschen. Schön e rzählte
mir Jahre später in einer persönlichen Begegnung, dass Beckenbauer
diesen Hinweis mit den Worten kommentiert hatte: „Wir
wissen, woher sie kommen“ und spielte damit darauf an, dass Schön
lange in Dresden gespielt hatte. Nach der ersten Halbzeit, entschuldigte
sich Beckenbauer für diese Bemerkung mit den Worten: „Die
respektieren nicht mal mich! Eine gefährliche Truppe“.
Das sechste Länderspiel entschied das legendäre Sparwasser-Tor
1974 in Hamburg. Das von nur wenigen erwartete 1:0 der beiden Spitzenmannschaften
ließ die tatsächlichen Vergleiche beider Ländermannschaften
damit 3:3 enden…
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ZITATE
SKANDAL IN FREIBURG
Seit Mittwochabend ist nun endgültig klar: Die Lage ist so verfahren,
dass eine unabhängige Instanz eingreifen muss. Der schon lange währende
Streit um die Aufarbeitung der Dopingvergangenheit an der Freiburger Universität
ist in den letzten Wochen immer weiter eskaliert. Genau genommen
geht es gar um die Aufarbeitung der westdeutschen Dopingvergangenheit,
dessen Zentrum Freiburg gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wurde. Die Uni
Freiburg und die von ihr 2007 mit einem Aufklärungsauftrag versehene Evaluierungskommission
finden keinen gemeinsamen Nenner mehr.
Wegen der Behinderungen ihrer Arbeit, die sie in einem über hundertseitigen
Rechenschaftsbericht dokumentiert hat, hatte die Kommissionsvorsitzende,
Letizia Paoli, unlängst ein Ultimatum gestellt. Falls sich nichts ändert,
will sie am 7. November zurücktreten. Am Mittwochabend drängte nun der
Senat der Albert-Ludwigs-Hochschule die Kommission in einer Stellungnahme
zum „unverzüglichen“ Abschluss der Arbeit und beharrte damit auf einer
Position, die eine Lösung des Konflikts sehr unwahrscheinlich werden lässt.
Denn ein schnelles Ende ihrer Untersuchung hatte Paoli zuletzt aufgrund
der Datenmenge für unmöglich erklärt. Nach ihren Klagen hatte etwa die
Stadt Freiburg 18.000 Seiten Akten über den früheren Doping-Arzt Armin
Klümper herausgerückt, um welche die Kommission schon 2012 gebeten hatte.
Im Freiburger Dopingsumpf scheint die gebürtige Italienerin Paoli, eine
renommierte Mafia-Expertin, an ihre Grenzen zu stoßen. Im Zusammenhang
mit ihrem Ultimatum warnte sie, mit einer voreiligen Beendigung der Kommissionsarbeit
würde alles wichtige nicht bearbeitete Material gelöscht werden
müssen. Das ginge aus einem Gutachten hervor, das die Uni in Auftrag gegeben
hätte.
Dieser Darstellung konnte der Uni-Rektor Hans-Jochen Schiewer nur
bedingt widersprechen. Er sagte, die Behauptung von Paoli sei „in dieser Allgemeinheit
unzutreffend“. Im Umkehrschluss stellt sich die Frage, wieso sich
die Uni mit einer möglichen Teilvernichtung von wichtigem Beweismaterial
arrangieren kann?
Auch die Rolle der baden-württembergischen Wissenschaftsministerin
Theresa Bauer (Grüne) wirft Fragen auf. Zuerst stellte sie sich nach Paolis
Ultimatum mit der Forderung nach einem baldigen Abschlussbericht hinter
die Position der Universität Freiburg. Dann lud sie die Streitparteien zu einem
Schlichtungstermin.
Ein solches Treffen bei der Ministerin hatte es aber bereits vor einem
Jahr gegeben, ohne dass sich an den Problemen etwas geändert hätte. Paoli
erklärte deshalb, sie wolle erst wichtige Fragen mit Theresa Bauer klären,
bevor sie sich an einen runden Tisch setzen würde.
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Inwieweit die politische Ebene in Baden-Württemberg zum Schlichten
des Konflikts taugt, ist indes auch zu hinterfragen. Die Akten, die der Kommission
zugänglich sind, beinhalten laut Paoli „Informationen über die Rolle
damaliger CDU-Landesregierungen, CDU-Minister, Angehöriger der Freiburger
Staatsanwaltschaft sowie der Universitäts- und Klinikumsleitung“ im Zusammenhang
mit Ermittlungen gegen Prof. Klümper.
Die Gefahr, dass bei dieser brisanten Gemengelage politische Seilschaften
ihre Wirkung entfalten, ist groß. Dopingexperte Werner Franke, der bis
2012 selbst der Kommission angehörte, sagte: „Da kommen noch kriminelle
Hämmer, brutale Sachen raus.“ Recht behält er aber wohl nur, wenn die Landesregierung
entsprechend reagiert. Die gegenwärtige Situation deutet eher
auf einen anderen Ausgang des Geschehens hin. So wetterte Franke: „Was
da passiert, ist systematische Vertuschung krimineller Straftaten.“ Auch das
noch aktuelle Kommissionsmitglied Eberhard Treutlein äußerte sich deutlich:
„Der Wunsch nach dem Platzen der Evaluierungskommission“ sei bei der Uni
größer als „der nach einer sinnvollen Beendigung“.
Dabei hat Paoli mit ihrem Mitarbeiterstab gar so nebenbei interessante
Unregelmäßigkeiten aufgedeckt. Die Habilitationen von sechs Freiburger
Sportmedizinern stehen derzeit wegen Plagiatsverdacht auf dem Prüfstand.
Uni-Rektor Hans-Jochen Schiewer versteht sich derweil weiter als Aufklärer.
Er kündigte an, dass man eine Forschungsstelle einrichten wolle, die sich mit
der Aufarbeitung der Freiburger Dopingvergangenheit auf Grundlage der Arbeit
der Kommission befassen soll. Paoli entgegnete: Eine hauseigene Forschung
könne naturgemäß „keine Aufklärungsarbeit universitätsinterner“ Belange
leisten.
TAZ; 31.10.2014
SACHENBACHER-STEHLE BESTÄTIGT POSITIVEN TEST
Biathletin Evi Sachenbacher-Stehle hat ihren positiven Dopingtest bestätigt.
In einem Statement schrieb sie "vom schlimmsten Albtraum, den man
sich vorstellen kann". (…)
Laut einem Statement des Deutschen Olympischen Sportbundes
(DOSB) war Sachenbacher-Stehle bei einer Dopingkontrolle am Montag
(17.02.14) nach dem Massenstart-Rennen sowohl in der A- als auch in der BProbe
positiv auf das Stimulans Methylhexanamin getestet worden.
Das Stimulans gehört zur Gruppe der Stimulanzien und ist ausschließlich
im Wettkampf verboten. Häufig wird Methylhexanamin in Nahrungsergänzungsmitteln
gefunden, die für extremen Fettabbau (engl. Fatburner) oder
auch Muskelaufbau werben. Es sind ernst zu nehmende Nebenwirkungen
bekannt. Neben gesundheitsgefährdenden Wirkungen auf das Herz-
Kreislauf-System wie Blutdruckanstieg, der zu Kurzatmigkeit, Brustenge und
möglicherweise Herzinfarkt und Hirnblutung führen kann, traten in einem Fall
nach der Einnahme eines Methylhexanamin-haltigen Nahrungsergänzungsmittels
eine akute Hepatitis sowie weitere Leberschädigungen auf.
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Die IOC-Disziplinarkommission habe die Athletin am Freitagnachmittag
angehört. Der DOSB hat Sachenbacher-Stehle daraufhin entsprechend der
mit ihr getroffenen Athletenvereinbarung aus der Deutschen Olympiamannschaft
ausgeschlossen und ihre sofortige Rückreise veranlasst und umgesetzt.
"Über weitere Konsequenzen wird im Zusammenhang des Verfahrens
entschieden, das federführend vom Biathlon-Weltverband IBU noch einzuleiten
sein wird", hieß es vom DOSB. (…)
Uwe Müssiggang, Biathlon-Cheftrainer, sagte: "Wir weisen die Mädels
immer wieder darauf hin, dass sie so etwas nicht nehmen sollen. Was mich
so ärgert, ist die Dummheit." Der deutsche Mannschaftsarzt Klaus Marquardt
erklärte, dass die so genannte "Kölner Liste", auf der der Umgang mit Nahrungsergänzungsmitteln
geregelt ist, bekannt sei. "Wir sprechen hier von Profisportlern.
Wir weisen mehr als eindeutig immer wieder auf diese Problematik
hin."
Alfons Hörmann, Präsident des DOSB, hätte sich das "Thema gerne erspart".
"Es ändert in meinem Verständnis aber nichts an der Olympia-Bilanz,
weil eine Athletin betroffen ist, die keine Medaille hat", sagte der 53-Jährige.
"Dass es uns insgesamt keine Freude bereitet, ist aber klar. Ich bin froh und
dankbar, dass wir nach bestem Wissen und Gewissen sagen können, dass
im Thema Anti-Doping alles Menschenmögliche unternommen wurde."
Die 33-jährige Sachenbacher-Stehle, die das olympische Dorf bereits
verlassen hat, war 2006 am Tag vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele
in Turin wegen erhöhter Blutwerte mit einer fünftägigen Schutzsperre
belegt worden. Das Auftaktrennen der Ski-Langläuferinnen musste sie damals
von außen anschauen.
SID; 21.2.2014
DOPING IN WESTDEUTSCHLAND
Die sportinteressierte Öffentlichkeit ist erschüttert, seit Inhalte aus dem
Bericht "Doping in Deutschland von 1950 bis heute" bekannt geworden sind.
Es schockiert, wie systematisch in der Bundesrepublik gedopt wurde, wie
rücksichtslos Mediziner und Trainer vorgingen und wie das Vorgehen von der
Politik geduldet und sogar gefördert wurde. Die Forscher haben zahlreiche
Zeitzeugen befragt - und damit neue Erkenntnisse gewonnen. Süddeutsche.
de hat die brisantesten Schilderungen aus der Studie
zusammengetragen.
Offensichtliches Doping
Es mag überraschen, aber der Betrug im Sport geschah hierzulande
nicht im Verborgenen, die Veränderungen am Körper der Sportler waren unübersehbar.
Ein ehemaliger Sportler schildert seine Erfahrungen auf Seite
769 des Forschungsberichtes so: „Ich hab also, wenn ich mit den Jungs trainiert
hab, ich hab immer genau gesehen, wenn die, die haben, damals gab's
Dianabol. (...) Die haben dann so'n Fresskopf gekriegt, sag ich, da sind die
Augen so'n bißchen zu. Und da hab ich gesagt, oh, machste wieder 'ne Kur?
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Oh, woher weißte das? Hat man sofort gesehen. Ich hab so'n Leuten sofort
angesehen, wenn die irgendwas da reingehauen haben."
DFB und Doping Vitaminspritzen aus der guten alten Zeit
Doping im Fußball? Franz Beckenbauers Auftritt im „Aktuellen Sportstudio“
gerät ungewollt komisch. Weil sich der Fußballkaiser selbst nicht mehr
genau erinnert, was früher war. Das Problem ist, dass der DFB das Thema
Doping bis heute auf diesem Niveau bekämpfen will.
„Gib uns das auch mal"
Geschah Doping ohne die genaue Mitwisserschaft anderer oder wurde in
Athletenkreisen getuschelt? Ein Beispiel auf Seite 99 der Studie zeigt: Es war
kein Geheimnis, dass viele Sportler nachhalfen. Man erkundigte sich und
machte mit. Ein Zeitzeuge berichtet: „Spätestens Mitte der sechziger Jahre
begann ja der Athlet uns zu zeigen, was bei anderen Athleten konstitutionell
passiert ist: Guck mal, was der in einem Jahr an Muskeln zugenommen hat,
das haben wir vorher nie gesehen. (...) Gib uns doch auch mal diese Tabletten.
Und die hatten sie in der Hosentasche, die hatten sie von anderen bekommen.
Das war Dianabol. Die hatten also Dianabol in der Hand. Es war ja
von keinerlei Verbot oder Untersagung die Rede. (...) Also haben die gesagt:
Hier, das haben wir bekommen, und das haben wir von einem Freund bekommen,
und die nehmen das schon fleißig. Und guck mal, was es da für
Veränderungen gibt. Es waren also optische Unterschiede erst mal da, was
wir durch Training nicht erreichen, und gib uns das auch mal." (…) an einer
Studie der Freiburger Universität war Ende der Achtziger Jahre auch der heutige
Olympia-Arzt Bernd Wolfarth beteiligt. Die Hintergründe dieser staatlich
subventionierten Dopingforschung sind nun detailliert dokumentiert. (…) Ein
Sportmediziner erzählt auf Seite 707 Bekannten aus der damaligen Zeit, der
seinen Sohn zu Höchstleistungen trimmen wollte und dem dabei jedes Mittel
Recht schien.
„Sein ältester (Sohn, Anm. d. Redaktion) sollte in seine Fußstapfen und
möglichst ein erfolgreicher Radprofi werden. (...) Mit dem wurde alles ausprobiert,
ich weiß nicht was. Am Anfang wusste ich noch so ein bisschen, was
der da mit dem macht. Und später wusste ich nicht mehr, was er mit dem
macht. Sondern da kam er nur alle vier bis sechs Wochen an, musste ich den
untersuchen, ob noch alles okay ist. Ob es gesundheitlich noch alles in der
Reihe ist usw. (...) Dann habe ich irgendwann gesagt: Ich kann das nicht verantworten,
was Du mit ihm machst usw. Und mittlerweile ist der ja auch
schon längst gestorben. Der ist nicht alt geworden. Der hatte wie sein Vater
eben nen Herzstillstand bekommen." (…)
Ein Mediziner erinnert sich auf Seite 665 der Studie: „Als ich wie gesagt
1973 nach [Ort] (in der Studie anonymisiert, Anm. der Redaktion) kam, dann
wurde das schon immer deutlicher, und ich habe damals auch schon gesagt,
dass man davon ausgehen kann, wenn das so weiter geht mit dieser unbegrenzten
Einnahme, dass man mit frühen Todesfällen rechnen muss. Was ja
dann auch eingetreten ist. Ich kann Ihnen nur sagen, um dieses Thema mo54
ralisch jetzt abzuschließen, dass bei den Treffen der Auswahlmannschaften
von '66 bis '76, wo ich mit Verantwortung als Arzt getragen habe, die Ruderer
auch jetzt zuletzt in Regensburg (...) mich in den Arm nehmen und sagen:
'Mensch, Doc, Klasse, wir leben noch. Über die Hälfte unserer Gegner sind
schon alle tot.'"
Ein besonders spannendes Kapitel der Studie "Doping in Deutschland"
beleuchtet die Frage: Wie ernst war es den Kontrolleuren mit dem Kontrollieren?
Dabei verstärkt sich der Verdacht, dass Mediziner in der alten BRD
selbst Teil des Systems waren.
Doping-Kritiker wurden meist schnell mundtot gemacht oder gar aus dem
Verband ausgeschlossen, Anti-Doping-Bemühungen unterband man. Auf Seite
746 berichtet ein Sportmediziner: „Unsere Kommission, die damals gebildet
worden ist, die stieß ja nicht nur auf offene Arme: Toll, dass ihr das
macht. Sondern es war eher so - hinter der Hand erfährt man das dann -
dass gesagt wurde: Diese Kommission sei ein Verein, die Totengräber des
Leistungssports. Was ja totaler Blödsinn ist, aber man sieht daran, dass da
irgendwo Emotionen getroffen worden sind."Die Politik hat nicht nur Bescheid
gewusst über die Dopingstrukturen im Sport, die Interviews mit den Zeitzeugen
deuten zudem immer wieder daraufhin, dass die leistungssteigernden
Präparate sogar gewollt, gefördert und erzwungen waren. Auf Seite 745 der
Studie berichtet ein Beteiligter:
Lisa Sonnabend
Süddeutsche Zeitung 15.8.2013
„BIRGIT-DRESSEL-STIFTUNG" GEFORDERT
Eine Gruppe prominenter Doping-Bekämpfer hat in einem offenen Brief
die Einrichtung einer „Birgit-Dressel-Stiftung" zur Unterstützung der Doping-
Prävention angeregt. Anlässlich des 25. Todestages der Siebenkämpferin
forderten die Unterzeichner des Briefes, der an amtierende und ehemalige
Offizielle, Sportler und Aktive des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV),
die Mitglieder des Bundestags-Sportausschusses sowie an den DOSBPräsidenten
Thomas Bach gerichtet ist, zudem eine lückenlose Aufklärung
des Falles Dressel.
Die damals 26 Jahre alte Leichtathletin war am 10. April 1987 an Multiorganversagen
gestorben, wahrscheinlich ausgelöst durch einen Kreislaufschock
im Anschluss an die Einnahme von mehr als 100 Medikamenten, die
nach ihrem Tod in ihrem Körper nachgewiesen wurden.
"Wir rufen die Aktivensprecher und Mannschaftskameraden Birgit Dressels
bei der Leichtathletik-EM von 1986 in Stuttgart auf, vom DLV die lückenlose
Aufklärung des Todes ihrer Teamkollegin einzufordern (…) Die Absender
erinnerten an die Laudatio des heutigen Bundespräsidenten Joachim
Gauck anlässlich der Verleihung des Ethik-Preises der DJK-Sportjugend vor
einem Jahr, als er mit Blick auf DDR-Athleten sagte: „Wir sind traurig über
55
diese Top-Athleten, die nicht aufwachen wollen, die nicht sehen und benennen
wollen, was sie gemacht haben." (…)“
SID
Handelsblatt 10.4.2012
Verein Sport und Gesellschaft
Liebe Freunde,
das Jahr 2014 neigt sich dem Ende und wir haben einigen Grund, Rückschau
zu halten.
Mit Respekt verfolgte der Vorstand die Aktivitäten von Vereinsmitgliedern
in den verschiedensten Bereichen des Sports. Viele unserer Mitglieder
haben sich in den verschiedensten Funktionen Verdienste erworben,
zu denen wir ihnen unsere Anerkennung bekunden und ein herzliches
Dankeschön sagen. Wir, der ehrenamtliche Vorstand, haben uns zu den
wichtigsten sportpolitischen Problemen positioniert, was auch diese Ausgabe
der „Beiträge“ belegt.
Als wir 1998 unseren Verein gründeten, hatten wir uns gemeinsam davon
leiten lassen, die von der Sportbewegung der DDR gesammelten Erfahrungen
nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, zumal die sportlichen Niederlagen
der BRD zu einer beispiellosen Medienkampagne gegen die „anderen
Deutschen“ führte. Die “Beiträge“ haben in ihren Publikationen viele absurde
Vorwürfe enthüllt. Die „demographische“ Abnahme unserer Abonnenten motiviert
uns, Sie bei dieser Gelegenheit auch zu bitten, Interessenten für ein
Abonnement zu gewinnen.
Zu den Anliegen, die wir als unsere selbstverständliche Pflicht betrachteten,
gehörten auch die Glückwünsche des Vereins zum 25. Jahrestag der
Gründung der Sportsenioren. An dieser Stelle wollen wir diese Wünsche gern
noch einmal „schwarz auf weiß“ wiederholen!
Noch einige Hinweise zu den Publikationen unserer Arbeit. In der Zeitung
‚junge welt" haben wir die Persönlichkeiten veröffentlicht, die mit ihrem Einverständnis
in das „Goldene Buch" des Vereins eingetragen wurden. Die Resonanz
war sehr beachtlich, sodaß wir den für diese Anzeige aufgenommenen
Kredit für vertretbar hielten. Gleiches gilt für unsere Tätigkeiten im Internet.
Unsere Homepage
www.sportgeschichte.net
fand enorme Aufmerksamkeit. Allein von Januar bis Ende November
2014 zählten wir insgesamt 224.843 Zugriffe!
Dabei muss erwähnt werden, dass besonderes Interesse den früher erschienenen
Ausgaben der „Beiträge“ galt. Sie enthielten zahlreiche Dokumente
aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland,
die nach Ablauf der 30jährigen Sperrfrist freigegeben werden mussten,
aber von niemandem außer uns publiziert wurden. Sie enthüllen die
56
40jährigen Intrigen der Bonner Regierung gegen den DDR-Sport und sind
mehr als aufschlussreich. Das internationale Interesse offenbaren die Internet-
Zugriffe aus Frankreich, Italien, der Schweiz und sogar Australien. 13,6
Prozent der Anfragen galten diesem Thema.
Zu unseren künftigen Plänen gehört auch ein Rundtischgespräch in Berlin
am Montag, dem 16.März 2015 mit dem sportpolitischen Sprecher der
Fraktion der LINKEN im Bundestag, Dr .Hahn.
Wer die Möglichkeit hat, unsere Bemühungen durch finanzielle Hilfen zu
unterstützen, sollte sich folgendes Konto notieren:
Sparkasse Märkisch-Oderland Kto.DE 46170540400020008260.
Wann immer wen diese Ausgabe der „Beiträge“ erreicht: Dem frohen Fest
möge ein erfolgreiches Jahr 2015 folgen!
Das wünscht im Auftrag des Vorstands:
Hasso Hettrich
57
GEDENKEN
HERMANN BUHL
31. Oktober 1935 - 22. März 2014
Wohl niemand aus dem großen Kreis derjenigen, die Hermann Buhl aus
seinen verschiedenen Tätigkeiten - als renommierter Leichtathlet, als Sportarzt
und als Wissenschaftler - kannten, seine im fortgeschrittenen Alter erhalten
gebliebene Vitalität und seine immer wieder erneuerte Fitness heimlich
bewunderten, konnte sich vor jenem 22. März 2014 vorstellen, dass dieses
ungewöhnliche Leben mit dem Sport und für den Sport auf so ungewöhnliche
Weise plötzlich zu Ende sein könnte. "Vermisst" lautete die behördliche
Feststellung der Tiroler Polizei lange Zeit, nachdem der erfahrene Bergsteiger
Hermann Buhl von Reith bei Seefeld aus nach einer arbeitsreichen Woche
mit kleinem Marschgepäck allein zu einer Bergwanderung aufgebrochen
war, von der er nie zurückkehrte, und nachdem die Bergrettung trotz aufwendiger
Suche in der stark verschneiten Berglandschaft keine Spur von
dem Verunglückten ausmachen konnte. Erst fünf Monate später entdeckte
ein anderer Bergwanderer den offenbar Verunglückten in einer bewaldeten
Felsrinne in unzugänglichem Gelände auf nahezu 1600 m Höhe, unterhalb
des Schartlehner Hauses. Ende September wurde die Urne von Prof. Dr.
med. habil. Hermann Buhl auf dem Friedhof in Dresden-Loschwitz beigesetzt.
Damit schloss sich ein Kreis, denn im Oktober 1935 war Hermann Buhl als
eines von vier Geschwistern in Hainsberg bei Freital geboren worden.
Der Leichtathlet Hermann Buhl war bereits ein ausgebildeter Sportlehrer,
als er sich beim ASK Potsdam zu einem international renommierten
3000-m-Hindernisläufer entwickelte, der 1960 in Rom Olympiastarter war
und 1962 bei der EM in Belgrad Vierter wurde. Er war während seiner Potsdamer
Sportlaufbahn zunächst Philosophie-Fernstudent in Leipzig, strebte
danach jedoch seinem eigentlichen Ziel zu, dem Medizinstudium, das er von
1965 bis 1970 in Magdeburg absolvierte. Dort promovierte er 1971. Zu diesem
Zeitpunkt hatte seine berufliche Laufbahn am 1969 neu gegründeten
Leipziger Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport bereits begonnen. Er
qualifizierte sich zum Facharzt für Sportmedizin (1975), habilitierte 1983 in
Leipzig und wurde 1987 zum Professor für Sportmedizin berufen. Seine breite
fachliche Bildung und seine vielfältigen Erfahrungen versetzten ihn in die
Lage, als Sportarzt, als Wissenschaftler und praxisnaher Forscher sowie zunehmend
als Hochschullehrer zu wirken. Hermann Buhl befasste sich besonders
mit der systemischen Wirkung von gezielter Hypoxie als Trainingsmittel
auf die Leistungsfähigkeit des menschlichen Organismus und er sammelte
dabei umfangreiche praktische Erfahrungen beim systematischen Training
von Spitzensportlern in natürlicher Höhe und ab 1980 auch unter den simulierten
Höhenbedingungen in der Unterdruckkammer von Kienbaum.
58
Durch die Abwicklung des FKS im Jahr 1991 verlor Hermann Buhl seine
leitende Stellung als Sportmediziner und seine Arbeitsbedingungen als Forscher.
Er lehrte danach an den Universitäten von Paderborn, Marburg und
Gießen, war sportmedizinisch leitend tätig an der ambulanten Rehaklinik
Bavaria in Würzburg und ab 1999 am Medizinischen Zentrum Parkhöhe in
Bad Wildungen, von wo aus er zugleich die Sportmedizinische Untersuchungsstelle
des Landes Hessen leitete.
Als er 2008 in seine Heimatstadt Dresden zurückgekehrt war und fortan
projektbezogen sportmedizinisch und trainingsmethodisch beratend für verschiedene
Firmen der Medizintechnik arbeitete, hatte er die Vision, dass in
naher Zukunft neuere Erkenntnisse zur Hypoxie präventiv und auch therapeutisch
in der Humanmedizin eingesetzt werden könnten, um den zunehmenden
Zivilisationskrankheiten auch sportmedizinisch entgegenwirken zu
können. Es ging ihm dabei um die Nutzung von Unterdruckkammern und von
mobilen Kompressoren mit Gesichtsmaske.
An einen Ruhestand dachte der auch international renommierte Sportmediziner
bis zuletzt keine Minute. Und so nahm er im Januar 2014 eine
neue Herausforderung an und folgte dem Ruf einer im Aufbau befindlichen
Spezialklinik im österreichischen Seefeld, in der er als Leistungsdiagnostiker
für spezielle Berufsgruppen gefragt war. Durch seinen Wohnortwechsel war
er zugleich den Bergen, die er so liebte, ganz nahe. Die Tatsache, dass er
ein erfahrener Bergsteiger und Bergwanderer war, der 2011 noch selbst in
einer geführten Gruppe das Matterhorn erklomm und vorher als Arzt viele
Bergexpeditionen in das Hochgebirge betreut hatte, halfen ihm an jenem
Sonnabend offenbar nicht; die Tiroler Berge wurden ihm zum Verhängnis.
Hermann Buhl war nie ernsthaft krank, aber sein langes Leben mit dem
Sport und für den Sport wies zuweilen folgenreiche Zäsuren auf, die man
auch als Missgeschicke deuten könnte. Hermann Buhl war 1958 in Dresden
auf seiner Hindernisstrecke auf Weltrekordkurs, als er am letzten Wassergraben
beim Sprungansatz strauchelte und kopfüber baden ging. Es entstand
das Sportfoto des Jahres. Seine sportliche Laufbahn ging viele Jahre später
in der Folge einer Achillessehnenruptur zu Ende. Und als er 2012 das Matterhorn
mit bestieg, ereilte ihn ca. 15 m vor dem Gipfel in einem Kamin ein
Muskelfaserriss im Oberschenkel und sein Bergführer wusste erst nach dem
schwierigen Abstieg, wie alt an Jahren das Mitglied seiner Seilschaft eigentlich
war. Welcher Art das Missgeschick von Hermann Buhl in den Tiroler
Bergen, das zu dem tödlichen Unfall geführt hat, an jenem 22. März war,
bleibt wahrscheinlich ein Rätsel...
Ulli Pfeiffer
59
HEINZ DIETRICH
28. Januar 1927 – 11. November 2014
Dieser Tage nahmen in Berlin viele Genossen und Freunde Abschied
von Heinz Dietrich, einem Mann der viele Kapitel DDR-Sportgeschichte geschrieben
hatte. Der Sohn eines Bäckermeisters und selbst gelernter Bäcker
– seine Buttercremetorten begeisterten bis ins hohe Alter so manche Festrunde
– entdeckte schon früh seine Liebe zum Radsport. Er fuhr selbst gern
auf dem Zweirad, bestritt aber nie ein Rennen, gewann also nie eine Etappe
oder gar einen Titel, war aber ein brillanter Organisator von großen Rennen,
deren bedeutendstes die legendäre Friedensfahrt war. Sie gehörte zu den
frühen Opfern der deutschen „Einheit“, zum einen weil es im kommerzialisierten
Sport als Amateurrennen chancenlos war und vor allem, weil sie einen
politischen Hintergrund hatte, der in Bonn nicht nur keinen Beifall fand, sondern
sogar dazu führte, dass man dem bundesdeutschen Radsportverband
die Teilnahme untersagte.
Heinz Dietrich gehörte über Jahrzehnte zu den fünf „Directeurs“ der
Fahrt, der Picasso seine Friedenstaube als Symbol überlassen hatte. Wenn
je in Bonn das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und Polen Thema
war, schrieb man Willy Brandts eindrucksvollem Kniefall vor den Ghetto-
Ruinen in Warschau 1970 oft als den entscheidenden Brückenschlag zu und
ignorierte beharrlich die Tatsache, dass zwanzig Jahre vorher die DDR mit
der Teilnahme an der Friedensfahrt einen ersten belangvollen Kontakt geknüpft
hatte. Dietrich gehörte zu den Vätern dieses Rennens, das in seinen
frühen Jahren in Polen verständlicherweise nicht nur Beifall gefunden hatte,
aber dann landesweit Vorurteile beseitigen half. Die von ihm oft geführte
DDR-Mannschaft gehörte zu den ersten Deutschen, die in Auschwitz die Millionen
von den Faschisten Ermordeten ehrte. Dass Willi Daume dem bundesdeutschen
Radsportverband auf höchste Weisung immer wieder untersagt
hatte, an dem Rennen teilzunehmen, war, wie er mir nicht nur einmal im
persönlichen Gespräch versicherte, kein Schritt in seinem Sinne und gehört
auch zu den vielen Tatsachen, die bis heute in der Bundesrepublik nie „aufgearbeitet“
wurden.
Zu den Aufarbeitungsmängeln gehört auch der jahrelange Kampf, den
Heinz Dietrich - Generalsekretär des DDR-Radsportverbandes – um dessen
internationale Anerkennung führen musste. Nach zahlreichen Bonner Interventionen,
überzeugte er den Präsidenten des Internationalen Radsportverbandes,
den Franzosen Achille Joinard vom Recht dieser Anerkennung und
bewog ihn, 1955 den Delegierten des BRD-Verbandes vor dem Kongressforum
zu erklären, welch triftige Gründe er gegen das Recht der DDRRadsportler
vorzubringen habe, an Weltmeisterschaften teilzunehmen. Hilflos
stammelte der seinen Verzicht auf das bundesdeutsche Veto und so wurde
der DDR-Verband durch einmütigen Beifall der Delegierten „per akklamation“
anerkannt und damit einstimmig aufgenommen. Von nun an wurde das Auswärtige
Amt in Bonn aktiv und intervenierte bei seinen NATO-Partnern den
60
DDR-Rennfahrern die Visa zu verweigern. 1961 lehnte die Schweiz diese
Zumutung strikt ab. 1962 verweigerte Italien die Visa, 1963 flog die Mannschaft
mit einer DDR-Linienmaschine nach Amsterdam, wurde aber daran
gehindert, die Maschine ins Austragungsland der WM, Belgien, zu besteigen.
1964 fand die WM in Frankreich statt und Bonn empfahl Paris, der Mannschaft
mit der Begründung die Einreise zu verweigern, dass die Vierer-
Mannschaft den Titel erringen könnte und dann die in allen NATO-Ländern
verbotene DDR-Flagge gehisst werden müsste. Ungeachtet dieser „Straflaufbahn“
wurde Heinz Dietrich schon bald als ausgewiesener Fachmann in die
zuständigen Kommissionen der UCI gewählt. So schon 1965 zum Vizepräsidenten
der Technischen Kommission des Amateurverbandes. Als bundesdeutsche
Funktionäre nach dem Untergang der DDR seinen Ausschluss forderten,
stießen sie auf einmütige internationale Ablehnung.
Eine zweite bedeutungsvolle Funktion bekleidete er als Generalsekretär
der Olympischen Gesellschaft der DDR an der Seite Manfred von Brauchitschs,
mit dem er gemeinsam dafür sorgte, dass die DDROlympiamannschaften
immer akkurat vorbereitet zu den Spielen reiste.
Sein langjähriger Freund Klaus Ullrich-Huhn, der die Trauerrede hielt,
schloss sie mit den Worten: „Wann immer wir uns Deiner erinnern, wird uns
das Herz warm werden. Wir werden Dich nie vergessen, immer im Sinn haben
und bedenken: Wenn die Sonne des Lebens untergeht, leuchten die
Sterne der Erinnerung.“
Klaus Ullrich

---

1
Verein Sport und Gesellschaft
OLYMPIA
Ja
Oder
Nein
2
Da derzeit viele, die sich über Olympia äußern, meist
nicht über die olympische Idee reden, sondern über irgendwelche
Fabel-Kosten, beginnen wir – diesem Umstand
Rechnung tragend - mit einer PREISFRAGE: Wer
als erster herausfindet, wieviel Schweizer Franken 1920
auf dem Konto des Internationalen Olympischen Komitees
deponiert waren, erhält die von Rupert Kaiser herausgegebene
olympische Enzyklopädie aller Sommerspiele
von 1896 bis 2004, auch um auf diese Weise anzudeuten,
dass es unserem Verein weniger um die ständig
erörterten Kosten als um das Anliegen „Olympia“
geht. Wer – so glauben wir – die Frage der Unkosten vor
die sich nun über 120 Jahre behauptende Idee reiht,
könnte sich vorwerfen lassen müssen, das Bemühen um
Frieden zu ignorieren. Ein weltweit schwerwiegender
Vorwurf!
Müsste also zunächst ermittelt werden, wo man diese
„olympische Idee“ überhaupt formuliert finden kann! Ein
mühsames Vorhaben, dieweil im Laufe der Jahrzehnte
unzählige Varianten verbreitet wurden, nicht selten, um
die Idee zu missbrauchen!
Die überzeugendste Formulierung stammt vom als
„Erfinder“ der Spiele geltenden Baron Pierre de Coubertin,
der im November 1892 im Hörsaal der Pariser Sorbonne
erklärt hatte: „Schicken wir Ruderer, Läufer, und
Fechter ins Ausland. Das ist der Freihandel der Zukunft
und an dem Tage da es sich im Leben und Wandel des
alten Europa eingebürgert hat, wird der Sache des Friedens
eine neue mächtige Stütze erwachsen sein.“
In seinen 40 Jahre später erschienenen Memoiren bekannte
er: „Natürlich hatte ich alles vorgesehen, nur nicht
das, was eintraf. (…) Man klatschte Beifall, man wünschte
mir einen großen Erfolg, aber niemand hatte es begrif3
fen. Es war das völlige Unverstehen, das da begann. Es
sollte lange dauern.“
(Als ich erfuhr, mit welcher Bravour der Berliner „Linken“-
Vorsteher 2015 das Vorhaben, Olympische Spiele
2024 in Berlin auszutragen ablehnte, waren 123 Jahre
vergangen…)
WIE OLYMPIA IN DEUTSCHLAND BEGANN
Die „olympische Geschichte“ Deutschlands begann
faktisch am 13. Dezember 1895; dem Tag, an dem im
Berliner Hotel „Zu den vier Jahreszeiten" ein in der Berliner
Sportobrigkeit im Grunde unbekannter Dr. Willibald
Gebhardt zu einer Tagung eingeladen hatte, auf der entschieden
werden sollte, ob Deutschland sich an den jenem
Franzosen Baron de Coubertin für 1896 in Athen
geplanten modernisierten antiken Spiele beteiligen sollte?
Man belächelte in Berlin zunächst nur dieses Vorhaben,
aber als an jenem Abend der Wagen des griechischen
Gesandten Rangabé vorfuhr, waren die aus
blanker Neugier erschienenen Journalisten sicher, vielleicht
doch über ein sensationelles Ereignis berichten zu
können. Sie konnten!
Die „Rheinisch-Westfälische Zeitung“ meldete alarmierend:
„Ein deutscher Verein oder ein Deutscher, welcher
seinem Lande die Schmach anthut, diese Spiele zu fördern
oder zu besuchen, verdient mit Schande aus seinem
Kreise und seinem Volke ausgestoßen zu werden."
Im Preußischen Landtag tobte der Freiherr von Schenkendorff,
einer der führenden Männer der deutschen
Turnbewegung: „Eine Teilnahme widerspricht der nationalen
Würde eines Deutschen!"
4
Der den Sportführern völlig unbekannte Chemiker, Dr.
Willibald Gebhardt aber hatte ungeachtet aller Drohungen
den Mut, an diesem Abend das Komitee zu gründen,
das mit Athleten nach Athen reisen wollte. Journalisten
fanden heraus, dass er ein aktiver Fechter war. Der einst
von ihm mitbegründete Sportbund beschloss umgehend:
„vor einer Beteiligung Deutschlands an den Olympischen
Spielen 1896 zu warnen". Dabei blieb es nicht. Am 18.
Dezember 1895 richtete die Deutsche Turnerschaft, die
mit Abstand größte deutsche Sportbewegung, folgenden
Brief nach Athen: „... ist jedoch die Deutsche Turnerschaft
nicht in der Lage, einer Einladung des lokalen
griechischen Komitees Folge zu leisten, nachdem die
Hauptleitung der Feste von vornherein uns Deutschen
gegenüber eine Stellung eingenommen hat, die es mit
der deutschen Ehre unverträglich macht, an den Wettkämpfen
teilzunehmen. Die Deutsche Turnerschaft ist die
weitaus größte Korporation der ganzen Welt für die Pflege
der Leibesübungen; sie und überhaupt die Vertreter
der deutschen Nation nicht in erster Linie mit zur Vorbereitung
eines international sein sollenden Festes zuzuziehen,
kann nur auf einer bestimmten Absicht beruhen…“
Wer nach dem Zwist, mit welcher Stadt sich Deutschland
2024 oder 2028 um die Olympischen Sommerspiele
bewerben sollte, diese Zeilen liest, mag sich fragen, wie
dieser Streit überhaupt hatte entstehen können.
Um eine Antwort zu finden, müsste man sich wohl als
erstes zu einem kurzen Marsch durch die Geschichte
aufraffen und an das Verhältnis zwischen Deutschland
und Frankreich Ende des vorvorigen Jahrhunderts erinnern.
Als Stichwort mag der Name der Stadt Sedan genügen
und vielleicht noch hinzugefügt werden, dass der
2. September seit 1870 in Deutschland als „Sedantag“
5
als eine Art Sieges-Nationalfeiertag begangen worden
war.
In dieser Situation mit den Franzosen ein friedliches
Sportfest feiern zu wollen, wurde im kaiserlichen
Deutschland als üble Provokation empfunden. Der bewundernswert
beherzte Gebhardt aber ließ sich selbst
durch die Ankündigung, dass man alle nach Athen reisenden
Athleten aus der deutschen Sportbewegung ausschließen
würde, nicht beeindrucken und – bei den ersten
Spielen waren noch keine Goldmedaillen an die Sieger
verliehen worden – kehrte mit sechs durch Silbermedaillen
geehrte Sieger, 18 zweite Ränge – mit Bronze
geehrt – und 19 dritten Plätze als Dritter hinter den USA
und Griechenland zurück, was wiederum in dem immer
Siege bejubelnden Deutschland nicht ignoriert wurde.
Zumal Frankreich eine Silbermedaille weniger errungen
hatte!
Die Notwendigkeit Gebhardt an dieser Stelle zu erwähnen,
ist aus aktuellen politischen Motiven unumgänglich.
Als die Bundesrepublik 2006 eine sogenannte „Halle
des Ruhms“ („hall of fame“) eröffnete, hatte der Verein
„Sport und Gesellschaft“, der auch die Traditionen des
DDR-Sports pflegt, dem die Berufung der „Ruhmeswürdigen“
zuständigen Gremium - vornehmlich Sportfunktionäre
aus den Altbundesländern und profilierte Vertreter
der bundesdeutschen Industrie – vorgeschlagen, als einen
der ersten Willibald Gebhardt ob seiner olympischen
Verdienste in diese Halle aufzunehmen. Durch die Herkunft
dieses Vorschlags möglicherweise motiviert, wurde
er von dem zuständigen Gremium abgelehnt, was zu einer
historisch skurrilen Situation führte: Gebhardt war
1909 durch ein Dekret der damaligen – kaiserhörigen –
deutschen Sportführung aus dem IOC ausgeschlossen,
6
was faktisch gar nicht möglich war, aber von einem kaiserlichen
General erzwungen wurde. Zu den Olympischen
Spielen 1908 in London erschien Gebhardt nicht
und der vom Hof als IOC-Mitglied nominierte Graf von
Asseburg behauptete, er sei „zurückgetreten“. Als 1909
das IOC in Berlin tagte, mühten sich zahlreiche IOCMitglieder
Gebhardt zu begegnen. Der aber hatte eine
polizeiliche Weisung erhalten, sich dem IOC nicht zu nähern.
Coubertin bemühte sich vergeblich, auf Gebhardt
nicht verzichten zu müssen. Rund hundert Jahre später
folgte man dem Asseburgschen Befehl und weigerte
sich, ihn in die „Ruhmeshalle“ aufzunehmen!
Dafür wurde der seit 1937 der Nazipartei angehörende
Unternehmer Willi Daume als einen der ersten aufgenommen.
Nach acht Jahren energischer Interventionen unseres
Vereins, wurde er dann wie „nebenbei“ aufgenommen.
Vielleicht auch nur, weil er inzwischen in das Goldene
Buch unseres Vereins aufgenommen worden war…
WIE DEUTSCHLAND MIT OLYMPIA UMGING
Den so erfolgreichen Auftakt Spielen von Athen folgten
die 1900 im Schatten der Weltausstellung in Paris, dann
die schon bald in Vergessenheit geratenen in St. Louis
(USA), 1908 die glanzvollen in London und 1912 die
nicht minder erfolgreichen in Stockholm. Allerdings sorgte
Deutschland dafür, dass erster politischer Ärger aufkam
und Coubertin erleben musste, wie man gegen die Spiele
zu intrigieren begann.
Die Wiener Hofkanzlei hatte sich nicht länger damit
abfinden wollen, dass bei ungarischen Siegen die Flagge
dieses Landes gehisst wurde, da es ja staatsrechtlich zu
Österreich-Ungarn gehörte. Coubertin sah sich also mit
7
dem ersten Flaggenstreit konfrontiert. Da aber Wien auch
nicht als olympischer Störenfried in Erscheinung treten
wollte, wandte es sich nach Berlin und stieß dort auf Sinnesgenossen!
Coubertin, der die ersten Interventionen ignorierte, sah
die Spiele endgültig in Gefahr geraten, als ihm der russische
Botschafter in Paris mitteilte, dass das zaristische
Auswärtige Amt in gleicher Weise wie Wien gegen die
selbständige Teilnahme Finnlands protestiere, dass ja
damals noch zu Russland gehörte. Der IOC-Präsident
hoffte auf seine bislang meist erfolgreiche Methode: Er
verschleppte das Problem, indem er Briefe nach überallhin
verschickte und die dann eingehenden Antworten –
wie ahnungslos – dem nächsten sandte. Damit schien er
tatsächlich einmal mehr zum Erfolg zu kommen, als er
plötzlich auf der Sitzung des IOC in Budapest 1911 mit
einem Antrag überrascht wurde, der ihn am Verstand der
deutschen IOC-Mitglieder zweifeln ließ. Er lautete: „Der
Deutsche Reichsausschuss für `Olympische Spiele" —
(so lautete damals der offizielle Name des deutschen
NOK) „beantragt, Ungarn von den Spielen in Stockholm
auszuschließen, da Ungarn kein selbständiges Land ist."
Es konnte für Coubertin kein Zweifel daran bestehen,
dass Berlin nun das Anliegen Österreichs vertrat, obwohl
es mit den Wiener Forderungen überhaupt nichts zu tun
hatte. Aber Coubertin ließ sich damit nicht aus der Ruhe
bringen. Der ehemalige IOC-Kanzler Otto Maier erinnerte
sich später in seinen Memoiren: „Dieser Vorschlag wurde
nicht einmal diskutiert, da ihn Coubertin von Amts wegen
verwarf!" Für die Intervention der Russen erfand er eine
Variante, die sich auch für die Tschechen verwenden
ließ: Bei Siegen finnischer und tschechischer Sportler
wurden die russische oder die österreichische Flagge
gehisst und darüber ein kleiner finnischer oder böhmi8
scher Wimpel. Da die Russen in Stockholm sieglos blieben,
die Finnen aber nicht weniger als neun Siege errangen,
wurde die zaristische Flagge nur zu Ehren von Finnen
gehisst, was Coubertin wohl nicht ohne Schadenfreude
kommentieren ließ: „Ich machte mir ein Vergnügen
daraus, dies dem General Woyeikof nach Beendigung
der Spiele zu sagen.“
DIEM STRICH 1917 DEN
BEGRIFF: „OLYMPISCH“
Zu Beginn des Jahres 1917 – an die für 1916 an Berlin
vergebenen Spiele war durch den Ersten Weltkrieg nicht
zu denken gewesen - erfuhr die deutsche Öffentlichkeit,
dass der Deutsche Reichsausschuss für Olympische
Spiele - so nannte sich das damalige deutsche Olympische
Komitee - zu einer Tagung nach Berlin einberufen
worden sei. Die Zeitungen, die zu dieser Zeit in ihren
Sportteilen darauf hinwiesen, dass für Radrennen nur
Räder mit Reifen aus Gummi-Ersatz zugelassen waren,
widmeten dieser Sitzung viel Aufmerksamkeit: „Die heutige
Hauptversammlung in Berlin bringt eine Tagesordnung
von außerordentlicher Bedeutung. So verbirgt sich
hinter dem Antrag des Vorstandes auf Änderung des
Namens der Wechsel zu `Deutscher Reichsausschuss
für Leibesübungen´. Da an die Fortsetzung der alten
Olympischen Spiele nach der jetzigen Völkerverhetzung
auf lange Sicht nicht zu denken ist, erscheint als neuer
Name `Deutscher Reichsausschuss für Leibesübungen`
ausgezeichnet gewählt."
Für die Begründung dieses Antrags war ein junger
Leutnant als Referent von der Front beurlaubt worden -
ein ungewöhnliches Ereignis im Jahr 1917. Seine The9
men ließen keine Zweifel aufkommen: „Die Zukunft der
Leibesübungen und des Reichsausschusses", „Das Gesamtgebiet
der Aufgaben" und „Die Erfahrungen des
Krieges." Dieser Leutnant hieß Carl Diem und sollte eine
ungewöhnliche Karriere machen: 1928 und 1932 war er
Chef de Mission der deutschen Olympiamannschaften,
danach von den Nazis zum Generalsekretär des Orgkomitees
der Spiele 1936 berufen, rühmte als Autor in der
„Zeit“ den „Sturmlauf durch Frankreich als Siegeslauf“
gerühmt und war 1950 zum Sportreferenten der Bundesregierung
ernannt worden.
Im Verlauf jener Sitzung 1917 hatte er ein Telegramm
an den Kaiser verabschiedet: „Ew. Majestät bitten die
hier zu einer Hauptversammlung vereinigten Verbände
für Pflege von Leibesübungen Deutschlands, Ew. Majestät
wollen die Versicherung unverbrüchlicher Treue und
Liebe entgegennehmen. Wir werden auch in Zukunft auf
das eifrigste bestrebt sein, die Männer und Frauen
Deutschlands durch Leibesübungen zu stählen, damit sie
für die großen und schweren Aufgaben, welche ihnen
bevorstehen, zum Segen unseres geliebten Vaterlandes
gerüstet sind." Die Versammlung musste sich allerdings
auch mit einem Brief beschäftigen, der dafür plädierte,
den Namen mit dem Begriff „olympisch“ beizubehalten.
Geschrieben hatte den Dr. Gebhardt und neben seinen
Bemühungen 1896 war auch dieser Appell eines der Motive
des Vereins „Sport und Gesellschaft“ ihn 2006 für die
„hall of fame“ vorzuschlagen!
Sein Vorschlag 1917, den Begriff „olympisch“ nicht zu
streichen wurde damals abgelehnt und der Ausschuss
umbenannt. Dr. Gebhardt aber schrieb zwei Jahre später
in einem Schriftwechsel mit dem Außenministerium der
Weimarer Republik: „Mein Vorwurf gegen den Reichs10
ausschuss beschränkt sich darauf, dass er bezüglich der
Internationalität des Sports vollkommen versagt hat."
Soviel zur „Vorgeschichte“ des vorübergehend ohne
den Begriff „olympisch“ agierenden Nationalen Olympischen
Komitees.
COUBERTINS SIEGESZUG
Pierre de Coubertin, stand bis 1925 an der Spitze des
IOC und erlebte nicht zuletzt dank seiner Energie den
beispiellosen Aufstieg der Spiele. Nach Ende des Zweiten
Weltkriegs erlebte er 1920 das Wiederaufleben in
Antwerpen. Als es dann darum ging, wo die nächsten
gefeiert werden sollten, machte er den IOC-Mitgliedern
gegenüber kein Hehl daraus, dass er sich vor seinem
Abschied als Präsident noch einmal Spiele in Paris wünschen
würde. Man erfüllte ihm die Bitte und 1925 nahm
er in Prag seinen Abschied. Er hat - obwohl zahllose Male
bestürmt und eingeladen - danach nie wieder Olympische
Spiele besucht. Fast völlig verarmt starb er 1937 in
Genf.
Der Belgier Henri de Baillet-Latour folgte Coubertin als
Präsident und erwarb sich durch sein Engagement für die
Olympischen Spiele 1936 in Berlin die Sympathie der
Nazis. Vier Jahre später erlebte er den Einmarsch der
faschistischen Truppen. Es war ein Akt zynischer Ironie,
dass an der Spitze der Belgien erobernden Armee das
Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees
Feldmarschall von Reichenau stand. (Wie derlei in der
Bundesrepublik beurteilt wurde, bekundete in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ der nach 1990 vom Rhein an
die Havel kommandierte Sporthistoriker Teichler (10. 3.
1999) mit der Formulierung: „Truppen, die pikanterweise
11
unter dem Kommando des IOC-Mitglieds von Reichenau
standen...“
Er hatte das allen Ernstes für „pikant“ gehalten…
Im Juli 1940 war Diem nach Brüssel gereist und bekannte:
„Auftragsgemäß fuhr ich dorthin, um mit Baillet-
Latour die Veränderungen des Internationalen Olympischen
Komitees zu besprechen, die sich aus der jetzigen
Weltlage ergeben.“
Das tatsächliche Anliegen dieses „Besuchs“ beim belgischen
IOC-Präsidenten beschrieb er so: „In Sachen
des Olympischen Komitees fand ich ihn durchaus bereit,
der neuen Lage Rechnung zu tragen... Es stellte sich im
Gespräch heraus, dass die notwendigen Veränderungen
möglich sind. Baillet hat selbst die Grundsätze dieser
Veränderungen, zum Teil auf Grund meiner Vorschläge,
formuliert: ‘Um eine nützliche Arbeit zu leisten, muss die
Konstitution des I.O.K. der neuen Weltlage Rechnung
tragen.“ Noch klarer wurde das Anliegen der Faschisten
durch den nächsten Absatz: „Im Hinblick auf die vorstehenden
Grundsätze erklärte sich Baillet-Latour damit einverstanden,
dass bis auf weiteres in der Olympischen
Rundschau weder die Liste der Mitglieder des I.O.K.
noch die der angeschlossenen Nationen veröffentlicht
wird... Ich habe ihm offen gesagt, dass Deutschland und
Italien in Zukunft einen größeren Einfluss sowohl auf die
Verwaltung der einzelnen Sportarten wie auch auf die
olympische Arbeit auszuüben wünschen... Baillet-Latour
wies darauf hin, wie notwendig es sei, den Völkern das
Recht der Teilnahme an den Olympischen Spielen auch
dann zu lassen, wenn sie politisch nicht mehr selbständige
Nationen seien...“
Man könnte die Frage stellen, was jener Versuch Diems,
das IOC zu okkupieren mit der Bewerbung für die
Spiele 2024 oder 2028 zu tun haben soll? Und würde
12
wieder bei der Tatsache landen, dass die Zuständigen in
der Bundesrepublik das erste deutsche IOC-Mitglied
Gebhardt nicht in die Ruhmeshalle aufnehmen wollte,
weil seine Haltung nicht des dort gefragten Ruhms entsprach.
Ignoriert werden kann nicht, dass die Haltung der
„Deutschen“ gegenüber Olympia vom ersten Augenblick
– angesichts der Haltung der DDR höchst zurückhaltend
formuliert – umstritten blieb. Dazu gehörte auch jener
Versuch Diems, die faschistischen Armeen im Rücken,
das IOC okkupieren zu wollen. Er scheiterte erst endgültig
am 8. Mai 1945 mit der Kapitulation Hitler-
Deutschlands.
Allerdings blieben bedenkliche Reste: Als man im Vorfeld
der Spiele 1936 das Berliner Olympiastadion errichtet
hatte, war als Teil Stadions auch eine sogenannte
Langemarckhalle entstanden, die an die Gefallenen der
Schlacht bei Langemarck in Flandern erinnern sollte.
Dort waren zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 zehntausende
schlecht ausgebildeter junge deutscher Reservisten
in den Tod getrieben worden. Niemand vermochte
je zu erklären, was diese Halle mit Olympia und seinen
Idealen zu tun haben könnte, denn sie verknüpft letztlich
das olympische Reichssportfeld mit einer Kriegerehrung
und mörderischem Opfertod. Typisch für die Bundesrepublik:
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war die Halle
von der britischen Besatzungsmacht gesprengt worden,
die Bundesregierung rekonstruierte sie zwischen 1960
und 1962! Nur auf einige Devotionalien, die ursprünglich
in der Halle ausgestellt waren – Fahnen und blutgetränkte
Erde aus Langemarck – wurde verzichtet. 2006 wurde
die Ausstellung anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft
„erneuert“.
13
Würden also je Berlin die Olympischen vom IOC zugesprochen,
müsste die Existenz dieser endgültig Olympia
„angepasst“ werden. Schon weil den Belgiern kaum
zumuten konnte, olympische Medaillen im Schatten einer
Halle zu verleihen, die an eines der ärgsten Blutbäder
des Ersten Weltkriegs auf belgischem Boden erinnert.
AUFTAKT OHNE DIE DEUTSCHEN
Für die ersten Nachkriegsspiele 1948 hatten sich vier
US-amerikanische Städte, Lausanne und London beworben.
Die britische Hauptstadt wurde gewählt, obwohl dort
noch die Lebensmittel rationiert waren und die Versorgung
der Teilnehmer nur gesichert werden konnte, weil
Länder wie Dänemark zum Beispiel per Schiff Eier lieferten.
Zum ersten Mal waren die Spiele auch im Fernsehen
übertragen worden, zumindest in England. Und es entstanden
dem IOC keine Kosten.
Als das IOC die Einladungen zu den Spielen verschickte,
wurden Deutschland und Japan nicht bedacht:
Sie galten als die Hauptschuldigen des Zweiten Weltkriegs
und auch das spricht dafür, dass die Spiele die
politische Weltsituation durchaus berücksichtigte. (Da
nach den Statuten die Mannschaften aller IOC-Mitglieder
eingeladen werden mussten, ließ Coubertin die deutschen
IOC-Mitglieder kurzerhand für tot erklären!)
14
KONZERNE MISCHEN SICH EIN
Vor allem aber: Nicht nur die politische Weltlage hatte
sich verändert. Es konnte niemanden überraschen, dass
die mächtigsten Konzerne der Weltmarktwirtschaft in den
Spielen eine ideale Werbe-Variante zu erkennen begannen.
Lange erinnerten sich die IOC-Präsidenten der
Coubertin-Prinzipien und bewahrten seine Ideale, aber
die Wirtschaft engagierte versierte Manager, die die sich
an den olympischen Säulen zu schaffen machten.
Die wohl krasseste Manager-Attacke vollzog sich
1972.
Als Brundage erfuhr, dass sich Österreichs berühmtester
Skistar, Karl Schranz, kurz vor den Winterspielen
in Sapporo in einem Jersey mit Kaffee-Werbung hatte
fotografieren lassen, schloss er ihn entsprechend der
damals geltenden Amateurregel von den Spielen aus.
Tatsächlich war es den Werbemanagern
Industrie weniger um diese Kaffeereklame gegangen,
als um den Versuch, den IOC-Präsidenten zu zwingen,
einen Star der Spiele für die Annullierung der Amateurregel
zu missbrauchen und Werbung bei Olympia zuzulassen.
Brundage aber wurde nicht einmal wankend, als
Österreich wegen seines Stars drohte, die Spiele zu boykottieren.
Die Werbemanager sorgten mit Hilfe der Medien
dafür, dass die Entscheidung eine Welle der Empörung
im eigenen Land auslöste. Der damalige österreichische
Unterrichtsminister Fred Sinowatz empfahl allen
Ernstes den Boykott der Spiele und appellierte an andere
Nationen, sich daran zu beteiligen. Als Schranz am 8.
Februar aus Tokio zurückehrend, in Wien-Schwechat
landete, erwarteten ihn 7.500 Fans, darunter die gesamte
Regierung und auf dem Weg zum Ballhausplatz wurden
fast 100.000 Fans gezählt. Anschließend war Schranz
15
Gast des damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ)
und ließ sich bei drei Auftritten auf dem Balkon feiern.
Diese Episode wurde hier nur so ausgiebig beschrieben,
weil sie offenbarte, wie maßlos die Industrie die nationale
Sportbegeisterung nutzte, um Olympia endgültig
in den Hafen der Marktwirtschaft zu steuern.
Dabei waren Fälle wie Schranz nur Passagen auf dem
Weg, Olympische Spiele den Banken auszuliefern.
SAMARANCH SORGT FÜR DIE WENDE!
Die für 1980 an Moskau vergebenen Spiele wurden
durch politische Interventionen Washingtons und Bonns
zu der wohl gefährlichsten Hürde der Geschichte. Dank
der konsequenten Haltung des irischen IOC-Präsidenten
Killanin scheiterte die Attacke, aber da in Moskau auch
Killanins Nachfolger gewählt werden sollte, ergab sich
eine durch die politische Intervention unerwartete Situation.
Haushoher Favorit für Killanins Nachfolge war der
Bundesbürger Willi Daume, der aber über Nacht chancenlos
wurde, als er dem Bonner Boykott folgend, ohne
Mannschaft anreiste. Niemand im IOC war bereit einen
Präsidenten zu wählen, der die Spiele boykottierte!
Diese Situation nutzend, präsentierten die an den
Spielen so sehr interessierten Unternehmer einen Kandidaten,
von dem sie sicher sein konnten, dass er die
Wünsche der des Kapitals erfüllen würde. Das war der
spanische Ex-Faschist Samaranch, seit Jahr und Tag
finanziert vor allem vom Sportschuhkonzern adidas!
Der wurde denn auch prompt gewählt und die Marktwirtschaft
hatte Olympia von nun an in der Hand!
Um die finanziellen Relationen zu illustrieren: Die
Olympischen Spiele 1948 in London hatten sechs Millio16
nen Mark gekostet und einen Gewinn von 10.000 Pfund
eingebracht.
Die Hamburger „Morgenpost“ ließ sich die zu erwartenden
Kosten von Fachleuten mit 6,5 Milliarden kalkulieren,
die „Zeit“ meldete online am 20. März 2015: im Hinblick
auf die zu erwartenden Bürgerbefragung: „Ein Referendum
wird nur erfolgreich sein, wenn die Hamburger
zumindest ungefähr wissen, über welche Kosten sie abstimmen.
Doch eine Zahl, wie viel die Spiele in Hamburg
kosten sollen, gibt es nicht, obwohl die Bürgerschaft
schon im vergangenen Mai darum gebeten hat. Erste
Schätzungen gehen von etwa sechs Milliarden Euro aus.
Jetzt müssen sich Experten schleunigst an die Taschenrechner
setzen – und Zahlen liefern, die Bestand haben.“
Und wenn sie diese Zahlen notieren, dürfen sie nicht versäumen,
die derzeitigen Schulden der Stadt hinzuzufügen:
Sie betragen 25 Milliarden Euro!
Um das noch deutlicher zu machen: London kostete
0,462 Prozent der Summe, mit der Hamburg zu rechnen
hat!
Diese Feststellung ist schockierend, doch erwartet der
Leser eine Erklärung. Die wiederum kann nicht präsentiert
werden ohne den beharrlichen und jahrelangen Weg
zur olympischen „Inflation“ zu erläutern.
Als ich 1955 das erste Mal das IOC aufsuchte, hatte
es sein Büro noch im zweiten Stock der Villa „Mon
Repos“, die die Stadt Lausanne einst Coubertin überlassen
hatte. Kanzler Mayer, ein angesehener Lausanner
Juwelier war nur halbtags in der Geschäftsstelle und klärte
dann mit der schon unter Coubertin tätigen Frau
Zangghi die anfallenden Probleme. Als Mayer abtrat und
IOC-Präsident Brundage den Niederländer Westerhoff
als Generalsekretär engagierte, vergrößerte der das Büro
sofort auf vier, später auf zwölf Angestellte. Als er drohte,
17
mit dem IOC umzuziehen, räumte die Stadt Lausanne
dem IOC das Schloß Vidy und ihm persönliche die benachbarte
VillaAös er jedoch um die Welt zu reisen begann
und die Spesenrechnungen vom IOC bezahlen ließ,
feuerte er ihn. Außerdem hatte der Niederländer – wozu
ihn niemand ermächtigte – neue Amateurformel verkündet,
die jeden Sportler als Amateur gelten ließ, „der bei
internationalen Wettbewerben kein Geld annahm“. Das
war im Grunde der erste Schritt zur Kommerzialisierung
und bewog denn auch Brundage den Niederländer abzusetzen.
DER TENNIS-TRICK
Die Spitze des IOC veränderte sich – man wagt zu sagen
- radikal 1980. Nach Brundage war der Ire Killanin
als Präsident gewählt worden. Er war der Mann, der die
politischen Attacken
Washingtons und Bonns gegen die Spiele in Moskau
1980 mit Bravour abwehrte. Zur Eröffnung des IOCKongresses
anlässlich des Auftakts der Olympischen
Winterspiele in Lake Placid (USA) hatte er erklärt: „Den
Mitgliedern des IOC, die die Spiele in Moskau boykottieren
wollen, verkünde ich hier: `Ich bin in Moskau im Stadion
und eröffne die Spiele, wie es die Regeln verlangen!“
Killanin, ein nicht sehr vermögender Filmproduzent,
verzichtete auf eine Wiederwahl. Alle rechneten damit,
dass der bundesdeutsche IOC-Präsident Willi Daume
gewählt würde aber als der – gezwungen zu diesem
Schritt von der Bundesregierung – mitteilte, dass die
BRD die Spiele boykottieren würde, waren seine Aussichten
chancenlos. Man suchte einen „Ersatzmann“ und
in dieser Situation finanzierte die Sportartikelindustrie die
18
Wahl ihres Kandidaten ihren Kandidaten, den eigentlich
durch seine faschistische Vergangenheit als Sport-
Staatssekretär unter Franco diskriminierten Spanier Juan
Antonio Samaranch. Über der Wahl am 16.Juli 1980 im
Moskauer Haus der Gewerkschaften lastet seit jeher der
Schatten der Korruption. Killanin erklärte nach der Wahl,
dass er der Posten des IOC-Präsidenten für nicht käuflich
gehalten hatte. Finanziert hatten die Wahl der damalige
Adidas-Chef Horst Dassler mit seiner „sportpolitischen
Abteilung“ und der Franzose Geheimdienstagent
André Guelfi großen Anteil, der in seinen Memoiren gestand:
„Ich konnte fast alle überzeugen, ihr Votum zu ändern.“
Guelfi hatte mit Geld und Produkten seiner Firma
Le Coq Sportif bezahlt.
Samaranch zauderte keinen Tag die Kommerzialisierung
der Spiele in die Wege zu leiten und ließ sich dabei
einiges einfallen. 1981 hatte in Baden-Baden der XI.
Olympische Kongreß stattgefunden. Samaranchs massive
Versuche, den Amateurparagraphen außer Kraft zu
setzen scheiterten am Widerstand der Mehrheit der
Sportfunktionäre aus aller Welt. So las man im Kommuniqué
noch im durchaus olympischen Sinn: „Der Xl.
Olympische Kongress, der von M. Antonio Samaranch,
Präsident des IOC, geleitet wurde“ - der Hinweis illustriert
Samaranchs Profilierungssucht - „ist zu folgenden
Schlussfolgerungen gekommen:... Die offenen oder professionellen
Wettbewerbe haben bei den Olympischen
Spielen keinen Platz. Die Prinzipien der Regel 26 müssen
beibehalten... werden... In enger Zusammenarbeit
mit den Internationalen Föderationen und allen Organisationen,
die es unterstützen, muss das IOC das Führungsorgan
des Weltsports sein, das die Prinzipien der
Olympischen Charta achtet...“
19
Diesen Formulierungen hatte Samaranch den Satz
hinzugefügt: „Finanzhilfe aus kommerziellen Quellen ist
willkommen, unter der Voraussetzung, dass die Athleten
nicht ausgebeutet werden.“ Diese Floskel öffnete den
Weg auf den Markt.
Coubertin hatte einst die Gefahren für die Zukunft der
Spiele voraussehend, formuliert, dass den Spielen die
Gefahr drohen könnte, aus dem Tempel auf den Markt zu
geraten. Dieser Schritt war nun vollzogen!
Kaum waren die Kongressdelegierten in die Busse gestiegen,
die sie in die malerische Umgebung Baden-
Badens fahren sollten, trat das IOC zusammen. Samaranch
nannte den Kongress – viele verblüffend - „einen
Kongress der Veränderungen und demzufolge der Hoffnung.
Diese Veränderung ist nur die Widerspiegelung der
Veränderungen in unserer Gesellschaft. Wir dürfen nicht
unflexibel bleiben, das wäre eine große Gefahr für unsere
Organisation.“
Und dann praktizierte er seine „Flexibilität“!
Noch in Baden-Baden verkündete er die Anerkennung
des Tennis- und des Tischtennisverbandes durch das
IOC. Die meisten IOC-Mitglieder scheinen nicht zu ahnen,
welche Folgen dieser Beschluss hat: Beide Sportarten
haben den Amateurparagraphen aus ihren Statuten
gestrichen, sind somit die ersten olympischen Verbände,
die den Professionalismus bei Olympia einführen. So hebelte
Samaranch den Beschluss des eben beendeten
Olympischen Kongresses aus, die Amateurregel auch in
Zukunft zu respektieren! Walther Tröger, bundesdeutsches
IOC-Mitglied war in der Bundesrepublik der einzige,
der damals diesen Schritt kritisierte: In der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ (3.10.1981) schrieb er: „Damit
setzte der geschmeidige Diplomat wiederum ein Beispiel,
wie geschickt er seinen Willen durchzusetzen versteht...
20
Erstaunlich ist die Hast, mit der die Anerkennung vom
sonst eher betulichen IOC betrieben wurde. Kritiker vermuten,
dass eine starke Lobby mit handfesten kommerziellen
Interessen die Olympier gedrängt haben. Das
Vorgehen entbehrt der Logik. Denn erst wäre zu erwarten
gewesen, die als Amateurparagraph bekannte Zulassungsregel
zu diskutieren und anzupassen und erst dann
die beiden Sportarten in die olympische Familie einzubeziehen.“
Damit hatte die Sportartikelindustrie – keineswegs nur
adidas – die ersten Triumphe gefeiert. Eingeweihte verblüffte
es nicht, schon weil ein Blick auf die Gästeliste
des Kongresshotels verriet, wieviel Manager dort Quartier
genommen hatten.
Übrigens: Der heutige Präsident des IOC, Thomas
Bach (BRD), versichert seit Jahren, dass er zwar seit
1985 bei adidas als Sportdirektor tätig gewesen, aber
angeblich nie an den Entscheidungen des Unternehmens
nie beteiligt war!
LOS ANGELES VERWEIGERT GARANTIE
Die nächste olympische Wendeboje war vor Los Angeles
verankert. Dort fanden 1984 die Olympischen Sommerspiele
statt und die geltende IOC-Charta schrieb
noch immer vor, dass das IOC einen Vertrag mit der Regierung
des Gastgeberlandes oder zumindest mit der
Stadtverwaltung des Austragungsortes abzuschließen
habe, der die Finanzierung der Spiele garantierte. Los
Angeles hatte sich geweigert, dem IOC einen solchen
Vertrag auszuhändigen und präsentierte stattdessen als
„Garantiepartner“ ein privates Kommerzunternehmen.
Der schlitzohrige Samaranch behauptete, dass er diesen
Schritt hatte akzeptieren müssen, weil sich außer Los
21
Angeles keine andere Stadt um die Spiele beworben hatte.
Die Vermarktung war grenzenlos. Als erstes wurde
der übliche Fackellauf durchs Land regelrecht verhökert.
Wer 3000 Dollar einzahlte, durfte die Fackel eine Meile
tragen. Das bewog auch die berühmtesten Gangster des
Landes, sich als Fackelläufer feiern zu lassen. Das Geschäft
erwies sich einträglich: 22.500 Kilometer waren
zurückzulegen und das ergab summa summarum 67,5
Millionen Dollar.
Allerdings: Ehe der Fackellauf gestartet werden konnte,
musste das Feuer im antiken Olympia entzündet werden,
und die Griechen weigerten sich strikt, die Zeremonie
zu „verkaufen“. In den USA verbreitet man heute
noch, dass der Ärger dem kommunistischen Bürgermeister
von Olympia zuzuschreiben sei, aber die Ablehnung
war umfassend. Die Schauspielerin Aspassia Papathanassiou,
die im Gewand einer Hohepriesterin das Feuer
zu entzünden pflegte, weigerte sich an der Zeremonie
mitzuwirken und versicherte: „Wir werden nicht zulassen,
dass das Feuer, an dem auch die Kinder Hiroshimas ihre
Gedenkkerzen entzündet haben, in einen Werbegag für
Coca Cola umfunktioniert wird.“
Wer kam den Los-Angeles-Managern zu Hilfe? Samaranch!
Er ließ des IOC-Exekutivkomitee verkünden, dass
die olympische Flamme nach gründlichem Studium der
Rechtslage dem IOC gehört. Seine Entzündung sei allenfalls
eine griechische Dienstleistung. Die Antwort der Hellenen
war deutlich: „Wenn Samaranch das Feuer haben
will, muss er es selbst entzünden und nach Athen tragen.“
Zwei zähe Verhandlungen zwischen Amerikanern und
Griechen endeten ergebnislos. Die Gefahr, dass man in
Los Angeles ohne das olympische Feuer auskommen
müsste, schien nicht mehr abzuwenden. Die USAmerikaner
begannen heimlich in Griechenland Freiwilli22
ge anzuwerben, die gegen Dollargage das Feuer von
Olympia nach Athen tragen sollten. Der griechische
Leichtathletikverband reagierte augenblicklich: „Jeder
Läufer, der sich daran beteiligt wird auf Lebenszeit disqualifiziert.“
Schließlich wurde das Feuer ohne jegliches Zeremoniell
von Yankee-Managern entzündet, und die USamerikanische
Luftwaffe flog es von einem Militärflughafen
mit einem Armee-Hubschrauber nach Athen.
DAS SUPER-GESCHÄFT
Da die Los-Angeles-Manager enorme Gewinne erzielten,
bewarben sich Kandidaten für die nächsten Spiele in
Scharen. Olympia war endgültig zum Geschäft geworden!
Die die letzte Entscheidung treffenden IOCMitglieder
begannen sich nach den Summen zu richten,
die ihnen die Bewerber zahlten.
Als der Streit um die jüngste Olympiabewerbung Berlins
so manchen Streit auslöste, wurde – aus politischen
Gründen – eine Bewerbung schlicht unterschlagen. Nur
der „Tagesspiegel“ (25.6.2014) erinnerte mit einem wenig
Wahrheiten enthaltenden Beitrag daran, dass Berlins
Regierender Bürgermeister Willy Brandt 1963 dem IOC
eine mehr als abenteuerliche und ausschließlich von politischen
Motiven bestimmte Bewerbung drei Tage vor
Einsendeschluss zugestellt hatte: Berlin wollte angeblich
die Spiele 1968 austragen, für die als Ausrichter längst
Mexiko feststand. Die Aktion wurde kurz nach dem Besuch
Kennedys in Westberlin gestartet und dürfte von
dem US-Präsidenten angeregt worden sein. Die durch
die Mauer gespaltene Stadt sollte Olympia austragen,
und damit die Sowjetunion in Schwierigkeiten bringen.
Wie hätten Olympische Spiele ausgetragen werden kön23
nen, ohne die Sowjetunion zu zwingen, die Mauer wegzuräumen?
Der NOK-Präsident der DDR, Dr. Heinz Schöbel reiste
zu Brundage und nach einer Beratung der beiden, wurde
der Antrag zu den Akten gelegt. Es blieb die bis dahin
politisch extremste Aktion der Bundesregierung im Zusammenhang
mit Olympia! So dürfte auch zu erklären
sein, dass diese Bewerbung kaum jemals wieder erwähnt
wurde! Auch die Bewerbung des Jahres 1992 für die
Spiele 2000 war keineswegs unpolitisch. Der „Beitritt“ der
DDR sollte olympisch „gefeiert“ werden! Die Bewerbung
scheiterte kläglich: 9 von 89 Stimmen!
DER AUFSCHLUSSREICHE
„KONTROLLBERICHT“
Aufschlussreich aber ist ein „Kontrollbericht“, zu dem
sich der Senat 1996 veranlasst sah. Er ist zwar zu einem
großen Teil spurlos verschwunden, doch geben selbst
die aufgefundenen Reste hinreichend Aufschluss, was
sich damals zugetragen hatte! 1993 hatte man sich also
um die Spiele des Jahres 2000 beworben. Am 22. August
1996 war der Kontrollbericht des Berliner Rechnungshofes
veröffentlicht worden und wer den zur Hand
nimmt kommt aus dem Staunen nicht heraus.
Mit Nachdruck soll vor dem Abdruck einiger Passagen
betont werden, dass die vom IOC vorgeschriebenen Regeln
damals unzählige Male verletzt worden waren. Wer
also bei einer Bewerbung für 2022 oder 2028 Bedenken
wegen der Kosten äußerte, hätte also als erstes die Einhaltung
der IOC-Regeln fordern müssen! Und das umso
nachdrücklicher, wenn man jenen Bericht von vor gut
zwei Jahrzehnten zur Hand nimmt. Überraschen muss
vor allem, dass selbst ernst zu nehmende politische Kräf24
te – wie die Partei Die Linke – das Thema „Kosten“ in
den Vordergrund rückten, ohne zu wissen, welche Kosten
überhaupt entstehen. Wer die Friedens-Ideologie der
Spiele ignoriert, sollte auf jede Beteiligung an der Diskussion
ob man sie stattfinden lassen sollte oder nicht,
besser verzichten! Es geht nicht um die Kosten an sich,
sondern zunächst um das Anliegen der Spiele und die
lässt sich kaum ablehnen!
Wie wenig der Senat bei der letzten Bewerbung die
Vorhaben kontrollierte, verraten die noch vorhandenen
Passagen des Kontrollberichts:
„...Zum kommissarischen Geschäftsführer der Olympia
GmbH wurde... ein Beamter der Senatskanzlei bestellt.
Dieser stellte fest, dass der erste Geschäftsführer mit
eingestellten Mitarbeitern nur mündliche Absprachen
über die Arbeitsbedingungen getroffen und nicht für den
Aufbau einer ordnungsgemäßen Buchhaltung gesorgt
hatte... Als neuer Geschäftsführer der Olympia GmbH
wurde ein Direktor der damaligen Treuhand-Anstalt ausgewählt,
der sein Amt im Februar 1992 antrat...“
Ein beim Skandalunternehmen Treuhand Entlassener
leitete also die Olympiabewerbung Berlins. Eine aufschlussreiche
Enthüllung, dieweil in Berlin genügend
Funktionäre zu finden gewesen wären, die in Jahrzehnten
ausgiebige Erfahrungen bei der Veranstaltung von
sportlichen Großereignissen gesammelt hatten.
„...Die Aktivitäten der Olympia GmbH waren einerseits
darauf gerichtet, die Berliner Bevölkerung für die Olympia-
Bewerbung zu begeistern, andererseits zielten sie
darauf ab, die Mitglieder des Internationalen Olympischen
Komitees (IOC) für die Bewerberstadt Berlin einzunehmen...
So warb die Olympia GmbH... und nahm
durch ihre Repräsentanten persönlichen Kontakt zu IOC25
Mitgliedern auf, die sie nach Deutschland einlud oder in
ihren Heimatländern aufsuchen ließ...“
Ebenfalls aufschlussreich: Olympiabewerber sollen
doch wohl den IOC-Mitgliedern die Austragungsstadt
vorstellen. Was trieben sie wohl in deren Heimatländern?
„...Die Prüfung durch den Rechnungshof war vor allem
dadurch erschwert, dass für die Prüfung unerlässliche
Unterlagen zum Teil erst mit erheblicher Verspätung erstellt
und dem Rechnungshof übersandt wurden...
...Erschwerend wirkte sich ferner aus, daß dem Rechnungshof
zum Zeitpunkt der Prüfung nur noch der ehemalige
Leiter der Abteilung Innere Dienste der Olympia
GmbH, der auch für den Bereich Finanzen zuständig
war, als Ansprechpartner zur Verfügung stand. Der Liquidator
der Olympia GmbH i. L. hat zur Aufhellung von
Sachverhalten selbst nicht beigetragen und stand für
Fragen nicht unmittelbar zur Verfügung.“
Wusste er keine Antworten oder wollte er keine geben?
„...Eine erhebliche Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten
ergab sich auch dadurch, dass der Geschäftsführer
der Olympia GmbH Akten der Gesellschaft hatte
vernichten lassen (sog. Reißwolfaffäre). Dabei sind u. a.
die in der ‘Internationalen Abteilung’ der Olympia GmbH
für jedes IOC-Mitglied geführten Ordner, die den Schriftverkehr
zu den Einladungen nach Berlin und Stuttgart
sowie Einzelheiten der Programmgestaltung der Besuche
enthielten, vernichtet worden...
... Ob die nicht vorgefundenen Unterlagen vernichtet
worden sind oder nicht existierten, hat der Wirtschaftsprüfer
nicht festgestellt. Aufgrund der Prüfungen durch
die Senatskanzlei und den Rechnungshof steht nunmehr
fest, dass ein Teil nicht existiert hat, weil der Geschäfts26
führer sogar Millionengeschäfte mündlich abgeschlossen
hat...
...Ebenso sind Reise- und Aufenthaltskosten für IOCMitglieder
(einschließlich der Geschenke) nicht nur bei
dem hierfür eingerichteten Konto, sondern auch bei den
Konten ‘Broschüren’, ‘Werbeaktivitäten’ und ‘Gäste- und
Journalistenbetreuung’ gebucht...“
Hätte jemand im Vorfeld der schon im Duell mit Hamburg
gescheiterten Bewerbung diesen Bericht hervorgeholt,
wäre doch als erstes die Forderung erhoben werden
müssen, 2015 Voraussetzungen zu schaffen, die die
Schlamperei des Jahres 1992 ausschlossen. Davon war
nirgends und nie die Rede!
Im Gegenteil: Ein Mann wie Walther Tröger, einer der
erfahrensten bundesdeutschen Olympiafunktionäre –
Bürgermeister des Olympischen Dorfes 1972 in München
- antwortete in der „Berliner Zeitung“ (10.3.2015) auf eine
Frage zur Berliner Bewerbung 2000: „Noch heute sagen
IOC-Kollegen mir, dass die Präsentation Berlins die besten
war, die sie je gesehen haben!“
Da im Vorfeld jener missglückten Berliner Bewerbung
ständig von den Kosten die Rede war, soll nicht verschwiegen
werden, was der Rechnungshof damals bei
der Überprüfung der Gehälter festgestellt hatte: „Bei der
Olympia GmbH waren in den Jahren 1992/93 sechs Mitarbeiter
in leitenden Positionen mit Jahreseinkommen
von 110.000 DM bis 360.000 DM tätig...“ Klartext: Mindestens
einer der Herren wurde monatlich mit 30.000
Euro gelöhnt! Von ehrenamtlichen erfahrenen Funktionären
war nirgends die Rede!
Berlin hatte sich damals entschlossen, die entsprechend
der Regeln in die Olympiastadt Einzuladenden
auch nach Stuttgart zu fliegen um die dort stattfindenden
Leichtathletik-Euromeisterschaften für die Werbung zu
27
nutzen. Das las sich in jenem Kontrollbericht so: „Für die
Leichtathletik-Weltmeisterschaften (WM) in Stuttgart
1993 war im Wirtschaftsplan der Olympia GmbH ein Betrag
von 300.000 DM vorgesehen… Die Stuttgarter Messe-
und Kongressgesellschaft mbH stellte der Olympia
GmbH später folgende Kosten einschließlich Mehrwertsteuer
in Rechnung:
a) 2.214,00 DM für Logis IOC-Mitglied
b) 2. 214,00 DM für Logis IOC-Mitglied
c) 97.320,02 DM für Dauerkarten der IOCBegleitpersonen...
f) 334.147,49 DM für Auslagen für IOC-Mitglieder...
Gesamt 1.047.318,31 DM...
Außer den bereits genannten Kosten hat die Olympia
GmbH im Zusammenhang mit der WM noch Zahlungen
in Höhe von 101.781,31 DM an ein Institut für Konfliktforschung
gezahlt... Bei diesem Institut soll es sich um ein
Personenschutzunternehmen handeln (Sicherheitsberatung/
Gestellung von Leibwächtern).“ Der Kontrollbericht
monierte: „Es ist nicht einzusehen, aus welchem Grund
die Olympia GmbH Berlin ein privates Personenschutzunternehmen
für eine Veranstaltung in Stuttgart bezahlt
hat. Vermerke hierzu liegen nicht vor.“
Hier soll ein Schlussstrich gezogen werden: Niemand
kann leugnen, dass bei der Bewerbung Berlins damals
völlig unbegründete Zahlungen geleistet wurden.
Unser Verein hatte zu Beginn des Jahres 2015 zum
Thema Olympia eine ERKLÄRUNG abgegeben, in der es
hieß: „Wann und wo immer von Olympia die Rede ist,
geht es um ein Fest des Friedens! Deshalb engagiert
sich der Verein für die Spiele, wo immer sie stattfinden.
(…) Deutschland stellt zum ersten Mal in den 120 Jahren
Olympia mit Thomas Bach den Präsidenten des Internationalen
Olympischen Komitees. Er sollte das Erbe des
28
Franzosen Coubertin durchfechten, in dem er die zunehmende
Kommerzialisierung nachdrücklich reduziert.
`Sport und Gesellschaft´ plädiert deshalb für alle Aktivitäten,
die der Fortsetzung der besten Traditionen der
olympischen Geschichte gerecht werden.“
Unser Verein zählt sich also zu denen, die die olympischen
Ideale verteidigen, träumt aber nicht von illusionären
Hoffnungen. Das Duell zwischen Berlin und Hamburg
spiegelte die deprimierende Realität wieder, in die die
Spiele nun geraten sind.
Nicht einmal der IOC-Präsident vermochte in seinem
Heimatland zu klären, ob sich die beiden Städte Olympische
Spiele überhaupt leisten können? Offiziell hat Berlin
rund 61 Milliarden Euro Schulden, Hamburg 25 Milliarden.
Zahlen, die man fast als oberflächlich bezeichnen
muss, wenn man die Zahl der Einwohner vergleichen
würde, Zahlen also, die in keiner Weise gestatten die gestellte
Frage zu beantworten.
Die erste Frage hätte eigentlich lauten müssen: Hätte
das Nationale Olympische Komitee – auch wenn es offiziell
einen anderen Namen trägt fungiert es als solches –
nicht Fachleute zu einer Konferenz laden müssen, die
gründlich untersuchen, wer die besseren Voraussetzungen
bietet? Was wäre geschehen – wenn sich auch noch
Dresden oder Wolfsburg um die Spiele beworben hätten?
Beide Städte können auf eine Pro-Kopf-Verschuldung
ihrer Bürger von 0 Euro verweisen!
Aber es hatten sich Berlin und Hamburg beworben
und jenes Gremium, das darüber entschied, wählte
Hamburg.
Und das, obwohl Hamburg ins Gerede geraten war, als
es sich entschloss, eine Elbphilharmonie zu errichten und sie
ein „schillerndes Aushängeschild für die Hansestadt“ nannte.
Die Baukosten waren mit 77 Millionen veranschlagt und betra29
gen bisher rund 800 Millionen Euro. Die Kosten zahlt nicht
irgendein Sponsor, sondern der Steuerzahler.
Nun also Olympia. Oslo, das sich für die Winterspiele
2022 beworben hatte, warf unlängst das Handtuch. Der
Grund: Stadt und Regierung waren nicht bereit, die Forderungen
zu erfüllen, die das Büro des IOC-Präsidenten
verschickt haben dürfte. Sie umfassten 7000 Seiten! Das
IOC forderte unter anderem für sich: Separate Eingänge
am Flughafen während der Spiele, eigene Wagen mit
Chauffeuren auf gesperrten Fahrspuren.
Wo will Hamburg die Spiele austragen? Im Hafen! Der
Kleine Grasbrook, wo sonst auch Überseeschiffe ankern
muss also umgewandelt werden. Vorsichtige Schätzungen
der dabei entstehenden Kosten belaufen sich auf 5
Milliarden Euro…
Die Hafenbetriebe fordern natürlich, dass dieser aufwändig
Umzug von den Olympiaveranstaltern bezahlt
wird. Auch das Olympische Dorf soll dort entstehen und
anschließend als Wohnraum genutzt werden. Viele fragen
sich allerdings jetzt schon, wie verlockend es ist, inmitten
des Hafenlärms zu wohnen.
So endete unser Plädoyer nicht mit der Frage: Hamburg
oder Berlin – eine Frage, die längst entschieden ist
Olympia in Berlin – , sondern Olympia auch in Zukunft?
Es ließen sich unzählige Antworten geben, die aber alle
bei „Ja“ oder „Nein“ enden müssten. Einst hatte Samaranch,
der das Beil an die Spiele legte, gepredigt: „Das
Vermächtnis unseres Gründers Pierre de Coubertin muss
für immer erhalten bleiben!“ Sein Nachfolger Bach
scheint in diesem Augenblick weggehört zu haben!
Man muss ihm nicht sagen, dass Coubertin die Jugend
der Welt im friedlichen sportlichen Wettkampf hatte
versammeln und nicht die IOC-Mitglieder in Luxuskarossen
zu den Stadien karren wollen! Seine Olympischen
30
Spiele haben in der Weltgeschichte eine unbestritten positive
Rolle gespielt. Wenn sie nun vom Tempel auf den
Markt vertrieben wurden, sollte man sich auch an Gebhardt
erinnern und seine Forderungen erinnern und in
Hamburg oder sonstwo Olympische Spiele veranstalten,
die nicht Milliarden kosten! Übrigens: Die Athleten schlafen
nicht in lusxussuiten und sie sind und bleiben die
Hauptpersonen dieser Spiele!
31
DIE LINKE UND DER SPORT
Am 28. November 2014 richtete die Fraktion DIE LINKE
eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zu Konsequenzen
der Studie „Doping in Deutschland". Es wäre müßig
die Vorgeschichte dieser Anfrage darlegen zu wollen.
Festzustellen wäre höchstens, dass man sich gut jener
hemmungslosen Vorwürfe erinnert, die zu Beginn der
neunziger Jahre gegen die Führung des DDR-Sports wegen
angeblichen Dopings erhoben worden waren. Funktionäre,
Trainer und Ärzte wurden damals strafrechtlich verfolgt
und verurteilt. Man forderte vom IOC sogar, die Rückgabe
der von DDR-Athleten erkämpften olympischen Medaillen
zu verlangen, eine kindische und in der Geschichte
der Spiele beispiellose Forderung, die das IOC nicht einmal
zur Kenntnis nahm. Als eines Tages gewissenhafte
Ärzte die Aufklärung des Dopings in der Alt-
Bundesrepublik forderten, wurden zwar 350.000 Euro für
dieses Vorhaben bewilligt, aber als sich das Ausmaß des
bundesdeutschen Dopings abzuzeichnen begann, begann
man erst nur zaudernd die Ergebnisse mitzuteilen und sie
dann sogar zu verweigern. Die Kleine Anfrage der Linken
sollte wohl verbindliche Antworten erzwingen wollen, blieb
aber ohne ernsthafte Antworten. „Beiträge zur Sportgeschichte“
glaubte nie, durch diese Publikation das Anliegen
der Fraktion unterstützen zu können, wollte aber dem Leser
demonstrieren, wie die Bundesregierung solche Fragen
zu beantworten pflegt. (Wissen sollte der Leser noch,
dass inzwischen die sogenannte „Steiner-Kommission“
gegründet worden war, der die Verantwortung übertragen
worden war.)
Die Frage: Inwieweit bzw. wo wurde die Studie „Doping
in Deutschland" nach Kenntnis der Bundesregierung
bisher veröffentlicht, und welche Gründe sprechen aus
32
Sicht der Bundesregierung gegen die umfassende Veröffentlichung
aller gewonnenen Erkenntnisse? (…)
Antwort: „Nach Vorlage des Abschlussberichts zum
Forschungsprojekt „Doping in Deutschland von 1950 bis
heute" ist seitens der Bundesregierung eine interne Auswertung
vorgenommen worden. (…) Darüber hinaus
wurde analysiert, ob ein weiterer Forschungsbedarf besteht
und mit welcher wissenschaftlichen Methodik einem
evtl. bestehenden Forschungsdesiderat nachzukommen
ist. Wegen der in Bezug auf einzelne Personen und den
Untersuchungsgegenstand vergleichbaren Forschungsprojekte
ist davon auszugehen, dass der bislang noch
nicht veröffentlichte Abschlussbericht der zu weiteren
Erkenntnissen führen wird.“
Erinnert diese Antwort nicht an die Redensart: „Nachts
ist es kälter als draußen?“
Auf die gestellte Frage wurde jedenfalls keine Antwort
gegeben. Nicht mal ein Termin angedeutet, wann man
mit dem Bericht eventuell rechnen könnte. Ahnen ließ
sich höchstens, dass bei der Antwort mit Mängeln zu
rechnen sein wird: „Die Prüfgruppe Innenrevision des
Bundesministeriums des Innern (BMI) hat die im Rahmen
der Forschungsergebnisse der HU Berlin erhobenen Vorwürfe
im Hinblick auf ein etwaiges Fehlverhalten von
(ehemaligen) Beschäftigten des BMI oder des Bundesinstituts
für Sportwissenschaft (BISp) untersucht. Der interne
Prüfbericht kommt zu dem Ergebnis, dass der in der
Studie erhobene zentrale Vorwurf einer systematischen
anwendungsorientierten Dopingforschung auf Veranlassung
oder jedenfalls mit Wissen und Wollen der beteiligten
Behörden anhand der im BMI und BISp eingesehenen
Akten nicht durch konkrete Tatsachenfeststellungen
belegt werden könne. Rechtliche Schritte seien daher
nicht angezeigt.“
33
Immerhin ließ diese Formulierung den Schluss zu,
dass „Fehlverhalten“ festgestellt worden war, aber mit
„rechtlichen Schritten“ nicht gerechnet werden kann.
Letzte Zweifel räumt die Antwort auf die vierte Frage
aus: „Zu welchem Ergebnis ist die Bundesregierung nach
Vorliegen des Abschlussberichts der Steiner-Kommission
hinsichtlich der Bewertung oder Eingrenzung eines fortbestehenden
Forschungsbedarfs über die gesamtdeutsche
Dopingvergangenheit für den Zeitraum 1990 bis heute gelangt?“
Die Bundesregierung: „Auf Basis des Abschlussberichtes
der `Steiner-Kommission´ ist keine Stellungnahme
zur `Bewertung oder Eingrenzung eines fortbestehenden
Forschungsbedarfs über die gesamtdeutsche
Dopingvergangenheit für den Zeitraum 1990 bis
heute´ möglich, da dieser Bericht zu der Frage eines
fortbestehenden Forschungsbedarfs auf der Grundlage
der Studie `Doping in Deutschland´ keine Aussage
trifft.“
Letzte Zweifel ob es nachts kälter als draußen sei,
wären damit ausgeräumt!
34
Literatur
UNSER TÄGLICH BROT GIB UNS HEUTE
Der Hallenser Zehnkämpfer Walter Meier hatte
beim ersten Start von DDR-Leichtathleten bei Europameisterschaften
1958 in Stockholm die Bronzemedaille
im Zehnkampf errungen, nur 20 Punkte hinter
dem Finnen Uno Palu. Als er seine sportliche Laufbahn
beendet hatte betätigte er sich zuweilen als Autor.
„Beiträge zur Sportgeschichte“ hatte schon in
früheren Ausgaben Texte von ihm veröffentlicht und
lässt nun eine weitere folgen.
Ja, aber welches? Weißbrot? Schwarzbrot? Leinsambrot?
Zwischen dem kriegserprobten Kommissbrot
der Soldaten und den Diät- und de-luxe-Broten für
Magenkranke, Snobs und Biofetischisten gibt es allein
in Deutschland mehr als dreihundert Sorten. Tendenz
steigend.
Als ich vier Jahre alt war (also vor achtzig Jahren!),
gehörte das Brotholen zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.
„Lauf mal schnell zum Bäcker und
hole ein Brot", sagte meine Mutter und drückte mir
das abgezählte und in einen Zeitungsschnipsel gewickelte
Geld in die Hand. „Verlier's nicht!" Ich holte
gern Brot. Es duftete köstlich nach nichts anderem
als nach Brot, es hauchte mir Restwärme des Backofens
in die Nase, und flüsterte mir bei jedem Schritt
'Beiß mich, beiß mich' ins Ohr. Ich liebte das Brot,
und ich liebte meine Mutter, auch wenn sie manch35
mal mit mir schimpfte, weil ich zu lange getrödelt hatte,
aber niemals verlor sie auch nur ein einziges
Sterbenswörtchen darüber, dass beide Enden des
Brotes angeknabbert waren. Meine Mutter ist schon
lange tot, meine Liebe zum Brot ist geblieben. Ich
hasse jeden, der Brot misshandelt oder gar missbraucht.
Wie leicht hatten es damals, als ich noch
Kind war, die Pfarrer mit ihrem Vaterunser. Es gab
EINEN Gott, und es gab DAS Brot, das „tägliche“.
Wie schwer hätte es dagegen Jesus, wollte er heute
mit seinem Dreipfundbrot fünftausend hungrige Mäuler
stopfen! Und für welche Brotsorte sollte er sich
entscheiden? Erschwerend käme hinzu, dass sein
himmlischer Vater 800 Millionen seiner irdischen Geschöpfe
das „täglich Brot“ gänzlich vorenthält. Gelassen
schaut er zu, wie die einen sich das angemästete
Fett absaugen lassen, während andere verhungern.
Um jene 800 Millionen Hungernde satt zu machen,
bräuchte Jesus 160000 seiner Zauberbrote.
Aber vielleicht ist dieser weltweite Hunger gar nicht
gottgewollt, sondern menschengemacht?
Der moderne Prometheus probt schon mal das Leben
in der Schwerelosigkeit; er hisst seine 'Ick-bin-allhier'-
Standarte unter dem Polareis und auf dem Mond;
er ist unterwegs zu anderen Planeten, um nachzusehen,
ob es sich dort leben und gut verdienen lässt.
Wittert er kommerzielle Morgenluft, wird er sich eiligst
seinen Claim abstecken: PRIVATBESITZ! ZUTRITT
VERBOTEN!
Stößt er dabei auf menschenähnliche Wesen, wird er
sie missionieren und mit den Viren unserer hausgemachten
Religionen infizieren. Vielleicht wird er sie auch ungetauft
totschlagen. Die Methode, wie man Ureinwohner
und sonstige unerwünschte Kreaturen ausrotten
36
kann, hat sich, wie das Schicksal der Indianer und Aborigines
beweist, bewährt. Und dennoch wuchs die Erdbevölkerung
rapide, und sie wird weiter wachsen, trotz
Pille, Holocaust und Aids und Krieg. Die Erde aber
wächst nicht mit. Im Gegenteil. Von den Urwäldern,
die einst gemeinsam mit den Ozeanen den Erdball
bedeckten, ist nur ein kläglicher Rest an Regenwäldern
übrig geblieben. in den zehn Jahren zwischen
1995 und 2005 schrumpfte die „Lunge unserer Erde“, der
südamerikanische Regenwald, um eine Fläche, die dreimal
so groß ist wie die Bundesrepublik! Unvorstellbar?
Versuchen Sie es trotzdem! Wie groß ein Fußballfeld ist,
weiß heutzutage jedes Kind. Sechs solcher Fußballfelder
entsprechen einer Fläche, die dem Regenwald entrissen
wird - PRO MINUTE!!!
Zuerst mußten die Ehrfurcht einflößenden über hundert
Meter hohen und tausend Jahre alten Mammut- und
Mahagonibäume dran glauben. Sie zieren heute, zersägt,
geschält und in hauchdünne Scheiben geschnitten, als
Schreibtisch, Bücherschrank oder Täfelung die Mi llionärsvillen
und Luxus-Yachten. Das Bauholz rissen
sich das Baugewerbe und die Holzindustrie unter den
Nagel, und was die Latifundienbesitzer verschmähten,
das wertlose Unterholz, Lianen und Buschwerk, machten
die „Hungerleider“, die landarmen und landlosen
Bauern urbar für Weizen, Mais und Sojabohnen; für ihr
„täglich Brot“.
Doch warum in die Ferne schweifen? Solange wir
in Deutschland täglich 90 Hektar Erdboden zubetonieren,
haben wir kein Recht, mit Steinen zu werfen.
90 Hektar! PRO TAG! Autobahnen, Flugplätze, Fabriken,
Baumärkte, Einkaufscenter mit ihren oft überdimensionierten
Parkplätzen und nicht zuletzt auch die
den Volkssport verhöhnenden Golfplätze, lassen unsere
37
Bodenfläche jährlich um 32.000 Hektar schrumpfen.
Selbst wenn davon nur 20.000 Hektar für den Anbau von
Brotgetreide geeignet sein sollten, ergäbe das eine Einbuße
von 1,56 Millionen Dezitonnen Weizen (1 dt = 1
Doppelzentner = 100 Kilogramm)
Aus einer Dezitonne Getreide gewinnt der Müller, je
nach Ausmahlungsgrad 60 bis 90 Kilogramm Mehl. Bei
einem Ausmahlungsgrad von 80% wären das 124,8 Millionen
Kilogramm.
Der Bäcker benötigt für ein „Dreipfundbrot" 900
Gramm Mehl. Da es mir auf ein paar Gramm nicht ankommt
und es sich auch einfacher rechnet, erhöhen wir
auf glatte tausend Gramm.
Fazit: Aus dem Getreide, das uns wegen der zubetonierten
20000 Hektar verloren geht, hätten die Bäcker
124,8 Millionen Brote backen können.
Und deshalb klage ich alle diejenigen an, die altgewordenes
Brot und übrig gebliebene Brötchen verheizen.
Ich fordere alle diejenigen vor die Schranken eines
internationalen Gerichts, die dafür verantwortlich sind,
dass Brotgetreide und sonstige Grundnahrungsmittel (z.
B. Rapsöl) zu Treibstoff verarbeitet werden. Solange auf
unserer Erde auch nur ein einziges Kind an den Folgen
der Unterernährung stirbt, ist die Umwandlung von Nahrungsmitteln
in Benzin für die Christen eine Sünde und
für die anderen ein Verbrechen!
Warum so gnadenlos streng? Weil während der Zeit,
die Sie brauchten, um bis zu dieser Stelle zu lesen, 84
Kinder verhungert 2) sind.
Als Nachtrag:
„Oh, Freunde, nicht diese Töne, sondern lasset uns
angenehmere anstimmen und freudenvollere ..."
Zum Beispiel den Bericht in einer der in Halle/
Saale wöchentlich erscheinenden Werbezeitung
38
des Jahres 2009 (ich hebe so etwas manchmal auf):
Von den 400 geladenen Gästen eines Balles wurden
verzehrt:
500 Austern, 30 Kilo Rindshüftensteaks,30 Kilo Käse
(Schweiz, Frankreich, BRD),200 Stück geräucherter
Heilbutt,5 Kilo Algensalat, 60 Kilo frisches Obst sowie
eine ungenannte Zahl an „Leckerlis“.
BROT WURDE NICHT ERWÄHNT.
„Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
wer nie die kummervollen Nächte
auf seinem Bette weinend saß,
der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
ihr lasst den Armen schuldig werden,
dann überlasst ihr ihn der Pein:
DENN ALLE SCHULD RÄCHT SICH AUF ERDEN."
(Goethe)
„HOFFENTLICH TRIFFT ES DIE RICHTIGEN!"
(Meier)
Fußnoten:
1) Laut statistischem Jahrbuch wurden 2010 geerntet: 78 dt Weizen 98 dt Mais
2) Laut UNO-Bericht verhungert weltweit alle 5 Sekunden ein Kind.
GESCHICHTE
ERINNERUNGEN AN DIE
LEICHTATHLETIK-EM 1958
1958 fanden die Leichtathletik-Europameisterschaften
in Stockholm statt. Die Schweden hatten sich viel Mühe
gegeben die besten Voraussetzungen zu schaffen und
wurden plötzlich mit Querelen konfrontiert, mit denen sie
nicht hatten rechnen können. Die Internationale Leichtathletikföderation
(IAAF) hatte im Vorfeld dieser Titel39
kämpfe den DDR-Verband als Mitglied aufgenommen,
doch hatte sich der bundesdeutsche Verband mit seiner
Forderung durchgesetzt, dass nur eine deutsche Mannschaft
starten sollte, deren Mitglieder in Ausscheidungen
ermittelt werden sollten. Die fanden Anfang August 1958
in Leipzig und Kassel statt. Unterschiedliche Auffassungen
der Ausrichter waren nicht zu übersehen. So konnten
die bundesdeutschen Aktiven in Leipzig ihre Mahlzeiten
nach der Speisekarte des Hotels wählen, während in
Kassel Bons ausgegeben wurden, die zum Beispiel für
das Frühstück nur 2,50 DM (Kännchen Kaffee, Butter,
Brot, Marmelade) vorsahen. Ärger gab es auch, als DDRAthleten,
die in die Bundesrepublik gewechselt waren, im
Hotel erschienen und sich bemühten, Mitglieder der
DDR-Mannschaft zu überreden, ihr Team zu verlassen.
Besonders emsig agierte in dieser Hinsicht der frühere
Hindernisläufer Stephan Lüpfert, der aber wie alle anderen
erfolglos blieb.
Nach dem Finale in Kassel wurde die Mannschaft nominiert,
wobei der DDR-Verband für eine großzügige
Geste Sympathie erntete: Man verzichtete auf die qualifizierte
Leipzigerin Christa Smoger und nominierte dafür
die Fünfkämpferin Edeltraud Eiberle (Trossingen). Sie
galt als chancenreich war aber durch eine Verletzung
ausgeschieden.
Das vor allem zeitraubende Problem war die Frage,
welche Hymne gespielt bei Siegerehrungen gespielt werden
sollten. Man einigte sich: Für die jeweiligen Sieger
die jeweilige National-Hymne. Als die Mannschaft in
Stockholm eintraf, wurden die schwedischen Veranstalter
über diese Lösung informiert und akzeptierten sie. Beide
Verbände gaben also ihre Noten und Musikfolien ab.
Die schwedischen Organisatoren wollten jeden Ärger
vermeiden und baten die Präsidenten der beiden Ver40
bände - Erhard Schöber und Dr. Danz - am Sonnabendvormittag
für 10 Uhr zu einem Gespräch im Organisationsbüro.
Danz erschien nicht. Nach einer halben
begab sich Schöber zum Stadion-Glockenturm
und konferierte mit den für die Siegerehrungen verantwortlichen
Funktionäre. Die eröffneten ihm, dass
die bundesdeutsche Mannschaft inzwischen eine weitere
Unterschrift beider Präsidenten fordere. Als Dr.
Danz dann endlich eintraf, bestätigte er zwar die in
Kassel getroffene Vereinbarung, die seine Unterschrift
trug, weigerte sich aber, seinen Füllfederhalter
herauszunehmen und die erbetene Unterschrift zu
leisten. „Damit hatte ich schon genug Ärger", gestand
er auf der Treppe offenherzig Erhard Schöber. Er ver -
schwieg allerdings, wer ihm diesen Ärger bereitet hatte.
Die irritierten Schweden schlugen vor, am Montagvormittag
noch einmal über diese Angelegenheit
zu reden.
In den nächsten Stunden ergaben sich sensationelle
Wendungen. Am Sonnabend gegen 14 Uhr trat
der Europarat der IAAF zusammen, um den Programmablauf
noch einmal zu beraten. Anschließend
erhob sich plötzlich der französische Präsident des
Rates, Mericamp, und teilte den verblüfften Ratsmi tgliedern
mit, dass man sich in der deutschen Mannschaft
nicht über die Hymne habe einigen können
und die schwedischen Organisation daher einen
neuen Beschluss verlangt hätten. Der sichtlich irr itierte
Mericamp schlug den beiden deutschen Verbänden
vor, durch Los entscheiden zu lassen, welche
Hymne intoniert werden sollte. Das lehnten die
meisten Europaratsmitglieder ab.
Keiner der Funktionäre war bereit diese Frage zu erörtern,
denn keiner von ihnen hatte erfahren, was sich
41
inzwischen getan hatte: Das Auswärtige Amt der Bundesregierung
hatte die schwedische Regierung informiert,
dass sie das Intonieren der DDR-Hymne als „unfreundlichen
Akt“ empfinden würde und sogar drohte,
den BRD-Botschafter vorübergehend aus Stockholm
einzuberufen. Die noch immer ahnungslosen Europaratsmitglieder
beschlossen bei deutschen Erfolgen
überhaupt keine Hymne zu spielen. Danz enthielt sich
seiner Stimme, der DDR-Präsident war zu der Beratung
nicht eingeladen worden. Erst am Abend wurde er von
Danz informiert. Als der Beschluß des Europarates
auch am Sonntagnachmittag der Presse noch nicht mitgeteilt
worden war und ein Journalist dem Pressechef
Stig Facht die Frage stellte, wann denn nun mit einer
Verlautbarung zu rechnen sei, enthüllte der – ebenfalls
ahnungslos – den Hintergrund: „Sowie wir einen definitiven
Bescheid von der deutschen Botschaft haben!"
Damit war bestätigt, was „Stockholms Tidningen" bereits
am Sonntagmorgen auf der Titelseite mitgeteilt
hatte: „Deutsche Diplomaten in Stockholm haben eingegriffen,
um die Sache in Ordnung zu bringen." Am
Montag erschien Dr. Danz auf der täglichen Pressekonferenz
des Organisationsbüros und ließ sich widerspruchslos
als „Leiter der deutschen Mannschaft" vorstellen. Hinterher
gestand er, dass die Botschaft es von ihm verlangt
hatte. Die Häufigkeit der Besuche der bundesdeutschen
Vorstandsmitglieder in der Hovslagargatan erhärtete
den Verdacht aufkommen, dass die Fäden im Gebäude
der westdeutschen Botschaft zusammenliefen. Am späten
Abend erschienen Danz, sein Sportwart Pollmanns,
der Geschäftsführer Beuermann und der
Westberliner Fredi Müller in dem Büro der DDRMannschaft
und verlangten, dass sie ihre Abzeichen
mit dem DDR-Staatswappen ablegen. Niemand folg42
te dieser Forderung. Am nächsten Morgen, als der
IAAF-Kongress im schwedischen Parlament eröffnet
wurde, verzichteten die BRD-Funktionäre auf jede
Geste einer Begrüßung der „deutschen Schwestern
und Brüder“.
Der BRD-Botschafter blieb in Bonn, um zu signal isieren,
dass man die Haltung der Schweden nicht
hinzunehmen bereit war.
Und auch die bundesdeutschen Funktionäre in
Stockholm machten Ernst: Eine bundesdeutsche
Sprinterin, die sich einige Male im Hof der Schule, in
der die Mannschaften untergebracht war mit einem
DDR-Athleten getroffen hatte, wurde ermahnt, den
Kontakt zu beenden!
Soviel zu den vielen Legenden, über die angebl ichen
DDR-Kommandos, auf jede Begegnung mit
BRD-Athleten zu verzichten…
Klaus Huhn
DAS FERNSTUDIUM AN DER DHfK IN
LEIPZIG 1970 bis 1990
Von Willi Rümmler
Die Entwicklung des Fernstudiums an der Deutschen
Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig vollzog
sich in zwei Abschnitten. In der Zeit von der Einführung
des Fernstudiums im Jahr 1953 bis 1969 war vor allem
der entstandene Nachholbedarf abzudecken. Dazu waren
die in unterschiedlichen Einrichtungen tätigen und
bisher unausgebildeten bzw. nur in kurzzeitigen Lehrgängen
ausgebildeten Lehrkräfte vollakademisch zum
Diplomsportlehrer auszubilden. Bis 1969 war dieser Pro43
zess weitgehend abgeschlossen. Die Zahl der Absolventen
der DHfK war verdoppelt worden, ohne die Hochschule
in Leipzig erweitern zu müssen. Zugleich war ein
neues, effektives und auch variables Ausbildungssystem
entstanden. Im gleichen Zeitraum bahnte sich eine Neuprofilierung
der Hochschule an, in die das Fernstudium
und seine Einrichtungen ab 1970 eingebunden waren.
(vgl. RÜMMLER 2014, S. 40 ff)
Im Ergebnis dieser Umprofilierung der DHfK entstand
beim Rektor der Hochschule im Juni 1969 — und damit
auf der ersten Leitungsebene — das Direktorat für Weiterbildung
und Fernstudium. Sowohl die Namensgebung
als auch die „Führungsschwerpunkte" des zuständigen
Direktors in den Arbeits- und Maßnahmeplänen für die
erste Hälfte der siebziger Jahre hoben die Notwendigkeit
der Weiterbildung aller Lehrkader hervor. Diese Aufgabe
hatte sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre besonders
herauskristallisiert. Und ab Herbst 1967 begannen dafür
an der DHfK die notwendigen Vorarbeiten durch Mitarbeiter
der Hauptableitung Fernstudium, die mit der Abstimmung
der Konzepte mit den Fachvertretern der Institute
und der Leistungssportkommission beendet wurden.
Am 6. Januar 1969 begann der erste Weiterbildungslehrgang
mit 59 Trainern der Ausdauer- und Zweikampfsportarten.
Insgesamt fanden 1969 vier achtwöchige
Lehrgänge für Trainer der technischen Schnellkraft- und
Ausdauersportarten sowie für 65 Leitungskader des Leistungssports
statt.
Diese Weiterbildungslehrgänge entwickelten sich zu
einer ständigen Einrichtung in den verschiedenen Olympiazyklen.
Zunächst wurden Acht-, dann Sechs- und
schließlich Drei-Wochen-Lehrgänge durchgeführt. Die
dafür erforderlichen Lehrkräfte stellten die DHfK, das
Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS), die
44
Universität Leipzig und der Bundesvorstand des Deutschen
Turn- und Sportbundes (Vizepräsidenten und Vertreter
der Abteilungen Sportmethodik und Sportwissenschaft
— entsprechend dem Arbeitsplan 1/74) zur Verfügung.
Vom I. bis zum III. Zyklus 1969 bis 1980 durchliefen
4.350 Trainer und Leitungskader des Leistungssports
diese Weiterbildungslehrgänge. Darüber hinaus löste das
Direktorat für Weiterbildung und Fernstudium an der
DHfK von 1969 bis 1984 eine Teilaufgabe im Prozess der
Aus- und Weiterbildung der Fachärzte für Sportmedizin.
Insgesamt 1.019 Ärzten wurden an der DHfK notwendige
Kenntnisse der nichtmedizinischen Wissenschaftsdisziplinen,
wie zum Beispiel der Trainingswissenschaft, vermittelt.
An den Lehrgängen für Ärzte zur Erlangung der
staatlichen Anerkennung als Sportarzt nahmen von 1975
bis 1984 insgesamt 404 Ärzte teil. (vgl. Ittner 1989)
In den Prozess des Fernstudiums an der DHfK wurden
auch die dezentralen Einrichtungen der Hochschule, die
Außenstellen in den unterschiedlichen Bezirken des Landes
einbezogen. Die Notwendigkeit dafür war vorrangig
durch die Entwicklung des Leistungssports generell und
im Landesmaßstab bedingt. So vollzog sich in den 60er
Jahren der Übergang zum systematischen Leistungsaufbau
und einem damit verbundenen Planungssystem. Es
wurden Auswahlsysteme und Förderstufen eingeführt.
Die 25 Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) in den 15
Bezirken des Landes entwickelten sich zu einem unverzichtbaren
Teil des Ausbildungssystems im Leistungssport.
Das Training der KJS-Schüler erfolgte in den
Sportklubs und über ein entsprechendes Aufbautraining
vollzog sich die Ausbildung zu möglichen Anschlusskadern
und künftigen Leistungsträgern der verschiedenen
Sportklubs. Nach dem Abitur konnten die
45
Absolventen der KJS, die weiterhin einen Leistungsauftrag
in einem Sportklub erfüllen und zugleich
Sportwissenschaft studieren wollten, an der DHfK als
Direktstudenten immatrikuliert und an einer der Außenstellen
des Fernstudiums - zumeist in unmittelbarer Nähe
des jeweiligen Sportklubs - ausgebildet werden.
Dazu waren - entsprechend den vorliegenden Erfahrungen
- die Ausbildungsmöglichkeiten weiter zu vervollkommnen
durch Individualisierung des Studiums auf der
Basis individueller Studienplane (ISP), Verlängerung der
Studienzeit auch in Abhängigkeit von Umfang der jeweiligen
Leistungsanforderungen, Weiterführung des Studiums
nach Verlust des Leistungsauftrages durch individuell
angepasste Sonderstudienmöglichkeiten und Sonderstudienpläne
(SSP), Wechsel aus der Ausbildung an einer
Außenstelle in das Direktstudium an der Hochschule
in Leipzig, insbesondere um das 4. und letzte Studienjahr
zu absolvieren.
Mit diesem Prozess war zugleich eine Verlängerung
der Studienzeiten jener Studentinnen und Studenten verbunden,
die infolge ihres Leistungsauftrages auf der Basis
eines individuellen Studienplanes studierten. Durchschnittlich
verlängerten sich die Ausbildungszeiten auf 7
Jahre. In Einzelfällen reichte das allerdings nicht aus.
Selbstverständlich wurde stets und unter allen Bedingungen
gesichert, dass alle zielstrebig in das Studium als
wissenschaftlich-produktives Studium eingeführt und die
allgemeinen und speziellen Methoden wissenschaftlicher
Arbeit vermittelt und erweitert wurden.
Diese neuen und zum Teil komplizierteren Aufgaben
verlangten, zugleich die Bedingungen der Ausbildung im
Fernstudium weiter zu vervollkommnen. Alle waren hinsichtlich
einer größeren Einsatzbereitschaft und Verantwortlichkeit
gefordert und es waren auch die dafür not46
wendigen materiell-technischen Bedingungen zu schaffen.
So konnten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
(von 1976 bis 1978) die Außenstellen Cottbus, Dresden,
Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) neue oder restaurierte Objekte
beziehen. Die Außenstelle Magdeburg verfügte bereits
seit November 1967 über ein neues Gebäude mit 18
Funktionsräumen.
Für die Ausbildung von Diplomsportlehrern im Fernstudium
entstanden zudem in der Zeit von 1976 bis 1979
sechs weitere Konsultationsstützpunkte (KS) in Verantwortung
der Außenstellen Cottbus, Erfurt, Magdeburg
und Rostock. Durch den Wegfall von Anfahrtswegen und
-zeiten zu den Außenstellen sollten leistungssportliches
Training und Studium noch effektiver miteinander verbunden
werden.
So war es in den siebziger und achtziger Jahren im
Fernstudium der DHfK möglich, zwei schwierige Aufgaben
zu meistern: Die systematische Weiterbildung für
Trainer und leitende Führungskader des Leistungssport
wurde aufgebaut. Und es gelang die berufliche Ausbildung
von Absolventen der Kinder-und Jugendsportschulen
zu Diplomsportlehrern mit ihrem leistungssportlichen
Training und dem Streben nach Weltspitzenleistungen zu
verbinden. Zur Erfüllung dieser Aufgaben wurde das
Fernstudium für Diplomsportlehrer weiterentwickelt und
umprofiliert sowie das Ausbildungs- und Leitungssystem
den neuen Aufgaben angepasst.
Bei Olympischen Spielen und anderen internationalen
Wettkämpfen errangen Leistungssportler, die zugleich
Studenten an der DHfK waren, über 50 Prozent der Medaillen
für den DDR-Sport. Damit hatten sich Außenstellen/
Konsultationsstützpunkte neben den Sportklubs und
den Kinder- und Jugendsportschulen zur dritten Säule
des Leistunssportsystems der DDR entwickelt.
47
Und aus den Reihen dieser Absolventen gingen viele
„Erfolgstrainer der zweiten Generation" hervor. Sie verfügten
über eine breite Allgemeinbildung, beherrschten
die Grundlagen der Sportwissenschaft in ihrer Komplexität,
verfügten über solide theoretische und praktische
Kenntnisse und Erfahrungen in ihrer Spezialdisziplin sowie
wissenschaftliche Arbeitsmethoden. Sie waren erfolgreich
tätig für die DDR, die BRD und die unterschiedlichsten
Gremien und Institutionen des Weltsports.
Trotzdem beschloss das Kabinett des Freistaates
Sachsen am 11. Dezember 1990 gegen den Widerstand
nationaler und internationaler Gremien und Fachkräfte
die Abwicklung der DHfK bis 31. Dezember 1990. Nach
vielfachem Protest und vehementen Einsprüchen erhielten
die Studierenden die Möglichkeit, das jeweilige Studium
abzuschließen.
LITERATUR
Ittner, A.: Die Entwicklung des Fernstudiums an der Deutschen
Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig von der Gründung im
Jahre 1953 bis zum Jahr 1986 - Grundzüge. Band II: 1969 bis 1986.
Diss. DHfK, Leipzig 1989
Rümmler, W.: Das Fernstudium an der DHfK in Leipzig 1953-
1970. Beiträge zur Sportgeschichte 2014, Nr. 39, S. 40-44
48
TAGUNG
ZUR SPORTGESCHICHTE VON
MARZAHN-HELLERSDORF
Am Tag der Regional- und Heimatgeschichte in Marzahn-
Hellersdorf fand am 15. November 2014 im Haus
des Sports — gefördert vom Bezirksbürgermeister in Zusammenarbeit
mit dem Bezirkssportbund — eine ganztägige
wissenschaftliche Veranstaltung zur „Sportgeschichte
von Marzahn-Hellersdorr statt. In den Räumen des
Sportmuseums trafen sich mehr 100 Interessenten, die
den Beiträgen von Klaus Eichler (Sport und Gesellschaft),
Harald Kintscher, Rainer Rau, Joachim Kuss
(„FDJ-Initiative Berlin, sportpolitische Aspekte des Aufbaus
eines neuen Stadtbezirks), Gerd Stein (Zur Geschichte
des Sportclubs Eintracht Berlin e.V.) und Wolfgang
Turowski (Neue Anforderungen nach 1990) aufmerksam
folgten und eine außerordentlich angeregte
Diskussion führten.
Der Architekt Prof. Dr. Wolf R. Eisentraut, der das Gesicht
des Stadtbezirks mit Bauwerken von hohem Wiedererkennungwert
entscheidend mit geprägt hat, führte
kenntnisreich in die Beratung ein und moderierte souverän
die von den Teilnehmern außerordentlich engagiert
geführte Diskussion.
Nachfolgend veröffentlichen wir die Beiträge der Historiker
Harald Kintscher und Rainer Rau.
Zur Entwicklung der Sportbewegung in den
„Dörfern" der Region Marzahn-Hellersdorf von
den Anfängen bis in die 1920er Jahre
49
Von Harald Kintscher
Obwohl der Sport in der gesellschaftlichen Entwicklung
eine wachsende Rolle spielt - ich verweise nur auf
die Resonanz der olympischen Spiele bzw. der diesjährigen
Fußball-Weltmeisterschaft - ist die Geschichte des
Sports nach wie vor unterbelichtet. Das gilt nicht nur für
die akademische Geschichtsforschung sondern auch für
die zumeist ehrenamtlich betriebene Heimatgeschichte.
Selbst einer der Leuchttürme unserer Heimatgeschichte,
Dr. Manfred Teresiak, musste zum heutigen Thema
Sportgeschichte passen, konnte und wollte keinen eigenen
Beitrag anbieten. Auch unser Sportmuseum kann zur
Geschichte des Sports in unserer Region relativ wenig
beitragen. Es gibt aber bereits einige allgemeine Überblicksdarstellungen.
Auch in der DDR war unter der Leitung
von Prof. Dr. Wolfgang Eichel eine dreibändige „Geschichte
der Körperkultur in Deutschland" (Sportverlag
Berlin 1965 — 1969) erschienen. In der alten BRD war in
den Jahren 1972 bis 1989 unter der Leitung von Prof. Dr.
Horst Überhorst eine 6-bändige „Geschichte der Leibesübungen"
entstanden, erschienen im Verlag Bartels und
Wernitz, Berlin), von denen der in zwei voluminösen
Halbbänden erschienene Band 3 der Geschichte von
Leibesübungen und Sport in Deutschland von den Anfängen
bis zur Gegenwart gewidmet war. Erwähnen
möchte ich noch den umfangreichen Band „Chronik des
Sports" aus dem Chronik Verlag, Dortmund, erschienen
1990. Lokale und regionale Darstellungen gibt es nur
sehr vereinzelt. Für unsere Region gibt es gelegentlich
mehr oder eher weniger ergiebige Jubiläumsschriften, die
vor allem längere Traditionen der Vereine nachweisen
sollen. Zu nennen wäre hier wohl insbesondere die Festschrift
„100 Jahre Eintracht Mahlsdorf e.V." von 1997 als
50
bisher ausführlichste, was vor allem an den damals geleisteten
Vorarbeiten der Chronikkomission des Vereins
lag. Genannt werden aber müssen auch die der Vereinsgeschichte
gewidmeten „Beiträge zur Regionalgeschichte",
Heft 8, die unter dem Titel „Zwischen Alltag und gesellschaftlichem
Wandel..." erschienen und auch noch zu
haben sind . Darin sind auch Aspekte der regionalen
Sportgeschichte dargestellt worden.
Sport, körperliche Ertüchtigung aber ist ein grundlegendes
menschliches Bedürfnis. Schauen wir uns die
Kinder an. Der Drang nach Bewegung, körperlicher Fitness,
ist ursprünglich. Auch aus der Urgesellschaft gibt
es Funde, die beweisen, dass die Menschen ihren Körper
trainiert haben, um den Anforderungen des Lebens
gerecht werden zu können. Die Ritterturniere im Mittelalter
waren Ausdruck sportlicher Ambitionen. Gewiss, der
mittelalterliche Bauer war schon frühzeitig so eingespannt,
dass eine gesonderte sportliche Aktivität kaum
möglich war. Trotzdem gab es aber auch Dorffeste, bei
denen das Kräftemessen der Männer zur Festgestaltung
gehörte. Bäuerliche Pferderennen waren Höhepunkte
dörflichen Lebens. Eine selbständige Sportbewegung
jedoch, wie wir sie heute kennen, ist erst das Ergebnis
der bürgerlichen Umwälzung des 19. Jahrhunderts, mit
Namen wie Friedrich Ludwig Jahn, Johann Christoph
Friedrich GutsMuths, Karl Friedrich Friesen u. a. verbunden.
Eine historische Tatsache ist natürlich, dass Deutschland
relativ spät in die Geschichte eingetreten ist. Das gilt
noch mehr für unsere Region, die erst mit der deutschen
Ostexpansion im 13. und 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung
mit der ständigen Besiedlung Teil der europäischen
Geschichte geworden ist. Natürlich gab es auch
zuvor in dieser Region bereits urgeschichtliche Siedlun51
gen, wie zeitgenössische Grabungen in Biesdorf, zuvor
aber auch in Kaulsdorf und Mahlsdorf nachgewiesen haben.
Sicher waren auch zu dieser Zeit Bewegung, Turnen
Spiel und Sport „anthropologische Konstante", wie
sie auch Carl Diem in seiner Weltgeschichte des Sports
(1960) nachzuweisen bemüht war, und waren eng mit
der Jagd und der Wehrfähigkeit verbunden. Doch waren
diese Aktivitäten keineswegs vergleichbar mit den vorzeitlichen
Olympischen Spielen in Griechenland, die allerdings
auch keine Spiele der Sklaven sondern der sogenannten
Freien waren, oder den körperlichen Ertüchtigungen
in anderen Regionen, die Glanzlichter der frühen
Sportgeschichte darstellen. In unserer Region gab es
auch keine Höhlen, in denen die hier seinerzeit Lebenden
in Wandzeichnungen Methoden ihrer Körperertüchtigung
dargestellt und uns überliefert haben. Die hiesigen
materiellen Funde geben über sportliche Aktivitäten leider
keine Auskunft. Auch mittelalterliche Stätten für Ritterturniere
gab es in unserer Region nicht Überliefert sind
wohl dörfliche Rangeleien unter der Dorfbevölkerung, die
ohne Zweifel auch zu einer körperlichen Ertüchtigung
beigetragen haben, nicht aber sportliche Wettbewerbe.
In seinem Beitrag zur Vereinsgeschichte (Tag der Regional-
und Heimatgeschichte 2010) hat Karl-Heinz Gärtner
2urecht darauf hingewiesen, dass „im Vergleich zu
anderen Städten und Gemeinden ... die Turnbewegung
erst spät in unsere Region" kam. Sie war ein Bestandteil
des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, der Mitte
der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts hier einsetzte und in
dessen Ergebnis die Urbanisierung der gesamten Region
erfolgte. Versammlungsfreiheit und Freiheit zur Bildung
von Vereinen zählten zu den 1848 proklamierten „Grundrechten
des deutschen Volkes". Ende des 19. Jahrhunderts
war auch in dieser Region die Zeit gekommen, sol52
che Ziele durchzusetzen, auch die körperliche Ertüchtigung
in die Hände des Volkes zu nehmen. Dabei spielten
Vereine gewiss eine besondere Rolle. Es ist also keinesfalls
zufällig, dass sich ab Ende des 19. Jahrhunderts
neben anderen Vereinen auch Sportvereine bildeten und
sich eine demokratische Sportbewegung entwickkelte.
In seinem schon erwähnten Beitrag auf der Tagung
zur Vereinsgeschichte musste Karl-Heinz Gärtner feststellen,
dass über „die Gründungszeit des Turnvereins
Jahn Biesdorf (TVJB) ... uns leider nicht viel überliefert"
ist. Gleiches gilt leider auch für alle anderen Sportvereine
in unserer Region. Die wenigen Angaben, die wir haben,
verdanken wir vor allem dem Mahlsdorfer Ortschronisten
und Kommunalpolitiker Paul Großmann, der in seinen
Adressbüchern für Mahlsdorf (1905/06) und für den damaligen
Amtsbezirk Biesdorf umfassend die ehernaligen
Dörfer Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf (1910) - als Ergebnis
seiner Recherchen die damals vorhandenen Vereine
mit Gründungsdaten und ihren damaligen Vorständen
aufgeführt hat. Ob er jedoch alle Vereine erfasst hat
wissen wir nicht. Schon alle nach 1910 entstandenen
Vereine müssen fehlen. Und das sind gar nicht wenige.

Wie zutreffend aber sind die von Großmann aufgeführten
Daten? Gestatten Sie mir bitte, das am Beispiel der
Mahlsdofer Eintracht zu prüfen. Laut Großmann 1905/06
wurde der Verein am 01. März1899, laut Großmann 1910
am 20. März 1899 gegründet — immerhin das gleiche
Jahr. Nach einer mehrfach gehörten, auch schon — u. a.
in der Mahlsdorfer Jubiläumsfestschrift vcn 1995 - publizierten
Überlieferung war es im schönen Monat Mai des
Jahres 1896 — also drei Jahre früher — am Himmelfahrtstag,
dass eine Gruppe Mahlsdorfer Burschen eine
gemeinsame Wanderung unternahm, auf der — wie da53
mals üblich — auch geturnt und Ball gespielt wurde. Dabei
sollen sie den Beschluss gefasst haben, in Zukunft
weiterhin gemeinsam Sport treiben zu wollen und dazu
einen Sportverein zu gründen. Da seinerzeit vor allem
geturnt wurde und andere Sportarten — nur am Rande
betrieben — noch unter Turnen subsumiert wurden, hätte
man sich „Turnverein Eintracht Mahlsdorf" genannt. Eintracht
hatte sich auch der einige Jahre zuvor (1892) gegründete
Männergesangverein in Mahlsdorf genannt. —
Diese Geschichte hatte sich im Bewusstsein des Vereins
tief eingegraben, sodass man 1931 unter Beteiligung anderer
Vereine sowie der örtlichen Arbeiterparteien mit
Festumzug, Wettkämpfen und abendlichen Veranstaltungen
stolz das 35jährige Bestehen des Vereins feierte.
Auch die 100Jahrfeier sollte für den Himmelfahrtstag
1996 vorbereitet werden. Die Fußballer hatten für dieses
Fest sogar ihren namensverwandten Fußballverein Eintracht
Frankfurt — natürlich vom Main - damals eine renomierte
Bundesligamannschaft, eingeladen. Und die
hatten die Einladung angenommen und sind auch gekomrnen.
— Es gab damals allerdings auch schon Hinweise
auf die von Großmann aufgeführten Daten. Nun
wusste man damals nicht, wie Großmann zu seinen Daten
gekommen war. Heute wissen wir, dass er Fragebogen
ausgegeben hatte, die von den betreffenden Personen,
Einrichtungen oder Vereinen auszufüllen waren. So
ist wohl davon auszugehen, dass Großmann sich auf
Angaben von damaligen Eintracht-Sportlern gestützt hat,
die gar keine hinreichenden Unterlagen hatten. Ein
Gründungsdokument ist leider bis heute nicht gefunden
worden, hat es möglicherweise auch nie gegeben. Im
Geleitwort des Präsidenten des Eintracht-Vereins zur
Festschrift von 1997 heißt es dazu: „Entweder haben unsere
Altfordern darials nichts aufgeschrieben, wie es die
54
Namensbrüder vom Männergesangverein vorbildlich getan
haben, oder die Unterlagen sind verloren gegangen.
Viele Dokumente und Aufzeichnungen sind allerdings im
Jahre 1988 dem Brand unseres Vereinsheimes Am Rosenhag
zum Opfer gefallen." Soweit Präsident Mahlke.
Es könnte aber auch sein, dass man vor über 100 Jahren
einen Verein von unterschiedlichen Leuten mehrmals
gegründet hat, und es kann Zufall sein, welches Datum
später überliefert wurde. Zum Glück fand ein Mitglied der
Chronikkommission des Vereins noch im Adressbuch der
Behörden, Verbände und Vereine für Leibesübungen,
Übungsstätten, Jugendherbergen, Jugendheimen aus
den Jahren 1929/1930 den Hinweis auf das Jahr 1897
als Gründungsjahr des Vereins. Daraufhin wurde vom
Präsidium des Vereins die 100Jahrfeier auf das Jahr
1997 festgelegt und auch durchgeführt. Das Fußball-
Freundschaftsspiel der beiden „Eintracht"-Mannschaften
aus Frankfurt/M. und Berlin-Mahlsdorf, das natürlich die
Frankfurter gewonnen haben, fand ein Jahr zu früh - im
Vorfeld des Jubiläums - statt. — Karl-Heinz Gärtner bezog
sich in seinem erwähnten Beitrag auf das Jahr 1897,
wie nun offiziell angenommen.
Ich bin deshalb auf diese Geschichte eingegangen,
um deutlich zu machen, was im Detail von manchen Daten
zu halten ist. Trotzdem muss man ihnen nachgehen,
um Entwicklungsprozesse aufzudecken. Dass unsere
Archive auch Akten der Vereine sammeln ist gewiss löblich
und hilfreich. Nur kann man die zumeist ehrenamtlich
geführten Vereine nicht verpflichten, alle ihre Aktivitäten
zu dokumentieren und ihre oft nur sporadisch geführten
Unterlagern an die Archive abzuführen. Hier gilt nach wie
vor das Prinzip der Freiwilligkeit. Nun scheinen die Sportler
vor mehr al 100 Jahren wohl kaum daran gedacht zu
haben, ihr Tun für die Nachwelt festzuhalten, wie dies z.
55
B. die Mahlsdorfer Eintracht-Sänger unter dem Lehrer
Otto Wartenberg getan haben. So müssen wir uns oft mit
sehr wenigen überlieferten Daten bescheiden, die oft
auch nur zufällig auf uns gekommen sind. Nur sehr selten
findet man z. B. eine „Mahlsdorfer ...", „Kaulsdorfer
..." oder „Biesdorfer Zeitung" bzw. eine „Tageszeitung für
Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf" aus jener Zeit, die als
regionale Blätter mit Sicherheit über regionale Ereignisse
berichteten aber von keiner öffentlichen Bibliothek, auch
keinem Archiv gesammelt worden sind.
Die — zumeist bereits bekannten — spärlichen Daten
über die Anfänge der Sportbewegungen in den Dörfern
unserer Region, denen ich kaum Neues hinzu zu fügen
vermag, ließen mich überlegen, meinen Beitrag mit „Elf
leere Flaschen" zu überschreiben. Dies sollte sich jedoch
nicht auf Herrn Trapattonis Ausfall über die Bayern-
Fußballer im Jahre 1998 beziehen, sondern auf die jungen
Mahlsdorfer Handballer, deren Leistungen damals
„nicht eben stabil zu nennen" waren. „Auf diesen oder
jenen Sieg folgten blamable Niederlagen", erinnerte sich
Kurt Schmidt, einer der damaligen Senioren des Vereins.
Nun war „die Mannschaft um die Weihnachtszeit herum
gerade einmal wieder aufgrund eines Formtiefs abgestiegen...
Zur Weihnachtsfeier des Vereins , die wie immer
im 'Nordstern", (einem Lokal in der Hönower Straße,
nahe dem Sportplatz, H.K.) stattfand,stellte sich selbstverständlich
auch die Handballjugend ein. Die 'Alten' hatten
sich für die Absteiger ein besonderes Weihnachtsgeschenk
ausgedacht: elf leere Bierflaschen." Diese Beschämung
konnte ich nachfühlen.
Wenn man vom bäuerlichen Reiterverein in Marzahn
absieht — er wurde bereits 1883 gegründet und veranstaltete
in alter Tradition bäuerliche Pferderennen -, war
die Mahlsdorfer Eintracht der erste Sportverein in unserer
56
Region, auch wenn wir die Jahreszahlen der Gründung
1896 vielleicht auch 1897 anzweifeln. Der Biesdorfer
Turnverein „Jahn" (TVJB) folgte erst 1903, der Schwimmund
Eislaufverein „Wetterfest", der Verein Fortuna Biesdorf
und der Kaulsdorfer Reiterverein 1905, der Deutsche
Turnverein Mahlsdorf 1906, der Turnverein „Friesen" Königstal,
der Schwimmklub „Welle" und der Turnverein
„Frisch auf Marzahn 08" 1908 und so weiter. Insgesamt
sind uns heute bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts
hinein 19 Sportvereine bekannt. Nur für zwei davon haben
wir noch keinerlei Hinweise auf die Gründungsdaten
gefunden. Es sind dies der Marzahner Turnverein
„Frisch, fromm, fröhlich, frei" und die Kaulsdorfer Vereinigung
„Fichte", ein Arbeitersportverein, der zu Beginn der
20er Jahre gewirkt hat. Man nannte sich überall Turnverein,
weil turnen und wandern anfangs im Vordergrund
der Bestrebungen lagen, aber auch, weil alle körperlichen
Ertüchtigungen seinerzeit als turnen verstanden
wurden. Was wir zur Zeit darüber wissen, können Sie
auch nachlesen bei Karin Satke in ihrem Beitrag „Singen
bei 'Borussia',, turnen bei 'Fichte', schwimmen mit 'Welle',
Vereine in Kaulsdsorf" sowie von Karl-Heinz Gärtner
„Vom TV Jahn zum VfB Fortuna Biesdorf". Dazu in meinem
Beitrag über den Mahlsdorfer und heutigen Beliner
Sportverein „Eintracht", alles in dem bereits erwähnten
Heft 8 der vom Heimatverein Marzahn-Hellersdorf herausgegebenen
„Beiträge zur Regional- und Heimatgeschichte".
„Frisch, fromm, fröhlich, frei" — unter diesem
auf „Turnvater Jahn" zurückgehenden Wahlspruch turnten
auch die ersten organisierten Marzahner Turnvereine.
Außerordentlich schwierig waren die Bedingungen
damals, unter denen hier Sport getrieben werden konnte.
Es gab doch noch keine geeigneten Hallen, auch keine
57
Plätze. Geturnt wurde darum im Sommer in den Gärten,
im Winter in den Sälen der neu errichteten Gaststätten,
die Mahlsdorfer Eintracht-Turner im Gesellschaftshaus
von Emil Anders, später im
Restaurant „Wilhelmstal" auf der anderen Seite der
Bahnlinie, beide in der Bahnhof-, heute Hönower Straße,
die Sportler des Turnvereins „Friesen Königstal" im
„Haidekrug" in Mahlsdorf-Süd, die Biesdorfer Turner im
Restaurant „Kaiser Friedrich" in der Dorfstraße, heute Alt
Biesdorf, in späteren Jahren dann im Biesdorfer „Gesellschatshaus",
ebenfalls Alt Biesdorf. Ähnlich war es für die
anderen Sportvereine. Als „Sportplatz" diente den EintrachtSportitern
ein noch unbebautes Grundstück an der
Ecke Treskow-/Bahnhofstraße (heute: Hönower Str.) in
der Nähe des Mahlsdorfer Bahnhofs. Im Jahre 1912 wurde
aus den Turnern heraus eine Fußballgruppe gebildet,
obwohl der Platz in keiner Weise den Anforderungen eines
Übungs-, geschweige denn eines Wettkampfplatzes
entsprach. Aber es wurde Fußball gespielt. Der Platz in
Kaulsdorf befand sich , einem zeitgenössischen Bericht
des Kaulsdorfer Journalisten Hansotto Löggow zufolge,
am nördlichen Ende eines Ödlandes , östlich der damaligen
Köpenicker, heute Chemnitzer Straße. Der Platz
selbst war „gar kein Platz, sondern eine einigermaßen
eben- und kahlgetretene Fläche... Hier also wurde Sonntag
für Sonntag gespielt". Und Zuschauer sollen auch
dagewesen sein, „die manchmal kräftig in die Händeklatschten
und den Spielern etwas zuriefen". Der im Jahre
1919 gegründete Fußballverein "Fortuna" Kaulsdorf
trainierte und spielte jedoch auf einem privat gepachteten
Platz an der Chemnitzer / Ecke Achardstraße. Dieser
Platz wurde auch nach 1926 ausgebaut und vergrößert.
Er erhielt sogar eine Laube als Vereinslokal und später
eine Gaststätte, „Am Sportplatz" geheißen. Auch in Bies58
dorf war es nur eine mehr oder weniger große Wiese
südlich der heutigen B1, auf der die Spielfläche abgesteckt
und mit Toren versehen worden war, hier aber
wahrscheinlich erst zu Beginn der 20er Jahre. Als die
Mahlsdorfer in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts
im Zuge der weiteren Besiedlung im nördlichen Teil des
Ortes einen Sportplatz bekamen, entsprach dieser auch
nicht wettkampfmäßigen Bedingungen. „Das Spielfeld ...
glich seinerzeit", ich zitiere einen älteren Handballer,
„noch mehr einem Acker als einem Rasenplatz. Die linke
Spielfeldseite lag gut einen Meter tiefer als die rechte,
und die Ziegen der Anlieger störten nicht selten den
Spielablauf. Sie hinterließen auch des öfteren die bekannten
kleinen Kügelchen, was unserer Mannschaft gelegentlich
... dem Gegner gegenüber gewisse Vorteile
verschaffte." —
Während die Sportplatzfrage noch längere Zeit ein
Problem blieb — die Eintracht-Sportler in Mahlsdorf
mussten in den zwanziger Jahren selbst Hand anlegen ,
um ihren Platz für den Sport nutzbar zu machen und die
Biesdorfer müssten noch heute auf einen 1928 von der
Lichtenberger Bezirksverwaltung beschlossenen Sportplatzbau
warten — brachte der mit dem Schulneubau
erfolgte Bau von Schulturnhallen (Mahlsdorf 1909, Biesdorf
1911 und Kaulsdorf 1913) auch für Sportvereine eine
gewisse Verbesserung der Situation . Vor allem aberr
bedeutete das für die Entwicklung des Schulsportes eine
historisch neue Qualität. Das war dann aber schon über
100 Jahre nach den Bemühungen Gutsmuths um die
„Gymnastik für die Jugend".
Es war wohl vor allem dem Zuzug vieler sportinteressierter
Arbeiter aus den östlichen Berliner Betrieben, die
auch die Reihen der Eintracht-Sportler verstärkten, geschuldet,
das die Mitglieder 1903 mehrheitlich den Aus59
tritt aus dem bürgerlichen Deutschen Turnerbund beschloss,
um sich dem 1892 gegründeten Arbeiter-
Turnerbund anzuschließen. Der Verein gehörte anfangs
dem Deutschen Turnerbund an. 1868 durch den Zusammenschluss
zahlreicher Turnvereine entstanden,
entwickelte er sich im kaiserlichen Deutschland zum
größten Turnerbund des Landes, wurde auch Träger der
1841 erstmalig durchgeführten Deutschen Turnfeste.
Seine Führung fühlte sich jedoch nicht der bürgerlichdemokratischen
Turnbewegung der revolutionären
1840er Jahre, sondern national-konservativen Zielen
verpflichtet. Das Bekenntnis zum Arbeiter-Turnerbund
(ab 1919: Arbeiter-Turn- und Sportbund) zog für die Eintracht-
Sportler Behinderungen ihres Wirkens nach sich.
Während sich der 1906 gegründete Deutsche Turnverein
Mahlsdorf besonderer Förderung erfreuen konnte, blieb
diese den Eintracht-Sportlern versagt. Als politischer
Verein eingestuft, war ihnen untersagt, Kinder und Jugendliche
unter 18 Jahren in den Verein aufzunehmen.
Die Schulturnhalle durften sie nicht nutzen. Auch der
Gastwirt Emil Anders verweigerte den Eintracht-Sportlern
bald sein Lokal, das aber den Deutschen Turnern offen
stand. Pfiffig, wie die Eintracht-Sportler waren, wussten
sie mit der Gründung eines Wanderklubs „Jugendlust das
Verbot des Jugendsports zu umgehen, haben den Frauen,
die bei den Bürgerlichen noch außen vor standen,
bereits vor dem Ersten Weltkrieg den Weg zum organisierten
Sport geöffnet, ebenso die erste Mahlsdorfer
Fußballmannschaft auf die Beine gestellt. Außer dem
Sportverein Eintracht Mahlsdorf sind nach heutiger Erkenntnis
noch zwei Arbeiter-Sport-Vereine in unserer
Region bekannt: die Kaulsdorfer Sportvereinigung „Fichte"
und die 1912 entstandene Kaulsdorfer Sektion des
Arbeiter-Radfahrerbundes „Solidarität"
60
Zurecht wies uns Karin Satke auf die Tatsache hin,
dass es auch Organisationen gab, die keine ausgesprochenen
Sportvereine waren, deren Anliegen aber auch
sportliche Betätigung einschloss. Und sie nennt uns den
bürgerlichen „Jugendverein 1913", der für seine Tätigkeit
schon während des Ersten Weltkrieges das Schulgebäude
in der Adolfstraße nutzen durfte. Ähnliches gilt für die
Ortsgruppe Mahlsdorf des „Deutschnationalen Jugendbundes",
gegründet 1920. In Kaulsdorf wirkten auch
Gruppen linksorientierter Jugendorganisationen wie der
„Kinderfreunde", der Sozialistischen Arbeiterjugend und
der freien Sozialistischen Jugend. Das aber galt bestimmt
nicht nur für Kaulsdorf.
Nun aber zu einem etwas lockeren Schluss. Machen
wir einen Sprung in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts:
eine Anekdote aus der sportlichen DDR-Wirklichkeit.
Wissen Sie, was ein Purolatorfilter ist? Die Eintracht-
Fußballer wussten es wohl damals auch nicht. „Im Verein
spielte ein Fußballer, der einen Bruder in Frankfurt/Main
hatte. Es war wohl 1965 oder 66, als dieser Bruder den
Mahlsdorfern eine Freude machen wollte und ihnen einen
Satz Jerseys besorgte. Westjerseys! Alle waren begeistert.
Aber auf der Vorderseite stand jeweils mit großen
Lettern: „Purolatorfilter".
Was bedeutete das? Keiner wusste es . Nur, dass
Westreklame in der DDR verboten war, das wusste jeder.
Nach dem Spiel kamen auch sofort die Nachfragen. „Wofür
macht ihr Reklame? Die Antwort der Eintracht-
Fußballer folgte promt: „Das Sachsenring-Werk (Hersteller
des legendären DDR-Autos „Trabant" in Zwickau) hat
uns die Hemden zur Verfügung gestellt." — „Ach so."
Alle waren zufrieden, und die Eintrachtler durften, ohne
weitere Erklärungen abgeben zu müssen, damit spielen.
61
Und da gibt es noch Leute, die behaupten, es gab hier
keinen Humor.
62
GEDENKEN
STANLEY ERNEST STRAUZENBERG
25. November 1914 - 6. März 2015
Bevor er im Dörfchen Saida seinen 100. Geburtstag
feierte, hatte er zwei Journalisten der „Sächsischen Zeitung“
eingeladen, die ihm an dem Jubeltag fast eine
ganze Zeitungsseite widmeten. Der Titel lautete „Der
konsequente Gentleman“ und skizzierte ihn treffend mit
drei Worten. Man las: „Heute vor 100 Jahren wurde Stanley
Ernest Strauzenberg in London geboren.“ Auskunft über
das erstaunliche Leben gab seine 82-Jährige Ehefrau,
„denn zum Reden ist er zu schwach. Mitunter huscht ein
Lächeln über sein Gesicht. Die Erinnerungen sitzen tief.
42 Jahre sind sie verheiratet, beide in zweiter Ehe. „Wir
waren füreinander bestimmt", sagt Gisela Strauzenberg
und streichelt ihrem Mann liebevoll über den Arm.“
Zwei Sätze waren ihr besonders wichtig: „Mein Mann
gilt als Nestor und Wegbereiter der klinischen Sportmedizin
in der DDR." Und: „Es geht um Aktivitäten, die mühelos
auch von älteren Menschen in den Tagesablauf
eingegliedert werden können", beschrieb Strauzenberg
seine Methode. „Die Leute sollen aktiv sein. Einfaches
Laufen, Treppensteigen, Wandern sind ganz wichtig.“
Seine Frau beschrieb damals den langen Weg von
London nach Kreischa: „`Sein Vater war Deutscher, verliebte
sich in eine Engländerin. Deren Vater war ein hoher
Militär - ein Unding für ihn, dass seine Tochter einen
Deutschen zum Mann nimmt.´ So verließ sie mit 18 Jahren
ihre Familie. `Die Mutter war mit 20 Witwe, wurde
ausgewiesen und fand in Dresden eine neue Heimat. So
kam Stanley Ernest nach Sachsen. In Klotzsche besuchte
er die Landesschule. Am Ende war er Bester in
63
der Eliteeinrichtung. Es folgten Medizinstudium, Einsätze
als Truppenarzt und im Lazarett in Oberbärenburg.
Als dorthin die Russen kamen, flüchteten viele. Nicht
aber der Mediziner. Er päppelte alle so weit auf, dass er
das Lazarett bald schließen und eine Praxis öffnen
konnte. `Dass er ein guter Arzt ist, glaubten ihm die Bewohner
jedoch erst, als er einer Ziege bei einer Geburt
half und einem Huhn das Leben rettete, das sich in einem
Zaun verfangen hatte.´“ Patienten besuchte er im
Winter auf Skiern. `Er war nicht nur für Krankheiten zuständig.
Sie kamen mit allem, was sie auf dem Herzen
hatten. Er war Vertrauensperson, Landarzt sein Traumberuf.
In Oberbärenburg bekam er Kontakt zum Leistungssport,
betreute die Skisportler in Altenberg und
Zinnwald. Nach Stationen in Dresden-Friedrichstadt, bei
der Akademie in Berlin und Dresden sowie seiner Berufung
zum Professor kam das Angebot, das Zentralinstitut
des Sportmedizinischen Dienstes in Kreischa
zu übernehmen. Sein Spezialgebiet Kardiologie ebnete
den Weg. In Kreischa waren sie weltweit mit die Ersten,
die nach einem Herzinfarkt Training statt Schonung verordneten.
Eine Revolution der Rehabilitation. Er vertrat
die DDR in der Weltorganisation der Sportmedizin, leitete
die Wissenschaftskommission, obwohl er Anfang der
50er-Jahre aus der Partei ausgetreten war. Ungerechtigkeiten
störten ihn. „So wie bei der ihm attestierten
Staatsnähe, als es um die Rente ging und dem Vorwurf,
nicht in den Westen gegangen zu sein. `Was wäre aus
den Patienten geworden?´, lautete die Gegenfrage.
`Die konnten sich auf uns verlassen. Die wussten, dass
wir bleiben.´ Und dann folgte die Titelzeile: `Das hat
Gentleman-Format.´“ Eine Feststellung die persönliche
„Aufarbeitung“ wiedergab!

---

1
Beiträge zur
Sportgeschichte 41
ALS SPORT
NOCH
STRAFBAR
WAR …
Sport und Gesellschaft e.V.
Kontaktadresse: Hasso Hettrich – Triftstr. 34 – 15370 Petershagen
Unkostenbeitrag 3,50 Euro - Versandkosten 1,50 Euro
2
3
INHALT:
4 DER PROZESS DER GAR KEINER WAR
Von Frank Cronau
13 25 JAHRE DANACH …
Von Klaus Eichler
19 MEIN WEG IN DIE MUSKELKIRCHE
Von Werner Riebel
22 DIE WAHRHEIT ÜBER MADRID
Von Klaus Ullrich
35 ALS DIE DDR ANGELWELTMEISTER WURDE
Von Jens Klemp
38 WIE DIE DDR-RUNDFAHRT BEGANN UND WIE SIE
ENDETE
Von Klaus Huhn
46 DOKUMENTATION
DAS DORTMUNDER FRIEDENSFEST
56 ZITATE
61 GEDENKEN
Manfred Reiß
Karl-Heinz Wehr
Erika Zuchold
67 RESONANZ von „DER ENDLOSE POLITFEDZUG…“
4
DER PROZESS DER GAR KEINER WAR…
Von FRANK CRONAU
Seit jenem Sport-Prozess, den man treffender als Politprozess deklarieren
müsste, ist dieser Tage ein halbes Jahrhundert vergangen –
hinreichendes Motiv, an ihn zu erinnern! Genau genommen war ein
erstes Urteil sogar schon vor über 54 Jahren gefällt worden, als der 3.
Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 14. März 1961 den Deutschen
Turn- und Sportbund der DDR zur „verfassungsfeindlichen“ Organisation“
verurteilt hatte! Ein solches Urteil gegen eine Sportortorganisation
war weltweit einmalig. Es hatte zur juristischen Folge, dass jedes
DTSB-Mitglied in der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt werden
konnte. Das Gericht hatte damals exakt präzisiert, was als „verfassungsfeindlich“
bewertet würde: „…alle politischen Aktivitäten, die gegen
die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet waren und darauf abzielten,
die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen.“
Warum heute daran erinnern? Auch weil die DDR nach wie vor als
„Unrechtsstaat“ beschimpft wird und Urteile wie das eingangs trotz
aller Revisionsentscheidungen von niemandem aufgearbeitet worden
waren. In dem ersten BGH-Urteil von 1961 hieß es wörtlich: „Das Vereinbaren
von Wettkämpfen zwischen Sportlern der BRD und der Sowjetzone
ist für sich allein weder verboten noch strafbar. Wenn dadurch
aber die staats- und verfassungsfeindlichen Bestrebungen der SED
gefördert werden sollen, besteht kein rechtlich bedeutsamer Unterschied
gegenüber anderen Methoden kommunistischer Wühlarbeit“.
Sportler, denen von der Justiz vorgeworfen worden war, gegen dieses
Gesetzespassage verstoßen zu haben, wurden verurteilt, verbrachten
sogar Monate in Gefängnissen.
Der eingangs erwähnte Prozess aus dem Jahr 1966 war damals
gegen einen Arnold B. (Name dem Autor bekannt) und zwei Mitangeklagte
(Namen ebenfalls bekannt) geführt worden. Jener B. war damals
36 Jahre alt, wohnte in L. (Am M… 69), war Vater eines achtjährigen
Sohnes und einer dreijährigen Tochter und von Beruf Rundfunkmechaniker,
seit 1958 selbständiger Hersteller von Laborgeräten.
Als aktiver Sportler war er Turn-Zwölfkampf-Meister im Rhein--
Wupper-Kreis geworden und in Düsseldorf Vizemeister. Er startete bei
Skiläufen und spielte Tischtennis. Zudem schwamm er gerne, rettete
sogar zwei fast Ertrinkenden das Leben und lehrte Hunderten Kindern
das Schwimmen.
Als Oberturnwart seines Vereins TuS R… 97 verbrachte er zudem
Woche für Woche bis zu 15 Stunden, um mit über 100 Kindern und 40
Hausfrauen zu turnen.
Er reiste auch oft zu Sportfreunden in die DDR und entschloss sich
eines Tages, eine kleine Zeitschrift - „Sport-Tribüne“ - für Freunde
herauszugeben, die in dieser Hinsicht so dachten wie er.
5
Wegen dieser Publikation wurden er und Winfried L. aus Hilden und
Helmut K., ein Geschäftsmann aus Düsseldorf, wegen „Verletzung der
Verfassung“ angeklagt.
Der erste Prozess hatte am 17. November 1964 begonnen. Nach
langen Voruntersuchungen, in deren Verlauf Arnold B. sogar vom 30.
Januar bis 28. Mai 1963 in Haft genommen worden war, präsentierte
die zuständige Staatsanwaltschaft eine 116-Seiten-Anklageschrift, die
den Angeklagten „Staatsgefährdung" vorwarf und folgende Vorwürfe
enthielt:
„… alle Angeschuldigten durch eine und dieselbe, zum Teil gemeinschaftlich
begangene Handlung
1. vorsätzlich einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
dadurch zuwidergehandelt zu haben, daß sie den im Rahmen der
KPD hergestellten organisatorischen Zusammenhang aufrechterhalten
bzw. durch Agitationstätigkeit im Sinne der KPD die Wirksamkeit dieser
verbotenen Partei förderten;
2. zu einer Vereinigung außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches
des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes, dem sowjetzonalen
DTSB, Beziehungen aufgenommen und unterhalten zu haben in
der Absicht, Bestrebungen dieser Vereinigung zu fördern, die darauf
gerichtet sind, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen
und die in § 88 StGB bezeichneten Verfassungsgrundsätze
zu untergraben;
3. in der Absicht, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu
beeinträchtigen, einen der in § 88 StGB bezeichneten Verfassungsgrundsätze
zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben
oder eine solche Bestrebung zu fördern, als Mitglied an einer Verbindung,
nämlich dem von der SED in Verbindung mit der illegalen
KPD gesteuerten Westapparat des DTSB, teilgenommen zu haben,
deren Dasein, Verfassung und Zweck von der Staatsregierung geheimgehalten
werden soll.“
Vor Beginn des Verfahrens hatten die drei Angeklagten eine Erwiderungsschrift
eingereicht, in der sie die absurden Anwürfe widerlegten
und damit schlossen: „Zusammenfassend sind wir der Meinung,
daß die Anklageschrift dem Grundgesetz widerspricht, weil das Verfahren
darauf abzielt, nicht strafbare, sondern politisch unbequeme
Handlungen zu kriminalisieren. Das rechtfertigt unseren Antrag auf
Einstellung des Verfahrens.“
Der für den 19. November angekündigte zweite Verhandlungstag
fiel ohne jede Begründung aus. Am nächsten Verhandlungstag, dem
23. November, erlebten die aus allen Teilen der Bundesrepublik geladenen
Zeugen eine faustdicke Überraschung. Ohne dass ihnen auch
nur eine Frage gestellt worden war, entließ sie das Gericht nach Hause.
Dann beantragte Staatsanwalt Scholten eine Vertagung auf unbestimmte
Zeit und empfahl, eine neue Definition der Organisationen
vorzunehmen, die als verfassungsfeindlich bezeichnet worden waren.
Das Gericht forderte zudem vom Bundesamt für Verfassungsschutz
6
ein weiteres Gutachten über die verfassungswidrige Tätigkeit des
DTSB.
Alle Vorbereitungen für dieses Verfahren waren am 22. März 1966
getroffen. An diesem Tag wurde es eröffnet. Als erstes wurden die
DDR-Begriffe ins bundesdeutsche übersetzt. Zum Beispiel: „DTSB“
heißt „Deutscher Turn- und Sportbund“. Immerhin eine Organisation,
mit der die Bundesrepublik seit 1956 gemeinsame Olympiamannschaften
bildete!
Dann ging der Vorsitzende zur Sache: „Sie haben am III. Deutschen
Turn- und Sportfest in Leipzig teilgenommen?“
B.: „Ja.“
VORSITZENDER: „Wie kamen Sie dorthin?“
B.: „Ich habe mich ordnungsgemäß beim Pressebüro angemeldet
als Vertreter der `Sport-Tribüne´. Übrigens fuhr ich nicht mit dem Wagen,
wie die Anklage behauptet, sondern mit der Bahn.“
VORSITZENDER: „Sie haben Fräulein Wiegand“ (eine damals bekannte
westdeutsche Rekordschwimmerin) „mitgenommen, obwohl
doch der Sportverkehr abgebrochen war, wegen der Mauer.“
B.: „Also aus politischen Gründen!“
VORSITZENDER: „Das sagen Sie. Ich sage, wegen der Mauer.“
B.: „Inzwischen ist ja das Sportverbot - wenigstens formal - aufgehoben,
wie es die `Sport-Tribüne´ damals forderte. Obwohl die Grenze
weiter existiert.“
VORSITZENDER: „Hatte denn Fräulein Wiegand keine Bedenken?“
B.: „Wir waren ja in Leipzig nicht allein. Dr. Wirth war da, der Trainer
Ursel Brunners, und auch Jupp Jumpertz. Rotraud Wiegand kannte
die gesamte europäische Spitze und half mir gern bei Interviews.
Auch Gerhard Hetz wäre nur zu gern in Leipzig gestartet. Er hat mehr
als einmal gesagt, dass ihm praktisch vier Europatitel verlorengingen.“
VORSITZENDER: „Ich bin da anderer Meinung. Der Sport wurde
dort für politische Zwecke missbraucht. Man hatte unser Vaterland
gespalten. Haben Sie denn diese Zustände nicht berührt?“
B.: „Wir Sportler haben das deutsche Land nicht gespalten. Das
war eine Folge der Politik zwischen 1933 und 1945, des unseligen
Krieges und der Nachkriegspolitik bei uns.“
VORSITZENDER (bremst): „Wir haben hier nichts mit Politik zu tun.
Aber es gibt da sicher geteilte Meinungen.“
B.: „Ich kannte keinen Sportler, der nicht für die Fortsetzung des
Sportverkehrs gewesen wäre.“
VORSITZENDER: „Trotz der dortigen Verhältnisse?“
B.: „Herr Vorsitzender, waren Sie denn überhaupt schon einmal
dort? Ich fahre jedes Jahr in die DDR, spreche mit den Menschen und
habe sie kennengelernt.“
STAATSANWALT: „Auf dieses Thema werde ich noch zurückkommen!“
VORSITZENDER: „Es geht hier um die Frage, ob Sie Kontaktperson
der Zone sind (…) und Ihre Absicht mit dem Deckmantel des
7
Sports umgeben haben. Was haben Sie beispielsweise in Oberhof
gemacht?“
B.: „Ich bin Ski gelaufen. Ich habe zu Hause noch das Abzeichen
für die Teilnahme an einem 5-km-Lauf. Außerdem habe ich dort Tischtennis
gespielt.“
VORSITZENDER: „Haben Sie politische Gespräche geführt?“
B.: „Ich habe an Gesprächen teilgenommen, die den Beziehungen
zwischen den deutschen Sportlern dienten.“
VORSITZENDER: „Der Anklage fällt es auf, dass Sie ausgerechnet
nach Ihren Besuchen 1959 beim Leipziger Turn- und Sportfest und
1960 in Oberhof begannen, sich schriftstellerisch zu betätigen.“
B.: „Das stimmt nicht. Ich begann schon 1950 publizistisch zu arbeiten.
Wir jungen Menschen hatten den Krieg gerade hinter uns. War es
nicht ein Grundrecht, der Jugend und in meinem Fall den jungen
Sportlern zu sagen, dass nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen
darf, dass Frieden sein muss?“
VORSITZENDER: B. habe die Forderung nach dem Bau einer
Sporthalle in Düsseldorf unterstützt. Das war ein durchaus erstrebenswertes
Ziel. Aber die Methoden waren anfechtbar!
VORSITZENDER: zitierte ein Flugblatt Bittners, in dem dieser darauf
verwiesen hatte, dass die Mittel für die Halle mühelos dem Rüstungsetat
entnommen werden könnten.
B.: „Der Rüstungsetat ist riesengroß. Jeden Tag fallen zwei Düsenjäger
vom Himmel. Einer kostet Millionen. Nur ein Bruchteil davon
würde für eine Sporthalle genügen.“
VORSITZENDER: „Das ist die Terminologie des Ostens. Das
scheint Ihr Lieblingsthema zu sein.“
B.: „Ist die atomare Aufrüstung nicht Wahnsinn! Ist es nicht richtig,
gegen den Krieg zu schreiben, für das Leben, als ein Mann, der an
Seelenbinder denkt, der von den Faschisten ermordet wurde. Habe
ich nicht recht, Herr Vorsitzender?“
VORSITZENDER: „Sie sind hier nicht Richter, sondern Angeklagter.
Hier ist kein Schauplatz, um Reden zu halten. Mir sind Leute
lieber, die nicht Worte von Frieden und Völkerverständigung im
Munde führen, sondern handeln.“
B.: „Gehandelt für den Frieden - das habe ich gestern getan und
das tue ich heute. Dafür habe ich 1963 vier Monate im Gefängnis gesessen.
Deshalb stehe ich hier vor Gericht.“
Am zweiten Verhandlungstag, (24. März 1966), ging es um die
Abonnentenkartei der `Sport-Tribüne´. Sie war bei den Haussuchungen
nicht gefunden worden. Der Vorsitzende forderte B. auf, dem Gericht
die Kartei zur Einsichtnahme zu überlassen. Der Angeklagte bestand
auf seinem Verweigerungsrecht, weil er eine Gefährdung seiner
ehemaligen Abonnenten befürchtete.
ANKLÄGER: „Ich fordere die Beschlagnahme der Kartei, die
Durchsuchung des Angeklagten, seiner Wohnung und seines Betriebes
und der ihm gehörenden Sachen. Außerdem fordere ich Haftbe8
fehl wegen Verdachts auf Verdunklungsgefahr.“
VORSITZENDER: „Angeklagter, Sie sind festgenommen, Sie dürfen
bis zur Beschließung des Gerichts den Raum nicht verlassen und
nicht mit den Mitangeklagten sprechen.“
Der Verteidiger protestierte. Schon formal bestünde kein Haftgrund.
Der Verdacht der Verdunklungsgefahr sei nichtig. Es sei nie der Versuch
gemacht worden, die Kartei zu vernichten. Doch trotz aller einleuchtenden
Gegenargumente verkündete das Gericht nach einstündiger
Beratung, während der Arnold B. in eine Zelle gebracht worden
war, einen Beschluss, der noch über den Antrag des Staatsanwalts
hinausgeht: „Es wird angeordnet: Die Beschlagnahme der Kartei, die
Durchsuchung der Wohnung, der Person und der ihr gehörenden Sachen.
Es ergeht Haftbefehl. Der Angeklagte ist in Untersuchungshaft
zu überstellen. Er ist dringend der verfassungsfeindlichen Tätigkeit in
Tateinheit mit Verstoß gegen das KPD-Verbot verdächtig. Es bestünde
zudem Verdunklungsgefahr.“
Der Angeklagte verwies darauf, dass sich unter den Abonnenten
Persönlichkeiten wie der DSB-Hauptgeschäftsführers Karl-Heinz Gieseler
befand.
Die nächsten Fragen galten der Finanzierung des Drucks der
„Sport-Tribüne“. Das Gericht wollte nachweisen, dass der Druck von
B. nicht finanziert worden sein konnte und demzufolge „fremdfinanziert"
worden war. In den Saal gerufen wurde Paul Dorny, Druckereibesitzer
aus Düsseldorf.
VORSITZENDER: „Sie haben Druckerzeugnisse für den B.-Verlag
hergestellt. Ist Ihnen daran nichts aufgefallen?“
ZEUGE: „Ja schon, aber ich fand nichts Anstößiges.“
VORSITZENDER: „Einmal war von einem Wahlaufruf der DFU die
Rede?“
ZEUGE: „Das war eine legale Partei. Und Rudolf lsmayr, dessen
Name in diesem Zusammenhang fiel, war mir als Olympiasieger von
1932 bekannt.“
VORSITZENDER: „Warum haben Sie dann nicht mehr für Herrn B.
gearbeitet?“
ZEUGE: „Weil die Kripo ständig bei mir auftauchte, acht- bis neunmal.“
Aufgerufen wurde Herbert H., Druckereiinhaber aus Wetter.
VORSITZENDER: „Sie druckten die `Sport-Tribüne´. Haben Sie
sich die Zeitung angesehen?“
ZEUGE: „Es war eine Sportzeitschrift, die wohl auch politisch untermauert
war. Das Hauptthema aber waren normale Sportbeziehungen.“
Aufgerufen wurde Helmut R. Druckereibesitzer aus Offenbach.
VORSITZENDER: „In Ihrem Betrieb ist von Februar bis August
1963 die `Sport-Tribüne´ gedruckt worden. Hatten Sie nicht schon
einmal etwas mit Staatsgefährdung zu tun?“
ZEUGE: „Das weiß ich nicht. Man bekommt bei uns nicht mitgeteilt,
9
ob ein Verfahren läuft.“
STAATSANWALT: „Waren Sie Vorsitzender der Gesellschaft zur
Förderung internationaler Jugendbeziehungen?“
ZEUGE: „Ich war einer der sieben Gründer. Weiter zählten dazu unter
anderem Professor Weismantel und Ernst Rohwolt.“
VERTEIDIGER: „Ist das der Verleger Rohwolt, der auch das Bundesverdienstkreuz
bekommen hat?“
VORSITZENDER (zögernd): „Ja, um ihn handelt es sich.“
Ein ZEUGE: „Ich finde es sehr merkwürdig, welche Zusammenhänge
hier gesucht werden. Was hat das mit diesem Prozess zu tun?“
VORSITZENDER: „Das hat sehr wohl etwas damit zu tun.“
ZEUGE: „Wenn Sie wollen, hat dann die Erklärung Adenauers zu
internationalen Beziehungen auch etwas mit dem Prozess zu tun (gemeint
war die Äußerung, es gebe keine Bedrohung aus dem Osten).“
Erich H. besitzt eine Druckerei in Frankfurt am Main.
VORSITZENDER: „Sie kamen im Januar 1963 in Verbindung mit
dem B.-Verlag. Welchen Eindruck hatten Sie von der `Sport-
Tribüne?´“
ZEUGE: „Man wollte uns die Sportler des Ostens nahebringen. In
meinen Augen war die Zeitschrift nicht staatsgefährdend.“
B.: „Mir ist aufgefallen, dass bisher alle Zeugen nach ihrer politischen
Vergangenheit gefragt wurden. Bei dem Zeugen Hensler wurde
das unterlassen.“
VORSITZENDER: „Sie können hier Fragen stellen. Alles andere
verbiete ich Ihnen.“
B.: „Frage an den Zeugen: Waren Sie Kommunist?“
ZEUGE: „Nein.“
Der letzte Zeuge war Hans P., Drucker aus Witten.
VORSITZENDER: „Haben Sie nicht bemerkt, dass die Sport-
Tribüne eine politische Zeitung war?“
ZEUGE: „Nein. Es war eine Sport-Zeitung. Sie brachte Artikel aus
allen Sparten. Sie widmete sich europäischen und deutschen Sportproblemen.“
Es betrat der Gutachter Jasmer den Saal.
Er begann: „Ich bin verantwortlicher Referent für sämtliche kommunistischen
Tarnorganisationen. Ich habe die Meldungen des geheimen
Nachrichtendienstes ausgewertet.“
Der Mitangeklagte Winfried Lierenfeld erhob sich und stellte ihm die
Frage: „Es hat sich herumgesprochen, dass ihr Gutachten bereits im
Juli 1965 geschrieben wurde. Im Oktober 1965 aber hat die DSBFührung
das Sportverbot mit der DDR aufgehoben und den schon zitierten
Brief an den DTSB geschrieben, in dem künftig `rechtliche und
gesetzliche Hinderungsgründe´ für den Sportverkehr ausgeschlossen
wurden.“
LIERENFELD: „Wäre das Gutachten, das vom Juli 1965 datiert ist,
nach der Aufhebung des Sportverbots genauso ausgefallen?“
GUTACHTER: „Jawohl, genauso.“
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LIERENFELD: „Aus Ihrem Gutachten geht hervor, daß der DTSB
verfassungsfeindlich ist. Also sind alle Sportler und Mannschaften aus
der DDR, da sie ja dem DTSB angehören, Verfassungsfeinde? WisseSie,
dass DDR-Sportler in der Bundesrepublik festgenommen und
ausgewiesen wurden?“
GUTACHTER: „Ja, das ist ein- oder zweimal vorgekommen.“
LIERENFELD: „Hat das Bundesamt für Verfassungsschutz die Herren
des DSB konsultiert?“
GUTACHTER: „Nein, aber die Herren sind mit Sicherheit derselben
Meinung.“
Der von der Verteidigung bestellte Zeuge Josef P., Vorstandsmitglied
von B.´s Verein TuS Richrath 97 und Ortsvorstand der CDU in
Langenfeld, erklärt zur Person B.: „Ich kenne Arnold B. seit 1960. Ich
habe zwei Jahre mit ihm geturnt. Ich halte ihn für einen anständigen
und ehrbaren Sportsmann. Er hat sich große Verdienste um die Breitenarbeit
in unserem Verein erworben. Selbst nach seiner Ablösung
als Oberturnwart im Jahre 1962 (auf einen Rufmord der „Rheinischen
Post" hin) blieb er für uns der Vorturner des Vereins.“
VORSITZENDER: „Jetzt ist B. wieder Oberturnwart?“
ZEUGE: „Ja.“
VORSITZENDER: „Man hat also wieder Vertrauen zu ihm?“
ZEUGE: „Jawohl.“
VORSITZENDER: „Gab es nicht einen Zwischenfall in Langenfeld?“
ZEUGE: „Ein Rowdy wollte Arnold B. belästigen und riet ihm: `Hau
doch ab in die Zone`!“
VORSITZENDER: „Das wäre die beste Lösung des Problems.“
Das Urteil wurde nach sieben Prozesswochen am 6. Mai 1966 gesprochen.
11 Verhandlungen hatten stattgefunden. 50 Zeugen wurden
vernommen, einige auf dem Luftweg aus dem Ausland geholt. Zu den
116 Seiten Anklageschrift kamen noch 26 Seiten Gutachten des Bundesamtes
für Verfassungsschutz. Vier weitere Gutachter wurden befragt.
Das Urteil der IV. Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf
lautete: ARNOLD B.: 9 Monate Gefängnis unter Anrechnung der
Untersuchungshaft wegen Geheimbündelei (§ 128 StGB) in Tateinheit
mit verfassungsverräterischer Absicht (§ 94 StGB) sowie wegen landesverräterischer
Beziehungen (§ 100 d, Abs. 2 StGB) in Tateinheit
mit Fortführung der Tätigkeit der verbotenen KPD (§ 90 a, Abs. 2
StGB) zuzüglich 1000 Mark Geldstrafe;
WINFRIED L.: 4 Monate Gefängnis nach §§ 128, 94 und 90 a, Abs.
2 StGB zuzüglich 250 Mark Geldstrafe;
HELMUT K.: 4 Monate Gefängnis nach §§ 128 und 90 a, Abs. 2
StGB zuzüglich 500 Mark Geldstrafe.
Die Strafen wurden den drei Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt.
Die Bewährungszeit wurde auf fünf Jahre festgelegt.
In der mündlichen Urteilsbegründung folgte der Vorsitzende Dr.
Donig den Thesen des Staatsanwalts und stützte sich in allen Passa11
gen auf das Gutachten des Oberregierungsrats Jasmer. Das Gericht
bestätigte, dass es sich beim DTSB um eine verfassungsfeindliche
Organisation handele.“
Damit konnte von nun an jede Aktivität des DTSB willkürlich als
„Staatsgefährdung“ ausgelegt werden.
DER RÜCKZUG
Schon zwei Jahre später musste der Bundesgerichtshof dieses Urteil
annullieren. Wohl weniger, weil es sich bei der BRD um einen
Rechtsstaat handelte, sondern weil diese Verknüpfung von Politik und
Sport nicht aufrechtzuerhalten war. Am 9. Februar 1968 ließ das
oberste Gericht der BRD mitteilen: „Auf die Revisionen der Angeklagten
wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 6. Mai 1966 mit
den Feststellungen aufgehoben. Gründe: (1): Gegenstand des Strafverfahrens
ist die Mitarbeit der drei Angeklagten in der nach den Feststellungen
des Landgerichts zur Tatzeit (August 1959 bis Oktober
1964) auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik bestehenden Teilorganisation
für `Westarbeit´ des `Deutschen Turn- und Sportbundes´
der SBZ (DTSB). Diese Organisation des DTSB für Westarbeit sieht
die Strafkammer als eine Ersatzorganisation der verbotenen KPD an.
Als deren Mitglieder hat sie die drei Angeklagten wegen Verstoßes
gegen das KPD-Verbot (§ 90 a Abs. 2 StGB) in Tateinheit mit Geheimbündelei
(§ 128 StGB) verurteilt, wobei sie bei den Angeklagten
Bittner und Lierenfeld zugleich ein Handeln in verfassungsfeindlicher
Absicht (§ 94 StGB) angenommen hat. Wegen seiner ständigen Kontakte
zu in der Westarbeit des DTSB tätigen Funktionären in der SBZ
hat sie den Angeklagten B. in weiterer Tateinheit mit den genannten
Straftaten auch wegen Unterhaltung verfassungsfeindlicher Beziehungen
(§ 100 d Abs. 2 StGB) verurteilt. Die verhängten Gefängnisstrafen
sind bei allen Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt worden.(2): Gegen
dieses Urteil haben die Angeklagten Revision eingelegt; sie rügen
die Verletzung des sachlichen Rechts. (3): Das Rechtsmittel hat Erfolg.
(4): Die Verurteilung der Angeklagten … findet in den Feststellungen
des Landgerichts keine ausreichende Stütze. (12): Auch insoweit
reichen die Darlegungen der Strafkammer, die teils von `politischen
´, teils von `verfassungsfeindlichen´ Zielen spricht, nicht aus.
(13): So kann, wie die Revision mit Recht geltend macht, aus der Abhängigkeit
des DTSB von der SED nicht ohne weiteres geschlossen
werden, daß er zur Tatzeit über die vom Landgericht angenommene
Teilorganisation in der Bundesrepublik verfassungsfeindliche Ziele
verfolgt habe.
Entscheidend erscheint daher, ob aus dem Handeln der Angeklagten
ein hinreichend sicherer Schluß auf die verfassungsfeindliche Zielset12
zung der nach Ansicht des Landgerichts in der Bundesrepublik bestehenden
Teilorganisation des DTSB für `Westarbeit´ gezogen werden
kann. Den wesentlichen Tatbeitrag der Angeklagten sieht das Urteil in
der Herausgabe der `Sport-Tribüne´… (17): Sicher werden in diesen
Schriften neben den vordergründigen sportlichen Interessen (von denen
die Strafkammer selbst einräumt, daß B. sie aus echter Sportbegeisterung
gewahrt haben mag) auch Thesen vertreten, die in die
kommunistische Ideologie und die Politik der Zonenmachthaber gegenüber
der Bundesrepublik passen. Eine eigentliche, klar verfassungsfeindliche
Wühlarbeit in dem Sinne, wie sie das Bundesverfassungsgericht
im KPD-Verbotsurteil (BVerfGE 5, 85, 147, 380 ff
[BVerfG 17.08.1956 - 1 BvB 2/51]) gekennzeichnet und mit als Grundlage
für das Verbot verwertet hat, ist in ihnen aber nicht erkennbar.
(23): Daher kann die Verurteilung der Angeklagten aus § 90 a Abs. 2
StGB keinen Bestand haben. Dieser Mangel führt zur Aufhebung des
Urteile in vollem Umfang…“
Damit war ein Urteil gegen den DTSB aufgrund der selbst vom
Bundesgerichtshof akzeptierten Haltlosigkeit aufgehoben. Viele andere
Verurteilte waren nicht imstande die Kosten für Revisionsverfahren
vor dem BGH aufzubringen und blieben ihr Leben lang Verurteilte!
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25 Jahre danach - das Erbe der DDR
lebt fort, auch das Erbe des Sports
Von KLAUS EICHLER
Anlässlich der „Alternativen Einheitsfeier 2015“ des Ostdeutschen Kuratoriums
von Verbänden e.V. unter dem Motto „25 Jahre danach –
das Erbe der DDR lebt fort“ am 3. Oktober 2015 in Berlin wurde Klaus
Eichler als Vertreter von „Sport und Gesellschaft e.V.“ gebeten, die
Entwicklung des Sports in den Jahren nach 1990 einzuschätzen. Seine
Rede dokumentieren wir hier im vollen Wortlaut.
Die eben gesehenen Bilder haben uns auch daran erinnert, was unser
Land in vier Dezennien im Sport hervorgebracht hat.
Alle Welt war voller Bewunderung über die einzigartigen Erfolge unserer
sozialistischen Sportbewegung in den Städten und Dörfern, in den
Betrieben der Industrie und Landwirtschaft, in Kindergärten, Schulen
und Hochschulen, bei Betriebssportfesten oder Kinder- und Jugend-
Spartakiaden, den glanzvollen Turn- und Sportfesten und in den internationalen
Arenen des Sports.
Das wusste man auch in der Bundesrepublik Deutschland. Spätestens
als die DDR sich bei den Olympischen Spielen 1972 in München – wie
schon 1968 in Mexiko – vor den Gastgebern platzierte oder 1974 bei
der Fußball-Weltmeisterschaft in der BRD, als Jürgen Sparwasser
zum Entsetzen von Millionen Fußballfans der BRD die DDR zum Sieg
schoss.
Alle Ränke gegen den DDR-Sport haben das nicht verhindern können.
In einem endlosen Politfeldzug hat die Bundesregierung, assistiert
durch willfährige Sportfunktionäre, versucht, die Hallstein-Doktrin des
Alleinvertretungsanspruchs für Deutschland auch im Sport durchzusetzen.
Scharen von Diplomaten und Geheimdienstlern wurden in Marsch gesetzt,
um das selbstbewusste, erfolgreiche Auftreten der DDR-Sportler
zu verhindern. Verweigerung von Visa, Verhinderung von Starts bei
den Wettkämpfen, Verbot der Staatsflagge und der Hymne der DDR
auf dem Boden der BRD, Polizeieinsätze gegen Sportler, der zweimalige
Abbruch des deutsch-deutschen Sportverkehrs durch die BRD
sind uns noch in guter Erinnerung.
Egon Erwin Kisch schrieb einmal, „Sport ist die einzige Lebensäußerung,
die mit der Messbarkeit der Leistung aufwarten kann.“ Eben.
Wer oben auf dem Treppchen steht, hat gewonnen, ist der oder die
Beste. Und das wird wohl nicht zu Unrecht mit dem Kultur- und Bildungsniveau
und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes,
das solche Sieger hervorbringt, in Verbindung gebracht.
Für viele DDR-Bürger waren die Leistungen unserer besten Sportlerinnen
und Sportler ein starker Teil der nationalen Identität. Die großartigen
Olympiatriumphe von Wolfgang Behrendt 1956 in Melbourne
bis zur sechsfachen Goldmedaillen-Gewinnerin Kristin Otto 1988 in
14
Seoul, die Traumläufe von Katarina Witt und die Friedensfahrtsiege
des unvergleichlichen Täve Schur haben in unseren Gedanken und
Gefühlen immer einen Ehrenplatz.
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (21.01.1985) kam in einem
Report über die Leistungsförderung der Athleten in der BRD im Vergleich
mit denen aus der DDR zu der Einschätzung: „Dass die Weltmächte
USA und Sowjetunion die Westdeutschen überflügeln, wurmt
keinen Fan. Aber ein Stachel zwickt: Auch die Athleten des Nachbarn
und Hauptrivalen DDR (16 Millionen Einwohner) sind der Konkurrenz
aus der fast viermal so stark bevölkerten Bundesrepublik überlegen.
Was immer die Sportförderer West unternehmen – die Deutschen Ost
sind wie der Igel im Rennen gegen den Hasen schon da. `Die DDR ist
kein Ziel mehr für uns´, sagt Lutz Endlich, Direktor im Bundesausschuss
Leistungssport (BAL), `sondern ein Trauma´.“
Es war dann wohl nur zu natürlich, dass die westdeutsche Sportführung
und die Sportverbände 1989 frohlockten und sich schon als Erben
des erfolgreichen Sports der DDR sahen. Ganz Einfältige hatten
schon die Medaillen addiert und sahen sich konkurrenzlos vorn.
Da hatten sie aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. In Gestalt
des damaligen Sportministers Schäubele. Der hat den Sportleuten
bedeutet, dass die internationale Sportrepräsentanz durch den Fußball,
durch Tennis und die Formel 1 abgedeckt ist, die Trainer nicht in
Frage kommen, weil die vorhandenen ja nicht ausgewechselt werden
können und die Einrichtung von Kinder- und Jugend-Sportschulen
Ländersache sei.
Die euphorischen Einheitsaktivisten wurden dann im Einigungsvertrag
Artikel 39, Abs. 2 mit der Formulierung abgespeist, dass vom DDRSportsystem
zu erhalten sei, was sich bewährt habe.
Das Ergebnis ist bekannt. Nach der Kinkel’schen Delegitimierungsformel
wurde das DDR-Sportsystem zerstört. Im Klartext: Es wurde
nicht nur nicht angenommen, es wurde darauf rumgetrampelt. Flankierend
wandte Schäuble das gerade wieder im Zusammenhang mit der
Griechenland-Krise aktuelle probate Mittel an: der Geldhahn wurde
zugedreht.
Die Folge: Die Organisationsstrukturen des DDR-Sports wurden rücksichtslos
zerschlagen und das alte Vereinswesen wieder eingeführt,
4700 akademisch gebildete Trainer wurden arbeitslos, die international
renommierte Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in
Leipzig liquidiert und Sportfunktionäre, Trainer und Sportmediziner
juristisch verfolgt.
Da halfen auch keine Dementis von Leuten, die gewiss nicht zu den
erklärten Freunden der DDR zählten. In den Gesprächen über die Zusammenführung
der beiden deutschen Nationalen Olympischen Komitees
im September 1990 mahnte der langjährige Präsident des NOK
der Bundesrepublik, IOC-Mitglied Willi Daume: „Die Nachwelt wird es
uns nie verzeihen, wenn wir den stolzen DDR-Sport kaputt machen.“
(Quelle: Archiv Volker Kluge)
15
Politische Arroganz der Sieger, der mangelnde Wille und die teilweise
fachliche Unfähigkeit haben es seit 1990 vielfach verhindert, mit dem
Erbe, das dem Sport der alten BRD durch das Ende der DDR in den
Schoss gefallen ist, sorgfältig und klug umzugehen.
Das betraf nicht nur den Sport im engeren Sinne. Der Präsident des
Weltverbandes für Sportmedizin (FIMS) und der Deutschen Gesellschaft
für Sportmedizin und Prävention, Prof. Dr. Wildor Hollmann
(Köln), bestätigte die objektiv unbestreitbaren Vorzüge unserer Sportmedizin
und äußerte sein Unverständnis über die Abwicklung: „Viele
sportmedizinisch wertvolle Einrichtungen wurden in der DDR geschaffen.
Nach 1990 … gingen wir Sportärzte im Westen wie im Osten von
dem Wunsche aus, die der Gesundheit und der physiologischen Leistungsförderung
dienenden Institutionen und Tätigkeiten zum Nutzen
des wieder vereinten Deutschlands zu erhalten. Leider stießen wir dabei
… in politischen als auch maßgeblichen ärztlichen Kreisen auf Widerstand
… Als ich das Muster des … `Sportmedizinischen Dienstes
der DDR´ als zukunftsweisend zum Beispiel für die Gesundheitsämter
in der Bundesrepublik im Rahmen zukünftiger präventivmedizinischer
Maßnahmen darstellte, erhielt ich … die Antwort: `Einmal Wurm im
Apfel, ist der ganze Apfel wurmstichig.´“ 1)
Das ist deshalb so ausführlich zitiert, weil die Deutsche Gesellschaft
für Sportmedizin und Prävention e.V. gerade die Forderung erneuert
hat, den Facharzt für Sportmedizin einzuführen, den wir seit 1963 hatten.
Übernommen wurden die gut ausgebildeten Sportlerinnen und Sportler
der DDR. Bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona und
auch noch 1996 in Atlanta sowie 2000 in Sydney haben die Athleten
aus dem Osten 60, in einigen Sportarten 80 Prozent der Medaillen
errungen.
Dann kam die Ernüchterung. Ein Jahrzehnt nach dem Anschluss zog
der Soziologe Dr. Peter Rummelt (damals Düsseldorf, heute Greifswald)
dieses thesenhafte „Transformations“-Fazit:
1. Erhaltenswertes des DDR-Sports ist nicht erhalten worden.
2. Die Herstellung der inneren Sporteinheit verlief nicht erfolgreich.
3. Im Transformationsprozess sind schlechte Standards des Westens
transformiert worden.
4. Mögliche und notwendige Änderungen im bundesdeutschen
Sportsystem wurden nie ernsthaft in Erwägung gezogen.
Rummelt führte 14 konzeptionelle und organisatorische „Modernisierungsvorsprünge“
des DDR-Sports unter der DTSB-Ägide an – von
„sozialer Akzeptanz und Legitimation“ bis zu „wissenschaftlich gestützten
Steuerungsprinzipien“.
Der Mann hat es begriffen.
Die Förderung von Körperkultur und Sport war in der DDR Verfassungsauftrag
(Artikel 25). Das Jugendgesetz, das Bildungsgesetz, das
Gesetzbuch der Arbeit schufen einen staatlichen Ordnungsrahmen,
16
der die ganze Gesellschaft zu diesem Anliegen verpflichtete. Zu diesem
vielseitigen funktionierenden System der Körperkultur hatten alle
Bürger Zugang und es bot den sportlichen Talenten die Möglichkeit,
gemäß ihren persönlichen Neigungen ausgebildet zu werden.
Wie jeder weiß, werden die entscheidenden Grundlagen im Kinderund
Jugendalter gelegt. Eine zentrale Funktion hat dabei die Schule.
Und da beginnt heute schon das Problem. Nimmt sich der Anteil der
Vorschulerziehung - auf Grund der bunt gewürfelten Zuständigkeit -
eher bescheiden aus, der Schulsport hat ernsthafte Mängel. Die Anzahl
der Sportstunden wurde reduziert, der Anteil der ausgebildeten
Sportlehrer sinkt und die Zahl der Ausfallstunden steigt. Das PISADiktat
in der Bildungspolitik macht die Sache nicht einfacher. Als vorbildlich
gilt, wer bei PISA gut abschneidet. Das ist schon in Ordnung.
Aber weder Sprachen, noch die Künste und auch der Sport spielen
hier eine Rolle – eben zweitrangig oder unbedeutend. Wie der gesamte
Sport außerhalb des vermarktungsfähigen Profisports als Privatsache
gilt und in den Medien kaum noch vorkommt.
Dabei gibt es ernsthafte Alarmzeichen. Abgesehen davon, dass in der
BRD im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien ein Drittel weniger
Kinder (pro eintausend Einwohner) aufwachsen,
- haben 1,9 Millionen Kinder Übergewicht (zwar stagniert die
Zahl, doch fließen pro Jahr 700 Millionen Euro in die Werbung
für Süßigkeiten bei einschlägigen Gesundheits-Kosten in Milliarden
Höhe);
- nimmt die Zahl der Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) ständig zu, ein Massenphänomen, an
dem die Pharmaindustrie gut verdient (Angaben von 12 bis 15
Prozent);
- können nach Angaben der Deutschen Lebensrettungs-
Gesellschaft (DLRG) die Hälfte unserer Grundschüler und ein
Drittel der unter 18-Jährigen nicht mehr sicher schwimmen („nd“
vom 25.8.2015).
Körperliches Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit und Gesundheit
des Nachwuchses drohen zu verschwinden. Wir Erwachsenen hatten
als Kinder noch viel Bewegung, brauchten nicht ständig auf irgendwelchen
Smartphones oder Tablets rumzufingern, und leiden dennoch an
einer Reihe von Zivilisationskrankheiten. Wie wird es den Kindern von
heute gehen, wenn sie erwachsen sind?
Über die körperlichen Defizite entsteht auch ein Mangel an sozialer
und emotionaler Kompetenz, die der Sport und das zumeist gemeinsame
Sporttreiben befördern helfen. Da mutet es geradezu grotesk
an, wenn per Internet aufgerufen wird, eine Petition zur Abschaffung
der Bundesjugendspiele zu unterzeichnen. Begründung: Der Zwang
zur Teilnahme und der starke Wettkampfcharakter sorgen bei vielen
Schülern für das Gefühl … gedemütigt zu werden. Glücklicher Weise
spricht sich die Mehrheit für die Fortführung aus. In Brandenburg wurde
der Begriff Spartakiade wieder eingeführt.
17
Inzwischen gibt es nicht wenige Signale, die auf eine Rückbesinnung
hindeuten. Anlässlich der Gründung des Deutschen Olympischen
Sportbundes (am 20.05.2006 in der Frankfurter Paulskirche) hat der
jetzige IOC-Präsident in seiner Rede Kerngedanken vorgetragen, die
uns gut bekannt vorkommen:
- Der Sport soll ins Grundgesetz der BRD aufgenommen werden.
- Deutschland braucht eine würdige internationale Repräsentation
durch seinen Leistungssport.
- Der Leistungssport muss durch hauptamtliche Kräfte geleitet
und organisiert werden.
- Die Arbeit der zersplittert wirkenden wissenschaftlichen Kräfte
ist zu bündeln.
- Die Auswahl der Talente für die Sportgymnasien muss nach
hohen Maßstäben erfolgen.
Zudem würdigte er die Arbeit des Instituts für angewandte Trainingswissenschaft
(IAT) in Leipzig und der Forschungs- und Entwicklungsstelle
(FES) in Berlin, ohne einen Hinweis auf das Erbe.
Die Fortschritte sind eher zögerlich. Aber im Nachgang war es dem
erfolgreichen DDR-Fußballtrainer Heinz Werner gelungen, DFB-Obere
nach Leipzig zu locken, um ihnen die seit den 80er Jahren installierte
Fußballschule (Spezial KJS) zu zeigen.
Ergebnis: die sechs finanzstärksten Fußballklubs haben jetzt eine solche
Einrichtung und sicher Anteil, dass der Nachwuchs im europäischen
Fußball alle Jahrgänge dominiert.
Nun passierte in diesem Sommer, dass sich der für Sport zuständige
Innenminister de Maizière in unsere frühere zentrale Trainingsstätte
nach Kienbaum begab. Zur Erinnerung: die sollte 1990 geschlossen
werden. Durch Brandenburger Initiative blieb sie zumindest offen. Anerkennenswert
gab es später Investitionen in Wohngebäude und
Sporthallen.
Jetzt die Erleuchtung des Ministers: „Ich hatte schon viel gehört von
Kienbaum. Diese Einrichtung hat bei den deutschen Topsportlern einen
Ruf wie Donnerhall. Die Großzügigkeit der Anlage hat mich sehr
beeindruckt“ (Lausitzer Rundschau 14.07.2015). Großzügig fügte er
hinzu, dass er sich nicht an den Wimpeln und Bildern stört, die das
DDR-Erbe nicht in Vergessenheit geraten lassen.
Nachdenklichere Töne waren durch den Präsidenten des Deutschen
Olympischen Sportbundes, Hörmann, vor Bundestagsabgeordneten
(am 01.07.2015) zum Thema 25 Jahre Wiedervereinigung zu hören.
Zu der Herausforderung zwei Sportsysteme zusammenzuführen sagte
er: „Strukturelle, organisatorische und personelle Weichen mussten
neu gestellt werden. Zugegeben, das ist nicht immer gelungen und
das wirkt sich zuweilen noch bis heute aus. Und es fällt manchmal
noch heute schwer, die wechselseitigen Biografien ganzheitlich zu
verstehen und vollumfänglich zu akzeptieren… Nach der Wiedervereinigung
sind auch Narben geblieben, die bis heute sichtbar und
schmerzhaft sind.“
18
Schließlich gibt Hörmann das Ziel aus, „nach zuletzt rückläufigen Erfolgen
deutscher Olympiamannschaften diesen Trend zu stoppen und
uns mittel- und langfristig wieder stärker auf den internationalen Podien
zu positionieren.“
Als elementare Voraussetzung für die Einheit des Sports, für den Zusammenhalt
der Sporteinheit, für das wechselseitige Verständnis für
Biografien, Sichtweisen und Gefühle wird eine funktionierende Kommunikation
genannt.
Man darf gespannt sein, wer sich mit wem unterhält. Die Westdeutschen
untereinander werden es – wie die jüngere Geschichte zeigt –
nicht weit bringen.
Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Sie zielt auf die Wiedererlangung
des Massencharakters des Sports, gegen die unsägliche
Verengung auf die Vermarktungsfähigkeit der sportlichen Leistung.
Dabei bin ich ganz sicher, das was wir hatten, ist nicht wiederholbar.
Die sozialistische Gesellschaft hatte eine Mobilisierungskraft, die eine
unübersehbare Schar von Lehrern, Kindergärtnerinnen, Betriebsleitern,
Gewerkschafts- und FDJ-Funktionären, Pionierleitern, Volkspolizisten,
Wissenschaftlern, Ärzten, Journalisten auf das Ziel, Sport für
Alle, vereinen konnte. Sie waren mit den unermüdlichen Übungsleitern,
Kampf- und Schiedsrichtern, den Platzwarten die Initiatoren und
Organisatoren des Sports.
Ihre Leistung wird für immer mit großen Buchstaben in den Geschichtsbüchern
der DDR stehen.
In diesem Sinne wende ich mich an Sie, gehen wir weiter mit gutem
Beispiel voran!
Wer im Sport eine gute Figur macht, hat meist auch eine!
Und der Weg zum Sportplatz erspart meist den Weg zum Arzt!
Also bleiben wir bei dem immer noch gültigen Aufruf unserer Altvorderen:
„Jedermann an jedem Ort – mehrmals in der Woche Sport!“
1) HOLLMANN, W.: Geleitwort. STRAUZENBERG, S.E. / GÜRTLER, H. (Hrsg): Die
Sportmedizin der DDR. Eine eigenständige Fachrichtung der Klinischen Medizin.
Dresden 2005, S. 3
19
MEIN WEG IN DIE MUSKELKIRCHE
Von WERNER RIEBEL
Wenn alle Wege offen gewesen wären, hätte ich 1957 ohne Hindernisse
meinen Weg zum Sportlehrerstudium gefunden. Ohne meine
im Sport erworbene Leidenschaft nie vor dem Ziel aufzugeben und
ohne die Hilfe von Freunden hätte ich am 3. September 1957 in der
„Muskelkirche" - so die volkstümliche Bezeichnung des 1929 erbauten
Lehrgebäudes - mein Studium nicht beginnen können. Hier meine Geschichte.
Eine Entscheidung für einen Studienort habe ich lange hinaus gezögert.
Da kam mir mein Vater zu Hilfe. Ich war seit 1955 Soldat der
Nationalen Volksarmee in einer motorisierten Schützeneinheit in Potsdam.
Im März 1957 erhielt ich einen Brief meines Vaters, in dem sich
ein Zeitungsartikel des Oberassistenten der Jenaer Universität Georg
Buschner befand. Buschner suchte Bewerber für das Sportstudium am
Jenaer Sportinstitut. Ich bewarb mich sofort, musste aber lange auf
eine Zusage warten. Schließlich erhielt ich vom Institutsdirektor Wurzler
eine Einladung für den 14. Juni 1957 zu einer sportlichen Eignungsprüfung.
Die Einladung erreichte mich telegrafisch am 13. Juni
1957.
Zu dieser Zeit befand ich mich in einem Lehrgang des Übungsverbandes
der NVA für das Leipziger Sportfest in der NVA-Dienststelle
Karpin, unweit von Eggesin. Ich hatte nur 22 Stunden Zeit, um pünktlich
in Jena zur Prüfung antreten zu können. Die Angst um mein Studium
beflügelte mich. Ich bat den Kommandeur des Lehrgangs um
Urlaub. Der Antrag wurde abgelehnt. In meiner Not kroch ich durch
eine Zaunlücke zum benachbarten Panzerregiment, klopfte am
Dienstzimmer des Kommandeurs, der mich anhörte, dann aber aus
dem Zimmer schmeißen wollte, weil ich vor Aufregung vergessen hatte
die Mütze aufzusetzen und das Koppel anzulegen. Ich entschuldigte
mich, bettelte um einen Urlaubsschein den ich schließlich auch noch
bekam. Mit diesem wertvollen Dokument schmuggelte ich mich durch
die Zaunlücke zurück in die Kaserne des Sportlehrgangs und legte
dem Innendienstleiter den Urlaubsschein aus dem Nachbarregiment
vor. Der „Spieß“ riet mir zu meiner Überraschung auf kürzestem Weg
den Bahnhof Eggesin anzusteuern. Zu Fuß hatte ich keine Chance
meinen Zug pünktlich zu erreichen. Ein LKW mit einem Unteroffizier
am Lenkrad, den ich hilfesuchend anhielt, fuhr mich die drei Kilometer
zum Bahnhof. Ich erreichte Neubrandenburg, nahm dort ein Taxi, obwohl
ich nur noch 10 Mark in der Tasche hatte. Nach mehrstündiger
Fahrt erreichten wir kurz nach Mitternacht den Bahnhof Wittenberge.
Der Taxifahrer wollte mich verständlicherweise der Polizei übergeben,
weil ich die 200 Mark Taxigebühren nicht bezahlen konnte. Ich versprach
ihm die Summe am nächsten Tag zu überweisen. (Damals vertraute
man noch einander…) Am Morgen des 14. Juni traf ich um 9:30
20
Uhr auf dem Jenaer Westbahnhof ein. Wieder vertraute mir ein Taxifahrer
und meinem Versprechen einer „Nachzahlung“ und fuhr mich
zur „Muskelkirche“.
Nach der schlaflosen Nacht erschien ich pünktlich 10 Uhr zur Eignungsprüfung.
Die geforderten Normen in der Leichtathletik und im
Turnen erfüllte ich problemlos. Nur beim Schwimmen geriet ich in
Schwierigkeiten, denn ich hatte keine Badehose, griff zu der roten Armeesporthose,
die mir beim 100-m-Brustschwimmen schon nach wenigen
Metern durch die Beine rutschte und im Becken versank. Die
Prüfer hatten Verständnis, anerkannten meine nackt geschwommene
Zeit, und so konnte ich am Nachmittag nach bestandener Eignungsprüfung
ohne einen Pfennig in der Tasche die 25 Kilometer zu Fuß
von Jena nach Schkölen, meinen Heimatort, in Angriff nehmen. Dem
Taxifahrer überwies ich am nächsten Morgen die 200 Mark. Dennoch:
Heute ein erneutes Dankeschön!
Ich musste damit rechnen, nach meiner Rückkehr in Karpin wegen
„unerlaubter Entfernung aus der Dienststelle“ bestraft zu werden.
Doch ich hatte einmal mehr Glück. Der Innendienstleiter hatte den
Kommandeur überredet, von einer Bestrafung abzusehen. Meine damals
gesammelte Erfahrung: Nie verzagen, selbst wenn alle Wege
verschlossen scheinen. Es gibt meist einen Aus- oder Umweg.
Das war der Beginn meiner akademischen Laufbahn. Ich erhielt
wenige Wochen nach jener sportlichen Eignungsprüfung ein Schreiben
des Direktorats für Studienangelegenheiten der Friedrich-Schiller-
Universität Jena, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich zum Lehrerstudium
in den Fächern Sport und Geschichte zugelassen worden sei.
Der etwas turbulente Auftakt zum Studium war die Mühe wert: Nach
fünfjährigem Studium absolvierte ich das Staatsexamen als Oberstufenlehrer
für Sport und Geschichte. Nach einer „Zwischenetappe“ als
FDJ-Sekretär im Sportclub Motor Jena und diese Tätigkeit war nicht
nur interessant, sondern mehr als lehrreich. Nach einem Jahr lud mich
der Direktor des Instituts für Körpererziehung Prof. Dr. Willi Schröder
zu einem Gespräch und bot mir eine Stelle als Assistent in seinem
Institut an. Georg Buschner hatte die hauptamtliche Funktion als Cheftrainer
Fußball im SC Motor Jena übernommen. Seine Stelle am Institut
war neu zu besetzen. Meinen weiteren Weg im Beruf kann ich
knapp beschreiben: 1969 promovierte ich mit einer pädagogischen
Dissertation zum Thema „Erziehung zu sportlicher Einstellung“, 1979
folgte der Dr.sc. phil. mit der Arbeit „Konservatismus und Tradition im
Sport der BRD", später die Berufung zum Hochschullehrer und Professor.
Von 1969 bis 1974 war ich stellvertretender SED- Parteisekretär
an der Jenaer Universität, wieder einige Jahre danach hatte mich
der Minister für Hoch-und Fachschulwesen der DDR, Prof. Dr. Böhme
zum Prorektor an der Jenaer Universität berufen. Auch diese Zeit von
1985 bis 1989 waren für mich gewonnene Jahre.
Im Jahre 1992 stoppte ein politisches Sperrschild meine Weiterbeschäftigung
an der Universität. Im Senat war in geheimer Abstimmung
21
meine Abberufung entschieden worden, weil ich zu jenen Hochschullehrern
der Universität gehörte, die nach Meinung der Senatoren bis
zum Ende der DDR Systemtreue bewiesen hätten. Letzteres entspricht
den Tatsachen.
Mein Antrag an den Senat auf Umwandlung des akademischen Titels
„Dr. sc.“ in „Dr. habil.“ wurde abgelehnt. Im Falle eines positiven
Entscheids, so formulierte es einer der Senatoren, hätte Herr Riebel
seine Berufungsfähigkeit als Hochschullehrer wieder erlangt. Das aber
wolle man nicht. Dem Sport bin ich nach dem Ende der DDR treu geblieben.
Im September 2015 sind 25 Jahre vergangen seit mich der
Nestor des Thüringer Frauenfußballs Hugo Weschenfelder für den
Mädchen- und Frauenfußball begeistern konnte. Neun Mannschaften,
davon drei Frauen- und sechs Mädchen Mannschaften gehören heute
zu „meinem Verein“, dem FF USV Jena e.V. Die erste Mannschaft
spielt 2015/2016 die achte Saison in der Frauen-Bundesliga. Im Vorstand
bin verantwortlich für die berufliche Ausbildung unserer Spielerinnen.
Viele sind Studentinnen. Ich hoffe, dass ich in zwei Jahren als
80 jähriger Senior dem FF USV Jena in studentischen Angelegenheiten
noch immer zur Verfügung stehen kann. Und auch in Zukunft würde
ich gern jenen Bewerberinnen mit Rat zur Seite stehen, die sich,
wie ich, vor fast 56 Jahren auf den Weg in die Jenaer Muskelkirche
befanden.
22
DIE WAHRHEIT ÜBER MADRID
Von Klaus Ullrich
Ende 1965, also vor rund 50 Jahren hatte das IOC in Madrid entschieden,
das NOK der DDR nach 14jähriger „Wartefrist“ mit nahezu
den gleichen Rechten wie alle anderen Nationalen Olympischen Komitees
anzuerkennen und demzufolge künftig mit einer eigenen Mannschaft
starten zu lassen. 45 Jahre später, also 2010, entschloss sich
die Hamburger Universität das Thema „Politische Spiele – Die
deutsch-deutschen Auseinandersetzungen auf dem Weg zu den XX.
Olympischen Sommerspielen 1972 und bei den Spielen in München´“
zum Thema einer Dissertation zu wählen, die auch im Internet verbreitet
wurde. Der Autor war Justus Johannes Meyer, der damit die Würde
eines Doktors der Philosophie des Fachbereichs Geschichtswissenschaft
erlangte.
Die Arbeit umfasst 425 Seiten und dürfte als einer der vielen Versuche
zu bewerten sein, den in der Vergangenheit oft genug erhobenen
Vorwurf, die DDR habe den Sport nur benutzt, um politische Absichten
zu verfolgen, nach einem halben Jahrhundert „wissenschaftlich“
zu erneuern. Dem Kongress von Madrid, auf dem das IOC das
NOK der der DDR anerkannt hatte und damit den Alleinvertretungsanspruch
der BRD missbilligte, hatte der Autor der Dissertation 7 Seiten
gewidmet. Das war die Passage:
„2. DER MADRIDER KONGRESS UND DIE ANERKENNUNG
DES NOK DER DDR
Am 5. Oktober 1965 trat in Spaniens Hauptstadt der Exekutivausschuss
des IOC zusammen um vorab die Agenda für die Sitzung der
Vollversammlung vom 6. bis zum 9. Oktober 1965 zu besprechen. Eine
Delegation unter der Leitung von Heinz Schöbel“ (NOK-Präsident
der DDR) „hatte den Exekutivausschuss noch einmal die Aspekte erläutert,
die für eine Aufnahme des NOK de DDR sprachen, und dabei
besonderen Wert auf die Feststellung gelegt, dass die Fachverbände
der DDR von (bis auf zwei) allen internationalen Fachverbänden der
olympischen Sportarten mittlerweile anerkannt worden waren. Im Protokoll
wurde das Bedauern Brundages über die Einmischung der Politik
auf beiden Seiten festgehalten und anschließend versuchte Armand
Massard, Schriftsteller und Präsident des NOK Frankreichs, die
Haltung des Exekutivausschusses zu der Einreisefrage zu formulieren.
Er führte aus: nicht die französische Regierung sondern die NATO sei
es, die Einreisevisa für DDR-Sportler verweigern könne. Sollte dieser
Fall wie von Maurice Herzog ankündigt, bei den Winterspielen 1968
eintreffen, könne das IOC Grenoble die Ausrichtung entziehen und
das Organisationskomitee für den finanziellen Schaden haftbar machen.
Er selbst sei dafür, die Frage der Anerkennung einer eigenständigen
Mannschaft der DDR erst für die Spiele in Mexiko zu beantworten.
Da es dort keine Probleme mit Einreisevisa bzw. TTD geben wer23
de.“
(TTD waren sogenannte Travel-Ports, die von der in Westberlin
noch existierenden „Alliierten Kommandantur“ [ohne die Sowjetunion]
an alle Visaanträge für westeuropäische Länder beantragenden DDRBürger
ausgegeben oder verweigert wurden. Schon durch die Verweigerung
dieser Pässe wurde zahllosen DDR-Sportlern die Reise zu
Welt- und Europameisterschaften verweigert.)
„Der Exekutivausschuss beschloss schließlich dass alle Beteiligten
noch einmal bei der Vollversammlung gehört werden sollten und
das Komitee dann eine Entscheidung treffen müsse.
Bei der 63. Sitzung des IOC berichtete Präsident Avery Brundage
unter Tagesordnungspunkt 16 in Bezug auf den Antrag des NOK der
DDR zunächst von den Problemen mit den Einreisebestimmungen für
die Olympischen Winterspiele 1968 in Grenoble. Gemäß der im Exekutivausschuss
festgelegten Haltung bekräftigte er, das IOC müsse
Grenoble die Spiele entziehen, falls die französische Regierung keine
Garantieerklärung abgäbe, dass alle eingeladenen Teams uneingeschränkt
einreisen dürfen. Premierminister Pompidou habe ihm versichert,
alle Delegationen unter den `vorhandenen Bestimmungen´ einreisen
zu lassen. Brundage interpretierte dies als Zusage, sich nach
den Regeln des IOC zu richten, während die französische Regierung
ihm mitteilte, unter `vorhandenen Bestimmungen´ sei die bisher gültige
Regelung eines gesamtdeutschen Teams zu verstehen. Brundage
bezeichnete diese Auslegung vor der Vollversammlung als `nicht zustimmungsfähig
´.“
Im Anschluss daran stellte IOC-Mitglied Andrianow aus der
UdSSR den Antrag, auch die Delegation des NOK der DDR zur Sitzung
zuzulassen und ihre Position anzuhören, da nur die Bundesrepublik
durch Willi Daume vertreten sei. Der Antrag wurde akzeptiert.
Daraufhin legte der ehemalige IOC-Kanzler Albert Mayer noch einmal
die Schwierigkeiten und politischen Interferenzen der letzten zehn
Jahre in dieser Sache dar. Er erklärte, die meisten internationalen
Fachverbände favorisierten zwei getrennte deutsche Mannschaften
und ließen sie bereits bei ihren Wettkämpfen zu. Nur die Olympischen
Spiele stellten noch eine Ausnahme dar. Er urteilte zum Visa-Problem,
es sei wohl nicht möglich, eine Lösung durch „eine energische Intervention“
des IOC zu erreichen und sprach sich daher für gesamtdeutsche
Mannschaften bei den Spielen in Grenoble aus. In Mexiko City
hingegen sollten getrennte Mannschaften an den Start gehen.
Nach Albert Mayer hörte die Vollversammlung Willi Daume an, der
in einer emotionalen Rede die Haltung des NOK der Bundesrepublik
verteidigte. Er widersprach den Darlegungen Mayers zur politischen
Einmischung der Bundesregierung und erklärte: „Das westdeutsche
Olympische Komitee ist für die Einmischung der Regierung, die es
nicht erbeten hat, nicht verantwortlich.“ Die geschmeidige Formulierung
überging die Tatsache, dass Daume sich sehr wohl aktiv an den
Initiativen des AA beteiligt hatte. Der Präsident des bundesdeutschen
24
NOK äußerte seine Überzeugung, die politischen Probleme seien aus
dem Weg geräumt und auch zukünftige würden gelöst werden. Außerdem
ging Daume auf die Westberlin-Frage ein. Nachdem von Seiten
der DDR und der sowjetischen IOC-Mitglieder die Möglichkeit eines
dritten deutschen NOK für Westberlin ins Gespräch gebracht worden
war, bekräftigte Willi Daume den Wunsch der Westberliner Sportverbände,
des DSB und des NOK der Bundesrepublik, die Zugehörigkeit
Westberlins zur Bundesrepublik beizubehalten. Zu diesen sportpolitischen
Fragen übergab Daume dem IOC ein Rechtsgutachten von
Dr. Karl Doehring, das seine Position stützte.
Als nächster wurde Heinz Schöbel gehört. Schöbel schloss sich
der Argumentation Albert Mayers an und erklärte, die Differenzen zwischen
Sportlern und Offiziellen aus der Bundesrepublik und der DDR
seien offenkundig und nicht mehr beizulegen. Er berief sich in seiner
45-minütigen Ansprache auf die Charta des IOC und forderte eine
sportliche Lösung des Problems, also die vollwertige Anerkennung
des NOK der DDR. Auf Grundlage dieser Darstellungen entstand im
IOC eine angeregte Debatte, an der sich 22 Redner beteiligten. Auskunft
über den Inhalt der Debatte gab Daume einige Tage später im
BMI. Er erklärte, dass die zwischen ihm und dem AA abgesprochenen
Bemühungen der diplomatischen Vertretungen keinen Erfolg gezeigt
hätten und insbesondere von Albert Mayer und dem Exekutivausschuss-
Mitglied Ivar Vind aus Dänemark kritisiert worden seien. Vind
hatte im Verlauf der Diskussion vorgeschlagen, das IOC solle diesbezüglich
einen offiziellen Schritt gegenüber der Bundesregierung unternehmen.
Daume hatte diesen Vorschlag nach eigener Auskunft mit
dem Verweis auf den politischen Missbrauch des Sports in der DDR
und das entsprechende Schutzbedürfnis der Bundesregierung noch
abwenden können. Doch weiterhin negativ auf seine Argumentation
habe sich ausgewirkt, dass das französische Mitglied Graf de Beaumont
schon recht früh de Frenckells Kompromisslösung ins Spiel gebracht
hatte. Mayer und Vind hatten sich auf seine Seite gestellt und
nur die Südamerikaner die Position von Daume unterstützt. Schließlich
wurde eine Abstimmung auf den nächsten Tag verschoben. Vor der
Wiederaufnahme der Sitzung am folgenden Tag hatten sich einige
IOC-Mitglieder, darunter de Frenckell, getroffen und einen Kompromissvorschlag
erarbeitet, der stark an Willi Daumes Vorschlag zur
deutschen Frage aus dem Jahr 1963 angelehnt war. Daume und
Schöbel stimmten der Lösung zu, und so kam es zur Abstimmung.
Die Entscheidung des IOC fiel deutlich und bei genauerem Hinsehen
kaum überraschend aus. Bisher hatte das Komitee die deutsche
Frage doch immer wieder vertagt, verlängert und mit provisorischen
Lösungen beantwortet, und so stand auch dieses Mal wieder eine
Kompromisslösung zur Abstimmung. Sie fand eine breite Zustimmung:
54 zu 5 Stimmen erbrachte die Wahl (die vier neu ernannten Mitglieder
waren noch nicht stimmberechtigt). Das Votum des IOC bestätigte
die Zugehörigkeit des Westberliner Sports zur Bundesrepublik und
25
erkannte das NOK der DDR nun als vollwertiges Mitglied an. Dennoch
durfte das NOK der Bundesrepublik weiterhin den Namen NOK für
Deutschland tragen. Bei den Olympischen Spielen 1968 in Grenoble
und Mexiko City sollten nunmehr die beiden deutschen Mannschaften
separat antreten, allerdings, so der Kompromiss, weiterhin unter der
gesamtdeutschen Olympiaflagge und -Hymne. Damit kam das IOC
nicht nur der Bundesrepublik, sondern auch der französischen Regierung
entgegen. Sie konnte nun die Einreisevisa an Sportler aus der
DDR genehmigen, da diese weiterhin unter gesamtdeutscher Flagge
antraten. Die Regierung Frankreichs musste also nicht von der Hallstein-
Doktrin abschwenken und keine Staatssymbole der DDR anerkennen.
Die Entscheidung des IOC hatte deutlich gezeigt, dass sich die internationalen
Sympathien verschoben hatten und die Bundesrepublik
Fürsprecher im IOC verlor. Ersteres war verschiedenen Faktoren geschuldet,
zu denen die Dauer der für alle komplizierten, ungelösten
Situation und die sportlichen Erfolge der DDR zu rechnen sind, während
der Rückhalt der Bundesrepublik im IOC aus anderen Gründen
abgenommen hatte. Mit Karl Ritter von Halt und Sigfrid Edström waren
1964 zwei einflussreiche Vertreter der bundesdeutschen Position und
loyale Männerfreunde von Avery Brundage verstorben, und dieser hatte
mit dem IAAF-Präsidenten und Vize-Präsidenten des IOC, dem
Marquess of Exeter, einen mächtigen Gegenspieler im Komitee. Außerdem
hatte die Zahl der Mitglieder aus Ländern des Ostblocks seit
1952 stetig zugenommen.
Heinz Schöbel konnte dem ZK der SED schließlich keinen Erfolg
auf ganzer Linie berichten, doch es schien nur noch eine Frage der
Zeit zu sein, bis die Mannschaft der DDR endlich auch bei den olympischen
Spielen der ganzen Welt ihre Staatssymbole präsentieren konnte.
Von dieser Demonstration versprach man sich schließlich die endgültige
Durchbrechung der Hallstein-Doktrin, und für 1972 war diese
Demonstration greifbar nahe geworden. In der Presse der DDR wurde
die Madrider Lösung dementsprechend gefeiert, wenngleich über die
Bestätigung der Zugehörigkeit der Westberliner Sportverbände zum
bundesdeutschen NOK dort nichts zu lesen war. So urteilt auch Holzweißig:
`Der Madrider IOC-Beschluss war für die DDR (...) der bis dahin
größte Triumph in ihrem Kampf gegen die Nichtanerkennungspolitik
der Bundesregierung.´
Willi Daume hingegen reiste mit einer Niederlage zurück in die
Bundesrepublik, die er dennoch als Sieg bezeichnen konnte, denn
vorläufig war verhindert worden, dass die DDR 1968 mit eigenem Protokoll
an den Olympischen Spielen teilnehmen durfte, und das NOK
der Bundesrepublik durfte ja die Bezeichnung NOK für Deutschland
behalten. Somit konnte die Bundesregierung darauf hoffen, die Madrider
Lösung im internationalen Sport durchzusetzen und dort sogar
noch einen Vorteil aus der Entscheidung des I0C zu ziehen.
Ausdrücklich lobte StS Dr. Schäfer dann auch Willi Daumes Ein26
satz in Madrid bei einer interministeriellen Besprechung im BMI am 13.
Oktober 1965. Er betonte, dass sich Daume unter offenbar widrigen
Umständen klug, entschlossen und mit Nachdruck für die gute Sache
des deutschen Sports eingesetzt habe. StS Rolf Lahr vom Auswärtigen
Amt befand,
„man müsse sich im Kreis der Verantwortlichen darüber klar sein,
dass der IOC-Beschluss eine große Niederlage für unsere gesamtdeutschen
Bemühungen, ja ein böser Rückschlag gewesen sei, auch
wenn dies in der Öffentlichkeit aus Gründen der Zweckmäßigkeit vielleicht
nicht überall herausgestellt werde.“
Dies sei allerdings nicht auf mangelnden Einsatz Daumes zurückzuführen.
Den Schwarzen Peter hatten die Beamten Albert Mayer zugeschoben,
dem StS Lahr „unehrenhaftes Verhalten“ vorwarf.
Allein dieser Satz illustriert die Haltung der Bundesregierung gegenüber
dem IOC, wobei ein anderes in den Archiven jener Jahre zu
findendes Dokument sogar belegt, dass sich Franz Josef Strauß als
CSU-Vorsitzender an Brundage gewandt hatte, um die Anerkennung
der DDR zu verhindern.
(Erwähnt werden muss auch, dass Gerhard Oehmigen in Nummer
6 [1998] unserer Zeitschrift ausführlich zu dem Geschehen in Madrid
Stellung genommen hatte, die hier genannte Dissertation aber nicht
hatte berücksichtigen können.)
WAS DAS DOKUMENT 7 VERRIET?
Um den Ablauf in Madrid akribisch abhandeln zu können, muss
ein Dokument eingefügt werden, dass die Bundesregierung am 30.
September 1965 verabschiedet hatte und das überzeugend den politischen
Druck gegenüber dem IOC belegt.
DOKUMENT 7
(Aus dem Bestand: Auswärtiges Amt IV Band 1618/IV 5 - 86 - 10/1)
Abteilung IV 53 Bonn, den 30. September 1965
IV 5 - 88;12022/23
Ref. i. V.: BR I Gracher
A u f z e i c h n u n g
Betr.: Gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft
Hiermit legt Abteilung IV
dem Herrn Staatssekretär
eine Liste der IOC-Mitglieder mit einer kurzen Zusammenfassung
ihrer Haltung, wie sie sich aus der
Berichterstattung unserer Auslandsvertretungen
ergibt, sowie eine Namensliste mit dem vermutlichen
Verhalten bei der Abstimmung über die gesamtdeutsche
Mannschaft mit der Bitte um Kenntnisnahme vor.
27
Das Bundesministerium des Innern, das Bundesministerium
für gesamtdeutsche Fragen, das Presse- und Informationsamt
der Bundesregierung sowie Herr Daume,
das Sekretariat des Nationalen Olympischen Komitees
für Deutschland und Referat II A 1 erhalten die Listen
gleichfalls...
Haltung der nichtkommunistischen IOC-Mitglieder in
der Frage der gesamtdeutschen Olympia-Mannschaft
aufgrund der Berichterstattung unserer Auslandsvertretungen.
Argentinien
Mario L. Negri’s Haltung ist unverändert positiv in
unserem Sinne. Er will seine Argumente gegen zwei
deutsche Mannschaften dem IOC noch schriftlich vorlegen
(Äußerung des Verbindungsmanns der Botschaft
im argentinischen NOK, Rank).
Australien
Hugh Weir will für Beibehaltung des jetzigen Zustandes
stimmen.
Lewis Luxton kann nicht nach Madrid reisen.
Belgien Prinz Alexandre de Mérode wird für Beibehaltung
gesamtdeutscher Mannschaft stimmen.
Brasilien
Jean Havelange und Major Silvio Magalhaes Padilha
wollen sich für uns einsetzen.
Chile
Dr. A. Rivera Bascur wird für uns stimmen.
Dänemark
Ivar Emil Vind ist nicht von der Botschaft aufgesucht
worden, da ein derartiger Schritt angesichts
der dänischen Empfindlichkeit unerwünschte Reaktionen
hätte hervorrufen können. Vind ist dagegen vom
dänischen Außenministerium davon unterrichtet worden,
daß die dänische Auffassung über die gesamtdeutsche
Mannschaft sich mit unserer decke.
Finnland
Erik von Frenckell erklärte, unserem Standpunkt aufgeschlossen
gegenüber zu stehen. Gab zu erkennen,
daß er sich in Madrid wahrscheinlich nicht exponieren,
sondern mit der Mehrheit stimmen werde.
J.W. Rangell wurde von unserer Handelsvertretung
nicht aufgesucht, da er bereits im Vorjahre sein
Desinteresse an der Frage deutlich zum Ausdruck gebracht
hat.
Frankreich
Francois Piétri, Armand Massard und Comte de Beaumont
sind von der Botschaft über das französische
Außenministerium um Unterstützung unseres Standpunk28
tes gebeten worden. Sie werden uns nach Ansicht des
Quai d'Orsay wie bisher unterstützen.
Griechenland
Admiral Lappas als designiertes neues griechisches
IOC-Mitglied versicherte, König Konstantin und er
seien gegen eine Änderung des gegenwärtigen Zustandes.
Großbritannien
Der Marquess of Exeter war nicht umzustimmen. Er
will jedoch auf der Tagung in Madrid nicht mit Anträgen
hervortreten.
Lord Luke erklärte, er sei persönlich für die Erhaltung
der gesamtdeutschen Mannschaft.
Kanada
A.Sidney Dawes kannte und interessierte sich für das
Problem nur wenig. Er brachte zum Ausdruck, daß man
es im IOC wegen der Form der deutschen Beteiligung
an den olympischen Spielen nicht zum Bruch mit der
Sowjetunion kommen lassen dürfe.
Kolumbien
Julio Gerlein Comelin will sich mit Nachdruck für
uns einsetzen.
Indien
...-D. Sondhi und Raja Bhalindra Singh sind beide
eindeutig für die gesamtdeutsche Mannschaft, werden
aber nicht an der Tagung teilnehmen.
Iran
Iranisches Außenministerium hat Einwirkung auf Prinz
Gholam Reza Pahlawi in unserem Sinn zugesagt. Dieser
selbst konnte von der Botschaft nicht erreicht werden,
da er sich auf Europa-Urlaub befindet. Iranisches
Außenministerium hat jedoch versichert, der
Prinz kenne die Problematik und werde den deutschen
Standpunkt vertreten.
Irland
Lord Killanin will unseren Standpunkt in Madrid unterstützen.
Er hält den Ausgang wegen des Einflusses
des Marquess of Exeter jedoch für ungewiß.
Island
Benedikt-G. Waage bezeichnete den Appell von Brundage
auch als seine Linie, legte sich jedoch nicht
fest. Offenbar findet vor der Abstimmung noch eine
nordische Regionalabsprache statt, wobei allerdings
nach Ansicht der Botschaft Reykjavik die NATOSolidarität
beachtet werden soll.
Italien
Giulio Onesti erklärte, auch für de Stefani, er habe
volles Verständnis für unseren Standpunkt. Botschaf29
ter gewann den Eindruck, daß beide bereit seien,
sich für die gesamtdeutsche Mannschaft auszusprechen.
Japan
Dr. Takaishi kann krankheitshalber nicht nach Madrid
reisen.
Dr. Ryotaro Azuma bejaht die gesamtdeutsche Mannschaft
vorbehaltlos.
Kenia
Reginald Stanley Alexander nahm Demarche der Botschaft
wohlwollend auf, ohne sich endgültig festzulegen.
Korea
Das koreanische Außenministerium hat volle Unterstützung
unseres Standpunktes zugesagt. Botschaft
wird mit Sang Beck Lee kurz vor seinem Abflug nach
Madrid sprechen. Ein „Ja“ kann erwartet werden.
Libanon
Cheik Gabriel Gemayel wird auch weiterhin für die
gesamtdeutsche Mannschaft eintreten.
Liechtenstein
Der regierende Fürst von Liechtenstein konnte erst
am 27. September aufgesucht werden. Bericht liegt
noch nicht vor.
Luxemburg
Großherzog Jean wird an der Sitzung teilnehmen. Im
Außenministerium fand Botschaft volles Verständnis
für unseren Standpunkt. Ein „Ja“ kann erwartet werden.
Marokko
... Mohammed Benjelloun hat sich in einem Brief an
unseren Konsul in Casablanca nicht klar geäußert.
Der marokkanische Erziehungsminister hat der Botschaft
gegenüber erklärt, Benjelloun instruiert zu
haben, in unserem Sinne für die Beibehaltung des
jetzigen Zu-standes einzutreten.
Mexiko
Marte - R. Gomez und General Jose de Clark haben
sich beide eindeutig für uns ausgesprochen.
Nigeria 29
Sir A. Ademola glaubt, daß sich in Madrid nichts an
der gesamtdeutschen Mannschaft ändern werde. Er ließ
durchblicken, daß er mit dem Marquess of Exeter befreundet
sei. Legte sich nicht fest, erklärte sich
aber bereit, unsere Argumente unvoreingenommen zu
prüfen und sich an Ort und Stelle zu entscheiden.
Neuseeland
Sir Arthur Porritt reist nicht nach Madrid.
30
Niederlande
Jonkheer Herman A. van Karnebeek hat gegenüber dem
niederländischen Außenministerium Unterstützung unseres
Standpunktes zugesagt.
Norwegen
O.Ditlev - Simonsen Jr. will ohne Vorbehalt für eine
gemeinsame deutsche Mannschaft eintreten.
Österreich
Ing. Dr. h.c. Manfred Mautner Ritter von Markhof
reist nicht nach Madrid.
Pakistan
Syed Wajid Ali reist nicht nach Madrid.
Panama
Das panamaische Außenministerium hat Dr. Agustin Sosa
angewiesen, sich für die Beibehaltung der gesamtdeutschen
Mannschaft einzusetzen.
Peru
Eduardo Dibos hat zugesagt, für uns zu stimmen.
Philippinen
Jorge Vargas wird vom philippinischen Außenministerium
„entsprechend“ instruiert. Seine positive Stellungnahme
dürfte uns sicher sein.
Portugal
Das portugiesische Außenministerium hat zugesichert,
auf General Raoul Pereira de Castro einzuwirken, daß
er gegen die volle Anerkennung des NOK der SBZ stimme.
Schweden
Bo Ekelund und Lt.-General Gustav Dyrssen wollten
sich nicht festlegen. Offenbar wollen sie sich erst
in Madrid über die allgemeine Stimmung unterrichten.
Ekelund will sich im SBZ- Fernsehen für die gesamtdeutsche
Mannschaft ausgesprochen haben.
Schweiz
Major Albert Mayer ist wiederholten Bitten der Botschaft
um eine Unterredung ausgewichen. „Nein“ wahrscheinlich.
Marc Hodler will nicht für zwei Mannschaften
stimmen, falls dann Spalterfahne gezeigt
und Becherhymne gespielt würde. Sucht nach rechtlichen
Argumenten für unseren Standpunkt.
Spanien
Baron de Guell hat sich unzweideutig auf deutschen
Standpunkt festgelegt.
Südafrika
Reginald Honey wird das tun, „was sein Freund Daume
von ihm will“.
31
Türkei
Türkisches Außenministerium hat jede Unterstützung
zugesagt. Über Gespräch der Botschaft mit Suat Erler
liegt noch kein Bericht vor. Dürfte mit „ja“ stimmen.
Uruguay
Dr. Alfredo Inciarte wird sich in Madrid für den
Fortbestand der gesamtdeutschen Mannschaft einsetzen.
Er glaubt, daß die Entscheidung möglicherweise
wiederum verschoben wird.
Venezuela
Dr. Julio Bustamante versprach, den deutschen Standpunkt
in Madrid zu unterstützen. Er will sich in
Madrid mit dem NOK für Deutschland absprechen.
Vereinigte Staaten von Amerika
Avery Brundage, John-Jewett Garland und Douglas F.
Roby sind eindeutig für uns. Brundage stimmt als
Präsident nur bei Stimmengleichheit ab.
(Dem Dokument ist noch eine „Abstimmungsliste“ mit mehreren Spalten
angefügt, in der das nach den Gesprächen erwartete Abstimmungsverhalten
durch kleine Kreuzchen markiert worden war.)“
DES AUTORS MADRID-BERICHT:
Ich war damals als Journalist in Madrid und muss als erstes einen
kapitalen Fehler jener Hamburger Dissertation korrigieren, den offensichtlich
sogar die Gutachter übersehen hatten: Der Autor hatte die
Schweizer Brüder Otto und Albert Mayer verwechselt!
Richtigzustellen wäre demzufolge als erstes: Albert Mayer war nie
Kanzler des IOC!
Der Doktorand meinte offensichtlich dessen Bruder Otto, ein Juwelier
in Lausanne, der zwar 20 Jahre Kanzler des IOC war, aber nie
Mitglied des Komitees.
Bruder Albert Mayer war hoher Offizier der Schweizer Armee,
Bürgermeister von Montreux und 1946 in das IOC gewählt worden.
Ich war mit ihm persönlich bekannt, was einen besonderen Hintergrund
hatte: Von der Gattin Albert Mayers wusste man, dass sie Griechin
war, die jeden Deutschen, dem sie begegnete, als erstes zu fragen
pflegte, ob er während des Zweiten Weltkriegs in der Nazi-Armee
gedient hatte. Antwortete der Befragte mit „Ja“ brach sie augenblicklich
jeden Kontakt zu ihm ab und hatte dafür ein gewichtiges Motiv:
Ihre Familie war von den Nazis ermordet worden. Als wir uns das erste
Mal begegneten, stellte sie auch mir diese Frage. Ich antwortete
wahrheitsgemäß mit „Nein“, was auch ein gutes Verhältnis zu ihrem
Mann zur Folge hatte.
32
Die IOC-Mitglieder waren am Nachmittag vor der Eröffnung der
Tagung - das Exekutivkomitee tagte schon - von einem spanischen
Millionär auf seinen Landsitz eingeladen worden, wo junge Stiere auf
ihre Arenakämpfe vorbereitet wurden und den IOC-Mitgliedern die
Möglichkeit geboten wurde, sich mit hölzernen „Schwertern“ als Toreros
gegen Jungstiere zu versuchen.
Dort begegnete mir der „richtige“ Albert Mayer zum ersten Mal in
Madrid. Er kam winkend auf mich zu und schilderte mir ein Ereignis,
das ihm wichtig erschien. Unter den die Arena umgebenden Olivenbäumen,
eröffnete er mir dann, dass er die zu erwartende Debatte
über die Anerkennung des NOK der DDR mit einer spektakulären Rede
zu eröffnen gedenke. Sein Thema sei ein Brief des Schweizer
BRD-Botschafters, über den er mich bat, Dritten gegenüber kein Wort
zu verlieren.
DER BRIEF AUS BERN
Wer die Bonner „Auftragsliste“ an die Botschafter in aller Welt gewissenhaft
gelesen hatte, stieß auch auf den Satz: „Major Albert Mayer
ist wiederholten Bitten der Botschaft um eine Unterredung ausgewichen.“
Das wiederum hatte den bundesdeutschen Botschafter in Bern offensichtlich
bewogen, Albert Mayer - er wusste wer wer war - entgegen
der strikten Weisung aus Bonn, mit den IOC-Mitgliedern nur Gespräche
zu führen, ihm einen Brief zu schreiben, in dem er ihn unmissverständlich
aufforderte, in Madrid gegen die Anerkennung der
DDR zu stimmen.
Mayer ließ mich in unserem Gespräch nur ahnen, was der Botschafter
ihm aufgetragen hatte. Seine Frau hatte noch hinzugefügt:
„Noch ist es nicht wieder so weit, dass die Deutschen Europa kommandieren.“
Während des Tages hatte die Zusammenkunft der Nationalen
Olympischen Komitees mit dem Exekutivkomitee des IOC stattgefunden.
Und zwar unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Journalisten waren
von Hostessen aus dem Saal „gekämmt" worden. Abends fasste
Avery Brundage die nicht sonderlich belangvollen Ergebnisse kurz
zusammen. Seine Pressekonferenz wäre vermutlich nach höchstens
zehn Minuten zu Ende gegangen, hätte nicht der Korrespondent der
britischen Agentur Reuter ihm die Frage gestellt, ob auch die gesamtdeutsche
Olympiamannschaft erörtert worden sei. Brundage verneinte,
gab dann aber zu verstehen, dass er persönlich für die Beibehaltung
der „gesamtdeutschen“ Mannschaft wäre und Grenoble als Ausrichter
der Winterspiele in Schwierigkeiten geraten könnte, wenn es -
wie bereits angedeutet - einer selbständigen DDR-Mannschaft ohnehin
die Visa verweigern würde. Diese Mitteilung löste eine Flut von
Fragen aus.
Auch die: „Könnte Grenoble die Spiele dadurch noch verlieren?"
33
„Das kann sein“ antwortete der IOC-Präsident, beendete damit aber
den Disput.
Aufsehen erregt hatte die Tatsache, dass eine Delegation aus Banff
(Kanada) - dieser Wintersportort war bei der Vergabe der Spiele
Grenoble nur knapp unterlegen gewesen - in der spanischen Hauptstadt
eingetroffen war, und wissen ließ, dass man bereit sei, die Bewerbung
zu wiederholen.
Am nächsten Morgen hatte die BRD-Delegation gegenüber ihren
Journalisten Alarm geschlagen, weil man erfahren hatte, dass das IOC
am Vortag auch die Delegation des NOK der DDR unerwartet vor die
IOC-Exekutive geladen hatte, um noch einmal deren Haltung zu zwei
Mannschaften zu erfahren. Man war vor allem irritiert, dass die BRDVertreter
- Dr. Danz und Rechtsanwalt Dr. Wülfing - davon nicht informiert
worden waren.
In die Hotelhalle schleppten inzwischen Hotelstewards große Briefumschläge.
Da sie anschließend nur an die IOC-Mitglieder verteilt
wurden, bat ich den Dänen Ivar Emil Vind, ob er mir den Brief kurz
ausleihen würde, was er tat. So erfuhr die DDR-Delegation auf diesem
Umweg von dem Inhalt, einem „Rechtsgutachten“ das im Auftrag
Daumes verfaßt und nun verteilt worden war. Der Autor war der Heidelberger
Prof. Dr. Karl Doehring, der im Auftrag seines NOK auf 30
Seiten zu „begründen“ versucht hatte, warum das IOC sogar juristisch
„verpflichtet“ sei, die „gesamtdeutsche“ Mannschaft auch für die Zukunft
beizubehalten.
Am Donnerstag, dem 7. Oktober, trat der Kongress dann zu seiner
ersten Sitzung zusammen. Sichtblenden wurden vor die Glastüren
gerückt und ständige „Posten“ sorgten dafür, dass kein Unbefugter
einen Blick hineinwerfen konnte.
Ich hatte mir einen Platz gesichert, von dem ich sehen konnte, dass
Albert Mayer der erste Redner war. Er hatte - wie er mir hinterher bestätigte
- den Brief des BRD-Botschafters Wort für Wort vorgelesen.
Brundages Empörung war erkennbar. Daumes Antwortrede schien
sie nicht zu entkräften. Brundage verkündete eine Pause, danach
meldeten sich zahlreiche IOC-Mitglieder zu Wort und die Mehrzahl
deutete an, dass sie für die Anerkennung des DDR-NOK votieren
würde. Daume gelang es jedoch, die Debatte in die Länge zu ziehen.
Er hoffte offensichtlich, durch eine Vertagung das Blatt noch wenden
zu können.
Der Zufall führte dazu, dass ich dem König von Griechenland im
Fahrstuhl begegnete, der sich beklagte, dass ein entfernter Verwandter
und spanischer Verwandter das IOC zu einem Cocktail geladen
habe, die endlose Diskussion aber den Zeitplan über den Haufen werfe.
Ich riet ihm im Spaß, sie durch ein königliches Wort zu beenden.
Mit den Worten „Wir sollten unserer Einladung folgen. Es ist doch
ohnehin alles klar!“ sah Brundage eine Chance, die Debatte zu beenden.
So geschah es auch und die Bemerkung „Es ist doch alles klar!“
hatte den Disput faktisch beendet. Brundage vertagte auf den näch34
sten Tag, aber die Würfel waren gefallen: Mit 52 zu sieben Stimmen
wurde die DDR als „Ostdeutschland“ vom IOC anerkannt.
Daume gab nach einem Telefongespräch mit dem Bonner Pressechef
von Hase für die deutschen Journalisten eine Pressekonferenz
und erklärte: „Wir müssen das zu unserem Sieg machen und herausstellen,
dass es das Optimum war, was unter den Umständen und der
Stimmung auf dem Kongress überhaupt möglich war.“
Für den Nachmittag hatte Daume noch einen „Kronzeugen gegen
die DDR“ eingeladen: Werner Scharch. Der ehemalige Radsportpräsident
der DDR war allen Ernstes per Flugzeug herangeholt worden, um
vor dem Kongreß über „die Machenschaften der Zonenmachthaber
und die Verletzung der Amateurregel“ durch die DDR-Sportbewegung“
auszusagen, wie er bei seinem Eintreffen im Hotel vor Journalisten
erklärte. Scharch war vor seiner Radsportlaufbahn - er hatte die Weltmeisterschaft
1960 in die DDR geholt - im Apparat des ZK der SED
tätig gewesen und war danach vor seiner Einweisung in eine Alkohol-
Entziehungsanstalt in die BRD übergesiedelt.
Diesen Vorschlag Daumes lehnte Brundage erbost ab. Sein Kommentar:
„Keine Achtgroschenjungs im IOC“.
35
ALS DIE DDR ANGELWELTMEISTER WAR
Von KLAUS HUHN
Im Hinblick auf die endlosen Behauptungen, in der DDR seien nur
olympia-medaillenträchtige Sportarten gefördert worden, zitieren wir
hier einen Bericht („Neues Deutschland“) über die im September 1961
im Saale-Elster-Kanal bei Merseburg stattgefundenen Angelweltmeisterschaften:
Neue Weltmeister im sportlichen Angeln wurden der
Franzose Raymond Legouge in der Einzel- und die gastgebende DDR
in der Mannschaftswertung. Die DDR-Angler lösten damit Belgien an
der Spitze ab. Der Triumph für den Deutschen Angler-Verband (DAV)
wurde noch durch einen zweiten Platz von Helmut Schmidt in der Einzelwertung
perfekt. Die ersten Drei in der Mannschaftswertung: 1.
DDR 44 P., 2. Belgien 64 P., 3. Frankreich 69 P. Unter den 10.000
Zuschauern, die bei hochsommerlichen Temperaturen das Geschehen
begeistert verfolgten, befanden sich auch der Stellvertreter des Vorsitzenden
des Ministerrates, Paul Scholz, sowie der Präsident der CIPS
Karl Kreitschi (Österreich).
Der ND-Report: „Vielleicht gibt es niemanden, der auf die Idee käme,
eine Angelweltmeisterschaft jenem Titelkampf gleichzusetzen, der
Jahr für Jahr unter dem Sternenbanner der Ermittlung des angeblichen
weltbesten Makkaroni-Essers gilt. Aber Hand aufs Herz, wer von
uns hat die Ankündigung dieser Weltmeisterschaft am Elster-Saale-
Kanal nicht doch mit einem skeptischen Lächeln aufgenommen?
Dieses Lächeln zu bekräftigen oder zu widerlegen - das war, offen
gesagt, das Problem, vor dem der Reporter stand.
Die äußeren Eindrücke sind immer die ersten. Ein Kanalufer durch
weiße Plastikbänder in Abschnitte und Sektoren aufgeteilt ist die Wettkampfstätte.
In jedem der zehn Meter breiten Abschnitte ein Angler,
umgeben von all den Utensilien, die für den Fischfang mit der Rute
unerlässlich sind. Weiße und gelbe Startnummern über Trainingsjacken,
auf denen man `France´ liest oder die Trikolore-Farben der Belgier
sieht. Oben auf der Böschung je ein Kampfrichter im blauen Trainingsanzug,
das Wettkampfprotokoll auf den Knien, die Stoppuhr in
der Hand. Jede der zehn Mannschaften hat fünf Mann am Start. In
den fünf Sektoren haben sie ihre ausgeloste `Sitzfolge´: Der erste ist
immer ein Italiener, der dritte immer ein Österreicher, der sechste immer
ein Holländer, der zehnte immer ein Franzose.
Fünf Minuten vor neun Uhr rollt ein Böllerschuss über die Böschung.
Fischfutter aus bis dahin sorgsam behüteten Säcken und
Beuteln wird mit vollen Händen ins Wasser geworfen. Der Italiener
Ettore Selva schießt sogar mit einem Katapult in die Kanalmitte. Fünf
Minuten später der zweite Schuss. Die Stoppuhren beginnen zu laufen,
die Schnüre werden mit leisem Pfiff über das Wasser gezogen,
bis der Haken versinkt und fünfzig Posen unter fünfzig Ruten verkünden,
dass alle den Kampf aufgenommen haben.
36
Das ist die Wettkampfseite, der Innenraum, um eine Anleihe bei
den Leichtathleten zu riskieren. Am anderen Ufer die `Ränge´ dicht
bevölkert und voll besetzt, wo die Favoriten ihre Plätze haben. Die
Zuschauer, Fachleute versteht sich, und als der Franzose Legouge
den ersten zappelnden Blei aus dem Wasser zieht, feiert ihn so herzlicher
Beifall, dass der Präsident der Internationalen Angler-Föderation
(CIPS), der Österreicher Kreitschi, bewundernd feststellt: `Prächtige
Stimmung. Ein 2,10-m-Springer würde bei uns nicht mehr Jubel ernten.
´
Doch könnte der Skeptiker dem entgegenhalten, dass das äußere
Bild zu täuschen vermag und damit längst nicht bewiesen sei, dass
diese Weltmeisterschaft unter den sportlichen Weltmeisterschaften
renommierterer Disziplinen bestehen kann. Statt vieler Worte: Da ist
Raymond Legouge, dem das Los die `Außenbahn´ am Kanalufer zuwies.
Ein Pariser Arbeiter, der wochentags Gasrohre verlegt und dessen
Gesicht verrät, dass er am Ufer und im Schilf schon Jahre verbracht
hat. Er weiß nicht nur die Angel zu führen, dem Haken die richtige
Tiefe zu geben, den treffenden Köder zu wählen, sondern ist auch
eine drahtige Figur, gewandt trotz seiner 38 Jahre, ununterbrochen in
der Hocke das Wasser beobachtend. Dieser Raymond sollte kein
Sportler sein? Jeder, der ihn sah, wird das weit von sich weisen, jeder,
der erlebte, wie er seine 17 Fische herausholte, wird den Hut vor ihm
ziehen.
Neben ihm bewarb sich der Jugoslawe Jevrem Popovic um den
Weltmeistertitel einer Föderation, die übrigens für sich in Anspruch
nehmen darf, eine der Mitgliederstärksten Föderationen unseres Kontinents
zu sein. Als Legouge seinen zwölften Fisch in den Köcher zog
und Sekunden später wieder hineinwarf ins Wasser, weil er sich nach
einer flüchtigen Probe auf dem `Meßbrett´ als zu klein erwies, hatte
der Jugoslawe noch nicht einen einzigen Fisch gefangen, und es waren
77 Minuten vorüber. Wenig später zappelte dann auch an seinem
Haken ein Fisch, und das Publikum spendete vom anderen Ufer nicht
viel weniger Beifall als bei Legouges erstem oder drittem Fang.
Es muss allerdings auch gesagt werden, dass diese VIII. Weltmeisterschaften
wohl die besten bisher waren. Nie zuvor war in der Welt
eine Angel-Weltmeisterschaft durch das Fernsehen übertragen worden.
Nie zuvor hatte man so viele und so begeisterte Zuschauer gezählt,
wie am Elster-Saale-Kanal an diesem Septembersonntag.
Damit niemand glaubt, der Berichterstatter wäre angesichts all dessen
aus dem Lager der Skeptiker ins Lager der Fanatiker übergelaufen,
sei noch erwähnt, dass das Wetter das schlechteste Angelwetter
war, was man sich nur denken konnte. Dass die Franzosen dennoch
den Titel mit Erfolg verteidigten, soll als letzter Beweis dafür gelten,
dass es hier um sportliches Können geht und nicht um Glück.
In der Hoffnung, den Skeptikern damit wenigstens einige ihrer oft
nicht allzu überzeugenden Argumente entwunden zu haben, fügt der
Reporter noch hinzu, dass diese Weltmeisterschaft zudem ein Wett37
kampf war, wie ihn die internationale Sportwelt - mit Ausnahme der
Bundesrepublik - schätzt. Es hingen die Fahnen aller teilnehmenden
Länder. Und man sah die Fahnen von NATO-Ländern, Staaten des
Warschauer Paktes und der Neutralen. Und doch schien man eine
große Familie zu treffen, was von allen, ob sie von der Themse, von
der Donau, von der Seine oder von der Weichsel an den Elster-Saale-
Kanal gekommen waren, immer wieder gewürdigt wurde.
Den letzten Skeptikern aber sollte man die Frage stellen: Hand aufs
Herz, war die Weltmeisterschaft von Monza vielleicht sportlicher? Sie
kostete 15 Menschen das Leben und wird dennoch als Sport verteidigt.
Vielleicht sogar von manchem der Skeptiker ...“
38
WIE DIE DDR-RUNDFAHRT BEGANN
UND WIE SIE ENDETE
Von FRANK CRONAU
Gestartet worden war sie im Herbst 1948 mit einem handfesten
Streit im Zimmer eines Hauses in Berlins Zentrum. Der Vorstand des
am 1. Oktober 1948 gegründeten Deutschen Sportausschusses (DS) -
Paten waren die Gewerkschaften (FDGB) und die Jugendorganisation
(FDJ) der Sowjetischen Besatzungszone – war nach vielen einmütigen
Entscheidungen bei der Planung der Radrenn-Etappenfahrt heftig aneinandergeraten.
Der Anlass lässt sich heute nur mühsam nachvollziehen:
Ein radsportbegeisterter und der neuen Sportbewegung wohlgesonnener
Kräuterlikörfabrikant hatte dem DS vorgeschlagen, ein
Amateuretappenrennen durch die Sowjetische Besatzungszone zu
veranstalten und wollte die auch finanzieren. Ein Teil der Vorstandsmitglieder
war dafür, die anderen dagegen und beide Seiten machten
triftige Gründe geltend. (Dies auch zum Thema im Sport sei alles von
der SED kommandiert und anschließend „durchgeführt“ worden.) Da
der Sportausschuss entschieden gegen jeglichen Profisport - und den
bereits wirkenden nur widerwillig akzeptierte -, wollten auch die „Paten“
nachdrücklich den Amateursport fördern. Zudem waren Etappenrennen
in Deutschland schon seit Jahrzehnten fast nur von Profis bestritten
worden, weil Amateure ja wochentags ihrer Arbeit nachgehen
mussten. Alle bislang in Deutschland ausgetragenen Amateuretappenrennen
zogen sich also über Wochen hin, weil sie nur Sonntags ausgetragen
werden konnten. Das erste fand übrigens 1911 statt, das
nächste in den zwanziger Jahren.
Der gutgemeinte Vorschlag des Likörherstellers stieß vor allem bei
den Arbeitersportlern im Vorstand auf energischen Widerspruch, da
ihnen die neue Sportbewegung als Partner eines Schnapsbrenners
unpassend erschien. Einer von ihnen, der stellvertretende Leiter des
DS, Heinz Dose, hatte in einer Nachbetrachtung kommentiert: „Insbesondere
in Berlin standen die Amateure immer im Schatten ihres Bruders
des Berufssports. Er war es, der die Massen anzog und so den
Amateursport zu einem Aschenbrödeldasein verurteilte, obwohl doch
gerade der Radsport mehr als manche andere Sportarten im wahrsten
Sinne des Wortes ein Volkssport sei.“
Hinzu kam noch, dass auch die sowjetische Besatzungsmacht nicht
die geringste Sympathie für Profisport aufbrachte und Berufsboxen,
Ringen und den Profiradsport nur erlaubt hatte, weil man ihnen eingeredet
hatte, dass es sich dabei in Deutschland weniger um Sport als
um „Show“ handelte. Der fast jeden Sonntag bei den Profiboxern überfüllte
Friedrichstadtpalast oder das bei Profiradrennen rangvolle Stadion
Mitte waren zudem tatsächlich die attraktivsten Unterhaltungsveranstaltungen
in Berlin.
39
Der Streit, der sich an der Etappenfahrt entzündet hatte, endete
damit, dass man übereinkam, das Rennen selbst zu organisieren, was
ein Wagnis ohnegleichen war. Man gründete ein Orgkomitee und beauftragte
es, die erste Großveranstaltung der neuen Sportorganisation
zu arrangieren! Die die erste „Ostzonen-Rundfahrt“ organisierten, taten
das mit beispiellosem Erfolg und waren die drei „Heinzens“: Heinz
Richter I und Heinz Richter II als die Fachleute und Heinz Boese als
der Mann vom DS.
Nicht weniger als 347 Briefe mussten sie schreiben, bevor das
Rennen gestartet werden konnte, Briefe, die vor allem der Verpflegung
der Aktiven und des Begleitpersonals galten – in der Sowjetischen
Zone hatte jeder Bürger noch seine Lebensmittelkarte. Beflügelt wurden
sie von der Begeisterung der Rennfahrer!
SCHLUSS-KOMMENTAR DES „SPORTECHO“
„Nachdem die erste Ostzonen-Rundfahrt beendet ist, hat die riesengroße
Anteilnahme der Bevölkerung in allen Ländern der sowjetischen
Besatzungszone den Beweis erbracht, daß der Radsport ein
wahrer Volkssport ist. An dieser Stelle wollen wir nicht vergessen, die
Leistungen unserer Radsportamateure besonders zu würdigen. Wenn
Hunderttausende während der Rundfahrt am Straßenrand den `Giganten
der Landstraße´ zujubelten, sie mit Blumen empfingen, dann werden
die wenigsten unserer Leser ermessen können, was für eine Leistung
die Teilnehmer vollbrachten, als es hieß, in sieben Etappen eine
Strecke von rund 1200 km mit dem Rad zurückzulegen.
Wieviel Idealismus zum Rennfahren gehört, kann nur derjenige ermessen,
der gesehen hat, wenn nach stundenlangem Jagen ein Fahrer
durch Materialschaden aus der Spitzengruppe ausscheiden musste
und sich dann zäh und verbissen auf Verfolgerjagd begibt. Zum
Radsport gehören nicht allein Kraft und Können, vielmehr muß auch
„Rennfahrerglück" mit dabei sein.
Die Ostzonen-Rundfahrt 1949 ist beendet, und wir wollen dabei
nicht vergessen, neben den Aktiven vor allem dem DS und unseren
Trägerorganisationen, FDJ und FDGB, zu danken. Ein ganz besonderes
Lob verdient hierbei unsere Volkspolizei, die durch ihre mustergültige
Absperrung aller Durchfahrtsorte und Etappenziele wesentlich
zum Gelingen der Rundfahrt beigetragen hat.“
Kommentare der „Sportecho“-Sonderausgabe (0,50 DM): „Die
Verpflegung wurde mit Hilfe der DWK (Deutsche Wirtschaftskommission)
und durch das Entgegenkommen der örtlichen Behörden und der
demokratischen Organisationen schließlich in so reichem Maße beschafft,
daß alle Teilnehmer der Fahrt aus den Überraschungen nicht
herauskamen. So mancher „Freßkoffer", der von skeptischen Rennfahrern
auf den Begleitwagen geschoben wurde, ist während der ganzen
Fahrt nicht geöffnet worden. Das begeisterte Lob, das alle Fahrer
und begleitenden Teilnehmer der „Tour“ der so reichhaltigen und erst40
klassigen Verpflegung zollten, wird Heinz Boese für die viele Mühe
und Arbeit, die er sich gerade im Heranschaffen der „Atzung“ gemacht
hatte, entschädigt haben. Wenn von den 60 gestarteten Fahrern 53
nach 7 schweren Etappen das Ziel in der Puschkinallee in Berlin erreicht
haben, dann muß man sich darüber klar sein, daß dieses glänzende
Ergebnis nur erzielt werden konnte, weil die Fahrer stets mit
einer wahrhaft nahrhaften Unterlage an die Starts zu den Etappen gehen
konnten.
Aber nicht nur für das leibliche Wohl der Akteure war bestens vorgesorgt,
sondern der Deutsche Sportausschuß konnte vor Beginn der
Fahrt jedem einzelnen Fahrer auch zwei Schlauchreifen, zwei Rennhosen
und ein Trikot übergeben. Wie uns Heinz Richter I und II nach
Beendigung des großen Rennens mitteilten, werden die Erfahrungen
dieses Jahres die Durchführung der Ostzonenrundfahrt im kommenden
Jahre selbstverständlich wesentlich beeinflussen. So wird es auf
keinen Fall mehr Etappenziele auf Aschenbahnen, d. h. also auf
Sportplätzen mit zu engen Einfahrtsmöglichkeiten, geben.
Ein unerwartetes Bild ergibt die Übersicht über die aufgetretenen
Materialschäden. Überraschend gering ist die Anzahl der Reifenschäden,
von denen insgesamt nur 60 registriert wurden. Man braucht
sich nur zu vergegenwärtigen, daß 60 Fahrer an der Tour beteiligt waren,
daß also 120 Vorder- bzw. Hinterräder auf 1200 km langer Strecke,
die teilweise sogar schlechten Straßenbelag hatte, aufs äußerste
beansprucht wurden. Die verblüffend geringe Zahl von nur 60 Reifenschäden
stellt dem Material ein hervorragendes Zeugnis aus. Im Verhältnis
dazu sind Gabelbrüche und Rahmenbrüche zahlreicher gewesen.
An Rahmenbrüchen hat Heinz Richter zehn Fälle notiert, und
acht Fahrer meldeten sich mit Gabelbrüchen.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß Fahrer und
Radmaterial die schwere Zerreißprobe der sieben Etappen der ersten
Ostzonen-Rundfahrt ausgezeichnet bestanden haben.“
NUR EIN „ZWISCHENFALL“
Nach dem Start am Brandenburger Tor musste man einige Kilometer
durch die Westsektoren fahren, weil sonst die erste Etappe nach
Rostock mehr als 250 km lang gewesen wären. Das Ereignis war bei
der Westberliner Polizei ordnungsgemäß angemeldet worden und Arges
ahnend wunderten sich die Veranstalter über das starke Polizeiaufgebot
hinter dem Brandenburger Tor. Allerdings trat dann nur ein
Westberliner Polizist mitten auf die Straße und bedeutete dem Fahrer
des Wagens des Hauptschiedsrichters zu halten. Sein Gesicht verriet,
dass er den Auftrag lange zuvor erhalten hatte.
Sein Kommando war knapp: „Kratzen Sie die Plakate ab. Andernfalls
dürfen Sie nicht weiterfahren!" Er meinte die Werbeplakate des
„Neuen Deutschland“ und des als Montagsausgabe des „ND“ erscheinenden
„Vorwärts“. Der Hinweis, dass der Hauptschiedsrichter in dem
41
Wagen sitze, rührte ihn nicht. Für ihn galt allein: In Westberlin verbietet
Polizei-Order jegliche Werbung für Zeitungen der SED und da dieses
Begleitfahrzeug der 1. Ostzonen-Rundfahrt auf beiden Türen für
SED-Zeitungen warb, begann die erste Etappe mit einem polizeilichen
Haltekommando.
Der Zwangsaufenthalt nahm einige Zeit in Anspruch, denn der
„Aufkleber“ hatte soliden Litfaßsäulenleim verwendet, der sich als ungemein
zähklebig erwies. ...
Einer der Teilnehmer von damals, der inzwischen verstorbene Rudi
Kirchhoff, erinnerte sich in einem Buch des Auftakts aus seiner Sicht:
„Ich stand in der ersten Reihe am Brandenburger Tor, war Mitglied der
ersten Berliner Mannschaft und trug die Startnummer 3. Erich Honecker
gab als Vorsitzender der FDJ den Start frei, und wir flitzten los.
Ich kam erst nicht richtig in Gang, aber auf der Etappe von Erfurt ins
damalige Chemnitz war ich mit von der Partie, als losgestiefelt wurde.
Sieben Minuten haben wir an diesem Tag dem Feld abgenommen.
Die Ausreißerei brachte uns auch allerhand Prämien ein. In Jena holte
ich mir einen Reifen, in Stadtroda hatte der Landrat für Ausreißer ein
Stück Butter gestiftet.“
Die Frage der Preise und Prämien hatte schon bei der Vorbereitung
eine Rolle gespielt. Man wollte den Amateuren keine Geldpreise zahlen
und hatte deshalb alle Willigen gebeten Sachprämien zu stiften. So
manchem aber fiel nichts ein und er zahlte dennoch Geld mit dem
Hinweis, der Rennfahrer wüsste besser, wo er sich einen Reifen kaufen
konnte. Dennoch ist die Liste der Prämien aufschlussreich:
1. Etappe: 1 Reifen für Gaedicke, 1 Flasche Trinkbranntwein für Gaedicke,
(die ließ sich für eine dreistellige Summe einlösen), 1 Reifen für
Schellhammer, 1 Flasche Trinkbranntwein für Schellhammer, 1 Reifen
für Lehmann, 1 Flasche Obstsaft für Lehmann, 1 Dauerwurst für Zieger,
1 Dauerwurst für Körnicke, 1 Holzteller für Berlin I, 1 Kupferteller
für Bartoszkiewicz, 1 Holzteller für Gaede, 1 Schreibgarnitur für Digulla,
1 Pokal für Lohse, 1 Leuchter für Urban, je 1 Buch für Schatz, Dietrich
und Hamel, 1 Anker für Hey - Unbekannt 1 Figur für Sternberg -
Jugendamt je 1 Buch für Korner und Baschke, 1 Trikot Bartoszkiewicz,
3 Goethe-Bände Bartoszkiewicz.
2. Etappe: 80 DM für Dreißig, 60 DM für Busse, 50 DM für Lehmann,
30 DM für Hamel, 1 Pokal für Dreißig, 100 DM für Dreißig, je 1 Reifen
für Lipfert, Dreßler, Hamel und Kirchhoff, 1 Reifen für Dietrich, 50 DM
für Dietrich, 50 DM für Dreißig, 50 DM für Gaedicke - Wittenberge
(Landtagspräsident): 1 Konfektschale für Dietrich, FDGB: 1 Marmorblock
für Dietrich, 1 Reisewecker Busse, 1 „Wisent" Scherner, 1 Tischlampe
Urban, 1 Plakette Bartoskiewicz, 1 Plakette Migaschewski, 1
Schreibzeug Lehmann.
3. Etappe: 1 Reifen Dreißig, je 1 Fl. Obstsaft Faschke und Weinert.
Bergprämie: 1 Fl. Obsts. Weinert, 1 Fl. Obsts. Baschke, 50 DM
Weinert, 30 DM Baschke, 20 DM Mohaupt, 1 Fl. Obsts. Mohaupt,
Spitzenfahrer (BZ): 1 Dauerwurst Weinert, 1 Dauerwurst Baschke,
42
Magdeburg (Rat der Stadt): 1 Ehrenpreis Weinert, 50 DM Weinert,
(unbekannt), 1 Ehrenpreis Baschke, 30 DM Baschke, 1 Stoppuhr
Höhne, 20 DM Höhne, 1 Pokal Höhne, 1 Koffer Körner, 1 Koffer Grindel,
1 Aschenbecher Friese, 2 Polsterstühle Lipfert, 1 Koffer und Trikots
Gaede, 1 Koffer Arndt, 1 Aschenbecher Kölling und 1 Trikot Riemann.
4. Etappe: Aschersleben (Bergprämie): 50 DM Horn, 30 DM Riemann,
20 DM Bartoskiewicz, 1 Reifen Horn, 50 DM Horn, 30 DM Trefflich, 20
DM Höhne, Sangerhausen (Bergprämie): 50 DM Thiemichen, 1 Geldbrief
Bartoszkiewicz, 1 Trainingsanzug und Schuhe Bartoszkiewicz, 1
Trainingsanzug und Schuhe Gaede, 1 Trainingsanzug Friese, 1 Fotoapparat
Hey, 1 Trainingsanzug und Schuhe Hey, (KSA): 1 Reifen Hey,
1 Trainingsanzug Trefflich, 1 Tafel Schokolade Scherner, 1 Trikot und
Schuhe Scherner.
5. Etappe: 50 DM Hey, 30 DM Lehmann, 20 DM Zieger, 1 Satz Reifen
Hey, 1 Satz Reifen Lehmann, 1 Reifen Kirchhoff, Stadtroda (Landrat):
je 1 Paket Butter Sternberg, Horn, Gräbner, Kirchhoff, 1 Porzellanteller
Horn, 1 Buch Horn, 1 Anzugstoff Gräbner, 1 Herrenanzugstoff Horn, 1
Holzteller Kirchhoff, je 1 Chronik Gräbner, Kirchhoff, Horn, 1 Reifen
Gräbner, 1 Reifen Horn, 1 Reifen Kirchhoff, 1 Reifen Trefflich, Chemnitz
Oberbürgermeister: 1 Plakette und Urkunde Horn, 1 Plakette
Gräbner, 1 Taschenuhr Gräbner, 1 Holzteller Kirchhoff, 1 Rennrahmen
(FDJ) 1 Trainingsanzug Urban, 1 Rennrahmen Hey, 1 Rennrahmen
Horn.
6. Etappe: 1 Anzugstoff Kirchhoff, 1 Untergarnitur Thiemichen, 1
Oberhemd Trefflich, 1 Pokal Trefflich, 1 Schnitzarbeit Schatz, 1 Hemd
Bartoszkiewicz, 1 Paar gef. Handschuhe Weinert, 1 Foto Bartoszkiewicz,
1 Uhr Richly, 1 Radio Bartoszkiewicz, 50 DM Weinert, 1 Armbanduhr
Busse, 300 DM Leipzig I, 1 Präsentkorb Meister, 50 DM Bartoszkiewicz,
(Rat der Stadt): je 3 Bände Goethe Bartoskiewicz,
Weinert, je 1 Goethe-Mappe Schatz, Gräbner, Kirchhoff, Lehmann,
Urban, 1 Trainingsanzug Busse, 1 Trainingsanzug Körner, je 1 Kette
Busse, Thiemichen, 1 Emaillierung Busse.
7. Etappe: 1 Keramikvase Plitt, 1 Keramikvase Gaede, 1 Fl. Trinkbranntwein
Gaede, 1 Federzeichnung Schatz, 1 Präsentkorb Schatz, 1
Präsentkorb Körner, 1 Silberschale Schatz, 1 Holzteller Schatz, 250
DM Schatz.
Der Sieger der Rundfahrt, Max Bartoszkiewicz, war ein Westberliner
und in die Mannschaft Berlin I aufgenommen worden, auch um die
Einheit Berlins zu bekunden.
43
DIE SIEGER UND IHRE STRECKEN
1.Ostzonen-Rundfahrt 1949
7 Etappen 1136 km - Sieger Max Bartoszkiewicz (Berlin I)
2.DDR-Rundfahrt 1950
10 Etappen 1825 km - Bernhard Trefflich (Thüringen)
3.DDR-Rundfahrt 1951
10 Etappen 1747 km - Bernhard Wille (Eisleben)
4.DDR-Rundfahrt 1952
8 Etappen 1539 km - Erich Schulz (SV Post)
5.DDR-Rundfahrt 1953
9 Etappen 1672 km - Gustav Adolf Schur (DDR I)
6.DDR-Rundfahrt 1954
8 Etappen 1503 km - Gustav Adolf Schur (SV Wissenschaft)
7.DDR-Rundfahrt 1955
7 Etappen 1407 km - Dieter Lüder (EV Empor)
8.DDR-Rundfahrt 1956
10 Etappen 1566 km - Alphonse Hermans (Belgien)
9.DDR-Rundfahrt 1957
8 Etappen 1576 km - Eddy Pauwels (Belgien)
10.DDR-Rundfahrt 1958
8 Etappen 1476 km - Erich Hagen (DDR I)
11.DDR-Rundfahrt 1959
9 Etappen 1432 km - Gustav Adolf Schur (DDR)
13.DDR-Rundfahrt 1952
9 Etappen 1280 km - Klaus Ampler (SC DHfK I)
14.DDR-Rundfahrt 1963
8 Etappen 1271 km - Klaus Ampler (SC DHfK I)
15.DDR-Rundfahrt 1965
8 Etappen 1000 km - Axel Peschel (SC Dynamo I)
16.DDR-Rundfahrt 1966
6 Etappen 954 km - Dieter Grabe (SC DHfK II)
17.DDR-Rundfahrt 1967
8 Etappen 1131 km - Axel Peschel (DDR-Vierer)
18.DDR-Rundfahrt 1968
7 Etappen 985 km - Dieter Grabe (SC DHfK)
19.DDR-Rundfahrt 1971
6 Etappen 762 km - Wolfgang Wesemann (DDR II)
20.DDR-Rundfahrt 1972
6 Etappen 722 km - Fedor den Hertog (Niederlande )
21.DDR-Rundfahrt 1973
7 Etappen 948 km - Dieter Gonschorek (DDR)
22.DDR-Rundfahrt 1974
7 Etappen 873 km - Hans-Joachim Hartnick (DDR)
23.DDR-Rundfahrt 1975
7 Etappen 899 km - Hans-Joachim Hartnick (DDR I)
24.DDR-Rundfahrt 1976
44
8 Etappen 1162 km - Siegbert Schmeißer (DDR I)
25.DDR-Rundfahrt 1977
9 Etappen 1071 km - Bernd Drogan (DDR)
26.DDR-Rundfahrt 1978
7 Etappen 1035 km - Bernd Drogan (DDR I)
27.DDR-Rundfahrt 1979
7 Etappen 978 km - Bernd Drogan (DDR I)
28.DDR-Rundfahrt 1980
7 Etappen 986 km - Falk Boden (DDR I)
29.DDR-Rundfahrt 1981
7 Etappen 914 km - Lutz Lötzsch (DDR)
30.DDR-Rundfahrt 1982
7 Etappen 830 km - Bernd Drogan (DDR II)
31.DDR-Rundfahrt 1981
7 Etappen 939 km - Olaf Ludwig (DDR I)
32.DDR-Rundfahrt 1984
7 Etappen 907 km - Falk Boden (DDR I)
33.DDR-Rundfahrt 1985
6 Etappen 1008 km - Olaf Ludwig (DDR I)
34.DDR-Rundfahrt 1986
7 Etappen 844 km - Uwe Ampler (DDR I)
35.DDR-Rundfahrt 1987
7 Etappen 1451 km – Uwe Ampler (DDR I)
36.DDR-Rundfahrt 1988
7 Etappen 990 km - Uwe Raab (DDR)
37.DDR-Rundfahrt 1989
9 Etappen 1015 km – Uwe Ampler (DDR)
FINALE WEITAB VON BERLIN
Die letzte Etappe der letzten DDR-Rundfahrt endete am 17. September
im erzgebirgischen Schwarzenberg, 223,5 km entfernt von
Berlin, wo die erste gestartet worden war. Der Rat der Stadt gab einen
Empfang und ahnte vielleicht nicht, dass dies das Finale der 275
Etappen DDR-Rundfahrt war. An den Tischen wurde nicht nur über die
eben beendete Fahrt geredet, sondern auch über die längst beendeten.
Es waren sogar welche in der Runde, die die erste Fahrt schon
miterlebt hatten und natürlich nach deren Sieger ausgefragt wurden.
Max Bartoszkiewicz war, als er die Premiere gewann, schon 35 Jahre
alt und hatte vor dem Krieg manches klassische Rennen gewonnen.
Von Beruf war er Zeitungsfahrer, damals ein Gewerbe, in dem gut
verdient wurde. Schon an den Rotationsmaschinen wurden die riesigen
Rucksäcke gepackt, mit denen die Radfahrer durch den Morgenverkehr
zu den Kiosken hetzten. Das waren harte Wettfahrten,
denn die erste Zeitung, die der Händler erhielt, war auch die meist
Verkaufte. Bartoszkiewicz hatte den „Kurier" ausgefahren. Eines Tages
verkaufte der nicht mehr genug und stellte sein Erscheinen ein.
45
Der Rundfahrtsieger fand danach nie wieder Arbeit. Er litt darunter
mehr, als man ihm anmerkte. Anfang November 1968 schied er freiwillig
aus dem Leben.
Wir leerten das letzte Glas im Gedenken an diesen großen Rennfahrer,
der 1949 mitgeholfen hatte, die Tradition der DDR-Rundfahrt
zu begründen. Niemand ahnte, dass auch in Schwarzenberg mancher
demnächst seine Arbeit verlieren würde…
46
DOKUMENTATION
DAS DORTMUNDER FRIEDENSFEST 1983
Im Mai 1984 erschien – herausgegeben von der “Initiative Sportler
für den Frieden – Sportler gegen Atomraketen“ in Dortmund – eine
Dokumentation, die das „Internationale Sport- und Spielfest – Sonntag
11. Dezember 1983 – Westfalenhalle Dortmund“ zum Thema hatte.
Da keine bundesdeutschen Medien daran erinnerten, entschlossen wir
uns, eine gekürzte Dokumentation zu veröffentlichen.
„VORWORT
Im Mai 1981 beschlossen einige junge Leistungssportler, mit einem
eigenen Aufruf auch innerhalb des Sports um Zustimmung und Unterstützung
für die Ziele des Krefelder Appells zu werben. Der Krefelder
Appell, getragen von einem breiten Bündnis verantwortungsbewusster
Bürger unseres Landes, war im November 1980 an die Öffentlichkeit
getreten mit der Aufforderung an die Bundesregierung, ihre Zustimmung
zur Stationierung neuer US-amerikanischer atomarer Mittelstreckenwaffen
auf bundesdeutschem Boden zurückzuziehen. Damit war
der Anstoß gegeben zur Mobilisierung einer von Millionen von Menschen
getragenen Friedensbewegung und damit zu einer der größten
Protestbewegungen in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt.
Als Andreas Geiger, Michael Kohl und Peter Langkopf ihren Aufruf
„Sportler gegen Atomraketen“ veröffentlichten, war dies das Startsignal
für eine Friedensinitiative von Leistungs- und Breitensportlern,
Sportwissenschaftlern, Sportfunktionären und Sportpädagogen, für die
es in der bundesdeutschen Sportgeschichte ebenfalls kein Beispiel
gibt. Die Initiative hat seither mit zahlreichen Aktivitäten wie Sportfesten,
Diskussionsbeiträgen, Stellungnahmen und Demonstrationen auf
die sportpolitische Meinungsbildung eingewirkt und den Sport zu einem
integrierten und beachteten Bestandteil der Friedensbewegung
gemacht. Innerhalb des organisierten Sports hat sie für ihre Ziele breite
Aufmerksamkeit und vielfach auch bereits Anerkennung, Zustimmung
und Unterstützung gefunden.
Den vorläufigen Höhepunkt bildete ein Internationales Sport- und
Spielfest für den Frieden, das die Sportler-Friedensinitiative am 11.
Dezember 1983 in der Dortmunder Westfalenhalle durchgeführt hat -
ein imposantes Fest, das in der vollbesetzten berühmten Gala-Arena
von Kultur, Politik und Sport den weiterbestehenden Widerspruch der
Friedensbewegung gegen die friedensgefährdenden Rüstungsbeschlüsse
der NATO eindrucksvoll demonstrierte.
Die vorliegende Dokumentation will die Ereignisse dieses 11. Dezember
in Bild und Wort festhalten. Sie will einen Eindruck von der
mitreißenden Atmosphäre und von der kulturellen, Sport- und frie47
denspolitischen Aussage- und Ausstrahlungskraft des Festes vermitteln.
Und sie will dieses Fest zugleich in den allgemeinen Rahmen der
Gesamttätigkeit der Sportler-Friedensinitiative einordnen und ein Bild
von der öffentlichen Resonanz geben.
Wir wünschen viel Spaß beim Schauen und Lesen, ebenso aber
auch Informationen und Anregungen für ein weiteres Engagement für
die Ziele der Friedensbewegung.“
Initiative `Sportler für den Frieden - Sportler gegen Atomraketen´ Hannover, 18. März 1984
REDE VON DR. HORST MEYER
SPRECHER DER SPORTLER—INITIATIVE UND MITGLIED
DES NOK
Ich begrüße Sie Alle auf herzlichste im Namen der Initiative „Sportler
gegen Atomraketen - Sportler für den Frieden“ und der großen Zahl
der internationalen Spitzenathleten aus Ost und West ohne Sie und
andere Persönlichkeiten im Einzelnen jetzt vorstellen zu können.
Stellvertretend für Sie alle möchte ich nur Herrn Oberbürgermeister
Samtlebe und Herrn Dr. Daume nennen.
So, wie vor 3 Jahren von gleicher Stelle unsere Athleten bekundet haben,
Olympia lebt, rufe ich heute allen zu: die Friedensbewegung lebt!
Vielleicht kämpfen noch einige von Euch in diesen Tagen mit einem
langsam hochkriechenden Gefühl der Resignation angesichts der unglaublichen
Ignoranz, mit der die Mehrheit unserer Volksvertreter und
unsere Regierung sich für die atomare Aufrüstung in unserem Lande
entschieden haben. Eine Entscheidung, die unter Missachtung des
unüberhörbaren NEINS der großen Mehrheit unseres Volkes getroffen
wurde und mit der wir der Gefahr eines atomaren Infernos preisgegeben
werden. Als erste bundesweite Veranstaltung nach dem Beginn
der Stationierung blickt heute die gesamte Friedensbewegung unseres
Landes voller Erwartung auf uns. Wir sind uns dieser Bedeutung bewusst
und stellen fest:
Zur Resignation gibt es keinen Anlass!
Wer scheinbar ohne Macht ist, muss noch lange nicht ohnmächtig
sein. Mit der Erfahrung unserer Sportler, die Niederlagen als Voraussetzung
für größere Erfolge sehen und mit der Stärke der Solidargemeinschaft
von Gleichgesinnten rufen wir als selbstbewusste Bürger
die Mitglieder der Friedensbewegung auf, den politischen Kampf nicht
mehr nur auf den Stop der Raketenstationierung zu richten, sondern
auf diejenigen, die dieses zuließen.
Wir rufen dazu auf,
- die eigenen Sicherheitsinteressen unseres Staates, in welchem politischen
Bündnis auch immer, den reinen Aufrüstungs- und Abschreckungsstrategien
und dem Aufbau von Feindbildern entgegenzustellen,
- den Lebenswillen unserer Bürger ernst zu nehmen und sich der Ver48
antwortung für nachfolgende Generationen nicht länger zu entziehen,
- das Bewusstsein der Bürger mit jeder stationierten Rakete wie einen
stets tiefer gehenden Stachel wachzuhalten.
Wir sind weder blauäugig noch weltfremde Schwärmer, um nicht zu
wissen, dass Auswüchse es Hochleistungssports, Regelverletzungen
und Vorteilnahme, Nationalismus und Medaillenhysterie immer wieder
an der Glaubwürdigkeit der olympischen Idee rütteln. Eine olympische
Idee allerdings, die gegen zahlreiche Widerstände, politisch häufig
missbraucht, im verzweifelten Kampf gegen die brutale Wirklichkeit
von Kriegen und politisch-militärischen Konfrontationen, wie in Zeiten
des Kalten Krieges ihre Überlebenskraft beweisen musste und auch
bewies. Denjenigen, die es immer noch nicht wahrhaben wollen, dass
Sport und Politik in einem untrennbaren Abhängigkeitsverhältnis stehen,
werden wir beweisen,
- dass die olympische Idee ihre Stärke gerade in der Friedensstiftung
besitzt
- dass spätestens, seitdem die Interessen der Sportler auf dem Altar
vernunftloser Machtpolitik durch den Boykott der Olympischen Spiele
1980 geopfert wurden, sie sich zur geistig-politischen Auseinandersetzung
in der Friedens- und Überlebensfrage unseres Volkes als politisch
mündige Bürger verpflichtet fühlen,
- dass die Sportler die, in den Satzungen der internationalen Sportverbände
und der olympischen Charta festgeschriebene, aktiv verpflichtende
und nicht nur passive Funktion des Sports für politische
Verständigung, den Frieden zwischen den Nationen ernst nehmen,
und im Sinne eines demokratischen Gleichheitsprinzips wirken und
ihren Beitrag für Frieden und Völkerverständigung leisten werden.
Wir sind uns dabei der Notwendigkeit unseres öffentlichen Auftretens
für den Frieden bewusst. Darum müssen wir den Friedensgedanken
der olympischen Idee stärker in den Vordergrund rücken.
Im ureigensten Interesse können die Sportler nicht abseits stehen,
wenn es um die Gefahr des atomaren Holocaust geht. Auch nicht,
wenn wir mannigfaltigen Pressionen ausgesetzt sind. Ihr Wort, lieber
Herr Daume, der Sie heute mit frohem Herzen und als wahrhafter
Freund der Sportler zu uns gekommen sind, wird uns noch zu größeren
Anstrengungen und zur Zivilcourage herausfordern. Sie trafen den
Kern, in dem Sie sagten:
„NUR WER KRIECHT, BLEIBT VOM RISIKO DES STOLPERNS
VERSCHONT“
Wir werden aber auch gnadenlos diejenigen antidemokratischen Verhaltensweisen
ans Licht der Öffentlichkeit bringen, die wie etwa
- das Präsidium des Deutschen Rock'n-Roll-Verbandes die Teilnahme
ihrer Sportler unter Androhung einer Sperre verhindern wollte oder
- der für Sport zuständige Bundesminister des Innern uns unterstellt,
wir würden uns von fremden Mächten steuern lassen.
Mit der Unterstützung der heute hier anwesenden Sportler werden wir
unsere Friedensarbeit nach innen verstärken und auf die internationa49
le Ebene verlagern. Hierzu liegt eine Erklärung der anwesenden Athleten
aus 11 Nationen vor.
Packen wir es darum an und beginnen wir hier und heute, die Motivation
der Friedensbewegung neu zu entfachen mit der Phantasie unseres
Spiel- und Sportfestes. Ohne Aggressionen gegen die, die es immer
noch nicht glauben wollen, dass ein halbes NEIN oder gar ein JA
zur weiteren Stationierung von Atomwaffen wie schlechthin zu dem
Wahnsinn eines weiteren Anhäufens atomarer, biologischer und chemischer
Waffen mit einer bereits heute vorhandenen mehrfachen Vernichtungskapazität
der Erdbevölkerung den Interessen unsres Volkes
und aller Völker entgegengerichtet ist.
Wir werden nicht umhinkommen, die Herausforderungen unserer Regierungen
mit der geballten Kraft und Entschlossenheit der Friedensbewegung,
aber ohne Anwendung von Gewalt, anzunehmen und
unseren Widerstand auf eine noch breitere Basis zu stellen.
Nutzen wir die Integrationskraft von Gleichgesinnten und Sportlern, die
besser als andere zwischen sportlicher Konkurrenz und Feindschaft,
zwischen Wettbewerb und Gewalt zu unterscheiden wissen, verweigern
wir uns, wenn es um die Unterordnung sportlicher Beziehungen
unter die jeweilige Außenpolitik geht.
Um mit sportlichen Symbolen zu sprechen, sage ich Ihnen
es reicht nicht mehr, nur die gelbe Karte zu zeigen, wenn es um die
Lebensinteressen der Völker geht,
wir müssen den Platzverweis wählen.
DAS FEST
Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die Sportler-
Friedensbewegung mit dem internationalen Friedenssportfest am 11.
Dezember 1983 in der Dortmunder Westfalenhalle. In einem begeisternden
Programm wurde unübersehbar und unüberhörbar deutlich,
dass die Friedensinitiative im Sport zum festen Bestandteil der Friedensbewegung
geworden ist, und dass sie mit ihrem Nein zu den Raketen
den Willen von vielen Sporttreibenden repräsentiert. Dies geschah
in dem Augenblick, als die Entscheidung im Bundestag bereits
gefallen war, als der Stationierungsprozess gerade begann und als
Millionen friedensbewegte Menschen erkannten, dass sie ihr Ziel im
ersten Anlauf nicht erreicht hatten. In dieser Situation verdeutlichten
die große Beteiligung am Sport- und Spielfest, die inhaltlichen Aussagen
dieser Veranstaltung und ihre Gesamtstimmung, daß die Bewegung
gegen die neuen Atomraketen nicht, wie es von den Regierenden
herbeigewünscht wird, am Ende ist. Dies war die besondere, einzigartige
Qualität dieses Sportfestes. Es war die erste große Protestaktion
der Friedensbewegung nach Stationierungsbeginn, die zudem
von einem traditionell `unpolitischen´ gesellschaftlichen Bereich
durchgeführt wurde. Sie zeigte, dass auch nach dem Stationierungsbeschluss
mehr Menschen erreicht, neue Streiter für den
50
Frieden gewonnen werden können. Sichtbar wurde, es geht jetzt erst
recht weiter um die Verhinderung der US-Mittelstreckenraketen als
Voraussetzung für die Verringerung der Atomwaffen-Arsenale in Ost
und West. In die Worte des Sportes formuliert, heißt es dazu in der
Abschlusserklärung:
`Aber auch sportliche Rekorde werden nicht immer im ersten Anlauf
genommen und fallen dann beim zweiten oder dritten doch. Die Stationierung
ist nicht im ersten Anlauf verhindert worden. Aber beim zweiten
oder dritten, mit noch mehr Menschen, mit noch mehr Kraft und
Solidarität kann es uns gelingen´.
Im Nachhinein wird deutlich, was das Besondere dieses Festes
ausmacht: Es hat die inhaltlichen Beziehungen des Sports zum Frieden
praktisch aufgezeigt.
`Nur die kriechen, sind vom Risiko des Stolperns verschont´ - das
war die politische Aussage des ersten Programmblocks; Willi Daume,
NOK-Präsident, hatte sie geprägt, als er jene ermutigen wollte, die aus
Angst vor Fehlern und Kritikern am liebsten gar nichts täten.´
`Nein zur Stationierung - Europa darf kein Euroshima werden´ war
die Hauptaussage des zweiten Blocks. Schon heute ist auch der Sport
von der Hochrüstung betroffen: Die Sportförderung des Bundes, der
Länder und der Kommunen ist Teil der Sozialausgaben. Wer auf der
einen Seite hochrüstet, muss auf der anderen Seite den Rotstift ansetzen
- sei es beim Bau von Sporthallen oder in Bereichen wie Kultur
und Bildung. Der Auftritt der Rollstuhl-Basketballer verstärkte diesen
Aspekt durch deren doppelte Betroffenheit: als Sportler und als Behinderte.
Die begonnene Stationierung hat die Rüstungsspirale erneut in
Gang gesetzt und gefährdet damit die Grundlagen der internationalen
Beziehungen. Dies steht im Gegensatz zu den Zielen des Sports. `Für
Völkerfreundschaft´ war deshalb die Hauptaussage des dritten Programmblocks.
Nicht zuletzt die Anwesenheit von Spitzensportlern aus
elf Ländern machte sie deutlich. Über den internationalen Wettkampfsport
hinaus beteiligen sich Tausende von Vereinen an internationalen
Begegnungen. Im Mittelpunkt steht dabei das Kennenlernen der Sportlerinnen
und Sportler aus aller Welt. Wird die Entspannungspolitik
durch Konfrontation abgelöst, sind sie es, die darunter zu leiden haben.
Internationale Sportbeziehungen brauchen Entspannungspolitik!
Und weil Völkerfreundschaft im eigenen Land beginnt, heißt es: Gemeinsam
gegen Ausländerfeindlichkeit!
`Es geht weiter - für eine friedliche und bessere Welt!´ - kein Satz
hätte die Perspektive der Sportler-Friedensbewegung besser beschreiben
können als dieser Auftrag aus der IOC-Charta. Unter diesem
Motto stand der vierte Veranstaltungsblock. Besonders plastisch
wurde er untermalt von der Darbietung der Rock'n Roll-Tänzer. Eine
Sperre hatte ihnen der Deutsche Rock'n Roll-Verband angedroht,
wenn sie auf diesem Fest aufträten. Sie taten es trotzdem - jetzt erst
recht!
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Sozusagen im Gleichklang stehen also sportliche und friedenspolitische
Ziele und im Gegensatz steht Sport zu Hochrüstung, Konfrontation
und Krieg; Sport braucht und sucht internationale Begegnungen
der Menschen und Völkerverständigung - Hochrüstung trägt
zu ihrer Verhinderung bei. `Sport für alle´ braucht auch mehr staatliche
Ausgaben für den Sport - Rüstung schluckt die Steuergelder schneller,
als sie der Bevölkerung aus der Tasche gezogen werden können.
Sport will zum Wohlbefinden der Menschen beitragen, fördert Geselligkeit,
gemeinsames Handeln, Vertrauen - Rüstung und drohender
Krieg machen Angst, töten letztlich sogar schon jetzt.
NEUE EINHEIT
Auf dem Sportler-Friedensfest kam es zu Begegnungen zwischen
Menschen, die sich sonst eher misstrauisch beäugen: Freizeitsportler,
die vor allem das Miteinander, Phantasie, Freude und Entspannung
beim Sport suchen und finden, gestalteten das Spielfest. Und Spitzenathleten,
für die der Sport in erster Linie hartes Training und Leistung
bedeutet, waren in großer Zahl auf dem Sportfest. Lange Diskussionen
waren miteinander geführt worden, bis man sich auf einen gemeinsamen
Standpunkt verständigen konnte: alle Sportler - gleich ob
Spitzenathlet, Jogger oder Alternativer - wirken gleichberechtigt in der
Sportler-Friedensbewegung. In ihr gibt es auch keine besseren oder
schlechteren Sportarten. Funktionäre haben nicht mehr zu sagen als
Wissenschaftler, und die Wissenschaftler sind nicht klüger als die
Sportlerinnen und Sportler. In der gemeinsamen Arbeit lernten alle
voneinander: z.B. die Alternativen, dass Spitzenathleten auf einen
ethisch wertvollen Begründungszusammenhang für ihr Tun verweisen
können, und die Leistungssportler, dass Sport mehr ist als nationale
und internationale Wettkämpfe. Verständnis entwickelte sich, und einig
wurde man sich in diesem Punkt: Es kann nicht darum gehen, in langen
Diskussionen zu einem einheitlichen Sportverständnis zu kommen.
Die Vielfalt der Motivationen zum Sporttreiben ist gefragt, und
jede und jeder ist akzeptiert, solange nur das eine Konsens ist: als
Sportler für den Frieden einzutreten.
DIE DSB-FÜHRUNG
Die großen friedenspolitischen und -pädagogischen Möglichkeiten
des Sports kommen nur dann zur Geltung, wenn die Sporttreibenden
etwas dafür tun. In den Regeln des Sports - der IOC-Charta und der
Satzung des DSB beispielsweise - sind die völkerverständigenden
Ziele des Sports verankert. Diese Ziele reichen notwendigerweise weit
über das praktische Geschehen auf den Sportplätzen hinaus. Dieser
Einsicht versuchen sich die Führungsgremien der Sportverbände aber
noch immer in ihrer großen Mehrheit zu entziehen. - Nun, die Sportler
warteten nicht auf ein Startsignal `von oben´ - sie feierten ein Frie52
densfest als sportpolitische Demonstration. Die defensive Haltung, wie
sie durch die Resolution `Sport und Frieden´ des Hauptausschusses
des DSB, verabschiedet einige Tage vor dem Sport- und Spielfest,
zum Ausdruck kommt, ist dadurch im Grunde schon ad absurdum geführt.
Die Raketenstationierung sei Tagespolitik, und darum habe sich der
Sport nicht zu kümmern, so der DSB-Hauptausschuss. Die größte
Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik entsteht, Kirchen,
Jugendverbände und Gewerkschaften geraten in Bewegung,
eine ganze Partei dreht sich um - und das alles wegen einer tagespolitischen
Frage? Wer soll das dem DSB abnehmen? Das internationale
Klima hat sich verschlechtert, trotz der allenthalben verharmlosenden
Regierungsverlautbarungen, der Sport ist elementar auf das Klima der
Entspannung angewiesen, für seine großen internationalen Wettkämpfe
und für die Tausende von Vereinsbegegnungen und der DSB will
sich „raushalten“? Die Stationierungsvorbereitung war verbunden mit
einer antikommunistischen Kreuzzugsideologie des US-Präsidenten,
mit der Propagierung alter Feindbilder (auch Hitler konnte seinen Krieg
nur mit dem Feindbild des bolschewistischen Untermenschen entfachen),
die der menschlichen Begegnung, die der DSB auch fordert,
genau entgegensteht - und der Sport soll „neutral“ bleiben?
Die ursprünglichen Thesen des DSB-Präsidenten zur Friedensfrage,
die er dem Hauptausschuss im Juni vortrug, waren da wesentlich
deutlicher und offensiver, betonten den Zusammenhang von Sicherheitspolitik
und Sport. Allerdings nicht im Sinne der Friedensbewegung:
sie waren ein - wenn auch verbrämtes `Ja´ zur Raketenpolitik.
Dann erfolgte ein Rückzieher. Schließlich sind die 75 Prozent der
Bevölkerung, die die Stationierung ablehnen, sicher in den Sportvereinen
genauso zu finden, wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen!
Die Frage, ob Tagespolitik oder nicht, ist vielleicht auch einfach
vorgeschoben. Schließlich bezieht der DSB ja auch zu anderen politischen
Fragen Stellung - und zwar immer dann, wenn der Sport betroffen
ist. Und das soll in der Frage, die unbestritten Grundlage des
Sports ist, nicht mehr gelten?
Da zieht man den Hut vor Willi Daume, dem Präsidenten des NOK,
der zum Fest kam aus Verbundenheit mit den Sportlern. Eine Selbstverständlichkeit,
sollte man meinen. Dennoch war er durch diese Entscheidung
großem Druck ausgesetzt. Aber er bewies Mut. Dass er die
international bekannteste Persönlichkeit des bundesdeutschen Sports
ist, kann dem Sport in unserem Land nur nutzen.
Die Einheitssportbewegung , hört man aus der DSB-Führung, sei in
Gefahr, wenn man zu Grundlagen der Sicherheitspolitik Stellung beziehen
würde. Ob Frieden durch mehr oder weniger Waffen - das
müsse jeder mit sich selber ausmachen, und die Politiker entscheiden.
Gegenüber solcher Beschwörung der Einheit muss man
skeptisch sein, wird doch immer dann so argumentiert, wenn die poli53
tische Richtung der Führung nicht passt. Als der Olympia-Boykott
1980 beschlossen wurde - ein eklatanter Verstoß gegen die Grundlagen
des Sports - waren solche Befürchtungen nicht zu hören.
Aber auch der sachliche Gehalt dieser Argumentation ist zu dünne:
Selbst die CDU macht Wahlkampf mit der Parole „Frieden schaffen mit
immer weniger Waffen“ - wen also fürchtet man mit einem Bekenntnis
zur Abrüstung auszugrenzen? Oder kennt man die CDU-Führung so
gut, daß man weiß, daß es ihr in Wirklichkeit mit ihrer Abrüstungsrhetorik
nicht ernst ist?
Schließlich hat auch die Deutsche Sportjugend ein Friedenspapier
verabschiedet, das die Umkehr der Rüstungsspirale und aktive friedenspolitische
Initiativen des Sports fordert. Dazu hatte eine umfangreiche
politische Diskussion in den Mitgliedsverbänden stattgefunden.
Das Papier wurde einmütig und einheitlich verabschiedet - gegen den
Druck, z. B. des DSB-Generalsekretärs Karlheinz Gieseler, der eben
diese Einheit zu verhindern suchte. Einheit - das bedeutet schließlich,
dass in der Diskussion niemand, keine Position ausgegrenzt wird. Und
genau das tat Weyer in seinen 14 Thesen, versuchte Gieseler in seiner
Stellungnahme zur Friedensbewegung der Sportler. Sie grenzen
aus, nämlich alle die Sportlerinnen und Sportler, die aktiv in die Friedensbewegung
eingreifen.
Dass einheitliches Handeln trotz unterschiedlicher politischer Standpunkte
und Zugänge zum Sport möglich ist, beweist schließlich die
Arbeit der Initiative.
Frieden ist nicht mehr nur Diskussionsthema, es ist Handlungsthema
des Sports geworden. Aus Betroffenen wurden Handelnde. Der DSB
hat in den vergangenen Jahren viel getan, um den Sport als gesellschaftlichen
Faktor zu verankern. Auch die Friedensbewegung der
Sportler sollte er deswegen begrüßen!
REAKTIONEN
HAMBURGER VEREINE NEHMEN SPORTLER AN DIE KANDARE
Krach um Friedens-Trikots - Sperre und Ausschluss als Druckmittel
Von Heide Ahrens
Hamburg - Im Hamburger Sport kracht es. Einzelne Vereine und Verbände
fahren schwere Geschütze auf, weil sich einzelne Sportler und
Mannschaften in der Initiative „Sportler gegen Atomraketen - Sportler
für den Frieden“ engagieren und dies auch offen zur Schau stellen.
Fall Nummer eins: Mehrere Rock'n Roll-Paare wollen beim Sport- und
Spielfest der Initiative am 11. Dezember in der Dortmunder Westfalenhalle
auftreten. Ihr Verband droht jetzt, diese Paare zu sperren,
falls sie teilnehmen.
Fall Nummer zwei: Handball-Frauen des Rellinger TV trugen in zwei
Punktspielen Trikots mit dem Aufdruck für Frieden, gegen Raketen.
Der Vorstand des Vereins hat den Frauen im Wiederholungsfall mit
Vereinsausschluss gedroht.
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Fall Nummer drei: Gymnastik-Mädchen in Halstenbek zogen eben jenes
Friedenstrikot im Training an. Der Vorstand verbot diese Kleidung.
Aber die Sportlerinnen wehrten sich mit Erfolg, tragen ihr Trikot weiterhin.
Magret Beck, Mitglied der Sportler-Initiative: „Es kann uns Sportlern
doch nicht verwehrt werden, mehr zu tun als nur dagegen zu sein.“
Frank Mackerodt, HSV-Volleyballer: „Wir haben Angst, dass der internationale
Sportverkehr durch Nachrüstung negativ beeinflußt wird.“
Claude von Gemünden, Luxemburger Meister (5000 m), z. Zt. in
Hamburg: „Wir Sportler werden oft als Handlanger der Politik benutzt,
spätestens seit dem Olympiaboykott ist das jedem offenkundig. Da
wird man doch wohl seine Meinung sagen dürfen.“
Dr. Friedel Gütt, Präsident des Hamburger Sportbundes: „Die Vorfälle
sind mir bislang nicht bekannt. Aber jeder Sportler muss seine Meinung
haben und sagen dürfen. Der Sport als Organisation hat jedoch
nicht die Legitimation, zur Friedensfrage eine bestimmte Position zu
beziehen.“
ZITAT AUS „DIE WELT“ vom 13.12.83
Wie Daume sich aus der Affäre zog…
Wenn eine Gruppe als „Sportler für den Frieden“ auftritt, wie dies in
der Dortmunder Westfalenhalle geschah, so stellen sich zwei Fragen.
Erstens: Wieso „Sportler“? Wenn die Staatsbürger Willi Wülbeck und,
Cornelia Hanisch bestimmte politische Standpunkte verkünden wollen,
so ist ihnen das unbenommen, was immer man von diesen Standpunkten
halten mag. Aber deswegen, weil sie besser laufen oder fechten
können als andere, sind sie doch wohl kaum größere militärwissenschaftliche
Autoritäten als Bernard Rogers oder Helmut Kohl oder
der Kioskbesitzer Emanuel Piepenbrinck aus Buxtehude-Süd, die allesamt
die Latte schon bei einem Meter reißen. Zweitens: Wieso „für
den Frieden“? Per Umkehrschluß unterstellen sie damit ihren Sportkameraden,
die ihren Standpunkt ablehnen, daß diese gegen den
Frieden seien.
Ob Politik überhaupt im Sport etwas zu suchen hat, darüber gehen die
Meinungen auseinander. Einhellig gilt dagegen, daß der Sport zur
Fairness erziehen soll. Wenn Sportler schon glauben, sich an einer
vom „Krefelder Appell“ der DKP inszenierten und allein gegen Pershings
und Cruise Missiles gerichteten Sache beteiligen zu müssen,
sollten sie sich auch fairerweise als „Sportler für einseitige westliche
Abrüstung“ deklarieren. Es war schon zu komisch, wie Ex-Olympiasieger
Horst Meyer gegen den Mißbrauch des Sports für politische
Zwecke protestierte - womit er keineswegs dies von ihm mit organisierte
Festival meinte, sondern den Olympia-Boykott 1980 gegen Moskau.
NOK-Präsident Willi Daume zog sich schlau aus der Affäre: Junge
Leute müßten auch mal Fehler machen dürfen. Er distanzierte sich,
aber er war dabei - auch das ist gute deutsche Tradition, nicht erst seit
55
den nicht boykottierten Spielen von 1936. Es waren auch Ausländer
dabei, besonders Emil Zatopek wurde gefeiert. Seine Rolle in Prag
1968 ist der heutigen Generation ja nicht bekannt. Afghanische Sportler
freilich waren nicht dabei. Um Afghanistan ging es beim Boykott
1980. Aber was fragen „Sportler für den Frieden“ schon nach dem
Frieden in Afghanistan?
ENNO v. LOEWENSTERN
56
ZITATE
Die „Zeit“ 3.1.2015:
Wolfgang Niersbach: Zeit für den Abpfiff
Ein DFB-Präsident, gegen den der Staatsanwalt ermittelt, ist selbst in
der windigen Branche Fußball undenkbar. Diesen Skandal kann Wolfgang
Niersbach nicht überstehen. Von Oliver Fritsch.
Der Fußball lebt von Zufällen. Da will einer der ganz Großen aus dem
Gefängnis freikommen. Und am selben Tag, an dem Uli Hoeneß' Antrag
auf vorzeitige Entlassung aus Landsberg bekannt wird, klingeln
fremde Männer bei der Geschäftsstelle des DFB und den Privathäusern
dreier aktueller und ehemaliger DFB-Funktionärsgrößen. Später
tragen sie Kisten und anderen Kram raus. Razzia an vier Orten, Verdacht
auf schwere Steuerhinterziehung, die Staatsanwaltschaft droht
mit Haft. Der Schaden für den Ruf des DFB war bereits enorm und ist
heute noch größer geworden. Die Steuerfahndung hat die Geschäftsstelle
in Frankfurt durchsucht, zudem die Häuser von Wolfgang Niersbach,
Theo Zwanziger und Horst Schmidt, drei Mitgliedern des ehemaligen
Organisationskomitees (OK) der WM 2006. (…) „Der DFB ist
nicht beschuldigt“, schreibt der DFB in einer Pressemitteilung. Wie
auch? Es ist eine der vielen Frankfurter Nebelkerzen. Der Satz macht
aber, vielleicht ja nicht unfreiwillig, aufmerksam auf die Beschuldigten.
Und von denen ist Wolfgang Niersbach der einzige, der noch ein Amt
hat. Er kann den Skandal nicht überstehen. Es ist eine Frage der Zeit,
bis er fällt. In einem normalen Unternehmen hätte Niersbach schon
längst zurücktreten müssen. Ein DFB-Präsident, gegen den der
Staatsanwalt ermittelt, ist selbst in der windigen Branche Fußball nicht
denkbar. Zumal die Vorwürfe nicht den Privatmann Niersbach treffen,
sondern den Fußballfunktionär. Im Hintergrund werden nun viele darauf
drängen, dass er sein Amt ruhen lässt. Oder gleich zurücktritt.
Vielleicht sieht Niersbach auch selbst ein, dass seine Zeit vorbei ist. In
einem normalen Unternehmen hätte er das ohnehin schon tun müssen.
Vieles sprach längst gegen ihn, nicht zuletzt sein amateurhafter
und unehrlicher Umgang mit dem heiklen Thema. Er sagte, vor Monaten
interne Prüfungen über den Vorgang veranlasst zu haben. Das
war offenbar die Unwahrheit. Bislang ließ sich niemand beim DFB finden,
der das bestätigt. (…) Dann beauftragte Niersbach die „externen“
Prüfer von Freshfield, die selbst Franz Beckenbauer in Anführungszeichen
setzt. Und es kam raus, dass einer der führenden Köpfe der
Kanzlei, ein Freund einer der engsten Vertrauten Niersbachs ist. Ein
bezahltes Gutachten ist ohnehin nicht unbedingt neutral, durch diese
Klüngelei wird es nicht wertvoller. Niersbach behauptete zudem, von
der ominösen Dreyfus-Zahlung erst im Sommer 2015 erfahren zu haben.
Dem widersprechen inzwischen sogar seine Verbündeten Beckenbauer
und Schmidt. Die drei sowie Beckenbauers Berater Fedor
Radmann hatten spätestens Anfang 2005 davon Kenntnis, dass
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Dreyfus sein Geld zurückwollte. Beckenbauer zufolge waren sie sogar
bereits 2002 informiert.
Der fehlende Wille zur Aufklärung wurde auf Niersbachs legendärer
Pressekonferenz offenbar, auf der er außer seinem Unwissen nicht
viel mitzuteilen hatte. (…) Und jetzt ermittelt auch noch der Staat gegen
Niersbach. Die Story lässt sich nicht mehr auf Spiegel gegen den
DFB kleinreden. Ob die Deutschen für die WM 2006 tatsächlich Stimmen
kauften, wie der Spiegel nahelegte, oder mit dem Geld das korrupte
Blatter-System stützten, ist inzwischen zweitrangig. Es dürfte
feststehen: Das WM-OK hat in der Zeit vor der WM die Politik getäuscht.
Erst Otto Schily, dann Wolfgang Schäuble, die als Innenminister
im Aufsichtsrat alles abnickten. Die Politik hat sich wohl auch gerne
vom DFB täuschen lassen. (…) Es ist kein Niersbach-Skandal, es ist
ein DFB-Skandal. Horst Schmidt, der Saubermann, nickte alles ab.
Gegen ihn wird genauso ermittelt wie gegen Theo Zwanziger, der erst
im Sommer 2003 zum OK stieß. Günter Netzer geht auch nicht mit
letzter Entschlossenheit gegen dessen Aussage vor, Netzer habe ihm
gestanden, asiatische Wahlstimmen gekauft zu haben. Netzer klagt
zwar, eine einstweilige Verfügung erwirkte er aber nicht.
Kölnische Rundschau 5.11.2015:
DAS SOMMERMÄRCHEN ÜBERLEBT
Eines muss betont werden: Das Sommermärchen kann nicht zerstört
werden - egal wer dies behauptet. Egal welche Medien oder Politiker,
die auf dem Trittbrett allgemeiner Empörung mitfahren. Weder kann
das positive Bild Deutschlands ausgelöscht werden, das in alle Welt
gesendet wurde. Noch die leuchtende Erinnerung der Menschen an
die glücklichen Wochen, in denen diese Nation sich selbst lieben lernte.
Andere Maßstäbe gelten für die Machenschaften hinter den Kulissen.
Sie basierten auf mafiösen Strukturen, die zerstört werden müssen.
Auf Kumpanei, Korruption und Schwarzen Kassen. Auf Unrecht,
das gedeihen konnte, weil der Sport sich seine Gesetze selbst geben
durfte. In der Bundesrepublik beschworen Parteien jeder Couleur über
Jahrzehnte die Autonomie des Sports und vertrauten auf dessen
Selbstreinigungskräfte. Es war ein Irrglaube, dass dies gutgehen
könnte. Der Kontrollmechanismus fehlte. Vor diesem Hintergrund
muss die Affäre um die WM-Vergabe 2006 und die wahrscheinlich
dafür gekauften Stimmen gesehen werden. Gut, dass sich jetzt der
Staat eingeschaltet hat. (…) Es wäre naiv zu glauben, dass Deutschland
nur wegen der besseren Bewerbungsunterlagen und der Überzeugungskraft
der Fußball-Ikone Beckenbauer den Zuschlag bekommen
hat. Denn die Vergabe der WM 2006 fiel mitten in die Hochphase
der Korruption auf dem internationalen Parkett der Sportpolitik. Dass
die Verhältnisse vor eineinhalb Jahrzehnten schlimmer waren als heu58
te, darf aber nicht als Rechtfertigung akzeptiert werden. Wer tut, was
alle tun, macht sich mit den Missständen gemein. Schiebt die Verantwortung
weiter. Die landete beim Weltverband Fifa nicht in den besten
Händen. Was jetzt passiert, mutet an wie die Jagd auf Al Capone, der
am Ende „nur“ wegen Steuerbetrugs im Gefängnis landete. Die
Staatsanwälte ermitteln gegen Niersbach & Co. nicht wegen der ominösen
6,7 Millionen Euro, die zwischen Fifa, DFB und adidas-Chef
Robert Louis-Dreyfus geflossen sind. In Fifa-Büchern taucht die Summe
nicht auf, wohl aber in der Steuererklärung des WMOrganisationskomitees:
steuermindernd.
Niersbach, Zwanziger und Schmidt sind persönlicher Bereicherung
eher unverdächtig. Doch wer Missstände akzeptiert, macht sich mit
ihnen gemein. Hinterfragen müssen sich deshalb alle, die im selben
Boot saßen: DFB-Funktionäre, aber auch Politik und Medien.
Der Spiegel 16.9.2015:
WO FINDET OLYMPIA 2024 STATT?
Das Olympia-Rennen ist gestartet: „Ab heute sind Budapest, Hamburg,
Los Angeles, Paris und Rom Kandidatenstädte und befinden
sich im Wettbewerb“, sagte IOC-Präsident Thomas Bach auf einer
Telefonkonferenz mit einer Hundertschaft Journalisten. Nicht dabei ist
Aserbaidschans Hauptstadt Baku, mit der das IOC ernsthafte Gespräche
geführt hat und wo im Juni die ersten Europaspiele ausgetragen
wurden. Baku bewarb sich bereits zweimal vergeblich um Olympia,
wird nun pausieren und frühestens 2028 wieder antreten. Parallel zu
der Verkündung wurde auch das in den vergangenen Wochen unter
Hochdruck in der IOC-Konzernzentrale in Lausanne ausgearbeitete
neue Regelwerk für die Spiele 2024 vorgestellt. Die wichtigsten Dokumente
liegen nun erstmals zu Beginn der Bewerbung vor, allen voran
der stets umstrittene Ausrichtervertrag („Host City Contract“), der
aber nicht der endgültige sein wird, denn das IOC hat das Dokument
bewusst mit „Prinzipien des Ausrichtervertrages“ überschrieben.
Auf die Frage nach den aus seiner Sicht wichtigsten Änderungen fiel
Bach zunächst nicht viel ein. Er sagte lediglich, dass der Olympiastadt
2024 jetzt bereits 1,7 Milliarden Dollar aus den weltweiten Vermarktungserlösen
des IOC garantiert werden. Bevor IOC-Parteigänger in
Jubelstürme ausbrechen: Das ist keine signifikante Steigerung gegenüber
jenen 1,5 Milliarden, die das IOC für die kommenden Sommerspiele
2016 in Rio de Janeiro beisteuert.
Für die Bewerbung um die Winterspiele 2022, die Ende Juli an Peking
vergeben wurden, hatte das IOC noch Forderungskataloge mit mehr
als 7000 Seiten vorgelegt. Und das waren nur Winterspiele mit sieben
Sportarten - gegenüber den 28 Sportarten und neuerdings zusätzlichen
Disziplinen im Sommer. Dieses gewaltige Konvolut wurde nun
auf „350 Seiten runtergebrochen“, sagte Bach.
59
Die Tücken liegen im Detail, und darüber wird ab jetzt ausführlich debattiert
werden in den Bewerberstädten und vor allem in Hamburg, wo
Ende November das Referendum ansteht. (…) Der krasse Außenseiter
Hamburg wird also wie der große Favorit Paris, wie Geheimfavorit
Rom, wie Außenseiter Los Angeles und wie das chancenlose Budapest
zwei Jahre im Wettbewerb sein, sollten sich die Hamburger Bürger
beim Referendum nicht dagegen aussprechen. (…) IOC-Präsident
Bach behauptete zudem erneut, Deutschland könne sowohl die Fußball-
Europameisterschaft im Juni 2024 als auch einige Wochen später
die Olympischen Sommerspiele austragen. „Niemand hat Zweifel daran,
dass die Deutschen dazu in der Lage wären“, sagte er. Ein derartiges
Doppel hat es aber noch nie gegeben. (…)
dpa 13.7.2015:
Minister de Maizière besucht Kienbaum
Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat am Montag erstmals
das Bundesleistungszentrum des deutschen Sports in Kienbaum besucht.
„Ich hatte schon viel gehört von Kienbaum: Diese Einrichtung
hat bei deutschen Topsportlern einen Ruf wie Donnerhall. Die Großzügigkeit
der Anlage hat mich sehr beeindruckt“, urteilte der Minister,
(…) Auf der Anlage der Bogenschützen griff de Maizière selbst zum
Sportgerät und traf schon beim zweiten Versuch das X, die innere
Zehn. Auf der Anlage der Diskuswerfer ließ er sich von Nadine Müller
und Julia Fischer die moderne Messtechnik erläutern, mit der jeder
Wurf analysiert werden kann. In der gerade eröffneten neuen Turnhalle
demonstrierte ihm Auswahl-Turner Christopher Jursch, wie er mit
Hilfe hochmoderner Videotechnik an der Vermeidung von Fehlern am
Reck arbeitet. In der Kältekammer demonstrierte Zehnkämpfer Rico
Freimuth bei 110 Grad Minus die Auffrischung seiner zuvor erschlafften
Muskeln. „In den Gesprächen hat mich auch interessiert, wie hier
das zentrale Training mit dem Heimtraining abgestimmt wird. Kienbaum
ist ein ganz wichtiges Zentrum der Begegnung der Sportler vieler
Disziplinen, die sich gegenseitig auch zahlreiche Tipps geben. Das
ist ein Zentrum, mit dem sich der deutsche Sport sehen lassen kann“,
lobte de Maizière.
Berliner Zeitung 20.7.2010:
DEUTSCHLAND WIRD ES WOHL NIE ERFAHREN
KIENBAUM. Der Mann hat das Gesicht von Jürgen Prochnow und die
Haare von Dolph Lundgren, der Mann, klarer Fall, arbeitet für das BKA.
Auf seinem Revers sitzt ein kleiner Ansteckbundesadler, zusammen
bewachen sie die Ballspielhalle I des Bundesleistungszentrums in
Kienbaum. Spezialauftrag: Taschenkontrolle. Der Mann vom BKA und
60
der Ansteckbundesadler nehmen diese Aufgabe offensichtlich ernst, sie
möchten zum Beispiel wissen, was sich in diesem schwarzen Notizbuch
befindet. Der knappen Frageantwort („Wahrscheinlich Notizen?“) scheinen
die Taschenkontrolleure zu misstrauen. Sie fühlen lieber noch mal
selbst nach, und ja, tatsächlich, zur Beruhigung ihres kriminalistischen
Spürsinns, finden sie einen blauen Kugelschreiber - doch der will selbst
nach mehrmaligem Klicken einfach nicht explodieren. Weitergehen! In
Kienbaum, etwa 40 Kilometer östlich von Berlin entfernt, herrschte Sicherheitsstufe
eins. So nennt man es zumindest in Filmen, in denen so
viele Agenten in schwarzen Anzügen auftauchen wie gestern Abend. In
einer Stunde nämlich sollte Bundeskanzlerin Angela Merkel höchst persönlich
per Hubschrauber eingeflogen werden. Erst China, dann Kasachstan,
jetzt also Kienbaum. (Stellt man sich dazu die Melodie von
„New York - Rio – Tokio“ vor, klingt das sogar richtig spannend.) Jedenfalls
sah das Protokoll vor, dass Merkel, die Frisur saß, das grüne Jackett
passte fast zur weißen Hose, bei ihrem dritten Einsatz binnen weniger
Tage das Bundesleistungszentrum auszeichnen sollte: mit dem
Sonderpreis „Gelebte Einheit“ - für optimale Trainingsbedingungen, die
deutsche Spitzensportler vor großen Wettkämpfen vorfinden, und für
den Beweis, dass man wenigstens ein bisschen Infrastruktur aus der
DDR in die Gegenwart herüberretten konnte. Die Bundeskanzlerin sagte
später in ihrer Laudatio: „Das sagt viel über die Geschichte dieses
Objekts hier. Kienbaum.“ Und zum Schluss: „Ich werde es nicht umgehend
vergessen.“ Ehrlicher hätte sie es kaum formulieren können. Ja,
die Bundeskanzlerin gab sich zwar große Mühe, aber nein, die Sportwelt
hat sich ihr gestern Abend nicht wesentlich erschlossen. Dabei
könnte Angela Merkel vielleicht eine gute Diskuswerferin sein. Sie hat,
mit Verlaub und Augenmaß, eine wurfgerechte Figur und besitzt den
unschlagbaren Vorteil, Anstellwinkel und Flugkurven optimal berechnen
zu können. Physikalische Gesetzmäßigkeiten sind ihr doch bestens
vertraut. Leider aber wird Deutschland wohl niemals erfahren, ob seine
Regierungschefin ein Wurftalent ist. Denn Robert Harting, der Weltmeister
im Diskuswerfen, hat Merkel keine Flugscheibe zum Testen
hingehalten, wie einige im Medientross der Kanzlerin gehofft hatten,
sondern nur einen riesigen Plastikschlüssel, mit dem sie symbolisch die
neuen Athletenquartiere in Kienbaum öffnete. „Schön. Also toll“, kommentierte
Merkel etwa den geplanten Ausbau einer Halle. Die zuständigen
Architekten waren nach ihrem Kurzreferat gerührt und verwirrt zugleich.
Gefreut haben sich die deutschen Ruderer über den Kurzbesuch
der Kanzlerin im Kraftraum. Während Merkel irgendwo in den Zwischengängen
nach dem Weg suchte, durften die Sportler ihr schweißtreibendes
Training unterbrechen und sich ausruhen. Erst auf ein Zeichen
hin sollten sie die Gewichte wieder in Bewegung setzten, um nicht
kurzatmig zu sein, wenn die Kanzlerin erscheint. Und, um den Fotografen
kräftige, nicht klebrige Motive zu präsentieren. Gleiches Bild in der
Turnhalle: Merkel trat an die Weichmatten, die Show konnte beginnen.
61
GEDENKEN
Prof. Dr. paed. habil. Manfred Reiß
1. Juli 1936 - 1. September 2015
Die noch lebenden Sportwissenschaftler in der DDR und namhafte
Sportwissenschaftler im 1990 vereinigten Deutschland trauern um einen
überaus profilierten, interdisziplinär denkenden Trainingstheoretiker
und -methodiker im Bereich der Ausdauersportarten, um einen
erfahrenen Trainingspraktiker und einen engagierten Hochschullehrer,
der Maßstäbe gesetzt und Spuren hinterlassen hat. Mit der Beisetzung
der Urne von Manfred Reiß am 2. Oktober auf dem Dresdener Heidefriedhof
wurde eine ungewöhnliche Lebensgeschichte beendet, die
1936 im nahen Großenhain drei Jahre vor Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges begonnen hatte. Es ist das allerdings die nicht ganz untypische
Lebensgeschichte jener Kriegsgeneration, die weder eine sorgenfreie
Kindheit noch eine sorgenfreie Schulzeit kannte und die im
Krieg oder danach nicht selten prägende Familienangehörige als Bezugspersonen
frühzeitig verlor und mit Hunger und Kälte den Existenzkampf
der Familie am eigenen Leib lange Zeit spürte. Die Summe
solcher Kriegsschicksale in vielen Ländern Europas gehört dazu,
wenn der Historiker Hobsbawm vom 20. Jahrhundert als dem „Jahrhundert
der Extreme“ spricht. Ganz sicher haben diese extremen sozialen
Bedingungen die inneren, die psychischen Bedingungen der
Charaktere dieser Generation so oder so maßgeblich mit geformt.
Man sagt nicht zu Unrecht: schwierige Zeiten bringen keine einfachen
Menschen hervor.
Der steile berufliche Aufstieg von Manfred Reiß seit seiner Berufung in
das 1969 in Leipzig gegründete Forschungsinstitut für Körperkultur
und Sport (FKS) bis an die Spitze des Fachbereichs Ausdauersportarten,
seine Habilitation 1977 und seine Professur 1978 haben eine
wechselvolle und außergewöhnliche Vorgeschichte. Sein Vater starb
bereits 1943 an einer Kriegsverletzung, seine Mutter hatte schließlich
vier Kinder großzuziehen. Als er nach der 8. Klasse 1950 in Großenhain
die Grundschule verließ, zerstoben für den jungen erfolgreichen
Leichtathleten seine sportlichen Träume, denn es stand eine Lehre als
Herrenmaßschneider auf dem Familienplan, um das Geschäft seines
Stiefvaters später führen zu können. Was er auch anpackte, er machte
es gut bis sehr gut. Aber nähen wollte er nicht. Er schlug sich bis zu
einer Sonderreifeprüfung an der Volkshochschule durch, um seine
Bildungslücken zu tilgen. Und als es dem erfolgreichen Mittelstreckler
und Hobbytrainer Manfred Reiß gelang, an der Berufsschule eine Stelle
als Mehrfachlehrer zu bekommen, erhielten seine geheimen Pläne
neue Möglichkeiten. Ein Direktstudium an der DHfK gelang nicht, aber
62
ein fünfjähriges Fernstudium mit dem gleichen Abschluss eröffnete
1960 seinen Träumen neuen Raum. Im Institut für Leichtathletik setzte
er seinen Fuß erstmalig und danach für immer in die Tür zur Sportwissenschaft.
Und wo er einmal war, dort zeigte er sein Format.
Vier Jahre später (1964) verteidigte er bereits seine Dissertation. Aber
zu dieser Zeit hatte man ihn bereits für zwei Jahre als Hauptreferent
für Leistungssport ins Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport
nach Berlin geholt. Man erkannte frühzeitig die Begabungen des dominant
rationalen, ausgeglichenen, bodenständigen, praxisbezogenen
jungen Wissenschaftlers, der hohe Anforderungen an sich selbst, aber
eben auch andere stellte. Man wusste um sein hohes analytisches
Verständnis in der wissenschaftlichen und praktischen Tätigkeit bei
gleichzeitig hohem Systemdenken. Und so bereitete er, nach Leipzig
zurückgekehrt, aus dem wissenschaftlichen Umfeld der Forschungsstelle
der DHfK heraus den Aufbau des WZ des DVfL vor und war
dann sein erster Leiter. Und gleichzeitig fungierte er auf der praktischen
Ebene 1965/69 als Olympiatrainer Lauf im Verband und ersetzte
den verstorbenen Erfurter Ewald Mertens in dieser Branche. Manfred
Reiß war es bereits frühzeitig in seiner wissenschaftlichen Laufbahn
gelungen, aus soliden Weltstandsanalysen für konkrete Ausdauerleistungen
und davon abgeleiteten Leistungsprognosen auf dementsprechende
Leistungsstrukturen zu schließen, um schließlich am Ende
der Kette die optimale Trainingsstruktur für den Einzelnen erarbeiten
zu können. Er war frühzeitig in seiner Laufbahn immer ein „Mann für
realistische Konzeptionen“. Der von ihm trainierte Jürgen May lief
1965 über 1000 m Weltrekord, Europameister Manfred Matuschewski
verbesserte 1966 über 800 m den deutschen Rekord.
Wenn man seine Leistung als interdisziplinär orientierter Trainingstheoretiker
und -praktiker im FKS auf den Punkt bringt, so handelt es sich
darum, dass international in den siebziger Jahren die trainingswissenschaftlich
gestützte Leistungs- und Trainingssteuerung immer mehr zu
einem Eckpfeiler der Trainingssysteme erwuchs. Theorie und Praxis
wuchsen in diesem System zusammen und funktionierten wirksam.
Manfred Reiß hat maßgeblich mit daran gearbeitet, dass diese Faktoren
im Lande einen immer höheren Stellenwert bekamen.
Dieses Wissen und diese Erfahrung des DDR-Sports transportierte er
ab 1992 im neugegründeten Institut für Angewandte Trainingswissenschaft
(IAT) mit anderen Kollegen in den Leistungssport der BRD und
versuchte, die praktische Wirksamkeit auch unter völlig anderen gesellschaftlichen
Bedingungen, anderen sportlichen Auffassungen in
einem zunehmend kommerzialisierten internationalen Wettkampfbetrieb
zu sichern. Er stimmte 2001 in einer Drucksituation des Instituts
der Verlängerung seines auslaufenden Vertrages bis Ende 2004 zu
und stand noch einmal an der Spitze des Fachbereichs Ausdauersportarten.
Dann hakte er den Hochleistungssport ab.
63
Um sich treu zu bleiben, suchte er nach einer neuen Herausforderung
und fand sie in der aufblühenden Welt der Fitness Center. Er hielt sich
im Rahmen verbliebener Möglichkeiten auch selbst fit, aber seine
ganze Aufmerksamkeit galt nun der hochwertigen trainingswissenschaftlichen
Ausbildung von Fitnesstrainern und -ökonomen. Der passionierte
Hochschullehrer und Förderer junger Menschen, der er immer
war, hatte ein völlig neues Betätigungsfeld in der Leipziger
Berufsakademie, die sich 2008 von Saarbrücken aus bis zur privaten
Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement
fortentwickelte, die auch in Leipzig ihr Domizil hat.
Zu den Spuren, die Manfred Reiß den Nachgeborenen als Vermächtnis
hinterlassen hat, gehört auch, dass er aus der Wissenschaft heraus
ein politischer Mensch mit großer Übersicht war, dass er seit 1961
mit seiner Frau Angelika ein naturverbundener umsichtiger Familienmensch
war, aber auch, dass er über Jahrzehnte hinter den Kulissen
seines prallen Arbeitslebens, von vielen unbemerkt, einen menschlich
heldenhaften Kampf gegen den Krebs führte, den er mit engagierten
Ärzten etappenweise nur zeitweilig gewinnen konnte. Er betreute in
den letzten Jahren, da er nicht mehr mobil war, per Telefon weiter umsichtig
Studenten, schrieb Gutachten für ihre Abschlussarbeiten - bis
seine letzten physischen Kräfte erloschen. Seine drei Kinder und zwei
seiner sechs Enkel haben ihn bei der Trauerfeier als Vater, Opa,
Freund und verständnisvollen Ratgeber zum Abschied eindrucksvoll
gewürdigt.
Ulli Pfeiffer
64
KARL-HEINZ WEHR
25. Mai 1930 – 19.September 2015
Der Oberst a.D. der Nationalen Volksarmee der DDR war als langjähriger
Chef des Leistungssports der Armeesportvereinigung nicht nur
eine der führenden Persönlichkeiten des DDR-Sports, sondern als
Generealsekretär des Internationalen Amateurboxverbandes (AIBA)
auch eine der profilierten Kapazitäten des Weltsports. Er sorgte in dieser
Funktion über lange Jahre dafür, dass die oft erbitterten Duelle des
kommerzialisierten Sports mit dem Amateursport im Boxen lange Zeit
zu Ungunsten der Profis ausgingen und damit den Prinzipien der sozialistischen
Sportbewegungen entsprach. Wehr war 1968 als einer der
ersten DDR-Sportfunktionäre in eine internationale Funktion gelangt,
als man ihn ins Europakomitee des internationalen Verbandes wählte,
wo er schon bald zum Vizepräsidenten aufstieg. 1986 wählte ihn die
Mehrheit des Kongresses zum Generalsekretär des Weltverbandes.
Das Internationale Olympische Komitee entschied sich, ihn in seine
Zulassungskommission zu entsenden. Einfluss gewann er auch, als er
die Zeitschrift der AIBA herausgab. Als sich der Profiboxsport zunehmend
an den Einnahmen der Fernsehkonzerne bereicherte, geriet der
Amateurboxsport immer mehr ins Hintertreffen und Karl-Heinz Wehr
wurde von den Boxsportanhängern vieler Länder als der „Retter des
Amateurboxens“ gerühmt, geriet in seiner Funktion aber im Kampf
gegen das Profiboxen in immer größere Schwierigkeiten. Er blieb bis
an sein Lebensende der entschlossenste Verteidiger dieser olympischen
Disziplin, zumal die Manager der Profiboxer ihre Veranstaltungen
immer mehr zu von Betrügereien geprägten Shows werden ließen.
Bis zu seinem Tode war er Vorsitzender der Traditionsveranstaltungen
der Armeesportvereinigung. Der Verein Sport und Gesellschaft
trug ihn in das Goldene Buch des deutschen Sports ein. Persönlich
hatte er viele Freunde, die ihn wegen seiner umgänglichen Art sehr
schätzten.
Klaus Huhn
65
ERIKA ZUCHOLD
19. März 1947 – 22. August 2015
Zum Gedenken der im fernen Ascuncion beinahe unbemerkt für die
deutsche Öffentlichkeit verstorbenen Weltklasseturnerin Erika Zuchold
war am 11. September im Berliner Sportmuseum Marzahn-Hellersdorf
eine Trauerfeier veranstaltet worden. 40 ehemalige Turnerinnen und
Turner, Trainer, Kampfrichter, Sportfunktionäre und Freunde des
DDR-Sports nahmen an der feierlichen Würdigung teil, darunter die
Turn-Olympiamedaillengewinner von Mexiko-City 1968 und München
1972 Marianne Noack-Paulick, Magdalena Schmidt-Jakob, Maritta
Bauerschmidt-Grießig und Irene Abel, der zweifache Bronzemedaillengewinner
und langjährige Nationaltrainer Peter Weber, die mehrfache
Olympiamedailliengewinnerin im Schwimmen und im Handball
Roswitha Krause, Erika Zucholds erste Trainerin Dr. Ursula Gundlach,
der Vize-Präsident des DTSB der DDR Prof. Dr. Horst Röder, der
Sprecher der Gemeinschaft der Sportsenioren der DDR Erhard Richter
sowie Freunde des Sports wie Eberhard Aurich.
Sie alle waren gekommen, um die Doppelweltmeisterin, Gewinnerin
mehrerer olympischer Silber- und Bronzemedaillen und 14-maligen
DDR-Meisterin und damit einer der erfolgreichsten deutschen Turnerinnen
aller Zeiten, der Leipzigerin Erika Zuchold die Ehre zu erweisen.
Der Gedenkredner Herbert Grießig würdigte sowohl die bemerkenswerten
Erfolge der Verstorbenen als Turnerin des Sportclubs
Leipzig, der DDR-Nationalmannschaft und nach ihrer sportlichen
Laufbahn als bildende und darstellende Künstlerin als auch ihre kaum
vergleichbare Persönlichkeit, in der sich Wille, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit,
Nachdenklichkeit, Kreativität und Dynamik zu einer einmaligen
Symbiose vereinigt hatten. Er verwies darauf, dass es Erika
Zuchold gelang, sowohl die Leipziger Turnschule als auch die Leipziger
Kunstschule auf einem bemerkenswert hohen Niveau zu repräsentieren.
Ihre Olympiateam- und Clubkameradin Maritta Bauerschmidt-
Grießig lobte vor allem die kämpferische Seite von Erika, die sich in
den Wirren der Wendezeit nicht entmutigen ließ und mit außerordentlicher
Beobachtungsgabe und geschickter Hand unterschiedliche
Strukturen, Bewegungen und Handlungen in Natur und Gesellschaft
erforschte und künstlerisch zur Ansicht brachte. Unvergessen bleibe
ihre Vielseitigkeit, die sie nicht nur im Kunstturnen sondern auch in
ihren Auftritten in Unterhaltungssendungen des Fernsehens nachweisen
konnte.
Dr. Ursula Gundlach unterstrich in ihren Gedenkworten, dass sie es
als eine wahre Freude und ein großes Glück empfand, mithelfen zu
66
dürfen, aus einem Leipziger Turn-Rohdiamanten eine der hochkarätigsten
deutschen Turnerinnen zu formen. Sie werde Erika nie vergessen
und als schöpferisches, aktives, oft rastloses, aber auch Zuwendung
bedürftiges Menschenkind in Erinnerung behalten.
Während der Gedenkfeier erinnerten Videos - wie von der Schwebebalkenkür
zur Weltmeisterschaft 1970 in Ljubliana - an die großen
turnerischen Erfolge der Verstorbenen Turnerin.
Die Erinnerungen an sie als einer erfolgreichen, liebenswerten, bescheidenen
und bodenständigen Sportlerin werden nicht verblassen,
denn ihr Name und ihr Vermächtnis werden in der Turn-Talenteschule
des Deutschen Turner-Bundes in Leipzig und in der Internationalen
Hall of Fame in Oklahoma-City bewahrt bleiben.
H. G.
67
RESONANZ
zu „Der endlose Politfeldzug gegen den DDR-Sport“
Die von Dr. Klaus Huhn unlängst erschienene Schrift mit dem Titel
„Der endlose Politfeldzug gegen den DDR-Sport“, in der er das Vorgehen
von Staat und Politik (einschließlich der Sportpolitik) in der Bundesrepublik
Deutschland gegen den DDR-Sport dokumentiert, hat eine
bisher einmalige Resonanz gefunden. Mehr als einhundert Mal musste
ich bisher per Internet über diese Schrift Auskunft erteilen und viele
auf dem Postweg in alle Himmelsrichtungen verschicken.
Nahezu 80 Prozent aller Postsendungen mit der Schrift „Der endlose
Politfeldzug…“ gingen in die alten Bundesländer. Ob Büchereien;
Basisgruppen von Parteien oder Einzelpersonen aus Köln oder Nürnberg,
Würzburg oder Düsseldorf aber auch aus Halle, Suhl oder
Chemnitz - das Interesse war und ist sehr groß.
Schriftlich teilten viele Leser - insbesondere aus der einstigen DDR
- mit, dass sie schon vergessen hatten, mit welchen Intrigen die damalige
westdeutsche Führung gegen den DDR-Sport, gegen die Athletinnen
und Athleten aus der DDR vorging.
Auch auf unserer Homepage www.sportgeschichte.net wurde nach
der Veröffentlichung zum „Politfeldzug…“ gesucht. Innerhalb von zwei
Wochen waren 8933 Zugriffe zu verzeichnen. Die meisten Zugriffe
kamen aus der Bundesrepublik Deutschland und sogar aus Brasilien,
Ungarn, Schweiz, Ecuador, Russland und Vietnam.
Nachdem „Sport und Gesellschaft e.V:“ inzwischen 40 Hefte der
„Beiträge zur Sportgeschichte“ veröffentlicht hat, in denen Dr. Huhn
bereits zahllose Originaldokumente zum Thema „Politfeldzug…“ präsentierte
und - wenn notwendig - kommentierte (jeweils nach Ablauf
der Sperrfrist von 30 Jahren), hat der nun vorliegende Überblick außerordentliches
Interesse gefunden. Deshalb gilt der Dank vieler Mitglieder
des Vereins „Sport und Gesellschaft e.V.“ Dr. Klaus Huhn für
sein Wirken, damit Bewahrenswertes nicht in Vergessenheit gerät.
Hasso Hettrich (Präsident „Sport und Gesellschaft e.V.“)
68
UNSER VEREIN LÄSST SICH IN SEINER TÄTIGKEIT VON DEN
OLYMPISCHEN PRINZIPIEN LEITEN UND TRITT FÜR
HUMANITÄT UND DEMOKRATIE IM AKTUELLEN NATIONALEN
UND INTERNATIONALEN SPORTGESCHEHEN EIN. WIR UNTERSTÜTZEN
ALLE BESTREBUNGEN ZUR VERWIRKLICHUNG
DES RECHTS AUF AUSÜBUNG DES SPORTS IN DER
LEBENSGESTALTUNG DER INDIVIDUEN UND SIND DEN
DEMOKRATISCHEN WIE ALLEN FORTSCHRRITTLICHEN TRADITIONEN
DER DEUTSCHEN KÖRPERKULTUR UND DES
WELTSPORTS VERPFLICHTET.
WIR SIND UNABHÄNGIG: WER MITGLIED WERDEN WILL,
SOLLTE EINEN ANTRAG STELLEN AN:
Sport und Gesellschaft e.V.
Hasso Hettrich
Triftstr.34
15370 Petershagen

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DAS ERSTE GOLD
SPORT UND GESELLSCHAFT e. V.
Heft 42
Bestelladresse:
Sport und Gesellschaft e.V.
Hasso Hettrich
Triftstr. 34 – 15370 Petershagen
Unkostenbeitrag 3,50 Euro
2
Dr. KLAUS HUHN
*24.02.1928 † 20.01.2017
Der Journalist, Mitbegründer von „Sport und Gesellschaft e.V.“ und Verleger der „Beiträge zur Sportgeschichte“ ist im Al-ter von 88 Jahren verstorben.
Wir trauern um einen außerordentlich engagierten Sportjournalisten der von 1952 bis 1990 Sportchef der in Berlin er-scheinenden Tageszeitung „Neues Deutschland“ war, 38 Jahre die „Interna-tionale Radfernfahrt für den Frieden“ als Organisationschef leitete sowie Jahr-zehnte die Entwicklung des olympischen und DDR-Sports begleitete und doku-mentierte. 1979 wurde er in den Vorstand der Europäischen Sportjournalistenunion (UEPS) gewählt, in der er vier Jahre als Generalsekretär und vier Jahre als Vize-präsident fungierte.
1988 verlieh ihm das IOC für herausra-gende publizistische Tätigkeit den selten vergebenen Pressepreis und 1998 zeich-nete ihn die UEPS für seine Verdienste um die internationale Journalistenbewe-gung aus.
Sport und Gesellschaft e.V.
DAS ERSTE GOLD
DER DOSB 2016 ÜBER
WOLFGANG BEHRENDT:
Die Boxwelt staunte, und in der DDR standen sie Kopf, an jenem 1. Dezember 1956. Ein 20jähriger Ostberliner hatte beim olympischen Boxturnier in Melbourne die Goldmedaille im Bantamgewicht ge-wonnen. Er heißt Wolfgang Behrendt, und er voll-brachte mit seinem 2:1-Punktsieg über den Südko-reaner Soon Chung Song eine damals wie heute historische Tat: Es war die erste olympische Gold-medaille, die ein DDR-Sportler erkämpfte. Ein No-vum, sensationell, das man eigentlich mehr den ostdeutschen Weltklasse-Sprinterinnen Christa Stubnick oder Gisela Birkemeyer zugetraut hatte.
Damals Mitglied einer noch gesamtdeutschen Mannschaft, begeht Wolfgang Behrendt am 14. Juni 2016 in seiner Heimatstadt nun seinen 80. Geburts-tag. Eine gute Gelegenheit, an diesen bis heute vor allem in den neuen Bundesländern populär geblie-benen Sportler zu erinnern. War er doch nach sei-ner sportlichen Großtat auch 20 Jahre lang Persön-liches Mitglied im Nationalen Olympischen Komitee (NOK) der DDR und nach der Wiedervereinigung noch einmal 14 Jahre im NOK für Deutschland. Dessen Ehrenpräsident Professor Walter Tröger lobt Behrendt, dem er freundschaftlich verbunden ist, als „einen Olympiasieger wie ich ihn mir vorstel-le: ein Vorbild in jeder Hinsicht, besonders aber als Mensch“.
Dieser allzeit Gut-Laune-Mensch, dieser kesse Ber-liner voller Witz; bescheiden, freundlich, hilfsbereit; schnupperte die Boxluft schon als Elfjähriger, 1947, in der privaten Sportschule Karl Schwarz in Wei-ßensee. Durfte für 25 Mark im Monat (aufgebracht durch Taschengeld und Leergutsammeln) da mit-machen, wo auch die späteren Profi-Boxidole Gus-tav „Bubi“ Scholz und Gerhard Hecht ihre Grund-ausbildung erhielten.
Hans Borkowski war sein Heimtrainer und ein väter-licher Freund, der Wolfgang Behrendt buchstäblich „von Kindesbeinen an“, vom Box-ABC-Schützen bis in die Spitzenklasse führte: 1955 erstmals DDR-Meister; im gleichen Jahr als Federgewichtler die Bronzemedaille bei der Europameisterschaft. Und schon ein Jahr später, in Melbourne, der olympi-sche Gipfel!
Der Starreporter der DDR, Heinz-Florian Oertel, erinnerte im Berliner Tagesspiegel an seine damali-ge leidenschaftliche Radio-Übertragung: „Dann, in der dritten Runde, gingen mir doch die Pferde durch. Dazu geschah, wie sich später herausstellte, das Schlimmste für einen Reporter: kein Empfang in der Heimat. Die entscheidende Runde drei blieb auf der Ätherwellen-Strecke. Futsch!“
Der Boxer aber flachst den seit langem Freund ge-wordenen Reporter, die mittlerweile 88jährige „Sportstimme der DDR“, wegen der Übertragungs-panne noch heute: „Heinz-Florian, dass du dabei k.o. gegangen bist, naja...“
Behrendt selbst ist in seinen 201 Kämpfen nie durch k.o. besiegt worden. Nur achtmal verlor er nach
Punkten; fünf Duelle endeten unentschieden; aber 188 Mal stieg er als Sieger aus dem Ring.
Mit Melbourne verbindet der Bantam-Olympiasieger von 1956 u.a. noch, dass „die Teamteile Ost (36 Athleten) und West (126) getrennt wohnten im olympischen Dorf. Wir trainierten nicht einmal zu-sammen. Nur die Medaillen beanspruchte man ge-meinsam...“ Und: „Ich bin der einzige, der von zwei deutschen Präsidenten Glückwünsche erhielt“... von Wilhelm Pieck (DDR) und von Theodor Heuss (BRD).
Letzter verlieh dem ostdeutschen Landsmann für seinen Olympiasieg, weil eben gesamtdeutsche Mannschaft, sogar das Silberne Lorbeerblatt, die höchste sportliche Auszeichnung der Bundesrepub-lik. Als Behrendt sie in Bonn empfangen sollte – so hat er dem Autor einmal erzählt – hätten ihn am Flughafen Berlin-Tempelhof zwei DDR-Funktionäre zurück beordert.
So blieb diese Auszeichnung bis heute ohne ihren Empfänger.
Eine goldene Fortsetzung gab es nach Melbourne zwar nicht für den Berliner; aber eine Reihe ein-drucksvoller Siege: u.a. einen EM-Triumph über den Federgewichts-Olympiasieger Sawronow (UdSSR) sowie zwei weitere DDR-Meistergürtel (1957 und 60). Behrendt gewann auch die meisten seiner 21 Länderkämpfe für die DDR. Wo immer er hinkam, wurde der Ostberliner gefeiert. Ein Sympathieträger.
Nur in den olympischen Boxring kehrte Wolfgang Behrendt nicht mehr zurück. 1960 scheiterte er we-gen einer Handverletzung in der Qualifikation. 1964 – nach vier Jahren Ringpause – schickten ihn die
Funktionäre mit nur vier Wochen Vorbereitung in die Ost-West-Ausscheidung. Im Leichtgewicht! Die 1:2-Niederlage gegen den Mainzer Wolfgang Schmitt war das Ende seiner sportlichen Laufbahn.
Eine Profikarriere war für den Ostberliner nie ein Thema gewesen, obwohl es Angebote gegeben hatte. Das erste sogar schon im Dezember 1956 in Melbourne. Behrendt blieb bodenständig. Der ge-lernte Maschinenschlosser schulte um, erwarb das Zeugnis eines Filmkameramannes, war eine Zeit lang Assistent beim DDR-Fernsehen; fand seine berufliche Erfüllung aber schließlich als Diplom-Fotograf.
Von 1965 bis 1990 war er als Fotoreporter für die Ostberliner Tageszeitung „Neues Deutschland“ in der Welt des Sports unterwegs, u.a. bei acht Olym-pischen Spielen, zahlreichen Welt-und Europameis-terschaften sowie 25 Mal bei der legendären Frie-densfahrt. Auch als Bildreporter zeigte Wolfgang Behrendt Klasse. Zweimal gewann er Gold für das „Siegerfoto schwarz-weiß“ bei den Weltausstellun-gen der Sportfotografie in Damaskus und Peking. Und noch viele andere Preise.
Doch als 1989 die DDR zusammenbrach und 1990 ein vereintes Deutschland ausgerufen wurde, be-kam der 54jährige Meisterfotograf von seiner Zei-tung als einer der ersten Mitarbeiter den „blauen Brief“. Eine Welt brach zusammen. Aber Behrendt ging nicht unter. Seine Familie, Ehefrau Monika und die Söhne Mario und Heiko, fingen ihn auf.
Er wurde Freier Fotoreporter, u.a. bei der Super-Illu, für die er Homestories von Prominenten machte, von Sportlern wie der Kanu-Rekord-Medaillen-
gewinnerin Birgit Fischer oder Künstlern wie dem Dresdner Kammersänger Peter Schreier.
Doch mit dem Boulevardjournalismus konnte er sich nicht anfreunden, ebenso wenig mit der Digitalfoto-grafie. Mehr und mehr zog sich Behrendt aus dem Beruf zurück. Er besann sich auf sein Hobby, die Musik. Aber nicht die Geige aus Kinderzeiten wurde sein Instrument, sondern die Trompete. Kombiniert mit der Mundharmonika und seinem schier endlo-sen Repertoire an guten Witzen trat er bei vielen Veranstaltungen als Musikclown auf. Auch da war er so gut, dass der Zirkus Aeros ihm einen Vertrag anbot.
Er aber wollte „frei“ bleiben. Es genügten ihm die gelegentlichen Auftritte mit dem Reporterfreund Heinz-Florian Oertel: interessante, viel applaudierte Unterhaltung, präsentiert von zwei Publikumslieb-lingen der ehemaligen DDR. Und wenn Senioren-heime um ein Trompeten-Gastspiel anfragten, ließ sich der Olympiasieger nicht zweimal bitten.
In den letzten Jahren ist es still um Wolfgang Beh-rendt geworden. Keine Trompetenauftritte mehr, nicht einmal Training in der als „Studio“ schalldicht gebauten Sauna in der Datscha direkt am Ufer des Klein Köriser Sees vor den Toren Berlins. Er hatte sich voll und ganz auf die Pflege seiner schwer er-krankten Frau Monika konzentriert.
Sie war mit dem Spitzensportler und Fotojournalis-ten seit 1960 durch dick und dünn gegangen. Eine Ur-Berlinerin: schlagfertig, humorvoll, herzlich, sportlich – wie ihr „Wölfchen“. Doch auch seine Für-sorge konnte ihre Krankheit nicht aufhalten. Am 26. Mai ist Monika Behrendt verstorben. Knapp drei
Wochen vor dem Jubiläumsgeburtstag ihres Man-nes.
Zu diesem stolzen „80.“ wird es die geplante Feier nun nicht geben. Stattdessen übermitteln ihm seine vielen Freunde und Bekannten ein mitfühlendes stilles „Courage, lieber Wolfgang!“
(Quelle: DOSB/Klaus Angermann)
INTERVIEW DES „SCHATTENBLICK“ MIT BEHRENDT:
Der Boxer Wolfgang Behrendt errang 1956 bei den Olympischen Spielen in Melbourne im Bantamge-wicht den ersten Olympiasieg für die Deutsche De-mokratische Republik (DDR). Im Anschluss an eine Vorführung des Films „Die Goldmacher - Sport in der DDR“ an der Akademie der Künste in Berlin hat-te der Schattenblick die Gelegenheit zu einem aus-führlichen Interview mit Wolfgang Behrendt, der zu den Protagonisten der Filmdokumentation gehört. Mitunter greift der gelernte Sportfotograf, der von 1963 bis 1991 für die Tageszeitung Neues Deutsch-land arbeitete, auch zu Trompete, Mundharmonika und Geige und lässt musikalisch die Fäuste tanzen.
Schattenblick: Herr Behrendt, wie hat Ihnen der Film „Die Goldmacher - Sport in der DDR“ gefallen?
Wolfgang Behrendt: Ach, im Großen und Ganzen muss ich sagen, hat mir der Film gut gefallen. Die Filmtruppe hat sich sehr viel Mühe gegeben, die Gestaltung war gut gemacht, mit einer guten Kame-raführung und einem prima, sehr rasanten Schnitt. Natürlich kann immer irgendjemand sagen, dass ihm der eine oder andere Punkt nicht gefallen hat,
aber so im Großen und Ganzen muss ich sagen, habe ich so einen Film über den DDR-Sport noch nicht gesehen.
SB (Abkürzung „Schattenblick“): Könnte man also sagen, dass Sie sich als DDR-Sportler angemessen repräsentiert sehen?
WB (Abkürzung Wolfgang Behrendt): Ja, ich so-wieso, denn ich bin ja im Film relativ oft zu sehen und zu hören gewesen. Das Hören hat mir nicht ganz so gut gefallen (lacht), weil ich gedacht habe, dass dann natürlich auch, wie es sonst üblich ist, eine richtige Tonaufnahme gemacht wird. Aber egal, das ist eben Sport gewesen, und ich bin da mehr oder weniger als Sportler aufgetreten, wes-halb ich die Sache so hinnehmen konnte.
SB: Waren Sie auch an der Konzeption oder als Berater des Films beteiligt?
WB: Nein, daran war ich nicht beteiligt. Natürlich haben wir Vorgespräche geführt, wie der Film lau-fen soll, aber wie es im Einzelnen sein sollte, wuss-te ich nicht. Ich wusste nur, dass ich angeblich durch diesen Film leiten sollte. Man wollte viel aus meinem persönlichen und sportlichen Leben erfah-ren, was dann praktisch mit in das Drehbuch einge-flossen ist. Ich glaube, Herrn Knechtel habe ich vor-her bloß einmal gesehen, außer später bei den Filmaufnahmen.
SB: Hatten Sie Fragen schon vorweg bekommen oder sind diese erst vor Ort gestellt worden?
WB: Es gab keine Fragen vorweg. Alle Fragen wur-den an einem Drehtag in der Sportstätte am Wei-ßensee, wo ich früher einmal trainiert habe, gestellt. Das ging sogar über zwei Stunden, und es waren
auch weitaus mehr Fragen und Antworten als nach-her zu sehen waren. Was natürlich klar ist, Sie kön-nen keinen Film über mich machen. Das ist eine ganz andere Konzeption gewesen, die ich aber nicht kannte.
SB: Im Film werden Ihre Aussagen an verschiede-nen Punkten platziert und stehen nicht mehr in dem Zusammenhang ihres ursprünglichen Frage-Antwortgesprächs. Wurde Ihrer Meinung nach durch diese Art der Darstellung der Bezug Ihrer Antworten verändert oder sind Sie angemessen präsentiert worden? Oder gab es gar Aussagen, die für Sie wichtig waren, aber dem Filmschnitt zum Opfer gefallen sind?
WB: Naja, ich will es mal so sagen, bei der Fülle konnte auch wahrscheinlich nicht alles gezeigt wer-den. Es ist längst nicht alles gekommen, denn wur-de ein Problem angesprochen, habe ich ausführlich geantwortet, und jetzt ist davon immer bloß ein Satz im Film. Das ist, ich will nicht sagen verfälscht, aber es bringt zumindest nicht die Vollständigkeit zum Ausdruck, so wie ich es gesagt habe oder wie ich es gemeint habe.
SB: Sind dadurch Aussagen, auf die Sie besonde-ren Wert gelegt hatten, dass sie im Film vorkom-men, weggefallen?
WB: Nehmen wir das Beispiel, als es um die Aner-kennung der DDR und die Auseinandersetzung zwischen der DDR und der BRD im sogenannten Kalten Krieg ging. Wie ich mich noch gut erinnere, hatte ich damals gesagt, dass in den ersten Jahren nach dem Krieg die DDR die Einheit wollte und nicht die Bundesrepublik. Die BRD wollte gar nicht
die Einheit, aber die DDR wollte damals die Einheit und auch eine einheitliche olympische Mannschaft. Doch die Bundesrepublik war dagegen, und auf-grund ihrer Beziehungen zum IOC, durch Karl Ritter von Halt [Präsident des westdeutschen NOK von 1951 bis 1961 - d. Red.] und anderer Funktionäre, die damals schon in Amt und Würden waren, hatte die BRD das Sagen und konnte dadurch die Olym-pischen Spiele 1952 in Helsinki, beim ersten Olym-pia-Auftreten der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg [1948 in London waren Japan und Deutschland ausgeschlossen - d. Red.] allein be-streiten. Wir durften da nicht hin, weil wir in keinem internationalen Gremium einer Sportart waren, nicht einmal in einem Verband. Man kann an Olympi-schen Spielen nur dann teilnehmen, wenn man mit seinen Sportlern einem internationalen Verband angehört und auch Länderkämpfe und Europameis-terschaften bestritten hat. Doch das war damals noch nicht der Fall, und es war uns deshalb nicht gelungen, weil Karl Ritter von Halt und andere Funktionäre damals noch gesagt haben: Die Ostzo-ne gibt es nicht - damals hat man noch nicht von der DDR gesprochen -, wir sind die einzigen Vertre-ter Deutschlands. So wurde es uns gesagt, und das ist im IOC dann auch so gehandhabt worden.
SB: 1955 errangen Sie zum ersten Mal den Titel des DDR-Meisters im Bantamgewicht.
WB: Ich glaube 1954 schon das erste Mal, 1955, 1957 und 1960.
SB: 1956 bei den Olympischen Spielen in Melbour-ne holten Sie als 20jähriger, damals noch in der gesamtdeutschen Mannschaft, im Bantamgewicht
die Goldmedaille und wurden damit der erste Olym-piasieger der DDR. Weitere Erfolge errangen Sie im Amateursport, ehe Sie 1964 Ihre aktive Karriere beendeten. Warum hörten Sie damals auf, Sie wa-ren zu dieser Zeit doch erst 28 Jahre alt?
WB: Ich habe mir Verletzungen zugezogen, als bei uns im DDR-Sport die Wissenschaft Einzug gehal-ten hat. Mit dem wissenschaftlichen Training, das uns, ich will nicht sagen verabreicht, aber doch empfohlen wurde, ging es los, viel mit Gewichten zu arbeiten. Wir Boxer mussten als Holzfäller arbeiten, Bäume fällen und Stuppen holen und dergleichen, so dass sich der Muskelwuchs stark vermehrt hat. Dadurch ist die Schlagkraft stärker geworden, aber die eigenen Knochen konnten dem nicht standhal-ten. Damals, in dieser Entwicklungsphase konnte das alles noch keiner so richtig wissen, dass der Knochenbau dem nicht standhalten konnte und wir uns deshalb oft Knochenbrüche zugezogen haben. Dadurch habe ich mir dann bei einigen Kämpfen, auch bei den Ausscheidungskämpfen, die Hände kaputtgemacht. Die DDR-Meisterschaft habe ich eigentlich mit kaputten Händen gewonnen. Ich habe mir an der Schlagfläche Schaumgummi unter den Handschuh gelegt, damit ich nicht so hart treffe und mir nicht die Hand so weh tut. Doch bei den Olym-piaausscheidungen 1964 hatte ich dann auch ge-brochene Hände.
SB: In den innerdeutschen Qualifikationskämpfen für die gemeinsame Mannschaft für die Olympi-schen Sommerspiele 1964 in Japan waren Sie im Leichtgewicht gestartet. Im Film sagten Sie, dass Sie nur einen Monat Vorbereitungszeit gehabt ha-
ben, was ja sehr kurz ist. Wie sind Sie überhaupt wieder zu diesen Ausscheidungskämpfen gekom-men, nach einer Auszeit vom aktiven Sport von ei-nigen Jahren?
WB: Ich hatte offiziell mit dem Boxen aufgehört und mit meinem Fotografenstudium angefangen. Dann bekam ich oft Kreislaufprobleme, weil ich mein Le-ben lang vom 11. oder 12. Lebensjahr an zwei- bis dreimal am Tag Hochleistungstraining gemacht ha-be. Da ich nun auf einmal gar nicht mehr trainierte, sagte mir ein Sportarzt, den ich damals getroffen habe: „Mensch, du musst zusehen, dich wenigsten einmal in der Woche wieder zu bewegen, wenn nicht sogar noch öfter.“ Und da bin ich einmal in der Woche, wenn wir gerade studienfrei hatten, wieder zum Training in meinen alten Club gegangen. Dann hat es sich irgendwann so ergeben, dass ich auf einmal wieder so gut wurde, dass die Trainer staun-ten und sagten: „Mensch, der ist ja wieder weitaus besser als das Material, was wir momentan haben.“
Die Funktionäre wollten für die Olympischen Som-merspiele 1964 in Tokio einen Coup landen und die Mehrheit der gesamtdeutschen Mannschaft stellen. Nachdem sie alles durchgerechnet hatten, suchten sie nun nach Sportlern, welche die Punkte zusam-menbringen konnten, damit wir die Mehrheit beka-men. Hier im Boxen war es dann zum Beispiel bei mir so, dass die Funktionäre sagten: „Gut, der muß im Leichtgewicht starten, gegen den Schmidt aus Mainz, da könnte er dann gewinnen, wenn der wie-der so gut ist wie früher.“ Aber was man eben nicht bedacht hatte, war, dass es mir an praktischer Er-fahrung fehlte, denn ich hatte seit meinem Neube-
ginn keine Wettkämpfe mehr bestritten, sondern nur Training gehabt. Am 2. Mai bin ich ins Trainingsla-ger Güstrow gekommen und am 28. Mai war der Kampf. Das waren also nicht mal vier Wochen, und ich hatte noch 10 Kilo Übergewicht durch vier Jahre normal-ziviles Leben. Ich hatte ohnehin schon im-mer etwas zu viel Gewicht für meine Gewichtsklas-se gehabt, aber zu der Zeit hatte ich noch mehr, und das musste ich dann alles in kurzer Zeit runter-kriegen.
Und dann hatte ich wieder dreimal Training am Tag. Die ersten Tage wusste ich nicht mehr, was oben und was unten ist, so einen Muskelkater hatte ich überall, und es war schon viel Mühe, die vier Wo-chen gut durchzustehen. Wie gesagt, der größte Mangel war, dass ich keine praktische Wettkamp-ferfahrung hatte. Ich kam mir doch irgendwie ulkig vor, denn man kann zwar früher Olympiasieger oder sonst was gewesen sein, man ist aber immer nur so gut, wie man trainiert hat, und ich hatte nicht ent-sprechend trainiert.
SB: Der Einfluss des DDR-Boxens auf die gesamte deutsche Boxsportlandschaft ist ja auch heute noch unübersehbar. Selbst das aktuelle Profiboxen trägt die trainingsmethodische Handschrift der ostdeut-schen Erfolgsschmieden. Hat der Boxsport der DDR sich als dermaßen überlegen erwiesen?
WB: Ich will nicht sagen „dermaßen überlegen“, aber es war schon so, dass unsere Sportorganisati-on mit all ihren Mitarbeitern, denn es ist ja kein Ath-let von sich aus alleine so gut geworden, sehr effek-tiv war. Es ist immer ein Kollektiv von Trainern, Wissenschaftlern, Ärzten und dergleichen gewesen,
die einen betreut und umsorgt haben, so dass man die Trainingsbelastung, die ja ein Vielfaches mehr als der eigentliche Wettkampf war, durchstehen konnte. Denn das war ja das A und O, tagtäglich diese Trainingsbelastung zu ertragen, denn letzten Endes ist man auch nur ein Mensch. Es hat schon einige Überwindung gekostet, wenn im Sommer bei schönem Wetter alle Baden gehen und man selbst geht in die Halle und muss wieder trainieren und schwitzen, bei aller Liebe, die man zu der Sportart hatte. Und ich habe die Sportart betrieben, weil ich Lust und Liebe dazu hatte. Das hat mir keiner be-fohlen und gesagt, du musst jetzt boxen. Wenn ich es nicht gewollt hätte, hätte ich es nicht gemacht. Und ich hatte Lust, denn die Lust und Liebe ist das A und O für alle Sportler und alles was die machen. Wer das nur macht, weil er vielleicht groß Geld ver-dienen will, aus heutiger Sicht, wie bei den Profis, der wird auch nichts. Da muss wirklich Lust und Liebe, Können und Ausdauer mit dabei sein.
SB: Sie sprachen gerade von einem Kollektiv. War eine gegenseitige Verstärkung und eine geringere Konkurrenz untereinander, mit anderen Worten, ein kollektiv gestütztes Sporttreiben ein wesentlicher Bestandteil der DDR Goldschmiede und damit ein wichtiger Faktor, um diese Leistungen bringen zu können?
WB: Ja, klar. Auf der einen Seite gab es das Kollek-tiv, auf der anderen Seite war der Konkurrenzkampf dennoch groß, und oft war es mitunter schwerer, einen Konkurrenten - wir sagen sportlicher Partner oder Wettkampfgegner - im eigenen Land zu schla-gen als im Ausland gegen irgendjemand zu boxen.
Die Konkurrenz im eigenen Land war schon groß gewesen, das ist unbestreitbar, genauso war es auch in vielen anderen Sportarten. Das hat sich na-türlich auch durch die umfängliche Förderung erge-ben, die sich die Regierung nun einmal für den Sport vorgenommen hatte und auch umgesetzt hat.
SB: Gab es im technischen Sinne etwas Besonde-res im DDR-Boxsport, wodurch er sich Ihrer Mei-nung nach vom westlichen Boxen unterschieden hat?
WB: Ich denke ja. Schon die Einstellung zum Trai-ning, der Trainingsaufbau, die Trainingsvielfalt, die wir hatten, dürften andere nicht gehabt haben, weil ihnen das Geld nicht zur Verfügung stand. Die Re-gierung hat viel Geld für den Sport ausgegeben und dadurch konnte auch viel gemacht werden. Wir ha-ben auch Vielseitigkeitstraining gemacht, zum Bei-spiel hat mein Trainer mit mir Hammerwerfen, Dis-kuswerfen, Kugelstoßen, Federball für die Reaktion und viele andere Sportarten gemacht.
Mein Trainer hat auch schon bei unserem Club „Einheit Berlin“, in dem wir damals waren, eine gan-ze Boxmannschaft, vom Fliegen- bis Schwerge-wicht, gehabt, und das verstehe ich auch unter Kol-lektiv. Die Clubmannschaft war so gut, dass wir damals den österreichischen Nationalkader ge-schlagen haben. Und mein Trainer hat die ganze Mannschaft beim Sparring für mich eingesetzt, und zwar musste jeder mit mir eine Runde boxen. Das war eine Vielseitigkeit, denn ich habe die erste Runde mit einem Fliegengewichtler, die zweite Runde mit einem Schwergewichtler, die dritte Run-de mit einem Bantamgewichtler, die vierte Runde
mit einem Halbschwergewichtler bestritten, mal ge-gen einen Großen und dann gegen einen Kleinen, dauernd durcheinander. Und die Boxer mussten alle voll aus sich rauskommen, auch die großen. Ich musste alle Runden durchboxen, während die an-deren sich zwischendurch ausruhen konnten, denn sie kamen nur abwechselnd dran. Aber ich musste die ganzen Runden voll durchgehen. Man musste unheimlich viel Nerven aufbringen und Denkvermö-gen, denn es geht nicht nur ums Kloppen, sondern zuerst einmal darum, dass man nichts nimmt und alles auspendeln kann und dass man dann noch die technischen Schläge hat, um erfolgreich zu sein. Das war ein sehr vielseitiges und gutes Training. Und das verstehe ich auch unter einem Kollektiv, dass die alle mitgemacht haben und nicht gesagt haben, „Mensch, warum sollen wir denn das ma-chen“. Das war schon gut.
SB: Von 1964 bis 1991 arbeiteten Sie als Sportfoto-graf für die Sportredaktion des Neuen Deutschland und erwarben sich einigen Ruhm, insbesondere die zwei Goldmedaillen auf Weltausstellungen der Sportfotografie in Damaskus und Peking in der Ka-tegorie „Schwarz-Weiß“. Hatten Sie einen bestimm-ten Stil, eine bestimmte Technik oder bestimmte Ideen, was Sie wie fotografieren wollten?
WB: Ich habe mir eigentlich unbewusst, ohne dass mir das so klar war, durch meinen Stil zu fotografie-ren, unheimlich viel Anerkennung und Freunde in der Fotografie verschafft, nicht bei der Konkurrenz im Beruf, aber bei den Zuschauern und Zeitungsle-sern. Ich habe immer dafür geschwärmt, Ausschnit-te zu zeigen, nicht den ganzen Sportler, sondern die
wichtigsten Muskeln, die Abläufe und das Sportge-rät. Beispielsweise habe ich bei einem Kugelstoßer nicht den ganzen Sportler, sondern nur den Kopf, die Kugel und die Muskulatur aufgenommen. Ich habe mit langen Objektiven gearbeitet, um erst einmal schon relativ nahe ranzukommen. Am Ver-größerungsgerät habe ich dann meine Fotos selber gemacht, um riesige Ausschnitte machen zu kön-nen. Das ist mein Stil gewesen, was damals nicht so üblich war, denn die meisten Fotografen stehen und schauen, ob der Sportler ganz drauf ist, abdrü-cken und fertig. Aber meine Idee war, und das hat mir Spaß gemacht, immer besondere Ausschnitte zu machen.
Auf den Weltausstellungen, bei denen ich zwei Goldmedaillen für Sportfotografie gewonnen habe, war ein Foto von mir dabei, ein richtiges Original, das beim Radsport gemacht wurde und dabei eine Wasserglocke zeigt. Dieses Foto ist nicht gestellt gewesen, sondern war vielmehr der Zufall des Ta-ges, bei dessen Aufnahme man blitzschnell reagie-ren muss. Die Reaktion hatte ich vom Boxen her, und dadurch konnte ich auch die anderen Sportar-ten viel besser beobachten. Die Reaktion vom Box-sport hat mir beim Fotografieren unheimlich gehol-fen, so dass ich nicht die unwesentlichen Phasen des Bewegungsablaufes genommen habe, sondern die wesentlichen. Wir hatten damals ja noch nicht solche Kameras, wie es sie heute gibt, wo man bloß draufdrücken muss und alles rattert dann automa-tisch runter, sondern da musste man wirklich auf-passen, auf die Tausendstelsekunde, und dann draufdrücken, damit man das Richtige hat.
SB: Durch das Boxen hatten Sie dann auch die Er-fahrung, dass machen zu können?
WB: Ja, erstens kannte ich mich im Sport ein biss-chen aus, und wie gesagt, durch die Reaktion, die ich durchs Boxen immer wieder schulen konnte, und vielleicht war ich ja auch talentiert für eine gute, schnelle Reaktion, hat mir das dann bei der Foto-grafie sehr geholfen.
SB: Hatten Sie als Sportfotograf auch mit der Sportberichterstattung zu tun gehabt oder waren Sie sogar auch in diesem Bereich tätig gewesen?
WB: Ja, mitunter auch. Es ist oft so gewesen, denn auch bei uns gab es Sparmaßnahmen in den Re-daktionen, dass nicht immer Redakteure mit Foto-grafen fahren konnten. Manchmal, zum Beispiel bei Boxeuropameisterschaften oder Boxweltmeister-schaften, bin ich dann hingeschickt worden und ha-be die Fotos und die Berichte gleich mitgemacht. Nach dem Wettkampf bin ich schnell von der Sport-stätte in mein Hotelzimmer gegangen, habe dort ein kleines Labor aufgebaut, das ich immer mitgehabt habe, und meinen Film entwickelt. Damals war es ja noch nicht wie heute, dass man einen Laptop hatte und digital die Fotos und den Bericht schicken konnte. Den Bericht hatte ich natürlich vorher durchgegeben, dafür hatte ich ein Funkgerät dabei-gehabt. Dann habe ich die Bilder gemacht, schnell die ganzen Negative beschriftet, alles eingepackt, früh um vier zum Flugplatz gefahren und per Luft-post nach Berlin geschickt.
SB: Hat es im Laufe der Zeit in der Sportberichter-stattung gravierende Veränderungen gegeben? Gab es zum Beispiel früher mehr Hintergrundinfor-
mationen? Und ist der Inhalt heute oberflächlicher geworden?
WB: Ja, finde ich schon. Worauf ich besonders ge-achtet habe und was ich vermieden habe, war Sportler in unglücklichen Positionen zu zeigen, wie zum Beispiel, wenn sie sich vor Schmerzen krüm-men oder sich etwas gebrochen haben oder ge-stürzt sind und ähnliche Sachen. Diese Art von Fo-tos habe ich nicht so bevorzugt. Das haben andere gemacht, die nur Leute gebracht haben, die verun-glückt oder gestürzt waren, solche Krawallfotos. Die kann man vielleicht machen, um sie für ärztliche oder wissenschaftliche Sachen auszuwerten. Aber ich dachte mir, wenn ich die dauernd in die Zeitung bringe, verprelle ich mir doch die Jugend und vor allem die Eltern, die dann sagen: „Dich können wir doch nicht zum Sport schicken, sieh doch, was da alles passiert.“ Und das wollte ich nicht und darum habe ich darauf geachtet, schon harmonische Fotos zu zeigen, also Fotos, die der Sportart entsprachen. Aber auch keine Schönwetterfotos, wo alle Leute stehen und in die Kamera reingrinsen. Das meine ich damit nicht, sondern, wie ich schon sagte, sportgerechte Bilder, welche die Anstrengung des Sportes zeigen.
SB: In Ostdeutschland waren Sie immer eine Be-rühmtheit. Dem westdeutschen Publikum sind Sie eher durch Ihr musikalisches Hobby, das Trompe-tenspielen, bekannt. Ende der 90er Jahre gingen Sie ein Engagement beim Berliner Zirkus Aeros als Musikclown ein. Die Zuschauer waren von Ihren Auftritten mit Trompete, Geige und Mundharmonika begeistert. Wie sind Sie dazu gekommen? Ist das
ein Hobby von Ihnen gewesen, das Sie schon im-mer hatten?
WB: Ja, ich hatte es schon von der Kindheit an, denn mein Vater wollte immer eine Hauskapelle haben. Wir waren drei Jungs zu Hause, bekamen alle Musikinstrumente und sind zum Musikunterricht gegangen. Ich bekam eine Geige, habe sechs Jah-re Geigenunterricht gehabt und auch im Jugendor-chester gespielt. Nachdem aber der Musiklehrer das erste Boxbild von mir in der Zeitung gesehen hat, sagte er: Nein, er gibt mir keinen Musikunter-richt mehr, wenn ich nicht mit der Boxerei aufhöre. Naja, da mir das Boxen lieber war, habe ich dann erstmal die ganze Boxsache weitergemacht, aber ich schwärmte immer für die Musik. Wenn wir im Trainingslager waren oder aber auch sonst, den ganzen Tag nur Sport zu machen, das war auch nichts für mich. Ich musste auch mal was anderes machen und so habe ich oft die Trompete mitge-nommen. Die Trompete hat mir mein Trainer, der meinen Wunsch, Trompete zu spielen kannte, inso-fern verschafft, als er dem sportbegeisterten Bür-germeister von Weißensee nach einem Turniersieg das gesteckt hat, und der hat mir dann die erste Trompete geschenkt.
Dann bin ich zum Unterricht gegangen und habe es geschafft, zwölf Stunden Unterricht zu nehmen. Als aber die Zeit kam, wo ich immer viel unterwegs war, Trainingslager oder später im Beruf, musste ich viel autodidaktisch weiterarbeiten. Die Trompete hat mich auf meinen Weltreisen überall hin begleitet, und immer wenn ich eine Stunde Zeit gefunden ha-be, zum Beispiel im Hotel, auch wenn es abends
spät war, aber dann natürlich mit einem Dämpfer, habe ich geübt. So habe ich sie immer mitgehabt zum Üben, um wenigsten einigermaßen den Ansatz zu behalten. Nach der Wende, als ich dann auch arbeitslos wurde und dieses und jenes nicht mehr klappte, da sagten viele, ich solle mal wieder richtig üben. Und das hat dann einigermaßen hingehauen, so dass ich jetzt mit der Trompete fast genauso ei-nen Anklang gefunden habe wie mit der Kamera oder mit dem Boxen.
SB: Sie sagten gerade, Sie wurden arbeitslos. Was taten Sie nach dem Fall der Mauer? Sie waren ja Sportfotograf gewesen, haben Sie noch weiter in Ihrem Beruf arbeiten können?
WB: Nein, ich war fest angestellt bei der Zeitung Neues Deutschland in der Sportredaktion und bin dann sogar als einer der ersten gekündigt worden. Man hat mir gesagt, dass sie jetzt nicht mehr so viele Leute anstellen und bezahlen können. Da saß ich nun erstmal auf der Straße, und obwohl ich nicht weltfremd war, war es doch ein großer Schock, weil ich mein Leben lang nie Arbeitslosenzeiten, nie eine Grenze gekannt habe. Immer wenn es irgendwie Arbeit gab, habe ich alles gemacht, immer. Die längste Zeit habe ich wohl mal drei Tage und zwei Nächte hintereinander gearbeitet, ohne zu schlafen. Ich habe nicht nur fotografiert, ich war auch mein eigener Kraftfahrer, ich war mein eigener Laborant und Funker. Wie ich schon schilderte, habe ich alles rundum selbst gemacht, weil ich daran hing, die Ergebnisse, die ich dann aufgenommen habe, selbst mitzugestalten und damit meine Arbeit auch richtig zu vollenden.
SB: Kommen wir zu der letzten Frage, Herr Beh-rendt. Boxweltmeister und Olympiasieger Henry Maske oder auch Trainer Ulli Wegner fordern ein Ende der Verfolgung von dopingbelasteten Trai-nern. Wie stehen Sie dazu?
WB: Ja, ich glaube auch, dass es an der Zeit ist. Wenn man Schuldige gefunden hätte oder noch Schuldige finden würde, denen man beweisen könnte, dass sie wie behauptet kleine Kinder gedopt haben, wäre es schon angebracht, mit den Leuten zu reden. Vielleicht bringen sie eine Entschuldigung vor oder kommen zur Einsicht und sagen, dass das nicht richtig war. Bei den Leistungssportlern wurde ja, wie wir es im Film gesehen haben, auf der gan-zen Welt gedopt. Zu meiner Zeit noch nicht, das ging erst viel später los. Aber es kann mir keiner von diesen Sportlern erzählen, die sich da be-schweren, dass sie nicht gewusst haben, was sie bekommen haben. Das kann mir keiner erzählen, so doof kann kein Mensch sein.
Also wie ich eben schon sagte, müsste jetzt wirklich auch mal Schluss sein. Wir sind jetzt 20 Jahre nach der Wende, und es gibt ja nicht nur in der DDR Trainer, die das vielleicht gemacht haben. Ich kann keinen beschuldigen und ich kenne auch keinen persönlich, der es gemacht hat. Es gibt auf der gan-zen Welt Trainer, auch in der ehemaligen Bundes-republik, die das gemacht haben, und die werden ja auch nicht alle herangezogen. Es ist schon ein Kampf, der geführt werden muss, aber der wahr-scheinlich nie gewonnen wird, weil die Wissen-schaft, die daran arbeitet, immer einen Schritt vo-raus ist. Denn letzten Endes wurden diese Mittel
nicht zuerst fürs Doping der Sportler erfunden, son-dern eigentlich für die Gesundung von Schwerkran-ken. Durch den Kalten Krieg ist es dann dazu ge-kommen, dass die Mittel auf den Sport übertragen wurden, weil einer besser sein wollte als der ande-re, von den Ländern, den Nationen und den Gesell-schaftsordnungen.
Glaubte einer so wie Ulbricht beweisen zu können, dass die eigene Gesellschaftsordnung die bessere ist, wenn wir im Sport überlegen sind, hat sich dies ja als Fehlentwicklung erwiesen. Wenn ich in der Wirtschaft das Volk nicht befriedigen kann und in anderen Fragen des Landes, da nützen, wie man sieht, dem Volk auch die Goldmedaillen auf die Dauer nichts, wenn das das einzige bleibt.
SB: Herr Behrendt, ich bedanke mich recht herzlich für dieses Gespräch.
28. September 2009 / Copyright 2009 by MA-Verlag Elektronische Zeitung Schattenblick.
„FAZ“ am 11.10.2000 über BEHRENDT:
BERLIN. Treffpunkt „Forum“, das große Hotel am Berliner Alexanderplatz. Dort wartet auch ein Team des Westdeutschen Rundfunks, das an ei-nem Film für eine „Olympia-Nacht“ arbeitet. Da-nach hat Wolfgang Behrendt noch einen Termin im „Operncafe“, wo er die Präsentation eines druckfrischen Sydney-Buches mitmachen wird. Der flotte Mittsechziger ist viel gefragt in diesen Tagen - vor und nach den Olympischen Spielen von Sydney, Wolfgang Behrendt bleibt geduldig, auch wenn er feststellt: „Es sind immer die glei-
chen Fragen.“ Fragen an einen Zeitzeugen olym-pischer Geschichte.
Als Boxer war er 1956 in Melbourne dabei, und nicht nur das: Er stand ganz oben auf dem Treppchen. Eine Premiere. Denn Behrendt ge-wann die erste Goldmedaille für sein Land. Die-ses hieß offiziell „Deutschland“, aber für ihn war es die DDR. Auf Geheiß des Internationalen Olympischen Komitees starteten 36 ost- und 123 westdeutsche Athletinnen und Athleten zwar un-ter einer gemeinsamen, gleichsam neutralen Flagge, doch war man hüben und drüben um ein eigenes olympisches Profil bemüht. Vor allem in der DDR wurden Erfolge auf dem nationalen Kon-to verbucht. Zu Behrendts goldener kamen vier silberne und zwei bronzene Medaillen. Die Sport-ler aus dem Westen gewannen fünf Gold-, neun Silber-und sechs Bronzemedaillen. Eine bronze-ne wurde tatsächlich mit vereinten Kräften errun-gen, nämlich von einer gemischten Mannschaft im Straßenradsport. Auch im Rückblick ist es für Behrendt ein Wermutstropfen, dass er bei der Siegerehrung Beethoven und nicht die National-hymne zu hören bekam. „Da fehlte das gewisse Etwas.“ Dabei habe die Politik für ihn nur eine. untergeordnete Rolle gespielt. Der gerade 20 Jahre alte Bantamgewichtler realisierte noch nicht, dass er mit seinem Punktsieg über den Südkoreaner Soon Chung Song an jenem 1. De-zember 1956 Sportgeschichte geschrieben hatte. In der Heimat feierte man ihn zwei Jahre nach dem „Wunder von Bern“ als eine Antwort auf Fritz Walter, frei nach dem Motto: „Auch wir sind wie-
der wer.“ So wurde Wolfgang Behrendt zu einem der ersten „Diplomaten im Trainingsanzug“, und Walter Ulbricht dekorierte ihn mit dem Titel „Ver-dienter Meister des Sports“. Seine anhaltende Beliebtheit resultierte jedoch aus seinem Charak-ter: Er war und blieb ein einfacher Berliner Junge, ein bodenständiger Familienmensch, der den Verlockungen, des Westens - sprich des großen Geldes - widerstand. „Eine erste Offerte hat es noch in Melbourne gegeben“, erinnert er sich an einen australischen Unternehmer, der ihn spon-tan für seinen eigenen Boxstall einkaufen wollte. Auch dem Beispiel von Bubi Scholz wollte Beh-rendt nicht folgen, obwohl er sein Handwerk in derselben Boxschule, nämlich bei Karl Schwarz in Weißensee, erlernt hatte. „Ich bereue es nicht“, sagt er heute, doch ein wenig hadert er schon.
Der große Erfolg habe ihm mehr geschadet als genutzt. „Ganz aus eigener Kraft und gegen man-che Widerstände“ habe er sich vom Maschinen-schlosser hocharbeiten müssen. Er ging zum Fernsehen, um dann doch noch seinen eigentli-chen Berufswunsch zu realisieren: Nach dreijäh-rigem Studium wurde er Fotograf, mit dem Schwerpunkt Sport natürlich, und zwar beim SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“. Parteigenosse sei er aber erst recht spät geworden, und auch nur, um reisen zu können. Umso mehr ärgert es ihn, dass er die Wende, „im Gegensatz zu manch anderen“, nicht schadlos überstanden hat. Einige Jahre lief es noch ganz gut. Er fo-tografierte für die Zeitschrift „Super-Illu“ Pro-minente. Zum Beispiel die Kanutin Birgit Fi-
scher, die aus Sydney als erfolgreichste deut-sche Olympionikin heimkehrte. Doch dann re-bellierte er gegen die Gesetze des Boulevard-Journalismus und war schnell aus dem Ge-schäft. „So viel zum Thema Meinungsfreiheit“, sagt Behrendt. Nun ist er froh, wenigstens auf seine musische Begabung zurückgreifen und mit seiner Trompete sowie mit Geige und Mundharmonika auftreten zu können. Wenn er dabei von Heinz Florian Oertel angesagt wird, ist es fast wie damals in Melbourne. Der be-liebte Hörfunk- und Fernsehreporter hatte Behrendts größten Sieg in die DDR übertra-gen. In den nächsten Wochen können sie wie-der ausgiebig von den alten Zeiten schwärmen. Sieben gemeinsame Auftritte sind schon abge-macht. Vordergründig machen sie Werbung in eigener Sache: für ein Buch über Sydney 2000, an dem der eine als Herausgeber, der andere als Autor mitgewirkt hat. Behrendts Erinnerun-gen an „seine“ australischen Spiele, insbeson-dere die zum Teil mit Selbstauslöser entstande-nen Fotos, bilden einen interessanten Kontrast zur olympischen Aktualität, auch und weil es sich nicht um die besten Bilder aller Zeiten handelt. Wenn sich aber wohl auch in Zukunft die Reminiszenzen an den Berliner Boxer weit-gehend auf den Osten der Republik beschrän-ken, mag er sich mit einer Frage trösten lassen: Wer wird sich in 44 Jahren noch für einen Olympiasieger von Sydney interessieren?
Andreas Höfer
DAS ND ÜBER WOLFGANG BEHRENDT:
FRAGE: Wie schwer war der Endkampf?
BEHRENDT: Der Südkoreaner Soon Chung Song hat in seinen Kämpfen zuvor jeweils zwei Runden nichts gemacht und ist dann in der letzten Runde los wie Feuer und hat aus allen Lagen gehauen. Seine Gegner waren dann ausgepumpt, alle Kämp-fe sind durch Abbruch zu Ende gegangen.
FRAGE: Aber Sie hatten ihn im Griff?
BEHRENDT: Ja, ich war schnell unterwegs, hab ihn zu Beginn der Runde immer hart getroffen. Da war er schockiert. Die dritte Runde muss er dann schon deprimiert gewesen sein: Der kam nicht mehr groß, er hat noch ein paar linke Haken eingefangen, so dass es ein ziemlich klarer Punktsieg war. Hinter-her hat er mir ein paar Mal geschrieben und ein Pa-ket geschickt – darin ein Kimono für meine Frau.
(…)
FRAGE: Was gab es an Auszeichnungen?
BEHRENDT: Ich habe, vielleicht bin ich da die große Ausnahme, so gut wie nichts gekriegt. Ver-dienter Meister des Sports, 2000 Mark, aber den Preis hat damals fast jeder gute Sportler gute Sport-ler gekriegt. Ich hatte das Gefühl, dass es unseren Sportfunktionären gar nicht so recht war, dass ich die gewonnen hatte. Ich war kein Mitglied der SED, ich war gar nichts. Die hätten gerne gesehen, dass einer von Dynamo die erste Goldmedaille gewinnt.
EIN HERVORRAGENDER BEITRAG ÜBER WOLFGANG BEHRENDTS 60. IM RBB
Genau am Vorabend eines erinnerungswürdigen Sportereignisses vor 60 Jahren sendete der RBB einen Beitrag von Frauke Hinrichsen, den ich mit Genuss gesehen habe. Jeder, der damals im som-merlichen Melbourne mit dem Herzen dabei war, wird sich entsinnen: Am 1. Dezember 1956 errang „unser“ Bantamgewichts-Boxer Wolfgang Behrendt die erste olympische Goldmedaille für die DDR. Ich war gespannt, wie Frau Hinrichsen unser australi-sches „Sommermärchen“ aufarbeiten würde. Sie tat es bravourös.
Für diejenigen Sportanhänger, die diese Sendung nicht gesehen haben, möchte ich kurz schildern, was sie leider verpasst haben:
In Großaufnahme demonstrierte der agile 80jährige in den originalen Boxhandschuhen von einst sein taktisches und technisches Vorgehen, als wäre er erst gestern aus dem Ring gestiegen. In seiner be-scheidenen Art meinte er, dass er „selbst über-rascht“ war, dass der Südkoreaner Soon Chung Song im Finale nicht noch stärker war, sodass die Goldmedaille durch Punktsieg an unseren Boxer ging.
Dann hatte der RBB dazu die alten Filmaufnahmen „ausgegraben“ und wichtige Teile des Kampfes wiedergegeben. Die Begeisterung der Berliner, die ihm damals einen stürmischen Empfang bereiteten, vor dem er regelrecht „erschrak“, wurde in Auszü-gen gezeigt und verschaffte mir auch heute wieder eine Gänsehaut!
In den Jahren nach diesen Olympischen Spielen qualifizierte sich Wolfgang Behrendt zu einem inter-national anerkannten Sportfotograf. Mir gefiel in der Sendung die Erklärung Behrendts, dass ihm beruf-lich das Ästhetische im Sport allein wichtig wäre, er das reißerische ablehne. Schließlich lernte man in der Sendung den Musiker Wolfgang Behrendt ken-nen, Geige und Trompete waren und sind auch heute für ihn ein Ausgleich.
Mit dem Besuch bei seinem ehemaligen Box- und heutigen Sauna-Kollegen Harri Kurschat, der als Silbermedaillengewinner genannt wurde, endete der Film. Nur so viel dazu: Das Langzeitgedächtnis der beiden Strategen feierte Triumphe! Es war ein Ge-nuss, ihnen dabei zuzuhören. Die Zuschauer der Sendung spürten. Wolfgang Behrendt ist auch nach 60 Jahren immer noch ein toller Typ!
Lieber RBB, liebe Frau Hinrichsen, das musste ich einfach schreiben, denn hier griff bei mir der Spruch: „Wem das Herz voll ist, dem läuft der Mund über!“ Danke, dass sie mir diese Freude bereitet haben!
Hans Ullrich Tittler
ERINNERUNGEN VON
KLAUS ULLRICH HUHN:
Ich war damals nicht nur als Journalist nach Mel-bourne geflogen, sondern als stellvertretender Chef de Mission. Nach den Regeln des IOC musste näm-lich ein gebürtiger Australier diese Funktion beklei-den. Den fand man nicht, bis der Schriftsteller Wal-ter Kaufmann in die DDR übersiedelte, aber sich für
ungeeignet hielt, weil er keinen Schimmer von Olympischen Spielen hatte und ich als sein „Stell-vertreter“ nominiert wurde. So reisten wir lange vor den Spielen nach Melbourne und als Wolfgang Beh-rendt mit der Mannschaft landete, hießen wir ihn herzlich willkommen. Drei Boxer waren in der Mannschaft: Bernhard Schröter, Ullrich Nitschke und Behrendt. Trainer war Erich Sonnenberg und der klopfte eines Abends an meiner Tür. Er wusste nicht, wie er ein Problem lösen sollte. Nitschke war für das Halbschwergewicht nominiert worden, stieg aber dank der Delikatessen, die die Australier offe-rierten, schon bald ins Schwergewicht auf. Sonnen-bergs Sorge: „Entweder kümmere ich mich um Beh-rendt oder renne pausenlos Nitschke hinterher, der keine Party auslässt.“ Ich riet ihm, sich um Behrendt zu kümmern, auch weil Nitschke keine Chance im Schwergewicht haben würde. Fortan kümmerte sich Sonnenberg um Behrendt und zum Beispiel um Sparringspartner für ihn. Nitschke verlor denn auch und Schröter ebenfalls in der Vorrunde. So blieb Behrendt.
Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, dass ich ihn in den frühen sechziger Jahren eines Tages bei einer Dampferfahrt traf und seine Frau sich bitter beklagte, dass er beim Fernsehfunk nicht voran-kam, weil einige seiner Kollegen ihn als Olympia-sieger verneideten. Also lud ich ihn zu einem Ge-spräch ein und sorgte dafür, dass er der Sportfoto-graf des ND wurde. Dass meine Frau sein umfäng-liches Archiv verwaltete, sei nur am Rande erwähnt. Und wenn er dem ND gegenüber darauf verwies nicht Mitglied der SED gewesen zu sein, kann ich
beeiden, einer seiner beiden Bürgen gewesen zu sein. Genötigt habe ich ihn nicht!
Wir sind dann beide meist zusammen um die Welt gereist und die Friedensfahrt begann nie, ohne dass er die Trompete im Gepäck hatte und die Abende stimmungsvoll gestaltete. Dass er schon 1990 beim ND entlassen wurde, trifft zu, aber mich traf das noch vor ihm und bei der „Abstimmung“ hob er als einziger seinen Arm als Gegenstimme. Ich habe ihn bewundert, wie er sich um seine krebskranke Frau bis zu ihrem Tod bemühte. Wir waren ein Leben lang Freunde und werden es bleiben.
Noch als Fußnote: Es war ihm nicht leicht gefallen, damals noch einmal in den Ring zu steigen, um die Mehrheit der DDR-Athleten in der „gesamtdeut-schen“ Mannschaft zu erreichen. Dieser Schritt be-kundete auch seine politische Haltung.
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ZUR KOOPERATION VON SPORTPRAXIS
UND SPORTWISSENSCHAFT IM
LEISTUNGSSPORT DER DDR
Von Horst Röder
Die in den fünfziger und sechziger Jahren des vori-gen Jahrhunderts in der DDR geführte Diskussion über die Rolle und Produktivkraft der Wissenschaft wirkte sich auf den Sport und die Sportwissenschaft aus. Die Sportwissenschaft sollte zunehmend zu einem bestimmenden Faktor, zu einer „Haupttrieb-kraft“ bei der Entwicklung des Sports und der sport-lichen Leistungen werden. Sie sollte nicht nur im Nachhinein die Ursachen für die in der Praxis voll-zogenen Fortschritte analysieren, sondern zuneh-mend durch eigene konstruktive Beiträge die künfti-ge Entwicklung und Leistungssteigerung vorantrei-ben. Das erforderte wissenschaftlichen Vorlauf und eine gezielte Forschung zu sportartspezifischen als auch zu übergreifenden Projekten. Zugleich musste bei den bereits tätigen als auch auszubildenden Trainern die Überzeugung gefördert werden, dass das Training als Hauptprozess der Bildung und Er-ziehung im Leistungssport einer ständigen Erneue-rung und Fortentwicklung bedarf, wollte man die besten Athleten unseres Landes in einer größeren Anzahl von Sportarten an die sich in raschem Tem-po weiterentwickelnde Weltspitze heranführen. Es bedurfte anfangs oft geduldiger Bildungs- und Überzeugungsarbeit um bei möglichst allen Beteilig-ten – Sportlern, Übungsleitern, Trainern, Wissen-schaftlern, Technikern und Leitern – ein hohes Maß
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an Erneuerungsbereitschaft und Schöpfertum aus-zuprägen. Neben diesem wichtigen geistig-ideologischen Anspruch stellte sich als weitere, überaus praktische Aufgabe, eine möglichst enge Verflechtung und effiziente Kooperation zwischen Sportpraxis und Sportwissenschaft herzustellen und die Umsetzung neuer wie auch vorhandener wis-senschaftlicher Erkenntnisse durch gemeinsame Anstrengungen zu beschleunigen. Die Entwicklung einer derartigen engen Zusammenarbeit zwischen Praxis und Wissenschaft erfolgte in einem langjäh-rigen Prozess und wurde zu einem der wichtigsten Bausteine unserer Erfolge im Weltsport. Auf vier ausgewählte Bereiche dieser Kooperation soll hier näher eingegangen werden. Unsere Aussagen stüt-zen sich vorrangig auf die Zeitspanne von 1965 bis 1988, in der die Strukturen im DDR-Leistungssport ein hohes Maß an Stabilität aufwiesen und der Au-tor, gemeinsam mit Manfred Ewald, Prof. Dr. Gün-ter Erbach, Dr. Thomas Köhler, Dr. h.c. Günther Heinze, Bernhard Orzechowski, Prof. Dr. Edelfrid Buggel und vielen anderen in Leitungsfunktionen des Sports und der Sportwissenschaft mitwirkte. Auf Anmerkungen zur Tätigkeit und zu den Strukturen des Wissenschaftlichen Rates beim Staatssekreta-riat für Körperkultur und Sport wurde verzichtet. Das gilt auch für den sehr wichtigen Bereich der Aus- und Weiterbildung von Kadern für den Leistungs-sport durch die DHfK.
1. Einbindung und Mitwirkung von Führungs-kräften der Sportwissenschaft in den Leitungs-gremien des Sports
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An der Gründungskonferenz des DTSB im April 1957 in Berlin war auch eine größere Anzahl von Wissenschaftlern und Medizinern aus den in der DDR bestehenden sportwissenschaftlichen Einrich-tungen beteiligt. Neun von ihnen - u.a. Prof. Dr. Günther Borrmann, Dr. Horst Kogel, Prof. Dr. Gerhard Lucas, Prof. Dr. Kurt Meinel, Prof. Dr. Hans Schuster, Dr. Lothar Skorning und der Mediziner Prof. Dr. Josef Nöcker - wurden in den Bundes-Vorstand der neuen Massenorganisation gewählt. Der damalige Rektor der DHfK, Prof. Dr. Günter Erbach, wurde gewähltes Mitglied des Präsidiums. Seit dem 3. Turn- und Sporttag 1966 gehörte auch der langjährige Direktor der DHfK-Forschungsstelle bzw. des späteren Forschungsinstitutes, Prof. Dr. Hans Schuster, dem Präsidium des DTSB an. An-dererseits wirkten Führungskräfte des Bundesvor-standes des DTSB, der Sportverbände, des Be-zirksvorstandes sowie der drei Leipziger Sportclubs im Gesellschaftlichen Rat der DHfK aktiv mit, der im Zeitraum von 1969 bis 1989 von den Vizepräsiden-ten Alfred Heil und Horst Röder geleitet wurde. Wichtige Aufgaben übernahmen auch profilierte Sportwissenschaftler in den Leitungsgremien der Sportverbände. In den achtziger Jahren wirkten an der Spitze von 10 Sportverbänden des DTSB ver-dienstvolle Hochschullehrer bzw. Sportmediziner als Präsidenten: Boxen – Prof. Dr. Heinz Schwidt-mann, Fußball – Prof. Dr. Günter Erbach, Gewicht-heben – Prof. Dr. Edgar Weidner, Handball – Prof. Dr. Hans-Georg Herrmann, Judo – Prof. Dr. Gerhard Lehmann, Leichtathletik – Prof. Dr.
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men – Prof. Dr. Georg Zorowka, Turnen – Prof. Dr. Günther Borrmann, Versehrtensport – Dr. Dieter Kabisch. Zahlreiche weitere Lehr- und Forschungs-kräfte gehörten als gewählte Mitglieder den Ver-bandspräsidien und deren Kommissionen an, unter anderem Eckehard Arbeit, Prof. Dr. Berndt Barth, Prof. Dr. Alfons Lehnert, Prof. Dr. Jochen Lenz, Prof. Dr. Helga Pfeifer, Prof. Dr. Manfred Reiß, Prof. Dr. Gottfried Stark. Sie waren in diesen Funktionen zugleich aktive Wegbereiter einer engen Kooperati-on zwischen Wissenschaft und Praxis.
Was den Leistungssport anbelangt, so entwickelte sich die Leistungssportkommission der DDR (LSK) vor allem ab 1965 unter Leitung von Manfred Ewald zu dem wichtigsten überinstitutionellen Leitungs-gremium auf diesem Gebiet. Die Kommission war zweifellos die effektive Zusammenführung von Füh-rungskräften des DTSB, des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport und der zuständigen Ab-teilung der SED mit den für bestimmte Aufgaben des Leistungssports mitverantwortlichen Ministe-rien, gesellschaftlichen Organisationen und Wis-senschaftseinrichtungen, um langfristig geplant und effizient organisiert die erforderlichen Rahmenbe-dingungen zu schaffen, damit in der Mehrzahl der olympischen Sommer- und Wintersportarten stabil Weltspitzenleistungen erzielt werden konnten. Der-art übergreifend zusammengesetzt, bestand ihr Auf-trag zugleich darin, Grundfragen der Weiterentwick-lung des Fördersystems in den drei Ausbildungs-etappen zu entscheiden und die
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Maße auch Gegenstand der bei der LSK bestehen-den Arbeitsgruppe (AG) Wissenschaft. Unter Füh-rung des zuständigen Stellvertreters im Staatssek-retariat für Körperkultur und Sport und bei Mitver-antwortung der entsprechenden Leiter im DTSB gewährleistete diese AG über mehrere Olympiaden die Planung und Durchführung, die Ergebnisvertei-digung und -umsetzung der Vorhaben in der sport-artspezifischen und themenübergreifenden For-schung. Das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport wirkte dabei als Leitinstitut in diesem Prozess.
2. Umfangreiche Mitarbeit von Wissenschaftlern, Sportmedizinern und weiteren Spezialkräften in den Trainerräten des DTSB und der Sportver-bände
Die Anregung, Trainerräte in den Sportsektionen (später Sportverbänden) zu bilden, brachte bereits die erste Studiendelegation des Sports der DDR im Herbst 1950 aus der Sowjetunion mit. Dadurch soll-te die damals noch zahlenmäßig geringe Anzahl von hauptberuflich arbeitenden Trainern im Sport der DDR zum kollektiven Erfahrungsaustausch zu-sammengeführt werden. Als ich 1959/1960 im Rahmen der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele tätig war, bestanden bereits in nahezu allen Sportverbänden derartige Gremien. In der Leicht-athletik gab es Trainerräte in den einzelnen Diszip-lingruppen. Im Mittelpunkt ihrer Zusammenkünfte standen damals zumeist naheliegende praktische Fragen, wie die Vorbereitung der nächsten Wett-kämpfe und Trainingslehrgänge, die
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bedingungen u.a.m. Der systematische Austausch von Trainererfahrungen kam noch zu kurz und Wei-terbildungsveranstaltungen wurden zumeist durch Lehrkräfte der DHfK oder Sportmediziner bestritten. Es brauchte Zeit und auch Einsicht bis sich die Planung, die methodische Gestaltung und die ständige Analyse des Trainings und der Leis-tungsentwicklung als Kernstück der Tätigkeit aller Trainerräte durchsetzte. Die aktive Einbezie-hung von Sportwissenschaftlern, Sportmedizinern und weiteren Spezialkräften der DHfK, des For-schungsinstitutes und der sportwissenschaftlichen Institute an den Universitäten in die Trainerräte trug ganz wesentlich dazu bei. Die Erarbeitung der jähr-lichen Rahmentrainingspläne (RTP), der Pläne für die unmittelbare Wettkampfvorbereitung (UWV) so-wie später der für einen Olympiazyklus gültigen Mehrjährigen trainingsmethodischen Grundkonzep-tionen (MTK) bildeten neben vielen anderen Aufga-ben der Weiterbildung und Koordination Schwer-punkte der Arbeit in den Trainerräten. Sie erforder-ten die ständige Bereitschaft zur Erneuerung des Trainings durch alle Trainerratsmitglieder und auf-wendige Analysearbeiten durch die wissenschaftli-chen Zentren der Sportverbände und die entspre-chenden Forschungsgruppen der Wissenschaftsein-richtungen. Der weitere Ausbau der 1. und 2. För-derstufe und der jährliche Einsatz einer großen An-zahl von Hochschulabsolventen der DHfK im Nach-wuchsbereich führten dazu, dass in der Mehrzahl der Sportverbände auch Trainerräte für das Grund-lagen- und Aufbautraining gebildet wurden. Mehrere Hunderte an der DHfK solide ausgebildete junge
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Trainer stießen in diese neu gebildeten Gremien und bereicherten mit ihrem Wissen und Ideen die Ausbildung und Erziehung von talentierten Nach-wuchssportlern. Schätzungsweise wirkten 1988/89 von den 4600 hauptberuflich im Leistungssport täti-gen Trainern zwischen 400 bis 500 in den Trainer-räten der Sportverbände aktiv mit. Es entstanden neue Herausforderungen an die fachliche und politi-sche Führung dieser großen Anzahl von Trainerkol-lektiven. Das führte unter anderem 1982 zur Bildung eines Zentralen Trainerrates des DTSB. Der Rat wurde vom Vizepräsidenten für Trainingswesen und Wissenschaft geleitet und umfasste alle Chefver-bandstrainer, die Abteilungsleiter Sportmethodik und Wissenschaft im Bundesvorstand, die Leiter der (fünf) Arbeitskreise der Sportartengruppen, führen-de Sportwissenschaftler des Forschungsinstitutes, der DHfK und des Institutes für Sportwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie zwei Sportmediziner aus der Leitung des Sportmedizini-schen Dienstes, insgesamt etwa 30 Personen. Mit einem hohen Maß an fachlicher Kompetenz ausge-stattet, befasste sich der Rat vorrangig mit Grund-satzfragen der ständigen Erneuerung der Trai-nings- und Wettkampfsysteme im Leistungs-sport der DDR sowie der Aus- und Weiterbil-dung der Trainer. Dieser Trainerrat war ein überin-stitutionelles Expertengremium besonderer Art. Die Mitglieder des Rates kamen jährlich 4- bis 6-mal zu ganztägigen Arbeitsberatungen zusammen. Die Auswahl seiner Themen und seine personelle Zu-sammensetzung waren ein Beispiel für die enge Verflechtung und den hohen Wirkungsgrad von
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Wissenschaft und Praxis im Sport der DDR. (Vgl. Anlage: Entwurf des Arbeitsplanes für das Jahr 1989)
Schon in den 60er Jahren zeichnete sich ab, dass die Sportverbände und die in ihnen tätigen Ver-bandstrainer für die Bewältigung der in hohem Tempo ansteigenden wissenschaftlich-methodi-schen und wissenschaftsorganisatorischen Aufga-ben spezielle Kräfte und entsprechende Arbeitsein-richtungen benötigen. So beschloss das Sekretariat des DTSB-Bundesvorstandes in den Jahren 1965/66 in einer Reihe von Sportverbänden Wis-senschaftliche Zentren (WZ) aufzubauen. In den folgenden zwei Jahrzehnten wuchs die Anzahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter – zumeist ausgebil-dete und teilweise promovierte Diplomsportlehrer – auf über 115 Fachkräfte an. Sie wurden unterstützt durch eine entsprechende Anzahl von technischen Kräften. Mit diesen WZ erhielten die Sportverbände personell die Voraussetzungen, die es ihnen ermög-lichten, die umfangreiche Planungstätigkeit, die Trainings- und Leistungsanalyse und die Weiterbil-dung der Trainer auf ein höheres Niveau zu heben. Zugleich konnten sie die Gemeinschaftsarbeit mit den Wissenschaftspartnern, die sportartspezifische Forschung sowie die Entwicklung von Wettkampf-, Trainings- und Messgeräten wirkungsvoller unter-stützen. Die WZ wurden zu wissenschaftlich-methodischen und organisatorischen „Stabsorga-nen“ der Verbandsleitungen und zu engen Koopera-tionspartnern für die Forschungs- und Lehrinstitute.
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3. Schöpferische Gemeinschaftsarbeit von Wis-senschaftlern und Praktikern in den Arbeitskrei-sen der Sportartengruppen
Angeregt durch die in der Olympiavorbereitung 1964 gewonnenen Erfahrungen erwies es sich als zweckmäßig die erfahrensten Trainingsmethodiker sowohl des DTSB als auch der DHfK und ihrer For-schungsstelle, erweitert durch einzelne Sportärzte und Sportpsychologen, auf der Ebene von Sportar-tengruppen zusammenzuführen. Damit sollten zu-gleich analoge Strukturen, wie sie sich im trai-ningsmethodischen Bereich der Forschungsstelle herausgebildet hatten, im Bundesvorstand des DTSB geschaffen werden. Im Dezember 1965 be-stätigte die Leistungssportkommission den Vor-schlag, überinstitutionell fünf Arbeitskreise für die Ausdauersportarten, Kraft-Schnellkraftsportarten, Sportspiel-, Kampfsport- und für die technisch-akrobatischen Sportarten zu bilden. Unter der Lei-tung des zuständigen Sektorenleiters der Abteilung Trainingsmethodik und des jeweiligen Bereichslei-ters der Forschungsstelle bzw. des späteren For-schungsinstitutes für Körperkultur und Sport (FKS) entwickelten sich diese Gremien zu einer wichtigen Form der Durchsetzung des wissenschaftlichen Fortschritts im Leistungssport der DDR. Drei Aufga-ben erwiesen sich als besonders wichtig: Die Bera-tung der Trainingsprogramme der entsprechenden Sportarten bzw. Disziplinen, die Organisation des Erfahrungsaustausches und die regelmäßige Ver-anstaltung von „wissenschaftlichen Seminaren“ so-wie die Mitwirkung bei der Ausarbeitung und Um-setzung von Hauptrichtungen der Trainings- und
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Wettkampfsysteme in der Sportartengruppe. Im Verlaufe ihrer Tätigkeit entwickelten sich in den Arbeitskreisen eine Atmosphäre des vertrauensvol-len Meinungsaustausches und die Bereitschaft, Erfahrungen und Erkenntnisse aus andern Sportar-ten auf die eigene zu übertragen. Ein wichtiger Fortschritt! Neue Grundeinstellungen bildeten sich aus: Man fühlte sich als Teil einer Gemeinschaft von Sportarten und lernte voneinander. Die Arbeits-kreise profilierten sich zu anerkannten fachlichen Beratungs- und Leitungsorganen ihrer Sportarten-gruppen. Die enge und kameradschaftliche Ge-meinschaftsarbeit von Sportmethodikern, Verbands-trainern, Sportmedizinern und weiteren Spezialisten trug erheblich dazu bei, dass neben der sport-artspezifischen eine weitere Arbeits-, Verallge-meinerungs- und Forschungsebene auf der Ba-sis der Sportartengruppen entstand, die sich für das praktische wie theoretische Wirken im Leis-tungssport der DDR als sehr produktiv erwies. Uns war zu dieser Zeit kein vergleichbares Beispiel aus der Sportwissenschaft anderer Länder bekannt und es ist mehr als bedauerlich, dass diese wertvollen Erfahrungen des DDR-Sports keinerlei Beachtung im heutigen deutschen Sport gefunden haben. In-haltlich befassten sich die Arbeitskreise mit über-greifenden Schwerpunkten wie der Gestaltung mehrjähriger Trainingskonzeptionen für die einzel-nen Kadergruppen, der Vergrößerung des Nutzef-fekts der Trainingsbelastung und der Erholungsge-staltung, der komplexen Entwicklung von Bewe-gungseigenschaften und Bewegungsfertigkeiten, der Individualisierung des Trainings und der Verän-
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derung der Wettkampfsysteme u.a.m. Die spezifi-schen Aspekte der Sportartengruppen und Sportar-ten standen dabei im Mittelpunkt.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Durchführung von Wissenschaftlichen Semina-ren ebenfalls zu den Aufgaben der Arbeitskreise gehörte. Die Bezeichnung Seminare könnte zu Trugschlüssen führen, denn in Wirklichkeit handelte es sich bei diesen Seminaren um große Veranstal-tungen an denen, je nach Sportartengruppe, Hun-derte von Trainern der Sportclubs und der Verbän-de, Wissenschaftler, Sportmediziner und Funktionä-re teilnahmen. Allein zwischen den Jahren 1962 und 1967 wurden 16 derartige Veranstaltungen durchgeführt. Sie dauerten in der Regel zwei Tage. Einem - zumeist durch den Arbeitskreis kollektiv erarbeiteten - Hauptreferat folgte eine inhaltlich vor-bereitete Diskussion an der sich neben Wissen-schaftlern, Verbands-, Auswahl- und Heimtrainer beteiligten. In den 70er und 80er Jahren wurden im Verlaufe eines Olympiazyklus durch jeden Arbeits-kreis zwei Seminare durchgeführt. Das erste diente im Jahr nach den Olympischen Spielen der Auswer-tung der Spiele sowie der mehrjährigen Planung und Gestaltung des Trainings und der Wettkämpfe. Das zweite Seminar befasste sich mit Bewertung der zwischenzeitlich erreichten Arbeitsfortschritte und mit der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung (UWV) auf die bevorstehenden Olympischen Spiele selbst. Die Ergebnisse dieser Seminare wurden in schriftlicher Form als „Empfehlungen“ zusammen-gefasst und jedem Seminarteilnehmer wie auch den entsprechenden Leitungen der Sportverbände und
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Sportclubs als Arbeitsgrundlage übergeben. Auch heute noch staunt man beim Lesen dieser Doku-mente über den reichen Schatz von detaillierten Erfahrungen, der durch diese kollektive Form der Arbeit in den Sportartengruppen entstanden ist. Wenn auch inzwischen viele Jahre vergangen sind, ist es mir ein Bedürfnis, die zumeist über einen lan-gen Zeitraum tätigen Leiter und Stellvertretenden Leiter der Arbeitskreise namentlich zu benennen und ihre ergebnisreiche, schöpferische wissen-schaftlich-methodische Arbeit zu würdigen: Dr. Hans-Günther Rabe (langjähriger Leiter der Abtei-lung Trainingsmethodik im DTSB-Bundesvorstand), Helmut Zänsler, Prof. Dr. Helga Pfeifer, Prof. Dr. Manfred Reiß (AK Ausdauersportarten), Dr. Dieter Deiß, Prof. Dr. Heinrich Gundlach (AK Kraft- Schnellkraftsportarten), Werner Leuschner, Prof. Dr. Günther Stiehler, Prof. Dr. Hugo Döbler (AK Spiel-sportarten), Dr. Horst Fiedler, Heinz Wagner, Willy Tepper (AK Kampfsportarten), Helmut Buchröder, Prof. Dr. Gottfried Stark, Prof. Dr. Wolfgang Gute-wort (AK Technisch-akrobatische Sportarten).
4. Produktive Kooperation auf dem Gebiet der Leistungssportforschung
Der DTSB war für die beiden, dem Staatssekretariat für Körperkultur und Sport unterstellten großen Wis-senschaftszentren - DHfK und FKS - der hauptsäch-liche Praxispartner. Ihr Zusammenwirken auf den Gebieten der Aus- und Weiterbildung, der Lehre und Forschung war derart vielschichtig und umfang-reich, so dass es sich hier nicht, selbst in sehr ge-drängter Form erfassen und darstellen lässt. Ich verweise auf den 2007 von einem Kollektiv von
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Hochschullehrern herausgegebenen Sammelband „Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig 1950 -1990“, in dem ausführlicher über die gesamte Breite der Arbeits- und Leitungsbeziehungen zum DTSB und zu weiteren Praxispartnern berichtet wird. Einige, zum Teil aus dem Buch entnommene Fakten erscheinen mir besonders aussagekräftig und der Wiederholung wert:
- In den achtziger Jahren begannen zirka 70 % der jährlichen Hochschulabsolventen der DHfK eine berufliche Tätigkeit als Trainer oder Funktionär im DTSB.
- 95 Prozent der in der 3. und 2. Förderstufe tätigen Trainer wiesen zu dieser Zeit einen Hoch- oder Fachschulabschluss auf, in der 1. Förderstufe wa-ren es 65 %.
- Mit 21 Sportverbänden des DTSB bestanden Ar-beitsvereinbarungen der DHfK über Zusammenar-beit und gegenseitige Unterstützung,
- Mit den in Leipzig bestehenden drei Sportclubs – SC DHfK, SC Leipzig und FC Lokomotive - und der Hochschule gab es konkrete inhaltliche Beziehun-gen, die teilweise bis zur Mitverantwortung für das Erreichen von bestimmten Leistungszielen reichten.
Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich vorrangig auf den Bereich der Leistungssport-forschung.
Nachdem in den ersten Jahren des Bestehens der DHfK die erforderlichen personellen und materiellen Bedingungen geschaffen, die Strukturen für den Lehrbetrieb aufgebaut und dringend benötigte Lehr- und Unterrichtsmaterialien vorhanden waren, wuch-sen die Möglichkeiten, erste Forschungsaufgaben
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wahrzunehmen. Günther Wonneberger berichtet davon, dass bereits 1952 Forschungsaufträge auf dem Gebiet der Bewegungslehre, Anatomie, Bio-mechanik und zur Geschichte des Arbeitersports vergeben wurden. Im September 1956 kam es zur Bildung einer Forschungsstelle an der DHfK. Sie führte an der Hochschule tätige Fachkräfte auf dem Gebiet Trainingsmethodik, der Zeitgeschichte, der Biomechanik, des Kinder- und Jugendsports, aber auch der Foto-Filmarbeit und der Geräteentwicklung zusammen und entlastete sie teilweise von Lehr-aufgaben. Es entstanden sportartspezifische For-schungsgruppen für Leichtathletik, Sportschwim-men, Turnen, Skisprung und Fußball. Beispielhaft das enge und ideenreiche Zusammenwirken des Biomechanikers Prof. Dr. Ing. et paed. habil. Gerhard Hochmuth mit dem Skisprungtrainer Hans Renner. In den folgenden Jahren entstanden weite-re Forschungsgruppen für ausgewählte olympische Sportarten. Die Aufgabe bestand darin, den erfor-derlichen wissenschaftlich-methodischen Vorlauf für internationale Spitzenleistungen in den betref-fenden Sportarten zu schaffen und neue Erkennt-nisse in enger Zusammenarbeit mit den entspre-chenden Sportverbänden und Sportclubs in der Praxis zu erproben und umzusetzen. Parallel dazu vergrößerte sich die Anzahl von Forschungsvor-haben mit einer komplexen Thematik und vor-wiegend interdisziplinären Charakter. Ausge-wählt seien hier genannt: Hypoxietraining in Vorbe-reitung der Olympischen Spiele in Mexiko sowie für die ab 1979 genutzte Unterdruckhalle an der Sport-schule Kienbaum, Untersuchungen zur Eignungsdi-
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agnostik sowie zur Sichtung und Auswahl sportli-cher Talente, zum Anschluss- und Aufbautraining sowie zum langfristigen Aufbau sportlicher Höchst-leistungen, zur Leistungsentwicklung im Männerbe-reich, zur Belastungsgestaltung und Wiederherstel-lung oder zur Vorbeugung von Verletzungen im Stütz- und Bewegungssystems.
Als eine sehr wirksame Form der Information und Verbreitung neuer Erkenntnisse und konkreter For-schungsergebnisse erwiesen sich Konferenzen an denen Wissenschaftler, Trainer und Sportfunktionä-re gemeinsam beteiligt waren. Die 1962 auf Initiati-ve der Forschungsstelle durch die Leistungssport-kommission einberufene zweitägige Veranstaltung zum Krafttraining (Hauptreferent Heinrich Gund-lach), an der über 400 Personen, unter ihnen alle Olympiatrainer teilnahmen, löste in fast allen Sport-arten schöpferische Impulse für ein effektiveres all-gemeines und spezielles Krafttraining aus. Ähnliche Wirkungen erzielten auch eine Tagung zum Kom-plex der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung (Hauptreferat Alfons Lehnert) sowie zum Ausdauer-training (Hauptreferentin Helga Pfeifer). Die sport-artspezifische Ausgestaltung und praktische Um-setzung dieser Erkenntnisse durch Trainer und Ath-leten unterstützte das erfolgreiche Abschneiden unserer Olympiateilnehmer bei den Spielen in Inns-bruck und Tokio. Beginnend mit den Olympischen Spielen 1960 wurden bis zu den Spielen 1988 in Seoul jeweils spezielle Beobachterdelegationen zu diesen Wettkampfhöhepunkten entsandt, die sich aus Sportwissenschaftlern und erfolgreichen Trainern zusammensetzten. Die bei den Spielen
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gewonnenen Beobachtungsergebnisse wurden ana-lysiert und entsprechende Schlüsse für die For-schung, für das Trainings- und Wettkampfsystem sowie für die Führung des Leistungssports und der Leistungssportforschung erarbeitet.
Der Zusammenschluss der Forschungsstelle und des Instituts für Sportmedizin im Jahre 1969 zu dem eigenständigen Forschungsinstitut für Körper-kultur und Sport (FKS) ermöglichte neue Arbeits-weisen und Fortschritte. Damit entstand ein Leitin-stitut für die gesamte Forschung im Leistungssport in der DDR mit weitaus größeren Vollmachten für die Zusammenarbeit mit anderen Kooperationspart-nern innerhalb und außerhalb des Sports. Es ent-standen die Voraussetzungen für eine anspruchs-volle interdisziplinäre Forschung sowie für eine ef-fektivere Aufgabenteilung zwischen FKS und DHfK. Das FKS konzentrierte seine Forschungskapazitä-ten in den Folgejahren auf eine Reihe grundlegen-der Forschungsthemen sowie auf das Hochleis-tungs- und Anschlusstraining, die DHfK auf den Nachwuchsleistungssport und das Aufbau- und Grundlagentraining. Neue Forschungskapazitäten, zum Beispiel an den Instituten für Sportwissen-schaft mehrerer Universitäten wurden gewonnen und entsprechende Partnerbeziehungen weiter ausgebaut. Die folgende Übersicht zeigt, dass im Olympiazyklus 1984–1988 für nahezu alle olym-pisch geförderten Sportarten Forschungsgruppen bestanden.
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Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS):
Leichtathletik (Sprung-, Wurf und Stoßdisziplinen, Mittel- und Langstreckenlauf), Sportschwimmen, Wasserspringen, Geräteturnen, Radsport, Ringen, Boxen, Judo, Skilanglauf, Skispringen, Biathlon,
Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK):
Kanurennsport, Fußball, Handball, Volleyball,
Institut für Sportwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin:
Rudern,
Institut für Sportwissenschaft an der Friedrich Schiller-Universität in Jena:
Schlitten- und Bobsport,
Institut für Sportwissenschaft der Martin Luther-Universität in Halle/Saale:
Leichtathletik Sprintdisziplinen,
Zentralinstitut des Sportmedizinischen Dienstes in Kreischa:
Leichtathletik Marathonlauf und Gehen,
Sportvereinigung Dynamo in Berlin:
Eisschnelllauf,
Ingenieurhochschule für Seefahrt in Warne-münde:
Segeln,
Forschungs- und Entwicklungsstelle Sportgerä-te (FES) in Berlin-Grünau:
Entwicklung von Wettkampf- und Trainingsgeräten sowie von Messtechnik in den Sportarten Schlitten- und Bobsport, Rudern, Kanurennsport, Segeln und Radsport.
Die stark angewachsene Zahl von Forschungsgrup-pen machte es erforderlich die Auftraggeber-
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/Auftragnehmer-Beziehungen weiter auszubauen und noch verbindlicher zu gestalten. Die Arbeits-gruppe Wissenschaft der Leistungssportkommission beförderte dieses Anliegen und veranlasste, dass für den Zeitraum eines Olympiazyklus konkrete Leistungsvereinbarungen zwischen den Partnern abgeschlossen und abgerechnet wurden. Vor den Leitungen der Sportverbände standen dabei solche Aufgaben wie die Definition möglichst exakter in-haltlicher Vorgaben an den jeweiligen Auftragneh-mer, die Sicherung der erforderlichen Untersu-chungsbasis auf Lehrgängen oder in Sportclubs, die jährlichen Berichterstattungen der Forschungsgrup-pe u.a. Das Zusammenwirken der zuständigen Lei-ter, der Verbandstrainer und der Wissenschaftlichen Zentren zu „ihren“ Forschungspartnern wurde dadurch noch enger und verbindlicher gestaltet. In einem Bericht über „Erfahrungen bei der Organisa-tion und Leitung interdisziplinärer Forschungspro-jekte im Sport“ fasste Prof. Dr. Lehnert - viele Jahre als 1. Stellvertreter des Direktors am FKS tätig - die Vorzüge einer engen Verflechtung von Forschung und Sportpraxis in fünf Punkten zusammen: „- die weitgehende Übereinstimmung der For-schungsthemen mit den Bedürfnissen der Sportpra-xis
- die Sicherung der personellen Untersuchungsba-sis in den entsprechenden Bereichen des Leis-tungssports, - die Zeitgebundenheit der Forschung (Ergebnisvor-lage und Ergebnisumsetzung) in Abhängigkeit vom Zeitpunkt bedeutender Wettkämpfe,
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- der Zugang der Forscher zur Leistungssportpraxis im Forschungsablauf und im Prozess der Erkennt-nisumsetzung und daraus resultierend
- eine gewisse Gemeinsamkeit und beiderseitige Verantwortung von Forschern und Praktikern, be-sonders der verantwortlichen Auswahltrainer, für den Forschungs- und Umsetzungsprozess.“
Die Kooperation zwischen dem Deutschen Ruder-sportverband (DRSV) der DDR und dem Berliner Institut für Sportwissenschaft verwirklichte diese „Gemeinsamkeit und beiderseitige Verantwortung von Forschern und Praktikern“ besonders beispiel-haft. Die Forschungsvereinbarungen für den jeweili-gen Olympiazyklus wurden nach gemeinsamer gründlicher Vorarbeit vom Generalsekretär des Verbandes, Horst Ahlgrimm, und dem Institutsdirek-tor Prof. Dr. paed. habil. Alfred Hunold unterzeich-net. Die vereinbarten drei Forschungsthemen - Entwicklung der Rudertechnik, Kraftentwicklung (Maximalkraft, Schnellkraft, Kraftausdauer) sowie Persönlichkeitsförderung - wurden weitgehend in-terdisziplinär und in enger Gemeinschaftsarbeit mit den Kräften des Verbandes bearbeitet. Neben der jährlichen Ergebnisabrechnung während eines ein-wöchigen Lehrganges von Trainern und Forschern unter Leitung des langjährigen Verbandstrainers Prof. Dr. paed. Theodor Körner an der Sportschule Rabenberg nutzte man vor allem die achtmalige komplexe Leistungsdiagnostik pro Jahr in Berlin-Grünau mit ihren Untersuchungen im Ruderkasten und im Messboot, um aktuelle Rückschlüsse für die Athleten und Trainer sowie die einzelnen For-schungsprojekte zu gewinnen. Die verantwortlichen
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Themenleiter der Forschung (Prof. Dr. paed. habil. Richard Buchmann, Prof. Dr. paed. habil Friedrich Mahlo, Prof. Dr. paed. habil. Margot Budzisch) nahmen an diesen Untersuchungen teil. Erkennbare Abweichungen und Probleme wurden vor Ort zwi-schen Wissenschaftlern, Trainern und Athleten be-raten. So entstand ein außergewöhnlich dichtes Netz der Zusammenarbeit zwischen Sportlern, Trai-nern und Forschern, das ohne Zweifel zu der stabi-len Spitzenstellung des DDR-Rudersports in der Welt beitrug. In dieser Gemeinschaftsarbeit wuch-sen alle Beteiligten, auch unsere besten Trainer. Ihnen war bewusst, dass sie Forschung und neue Erkenntnisse nicht nur schlechthin benötigten, son-dern dass sie diese in engem Zusammenwirken gemeinsam erarbeiten, aktiv gebrauchen und konsequent umsetzen müssen, um mit ihren Ath-leten Weltspitzenleistungen zu erzielen. Lange Jah-re erfolgreich tätige Trainer wie Theodor Körner, Jürgen Grobler, Hans Eckstein (Rudern), Karl-Heinz Bauersfeld, Eckehard Arbeit, Karl Hellmann (Leicht-athletik), Wolf-Dieter Pockrandt, Rolf-Dieter Amend, Rainer Kiesler (Kanu), Dieter Hofmann (Turnen), Willy Tepper (Ringen), Bernd Dehmel (Segeln) so-wie Thomas Köhler, Horst Hörnlein, Gottfried Leg-ler, Raimund Bethge (Schlitten- und Bobsport), Gotthard Trommler (Nordische Kombinati-on/Skisprung), Joachim Franke, Ernst Luding (Eis-schnellauf) und andere waren in diesem Sinne Trainer und auch Wissenschaftler/Forscher zu-gleich. Sie beteiligten sich aktiv an Forschungsvor-haben des Verbandes, waren Mitglieder der Steu-eraktive und suchten den kollektiven Meinungsaus-
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tausch und den fachlichen Ratschlag anderer. Zu-meist selbst Hochschulabsolventen und oft auch promoviert, übernahmen sie zusätzlich Lehraufträge in der Ausbildung von Studenten oder wirkten an der Herausgabe von Lehrbüchern ihrer Sportart mit. Sie waren in ihren Anforderungen und in ihrer Ar-beitsweise Vorbild für andere, die ihnen nachfolgten und nachstrebten. Ihre Namen und ihre Erfolge wie auch viele andere Fakten und Beispiele belegen, dass der Leistungssport der DDR am Ende der achtziger Jahre sehr gut aufgestellt war, um bei den bevorstehenden Olympischen Spielen und interna-tionalen Meisterschaften wiederum hervorragend abzuschneiden. Politisch motivierte Zerstörungswut, fachliches Unwissen und auch fehlende Durchset-zungskraft zertrümmerten in den Wendejahren sehr vieles, was den Leistungssport der DDR zu einem der führenden Sportländer der Welt gemacht hatte!
Anlage:
Auszüge aus dem Arbeitsplan des Zentralen Trainer-rates des DTSB der DDR vom 6. Dezember 1988 für das Jahr 1989
„Im Mittelpunkt der Beratungen 1989 werden gestellt:
• Hauptfragen der Weiterentwicklung der Trai-nings- und Wettkampfsysteme im Zeitraum 1989 - 1992
• Schwerpunkte der Erneuerung spezifischer Vor-bereitungskonzeptionen ausgewählter Sportarten
• Probleme der weiteren Gestaltung der Sichtung und Auswahl sowie der Weiterentwicklung des Aufbau- und Anschlusstrainings.
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Folgender Themen- und Terminplan ist vorgesehen:
26. 1.1989
Erläuterung des Leistungssportbeschlusses 1988-92 und Ableitung erster Folgerungen für die Weiterentwick-lung der Trainings- und Wettkampfsystem
Verantwortlich: Prof. Dr. Röder
Ergebnisse und Tendenzen der Leistungsentwicklung in Auswertung der Olympischen Spiele in Seoul und Thesen für die weitere Leistungs- und Trainingsentwick-lung im Olympiazyklus 1988-92
Verantwortlich: Dr. Steger, Prof. Dr. Schuster
20.4.1989
Einschätzung der Ergebnisse und der Wirksamkeit des Trainings im Trainings- und Wettkampfjahr 1988/89 in den Wintersportarten und Folgerungen für das Trai-nings- und Wettkampfjahr 1989/90
Verantwortlich: F. Bialluch
Schwerpunkte für die Erneuerung der Trainings- und Wettkampfkonzeption im Skisprung
Verantwortlich: K. Hinze, Prof. Dr. Junker, Dr. Mroß, R. Heß
Schwerpunkte für die Erneuerung der Trainings- und Wettkampfkonzeption im Skilanglauf
Verantwortlich: K. Hinze, Prof. Dr. Junker, Dr. Bube, B. Treiber
28.9.1989
Zur Gestaltung des Trainings nachgesichteter Kinder und Jugendlicher – Problemdiskussion zur Einheit von Nachsichtung in der 6. Klasse und entsprechender Aus-bildungskonzeptionen für diese Sportler,
Verantwortlich: Prof. Dr. Bauersfeld, Dr. Schulze
Schwerpunkte für die Erneuerung der Trainings- und Wettkampfkonzeptionen im Handball
Verantwortlich: W. Krüger, Dr. Zimmer, W. Kreisel, Dr. Luck
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Schwerpunkte für die Erneuerung der Trainings- und Wettkampfkonzeptionen im Volleyball
Verantwortlich: D. Grund, Dr. Fröhner, E. Piater, Dr. Rie-penhausen
7.12.1989
Einschätzung der Ergebnisse und Wirksamkeit des Trainings im Trainings- und Wettkampfjahr 1988/89 in den Sommersportarten und Folgerungen für das Trai-nings- und Wettkampfjahr 1989/90,
Verantwortlich: Abteilungsleiter Sommersport, D. Krau-se, Dr. Rabe
Entwicklungsstand und -probleme des Trainings in der Etappe des Aufbautrainings
Verantwortlich: Prof. Dr. Bauersfeld, Dr. Schulze
Standpunkte zum konzeptionellen und praktischen Herangehen bei der systematischen und langfristigen Heranführung von Anschlusskadern an die Weltspitze Verantwortlich: Prof. Dr. Junker, ausgewählte Chefver-bandstrainer
Weitere wichtige Themen, die in kleinerem Kreis und im Zusammenwirken mit Arbeitskreisen bzw. mit dem FKS beraten werden:
10.3.1989: Schwerpunkte der Erneuerung der Trai-nings- und Wettkampfkonzeption in den Sprungdiszipli-nen der Leichtathletik
5.4.89: Schwerpunkte der Erneuerung der Trainings- und Wettkampfkonzeption in den Sprintdisziplinen
3.10.89: Trainingsmethodische Konsequenzen für die beschleunigte Entwicklung der Leistungen männlicher Sportler im Olympiazyklus 1988-92“.
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Literatur und Quellenverzeichnis
1) Bauersfeld, K.-H.: Erkenntnisse und praktische Erfah-rungen zum langfristigen Aufbau sportlicher Höchstleis-tungen. In: K. Schumann; R. Garcia (Hrsg.): Heft 3 der Schriftenreihe „Sport. Leistung. Persönlichkeit“, GNN Schkeuditz 2003
2) Lehmann, G. / Kalb, L. / Rogalski, N. / Schröter, D. / Wonneberger, G. (Hg.): Deutsche Hochschule für Kör-perkultur Leipzig 1950 – 1990, Aachen: Verlag Meyer & Meyer 2007
3) Lehnert, A.: Zur Entwicklung der Theorie und Metho-dik des Trainings in der Sportwissenschaft der DDR. In: K. Schumann / R. Garcia (Hrsg.): Heft 3 der Schriftenrei-he „Sport. Leistung. Persönlichkeit“, GNN Schkeuditz 2003
4) Lehnert, A.: Erfahrungen bei der Organisation und Leitung interdisziplinärer Forschungsprojekte im Sport. In: K. Schumann / R. Garcia (Hrsg.): Heft 1 der Schrif-tenreihe „Sport. Leistung. Persönlichkeit“, GNN Schkeu-ditz 2002
5) Röder, H: www.sport-ddr-roeder.de - Berlin 2002. Kapitel „Trainer, Trainerwesen und Trainerberuf“ sowie Kapitel „Sportwissenschaft und Leistungssportforschung in der DDR“
6) Thorhauer, H.-A.: Zur Genese der Trainingswissen-schaft in der DDR. Ein Beitrag zur Diskussion der Sport-wissenschaft in Deutschland. In: K. Schumann / R. Gar-cia (Hrsg.): Heft 5 der Schriftenreihe „Sport. Leistung. Persönlichkeit“, GNN Schkeuditz 2004
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EINE BILDUNGSSTÄTTE MIT WELTRUF
MUSSTE GEHEN
Von Friedrich-Wilhelm Gras
Der Rückgang des leistungssportlichen Niveaus in Deutschland seit 1990 ist mit die Quittung dafür, u.a. ohne Sinn und Verstand eine in der Welt aner-kannte akademisch ausgerichtete Sporthochschule, die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, zerschlagen zu haben.
Der Landesregierung Sachsen unter Kurt Bie-denkopf war es offensichtlich aus politisch-ideologischen Überlegungen gleichgültig, 1274 Mit-arbeiter dieser Einrichtung zu entlassen, um dann zunächst wenig mehr als 120 in die nachfolgende Fakultät an der Universität Leipzig einzubinden. Die Sporthochschule, eigentlich eine Universität des Sports, wurde gewissermaßen zum Abschuss frei-gegeben.
Auch der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) der DDR mit seinen Verbänden war betroffen, die Sportgemeinschaften mit mehr als 300 000 ehren-amtlichen Übungsleitern und Funktionären standen vor dem Aus.
All das zeichnete sich im März 1990 ab. Dabei wur-de nicht gefragt, was gut war, sich bewährt hatte und infolgedessen hätte übernommen werden kön-nen. Nein, das gesamte, bislang höchst erfolgreiche Sportsystem stand auf dem Prüfstand der so ge-nannten Sieger und es war abzusehen, nach wel-cher Seite der Waagepegel auszuschlagen hatte.
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Die nationalen und internationalen Proteste wurden samt und sonders ignoriert. Die Verhandlungen mit den Vertretern der Sporthochschule Köln verliefen zwar zunächst in Richtung zweier Sporthochschulen in Deutschland mit arbeitsteiligen Aufgaben, was durchaus logisch und realistisch gewesen wäre. Aber letztlich waren wohl konkurrenzpolitische Überlegungen entscheidend für die Abwicklung der Hochschule. Eine Universität des Sports, die maß-geblich an der auch international beachteten Ent-wicklung des Kinder- und Jugendsports, des Frei-zeit- und Erholungssports in der DDR ebenso betei-ligt war wie am Weltniveau des Leistungssports in der Mehrzahl der olympischen Sportarten wird bar jeder Vernunft abgewickelt, obwohl selbst einige Spitzenfunktionäre des DSB der Bundesrepublik Deutschland warnend ihre Stimme erhoben.
Die Hochschule bildete sowohl Diplomsportlehrer als auch mittlere Lehrkader aus, und zwar in einem Direkt- und einem Fernstudium, das acht Außen-stellen im Land sicherten. Ich selbst habe mein Stu-dium an der Außenstelle Leipzig absolviert.
Die DHfK war zugleich das Zentrum der systemati-schen Weiterbildung von Leitungskadern und Trai-nern des DTSB. Und diese Einrichtung war eine Hochschule der Völkerfreundschaft, wie sie von 2415 ausgebildeten Fachexperten aus 94 Ländern fast liebevoll bezeichnet wurde. Diese Ausbildung war vor allem eine Leistung im Prozess der interna-tionalen Solidarität und für die meisten Länder kos-tenlos. Das Erinnerungsbuch „Sendboten Olympias“ von Dr. paed. habil. Lothar Kalb(1), dem langjähri-gen Direktor des Instituts für das Ausländerstudium,
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hat sich als eine umfassende Dokumentation erwie-sen.
Zumindest die zuletzt genannte, sehr komplexe Aufgabe der Hochschule musste den Abwicklern der DHfK nicht als ausschließlich sächsisches son-dern als gesamtdeutsches Anliegen bewusst gewe-sen sein. Nein, das war es offenbar nicht. Vernunft und Weitblick blieben außen vor. Allerdings ist – aus heutiger Sicht – interessant, dass nicht wenige Publikationen ehemaliger Hochschullehrer der DHfK auch heute noch in der Ausbildung verwendet wer-den. Besseres gibt es vielfach nicht, weil die Schrif-ten, z.B. von Erika und Hugo Döbler, Dietrich Harre, Gerhard Hochmuth, Paul Kunath, Kurt Meinel, Gün-ter Schnabel, Kurt Tittel, Günter Witt und anderen im Prozess wissenschaftlicher Langzeitforschungen entstanden sind.(2)
Seit Johannes Kepler, Otto Hahn, Friedrich Engels u.a. Genien unterschiedlicher Wissenschaftsgebiete ist bekannt, dass eine wegweisende Lehre nur auf der Basis einer hinreichend komplexen und zuneh-mend interdisziplinären Forschung möglich ist. Da-von ausgehend wurde in der DDR allgemein und an der DHfK im Besonderen die Einheit von Forschung und Lehre mit Notwendigkeit umgesetzt, bereits 1956 eine Forschungsstelle an der DHfK, der Vor-läufer des späteren Forschungsinstituts für Körper-kultur und Sport (FKS), gegründet und stets ver-sucht, den für ein hohes Niveau der akademischen Lehre notwendigen Forschungsvorlauf zu sichern.
Meine Ausführungen blieben unvollständig, wenn nicht die internationale Ausstrahlung der Wissen-schaftler der DHfK erwähnt würde. Ein besonderer
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Ausdruck der Wertschätzung wissenschaftlicher Leistungen ist die Berufung in nationale und interna-tionale wissenschaftliche Gremien. So bekleideten Spitzenpositionen im Weltrat CIEPSS die Professo-ren Günter Erbach, Edelfrid Buggel und Heidi Kunath als Mitglieder der Executive des Weltrates, der seit 1972 den A-Status der UNESCO besaß. In den nachgeordneten Fachkommissionen des CIEPSS und deren Präsidien wirkten die Professo-ren Günther Wonneberger, Paul Kunath, Friedrich-Wilhelm Gras, Kurt Tittel, Gerd Marhold sowie die Doktoren Ulrich Krüger, Friedrich Trogsch, Walter Arnold und Sigrid Hirsch mit. Besonders hervorzu-heben sind jene Wissenschaftler, die als Präsiden-ten tätig waren, wie Prof. Dr. Günther Wonneberger in der Fachkommission Geschichte der Körperkul-tur, Prof. Dr. Paul Kunath leitete als Mitglied der Fachkommission Sportpsychologie die Europäische Vereinigung FEPSAC, der erste Bibliotheksdirektor der DHfK, Dr. Walter Arnold, war Nestor der Fach-kommission Information und Dokumentation. Er stand zugleich an der Spitze dieser Fachkommissi-on. Die Hochschule war bereits 1961 Mitglied des Weltrates und seit 1970 offizielles Mitglied in der AIESEP, der Internationalen Assoziation der Hoch-schulen für Körpererziehung, geworden. Das hohe wissenschaftliche Niveau der Arbeit in den ver-schiedenen Instituten und Sektionen der Hochschu-le äußerte sich darüber hinaus in der Berufung des Leiters des Lehrstuhlbereichs Sportsoziologie in die Akademie der Wissenschaften der DDR.
Einen guten Überblick des an der DHfK Geleisteten bietet dem interessierten Leser das letzte Gemein-
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schaftswerk von Wissenschaftlern und Hochschul-lehrern der DHfK mit dem 2007 erschienenen Titel „Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig 1950-1990. Entwicklung, Funktion, Arbeitsweise.“(3)
Das Wirken der DHfK, ihre Leistungen lösten auch internationale Reaktionen aus. Bereits im November 1953 besuchten Prof. Dr. Altrock, Direktor des Insti-tuts für Leibesübungen in Frankfurt am Main, und Dr. Körbs, stellvertretender Direktor der Sporthoch-schule Köln, die DHfK. Und im Januar 1956 richtete der einstige Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB) der BRD an den Innenminister der Adenauer-Regierung ein streng vertrauliches „aide memoire“, in dem er schreibt: „… in Leipzig an der `Sporthoch-schule´ wird in den großartig eingerichteten wissen-schaftlichen Instituten der beste wissenschaftliche Nachwuchs Deutschlands auf dem Gebiet der Sportwissenschaft gesammelt. Es besteht für mich kein Zweifel darüber, dass auch geistig in der Sportwissenschaft in wenigen Jahren die SBZ alles in den Schatten stellen wird, was in der Bundesre-publik vorhanden ist. … Ich glaube, dass es keinen Zweck hat, sehr verehrter Herr Minister, die Tatsa-che noch weiter zu bagatellisieren, ich glaube viel-mehr, dass es richtiger ist, die Tatsachen zu erken-nen und zu überlegen, ob es nicht erforderlich ist, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“(4) Zweifellos eine zu hohe Wertschätzung gewisser-maßen vorab.
Doch am 7. Dezember 2000 heißt es in „Die Welt“ (Berlin): „Die von der Staatsregierung des Landes Sachsen im Jahre 1990 verfügte Abwicklung der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig
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ist bis zum heutigen Tag umstritten. 10 Jahre nach der Wiedervereinigung im deutschen Sport bilan-zierten deutsche Sportfunktionäre, dass es ein Feh-ler war, die DHfK in Leipzig zu schließen … und wir uns zu wenig Gedanken gemacht haben über das DDR-Sport-System.“(5)
Einsichten, die zu spät kommen und deshalb irrepa-rabel sind.
Selbstverständlich brachten einstige Absolventen, Angehörige oder Freunde der Hochschule nicht nur ihre Verbundenheit zum Ausdruck, sondern doku-mentierten auch - auf unterschiedliche Weise - die Leistungsfähigkeit von DHfK-Absolventen, von Wis-senschaftlern ebenso wie von Trainern und deren Erfahrungen.(6)
Nicht nur das bevorstehende Jubiläum weckt Erin-nerungen an eine einst international bekannte und geschätzte Sporthochschule, sondern nach 25 Jah-ren erneut Unverständnis und Zorn, da heute zu-dem immer mehr das politische Niveau der Vereini-gungsstrategie von 1990/91 zunehmend dokumen-tiert und vielfach deutlich wird.
Literatur: 1) Kalb, Lothar: Sendboten Olympias. Die Ge-schichte des Ausländerstudiums an der DHfK Leipzig. Leipziger Universitätsverlag 2008, 311 S..
2) Döbler, Erika / Döbler Hugo: Kleine Spiele – das Standardwerk für Ausbildung und Praxis, Berlin: Sportverlag 1996 (20. Auflage), 459 S.
Hochmuth, Gerhard: Biomechanik sportlicher Be-wegungen. …
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Kunath, Paul / Schellenberger, Hans (Hrsg,): Tätig-keitsorientierte Sportpsychologie, Eine Einführung für Studenten und Praktiker. Frankfurt am Main: Verlag Deutsch 1991, 329 S
Meinel, Kurt / Schnabel, Günter: Bewegungslehre - Sportmotorik. Abriss einer Theorie der sportlichen Bewegung unter pädagogischem Aspekt. Berlin: Sportverlag 1998, 447 S. (Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag von Prof. Dr. Kurt Meinel)
Schnabel, Günter / Thieß, Günter (Hrsg.); Lexikon Sportwissenschaft. Leistung - Training - Wettkampf (Band 1 und 2). Berlin: Sportverlag 1993, 1069 S. (Band 1 A-K, Band 2 L-Z)
Schnabel, Günter / Harre, Dietrich / Krug, Jürgen (Hrsg.): Trainingslehre - Trainingswissenschaft. Leistung - Training - Wettkampf. Aachen u.a.: Ver-lag Meyer & Meyer 2014, 658 S.
Tittel, Kurt: Beschreibende und funktionelle Anato-mie des Menschen. München, Jena: Urban und Fischer Verlag 2000, 429 S.
Witt, Günther: Ästhetik des Sports. Versuch einer Bestandsaufnahme und Grundlegung. Berlin: Sportverlag 1982, 294 S.
3) Lehmann Gerhard / Kalb, Lothar / Rogalski, Norbert / Schröter, Detlev / Wonneberger, Günther (Hg,): Deutsche Hochschule für Körperkultur Leipzig 1950-1990. Entwicklung, Funktion, Arbeitsweise. Aachen u.a.: Verlag Meyer & Meyer 2007, 483 S.
4) Daume, Willi: „aide memoire“ v. 26. Januar 1956, zitiert nach „Beiträge zur Sportgeschichte“ 1997, Heft 4, S. 74 f.
5) Die Welt, Berlin v. 7. Dezember 2000
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6) Schumann, Karsten (Hg,): DHfK Leipzig 1950-1990. Chronologie einer weltbekannten Sporthoch-schule und das abrupte Ende ihrer Geschichte. Köln: DSV Deutscher Sportverlag 2003, 216 S
Schumann, Karsten / Garcia, Ronny (Hrsg.): Sport – Leistung – Persönlichkeit. Schkeuditz
Heft 1: Sport und Wissenschaft in den sozialen Ko-ordinaten, 2002, 104 S.
Heft 2: Aspekte der Biowissenschaften zur sportli-chen Spitzenleistung, 2002, 99 S.
Heft 3: Theorie und Methodik des Trainings in den Bereichen der Höchstleistung, 2003, 99 S.
Heft 4: Die Entwicklung der Trainingssysteme in den Sportarten (I), 2003, 104 S.
Heft 5: Die Entwicklung der Sportarten (II), 2004, 163 S.
Heft 6: Erkenntnisse und Erfahrungen von DHfK-Trainern in aller Welt, 2005, 107 S.
Rogalski, Norbert: Qualifiziert und ausgemustert. Wie ich die DHfK erlebte. Leipzig: Eigenverlag 2005, 369 S.
Röder, Horst: Bewegtes Leben. Lebensbeschrei-bung. Erinnerungen an den Sport der DDR. Berlin: Eigenverlag 2008, 371 S.
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DIE DROYSIGER SCHULSPARTAKIADE
1953
Von Werner Riebel
Spartakiade war unlängst das Thema meiner Abi-turklasse, die ich zur Feier des 61. Abiturjahresta-ges nach Jena eingeladen hatte. Mein Mitschüler Karl-Heinz Kotyrba, Mathematik-Lehrer in Cottbus, erinnerte uns an das Programm dieses zweitägigen Schulsportfestes im Oktober 1953 an unserer Lan-desheimoberschule Droysig.
Über diese Programmblätter verfügte ich nicht mehr. Karl-Heinz schickte sie mir kürzlich. Auf diese Sportzeugnisse bin ich stolz, denn ich war damals als Sportverantwortlicher der Zentralen Schulgrup-penleitung der FDJ (ZSGL) gemeinsam mit unse-rem FDJ-Sekretär Heinz Hofmann im Alter von 16 Jahren der Cheforganisator dieses Schulsportfes-tes, das wir Spartakiade nannten. Wir hatten sogar einen Fackellauf mit abschließendem Spartakiade-feuer nicht vergessen.
Wer den Vorschlag gemacht hat, unser Sportfest Spartakiade zu nennen, weiß ich leider nicht mehr. Meine Mitschülerin und Vorsagerin im Lateinunter-richt, Marianne Tippl, habe ich gefragt, ob sie sich erinnern kann. Marianne kannte mein Sportinteres-se, hat mir z.B. 1953 das Buch von Frantisek Kozik „Der Marathonsieger Emil Zatopek“, 1953 im AR-TIA-Verlag erschienen, geschenkt, das ich bis heute in Ehren halte, weil ich als Armeesportler Emil Zatopek 1956 im Potsdamer Luftschiffhafen wäh-rend eines Trainingsaufenthalts persönlich erlebt hatte. Marianne erinnerte sich an einen tschechi-
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schen Sportler, der mit Spartakiaden zu tun gehabt hatte, dessen Namen sie nicht mehr wusste. Viel-leicht kannte jemand in unserer Schule den Namen Frantisek Chaloupecky, der in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts Arbeiterspartakiaden organi-siert hatte. Inzwischen habe ich noch einmal in der im Spotless-Verlag erschienenen „Chronik des DDR-Sports“ aus dem Jahr 2000 geblättert und zwei interessante Daten gefunden:
23. Februar 1951: Das Sekretariat des DS beauf-tragt die Sportvereinigungen, Spartakiaden als Sport- und Kulturfeste in Anknüpfung an eine Tradi-tion des Arbeitersports zu organisieren.
19.-24. August 1952: In Dresden findet die 1. Zent-rale Spartakiade des Verbandes der Jungen Pionie-re im Rahmen des 1. Pioniertreffens statt.
Schließlich habe ich das Buch von Klaus Ullrich „Die Urenkel des Spartakus“, erschienen im Sport-verlag Berlin 1972, noch einmal in die Hand ge-nommen, gelesen und, ich sage es ehrlich, ich konnte gar nicht wieder aufhören zu lesen. Dieses Buch müsste noch einmal aufgelegt werden, um es als Lehrbuch jenen auf den Tisch zu legen, die alles vergessen haben oder vergessen wollen, was den DDR-Sport auszeichnete, oder die zu jung sind und es nicht selbst erlebt haben. Berührt haben mich in diesem Buch auf S. 81 die Fragen an sechs Teil-nehmer der Winterspartakiade und ihre Antworten: „Hat dich jemals jemand gefragt, ob dein Vater auch genug Geld hätte, dass du diesen Sport treiben kannst?“ Umwerfend die Antworten: Dietrich Kujaht, 15 Jahre, aus Georgenstadt: „Nein. Die Frage wür-de ich gar nicht verstehen“ und Gerold Eichhorn, 14
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Jahre alt, aus Altenburg: „Ich fände sie nur ko-misch.“
Doch zurück zu meiner Droysiger Schulspartakiade 1953. Das Programm berichtet von Wettkämpfen in der Leichtathletik, im Fußball, Volleyball, Turnen und sogar von einem Radrennen. Ich bin damals mit Startlisten durch die Zimmer des Internats spa-ziert und habe Teilnehmer für die Wettkämpfe ge-worben. Das Radrennen habe ich mit Genehmigung der Polizei organisiert und die Maschinen-Traktoren-Station (MTS) unterstützte uns mit einem sowjetischen LKW als „Lumpensammler“ für ausge-schiedene Fahrer. Ich habe selbst an diesem Ren-nen teilgenommen, wie das der Startliste des Pro-gramms zu entnehmen ist, fuhr auch die Hälfte der Strecke mit, landete aber schließlich - körperlich am Ende - im Straßengraben und traf mich mit anderen Gescheiterten auf dem „Lumpensammler“. Wenige Tage später wurde ich in das Zimmer des Schuldi-rektors, Herrn Kahl, bestellt. Zwei Radsportfunktio-näre aus Zeitz verhörten mich in ziemlich aggressi-vem Ton. Sie wollten wissen, wer mir das Recht gegeben hatte, ein Radrennen zu organisieren ohne Genehmigung des KFA (Kreisfachausschuss) Rad-sport. Dass ich solch eine Genehmigung benötigte, war mir damals überhaupt nicht bewusst. Die zwei Männer verlangten von unserem Direktor, mich für mein Vergehen zu bestrafen. Dieser verwies darauf, dass er dazu den pädagogischen Rat der Schule befragen müsse. Das geschah jedoch nicht. Im Ge-genteil, Der Direktor, Herr Kahl, gratulierte mir im Speisesaal der Schule vor versammelter Schüler-schaft zu unserer erfolgreichen Spartakiade.
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Leider weiß ich nicht, ob zu jener Zeit 1953 auch andere Schulen Schulspartakiaden organisierten.
Wer davon Kenntnis hat, den bitte ich, sich bei mir zu melden unter der Anschrift:
Prof. Dr. Werner Riebel, Iltisweg 16, 07749 Jena
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!.
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GEDENKEN
Prof. em. Dr. habil. Klaus Rohrberg
05.05.1932 – 23.07.2016
Die Sportwissenschaftler Deutschlands mussten am 23. Juli 2016 zur Kenntnis nehmen, dass der Sportsoziologe und langjährige Direktor des Instituts für Theorie und Soziologie des Sports an der Päda-gogischen Hochschule Zwickau, Prof. em. Dr. habil. Klaus Rohrberg, nach längerer Krankheit sein Le-ben beendet hat.
Wir trauern mit seinen Angehörigen um einen Men-schen und Wissenschaftler, der über Jahrzehnte sein Leben der Entwicklung der Sportwissenschaft widmete. In seiner Spezialdisziplin versuchte er, praxisbezogene Fragen von Körperkultur und Sport theoretisch zu fundieren.
Als Hochschullehrer führte er zahlreiche Generatio-nen von Studentinnen und Studenten zum Diplom und zugleich wissenschaftliche Assistenten bzw. Aspiranten zur Promotion. So wurde einer seiner Doktoranden 1984 für die vorgelegte Dissertations-schrift mit dem angesehenen Förderpreis des Inter-nationalen Komitees für Sportsoziologie (ICSS) ausgezeichnet.
Er war zugleich in der Fachkommission Theorie und Sportsoziologie des Wissenschaftlichen Rates Kör-perkultur und Sport leitend und beratend tätig.
Sein wissenschaftstheoretisches Credo lehnte sich an die These des französischen Philosophen René Descartes an, wonach wissenschaftsbezogen an allem zu zweifeln ist. Dieses „de omnibus dubi-
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tandum“ prägte zugleich auch seinen hohen An-spruch bezogen auf den Zusammenhang von Theo-rie und Praxis in der Sportwissenschaft.
Sein schöpferisches Wirken in der relativ jungen Zweigsoziologie trug vor allem durch die Vielzahl von Forschungsprojekten mit Repräsentanzcharak-ter maßgeblich bei, seit 1972 Sitz und Stimme im Forschungsrat der Akademie der Wissenschaften der DDR zu erhalten.
Aus seiner umfangreichen Publikationstätigkeit ra-gen vor allem jene Beiträge heraus, die im internati-onalen Rahmen Interesse und Diskussionswürdig-keit fanden. Seine Chronik der Fachkommission von 1978-1990 war Ausdruck für die Vielfältigkeit seiner Mitarbeit im Wissenschaftlichen Rat der DDR.
Klaus Rohrberg gehörte als Kollege zu jenem Kreis von Persönlichkeiten, mit denen stets fruchtbare Dispute und Streitgespräche geführt werden konn-ten.
Mit seinem Hinscheiden verliert die Sportwissen-schaft, auch im heutigen Deutschland, einen integ-ren Akademiker mit nationaler und internationaler Reputation.
Seine Mitstreiter würdigen hiermit seine Persönlich-keit und entbieten ihm ein ehrendes Gedenken.
Prof. em. Dr. habil. Friedrich-Wilhelm Gras
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GEDENKEN
Prof. em. Dr. Karl-Heinz Bauersfeld
02.08.1927 – 31.08.2016
Mit Karl-Heinz Bauersfeld verliert unsere Gemein-schaft einen der erfolgreichsten Leichtathletik-Trainer der DDR und einen verdienstvollen, kreati-ven Sportwissenschaftler der Deutschen Hochschu-le für Körperkultur (DHfK) Leipzig.
Er gehörte zum ersten Jahrgang Studierender, die 1950 ein Studium an der DHfK in Leipzig aufnah-men. Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums war er zunächst zwei Jahre in der Abteilung Wis-senschaft des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport in Berlin und danach als wissenschaftli-cher Oberassistent am Institut für Leichtathletik der DHfK tätig. Gleichzeitig betreute er als Trainer jun-ge, talentierte Athletinnen und Athleten des Sport-clubs in den Disziplinen Kugelstoßen, Speer- und Diskuswerfen.
Einige Jahre jünger als Karl-Heinz und Sportstudent im zweiten Matrikel an der Hochschule lernte ich ihn in dieser Zeit als „angehender“ Zehnkämpfer ken-nen und schätzen. Ab und an erhielt ich von ihm nützliche Tipps für mein Techniktraining in den Wurfdisziplinen, bewunderte aber vor allem die ge-löste, heitere Atmosphäre in seiner Trainingsgruppe und seine geduldige, außerordentlich individuelle Feinarbeit mit jedem einzelnen Athleten. Da war ein Trainer am Werk, der zielbewusst Spitzenleis-tungen mit „seinen Sportlern“ anstrebte. Der Zufall wollte es, dass Karl-Heinz als Trainer und ich als
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Sportler 1955 eine Einladung zu einem sechswö-chigen Trainingslehrgang an der Sportschule in Greiz erhielten, der inhaltlich durch den Leichtathle-tik-Experten Professor Markow aus der Sowjetunion geleitet wurde. Dieser Lehrgang war für alle Betei-ligten – Athleten und Trainer der DDR – ein einma-liges und unvergessliches Erlebnis. Markows Kon-zept: Exakt definierte, biomechanisch begründete Technikabläufe für jede Wurfdisziplin, Ausprägung der Bewegungsvorstellungen jedes Athleten bis ins letzte Detail, ständiger Einsatz von Foto- und Film-aufnahmen sowie von unterschiedlichen Bildmateri-alien. Das allermeiste davon war für uns neu. Noch Jahre später habe ich mehrfach von dem deutschen Trainer Bauersfeld selbst gehört, welch hohen Res-pekt er dem sowjetischen Kollegen zollte und wie viel er als junger Trainer von ihm gelernt habe. Da-mals wurden Denkanstöße gegeben und Fach-kenntnisse vermittelt, die für die erfolgreiche Ent-wicklung in den Wurf- und Stoßdisziplinen der DDR-Leichtathletik von hohem Wert waren.
Von 1960 bis 1972 als hauptamtlicher Trainer beim SC DHfK tätig, brachte Karl-Heinz Bauersfeld das „Meisterwerk“ fertig, dass bei vier aufeinander fol-genden Olympischen Spielen jeweils eine seiner Sportlerinnen eine Gold- oder eine Silbermedaille erkämpfte: 1960 - Johanna Lüttge Silbermedaille im Kugelstoßen, 1964 - Ingrid Lotz Silbermedaille im Diskuswerfen, 1968 - Margitta Gummel Goldmedail-le im Kugelstoßen mit neuem Weltrekord, 1972 - Margitta Gummel Silbermedaille im Kugelstoßen. Diese sowie weitere von K.-H. Bauersfeld betreute Sportlerinnen (Doris Müller, Marion Lüttge, Karin
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Illgen) erzielten auch bei mehreren Europameister-schaften Leistungen im Medaillenbereich. Karl-Heinz war ein Meister seines Faches, wahrhaftig ein „Verdienter Meister des Sports“. Er vereinte in idea-ler Weise Schöpfertum, Überzeugungs- und Durch-setzungskraft. Stillstand in seiner beruflichen Tätig-keit war im fremd, denn es bedeutete im Ringen um Weltspitzenleistungen Rückstand. Das Nutzen wis-senschaftlicher Erkenntnisse war für ihn selbstver-ständlich. Praxis und Wissenschaft bildeten für ihn eine Einheit. Deshalb vollzog sich sein Weg zurück in Lehre und Forschung an der DHfK 1972 nahtlos.
Bis 1975 leitete er den Wissenschaftsbereich Leichtathletik, Gewichtheben, Radsport. Es folgte seine Berufung zum Professor für Theorie und Me-thodik der Leichtathletik. Fünfzehn Jahre, von 1975 bis 1990, war er Prorektor für Wissenschaftsent-wicklung an der Hochschule. In diesen Funktionen stellte er seine ausgeprägte Fähigkeit und Bereit-schaft zur Erneuerung unter Beweis, Er beförderte stets eine enge, kameradschaftliche Zusammenar-beit mit dem DTSB und seinen Sportverbänden. Unter seiner Leitung wurde die Forschung zu Grundfragen des Aufbau- und Grundlagentrainings sowie zur Eignungsproblematik intensiviert und nach dem Prinzip der Auftragsforschung organisiert. Die mit der Hochschule vereinbarten Analysen zu den Zentralen Kinder- und Jugendspartakiaden er-brachten stets wichtige Hinweise zur inhaltlichen und organisatorischen Ausgestaltung dieser welt-weit einmaligen Wettkampfform. Die von Professor Bauersfeld geleiteten Wissenschaftsbereiche der Hochschule wirkten u.a. aktiv bei der inhaltlichen
75
Vorbereitung der im November 1985 in Leipzig ver-anstalteten Kinder- und Jugendsportkonferenz des DTSB mit, bei der auch die Erhöhung des Niveaus des Übungs-, Trainings- und Wettkampfbetriebes im Kinder- und Jugendsport im Zentrum stand. Stets war Karl-Heinz Bauersfeld ein verlässlicher Partner, ein kluger Ratgeber und kritischer Begleiter.
In der schwierigen Zeit der „Wende“ übernahm Karl-Heinz Bauersfeld die ehrenamtliche Funktion als Präsident des Sportclubs DHfK. Ein Zeichen seiner langjährigen, engen Verbundenheit mit seinem Heimatclub. Ideenreich versuchte er, Bewahrens-wertes zu erhalten und Neues zu wagen. Ungeach-tet existenzieller Probleme, darunter einer drohen-den Insolvenz im Jahr 1994, führte er gemeinsam mit vielen anderen den Sportclub bis 1996 wieder in sicheres Fahrwasser. 2004 konnte der Sportclub das 50-jährige Bestehen gemeinsam mit vielen ehemaligen Sportlern und heute aktiven Clubmit-gliedern festlich begehen. 26 Jahre nach der „Wen-de“ gibt es immer noch den Sportclub mit dem stol-zen Namen DHfK Leipzig. Karl-Heinz Bauersfeld hat in diesem Prozess Besonderes geleistet. Danke Karl-Heinz.
Prof. Dr. Horst Röder
76
INFORMATION
SPORT UND GESELLSCHAFT e.V.
Auf die Homepage des Vereins wurde in den Jahren bis 2016 mehr als 337 000 Mal zu-gegriffen, nicht nur aus Deutschland, son-dern auch durch Interessenten aus Kanada, Serbien, der Slowakei, Dänemark, Spanien, Litauen, Argentinien, Portugal, Luxemburg, Rumänien, Niederlande, Belgien, British In-dia, Irland, Ecuador, Mexiko, Norwegen, China, Frankreich, Ungarn, Türkei, Japan, Indien, Griechenland, Italien, Tschechische Republik, Australien, Schweiz, Brasilien, Po-len, Russland, Ukraine, Sankt Helena.
Zugriffe aus weiteren acht Ländern konnten nicht eindeutig zugeordnet werden.
Die meisten der Zugriffe kamen aus der Tschechischen Republik und aus Japan. Aus der Schweiz wurde fast 3000 Mal auf unsere Homepage zugegriffen.
Hasso Hettrich

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1
BEITRÄGE ZUR
SPORT-GESCHICHTE
Heft 38
Klaus Hirche/Klaus Ullrich Huhn
SOTSCHITAGEBÜCHER
SPORT UND GESELLSCHAFT e.V.
2
VEREIN FÜR SPORT UND GESELLSCHAFT e.V.
Hasso Hettrich – Triftstr. 34 – 15370 Petershagen
Unkostenbeitrag 3,50 € - Versandkosten 1,50 €
3
VORWEG…
Der Verein „Sport und Gesellschaft e.V.“ hatte im Vorfeld der XXII. Olympischen
Winterspiele zwei „Veteranen“ und eine „olympische Jungfrau“ gebeten,
für unsere Halbjahres-Zeitschrift ihre Eindrücke als olympische „Tagebücher“
zu Papier zu bringen. Die „olympische Jungfrau“ heißt Ivonne Schröter,
stammt aus Weißwasser, war in Sotschi, hütete dort das Tor der deutschen
Eishockey-Frauen-Nationalmannschaft und berichtete uns über das Olympia
von heute. Zustandekam ein bilderloser und auch resultatloser Bericht über
Spiele, die bundesdeutsche Politiker und Medien schon im Voraus geschmäht
hatten. Also eine an Wahrheiten interessierte Studie, die nicht in
Anspruch nehmen wollte, als sattelfeste Analyse bewertet zu werden, aber
solide Fakten und Meinungen zu äußern. Die lieferten Klaus Hirche, der 1968
in Grenoble das DDR-Eishockey-Tor gehütet hatte, und Klaus Ullrich Huhn,
der als Journalist von acht Olympischen Winterspielen berichtet hatte und
schon 1956 beim DDR-Debüt in Cortina d’Ampezzo dabei gewesen war.
Entschlossen die Form von „Tagebüchern“ zu wählen, die nicht mal echte
Tagebücher sein konnten, hatten wir uns, weil viele Leser von Täves „Tagebuch“
der Londoner Spiele 2012 angetan waren. So entstand dieses Heft,
dessen Hauptautoren die Spiele vor dem Fernseher verfolgten und - so erwies
sich - viele Details besser bewerten konnten, als wenn sie sich auf den
Weg nach Sotschi gemacht hätten. Hinzu kam ihr Vorteil, dass sie per Internet
viele bundesdeutsche Zeitungen verfolgen konnten, sodass Klaus Hirche
in Weißwasser auch die „Berliner Zeitung“ las und Klaus Huhn erfuhr, was
Lokalblätter aus dem Ruhrgebiet geschrieben hatten. So entstand eine Verknüpfung
von nüchternen Fakten und eigenen Erfahrungen, von distanzierten
und durch Tuchfühlung mitbestimmten Urteilen und Meinungen.
4
DIE AUTOREN ÜBER SICH:
KLAUS HIRCHE: Ich weiß nicht, was den Verein „Sport und Gesellschaft“
bewog, mich um die Mitarbeit an den „Beiträgen zur Sportgeschichte“ zu bitten
- vermutlich, weil ich einmal an Olympischen Winterspielen teilnahm. Das
war 1968 in Grenoble, ich hütete da das Tor der DDR-Eishockey-
Nationalmannschaft. Ich bekenne ohne die geringste Hemmung, dass sich für
mich damit ein Lebenstraum erfüllt hatte. Schon zweimal - 1960 und 1964 -
also acht bzw. vier Jahre vorher hatte ich an den damals nötigen Ausscheidungsspielen
gegen die BRD teilgenommen. Das entscheidende Spiel 1964,
in der Werner-Seelenbinder-Halle, begannen wir furios, gingen 2:0 in Führung,
verloren dann aber dramatisch 3:4.“
Das entscheidende Tor war lange umstritten. Ich hatte den Schuss, fallend,
gegen die Brust bekommen, so abgewehrt und mit der Fanghand gesichert.
Doch der Schiedsrichter entschied, dass die Scheibe bei der Abwehrreaktion
die Torlinie passiert hatte.
In Grenoble fiel die Entscheidung, ob die DDR in der höchsten Spielklasse
um die Medaillen spielen durfte, im Qualifikationsspiel gegen Norwegen. Wir
kassierten nach drei Minuten das erste Tor! Das entnervte mich aber nicht,
ich hielt bis zum Schlusspfiff alle Schüsse und die DDR qualifizierte sich,
wurde dann aber nur Achter. Hirche: „Das war bitter, konnte aber nie mein Erlebnis
Olympia auslöschen.“
Jetzt in Sotschi hatte ich dank der Fernsehkameras einen Platz, von dem
man obendrein in Zeitlupe besser sehen konnte als von der Ehrentribüne.
KLAUS ULLRICH HUHN: Ich war bei acht Olympischen Winterspielen als
Journalist akkreditiert und berichtete für „Neues Deutschland“. Am Rande:
Jeder wusste, dass ich ein Kommunist war, aber für viele war ich ein ungemein
wichtiger Kollege, dieweil man mit meiner Hilfe hoffte, zu Sieger-
Interviews zu gelangen - die DDR hatte auch bei Winterspielen viele Siege
errungen. Das ging so weit, dass der US-amerikanische Produzent des offiziellen
Olympiafilms mir in Calgary eine Mütze seines Teams schenkte. Wer
diese Mütze trug, durfte alle Absperrungen - selbst die zur Ehrentribüne -
passieren, ohne kontrolliert zu werden.
Vervollständigt wird unser Trio durch IVONNE SCHRÖTER aus Weißwasser,
die die dritte Torfrau der Frauen-Eishockey-Nationalmannschaft ist. Die
Deutsche Männermannschaft hatte sich bekanntlich nicht für das Olympiaturnier
qualifizieren können. Zu der Nichtqualifizierung der Männer erheben sich
folgende interessante Fragen: Sind die Mannschaften aus Österreich, der
Schweiz und Frankreichs heute besser als zu unserer Zeit (1960 bis 1970),
haben sie besser trainiert oder haben sie eine bessere staatliche Förderung
erhalten als unsere deutschen Spieler? Wie dem auch ist, unsere Frauenmannschaft
war dort und
IVONNE wird uns also von „vor Ort“ berichten; aus dem Olympischen Dorf,
aus dem Speisesaal und schließlich auch von der Spielerbank im Eisstadion.
IVONNE ist in vielfacher Hinsicht bewundernswert, was auch für ihre Arbeits5
kolleginnen in Weißwasser gilt. Sie lebt in Weißwasser, wo aber keine Frauenmannschaft
existiert. Deshalb fährt sie zum Training und zu Spielen ins
nahe Niesky, wo sie das Tor der Männermannschaft Tornado Niesky hütet.
Spielt der Frauenmeister Eisladys OSC Berlin, fährt sie nach Berlin und hütet
dort das Tor und in Niesky muss ein Mann ins Tor. Schließlich wurde sie für
die Olympiamannschaft nominiert. Ihr Problem ist, dass das DDR-Gesetz,
das „Freistellungen“ für Leistungssportler sicherte, natürlich nicht mehr gilt.
Also müssen ihre Kolleginnen in der städtischen Wohnungsbaugenossenschaft
WBG - dort ist sie als Bürofachfrau tätig - ihre Arbeit während ihrer
Abwesenheit übernehmen, was wiederum auch dank der „olympischen“ Haltung
ihrer Chefin Petra Sczesny ermöglicht wird. Tatsachen, die die olympische
Situation in der Bundesrepublik illustrieren.
RUPERT KAISER zählt zum Quintett der weltweit renommiertesten Olympia-
Experten.
Wir danken Prof. Dr. MARGOT BUDZISCH für ihre anerkennenswerte Mitwirkung
an der Gestaltung des Textes.
6
OLYMPIATAGEBÜCHER
KLAUS HIRCHE
KLAUS ULLRICH HUHN
10. JANUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Ich sollte zum Beginn ein paar Worte darüber verlieren,
wie ich mich damals auf die Spiele 1968 vorbereitet habe. Ich war - niemanden
wird das staunen lassen - aufgeregt wie nie zuvor in meiner Laufbahn.
Kein Wunder! Wer träumt als Sportler nicht davon, einmal im Leben Olympionike
gewesen zu sein? 1960 und 1964 waren wir in den Ausscheidungsspielen
gegen die BRD knapp gescheitert. Rund acht Jahre systematischen, harten
Trainings, dem oft knallharte Wettkämpfe folgten - Olympia immer vor
Augen führten - nicht zur gewünschten Teilnahme. Als Grenoble fällig wurde,
erzwangen wir im Dezember 1965 in Weißwasser ein 3:3 gegen die UdSSR
und triumphierten im Januar 1966 mit 3:1 in Crimmitschau sogar gegen Kanada.
Bei der Weltmeisterschaft in Jugoslawien wurden wir Fünfter und in der
Europameisterschaftswertung sogar Dritter. Inzwischen hatte das IOC der
DDR eine selbständige Olympiamannschaft zugestanden. Damit war der
Weg nach Grenoble endgültig frei. Der erste „Höhepunkt“ war für mich die
Einkleidung und als wir dann unsere Quartiere im Olympischen Dorf bezogen
hatten, bestritten wir zur „Akklimatisierung“ drei Tage vor dem Qualifikationsspiel
für die A-Gruppe gegen Norwegen - nur in der ging es ja um Medaillen,
wobei wir wussten, dass eine Medaille für uns etwa so weit entfernt war wie
der Mond - noch ein Übungsspiel gegen eine französische Clubmannschaft.
Ich hütete das französische Tor, weil - so wurde dieser „Trick“ erklärt - deren
Schlussmann sich verletzt hatte.
Durch einen unglücklichen Zusammenprall schien dann innerhalb von Sekunden
meine Olympialaufbahn beendet noch ehe die Spiele begonnen hatten.
Unser Mannschaftsarzt Dr. Wilde und der Physiotherapeut „Schorsch“
Jordan taten ihr Bestes. Ich schlief die nächsten Nächte nicht - immer sinnierend:
„Werde ich wieder nach Hause fahren müssen?“ - bis der Doktor mir
mitteilte, dass ich doch noch „olympiareif“ sei. Die Trainer nominierten mich
sogar für das so vieles entscheidende Eröffnungsspiel. Wir schlugen die
Norweger 3:1 und ich war der glücklichste Mensch weit und breit. Die bitteren
Tage folgten. Am Ende wurden wir Achter, immerhin Achter bei Olympia, mit
einer Mannschaft, die aus einem Land kam, wo es nur acht Mannschaften
gab und ab 1970 die kleinste Eishockey-Liga der Welt, die nur aus zwei
Mannschaften bestand. Achter, was auch in Grenoble viele für ein kleines
Wunder hielten.
Aber kommen wir endlich zu Sotschi…
KLAUS ULLRICH HUHN: Ich muss noch zwei Tatsachen ergänzen, um ein
rundes Olympiabild zu präsentieren.
7
Zum ersten: Klaus Hirche hatte erwähnt, wie wichtig das Spiel ursprünglich
wegen des „chefs de mission“ war. Seit 1956 hatte den die BRD gestellt, weil
sie die Mehrzahl der Athleten aufbot. 1964 hätte die Zahl der Eishockeyspieler
den Ausschlag geben können. Wäre aber - durch einen Erfolg der DDREishockeymannschaft
- der „chef de mission“ aus der DDR an der Spitze der
damals formal noch gemeinsamen Mannschaft marschiert, hatten gewisse
Kräfte in Bonn allen Ernstes erwogen, auf eine Teilnahme an den Spielen zu
verzichten. Man hat Mühe, sich das heute vorzustellen, aber so war damals
die politische Situation.
Stutzig geworden war man vor jenem Spiel in der Ostberliner Seelenbinder-
Halle, als die beiden Schweizer Schiedsrichter nicht - wie vereinbart - nach
Schönefeld geflogen waren und in Ostberlin ihre Hotelzimmer bezogen hatten,
sondern in Tempelhof landeten, dort von Westberliner Funktionären
empfangen worden waren und dort nach einem von den Westberlinern gegebenen
Bankett auch übernachtet hatten. Sie waren erst kurz vor dem Beginn
des Spiels nach Ostberlin gekommen. Einer von beiden tat Jahre später in
einer geselligen Runde in Prag kund, dass sie in Westberlin zu einem Urlaub
nach Bayern eingeladen worden waren. Die Affäre wurde nie aufgeklärt, geriet
aber auch nicht in Vergessenheit. Mir hat es Jahre später jemand enthüllt,
der die Umstände gekannt haben muss: Heinz Henschel, Ehrenpräsident des
bundesdeutschen Eissportverbandes.
Der zweite Fakt zum Thema „sichere Olympische Spiele“ stammt aus dem
Jahr 1972, als München Schauplatz der Sommerspiele war. Damals hatte ich
einen anonymen Brief bekommen. Er begann: „Hoffentlich kreuzen Sie zur
Olympiade 1972 nicht in München auf, sonst könnte Ihnen übles passieren.
Seit Jahren verfolge ich im ND Ihre Hetzartikel gegen unsere BRD…“
Ich sandte diesen Brief an den Präsidenten des Organisationskomitees für
die Spiele der XX. Olympiade, Willi Daume, und erhielt am 13. April 1971 eine
Antwort, in der zu lesen war: „Auf jeden Fall habe ich den Vorgang zur
sorgfältigen Ueberprüfung an die hier zuständigen Stellen weitergeleitet. Und
selbstverständlich wird für Sie, sehr geehrter Herr Huhn, und für Ihre Kollegen
alles Notwendige unternommen werden, um zu den Olympischen Spielen
die volle persönliche Sicherheit zu gewährleisten.“
Aber Hirche hat natürlich recht: Sotschi ist unser Thema!
14. JANUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Gestern - also am 13. Januar 2014 - nahm ich zu Hause
in Weißwasser die „Lausitzer Rundschau“ aus dem Kasten und las als
Schlagzeile die Riesenlettern: „Regierung warnt Reisende nach Sotschi“.
Immerhin: Nicht irgendein Reisebüro oder ein Parteiredner, sondern die Bundesregierung
warnte davor, die Spiele in Sotschi zu besuchen. Ich frage Dich,
der Du seit Cortina 1956 bei Olympischen Spielen warst, gab es eine ähnliche
Anti-Olympia-Warnung schon mal?
8
KLAUS ULLRICH HUHN: Die Antwort lautet „Ja“. Es wurde nicht nur gewarnt,
sondern die Reise zu den Spielen verweigert. Das war bei den Winterspielen
1960. Die Regierung der USA hatte wie alle Olympia-Gastgeberländer
gegenüber dem IOC die Verpflichtung übernommen, allen Teilnehmern
und Gästen der Spiele - damals war Squaw Valley der Austragungsort
- die uneingeschränkte Einreise zu gestatten. Sie verletzte die Garantie,
indem sie für die einzige Ausnahme in der olympischen Geschichte
sorgte: Trainern der DDR und sämtlichen vom IOC bereits akkreditierten
Journalisten der DDR wurde die Einreise verweigert. Vergeblich wandte sich
sogar der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees mit einem
Protest an das Weiße Haus. Ich habe das Original jenes Telegramms in meinem
Archiv. IOC-Präsident Avery Brundage, ein US-amerikanischer Multimillionär,
hatte dem DDR-NOK-Präsidenten, Heinz Schöbel, wörtlich versichert:
„Schöbel bitte teilen sie den Zeitungen mit, dass ich Visa für alle akkreditierten
Journalisten Ostdeutschlands gefordert habe.“ Die US-Regierung ignorierte
diese Aufforderung, und wir alle blieben zu Hause. Über den Skisprunglauf,
bei dem Helmut Recknagel die Goldmedaille für die DDR gewann, berichtete
im Rundfunk der Generalsekretär des DDR-Skiverbandes, Ludwig
Schröder in reinstem mecklenburgisch und erntete von allen Seiten Beifall
dafür.
KLAUS HIRCHE: Was aber mag die Bundesregierung bewogen haben, jetzt
diese Warnung zu verkünden? Vor wem sollte da gewarnt werden? Die
kommunistische Sowjetunion existiert längst nicht mehr, das Politbüro hat
nichts mehr zu sagen…
KLAUS ULLRICH HUHN: Du hast völlig Recht, aber es bleiben bei allem
wohl auch noch Fragen. Wer die inzwischen 80 Seiten umfassende Olympische
Charta - einst von Coubertin auf vier Seiten konzipiert - studiert, findet
nirgends einen Hinweis darauf, dass man Winterspiele - die Coubertin ohnehin
nicht allzu euphorisch empfahl - eines Tages an einem Sandstrand unter
Palmen austragen sollte. Niemand kann bestreiten, dass es in Russland zahlreiche
ideale Wintersportgebiete gibt. Viele waren in der Vergangenheit auch
Schauplatz vorbildlich organisierter internationaler Wettkämpfe. In Sotschi
zum Beispiel ideale Bedingungen für alle Eiswettbewerbe zu schaffen, musste
mehrstellige Summen kosten, wäre aber auch an jedem anderen Ort Russlands
aufwendig geworden. Bliebe darauf hinzuweisen, dass dieses Land
kein Geld für Kriege ausgibt. Deshalb sollten sich Staaten, die Soldaten in
ferne Länder schicken, dort deren Leben aufs Spiel setzen und auch Milliarden
an Kriegswerkzeug verdienen, mit der Kritik an angeblich zu teuren Winterspielen
zurückhalten. Zudem: Ob teuer oder nicht - Olympische Spiele dienen
unbestritten den Bemühungen um eine friedliche Welt. Und: Solange das
Internationale Olympische Komitee den Bewerbern für Spiele keine Kostenobergrenze
vorschreibt, bleiben die Ausgaben allein Sache der Ausrichter. Allerdings
erfuhr die Welt inzwischen auch, dass Sport - inklusive der Olympischen
Spiele - längst in die Krallen des kommerzialisierenden Kapitalismus
9
geraten ist. Fernsehkonzerne bestimmen seit Jahren das olympische Programm,
denn sie entscheiden gemeinsam mit ihren Werbekunden rund um
die Welt, welche Sportarten die meisten Zuschauer (also Werbekunden) anlocken.
Diese Feststellung gilt auch für Russland. Hinzu kommt, dass das
IOC die Projekte aller Bewerber durch Spezialkommissionen überprüfen
lässt. Wer heute also Kritik an Eishallen an Palmenstränden übt, sollte die
IOC-Kommission, die Sotschi empfahl, nach ihren Motiven fragen und nicht
Putin. Ich hielt es für nützlich, diese Feststellungen zu treffen.
Zurück also zur Haltung der Bundesregierung. Es handelte sich nicht um die
Bemerkungen irgendeines Ministers, sondern um eine offizielle Erklärung der
Bundesregierung, ein Dokument, das die Absurdität schockierend offenbart.
Im Sommer 2013 - ich wiederhole 2013 - hatten drei Bundestagsabgeordnete
der Grünen und an deren Hinterrad die Fraktion der Bundesregierung eine
sogenannte Kleine Anfrage zum Thema Sotschi an die Bundesregierung gerichtet.
Die Fragen und die Antworten der Regierung füllten ein Dutzend
Schreibmaschinenseiten…
KLAUS HIRCHE: Und diese Fragen und Antworten liegen vor?
KLAUS ULLRICH HUHN: Ja, die Drucksache trägt die Nummer 17/14353
und wurde am 29. Juli 2013, also rund sieben Monate vor dem Olympiaauftakt
den Abgeordneten und der Öffentlichkeit übergeben. Unser Problem
ist: Wir hatten den Lesern Tagebücher Olympischer Spiele versprochen und
präsentieren ihnen nun Regierungsakten, die man selbst bei vorsichtiger Beurteilung
kaum olympisch nennen kann.
KLAUS HIRCHE: Es würde mir nicht schwer fallen, irgendwann mitzuteilen,
wen ich für den besten Torwart des Eishockeyturniers halte, aber ich wüsste
nicht, wo ich diese Dokumente einordnen sollte. Sie zu ignorieren wäre auch
kaum möglich, denn sie offenbaren die Haltung der Bundesrepublik zu diesen
Winterspielen und nicht zu irgendeinem Billardturnier, womit ich nichts gegen
faires Billard geäußert haben will.
KLAUS ULLRICH HUHN: Schon die erste Frage der Grünen gab faktisch
den „Ton“ an: „In welcher Form werden Menschenrechtskriterien nach Kenntnis
der Bundesregierung bei der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen im
Allgemeinen und in welcher Form wurden diese bei der Vergabe der Olympischen
Winterspiele 2014 nach Sotschi im Besonderen berücksichtigt?“ Darauf
antwortete die Bundesregierung: „Die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen
erfolgt unmittelbar durch den jeweiligen internationalen Sportverband.
So werden die Ausrichterstaaten im Code of Ethics dazu angehalten, die fundamentalen
Prinzipien der Olympischen Idee und der Olympischen Charta,
insbesondere die Gedanken der Menschlichkeit, der Brüderlichkeit und die
Achtung des Einzelnen zu respektieren. Die Bundesregierung geht davon
aus, dass diese Voraussetzungen auch bei der Vergabe der Olympischen
Winterspiele 2014 nach Sotschi berücksichtigt wurden; weitere Erkenntnisse
hierzu liegen nicht vor.“
10
Dieser angehangene Nebensatz könnte den Verdacht aufkommen lassen,
dass man sich in dem zuständigen Ministerium nicht restlos sicher war, ob alle
„fundamentalen Prinzipien“ berücksichtigt wurden.
Weiter mit den Fragen der offenbar völlig ahnungslosen Grünen: „4. Wie
schätzt die Bundesregierung das Risiko, dass angesichts der zunehmenden
Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung sowie auf Versammlungs-
und Vereinigungsfreiheit in Russland (...) auch mögliche Proteste
am Rande der Olympischen Spiele gewaltsam unterdrückt werden, ein?“
Darauf die Bundesregierung: „Es ist nicht auszuschließen, dass im Falle von
Protesten am Rande der Olympischen Spiele diese nicht genehmigt oder
aufgelöst werden.“
Die Bundesregierung kam nicht auf die Idee, die Grünen zu fragen, wogegen
sich solche Proteste denn richten sollten. Gegen die Olympischen Spiele
an sich? Erinnert das nicht an 1896?
KLAUS HIRCHE: Was war damals los?
KLAUS ULLRICH HUHN: Im deutschen Kaiserreich waren alle Athleten, die
willens waren, zu den ersten Olympischen Spielen nach Athen zu reisen, aus
ihren Verbänden und sogar aus den Vereinen ausgeschlossen worden…
KLAUS HIRCHE: Warum das? Begreife ich nicht!
KLAUS ULLRICH HUHN: Das ist heute auch kaum zu begreifen. Der Initiator
der ersten Spiele war der Franzose Baron de Coubertin. 1895 sollte in
Deutschland der 25. Jahrestag des Sieges über den französischen „Erzfeind“
in Sedan gefeiert werden. Nichts passte da weniger in die Landschaft als ein
von einem Franzosen ersonnenes Sportfest, das Freundschaft zwischen den
Völkern stiften wollte! Dank der Konsequenz eines deutschen Sportfunktionärs
- Willibald Gebhardt - reiste eine Mannschaft von „Ausgeschlossenen“
nach Athen, gewann Medaillen und sorgte mit dafür, dass der Siegeszug
Olympias beginnen konnte.
Weiter zu den Antworten der Bundesregierung. Die siebente Frage der Grünen:
„Welche Auswirkungen wird nach Einschätzung der Bundesregierung
das von der Staatsduma beschlossene Gesetz gegen `Propaganda nichttraditioneller
sexueller Beziehungen´ auf die Olympischen Winterspiele 2014
in Sotschi haben...?“
Darauf antwortete die Bundesregierung: „Homosexualität ist in Russland
nicht strafbar. Jedoch ist die Akzeptanz von Homo-, Bi- und Transsexualität in
Russland gering. Aufgrund des föderalen Gesetzes gegen `Propaganda
nicht-traditioneller sexueller Beziehungen´ drohen Ausländern bei Weitergabe
von Informationen, öffentlicher Demonstration und Unterstützung von Homosexualität
Geldstrafen, bis zu 15 Tage Haft und die Ausweisung aus der Russischen
Föderation. Auf diese besonderen strafrechtlichen Vorschriften weist
das Auswärtige Amt in seinen Reise- und Sicherheitshinweisen für Russland
hin. (...) Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der allgemeinen Berichterstattung
über die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und dem
11
russischen Gesetz gegen `Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen
´ ist aus Sicht der Bundesregierung nicht erkennbar.“
Hier beginnen die Varianten. Die Akzeptanz „von Homo-, Bi- und Transsexualität“
sei in Russland gering, behauptete die Bundesregierung. Wie aber
misst man „Akzeptanz“? Schon die Übersetzung des Begriffs bietet mehrere
Möglichkeiten. Es wird vom Lateinischen „accipere“ abgeleitet, das sich mit
„gutheißen“, „annehmen“, „billigen“ übersetzen lässt. Die Bundesregierung
meinte, die „Akzeptanz von Homo-, Bi- und Transsexualität“ sei „gering“. Es
erhebt sich noch einmal die Frage wie die Bundesregierung zu diesem Urteil
kam?
Sie amtiert in einem Land, in dem die sexuellen Übergriffe auf Kinder selbst
in kirchlichen Instanzen zu zahllosen Verfahren führte, die Akzeptanz nicht
traditioneller sexueller Beziehungen also kaum als „gering“ zu bewerten wäre.
In Russland war vor den Spielen ein Gesetz erlassen worden, das Kinder vor
sexuellen Übergriffen schützt, Übergriffe in jeder Hinsicht. Länder, die solche
Gesetze bislang nicht erlassen hatten, müssten sich Versäumnisse vorwerfen
lassen, denn nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die
Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention), - so der UN-Text - sind
„Maßnahmen zu treffen“, „um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger
Gewaltanwendung, Verletzung oder Missbrauch zu schützen (Art. 3)“.
Dieses Gesetz war in Russland übernommen worden, Vorwürfe jedweder Art
entfielen also.
Die nächste Frage der Grünen trug die Nummer 10: „Ist während und kurz
vor den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi nach Kenntnis der Bundesregierung
eine erleichterte Visa-Vergabe oder eine Visa-freie Einreise
nach Russland geplant?“
Die Bundesregierung wusste Bescheid: „Nach Kenntnis der Bundesregierung
erwägt die russische Regierung, den akkreditierten Mitgliedern der
olympischen Familie, darunter das Internationale Olympische Komitee, Athleten,
Medienvertretern, Vertretern der Internationalen Sportverbände und der
Nationalen Olympischen Komitees, eine visafreie Einreise für die Olympischen
Spiele 2014 in Sotschi zu ermöglichen.“
Hier gestatte ich mir eine Erinnerung an frühere Winterspiele, konkret an die
des Jahres 1960 im US-amerikanischen Squaw Valley. Trainern der DDR war
damals das Visum verweigert worden, und zwar nicht mit Ausreden, sondern
mit der Begründung, dass sie politischen Parteien angehörten, die in den
USA verboten sind. Auch allen DDR-Journalisten, die das IOC - wie mich -
bereits akkreditiert hatte, wurde die Einreise in die USA verweigert. Und das
obwohl IOC-Präsident Brundage (USA) ein Protesttelegramm an die USARegierung
geschickt hatte. Das an das NOK gerichtete Original befindet sich
übrigens in meinem Besitz, da Brundage es mir als Vorsitzenden der DDRSportjournalistenvereinigung
als Beweis für seine Bemühungen übergeben
hatte.
12
Den Trainern blieb zur Betreuung nur die Telefonleitung, um Instruktionen
vor den Wettkämpfen zu übermitteln. Dass dieses einmalige olympische System
funktionierte, demonstrierte Helga Haase schon im ersten Wettkampf
überzeugend - sie holte im Eisschnelllauf Gold! Ich könnte mich nicht daran
erinnern, dass bundesdeutsche Medien gegen diese massive Verletzung der
olympischen Charta - Einreise-Verweigerung - ähnlich lärmend agitiert hätten,
wie heute wegen der Lesben und Schwulen…
Weitere Fragen und Antworten: „16. Welche Schlussfolgerungen zieht die
Bundesregierung aus dem (...) Versäumnis vonseiten der State Corporation
Olympstroy (Bauunternehmen in Sotschi), Arbeitsrechte auf dem Gelände der
Olympischen Spiele während der Vorbereitungen für Olympia 2014 in Sotschi
angemessen zu schützen?“
Der Bundesregierung seien: „...Berichte über Verstöße gegen geltendes
russisches Arbeitsrecht auf den verschiedenen Baustellen in Sotschi bekannt.
Die zuständigen russischen Behörden haben in den letzten Jahren auf derartige
Berichte reagiert und führen regelmäßige Arbeitsinspektionen durch.“
Und Berlin - sollte man wohl glauben - kontrolliert diese Inspektionen, übernimmt
also im Grunde gewerkschaftliche Funktionen, denn auch in Russland
sorgen Bauunternehmer dafür, dass Hallen und Schanzen errichtet werden,
und wie die mit ihren Arbeitern umgehen, ist - aus Sicht der Arbeiter leider -
allein ihre Sache. Ganz zu schweigen davon, dass auch noch Unternehmen
tätig waren, die ihre Büros nicht in Russland haben. Und ganz am Rande: Die
Bundesregierung hätte auch auf deutschem Boden einiges in dieser Hinsicht
zu erledigen. Warum ein Arbeiter in Adlershof (Ex-Ostberlin) weniger verdient
als ein Arbeiter in Siemensstadt (Ex-Westberlin) hatten die Grünen bislang
nicht gefragt, würde aber den aus Adlershof durchaus interessieren.
22. JANUAR 2014
KLAUS HIRCHE: … Ich sah am 21. Januar um 21.45 Uhr die Sendung „Report
Mainz“, in der auch über die Reportage über Sotschi, gedreht von einer
gewissen Frau Tillack und einem Herrn Bauer, wenn ich das in der Eile richtig
mitbekommen habe, diskutiert wurde. Es war von Tausenden, um ihren Lohn
betrogener Wanderarbeiter, die Rede und gemerkt habe ich mir die beiden
Worte „reine Sklaverei“. Dann erschien die charmant agierende Autorin Jane
Buchanan auf dem Schirm, die einen 145 Seiten langen Bericht über diese
„Sklaverei“ verfasst hatte, den sie anklagend vor die Kamera hielt. Dann erschien
der Generaldirektor jener Kombination von Sportbund und Olympischem
Komitee (DOSB), Michael Vesper, vor der Kamera und versicherte,
dass man die „Sklaverei“ - er umging das Wort, ließ aber keine Zweifel aufkommen
- dem IOC melden werde und das Komitee dann den Dingen nachgehen
wird. Am Rande war noch die Rede davon, dass Mehrkosten entstehen
würden.
13
KLAUS ULLRICH HUHN: Unser Heft trägt den Titel „Beiträge zur Sportgeschichte“
und die bisher seit 1995 erschienenen 37 Hefte mühten sich, dem
Rechnung zu tragen. Der Titel zwingt uns, den bundesdeutschen Medienfeldzug
gegen Sotschi unter die Lupe zu nehmen. Dabei ließe sich auch die Frage
nicht umgehen, was den zweithöchsten deutschen Sportfunktionär bewogen
haben mag, die von den Medien verbreiteten Klagen usbekischer Bauarbeiter
gegen die Unternehmer, die sie in Sotschi eingestellt hatten, dem IOC
zu melden? Da derlei Klagen in der Regel von Gewerkschaftsfunktionären
und den Unternehmern bearbeitet werden, sollte er wissen lassen, in wessen
Auftrag er tätig wurde? Niemand von uns dürfte billigen, dass Bauarbeiter -
ganz gleich ob in Sotschi, Magdeburg oder New York - um ihren Lohn betrogen
werden. Aber was könnte das mit diesen Olympischen Winterspielen zu
tun haben? Unüberhörbar ist der Gleichklang solcher Kritik mit dem Ton der
Kritik an den Spielen von 1980 in Moskau…
KLAUS HIRCHE: Eins nach dem anderen. Hatten sich die Antworten der
Bundesregierung damit erschöpft?
KLAUS ULLRICH HUHN: Nein, es folgte Punkt 21. Der Sachverhalt ist
überschaubar: Sotschi hatte sich um die Spiele beworben und das IOC hatte
sie ihm übertragen. Nun fragten die Grünen: „Welche Schlussfolgerungen
zieht die Bundesregierung aus Berichten über die Kostenexplosion von anfangs
rund 9 Mrd. Dollar auf zwischenzeitlich ca. 37,5 Mrd. Dollar bei der
Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele 2014 (`Abrutschende Neubauten
´, FAZ, 29. März 2013) ...?“
Die einzig logische Schlussfolgerung wäre eine hilfreiche Note der Bundesregierung
an den Kreml mit einem konkreten Darlehensangebot, um gemeinsam
der „Explosion“ Herr zu werden. Davon ist nichts bekannt. Und weder
die Grünen noch die Bundesregierung hatten sich wenigstens die Mühe gemacht,
einen Blick in die Akten früherer Olympischer Spiele zu werfen. Bekanntlich
hatten zum Beispiel 1972 in München Olympische Sommerspiele
stattgefunden. Man hätte den Text der Urkunde zur Kenntnis nehmen können,
den der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß bei
der Grundsteinlegung des Stadions 1969 vergraben hatte: „Zugleich sollen
die Bauten über die Spiele hinaus Zeugnis ablegen vom Geist unseres Volkes
im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Wenn auch der Standort der Spiele
München ist, so handelt es sich doch nicht um ein lokales Ereignis sondern
um eine Angelegenheit des ganzen deutschen Volkes.“ Dass man den Russen
ein ähnliches Motiv zubilligen sollen, schien niemandem in den Sinn gekommen
zu sein.
Bei der Durchsicht meines Archivs stieß ich auch auf die an diesem Tag gehaltene
Rede des Staatssekretärs Freienstein, der einen erfolgreichen Bauablauf
„stellvertretend für alle Volksgenossen“ gewünscht hatte, was von der
Menge beklatscht und von einer Minderheit mit Pfiffen bedacht worden war.
Die Feier endete mit der im Hinblick auf die Anwesenheit von zwei Finanzministern
beziehungsreichen Volksweise „Wenn alle Brünnlein fließen“, was der
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Hauptgeschäftsführer Merz so erklärte: „Wir brauchen noch Hilfe, bei den 820
Millionen wird es also offensichtlich nicht bleiben.“
Der „Spiegel“ hatte bereits am 30.9.1969, also schon drei Jahre vor den
Spielen mitgeteilt: „Als Endsumme rechnet man mit 1,02 Milliarden Mark Kosten
für die Spiele - das Doppelte der ursprünglich veranschlagten 520 Millionen.“
Man hätte sich also in heimischen Büros informieren können, dass Olympische
Spiele schon vor Jahrzehnten nicht mit den geplanten Summen auskamen.
Doch noch immer hatten sich die Fragen der Grünen und die Ratschläge
der Bundesregierung nicht erschöpft: „25. Liegen der Bundesregierung neue
Erkenntnisse über die Tötung herrenloser Hunde und Katzen anlässlich der
Olympischen Winterspiele 2014 vor ...?“
Auch diese Frage konnte die Bundesregierung beantworten: Es liegen
„...keine neuen Erkenntnisse über die Tötung herrenloser Hunde und Katzen
vor. Die Bundesregierung wird die Situation im Vorfeld der Olympischen Winterspiele
weiter beobachten und diese im Rahmen ihrer Möglichkeiten gegenüber
den zuständigen Stellen ansprechen.“
Der Bundesbürger könnte die Frage ergänzen: „Wer übernimmt diese Beobachtung
auf der Krim und auf den Kaukasus-Gipfeln? Sind diese Beobachter
auch gebührend geschult?“ Wer daran zweifeln sollte, dass solche Fragen
aufkommen könnten, sollte unter Punkt 28 nachlesen, dass die Bundesregierung
Sotschi „durch Beamtinnen oder Beamten der Bundespolizei oder Personal
der Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland die russischen
Behörden durch Unterweisung oder durch eigenes Personal zu unterstützen“
gedenkt.
Damit wäre zumindest die Sicherheit der Hunde garantiert…
KLAUS HIRCHE: Könnten wir es dabei belassen und endlich zum Thema
Olympia kommen? Ich war übrigens als Beobachter bei den Spielen 1976 in
Innsbruck…
KLAUS ULLRICH HUHN: Wir trafen uns da ja fast täglich und ich habe noch
die Szene vor Augen, wie Du einen DDR-Sieger auf den Schultern zu Tal getragen
hast. Mir hat übrigens Österreichs Botschafter in Berlin hinterher eine
Medaille des Bundespräsidenten überreicht, weil man meinte, ich hätte mich
um diese Spiele verdient gemacht. Wir schweifen zwar schon wieder ab, sollten
aber doch erwähnen, dass 1970 diese Spiele vom IOC nach Denver in
den USA vergeben worden waren, doch war der zuständige Gouverneur dagegen
und so gab Denver die Spiele zurück. Also suchte das IOC 1973 verzweifelt
weltweit nach einem neuen Austragungsort und hätte sich Innsbruck
- das erst 1964 Gastgeber gewesen war - nicht bereit erklärt, wären die XII.
Spiele ausgefallen. Aber wir schweifen schon wieder ab...“
KLAUS HIRCHE: Ja, ich las zum Beispiel eine Erklärung des Pressesprechers
von Putin, Dimitri Peskow, der gesagt hatte: „Jeden Tag wird eimerweise
Schmutz ausgeschüttet, das ist gewissenlos und unverfroren.“ Das trifft
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sicher den Kern. Könntest du dich an andere Spiele erinnern, bei denen die
Politik eine solche Rolle spielte?
KLAUS ULLRICH HUHN: Ja. Die Spiele in Moskau 1980 muss ich nicht erwähnen,
denn viele erinnern sich noch daran, dass damals die Anwesenheit
russischer Truppen in Afghanistan der Vorwand für den USA-Präsidenten
war, der USA-Mannschaft die Reise zu den Olympischen Spielen zu verbieten.
Seit 2001 operieren Soldaten aus 11 Ländern in Afghanistan - vorneweg
die USA -, aber nie wurde das IOC mit diesem Problem konfrontiert.
Erwähnen muss ich noch: Ein die olympischen Prinzipien tangierendes
Problem hatte im Vorfeld der Olympischen Spiele 2000 in Sydney das IOC
beschäftigt. Damals hatten die überlebenden Ureinwohner - in Australien als
„Aborigines“ bezeichnet - eine Protestaktion in die Wege geleitet und Millionen
ahnungsloser Bürger in vielen Ländern wissen lassen, dass in Australien
für die Nachfahren der Ureinwohner noch Gesetze galten, die weder mit UNKonventionen
noch mit olympischen Prinzipien vereinbar waren. Das soll erklärt
werden: Die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von
Völkermord (beschlossen und verkündet 1948) bezeichnet auch die „gewaltsame
Überführung von Kindern einer Gruppe in eine andere Gruppe“ als Völkermord.
Australien hatte die Konvention zwar unterzeichnet, verletzte sie
aber Tag für Tag. Kinder von Aborigines wurden zwangsweise zur Adoption
freigegeben. Der 1997 veröffentlichte Bericht einer staatlichen Untersuchungskommission
ging von 100.000 Angehörigen der sogenannten „stolen
generations“ (gestohlenen Generationen) in Australien aus. Nach wie vor
wurden Kinder der Ureinwohner ohne Zustimmung ihrer Eltern zur Adoption
freigegeben oder gegen den Willen der Eltern in staatlichen und kirchlichen
Institutionen untergebracht. Es wurde nie verhehlt, dass man damit das Ziel
verfolgte, diese Kinder der Jahrhunderte gepflegten Aborigine-Kultur zu entfremden.
Die Gesetze brachten die australische Regierung vor Olympia in beträchtliche
Schwierigkeiten, weil sie damit eindeutig olympische Grundprinzipien
verletzte. Man wollte aber um jeden Preis Ärger mit dem IOC vermeiden
und erinnerte sich der 400-m-Läuferin Cathy Freeman, einer „Aborigine“, die
noch heute ihre Mutter sucht. Die holte man und ließ sie das olympische
Feuer im Stadion entzünden. Diese Geste ließ alle Kritiker und das IOC verstummen,
bewog die Regierung aber keineswegs, diese unmenschlichen
Gesetze zu löschen.
Könntest du dich erinnern, dass damals irgendeine bundesdeutsche Zeitung
dem Thema Schlagzeilen widmete?
KLAUS HIRCHE: Mich interessierte vor allem, wie heute die Aktiven auf
solche Kampagnen reagieren? Nach einigem Suchen fand ich vor einigen
Tagen ein aufschlussreiches Interview in der „Berliner Zeitung“. Die Zeitung
hatte den zweifachen Ski-Weltcupsieger (2006 und 2007) Tobias Angerer interviewt,
der sich als 36-jähriger in letzter Stunde noch in die Olympiamannschaft
gelaufen hatte und nun von einer Medaille träumte. Den hatte der Reporter
gefragt: „Wie bewerten Sie die politischen Umstände in Sotschi? Prä16
sident Wladimir Putin sorgt mit seinen Äußerungen zum Thema Homosexualität
ja regelmäßig für Unruhe.“
Klartext: Der Reporter fragte den Weltcupsieger nach seiner Meinung über
die Vorwürfe gegen die Veranstalter der Olympischer Spiele wegen ihrer angeblich
ablehnenden Haltung gegenüber der Homosexualität.
Angerer: „Man liest natürlich ab und zu darüber. Diese Sachen dürfen für
uns Sportler aber keine Rolle spielen. Das kostet viel zu viel Energie. Unser
Job ist es, schnell zu laufen. Um die politischen Dinge müssen sich andere
kümmern.“
Das musste nicht kommentiert werden!
KLAUS ULLRICH HUHN: Sicher wurden auch im Gastgeberland Russland
Standpunkte geäußert, die man nicht teilen muss, aber das gilt wohl für jedes
Land, das Olympische Spiele austrägt. Da man in Russland mit dem Kommunismus
keinen Erzfeind mehr fand, musste Ersatz her. Man entschied sich
für die Schwulen und Lesben. Festzustellen wäre: Die sind in Russland weder
verboten noch werden sie verfolgt. Es war ein Gesetz erlassen worden,
das es untersagt, unter Kindern für Homosexualität zu werben. Da Homosexuelle
weltweit die Regenbogenfarben als ihr „Erkennungszeichen“ verwenden,
wollten einige Teilnehmer aus anderen Ländern Flaggen mit diesen Farben
mit nach Sotschi nehmen, was kaum erklärbar war. Was sich dann wirklich
dort tut, werden wir ja erleben.
29. JANUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Gestern lief bei ARTE ein seit Tagen angekündigter Film
„Putins Spiele“. Als ich ihn nach eineinhalb Stunden hinter mir hatte, beschlichen
mich Zweifel, ob ich vom Verein wohl auch eingeladen worden war,
mich dazu zu äußern, zumal das IOC sich - darüber später - von dem Film
distanziert hatte. Nach einer Stunde Nachdenkens gelangte ich zu dem
Schluss, dass der Film doch irgendwie zum Umfeld dieser Spiele gehört,
dass man ihn nicht weglassen kann, wenn man über diese Spiele schreibt.
Das Tagebuch wäre unvollständig.
Ganz nüchtern betrachtet: In Russland finden Olympische Winterspiele
statt. Die Welt will von dort erfahren, wer den schnellsten Bob steuert und wer
wie weit von der Schanze sprang. Und vorher natürlich, wer die größten Favoriten
für olympisches Gold sind. Aber eine Woche vor dem festlichen Auftakt
sendet der von den Regierungen der Bundesrepublik und Frankreichs
gegründete Fernsehsender ARTE einen 90-Minuten-Film mit dem Titel „Putins
Spiele“.
Ich sah zum Beispiel in diesem Film eine ausführliche Szene, die sich irgendwann
rund 2000 km von Sotschi entfernt zugetragen hatte: Ein bärtiger
Rentier-Hirte errichtete im sibirischen Schnee sein Zelt und beklagte vor der
Kamera, dass er in der Schneewüste keinen Fernseher installieren könne,
der ihm ermöglicht, die Spiele in Sotschi zu verfolgen.
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Die Szene stimmte traurig, lässt aber natürlich die Frage aufkommen, ob es
Putin - es sollen ja laut Titel seine Spiele sein - anzulasten ist, dass der
nächste Fernsehsender unerreichbar weit entfernt steht.
Ich kam zu dem Schluss, dass ich keinem Leser der „Beiträge zur Sportgeschichte“
zumuten kann, ihm diesen Film ausführlich zu erzählen.
Alle Medien hatten für diesen Film auf ihre Weise geworben. Die „Berliner
Zeitung“ zum Beispiel: Der „Film zeigt, wie sich unter der Marke des Internationalen
Olympischen Komitees mit seinen fünf bunten Ringen ein skandalöses
Lehrbeispiel von Raubtierkapitalismus sozialistischer Prägung abgespielt
hat: Die Umverteilung von Eigentum bescheidener Menschen und des Staates
zum Wohle des Staatschefs und seiner einflussreichen Oligarchenkaste.“
Aber bevor der Film loslief musste ARTE eine Erklärung des Internationalen
Olympischen Komitees einblenden. Ich kann mich nicht daran erinnern, einen
solche Intervention des IOC je erlebt zu haben. Hier der Wortlaut: „Das IOC
hält alle Rechte an offiziellen Filmaufnahmen im Zusammenhang mit Olympischen
Spielen. Für den folgenden Film wurde kein Filmmaterial zur Verfügung
gestellt. Auch musste das ursprünglich vorgesehene Wort `Olympia´
aus dem Titel gestrichen werden. Der Film sei `offenbar politisch motiviert.´”
Deutlicher konnte sich das IOC von der Anti-Sotschi-Kampagne nicht distanzieren!
Und noch einmal: Derlei geschah noch nie!
Der Vorwurf des Films, man habe üble kapitalistische Methoden angewandt,
untersuchten wir nicht. Wir stellten nur fest: Wir sind in einem Land aufgewachsen,
in dem kein Kapitalismus existierte. Wir kannten demzufolge keine
Wanderarbeiter, keine Obdachlosen, keine Arbeitslosen. Das stelle ich nur
fest, ohne etwa untersuchen zu wollen, welche Ausmaße der Kapitalismus in
Russland erreicht hat. Aber Geld in Olympische Spiele zu stecken, kann wohl
gegen Sparsamkeit verstoßen, ließe sich aber von niemandem als kriminell
bewerten.
Dass Geld inzwischen bei Olympia regiert, weiß fast jeder. Je attraktiver eine
Sportart, desto interessierter das Fernsehen. Eishockey war schon immer
attraktiv und deshalb käme niemand auf Idee, es aus dem Programm zu
streichen. Im Gegenteil, nun sind auch die Frauen noch dazu gekommen und
eine von ihnen spielt ja auch bei uns mit…
31. JANUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Ein einziger renommierter Sportwissenschaftler
machte sich die Mühe, das Thema „Sotschi und die Homosexualität“ zu untersuchen:
Helmut Digel, lange Jahre Präsident des bundesdeutschen
Leichtathletikverbandes und im „Hauptberuf“ Direktor des Instituts für Sportwissenschaften
der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen.
Der emeritierte Professor hatte sich am 22. Januar 2014 auf der Seite des
DOSB in einem Artikel diesem Thema gewidmet und der DOSB hatte ihn mit
folgenden Worten eingeleitet: „Sotschi 2014 - Gegen politische Heuchelei. Im
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Zuge der Diskussion um die Olympischen Winterspiele in Sotschi wird von
den Medien viel Kritik geübt. Diese ist nicht immer gerechtfertigt, findet der
Sportwissenschaftler Helmut Digel“: „Sexuelle Handlungen zwischen Personen
mit demselben menschlichen Geschlecht standen bis 1994 in Deutschland
unter Strafe und allein in der Zeit von 1950 bis 1969 wurden hierzulande
etwa 50.000 Schwule verurteilt, weil Sex unter Männern verboten war. Paragraf
175 des Deutschen Strafgesetzbuches existierte bis zum 11. Juni 1994.
In der DDR wurde der entsprechende Paragraf 1988 aufgehoben.
Zu erinnern ist auch an die Gesetzesreform im Jahr 1973, seitdem waren
nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren
strafbar. Wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen
bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereinigung wurde 1994 auch
für das Gebiet der alten Bundesrepublik der Paragraf 175 ersatzlos gestrichen.
Betrachtet man diese historischen Fakten, so könnte aus heutiger Perspektive
die Frage gestellt werden, ob 1972 die Olympischen Spiele in einem
Land stattgefunden haben, in dem Menschenrechte mit Füßen getreten wurden.
Vorausgesetzt man sieht das Recht auf Homosexualität als Menschenrecht
an.
Menschenrechtsverletzung gilt als erwiesen
In diesen Tagen sind homosexuelle Beziehungen in Russland das zentrale
Thema, wenn von Menschenrechtsverletzungen in diesem Land gesprochen
wird. Die gesamte Berichterstattung ist dabei mit Staatspräsident Putin auf
einen einzigen Akteur bezogen, dem die alleinige Verantwortung für die Verletzung
der Menschenrechte in Russland zugewiesen wird.
Zu beurteilen wäre dabei ein Gesetz, das die Duma verabschiedet hat und
das auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet ist. Ihnen gegenüber ist eine
Propaganda zugunsten homosexueller Beziehungen nicht erlaubt. Welche
Rolle dabei die russisch-orthodoxe Kirche im Vorfeld der Verabschiedung
dieses Gesetzes gespielt hat, wird nicht zur Kenntnis genommen. Welche
Meinungen im Parlament zur Debatte gestanden haben, gilt als nicht erwähnenswert.
Der Sachverhalt der Menschenrechtsverletzung gilt als erwiesen, und deshalb
muss aus Anlass der Olympischen Winterspiele Russland mit seinem
Staatspräsidenten an der Spitze in Frage gestellt werden. Einer erfolgreichen
russischen Leichtathletin, die sich zu ihrer Vorliebe für heterosexuelle Beziehungen
bekennt, wird vorgeworfen, dass sie damit Menschenrechtsverletzungen
toleriert. Sportlerinnen und Sportler, Trainerinnen und Trainer und die
Funktionäre werden mit mahnendem Zeigefinger aufgefordert, sich bei den
Winterspielen in Sotschi öffentlich gegen die Verletzung der Menschenrechte
zu engagieren.
Suggestive Berichterstattung
Das Thema der Verletzung der Menschenrechte ist nur eines unter vielen
Themen, mit denen in der deutschen Presse und in der deutschen Öffentlich19
keit die Olympischen Spiele von Sotschi in Frage gestellt werden. Von der
`Festung Sotschi´ ist die Rede, wenn von den Sicherheitsvorkehrungen zu
berichten ist. Mit Kampf-Jets und Kriegsschiffen wird demnach versucht, die
Sicherheit der Spiele zu gewährleisten, nachdem es zu religiös-motivierten
Terroraktionen in Wolgograd gekommen war.
Die Berichterstattung suggeriert, dass sich die Sicherheitsvorkehrungen
durch eine Totalität auszeichnen, wie sie so noch nie zu vor anzutreffen war.
Dass in London im Jahr 2012 Kosten in Millionenhöhe zur Gewährung der Sicherheit
entstanden sind, dass bei allen Spielen zuvor vergleichbare Sicherheitsvorkehrungen
notwendig gewesen sind, seit in München 1972 islamische
Terroristen jüdische Athleten und Trainer ermordet hatten, wird dabei allenfalls
am Rande erwähnt.
Gebetsmühlenhaft wird auch das Problem der Umweltzerstörung durch
Olympiabauten diskutiert. Es wird die Nachhaltigkeit der Sportstätten in Frage
gestellt, wenngleich diese Frage aus heutiger Sicht nur sehr bedingt zu beantworten
ist. Die Neubauten werden des Stilbruchs bezichtigt, so als ob in
anderen Skiorten eine Kombination traditioneller Bauten mit moderner Architektur
nicht üblich wäre.
Die Kritik an den Spielen gipfelt in der Aufforderung zum Boykott, und dem
IOC wird indirekt nahegelegt, über eine Absage der Spiele nachzudenken.
Vorgetragen wird solch eine Kritik zumeist von Politikern, die sich damit öffentlich
in Szene setzen und sich anmaßen, die Organisationen des Sports in
Bezug auf die Ausrichtung ihrer sportlichen Großveranstaltungen belehren zu
müssen. Auffällig ist dabei, dass solcher Kritik meist nur ein Wissen zugrunde
liegt, das nahezu ausschließlich auf die Berichterstattung in öffentlichen Medien
Bezug nimmt.
Die Berichterstattung, insbesondere die Sportberichterstattung wiederum
wird von einem normativen Phänomen geprägt, das schon seit längerer Zeit
zu beobachten ist. Die Leitmedien der deutschen Berichterstattung (dpa,
FAZ, SZ, etc.) geben die Themen und die Richtung der Berichterstattung vor
und alle übrigen Medien folgen dann dem Leithammel, so dass man von einer
ungewollten Gleichschaltung der Massenmedien zu sprechen hat. Fundierte
Recherchen liegen den einzelnen Berichten nur selten zu Grunde, Recherchen
vor Ort haben meist gar nicht stattgefunden, und Pro-und-contra-
Recherchen scheinen auch nicht erwünscht zu sein.
Sport als Mittel zum Zweck
Vergewissern wir uns des Sachverhalts, dass die Spiele bereits vor sieben
Jahren an Russland vergeben wurden und man eben diese sieben Jahre Zeit
gehabt hätte, fundiert das IOC und den russischen Ausrichter zu kritisieren,
so kann vieles von dem, was heute an Kritik gegenüber den Olympischen
Spielen in Sotschi vorgetragen wird, nur als Heuchelei, teilweise aber auch
als Dummheit bezeichnet werden.
Im Interesse einer spektakulären öffentlichen Aufmerksamkeit bedient man
sich kurzfristig des Sports, um sich mit seiner moralischen Urteilskraft ins
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Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen. Dort wo die Politiker in ihrer eigentlichen
Verantwortung gegenüber Russland zu handeln haben, dort wo sie die
Menschenrechtsverletzung zu kritisieren hätten, im Dialog zwischen den Regierungen,
bei Wirtschaftsverhandlungen und bei Besuchen von Parlamentariern
in Russland, haben sie in den vergangenen Jahren ständig versagt und
benutzen nun den Sport als Alibi-Thema, um sich öffentlich als kritische Mahner
zu präsentieren.
So wie sich kurz vor den Spielen in Peking im Jahr 2008 alle Medien und
damit verbunden viele Parlamentarier auf die Seite der Menschenrechtsverteidiger
gestellt haben, so haben dieselben Medien und dieselben Politiker
das Thema in Bezug auf China bereits wenige Wochen nach den Spielen der
Vergessenheit preisgegeben.
In Sotschi wiederholt sich nun dasselbe Spiel: Unter dem Aspekt des Spektakels
wird Kritik, für die man sich beinahe sieben Jahre lang nicht interessierte,
nunmehr resonanzfähig.
Die Olympischen Winterspiele in Sotschi sind wahrlich kein Ruhmesblatt für
das Internationale Olympische Komitee. Bei der Vergabeentscheidung spielten
fragwürdige Interessen eine Rolle. Unter klimatischen und ökologischen
Gesichtspunkten ist die Vergabe der Winterspiele in einen Sommerbadeort in
Kooperation mit wenigen alpinen Wintersportstätten eine fragwürdige Entscheidung.
Russland ist ohne Zweifel keine Demokratie im westlichen Sinne, und
Staatspräsident Putin wird angesichts seiner fragwürdigen Menschenrechtspolitik,
die sich allerdings nicht nur auf Homosexuelle beziehen darf, international
zu Recht in Frage gestellt. Gefährdung der Pressefreiheit, Folter von
Inhaftierten durch die Polizei, Diskriminierung von ethnischen Minderheiten,
willkürliche Inhaftierungen und fragwürdige Haftbedingungen können durchaus
Anlass für einen Menschenrechtsdialog sein, den gewiss auch das IOC
mit den Ausrichtern der Spiele zu führen hätte.
Auch westliche Demokratien können in Frage gestellt werden
Die Einhaltung aller Menschenrechte zum alleinigen Vergabekriterium für
Olympische Spiele zu machen, ist weder realistisch noch wünschenswert. Die
Analysen von Amnesty International sprechen diesbezüglich eine eindeutige
Sprache. Selbst einige westliche Demokratien müssten dabei in Frage gestellt
werden. Amnesty International dokumentiert für das Jahr 2013 in 112
Staaten Folter und Misshandlungen und in 101 Staaten Einschränkungen der
Menschenrechte.
Die Kritik an Sotschi wurde in den vergangenen sieben Jahren mehrfach
auch aus Kreisen des Sports vorgetragen, sie war jedoch für das Politiksystem
nicht resonanzfähig, weil sie einem gewünschten Spektakelinteresse
nicht entsprechen konnte. In diesen Tagen gelingt es hingegen den politischen
Heuchlern einmal mehr, sich diese Kritik zu Eigen zu machen, sie zu
instrumentalisieren, und sie schaffen eine Atmosphäre gegenüber den Athle21
tinnen und Athleten, dass diese sich beinahe zu entschuldigen haben, wenn
sie an den Spielen teilnehmen.
Einmal mehr zeigt sich dabei aber auch, dass sich die Verantwortlichen des
Sports in einer Defensive befinden, die sie selbst zu verantworten haben. Sie
haben zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, weil sie in ihrem politischen
Handeln immer nur passiv bzw. reaktiv sind.
Nicht nur in diesen Fragen wäre hingegen ein proaktives Handeln dringend
erforderlich. Ein offenes Bekenntnis zur Vielfalt der Sexualität und zur sexuellen
Selbstbestimmung ist dabei ohne Zweifel längst überfällig. Der deutschen
Mannschaftsführung für die Olympischen Winterspiele in Sotschi ist zu wünschen,
dass sie schlagende Argumente findet, die die Teilnahme unserer
Olympiamannschaft rechtfertigt, und dass sie sich dabei voll und ganz vor
und hinter die Athleten stellt, die sich mit den besten der Welt messen möchten.
(Mit Namen gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die offizielle
DOSB-Meinung wieder. - Quelle: DOSB-Presse, Ausgabe 4)“
Viele werden mir Recht geben, wenn ich behaupte, dass Prof. Digels Feststellungen
eher den Realitäten Rechnung trägt als der in vier Jahren entstandene
ARTE-Film, ganz zu schweigen von den endlosen Artikel-Ketten und
Talkrunden gegen Sotschi.
1. FEBRUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Dass wir aufs Surfen durchs Internet angewiesen
sind, hat auch Vorteile: In Sekundenschnelle erfuhr ich zum Beispiel, dass
Frau Merkel nicht nach Sotschi reisen wird und der „zuständige“ deutsche
Minister sie vertreten soll. Das ist Thomas de Maizière und bevor der seine
Koffer packte, teilte er der „Süddeutschen Zeitung“ mit, was an den Olympischen
Spielen verändert werden müsse: „Man muss Olympia wieder bescheidener
machen“. Weiter wurde zitiert: „Er reagierte damit vor allem auf
die negativen Schlagzeilen rund um die Spiele am Schwarzen Meer wegen
des unmenschlichen Umgangs mit Arbeitern, der Zerstörungen der Umwelt
sowie der horrenden Kosten von zirka 50 Milliarden Dollar. De Maizière
drängt deswegen auch den neugewählten Präsidenten des Internationalen
Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, hier entsprechende Schritte
einzuleiten.“ Dieser Mahnung folgten interessante Hinweise: „Zugleich plädierte
der Bundesinnenminister allerdings dafür, die Kritik am Internationalen
Olympischen Komitee wegen der Vergabe der Spiele nach Russland zu mäßigen.
`Es ist ziemlich leicht, eine Vergabe zu kritisieren und als Oberlehrer
der Welt aufzutreten. Besser ist es, sich zunächst einmal an die eigene Nase
zu fassen´, sagte er und erklärte der bundesdeutschen Öffentlichkeit auch,
wo diese `Nase´ sitzt: `Wir führen intensive wirtschaftliche Beziehungen mit
Russland, das Thema Werte und Interessen als Spannungsverhältnis ist in
jedem Feld der Außenpolitik zu haben. Wir können und sollten als Politiker
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vom IOC nicht mehr verlangen, als wir selber in unseren bilateralen Beziehungen
zu tun bereit sind.´“ Der möchte man raten, als erstes die Olympische
Charta lesen und sich kundig machen, dass er auch als Minister der Bundesrepublik
Deutschland kein Recht hat, den Präsidenten des IOC oder etwa das
IOC zu irgendetwas zu „drängen“.
KLAUS HIRCHE: Ich wuselte mich auch durchs Internet und fand das interessante
Ergebnis einer Umfrage unter den Bürgern Russlands, denn dort
finden die Spiele ja schließlich statt. Die Umfrage wurde am 26. Januar unter
1500 Einwohnern von 100 Ortschaften vorgenommen. Sie ergab: Für zwei
Drittel der russischen Bürger ist es wichtig, dass die Olympischen Winterspiele
2014 in Sotschi gut verlaufen. Für nur 24 Prozent der Befragten ist es von
keiner Bedeutung, wie die Spiele verlaufen. Die Zuversicht, dass die russische
Seite die Olympischen Winterspiele gut durchführen wird, erklären die
meisten Befragten damit, dass „viele Mittel investiert und große Kräfte herangezogen
wurden und dass man sich gut darauf vorbereitet habe. Fünf Prozent
der Befragten glauben, dass Russland die Spiele schlecht austragen
wird.
Dann erfuhr ich auch noch, dass IOC-Präsident Bach in Sotschi eingetroffen
ist und - für mich ebenso wichtig -, dass er mit der Frauen-Eishockey-
Nationalmannschaft gereist war. Unsere Olympia-Dorf-Bericherstatterin
IVONNE SCHRÖTER ist also vor Ort und packt ihre Kleidung, vor allem aber
ihren Torwartdress aus.
6. FEBRUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Ich grübelte, ob ich je im Leben mal die Fahne meiner
Mannschaft getragen hatte? Die Antwort lautete: Nein! Aber in Grenoble marschierte
ich immerhin in der zweiten Reihe bei der Eröffnung der Spiele und
empfand ähnliches, als wenn ich die Fahne getragen hätte.
Das kam mir in den Sinn, als ich im Radio eine Nachricht hörte, die mir fast
die Sprache verschlug: Fernsehreporter hätten sich in die Staffel eingereiht,
die das olympische Feuer nach Sotschi trug. Hatten sie sich damit nicht juristisch
„mitschuldig“ gemacht, und „Putins Spielen“ zum Erfolg verholfen? Aber
sie werden sicher keine Hemmungen haben, in den nächsten Tagen ihren
Hörern und Zuschauern die „bösen“ Spiele zu schildern!
Ja, sie haben sich - sollten es wirklich ruchlose Spiele gewesen sein - mitschuldig
gemacht: Sie haben das Feuer transportiert, das in einer russischen
Raumstation im Weltall kreiste, über den Nordpol getragen wurde und im
Grunde jeden Schritt zum Ruhme Russlands zurücklegte. Und dann sah die
Welt, dass Frauen und Männer, die endlose Stunden damit verbracht hatten,
gegen Sotschi zu wüten, diese Fackel mit ausgestrecktem Arm gen Sotschi
trugen! So wurden sie zu Mitwirkenden des Putin-„Spektakels“ und ließen
sich dafür bejubeln! Ich frage: Erwartet jemand von ihnen olympischen Geist?
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Ja, ich notierte mir die Namen dieser Olympioniken! Für das ZDF war die
Olympia-Programmchefin Anke Scholten gestartet und ihr Pressesprecher
Thomas Stange versicherte: „Das ist doch eine große Ehre!“. Die britische
BBC schickte die Moderatorin Hazel Irvine auf die Fackelstrecke. Besonders
spektakulär trug der Bayerische Rundfunk zum Triumph der Sotschi-Spiele
bei: Der Sportchef, Werner Rabe, pries seinen Lauf als persönliches Abschiedsgeschenk
zu seinem 64. Geburtstag. „Es war für ihn ein ganz persönlicher
Moment des Abschiednehmens nach vierundvierzig Arbeitsjahren in
der Sportberichterstattung bei Zeitung, Nachrichtenagentur, Hörfunk und
Fernsehen.“ Mehr Freudentaumel geht nicht !
Und das von den führenden Anti-Sotschi-Stimmungsmachern der Medien.
Erbittert meinte ein Nichtläufer; „Wer soll denn denen noch glauben, was sie
sagen?“
7. FEBRUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Wir rückten vor den Fernseher, brühten Kaffee,
erwarteten einen großen olympischen Nachmittag, langten zu einer Zeitung,
die irgendwo herumlag und die ich nie im Leben zuvor gesehen hatte, nämlich
den Remscheider Generalanzeiger. Und auch der informierte mich über
Sotschi: „Menschenverachtende Gesetze, Terrorgefahr, ausufernde Kosten,
vermeintliche Korruption und eine mediterrane Atmosphäre“ - rund um die
heute beginnenden Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi herrscht
seit Monaten weltweit eine gewaltige Aufregung.
„Ich werde mir das Winterspektakel unter Palmen nicht ansehen, drücke unseren
deutschen Athleten aber die Daumen“, sagte Ralf Hesse, Vorsitzender
der der HG Remscheid. Die Berichte über Umweltschäden und Enteignung in
der Stadt am Schwarzen Meer hätten ihn empört und veranlasst, `die Spiele
wenigstens so zu boykottieren´.“
Wir gesellten uns also zu den Fernsehzuschauern und freuten uns auf
Olympia. Daraus wurde nichts, denn vor dem ersten Blick ins Stadion glaubte
die ARD erst mal Dutzendware billiger Politparolen abplappern zu müssen.
Ich schaltete mit Knopfdruck zur Sendung „Giraffen, Erdmännchen & Co.“,
die war unterhaltend.
Als ich hoffte, die Anti-Putin-Parolen hätten sich erschöpft, konnte ich endlich
das Eröffnungsprogramm genießen. Acht hatte ich seit 1956 in Cortina
erlebt. Noten wagte ich nicht zu geben, aber bei aller Zurückhaltung erlaube
ich mir, von dem in Sotschi zu behaupten, dass sich das Stadion zum ersten
Mal für mich in einen glitzernden Ballsaal verwandelte, was ich noch nicht erlebt
hatte. Damit nicht genug, tanzte das russische Elite-Ballett auch noch
„Schwanensee“, ein Chor sang fromme Lieder, Namen wie Dostojewski und
Gorki fielen. Die Spiele also, von denen einst Coubertin geträumt hatte, als er
auch noch Literaten und Komponisten mit Medaillen ehrte, weil er gern Medaillen
für Muskeln und Geist vergeben hätte.
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Dann ein Schock: Einer der fünf Olympiaringe erstrahlte nicht. Allerdings
schöpfte ich mit Scotland-Yard-Gespür Verdacht, der Regisseur könnte absichtlich
auf einen falschen Knopf gedrückt haben, um die Sotschi-Erbfeinde
verbreiten zu lassen, Putin-Feinde hätten falsche Schalter bedient! Das hätte
auch zu dem Pannenreport des ND gepasst, dessen Sonderberichterstatters
badewanne streikte, Überschwemmung und einen Klempneraufmarsch verursachte!
Auch das nenne ich olympische Gastfreundschaft: dem Mann wurde
kostenlos Stoff geliefert, eine Protestaktion betrogener Handwerker zu beschreiben!
Zurück ins Stadion. Man beließ es auch nicht bei Dostojewski, sondern bot
neben dem Geistesriesen auch einen körperlichen auf: Walujew, der 2,13 m
große Boxer, hatte die Rolle eines Verkehrspolizisten im Stadionzentrum
übernommen - er winkte als Wachmann mitten im Stadion. Jeder wusste von
nun an Bescheid: Kinnhakenschläger sorgen von Sotschi bis zum Nordpol für
Ordnung!
Dann zogen auf dem Bildschirm die Olympioniken - sie sollen vor den Pforten
Order bekommen haben, zu strahlen oder sogar zu lachen - ins Bild.
Später lobten sie sogar noch die kurzen Wege, priesen die Zimmer im
Olympischen Dorf über den grünen Klee und ließen in wenigen Minuten den
Eindruck entstehen, sie fühlten sich sauwohl in Sotschi. Langsam schienen
die Spiele zu beginnen...
8. FEBRUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Mir war es ähnlich ergangen, und am nächsten Morgen
sorgte Katarina Witt bei mir für blendende Stimmung. In der Sendung „Olympia
live“ wurde natürlich auch über die Eröffnungsfeier diskutiert. Der Moderator
- sein Name scheint mir nicht erwähnenswert -, Katarina Witt und die offensichtlich
nach Sotschi kommandierte Ina Ruck ließen die Höhepunkte dieses
glanzvollen Abends nochmal Revue passieren. Die meisten Versuche,
Mängel an diesem Abend zu entdecken, wurden durch katis erfrischende Argumente
zu meiner großen Freude in echter „Weltsportlerinnenmanier“ korrigiert.
Auch die interviewten Sportler und Funktionäre gaben fast nur positive Antworten
- ich meine positive für Olympia! Wenn ich den neuen Sportbundpräsidenten
Hörmann richtig verstand, sprach er sogar von Gänsehaut im Stadion.
Selbst Kritiker dieser Spiele wären begeistert gewesen. Für mich war es
das größte Erlebnis, als ausgerechnet mein „alter“ Freund Wjatseslaw
Tretjak, die russische Eishockeytorwartlegende, gemeinsam mit Irina Rodnina
das olympische Feuer entzündeten! Ja, ja wir Eishocheytorwarte!
KLAUS ULLRICH HUHN: Mir kam beim Aufwachen noch ein Augenblick in
den Sinn, den ich bei der Eröffnung 1956 in Cortina in den Alpen erlebt hatte:
Der letzte Fackelläufer war über ein Kabel gestürzt, das wohl bei keiner Pro25
be dort gelegen hatte. Ich malte mir aus, wenn das in Sotschi passiert wäre.
Die Schlagzeilen! Nein, sie ließen sich nicht ausmalen.
KLAUS HIRCHE: Ich war früh aufgestanden, weil ich noch nie Slopestyle
gesehen hatte und natürlich wollte ich auch noch die Frauen Eishockey spielen
sehen.
Slopestyle - für den Fall, dass sie es auch noch nicht gesehen haben - ist
eine spezielle Art von Snowboard, und Snowboard wird auf einem Brett auf
Schnee ausgetragen. Der Aktive steht seitlich zur Fahrtrichtung auf dem
Brett. Zusätzliche Probleme entstehen für ihn durch Hindernisse in einem
„Metallgarten“, mit Schanzen und die Pflicht, die folgenden Sprünge artistisch
zu absolvieren, bis hin zu vier Drehungen über den Kopf. Es gibt keine Zeitbegrenzung,
aber es zählen nur sauber gesprungene Figuren. Der beste von
zwei Durchgängen zählt. Die Sportler riskieren viel und müssen auch Stürze
in Kauf nehmen. Der Kanadier Mark McMorris trat an, obwohl er vor zwei
Wochen einen Rippenbruch erlitten hatte. Und nicht nur das: Er holte sich
auch noch Silber! Toll! Diese „neue“ olympische Disziplin könnte viele junge
Leute begeistern. Ich fürchte nur, dass da manche hohe Hürde zu nehmen
ist, bevor man auf die Startliste kommt. Verlangt wird: Athletische Fitness, viel
Mut zum Risiko, das bis ins Sanitätszelt führen kann. Und dann natürlich:
Genug Geld für diesen kostspieligen Sport muss man in der Brieftasche haben.
KLAUS ULLRICH HUHN: Mit dem Fernsehschirm war ich schnell in den
Bergen. Die Alpinen begannen ihr Männer-Programm mit der „Königsprüfung“
dem Abfahrtslauf. Also: 3,5 km steil bergab in zwei Minuten, sechs Sekunden
und 23 Hundertsteln. Vier frühere Olympiasieger standen bei der Taljagd am
Start, vier, die ohne Sotschi-Gold heimkehren mussten. Gewonnen hatte der
Schweizer Matthias Mayer. Ein Medaillenloser, also fast Außenseiter. Die geschlagenen
Favoriten gratulierten ihm höflich und taten, als hätten sie ohnehin
nur mit Silber und Bronze gerechnet.
Aber wie viel Favoriten oder Außenseiter in Sotschi noch gewinnen mögen -
der erste „König von Olympia“ ward schon bald gekrönt. Der Biathlet heißt
Ole Einar Bjoerndalen, stammt aus Norwegen und holte sich am Sonnabend
seine neunte olympische Goldmedaille! Er hatte in seinem Leben 93 Weltcuprennen
gewonnen, und Frank Ullrich, einer der besten DDR-Biathleten
fand einen noch besseren Titel für ihn als „König“: „Ole ist ein Außerirdischer!“
Ehe ich noch mehr „Könige“ ernenne, erzähle ich noch flugs eine Geschichte
aus Bjoerndalens Kindheit: Als Steppke hatte ihn das norwegische Fernsehen
engagiert und ein Drahtseil verankert. Er war hinaufgestiegen und hatte
sich auf dem Seil bis auf die Unterhose aus- und anschließend wieder angezogen.
Das wäre wohl auch eine Medaille wert gewesen, und ich erzählte
es nur, damit niemand denkt, Goldmedaillenbiathleten können nur Skilaufen
und schießen…
26
9. FEBRUAR 2014
Damit niemand denkt, in Sotschi klappte inzwischen alles: Der Sportbundpräsident
Hörmann steckte eine Viertelstunde in einer Gondel und Putin ließ
ihn nicht mit dem Hubschrauber bergen! Natürlich hatte er hinterher einen
Kommentar für die Journalisten: „Unangenehm wenn man nicht weiß, was los
ist und wie lange es dauert!“
Schon das erste Skispringen (Normalschanze) wurde im Dunkeln ausgetragen.
Eine Schar von Favoriten war zum Turm hinaufgestiegen. In den letzten
dreißig Jahren hatte sich die Zahl der erfolgreichen Außenseiter und Favoriten
etwa die Waage gehalten. Vor vier Jahren hatte Thomas Morgenstern auf
der „kleinen“ Schanze keinen Medaillenstich gesehen, aber wenigstens auf
der großen Schanze gewonnen. Diesmal war er nach einem Sturz schon vor
Olympia aus dem Medaillenrennen ausgeschieden, aber auch der Doppelsieger
von 2002, der Schweizer Simon Amman, sah keinen Stich, die Deutschen
gingen leer aus, von den Finnen redete niemand und am Ende gewann
der Pole Kamil Stoch mit einem 105,5-m-Satz im ersten Durchgang und
damit der Außenseiter unter den Favoriten. Mit dem Slowenen Peter Prevc
hatte niemand gerechnet, aber auch er holte sich mit einem gelungenen ersten
Sprung eine Medaille und Bronze ging an den Norweger Bardal und damit
an einen aus der Schar der Favoriten.
KLAUS HIRCHE: Gegen Mittag erschien Claudia Pechstein das erste Mal
auf der Bildfläche. In vielfacher Hinsicht ein denkwürdiger Augenblick, aber
schildere du das, denn du hast ihrem Schicksal sogar ein Buch gewidmet.
KLAUS ULLRICH HUHN: Es war keine jener jetzt in Mode gekommenen Biographien,
von denen sich die, die sie verlegen, und natürlich auch die, die
sie unter ihrem Namen schreiben lassen, Gewinn erhoffen. Ich hatte das
Buch geschrieben, um mit den über sie verbreiteten üblen Legenden aufzuräumen.
In drei Sätzen die Fakten: Die Pechstein leidet unter einer ererbten
Blut-Abnormität, war von einem Arzt bei der Weltmeisterschaft 2009 in Hamar
nachts aus dem Bett geholt worden und der hatte ihr empfohlen, sich am
nächsten Morgen krank zu melden, obwohl kein positiver Dopingbefund vorlag.
Sie beging den Fehler, dem Rat des Schiedsrichters zu folgen, fuhr nach
Hause und wurde anschließend ohne positiven Dopingbefund disqualifiziert.
Die auf diese Weise in eine fatale Situation geratene Föderation sperrte sie
zwei Jahre.
Aber sie kehrte mit eisernem Willen zurück, kämpfte sich wieder in die
Olympiamannschaft und wollte um jeden Preis an diesem Mittag eine Medaille
holen, um sich endgültig zu rehabilitieren. Auch, da ein in jeder Hinsicht berechtigter
Prozess in Gang gekommen war, der den ihr entstandenen Schaden
ersetzen sollte. Das Gericht fand eine Variante, die Urteilsverkündung
auf die Zeit nach den Spielen zu verschieben, weil von ihrem Abschneiden für
die Richter logischerweise einiges abhing.
27
Unter diesem Druck ging sie an den Start. Sie verlor die Bronzemedaille, die
ihren Ruf endgültig wiederhergestellt hätte, um eine Sekunde und 79 Hundertstel.
Mehr Elend war nicht zu erfinden: Nur Vierte!
Ich zitiere hier mal ein paar Zeilen, die „Spiegel online“ (9.2.2014) geschrieben
hatte: „Wenn jemand mit fast 42 Jahren einen vierten Platz bei Olympischen
Spielen belegt, könnte das ein Anlass zu grenzenlosem Jubel sein.
Nicht aber, wenn es um Claudia Pechstein geht. Die deutsche Eisschnellläuferin,
zum sechsten Mal bei Olympischen Winterspielen dabei, wollte Gold
über 3000 Meter, nichts weniger. Sie wurde Vierte. (…) Die Enttäuschung
brach in der Mixed Zone, wo sich Athleten und Journalisten nach dem Wettkampf
treffen, aus ihr heraus. Als sie sich den Fragen der Reporter im Keller
der Adler-Arena in Sotschi stellen wollte, versagte ihr die Stimme. Pechstein
gab sich keine Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Ihr Lebenspartner bat die
Medienvertreter daraufhin um etwas Geduld, Pechstein und er verzogen sich
in den Umkleidetrakt, nach ein paar Minuten tauchte sie mit einer überdimensionalen
Sonnenbrille wieder auf. Dann konnte sie zumindest ein kurzes
Statement abgeben.
„Ein vierter Platz, das ist einfach doof, richtig scheiße“, sagte die fünffache
Olympiasiegerin, sie habe „sofort nach dem Lauf gewusst, dass es nichts
wird“. Zwar hat sie im Vorfeld gesagt, dass „zwischen Platz eins und sechs
alles möglich“ sei, aber es war klar, dass sie vorrangig die erste Option im
Auge gehabt hatte. Als in diesem Moment auch noch die freudestrahlende
Siegerin Ireen Wüst, erklärtermaßen kein Mitglied im Claudia-Pechstein-
Fanclub, vorbeirauschte, war der Deutschen die Lust endgültig vergangen.
Dabei hatte zuvor vieles, fast alles für einen Pechstein-Tag gesprochen.
Das Eis in Sotschi gilt als schwierig, wie gemacht für eine erfahrene Läuferin
wie Pechstein.“
Dass sie auf der 1500-m-Strecke noch weniger Chancen haben würde, war
allen klar. Sie war zwar beste Deutsche aber nur 19. Nun blieben ihr nur noch
die 5000 m…
Am Abend jubelte das deutsche Lager wieder. Was Claudia Pechstein und
den Skispringern nicht gelungen war, glückte auf der Rennschlittenbahn:
Gold für Deutschland. Der Berchtesgadener Felix Loch feierte einen souveränen
Sieg. Er hatte in vier Läufen fast eine halbe Sekunde Vorsprung zusammengerodelt,
aber auch der Zweite, der Russe Albert Demtschenko wurde
noch wie ein Sieger gefeiert. Des Goldmedaillengewinners Kommentare
nach dem Sieg ließen darauf schließen, dass er sich zusammen mit einem
früheren Sieger viel Gedanken über die Kufen gemacht hatte. Gründliche
Gedanken offensichtlich.
KLAUS HIRCHE: Nun hat sich auch unsere „Dorfkorrespondentin“
gemeldet: IVONNE SCHRÖTER. Hier ihr erster Bericht, ohne jegliche
„Vorlage“ von uns. Soll heißen, wir haben ihr nur gesagt: Nicht Puck fangen
sondern schreiben.
28
Sie tat es: „Der erste Eindruck von Olympia: faszinierend. Alles, was man
bisher nur aus dem Fernsehen kannte, nun live! Das Olympische Dorf,
malerisch am Schwarzen Meer gelegen und nur wenige Meter von den
Sportstätten des Coastel Clusters entfernt, bietet eine perfekte Basis für, alles
trotz Stress durch Training, Spiele, Besprechungen und sonstigem Treiben
auch einfach genießen zu können. Eine „kleine Stadt“ in der nur Sportler
wohnen. Geräumige Zimmer mit Balkonblick aufs Meer, Einkaufsmöglichkeiten,
Fitnesscenter, große Mensa mit jeder Menge Auswahl etc. Es ist alles
zu finden, was man braucht. Und das Besondere daran: mitgereiste
Angehörige müssen sich all dies nicht erzählen lassen, weil die Sportler die
Möglichkeit haben, sie mit ins Olympische Dorf zu nehmen und ihnen „ihr
Reich“ zu zeigen. Ja, das ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Es ist
ein Problem vor Ort, dass man nie genau weiß, wo man sich hinwenden soll,
wenn man eine ganz bestimmte Frage hat. Es gibt ohne Zweifel jede Menge
freiwillige und gutwillige Helfer - im englischen „Volunteers“. An jeder Ecke
findet man die stets freundlichen Gastgeber, die durch ihre auffällige blaue
Kleidung immer hervorstechen. Nur können die oft nicht wirklich helfen.
Wendet man sich mit einer Frage an sie, dann hat man erstens Glück, wenn
man verstanden wird, denn nur wenige sprechen englisch, und zweitens,
wenn sie einem hilfreiche Auskunft geben können. Jeder möchte helfen, doch
keiner kann es bis jetzt noch so wirklich. Niemand weiß, was der Andere
macht, oft wird man hin und her geschickt und muss dabei gute Nerven
haben. Beispielsweise der einzige Souvenirladen auf dem Gelände des
Olympiaparks, ein Shop, in dem sich Athleten, Zuschauer, Helfer tummeln,
um Souvenirartikel zu kaufen. Nichts Besonderes, außer dass man erst
stundenlang anstehen muss, da die Schlangen nur schubweise in das
Gedränge gelassen werden. Und leider auch in manchen Fällen umsonst.
Schon am ersten Tag der Spiele waren einige Artikel schon ausverkauft und
die Verkäufer sichtlich überfordert.
Trotz alledem: Die Olympischen Spiele sind einfach ein Erlebnis und
natürlich Traum jeden Sportlers. Es ist ein tolles Gefühl dabei sein zu dürfen,
sein Land zu vertreten, in Kontakt mit anderen Sportlern kommen zu können,
perfekte Trainingsbedingungen zu haben und alles einmal genießen zu
können.
Und auch wenn im Vorfeld in den Medien oft vor angeblichen Gefahren der
Spiele in Sotschi gewarnt wurde und sicher viele skeptisch gegenüber der
Sicherheit waren, muss gesagt werden, dass es keine Probleme in dieser
Hinsicht gibt. Natürlich ist das Olympische Dorf ein vollkommen abgegrenzter
Bereich, der mit Kameras überwacht wird und nur über Sicherheitskontrollen
betreten werden kann, aber den Sportlern wird trotz alledem jede Freiheit
gelassen, diesen Bereich auch zu verlassen. Man fühlt sich also sicher, ohne
dabei eingeengt zu sein.
Ja, was könnte ich sonst noch mitteilen? Ja, sie hatten mich gefragt, dass
bei Ihnen in allen Zeitungen Bilder von Doppeltoiletten sind. Ich habe noch
29
keine gesehen. Tut mir leid. Sie wollten auch wissen, wie hier im Dort geweckt
wird? Trompeten oder so? Mich weckt mein Wecker. Und sonst trifft
man beim Essen jedesmal Athleten aus anderen Ländern. Macht Spaß!
10. FEBRUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Mindestens ein Zehntel des heutigen Fernsehprogramms
bestritt Maria Höfl-Riesch. Und das zu Recht, denn sie holte die
zweite Goldmedaille für Deutschland und auf die hatte man sehnsüchtig gewartet.
Auch von uns herzliche Glückwünsche für den brillanten Lauf vom
fünften auf den ersten Platz.
Maria ist übrigens eine Nichte des Bob-Olympiasiegers Wolfgang Zimmerer.
Es wird auch niemanden überraschen, dass sie schon mit drei Jahren das
erste Mal auf Skiern stand, noch dazu, wenn er erfährt, dass sie in Garmisch-
Partenkirchen geboren ist. Und was treibt die 29jährige sonst noch? Sie ist
unglaublich vielseitig. 2004 spielte sie das erste Mal eine Hauptrolle in einer
Seifenoper. Pardon, ich hätte damit beginnen müssen, dass sie offiziell als
Hauptwachtmeister bei der Zollverwaltung tätig ist. Das hinderte sie nicht an
der Fortsetzung ihrer Fernsehlaufbahn in der Telenovela „Sturm der Liebe“.
2011 heiratete sie Marcus Höfl und der managte sie dann, blieb damit in seinem
Gewerbe, denn er ist auch der Manager von Beckenbauer, wobei er um
die 20 Millionen verwalten soll. 2011 startete er für die Olympiasiegerin die
Homepage „maria.com.de“ und brachte eine Winterkollektion auf den Markt.
Damit niemand denkt, ich lichte nur ihre money-Seiten ab: Sie spendete
auch für die Organisation „Ein Herz für Kinder“.
Dann schrieb Maria ihre Autobiografie. Meinte eine Zeitung: „…immer nur
`Bunte´ und Sportler-Gala, das ist auf Dauer doch auch ziemlich fad. Was
tun? Ein Buch schreiben! Und ein bisschen was auspacken, ein bisschen was
ausziehen, ein bisschen was hinausposaunen.(…) Wird alles einmal durchgerührt
und aufgekocht, und schon liest man dies: `Mir ist nicht bekannt, wer
das Wort in Umlauf gebracht hat, aber es kursiert immer mal wieder: Pornozirkus
- als Abwandlung von Skizirkus.´ Gratulation, kann man da nur sagen,
schon ist die Steilkurve vom Gähnen zur Ekstase gelungen, der Pornodreh,
wenn man so will. Weiter im Text: `Man darf sich das nicht so vorstellen, dass
in jedem Hotel, in dem wir absteigen, wilde Orgien zelebriert würden.´ Schade.
`Aber es ist auch nicht so, dass jeder, der allein eincheckt, dann auch die
Nächte allein verbringt.´ Tja, so ist dieses Buch. Eine krampfhafte, vergebliche
Suche nach Exzessen, Orgien und Skandalen. Frisierte Langeweile.“
Das wird dann nebenbei mit den Goldmedaillen serviert.
Obwohl: Da ist mancher, dem solche und andere Berichterstattung aus Sotschi
überhaupt nicht passt. Zum Beispiel der frühere Bundeskanzler Gerhard
Schröder. Den zitierte eine Zeitung: „Im Deutschen Haus in Krasnaja Poljana
sagte er nach Angaben der ARD-Olympiaredaktion am Samstagabend: `Ich
finde wirklich die Art und Weise, wie man in Deutschland in den Medien (...)
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mit Olympia in Sotschi umgeht, das ist eine Katastrophe. Da toben sich Leute
aus, ohne irgendwie eine Beziehung zu haben zu dem, was hier passiert, und
ohne Rücksicht auch auf die Emotionen der Sportlerinnen und Sportler.´“
Das ist der Kern der Sache: Die Athleten hetzen um Medaillen und die deutschen
Medien kochen ihre Werbenudeln und ihre Politsüppchen auf dem
Olympiaherd.
Die taz (9.2.2014) wurde im Hinblick auf Schröder noch deutlicher: „Da tobten
sich Leute aus, ohne irgendeine Beziehung zu dem zu haben, was in
Sotschi passiere und ohne Rücksicht auf die Emotionen der SportlerInnen zu
nehmen. Na bitte, endlich mal klare Worte von einem, der weiß, wo Hammer
und Sichel hängen, und der eine ganz besondere Beziehung zu Russland hat
- ein wahrer Kenner eben.“ Die „Zeit“ (7.2.2014) hielt auch nicht hinterm Berg:
„Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat die deutsche Berichterstattung
als einseitig und voreingenommen kritisiert. `Die Berichterstattung,
speziell bei uns, ist reichlich unfair´, sagte Schröder dem Sport-
Informations-Dienst (SID). `Das ist ideologisch geprägt und nur sehr selten
unvoreingenommen. Da sollten einige, die so berichten, mal neu nachdenken.
´“ Ob das zu erwarten ist?
KLAUS HIRCHE: Ich fahre Dir jetzt mal ins Wort. Ich war zweimal bei Olympischen
Spielen, einmal als Aktiver und einmal als Zuschauer. Beide Male
habe ich ein Fest erlebt, ja ein richtiges, echtes Fest! Und diesmal höre oder
lese ich dauernd irgendwelchen Streit. Die Freude über erfolgreiche Athleten
gerät völlig in den Hintergrund. Ich hatte mich auf meine Rolle als Zuschauer
gefreut, langsam schwindet die Freude. Du hast eben Gerhard Schröder zitiert,
der Vernünftiges gesagt hat, aber - hemmungslos bekundet - hat nicht
vielleicht die Firma Gazprom ihm einen Wink gegeben, mal ein paar logische
und auch im Sinne der Sportler formulierte Worte zu sagen? Mit einem Wort:
Ich wollte mich zu Olympia, zum Sport äußern, zu Siegern und Verlierern,
aber nicht zu Putin.
KLAUS ULLRICH HUHN: Du hast völlig recht, also setzen wir uns wieder
vor die Glotze und freuen uns mit Siegern und leiden mit den Verlierern.
KLAUS HIRCHE: Und zwar gehen wir endlich mal zum Eishockey! Das ist
nämlich schon deshalb interessant, weil jahrzehntelang in dieser Sportart
nicht die Besten zu Olympia kamen. Die Besten spielten in der kanadischen
und US-amerikanischen Profiliga. Ich wiederhole mich: Für jeden Sportler ist
die Teilnahme an Olympischen Spielen der Höhepunkt der sportlichen Karriere.
Die Profis in Übersee kannten Olympia nur vom Hörensagen, bis sie das
Fest eines Tages „entdeckten“. Erst kamen nur die, die in der Meisterschaftsrunde
schon ausgeschieden und somit „arbeitslos“ waren, dann nahmen die
ersten „Olympia-Urlaub“ und ließen den Stanley-Cup Stanley-Cup sein. Und
schließlich entdeckten die Manager, dass sie die Spiele in ihren Terminplan
mit aufnehmen mussten.
Seitdem begegnen sich auch im Eishockey die Stars. Über Nacht musste
man eine Qualifikationsrunde einrichten. Man unterschied plötzlich zwischen
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„gesetzten Mannschaften“ und denen, die in Qualifikationsturnieren ermittelt
wurden. Die bundesdeutsche Eishockey-Nationalmannschaft (Männer) konnte
sich 2014 bekanntlich zum ersten Mal nicht qualifizieren. Also rückten über
Nacht die Frauen ins Zentrum des Interesses, denn die hatten sich qualifiziert.
Deshalb galt mein ganzes Interesses zunächst den Frauen. Auch bei
denen herrschte ein großes Leistungsgefälle, und auch hier mühten sich die
„Kleinen“ verzweifelt, den Abstand zu den „Großen“ zu verringern. Was würden
unsere Frauen da wohl schaffen? Als erstes stellte ich mal fest, dass in
Kanada rund 80000 Frauen, in den USA rund 65000 und in Deutschland nur
2500 dem Puck nachjagen.
KLAUS ULLRICH HUHN: Das sagst du, der in der kleinsten Männerliga der
Welt in der höchsten Amateurliga spielte?
KLAUS HIRCHE: Ja, wir gingen ja damals auch konsequenter vor als heute.
Gezielte Sichtung, spezielle Förderung, notfalls Arbeitsbefreiung für Training
und Wettkämpfe, studierte Trainer und modernste Trainingsmethoden. Zugegeben:
Eishockey stand nicht an der Spitze der so geförderten Sportarten,
aber es fiel doch einiges an Wissen und Wissenschaft bei „Sport 2“ ab. Ganz
zu schweigen von anderen Sportarten wie Leichtathletik oder Schwimmen in
der DDR. Von solchen Bedingungen sind unsere Eishockey-
Frauenmannschaften heutzutage weit entfernt. Um so anerkennungswerter
der Eifer und der persönliche Einsatz vieler Sportlerinnen auch im Eishockey.
Ich versuche, das mal am Beispiel unserer Torwartinnen später noch beschreiben.
Auf, auf nach Sotschi. Entgegen aller Unkerei vor den Spielen waren unsere
Eishockeyladys dort begeistert von den Spielen, von der glanzvollen Eröffnungsveranstaltung
ebenso wie von den Trainings- und Wettkampfbedingungen
und der Sympathie und den Gefälligkeiten der russischen Gastgeber.
Das bezog sich natürlich nicht auf Gastfreundschaft gegenüber dem Puck auf
dem Eis. Wenn die Spiele angepfiffen wurden, gab es keine Gastgeschenke,
es wurde hart aber fair um jeden Meter gekämpft. Das galt auch für das Spiel
unserer Frauen gegen die russische Mannschaft. Nach umjubelter 1:0 Führung,
die über zwei Drittel verteidigt wurde, mussten sich unsere Frauen noch
1:4 geschlagen geben. Zuvor hatten sich am Vortag in der Gruppe A die
Amerikanischen Frauen gegen die Finnen mit 3:1 und Canada gegen die
Schweiz mit 5:0 durchgesetzt. Noch zur anderen Gruppe: Im ersten Spiel
standen mit den USA die amtierenden Weltmeisterinnen dem Dritten der
Weltrangliste Finnland gegenüber. Die Amerikanerinnen hatten einen ausgezeichneten
Start: Nach 53 Sekunden erzielten sie die 1:0 Führung. Es war
von beiden Seiten ein schnelles Spiel, in dem sich die finnische Torfrau, Nora
Rati, mehrmals auszeichnen konnte. Die USA spielten sehr fair und kassierten
in der einzigen Strafzeit gegen sie den Ehrentreffer der Finnen. Der 3:1
Sieg der USA ging auch in dieser Höhe in Ordnung.
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Gegen die Kanadierinnen hatten die Schweizerinnen keine Chance. Sie
gingen mit 0:5 unter. Unserer Mannschaft blieben also nur Hoffnungen auf
die Platzierungsspiele. Da wird sich dann unsere Torfrau melden.
11. FEBRUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Tage wie dieser werden kurz und knapp „deutsche Tage“
genannt - zweimal Gold! Das auch diesmal wieder errichtete „deutsche Haus“
war schon vorher rappelvoll, und die Stimmung kann man nur mühsam beschreiben,
ohne nicht anzuecken.
Wo und mit wem beginnen? Mit Carina Vogt, von deren Sieg übrigens
selbst der Star-Fernsehreporter derart überrascht war, dass er versicherte, es
sei ihr erster Schanzensieg überhaupt gewesen. Zugegeben: Kaum jemand
hatte mit ihrem Sieg gerechnet, und sie selbst machte kein Hehl daraus, dass
es ihr selbst so ergangen sei. Dann aber brach sie ihr Schweigen und das
gründlich, verriet tränenreich, dass sie sich ohne Martin Schmitt und Sven
Hannawald nie fürs Skispringen begeistert hätte, und die beiden hätten diese
Lust schon geweckt, als sie vier Jahre alt war. 18 Jahre später hechtete sie in
die Anlaufspur der Olympia-Schanze von Krasnaja Poljana, landete bei 103,5
m. und war damit fassungslos Spitzenreiterin. Carina aus Waldstetten in der
Nähe von Schwäbisch-Gmünd in Württemberg wartete atemlos auf den zweiten
Durchgang. Die Pause überbrückte Trainer Andreas Bauer mit einem guten
Einfall: Er holte einen Zeitungsausschnitt mit einem Zitat von Felix Neureuther
aus der Tasche. Er hätte, stand dort, 30 Jahre alt werden müssen,
um das richtig gut zu tun, was er richtig kann. Und dann fragte er Carina und
die beiden anderen Springerinnen, ob sie auch so lange warten wollen? Wollten
sie nicht. Carina landete bei 97,5 m, und selbst als die große österreichische
Favoritin Daniela Iraschko-Stolz bis 104,5 Meter flog, reichte das nicht
mehr für Gold.
12. FEBRUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Die Nordische Kombination war einst das Fundament
der Winterspiele. Allerdings maulten die Fernsehmanager, dass sie zu
langweilig sei, weil der Zuschauer warten musste bis der letzte Läufer im Ziel
war. Also erfand man 2008 die kurzweiligere Gundersen-Methode: Statt an
zwei Tagen zwei Sprünge und einen 15-km-Lauf zu absolvieren, stand nun
an einem Tag ein Sprung und ein 10-km-Lauf auf dem Programm.
Der Favorit war Eric Frenzel - geboren 1988 in Annaberg-Buchholz - und
startet für den WSC Erzgebirge Oberwiesenthal und ist Sportsoldat. 2010
hatte er sich in Vancouver mit Bronze endgültig in die Weltelite gesprungen
und gelaufen. In Sotschi holte er Gold, und die „Frankfurter Allgemeine“
(12.2.2014) beschrieb das Ereignis so: „Akito Watabe hält ihn für den größten
Nordischen Kombinierer `aller Zeiten´, der deutsche Cheftrainer Herrmann
33
Weinbuch bezeichnet ihn als `eine coole Sau´. Und Eric Frenzel muss in beiden
Fällen herzlich lachen. `Na, der Akito übertreibt da vielleicht ein bisschen,
da gibt’s ein paar, die haben mehr Medaillen gewonnen.´ Aber die Anerkennung
vom schärfsten Konkurrenten, die tut natürlich gut. Und die `coole Sau´
vom Chef kann er ganz gut einschätzen: Die gehört ebenfalls in die Kategorie
höchstes Lob.
Es war aber auch ein starkes Stück, wie Eric Frenzel, der 25 Jahre alte
Sachse, am Mittwoch seiner Favoritenrolle gerecht geworden ist. Der Sprung
auf 103 Meter brachte ihn in die Führungsposition; nur der Japaner Watabe
kam ihm ziemlich nahe. Und die beiden hatten verabredet, im anschließenden
10-Kilometer-Lauf bis zu einem gewissen Zeitpunkt gemeinsame Sache
zu machen. Um sich die Meute, die ihnen im Halbminuten-Abstand hinterher
hetzte, möglichst lange vom Leib zu halten.
Eine Taktik, die aufging. Aber irgendwann kommt einmal der Punkt, wo aus
dem Miteinander ein Gegeneinander wird, und diesen Punkt hatten beide am
letzten Anstieg ausgemacht. `Da wollte ich eigentlich attackieren´, sagte
Frenzel. `Da wollte ich ihn abschütteln´, sagte Watabe, `aber er war zu stark.´
Auf den Angriff aus dem Windschatten in der langen Abfahrt konnte der Japaner
nicht mehr reagieren.
Und der Olympiasieger selbst bekannte, dass er schon ein bisschen stolz
sei. Dass er den Druck, unter dem er gestanden hat, doch so in den Griff gekriegt
habe. So wie das im Weltcup schon fast zur Selbstverständlichkeit geworden
ist. Aber Olympische Spiele sind eben eine andere Dimension. `Davon
träumst du schon als kleiner Junge´, sagt Frenzel, `und Olympiasieger
bist du für die Ewigkeit.´“
So weit, so gut, aber monieren muss ich, dass ein Name aus dem Frenzel-
Klub von der FAZ regelrecht unterschlagen wurde: Ulrich Wehling. Zugegeben,
als Wehling als einziger Olympionike in der Geschichte der Nordischen
Kombination drei Goldmedaillen nacheinander - 1972, 1976, 1980 - eroberte,
hieß dieser Klub noch ein wenig anders und gehörte noch zum DTSB in der
DDR, aber einen dreifachen Goldmedaillisten unter den Teppich kehren zu
wollen, erschien mir nicht allzu olympisch. Ich fand aber den „Schlüssel“ in
der „schwäbische.de“ (3.3.2007): „In einem dpa-Gespräch am Rande der
nordischen Ski-Weltmeisterschaften in Sapporo sagte Wehling, er habe zu
keiner Zeit unter einem Decknamen für das MfS gearbeitet, eine Verpflichtungserklärung
unterschrieben oder schriftliche Berichte abgegeben: `Der
Spiegel´ zitiert in dem vorab veröffentlichten Bericht den Leiter der Chemnitzer
Außenstelle der Birthler-Behörde, Martin Böttger, mit den Worten, Wehling
habe `willentlich und wissentlich mit der Stasi zusammengearbeitet und
diese auch über Personen informiert´. …`Es gab nie einen Punkt, dass ich
mit diesen Leuten zusammengearbeitet habe´, sagte Wehling.“
Stasi? Mit dieser Zauberlügenformel kann man also sogar die Liste der
Olympiasieger korrigieren. Wieder was gelernt!
34
KLAUS HIRCHE: Mein „Metier“, nämlich die Eisfläche war dran, als die
Weltmeister Aljona Sawtschenko und Robin Szolkowy zur Entscheidung im
Parlauf antraten. Nach einer begeisternden Kurz-Kür die sie auf den zweiten
Rang gelangen ließ, musste die Entscheidung in der Kür fallen. Bei ihrem
Rückstand zu Trankow/Wolossoschar konnten sie nur noch mit einer fehlerfreien
eigenen Leistung zu Gold kommen oder bei Patzern der Führenden.
Bibbernd hockten meine Frau und ich vor dem Bildschirm und hofften auf eine
brillante Kür unseres Paares mit dem allein von ihnen beherrschten dreifachen
Wurfaxel am Ende. Nur mit einer Wertung die 10 Punkte höher lag als
ihr bestes bis jetzt erzieltes Ergebnis konnten sie noch zur Goldmedaille
kommen. Aber es kam ganz anders: Das russische Paar lief ohne Fehler,
Robin landete beim dreifachen Toeloop auf der Fußspitze und stürzte. Anschließend
riskierten sie alles, wagten den dreifachen Axel, aber auch der
misslang. Ich zog den Hut vor ihrem Kampfgeist, aber der wurde nicht belohnt.
Sie gerieten noch hinter das zweite russische Paar Xenia Stolpowa und
Fedor Klimow und mussten sich mit Bronze zufriedengeben. Das ist Spitzensport.
Aljona und Robin hatten sich gründlich auf den Höhepunkt ihrer Karriere
vorbereitet, elf Jahre hart trainiert. Schon 2010 in Vancouver hatten sie
sich als Favoriten nach dem Sturz von Robin mit Bronze begnügen müssen.
Du kannst trainieren so hart du nur kannst, eine Garantie bietet der Sport nie.
Mir passierte 1964 folgendes: Beim Saisonauftaktspiel in Schweden wimmelte
es von Journalisten. Alle erwarteten von mir eine Glanzleistung. Tatsächlich
konnte ich zusammen mit meinen Vorderleuten bis kurz vor dem
Ende das Tor reinhalten. Mir gelang dann aber nichts mehr. Vier Gegentore!
Ich war verzweifelt.
Deshalb möchte ich Aljona und Robin zur Bronzemedaille herzlich gratulieren
und ihnen wünschen, dass sie ihre Entscheidung im Hinblick auf das
„Weitermachen" nicht im Schatten der misslungenen Kür fällen. Ich wünsche
Ihnen alles Gute!
Und die wie ich vor dem Fernsehschirm saßen und enttäuscht waren, sollten
einmal mehr konstatieren: So bitter kann Sport sein!
13. FEBRUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Der deutsche Rodeljubel hallte wieder weit über
die Kaukasusgipfel. Nur Gold! Und dazu noch Silber und Bronze als Dessert!
Deutschland an der Spitze der Medaillenwertung!
Angestimmt worden war der Jubelchor schon fünf Tage vorher, als der Sieger
von Vancouver, Felix Loch, seinen Triumph in Sotschi wiederholte. Der
24-Jährige schrie seine Freude noch auf dem Schlitten sitzend pausenlos aus
sich hinaus. Vater und Bundestrainer sprangen in die Eisbahn. Lochs erster
Kommentar: „Überwältigend, einfach nur geil!“ „Ein guter Startschuss für das
ganze Team. Loch ist ein Vorzeigeathlet, wie man sich ihn besser nicht ba35
cken kann“, strahlte DOSB-Generaldirektor Michael Vesper und Präsident Alfons
Hörmann ergänzte: „Er ist ein toller Typ.“
Natürlich waren auch IOC-Präsident Thomas Bach und Fußball-Kaiser
Franz Beckenbauer zur Stelle. Loch hatte in allen vier Läufen in dem 17 Kurven
zählenden 1475 m langen Eiskanal brillantes bis hin zu einem Bahnrekord
geboten. Durch Lochs Triumph avancierte der Einsitzer der Männer mit
zehn Goldmedaillen zur erfolgreichsten deutschen Disziplin bei Winterspielen.
Wie man weiß, lassen sich Statistiken durchaus „variieren“, auch wenn es
um olympische Rodelsiege geht. Deshalb - nur als Fußnote - eine kleine „Ergänzung“:
Von 1964 bis 1988 hatten die DDR-Rennschlittenfahrer/Innen 14
Goldmedaillen erkämpft, die bundesdeutschen 3. Und 26 Jahre brauchten
sie, um zum 14. Gold aufzuschließen, wobei ihnen noch entgegenkam, dass
sich die Chancen durch die Erweiterung des Programms erhöht hatten!
Was wohlgemerkt den Loch-Sieg mit keiner Silbe schmälert und auch kein
„Zurück-zur-DDR“-Gesang anstimmen soll, sondern nur mitteilt, dass in den
ewigen Bestenlisten - auch des Internationalen Olympischen Komitees - die
DDR nicht gelöscht wurde!
48 Stunden später wieder deutsche Jubelchöre: Natalie Geisenberger gewann
Frauen-Gold. Sie stürmte mit der deutschen Fahne zu ihrem Vater
Helmut. Der hatte Tränen in den Augen und sprang mit und ohne Tochter in
die Lüfte.
Tatjana Hüfner komplettierte als Zweite den deutschen Triumph und hat
nach Bronze 2006 und Gold 2010 nun den vollständigen Medaillensatz beisammen.
Die 29-Jährige stammt aus Neuruppin, zog mit den Eltern in den
Harz. 1992 startete sie das erste Mal für den RC Blankenburg, 1997 ging sie
nach Oberwiesenthal an die Sportschule und wurde Mitglied beim WSC Erzgebirge.
Bei der Junioren-Weltmeisterschaft 2002 holte sie sich Bronze. 2002
wurde sie nach dem Abitur in die Bundeswehr-Sportfördergruppe Frankenberg
„eingezogen“ Bei der Weltmeisterschaft 2011 in Cesana gewann sie den
ersten und zweiten Lauf und wurde Weltmeisterin. Ab 2011 startete sie für
den BRC 05 Friedrichroda. Im Fernstudium befasste sie sich mit Praktischer
Psychologie an der Hamburger Akademie für Fernstudien (HAF) und absolvierte
danach einen Fernlehrgang als psychologischer Berater. Und auch das
soll nicht unerwähnt bleiben: Seit 2006 hat sie einen persönlichen Sponsorvertrag
vom Viessmann-Konzern. Das alles wollte ich erwähnen, weil sie später
in einem sogenannten „Zickenkrieg“ eine Hauptrolle spielt - wohlgemerkt:
Nicht als Zicke!
Die deutsche Siegesserie wurde fortgesetzt. Diesmal nach nur 24 Stunden.
Tobias Wendl und Tobias Arlt aus Berchtesgaden und Königsee holten sich
ähnlich souverän wie die anderen das Gold auf dem Doppelsitzer.
Blieb noch die neu ins Programm geratene sogenannte „Staffel“, bei der ein
Mann, eine Frau und ein Doppel nacheinander durch die Rinne rasen. Loch,
36
Geisenberger, Wendl, Arlt ließen den anderen keine Chance - also das vierte
Gold.
Der „Spiegel“ (online) erklärte seinen Lesern: „Im Grunde hatte es sich gar
nicht mehr nur um einen sportlichen Wettbewerb gehandelt an diesem letzten
Rodeltag, sondern um simple Mathematik. Die Aufgabe, die es zu lösen galt,
lautete: 1+1+1. Das Ergebnis konnte nicht anders lauten als 4, zumindest in
der Welt der deutschen Rodler: Eine Goldmedaille bei den Männern (Felix
Loch) plus eine bei den Frauen (Natalie Geisenberger) plus eine weitere im
Doppelsitzer (Tobias Wendl/Tobias Arlt) - das konnte ja nur eines ergeben:
Gold im Team-Wettbewerb.
Und die Erwartungen wurden einmal mehr erfüllt. Auch am Donnerstagabend
bot sich jenes Bild, das man von der Rodelbahn in den Bergen von
Krasnaja Poljana schon kannte: Deutsche Schlittenfahrer hüllten sich in
schwarz-rot-goldene Fahnen, hüpften vor Freude auf und ab und fielen sich
fortwährend um den Hals.
Später gaben Geisenberger, Loch, Wendl und Arlt vor laufender TV-Kamera
noch den Evergreen „So seh‘n Sieger aus“ zum Besten. Und auch Georg
Hackl war wieder mittendrin bei der Jubelei.(…) Ein bisschen ist es wie in einer
Staffel, nur dass bei der Stabübergabe eine ganze Rodelbahn dazwischenliegt:
Der Schlitten oben darf erst losrodeln, wenn jener unten im Ziel
ist. Über den Schlag auf ein Ziel-Pad wird dort jener Impuls ausgelöst, der für
den nächsten Rodler im Team das Starttürchen öffnet. (…)
So endeten die deutschen Rodel-Festspiele von Sanki wie sie begonnen
hatten: mit Gold. Viel mehr geht nicht. Die Sportwelt fragt sich nur noch: Warum
rodeln die Deutschen nur so gut?
Die Antwort ist vielschichtig: In Deutschland gibt es gleich vier Rodelbahnen
samt Stützpunkten, in Königssee, Winterberg, Oberhof sowie Altenberg, mehr
als irgendwo sonst in der Welt. Und größer als irgendwo sonst ist auch das
Reservoir an Talenten, die in diesen Stützpunkten heranreifen und von einer
Zahl an hauptamtlichen Trainern angeleitet werden, über die keine andere
Nation verfügt.“
KLAUS HIRCHE: Enorm, was du da zusammengetragen hast. Kein Wunder:
Wer Stammgast an den Rodelbahnen der Welt ist, weiß natürlich einiges.
Aber du hast nur angedeutet, dass da neben Jubel auch noch ein Zickenkrieg
stattfand. Den erlebte man auch am Fernsehschirm. Da heutzutage
Pressefreiheit herrscht, wurden die Debatten fast bei jedem Auftritt der Damen
ausgetragen, wobei der Zuschauer nie ganz begriff, worum es eigentlich
ging.
KLAUS ULLRICH HUHN: Mir ging es ähnlich, und da der Titel unserer Broschüre
nun mal „Beiträge zur Sportgeschichte“ lautet, wollte ich dieses Kapitel
Sportgeschichte aufklären. Also wandte ich mich an jemanden, der mindestens
zwanzigmal so viel Stunden an Rennschlittenbahnen verbracht hatte
wie ich und - was noch viel schwerer wiegt - nicht nur hunderte Stunden
selbst auf dem Schlitten verbrachte, sondern auch noch zwei Goldmedaillen
37
und eine Silbermedaille zu Hause hat, an Thomas Köhler. Der müht sich um
seine kranke Frau, hat also andere Sorgen, als heutige Rodeltriumphe zu ergründen,
erklärte mir aber mit wenigen Sätzen, was Sache war und ist. Er
schreibt das bundesdeutsche Rodelgold Georg Hackl und seinem Team zu,
einst selbst Goldmedaillengewinner und jetzt der Mann, der den heutigen
Siegern die Schlitten baut. Er hat das so nie gesagt, weil natürlich der Aktive
die sportliche Leistung vollbringt, und ein Mann wie Thomas Köhler nie den
Schlittenbauer vor den Athleten rücken würde. Aber er wollte mir klar machen,
wie groß der Anteil des Schlittenbauers ist. Und er erinnerte sich, dass
Klaus Bonsack - Silbermedaillengewinner von 1964, zusammen mit Köhler
Goldmedailliengewinner 1968 und Silber 1972 - die Schlitten in der DDR konzipiert
hatte. Köhler: „Hackl und Bonsack waren in dieser Hinsicht Genies,
Bonsack eben lange vor Hackl, und viele Erfindungen von Bonsack werden
heute noch genutzt.“
Ich wollte ein Beispiel hören, und Köhler nannte mir die Schlaufe, die auf
dem Doppelsitzer beide Aktive verbindet.
Nun wesentlich klüger, fragte ich einen bayerischen Journalistenkollegen,
mit dem mich zu DDR-Zeiten ein gutes Verhältnis verband. (Das sich auch
damit erklären ließe, dass ich zuweilen Interviews mit DDR-Siegern vermitteln
konnte…) Er verriet mir: „Der Hintergrund des Zickenkriegs ist die Tatsache,
dass Hackl seine Erfindungen nur in Bayern preisgibt und - vermute ich mal -
die Hüfner demzufolge davon nicht profitiert.“
KLAUS HIRCHE: Damit wäre auch geklärt, warum niemand über die Hintergründe
redet. Mir fiel auf, dass ein Fernsehmoderator „Ost-West-Probleme“
andeutete, was mich stutzig werden ließ. Ich wunderte mich nur, dass der
Verband kaum etwas unternahm, um das wieder in die Reihe zu bringen. Ich
suchte herum und stieß auf den Präsidenten des Schlittensportverbandes:
Andreas Trautvetter. Nichts gegen DDR-Offiziere, aber seine Laufbahn ließ
mich staunen: Der Oberleutnant der Reserve der Grenztruppen war mit 24
Jahren Mitglied der CDU in der DDR geworden, rückte 1990 in den Thüringer
Landtag und wurde 1992 Minister. Das war er 16 Jahre lang. Nun lässt er
sich in Sotschi als Goldmedaillenlieferant feiern, und wir wissen, wie es zu
Ost-West-Problemen kam.
15. FEBRUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Über Nacht bist du zu einer Biathlon-Zielscheibe geworden,
auf die pausenlos geballert wird. Überlebst Du das?
KLAUS ULLRICH HUHN: Denke schon. Vor allem aber illustriert die Aufregung,
wie recht wir mit unserer Kritik an dem Medienfeldzug hatten. Ich will
und kann die Leser unserer „Beträge zur Sportgeschichte“ nicht mit den Attacken
gegen mich langweilen, muss aber zumindest erklären, wie ich auf den
Schießplatz geriet.
38
Das Thema „Homosexualität in Russland“ schwappte bis nach Berlin. Ein
Artikel, den ich für die „junge Welt“ schrieb und der in einem Nebensatz auch
auch dieses Thema tangierte, bewog den Berliner Vorstand der Linken zu erörtern,
ob man der jungen Welt einen Stand auf dem Hamburger Parteitag
verweigern sollte, und ließ den Herausgeber der jungen Welt einen massiven
Artikel gegen mich schreiben. Das alles erregte mich nicht, gab mir aber zu
denken, wie es möglich sein konnte, dass Olympische Spiele die Frage der
Homosexualität in einem fremden Land zu einem hektisch erörterten Thema
werden lassen konnte.
KLAUS HIRCHE: Endlich nun zurück zum Sport und zu Olympia. Schon am
Mittwoch hatte das Eishockeyturnier der Herren begonnen. Ich verzichte darauf,
alle Resultate der Vorrunden zu kommentieren, weil wir ja hier kein
Olympiabuch schreiben, sondern eben nur ein Tagebuch. Mit einiger Spannung
hatte ich zum Beispiel die Partie Schweden gegen Tschechien erwartet,
die ja beide schon Olympiasieger waren. Die Schweden gewannen verdient
4:2. Dann trafen in der Partie Russland gegen USA zahlreiche Spieler aufeinander,
die in den USA und in Kanada sonst Trikots der Profiklubs tragen.
Zwei Drittel lang führten die Russen 1:0, am Ende verloren sie das Penaltyschießen
mit 2:3. Das Spiel wurde zum ersten Höhepunkt des Turniers und
erinnerte an die Begegnung vor 34 Jahren in Lake Placid. Damals hatte ein
US-College-Team die als unschlagbar geltende Sowjetunion geschlagen. Die
Erinnerung an diesen Triumph wird in den USA als „Miracle on Ice“ bewahrt.
In Sotschi legte die russische Mannschaft im ersten Drittel ein mörderisches
Tempo vor, aber es fielen keine Tore. Erst eine starke Einzelleistung von
Datsunk sorgte für das 1:0. Die nächsten Tore - hoffte das Publikum - würden
bald folgen. Aber die USA glich aus und erzielte in Überzahl sogar die 2:1
Führung. Man konnte schon glauben, das würde den Sieg bedeuten, aber
dann erzielten die Russen ebenfalls in Überzahl durch Datsunk noch das 2:2
und kurz danach erkämpften sie sogar die vermeintliche 3:2 Führung. Der
Treffer wurde aber nach dem Studium der Videoaufnahmen durch die
Schiedsrichter nicht gegeben, weil das Tor verrückt worden war. Nach der torlosen
Verlängerung musste die Entscheidung im Penaltyschießen fallen. Beide
Torwarte konnten sich durch Paraden auszeichnen, aber im achten Penalty-
Durchgang überwand der US-Amerikaner Oshie den russischen Schlussmann
zum 4:3. Das so prestigeträchtige Spiel - im Grunde ja nur ein Vorrundenspiel
der Gruppe A - trug den Yankees also einen Punkt Vorsprung ein.
Ich melde mich wieder.
17. FEBRUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Nebel verhüllte die olympischen Ringe, die Termine
wurden erst verschoben, und dann strömten alle in die Hallen, denn
draußen fand nichts statt. Langeweile kam bei mir nicht auf, denn ich hatte
seit Tagen einen Zeitungsausschnitt auf dem Tisch, den ich nicht in den Pa39
pierkorb werfen wollte. Die „Berliner Zeitung“ hatte den mit seiner Silbermedaille
den Ruf der deutschen Biathleten rettenden Erik Lesser ausführlich gefeiert
und hatte auch erwähnt: „Lesser stammt aus einer Athletenfamilie. Sein
Opa Axel nahm als Langläufer an den Winterspielen in Grenoble 1968, in
Sapporo 1972 und in Innsbruck 1976 teil. Berühmtheit erlangte der Athlet
vom ASK Vorwärts Oberhof, der der Stasi als IM Bruno zulieferte, vor allem
durch einen Unfall, dessen Hintergründe Großvater Lesser aus Staatstreue
erst vor knapp zehn Jahren verriet: Im olympischen Staffelrennen 1976 war
er von einer unbekannten Frau kollidiert, sodass die DDR-Staffel auf Position
zwei liegend aufgeben musste. Erst nach der Wende durfte er öffentlich erzählen,
dass es sich wohl nicht um westliche Spionage, sondern um eine
sowjetische Betreuerin handelte, die versehentlich mit ihm kollidierte.“
Eine Granate mehr gegen die „Putin-Spiele“, gegen die „Stasi“ und natürlich
gegen die DDR.
In den „Beiträgen zur Sportgeschichte“ soll historische Wahrheit nicht unterschlagen
werden. Deshalb die Fakten:
Die Mannschaftsleitung der DDR gab - nachdem bundesdeutsche Blätter
damals verbreitet hatten, die DDR habe die BRD beschuldigt, eine ihrer Betreuerinnen
habe Lesser absichtlich zu Fall gebracht - folgende Erklärung an
alle in Innsbruck tätigen Journalisten: „Während des heutigen 4X10-km-
Staffellaufes der Männer wurde der zweite DDR-Läufer, Axel Lesser, in führender
Position liegend, beim Kilometer 0,8 von einer die Laufstrecke in entgegengesetzter
Richtung fahrenden Person an einer abschüssigen Stelle
umgefahren und so erheblich verletzt, daß er das Rennen nicht fortsetzen
konnte.
Wenige Meter hinter ihm lag der schwedische Läufer Christer Johannson,
der diesen Vorfall sah und bestätigen kann. Der finnische Läufer Juha Mieto
fuhr noch über die Ski dieser Person, die den Unfall verursachte, und der
Norweger Einar Sagstuen bestätigte den Vorfall ebenfalls.
Obwohl das eine ernste Benachteiligung der DDR-Staffel ist und diese um
eine mögliche gute Plazierung brachte, sieht die DDR-Mannschaftsleitung
von einem Protest ab, um damit allen Mannschaften eine ungestörte Vorbereitung
auf die weiteren Wettkämpfe zu ermöglichen und den planmäßigen
Fortgang der olympischen Skiwettbewerbe zu sichern.
Die DDR-Mannschaftsleistung ersucht jedoch die Rennleitung, solche Maßnahmen
zu treffen, damit alle Mannschaften und Läufer einwandfreie Bedingungen
für die noch bevorstehenden Wettkämpfe vorfinden und so die Besten
im fairen Wettkampf ermittelt werden können.“
Ich könnte jederzeit als Zeuge in diesem Fall aussagen, denn: „Ich begab
mich zur Rennleitung und bat um eine Stellungnahme. Die österreichischen
Gastgeber erklärten mir, dass selbst eine intensive Fahndung der Polizei keinen
Erfolg gehabt hatte, und ein Protest der DDR - der sich auch gegen eine
unzureichende Sicherung der Strecke durch die Veranstalter richten musste -
nur zur Annullierung des Rennens oder zu einer Wiederholung - beides war
40
nie zuvor geschehen - führen mussten. Man ersuchte die DDR um Verständnis.
Eine der Folgen war die Erklärung der Mannschaft.“
Am 7. Februar 2006 „löste“ Gunnar Meinhardt in der „Welt“ den Fall: „Auf
einmal wird Axel Lesser unruhig. Er weiß an dieser Stelle nicht genau, ob er
nach dreißig Jahren sein größtes Geheimnis preisgeben soll. Dann tut er es
doch.
`Es war eine Russin´, sagt Lesser´ (…) Nach dem ersten Anstieg übernimmt
der Sportsoldat aus Oberhof, für den es die dritten Winterspiele sind, die Führung.
Nach 1500 Metern läßt er Christer Johansson hinter sich. Dann geschieht,
womit niemand rechnen kann. `Es ging die erste Abfahrt runter´, erzählt
Lesser. `Ich bin in die Hocke gegangen und habe nur auf meine Ski geschaut.
Als ich am tiefsten Punkt ankam, krachte es fürchterlich. Ich ging in
die Knie wie ein ausgeknockter Boxer.´
Statt in der olympischen Ruhmeshalle findet sich Lesser in einer Innsbrucker
Klinik wieder. Mit Gipsbein und vielen Fragen. Daß die Frau, mit der er
zusammenstieß, eine Russin gewesen sei, konnte Lesser zu DDR-Zeiten
niemandem sagen. `Was meinen Sie, was die mit mir gemacht hätten, wenn
ich auch nur eine Silbe des Verdachts geäußert hätte. Jemanden aus dem
Bruderland zu verdächtigen, hätte ich nicht überlebt. ´
Der Zusammenprall schien wie geplant. Die Unglücksstelle war durch keine
Fernsehkamera erfaßt. Die Frau kam aus einer Kurve mit hohem Tempo herausgefahren.
Nach dem Zusammenprall verschwand sie im Wald, Lesser
hatte sich nur Umrisse eingeprägt: `Sie trug eine schwarze Brille, eine große
Mütze und ein Sprechfunkgerät.´ Ganz so wie ein Streckenposten, Trainer
oder Teambetreuer. (…) Absicht unterstellt Lesser den Russen nicht. `So eiskalt
kann niemand sein.´“
Aber 2014 liest man: „Erst nach der Wende durfte er öffentlich erzählen,
dass es sich wohl nicht um westliche Spionage, sondern um eine sowjetische
Betreuerin handelte, die versehentlich mit ihm kollidierte.“
„Wohl“ und „versehentlich“ wäre im Grunde Distanz genug, um auf diese
Variante zu verzichten, aber man ist nun mal in Sotschi!
KLAUS HIRCHE: Und dahin kehren wir endlich zurück. Denn am Abend bejubelten
die deutschen Springer im Mannschaftsspringen gleich viermal Gold.
Das war das Quartett: Der Oberhofer Oberfeldwebel Andreas Wank, der am
nächsten Tag seinen 26. Geburtstag feierte; der Polizeimeister Marinus
Kraus, der vier Tage zuvor seinen 23. Geburtstag gefeiert hatte; der Schüler
Andreas Wellinger, der in einem halben Jahr seinen 19. Geburtstag feiern
wird, und der Student Severin Freund, der wiederum noch ein gutes halbes
Jahr auf die Party zu seinem 26. Geburtstag warten muss.
Der Vorsprung vor den Österreichern betrug 2,7 Punkte und die hatte - mathematisch
- Marinus Kraus erkämpft, als er im ersten Durchgang 136,5 m
gesprungen war. Die hatten ihm mit 136,1 Punkten die höchste Punktzahl aller
deutschen Springer eingebracht. Wäre er - wie im zweiten Durchgang -
134,5 m gesprungen, hätte es nicht für Gold gereicht. Ich habe mir im Resul41
tat jede Zahl angesehen: Kraus war insgesamt 271 m gesprungen, Wellinger
wie die Goldmedaillengewinner: Noriaki Kasai. Der Mann ist 41 Jahre alt,
sprang mit acht Jahren zum ersten Mal von einer Schanze, bestritt mit 23
Jahren sein erstes Weltpokalspringen und gewann 1994 eine olympische Silbermedaille
im Mannschaftsspringen und in Sotschi, also 20 Jahre danach
Silber auf der Großschanze und dann noch diese bronzene mit der Mannschaft.
Nach der Fukushima-Katastrophe kümmerte er sich monatelang um
verstrahlte Kinder, die nur mit Gesichtsmasken in die Öffentlichkeit durften. Er
sammelte eine beträchtliche Summe Geld für sie und brachte ihnen 100 kg
Reis in ihr Heim nach Sapporo. Hätte er dafür nicht einen Hauch Gold auf der
Bronze verdient?
KLAUS ULLRICH HUHN: Noch ein Bob-Kommentar von mir: Die Zweierbobs
waren an diesem Abend unter „ferner liefen“ gelandet. Weltmeister
Francesco Friedrich kam mit Anschieber Jannis Bäcker auf Rang acht. Wer in
den alten Resultaten blätterte, stellte fest, dass es die schlechteste Platzierung
seit 58 Jahren war. Der Potsdamer Anschieber Kuske suchte nach einem
Schimpfwort für seinen Bob und nannte ihn einen „Trabi“.
Am 20. Februar druckte die „Frankfurter Rundschau“ eine von der Agentur
SID verbreitete Bob-Katastrophen-Bilanz: „Das deutsche Bobteam hat in den
Chaos-Tagen von Sotschi einen neuen Tiefpunkt erreicht und muss das
schlechteste Olympia-Ergebnis seit 50 Jahren fürchten. Rekord-Weltmeisterin
Sandra Kiriasis (39) leitete im letzten Wettbewerb ihrer Karriere die Wende
nach der historischen Schmach der Zweierbob-Männer auch nicht ein und
verabschiedete sich ohne jede Medaillenchance noch hinter der Niederländerin
Esme Kamphuis auf dem enttäuschenden fünften Platz in die sportliche
Rente.
Damit war die erfolgreichste Bobfahrerin der Welt mit Anschieberin Franziska
Fritz aber immer noch beste deutsche Pilotin. Ex-Weltmeisterin Cathleen
Martini und Anja Schneiderheinze enttäuschten als Siebte und Zehnte. So
schlecht waren deutsche Bob-Frauen bei Winterspielen noch nie gewesen.
Die Mannschaft des umstrittenen Bundestrainers Christoph Langen sammelt
im Sanki Sliding Center eine historische Negativmarke nach der anderen.
Schon im Rennen am Montag hatten die Zweierbob-Männer ihr schlechtestes
Ergebnis der Olympia-Geschichte eingestellt. Sollte ihnen in der Königsdisziplin
Vierer zum Abschluss am kommenden Wochenende keine Medaille
gelingen, würden die früheren `Gold-Hamster´ erstmals seit 1964 ohne Edelmetall
nach Hause reisen. Der Druck auf den zweimaligen Olympiasieger
Langen würde in diesem Fall nochmals deutlich steigen.
Kiriasis dürfte das egal sein, sie verabschiedete sich ohne den Hauch einer
Medaillenchance vom Leistungssport. Ihr Rückstand auf die Drittplatzierte
Jamie Greubel (USA) betrug nach vier Läufen 0,68 Sekunden, der auf die
kanadische Olympiasiegerin Kaillie Humphries sogar 1,68 Sekunden. Silber
ging an Elana Meyers (USA), die im letzten Lauf Gold herschenkte (+0,10).
Humphries hatte schon vor vier Jahren Gold gewonnen.
42
Damit findet Kiriasis‘ einmalige Karriere ein unwürdiges Ende. Die streitbare
Athletin ist mit je einmal Olympia-Gold (2006) und -Silber (2002) sowie drei
WM-Titeln und neun Weltcup-Gesamtsiegen die erfolgreichste Bobpilotin der
Geschichte. `Sandra hat so viel für den Bobsport getan. Durch sie ist man
doch auf Frauen-Bobsport erst aufmerksam geworden. Hier noch einmal gegen
sie zu fahren, war besonders´, sagte die zweitplatzierte Meyers.
Am Start konnte Kiriasis mit der jüngeren Konkurrenz schon lange nicht
mehr mithalten, dafür glänzte die Stuttgarterin oft mit ihrer Klasse und Erfahrung
an den Lenkseilen. Nicht aber in Sotschi, hier unterliefen ihr an beiden
Tagen unerklärliche Fehler.
Zudem schien der Olympiaschlitten `208´ des Instituts für Forschung und
Entwicklung von Sportgeräten (FES) wie schon bei den Männern überhaupt
nicht zu laufen. Im offen ausgetragenen Materialstreit gab FES-Direktor Harald
Schaale `strategische Fehler´ zu, die Alleinschuld wollte er für sich und
sein Ingenieurs-Team aber nicht übernehmen.
`Eine große neue Olympiaflotte mit einer Prototypen-Phase in zwei Jahren
fertigzustellen, war vielleicht doch zu kühn´, sagte Schaale der Süddeutschen
Zeitung.“
An diesem Tag führte die deutsche Mannschaft noch immer die Medaillenliste
an. Und das ungeachtet der nicht nur bei den Bobs bis dahin konstatierten
Niederlagen. Nicht auszudenken, wo die Deutschen gelegen hätten,
wenn sich alle Hoffnungen erfüllt hätten.
18. FEBRUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Du hast mir da eine irre Tabelle gezeigt, die sollten wir
den Lesern nicht vorenthalten…
KLAUS ULLRICH HUHN: Aber die stammt aus der „Bild“-Zeitung, dem Internet
entnommen am heutigen Tag um 11.30 Uhr und richtet sich - ein kleines
Kunststück - gegen Russland und die DDR…
KLAUS HIRCHE: Wie geht das?
KLAUS ULLRICH HUHN: Das ist so leicht nicht zu erklären. Die Tabelle -
als Quellen gab das Blatt AFP, SID und, wenn auch schwer lesbar, dpa an -
trug den Titel „Ewiger Medaillenspiegel“ und fügte zur Erklärung hinzu: „Die
Liste der 20 medaillenträchtigsten Nationen bei den Winterspielen (seit
1924).“
In Sotschi fanden die 22. Winterspiele statt. Deutsche nahmen an 20 teil,
denn 1924 - sechs Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs - und 1948 - drei
Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte das IOC sie für nicht olympiawürdig
befunden. Von 1949 bis 1990 existierte bekanntlich die DDR als
zweiter deutscher Staat. Das Internationale Olympische Komitee erkannte sie
als Nation an, nahm demzufolge das Nationale Olympische Komitee der DDR
in seinen Kreis auf und ließ ab 1956 deren Aktive bei den Winterspielen starten,
erst in einer sogenannten gemeinsamen Mannschaft mit der Bundesre43
publik und ab 1965 mit einer eigenen Mannschaft. „Bild“ ignorierte diese Tatsachen
und präsentierte ihren Lesern folgende Tabelle:
Land Gold Silber Bronze
1.Deutschland 129 130 101
2.SU/GUS/RUSL. 124 92 93
3. Norwegen 107 108 91
4. USA 87 96 72
5. Österreich 55 58 72
6. Kanada 53 46 48
7. Schweden 51 35 49
8. Schweiz 43 37 46
Da die DDR von allen soliden Olympia-Historikern akzeptiert wurde, ergab
sich tatsächlich eine etwas andere Tabelle der man allerdings nicht entnehmen
kann, dass „Deutschland“ an 20 Winterspielen - also an 90 Prozent der
Winterspiele teilgenommen hatte, während die DDR nur an 40 Prozent der
Spiele teilgenommen hatte, aber dabei ein Drittel aller Goldmedaillen erkämpft
hatte. Das errechnete ich nicht, um „Hurra DDR!“ zu jubeln oder „Zurück
zur DDR“ zu schreiben, sondern einzig und allein, um die Geschichte
der Olympischen Spiele zurechtzurücken und das auch im Interesse der Athleten,
die die Medaillen mühsam erkämpft haben und in der DDR gefeiert
wurden. Und so sähe die realistische Tabelle aus:
Land Gold Silber Bronze
1.SU/GUS/Russ. 124 92 93
2. Norwegen 107 108 91
3. USA 87 96 72
4.Deutschl. BRD 86 91 65
5. Österreich 55 58 72
6. Kanada 53 46 48
7. Schweden 51 35 49
8. DDR 43 39 36
KLAUS ULLRICH HUHN: Alle Favoriten, die auf der Normalschanze gescheitert
waren, hofften auf den Sonntagabend und die Großschanze. Die
Lösung, ungünstige Winde durch Punktzuschläge oder -abzüge auszugleichen
erwiesen sich auch diesmal als problematisch. Man hatte sich entschlossen,
den Anlauf zu verkürzen und setzte auf die Punkte. Das Resultat:
Wer einen günstigen Windhauch erwischt hatte, kehrte mit einer Medaille
heim, wer in die Windstille sprang fuhr ohne nach Hause. Das war zwar eine
etwas verallgemeinerte Feststellung, aber im Grunde die Wahrheit. Polens
Goldmedaillengewinner auf der Normalschanze Kamil Stoch - ein Weltklas44
sespringer der zweiten Reihe - segelte bei gutem Wind im ersten Durchgang
bis zur 139-m-Marke und hatte damit schon seine zweite Medaille fast in der
Tasche. Der Japaner Dakai Ito - eher ein Außenseiter - sprang nur zwei Meter
weniger, konnte sich Medaillenhoffnungen machen, hatte im zweiten Durchgang
keinen guten Wind, landete bei 124 m und wurde nur Neunter. Stoch
schaffte im zweiten Durchgang 132 m und die reichten für das zweite Gold,
wenn auch nur knapp, denn der „Veteran“ im Feld, der Japaner Noriaki Kasai
- 27 Jahre alt, als der Sieger geboren wurde - war nur 1,3 Punkte hinter ihm,
einen Windstoß also. Der beste Deutsche (Severin Freund) wurde Vierter, der
beste Norweger (Anders Fannemel) Fünfter, der beste Österreicher und erste
Topfavorit (Gregor Schlierenzauer) Siebenter.
19. FEBRUAR 2014
KLAUS HIRCHE: Als jemand, der früher oft interviewt wurde, möchte ich
noch einen Kommentar zum Thema Interviews mit Siegern und Verlierern
machen. Ich fand, dass sie auch bei diesen Olympischen Spielen oft an gewisse
Grenzen gerieten. Nachdem Frenzel knapp eine Staffelgoldmedaille
verpasst hatte, wurden ihm zum Beispiel vom Fernsehmoderator Fragen gestellt,
die mich fragen ließen, was er sich wohl dabei gedacht hatte. Ich habe
sie nicht protokolliert aber sicher bin ich, dass er ihn gefragt hatte, ob der Augenblick
des Triumphes bei Gold größer sei als bei einer Silbermedaille?
Frenzel - auch das war eine Medaille wert - antwortete ohne eine Sekunde zu
zaudern: „Jeder Augenblick da oben ist groß!“
Nächste Frage: Frenzel hatte bekanntlich mit einem letzten langen Schritt
verloren, den der Reporter einen Telemark nannte. „Da dürfte sich der Norweger
geärgert haben.“ Frenzel darauf: „Nein, der Österreicher!“
Ich könnte das endlos fortsetzen. Sollten nicht auch Reporter für Olympia
trainieren?
Das galt auch für manche Fragen nach der sensationellen russischen Eishockeyniederlage.
Es war eine nationale Katastrophe, und ich bin ziemlich sicher,
dass selbst der russische Trainer sie eine Stunde nach dem Spiel nicht
halbwegs schlüssig analysieren konnte. Das leichteste in solchen Situationen
ist immer, im Torwart den Schuldigen zu suchen, doch das ging diesmal
nicht. Wie oft habe ich erlebt, dass man mir vorwarf, in Sekundenbruchteilen
das Bein nicht weit genug gestreckt zu haben oder was mir sonst noch alles
vorgeworfen wurde. Ich werde mich hüten, dieser Weltklassemannschaft
Vorwürfe zu machen oder gute Ratschläge zu geben. In diesem Spiel waren
die Finnen besser, vielleicht auch nur glücklicher. Das reicht oft. Wer da Erklärungen
bei der Hand hat, ist ein Genie. Als der Trainer Biljaletdinow von
einem der Superklugen Journalisten gefragt wurde: „Welche Zukunft sehen
sie für sich. Ihr Vorgänger wurde nach dem olympischen Misserfolg in Vancouver
vor vier Jahren bei lebendigem Leib aufgefressen?“ antwortete er:
45
„Dann machen sie sich doch daran, mich aufzufressen! Dann ist die Frage
gelöst!“ Er hatte allerdings schon seine Flugkarte in der Tasche.
KLAUS ULLRICH HUHN: Gegen einen russischen Goldmedaillensieg im
Eiskunstlaufen durch Adelina Sotnikowa soll sogar Protest eingelegt worden
sein, weil angeblich die Südkoreanerin Kim Yuna eine bessere Kür gelaufen
sein soll. Vielleicht war das eine Art Wutanfall gegen die Eishockeyniederlage,
der Niederlagenärger geht oft seltsame Wege.
KLAUS HIRCHE: Verzichten wir auf weitere Kommentare. Ganz was anderes:
Auf einem Internet-Stapel lag ein Buch mit dem Titel „Luge“, also „Rodeln“
Es enthielt Tausende Zahlen und Tausende Namen und neugierig blätterte
ich darin. Es war das schon gedruckte und ins Internet gestellte Buch
über alle Rennschlittenwettbewerbe. Ich hatte im Leben schon viele Bücher
gesehen aber 72 Seiten Rennschlittenresultate noch nie. Dieses Buch verriet
bis zur dritten Stelle hinter dem Komma alles über alle Rennschlittenrennen.
Zum Beispiel: Die Goldmedaillengewinnerin Natalie Geisenberger - pardon: in
dem Buch GEISENBERGER, Natalie - hatte im ersten Lauf der Entscheidung
die erste Zeitschranke nach 3,907 s passiert, die Letzte, die Ukrainerin Olena
SHKHUMOVA nach 4,020 s. Im Ziel war sie immer noch die Letzte und ihr
Rückstand betrug 1,320 s zur Siegerin, im Ziel des vierten Laufs hatte sie
15,079 s verloren und blieb damit 31., also Letzte. Ich versuchte mir auszumalen,
was sich wohl zutragen mag, wenn sie nach Hause kommt und gefragt
wird, wievielte sie beim olympischen Fest geworden war? Aber dann
begann ich darüber nachzudenken, wie viel Mathematiker oder Buchbinder,
deren Name nie irgendwo auftauchen würde, an diesen Büchern gearbeitet
hatten, ohne je auf eine Medaille hoffen zu können, wohl nicht mal auf einen
Blumenstrauß. All diese Bücher gab es vor Jahrzehnten noch nicht, und die
auf dem letzten Rang gelandete Olena wird es vielleicht nie sehen wollen,
aber Olympia ist ohne die Starter, die Zwischenzeitnehmer, die Zielzeitnehmer
und die Buchbinder nicht denkbar. Man mault über die Kosten, aber wer
zahlt eigentlich die Rechner und Automatenbediener? Sie können nicht auf
Sponsoren hoffen. Aber würden die eines Olympiatages ihre Taschen packen
und nach Hause oder ins nächste Café gehen, bliebe Olympia stehen, so als
hätte jemand einen Schalter bedient.
Ich vergaß: Müssen wir in unseren Tagebüchern nicht wenigstens noch ein
Wort über Claudia Pechstein verlieren? Ein Wort des Respekts? Sie hat es
zweimal versucht und ist gescheitert. Sie will weitermachen. Das ist ihre Entscheidung!
Wie auch immer: Man drückt ihr die Daumen!
20. FEBRUAR 2014
KLAUS ULLRICH HUHN: Der andere Klaus hatte ja die nationale Katastrophe
der russischen Männer-Eishockey-Niederlage ausgiebig behandelt.
Nachtragen müsste man also noch, dass die den Puck treibenden Frauen
ähnlich Arges oder noch Ärgeres erlebt hatten.
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KLAUS HIRCHE: Das gehörte eigentlich schon in das Tagebuch des 15.
Februar aber vielleicht war es ganz nützlich etwas Gras drüber wachsen zu
lassen. Um 18.30 Uhr hatte der Brite Joy Tottmann die Partie angepfiffen und
nach gut zehn Minuten erzielte die Schweizerin Stefany Marty das 1:0. Von
nun an berannten die Russinnen das Schweizer Tor. Im zweiten Drittel standen
sie zweimal nur vier Schweizerinnen gegenüber und als auch das nichts
half, holten sie 85 Sekunden vor Schluss ihre Torhüterin vom Eis, um sechs
Angreiferinnen zur Verfügung zu haben. Eine Sekunde später erwischte die
Schweizerin Lara Stalder die Scheibe und drei Sekunden brauchte die bis ins
leere russische Tor.
Fünf Tage später entschieden Kanada und die USA die Frage nach dem
Olympischen Frauen-Gold. Es war ein hartes Spiel, dreimal Strafminuten für
Kanada, zweimal für die USA schon im ersten Drittel aber kein Tor. In der 31.
Minute brachte die kanadische Kapitänin Meghan Duggan ihre Mannschaft in
Führung. Zwei Minuten nach Beginn des letzten Drittels gingen die USAmerikanerinnen
2:0 in Führung und erst gut drei Minuten vor der Schlusssirene
fiel das Anschlusstor. 55 Sekunden vor dem Ende erzielte die wohl berühmteste
Kanadierin Marie-Philip Poulin den Ausgleich. Die Verlängerung
war erzwungen und Poulin schoss das goldene Tor.
Dann aus heiterem Himmel ein ganz anderes Thema: Doping. Wie meist in
solchen Situationen wabern Gerüchte und alle Offiziellen schweigen. Später
kam natürlich ans Licht, dass der Präsident des IOC, Bach, schon am Donnerstagabend
Vertrauten die Wahrheit mitgeteilt hatte: Evi Sachenbacher-
Stehle habe einen Schoko-Riegel geknabbert, in dem ein Dopinggift versteckt
gewesen war. Kein gutes Debüt für den neuen IOC-Präsidenten und ein leidenschaftsloser
Beweis mehr dafür, in welchen Gegenden der Welt gedopt
wird. Verzichten wir auf Himmelsrichtungen und Kommentare!
KLAUS ULLRICH HUHN: Wechseln wir lieber noch einmal dorthin, wo um
Medaillen gekämpft wurde. Auf einer Biathlon-Tribüne sah ich Norwegens
König seinen Athleten zuwinken und dem Biathleten Ole Einar Björndalen,
der mit seiner achten Goldmedaille nun der bei Olympia erfolgreichste Athlet
aller Zeiten ist, kräftig die Hand schütteln.
Nein, seinem deutschen „Kollegen“, dem Staatsoberhaupt Gauck konnte er
auf dieser Tribüne nicht begegnen. Zum einen, weil den deutschen Biathleten
kaum Hände zu schütteln waren, vor allem aber, weil er gar nicht nach Sotschi
gekommen war.
Er hatte auch Gründe dafür angegeben, die er allerdings durch den „Spiegel“
mitteilen ließ. Der hatte gemeldet: „Bundespräsident Joachim Gauck wird
nicht zu den Olympischen Winterspielen nach Sotschi reisen. Das teilte das
Bundespräsidialamt der russischen Regierung in der vergangenen Woche
mit. Die Absage ist nach Informationen des SPIEGEL als Kritik an den Menschenrechtsverletzungen
und der Drangsalierung der Opposition in Russland
zu verstehen. Die Olympischen Spiele und die Paralympics in London im
Sommer 2012 hatte Gauck besucht.“
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Nochmal: Gauck fuhr nicht nach Sotschi, teilte das aber weder dem Internationalen
Olympischen Komitee - Gastgeber der Spiele - noch den Veranstaltern
in Sotschi mit, sondern der russischen Regierung, und zwar durch den
„Spiegel“. Hat er das Magazin jetzt als Briefträger engagiert? Der Verein
„Sport und Gesellschaft e.V.“ ist nicht hinreichend kompetent, um diese Absage
beurteilen zu können und würde es - selbst wenn er anderer Meinung
wäre - nicht wagen sie zu kommentieren. Aber er darf natürlich seinen Lesern
mitteilen, dass der König von Norwegen dem deutschen Bundespräsidenten
bei Olympia nicht begegnen konnte. Punktum! Mag jeder denken, was er will!
Dann sah ich mir die Szene auf der Tribüne noch einmal an. Derlei ist ja heute
alles möglich. Den Mann kannte ich doch!
Ich hatte mit einem König verkehrt? Jawohl! Die Erinnerung kehrte zurück.
Ich hatte mal mit ihm telefoniert. Zu einer Zeit, zu der er noch Kronprinz von
Norwegen war. Das gehört zwar eigentlich nicht in das Tagebuch von Sotschi,
aber lesen sie es selbst, dann werden sie mir zustimmen, dass ich es
doch erwähnen sollte.
Jetzt hatte ich jede Szene vor Augen. 1966 hatten die Skiweltmeisterschaften
in Oslo stattgefunden, und wie damals üblich, hatte die Bundesregierung
von der norwegischen Regierung verlangt, der DDR-Mannschaft die Einreise
zu verweigern. Das schien - wie immer - zu funktionieren. Aber dann erfuhr
Kronprinz Harald davon und der hatte dem norwegischen Außenministerium
offensichtlich mehr zu sagen, als der bundesdeutsche Botschafter. Die Visa
wurden erteilt, die DDR startete in Oslo. Als die WM-Tage vorüber waren,
fuhren wir zum Flugplatz, wo uns eine Interflugmaschine abholen sollte.
Nachdem wir eine gute Stunde auf deren Landung gewartet hatten, teilte man
uns mit, dass man ihr die Landung untersagt hatte. Die Maschine hatte umkehren
und in Stockholm landen müssen. Wie sollten wir nach Stockholm
kommen? Ich fragte den und jenen, alle zuckten die Achseln. Ich versuchte,
Kronprinz Harald zu erreichen. Haben Sie schon mal versucht, einen Kronprinzen
von einem Münzfernsprecher aus zu erreichen? Die Mannschaft
musste ihre sämtlichen Münzen sammeln und nach einer Ewigkeit rief mich
jemand an ein Telefon und Kronprinz Harald war tatsächlich am anderen Ende.
Ich erklärte ihm die Lage. Er versprach mich wieder unter dieser Nummer
anzurufen. Es dauerte keine Viertelstunde, und er meldete sich. Er hatte einen
Ausweg gefunden. Ein grauer Bus fuhr vor, wir stiegen, von einem Uniformierten
eingewiesen, ein. Der Kronprinz hatte mir eingeschärft, keine Silbe
über die Affäre zu reden und schon gar nicht zu schreiben. Man würde uns
auf einen Militärflugplatz fahren und dort würde die Interflugmaschine landen,
denn dort hätten norwegische Offiziere das Kommando.
Wir rollten durch mehrere Stacheldrahtzäune bis vor die Gangway der Maschine.
Ich bat den Offizier mit vielen Sternen auf den Achselstücken dem
Kronprinzen unseren herzlichsten Dank zu sagen. Er versprach es.
Dann hob unsere Maschine ab.
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Ich hätte sonst was dafür gegeben, noch nach Sotschi fliegen zu können,
um vielleicht dem König doch noch unseren Dank zu sagen.
Gauck war nicht gekommen - der norwegische König und ich waren wieder
mal auf der gleichen Seite. Das wäre doch ein guter Schluss, dachte ich. Die
Abschlussfeier sehen Sie sowieso im Fernsehen.
OYMPISCHE EPISODEN 1908 - 2006
Der Gardelegener Rupert Kaiser schrieb den im Kasseler Agon-Verlag
erschienenen „Olympia-Almanach Winterspiele“, der die Winterspiele von
1908 bis 2006 umfasst, und präsentierte damit zweifellos die anerkannteste
„Enzyklopädie“ der Winterspiele. Er war so freundlich von uns ausgesuchte
Stichwort-Episoden in dieser Publikation zu veröffentlichen.
1908 - London
Nikolai Kolomenkin - ein großgewachsener, gutaussehender Mann - war
Angestellter der russischen Regierung in St. Petersburg. Tag für Tag ging er
ins Büro und verdiente sich seinen Lebensunterhalt. Nicht eben viel, aber es
reichte. Nebenher trieb er Sport, aber das mussten weder seine Vorgesetzten
noch seine Kollegen wissen. Es galt schon als nicht besonders schicklich,
überhaupt Sport zu treiben. Es sei denn, man war Fechter oder Reiter. Kolomenkin
aber lief Schlittschuh. Und weil er das auch noch ausgezeichnet tat,
hatte er bald ein Niveau erreicht, mit dem er auch gegen andere, berühmtere
Läufer durchaus etwas würde ausrichten können. Und dann würde es natürlich
schwerfallen, seine Leidenschaft geheim zu halten. So legte er sich kurzerhand
ein Pseudonym zu - Panin. Das schien ihm sicher, denn so sportinteressiert
waren Kollegen und Vorgesetzte nun auch wieder nicht.
Um zu starten, brauchte man Urlaub, und da es den nicht unbegrenzt gab,
musste Kolomenkin schon mit einiger List arbeiten.
Auch dabei kam ihm sein Deckname zustatten. Aber ob Pseudonym oder
nicht: International blieb er ein Unbekannter.
Um so größer war daher das Erstaunen der als unschlagbar geltenden
Schweden, als Panin zu Beginn der Saison 1908 die Skandinavier, allen voran
den großen Ulrich Salchow, weit hinter sich ließ. Kein Zweifel - da
stand ein Olympiasieger!
Denn für die Eiskunstläufer sollte es 1908 erstmals um olympische Ehren
gehen. Am 28. Oktober stand die Pflicht auf dem Programm, und da konnte
keiner dem Russen das Wasser reichen. Beim „Kringeldrehen“ zeigte er sich
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als akkuratester Läufer. Dennoch hatten drei Kampfrichter den Schweden
Salchow auf Rang 1 gesetzt, nur zwei hatten sich für den Russen entschieden.
Aus Wut über diese Unterbewertung trat Panin am nächsten Tag zur Kür
nicht mehr an.
Aber er hatte ja noch ein Eisen im Feuer: das „Spezialfigurenlaufen“. Hier
galt es, besonders schwierige Figuren zu zeichnen, sozusagen Bilder auf
dem Eis zu malen. Der Russe hatte äußerst komplizierte Konstruktionen bei
der Jury eingereicht. Hatten die Schweden nicht gemeldet, weil sie einen totalen
Einbruch fürchteten? Panin wusste es nicht. Er zeichnete seine Figuren
- und wurde erster russischer Olympiasieger. Olympiasieger unter falschem
Namen...
Lange Zeit waren Panin und seine Geschichte vergessen. Das Spezialfigurenlaufen
hatte sich als olympische Eintagsfliege erwiesen. Der Wettbewerb
und sein Sieger gingen bestenfalls als Fußnote in die Olympiabücher ein.
Und doch gab es ein Happy End. Das bestand nicht nur darin, dass dem
Russen Jahrzehnte nach seinem Olympiasieg das Pseudonym als richtiger
Name zuerkannt wurde. Auch Panins Rat war gefragt, galt es doch Anfang
der fünfziger Jahre, im damaligen Leningrad eine Eiskunstlaufschule aufzubauen,
von der eines Tages die Welt sprechen sollte. Und wenn Nikolai Panin
die großen Triumphe seiner Schule auch nicht mehr erleben konnte: Er
galt - und gilt - als ihr Vater...
1920 – Antwerpen
Eishockey ist in Kanada eine Art Weltanschauung, und das nicht erst seit
heute. Und wenn es, als die Weltturniere laufen lernten, galt, eine Nationalmannschaft
zusammenzustellen, bewarben sich Klubteams, von denen das
Beste der Einfachheit halber auch gleich als Ländervertretung deklariert wurde.
1920 fand die Auswahlkonkurrenz für das erste Olympiaturnier, das auch
als erste Weltmeisterschaft galt, in Toronto statt. Zu den Außenseitern unter
den vielen Bewerbern um die kanadische Meisterschaft und die Olympiafahrkarte
gehörte auch das Team der „Winnipeg Falcons“. Favoriten waren die
Boys der Universitätsmannschaft von Toronto, die ohne Mühe ins Finale kamen.
Ihre Endspielgegner aber waren eben jene „Winnipeg Falcons“. War allein
das schon eine Sensation, kam es schließlich noch dicker - die Studenten
aus Toronto sahen gegen die „Falken“ keinen Stich.
Der Außenseiter wurde Meister und erkämpfte sich die Olympiateilnahme.
Weil aber keiner der „Winnipeg Falcons“ damit gerechnet hatte, waren sie
wie die Friseure nach Toronto gereist. Das nun wäre gar nicht so schlimm
gewesen, wenn nicht die Reise nach Belgien zu den Olympischen Spielen
schon am nächsten Morgen losgegangen wäre. Zwischen Toronto und Winnipeg
liegen 1.800 Kilometer Luftlinie, an eine Heimfahrt war also nicht zu
denken. So wurden kurzerhand Zahlungswillige gesucht, die dem Eisho50
ckeyteam billige Kleidung und Geld für die Überfahrt spendieren sollten. Obwohl
die Kanadier ein eishockeybegeistertes Volk sind, war das ein schwieriges
Unterfangen. Und die Jungs bedankten sich auf ihre Weise für die Spenden:
Mit dem ersten Olympiasieg in der Geschichte des Eishockeys.
1924 - Chamonix
Die elfjährige Sonja Henie (NOR) erregt Aufsehen - nachdem sie kurz nach
Beginn ihrer Kür stürzt, sagt sie nur „Hoppla!“, beginnt noch einmal und läuft
ihren Vortrag so schnell, dass trotzdem noch Musik für zwei Minuten übrigbleibt;
die später berühmteste Kunstläuferin ihrer Zeit beendet den ersten
Olympiaauftritt als Achte und Letzte.
Auf seiner 109. Session, 2006 in Turin, fasst das IOC den für die Geschichte
der Olympischen Winterspiele bedeutsamen Beschluss, den Vorführungswettbewerb
im Curling der 1. Olympischen Winterspiele Chamonix 1924 in
den Rang einer offiziellen Konkurrenz zu erheben.
Diesen hatte der Curling-Wettbewerb wahrscheinlich 1924 bereits inne, verlor
ihn jedoch im Zuge der nachträglichen, erst 1926 erfolgte die Anerkennung
der Wintersportwoche 1924 als 1. Olympische Winterspiele.
Am Wettbewerb nehmen drei Mannschaften teil, die in einer Turnierrunde
gegeneinander spielen, wobei die britische Mannschaft in den Schweden und
den Franzosen keine Konkurrenz findet.
Damit werden nachträglich eine Goldmedaille der Winterspiele 1924 an
Großbritannien, eine Silbermedaille an Schweden und eine Bronzemedaille
an Frankreich vergeben.
1928 - St. Moritz
Gillis Grafström (Schweden) ist einziger Kunstlaufolympionike mit vier Medaillen,
damit erfolgreichster Vertreter der Sportart bei den Spielen. Repräsentierte
in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren den schon überholten
orthodoxen Stil der schwedischen Schule, bereicherte ihn aber um neue
Elemente. Berühmt für Eleganz und Musikalität auf dem Eis. 1920 siegte
Grafström, nachdem ihm im Antwerpener Training eine Kufe gebrochen ist,
mit altmodischen Schlittschuhen, die er in einem Gebrauchtwarenladen erworben
hatte.
1932 - Lake Placid
In Europa unbekannter Eisschnelllauf-Rudelstart mit Vor- und Endläufen (je
fünf bis neun Starter) bootet favorisierte Skandinavier aus; finnische Athleten
um Seriensieger Thunberg boykottieren die Spiele wegen unsportlichen Reglements.
Lediglich Siegerzeiten - Rudelstart, taktische Geplänkel und weiches
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Eis lassen kaum Rekorde zu - werden gemessen, weitere Klassierungen
nach Augenmaß vorgenommen. Nordamerikaner aus USA und Kanada gewinnen
zehn der zwölf Medaillen; USA-Männer Shea (als Sohn der Olympiastadt
besonders stürmisch gefeiert) und Jaffee teilen sich vier Goldmedaillen;
nur zweimal Silber für Norwegen. Übrigens: Bei den drei Wochen später an
gleicher Stelle stattfindenden Weltmeisterschaften (mit Zweierstart!) können
USA-Läufer und Kanadier Erfolge der Spiele nicht bestätigen; alle Medaillen
gehen an Norweger.
1936 – Garmisch-Partenkirchen
Zum ersten Mal kamen die Türken zu Olympischen Winterspielen. Sechs
Skiläufer waren ausgezogen, entsprechend dem Motto Coubertins, wonach
nicht der Sieg, sondern die Teilnahme zählt, unter den fünf Ringen anzutreten.
Dass einer von ihnen als Rekordhalter in die olympischen Annalen eingehen
würde, daran dachten sie wohl nicht im Traum, als sie zur Eröffnung
ins Stadion von Garmisch-Partenkirchen einmarschierten...
7. Februar 1936: Am Gudiberg ging der Abfahrtslauf der Herren über die
Piste. „Tag des Herren“ auch für die Türken, die erwartungsgemäß hinterher
fuhren. Birger Ruud, der norwegische Wagehals, war die 3.300 m in 4:47,4
Minuten „heruntergekachelt“, aber Resat Erces wurde nicht weniger bestaunt.
Der nämlich war nach 22:44,4 Minuten ins Ziel gekommen und 8:14 Minuten
hinter dem Vorletzten, seinem Landsmann Mahmut Sevket, geblieben. Damit
hatte er einen „ewigen Olympiarekord“ aufgestellt: den für die schlechteste
Zeit eines Abfahrtsläufers bei Olympia überhaupt...
Den zweiten „Rekord“ holte sich Erces drei Tage später. Als Startmann der
türkischen 4x10-km-Staffel (Hut ab vor solcher Vielseitigkeit!) verlor er sofort
viel Boden und benötigte für die zehn Kilometer mehr als anderthalb Stunden;
auch das hat kein Langläufer nach ihm mehr geschafft. Doch Erces hatte sich
umsonst gemüht (Hut ab vor so großer Ausdauer!), denn seine Staffel war
schon aus dem Rennen, als Resat Erces ins Ziel kam.
Schlussmann Mahmut Sevket - auch ihn kennen wir vom Abfahrtslauf - hatte
sich beim Einlaufen verletzt...
1948 - St. Moritz
Der Italiener Bibbia schlug als „einfacher“ Gemüsehändler, aber exzellenter
Kenner der Skeletonbahn „Cresta Run“ die Millionäre und erkämpfte die erste
Wintersportgoldmedaille für Italien. Nach dem ersten Renntag noch Dritter,
holte Bibbia am zweiten Tag, an dem die Bahn dreimal in voller Länge durchfahren
werden musste, auf und gewann nach Bestzeit in allen drei Läufen mit
1,4 s Vorsprung. Tausendsassa Bibbia wollte ursprünglich in fünf Sportarten
(Alpiner und Nordischer Skisport, Eishockey, Bob und Skeleton) an den Start
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gehen, wo er zur italienischen Spitze zählte und durchaus olympisches Niveau
repräsentierte. Wegen des engen Zeitplans musste es der Italiener aber
mit der Teilnahme in den Bobrennen (8. im Zweier, 6. im Vierer) und im Skeletonwettbewerb
bewenden lassen.
1952 - Oslo
Negativrekord: Griechische Herren langsamste olympische Alpinis aller Zeiten
- Miliordos stürzt im 1. Slalomdurchgang (422,5 m) 18mal, stolpert vor der
Ziellinie und kugelt sich ins Ziel, mit 2:26,9 Minuten ist der Grieche in einem
Lauf 26,9 s langsamer als Sieger Schneider (AUT) in zwei Durchgängen;
Vouxinos beendet Abfahrt nach 6:10,8 Minuten (4:40,0 Min. Rückstand auf
Sieger Colo - ITA).
1956 - Cortina d`Ampezzo
Etwas Besonderes hatten sich die italienischen Organisatoren für die Eröffnungszeremonie
der Spiele ausgedacht. Der berühmte Alpine Rennläufer
Zeno Colo war ausersehen worden, das olympische Feuer von der 2.100 m
hoch gelegenen Bergstation des Duca d‘Acosta in rasender Fahrt zu Tal und
vor die Tore des Eisstadions zu bringen. Hier sollte der Olympiasieger die
Fackel an den Eisschnellläufer Guido Caroli übergeben. Der war zwar weniger
erfolgverwöhnt als Colo, aber ein glänzender Stilist.
Die Sache wurde wieder und wieder geprobt, aber so oft Colo das Tal erreichte,
so oft hatte der Fahrtwind das Feuer ausgeblasen. Auf Caroli dagegen
war Verlass. Mit unnachahmlicher Grazie trug er die Fackel um die Bahn.
Auf die Idee mit dem abfahrenden Fackelläufer wollte man nicht verzichten.
Konnte es ja auch gar nicht, denn wie sollte das Feuer aus seiner luftigen
Höhe zu Tal kommen?! Man hätte schon das Programm umbauen müssen.
Nach endlosen Grübeleien kam man auf das Nächstliegende - vor dem Stadion
hielt man einfach eine Reservefackel für Zeno Colo bereit...
Der ersehnte Tag kam heran. Colo brauste zu Tal, und siehe da - die Fackel
verlöschte nicht. Das Stadiontor war erreicht. Colo übergab das Feuer, Caroli
lief los, hob die Flamme vor der Präsidentenloge zum Gruß - und stürzte just
über das Mikrofonkabel, das bei den Proben nie dort gelegen hatte...
(Eine alte Theaterweisheit besagt, dass die Premiere gut läuft, wenn die
Generalprobe in die Hose geht.)
1960 - Lake Placid
Die UdSSR, bleibt mit 21 Medaillen (7/5/9) noch über dem sensationellen
Ergebnis von 1956. Die Gemeinsame deutsche Mannschaft, die erstmals unter
der gegen einen Beschluss der Bundesregierung neu entwickelten Olym53
piaflagge (schwarz-rot-gold mit weißen olympischen Ringen) antritt, muss
noch vor dem Beginn der Spiele unendliche Querelen überstehen - zahlreiche
Trainer der DDR-Aktiven und sämtliche Journalisten erhalten nach einer
weiteren Intervention der Bundesregierung keine Einreisegenehmigung.
Dennoch tragen die Aktiven aus „Deutschland-Ost“ mit zwei Gold- und einer
Silbermedaille zum bisher erfolgreichsten Auftritt deutscher Winterolympioniken
bei. Die Eisschnelllaufolympiasiegerin Helga Haase wurde von ihrem
Trainer, dem die Einreise in die USA verweigert worden war, vor dem Start
telefonisch „betreut“.
1964 - Innsbruck
Die olympische Story – „Wenn man den Sohn siegen sieht...“
Die ersten vollelektronischen Winterspiele machten es möglich - in aller Herren
Länder, auf allen Kontinenten konnte man das Geschehen in Innsbruck
hautnah miterleben. Doch für kaum jemanden dürfte das Erlebnis größer und
ergreifender gewesen sein als für die alte Frau Mäntyranta in einem Bauernhaus
in Pello, hoch oben in den Wäldern Lapplands. Sie hatte schon viel gehört
von diesem Zauberkasten, mit dem man die Welt in die Stube holen
kann. Aber selbst in die Röhre gesehen hatte sie noch nie - bis zu diesem
Tag, dem 30. Januar 1964. Da nämlich brachten Freunde einen Fernseher
ins Haus der alten Frau und sagten nur: „Schau Dir Deinen Sohn an - der
siegt.“ Ob das erste Erlebnis Fernsehen für sie von Zeit zu Zeit durch einen
Tränenschleier gestört wurde?!
1968 - Grenoble
Spezialslalom - immer am Rand des Skandalösen - erstmals 100 Teilnehmer
in olympischer Wintersportdisziplin, dadurch wieder Qualifikationsläufe
erforderlich; Läuferstreik gegen 2. Qualifikation, doch Nebel verhindert sie
auch so. Final-Wettbewerb trotz dichten Nebels gestartet, um Zuschauer
nicht zu verärgern. Killy (FRA) erwischt einzigen sonnigen Moment des 1.
Durchgangs und führt „programmgemäß“, wird aber im zweiten Lauf von
Mjoen (NOR) übertroffen, jedoch wird der Norweger wegen Auslassens zweier
Tore disqualifiziert, so dass Killy zwischenzeitlich wieder auf Rang 1 rückt;
inzwischen wird einem Protest von Schranz (AUT) wegen Behinderung durch
einen Streckenposten stattgegeben; der Österreicher darf seinen Lauf wiederholen,
fährt absolute Bestzeit und liegt nun vor Killy; Filmaufnahmen belegen
aber, dass Schranz schon vor dem Zwischenfall mit dem Streckenposten
ein Tor ausgelassen haben soll; nach fünfstündiger Beratung entscheidet die
Jury mit 3:2 Stimmen, den zweiten Lauf des Österreichers nicht zu werten
und Schranz wegen Torfehlers zu disqualifizieren - Killy wird, 0,09 s vor Huber
(AUT), umstrittener Olympiasieger...
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1972 - Sapporo
Berühmte Ski-Dynastie: Aus der spanischen Familie Fernandez Ochoa sind
fünf der neun Geschwister bei Olympia im Alpinen Rennsport dabei - Francisco
(1968-1980), Juan Manuel (1976), Blanca (1980-1992), Luis (1984),
Dolores (1984): dieses massierte Auftreten ist Rekord bei Winterspielen.
1976 - Innsbruck
Raissa Smetanina (UdSSR) - Eine der berühmtesten Athletinnen der olympischen
Wintersportgeschichte. 1992, als die fast Vierzigjährige mit der GUSStaffel
noch einmal Olympiasiegerin wurde, übertraf Raissa Smetanina den
Medaillenrekord von Sixten Jernberg (SWE; 9 Olympiamedaillen zwischen
1956 und 1964) und ist damit die Frau mit den meisten Medaillen bei Olympischen
Winterspielen. Zehnmal stand Smetanina zwischen 1976 und 1992 auf
dem Podest (4/5/1). Bei fünf Olympischen Winterspielen nahm sie an 15 der
insgesamt ausgeschriebenen 19 Wettbewerbe teil und kam bei allen Olympiaauftritten
zu mindestens einer Medaille. Smetanina hält zahlreiche olympische
„Rekorde“ im Winter - meiste Medaillen (10), meiste Silbermedaillen (5),
meiste Olympiateilnahmen mit mehrfachen Medaillengewinnen (4), größte
Zeitspanne zwischen Goldmedaillengewinnen (16 Jahre), größte Zeitspanne
für eine Frau zwischen erster und letzter Medaille (16 Jahre). Sie ist mit 39
Jahren und 354 Tagen die älteste Olympiasiegerin bei Winterspielen.
1980 - Lake Placid
Nordische Kombination: Wehling (GDR) zum dritten Mal Olympiasieger,
damit legendärer Norweger Gröttumsbraten (1924 3., 1928/32 1.) übertroffen;
Grundstein zum Gold mit Sieg im Kombinationsspringen gelegt, Rang 9 in der
Loipe zur Titelverteidigung ausreichend - allerdings nur mit 2,7 Punkten Vorsprung
vor schnellstem Läufer Karjalainen (FIN) 7. nach Springen); seltene
Serien - vierter deutscher Olympiasieg in Folge, zum dritten Mal Gold und
Bronze für DDR-Kombinierer.
1984 - Sarajewo
Riesenslalom: Teilnehmerfeld durchbricht mit 108 Startern zum ersten Mal
bei Winterspielen Hunderter-„Schallmauer“, doch nur 76 kommen bei auf einen
Tag zusammengedrängtem Wettbewerb durch beide Läufe. Unerwarteter
Sieg für Julen (SUI / 1. Durchgang 1., 2. Durchgang 2.). Franko (YUG) „Mann
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des Tages“ - von Rang 4 noch auf Silberplatz vorgefahren und Andreas
Wenzel (LIE) sowie Grober (AUT) auf Platz 3 und 4 verwiesen.
1988 - Calgary
Katarina Witt setzte mit ihren olympischen Kürvorträgen neue Maßstäbe in
ihrer seinerzeit stagnierenden Sportart und leistete Entscheidendes bei der
Rückkehr vom Eissprunglauf zum Eiskunstlauf. Mit ihren von der Musik über
die Choreographie bis zu Kostüm und Make-up durchkomponierten Vorträgen
erzählte „die Witt“ Geschichten auf dem Eis. Ihre „Carmen“-Interpretation von
Calgary gehört zu den Sternstunden der olympischen Kunstlaufhistorie, wenn
es auch nicht die beste Kür jenes großen Abends war. Der Schützling von Erfolgstrainerin
Jutta Müller, die mit ihrer Tochter Gabriele Seyfert (2. / 1968),
Jan Hoffmann (2. / 1980) und Anett Pötzsch (1. / 1980) weitere drei Sportler
zu Olympiamedaillen führte, konnte aber damit als erste Frau seit Sonja Henie
(NOR / 1928-36) den Olympiasieg wiederholen, war allerdings neben der
Norwegerin auch die Einzige, die sich dieser Herausforderung stellte. Auch
bei den ersten für Eiskunstlauf-Profis offenen Winterspielen von 1994 am
Start, wo sie mit ihrer dem brennenden Sarajevo gewidmeten Interpretation
des Marlene-Dietrich-Chansons „Sag mir, wo die Blumen sind“ einen der
großen Höhepunkte der Winterspiele setzte.
1992 - Albertville
Premierenwettbewerb im olympischen Frauenbiathlon. Lovece (ARG) erste
Starterin überhaupt, aber mit neun von zehn Strafrunden schlechteste Schützin
und Letzte des Gesamtklassements. „Umsteigerin“ Reszowa (EUN / 1988
Siegerin mit der 4x5-km-Staffel und Zweite über 20 km) spielt läuferische
Stärke voll aus, wird trotz drei Strafrunden (schwächstes Ergebnis der besten
Acht) souverän Olympiasiegerin und ist die einzige Person, die bei Winterspielen
in zwei Sportarten Gold gewinnt.
1994 - Lillehammer
Spezialsprungläufe: Wettbewerbe voller Spannung und Dramatik. Deutsche
Springer überragend - drei Medaillen, davon zweimal Gold, Novität - Weißflog
(GER) nach zehnjähriger Flaute wieder Olympiasieger; Norweger am Ende
doch noch siegreich; Österreicher noch im Medaillenbereich; Finnen gehen
zum ersten Mal seit 1976 leer aus.
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1998 - Nagano
Zum ersten Mal ist ein Schwarzafrikaner beim Eröffnungszeremoniell Olympischer
Winterspiele dabei. Sein Name: Philip Kimely Boit. Sein Land: Kenia.
Seine Disziplin: Skilanglauf. Er ist der Erste. Allein das macht Schlagzeilen,
allein das bringt ihn ins Rampenlicht der Medien. Ein Onkel hatte 1972 aus
München die Bronzemedaille im 800 m-Lauf nach Kenia gebracht. Nun ist er
der Erste. Und er ist voller Ehrgeiz. Er wird nicht müde, den Journalisten zu
versichern, dass er in zwei, drei Jahren Medaillen auf den Langlaufloipen gewinnen
würde, wenn er sich technisch erst verbessert hätte. (Zur Erinnerung:
1960 in Rom lächelte man über den Äthiopier Abebe Bikila, der barfuß auf die
Marathonstrecke gegangen war. Man lächelte, bis eben jener Barfußläufer
den klassischen Lauf gewonnen hatte und man sich umständlich seine Daten
besorgen musste.)
Die ersten Schlagzeilen, die Philip Boit macht, sind freilich andere: Beim
Training verläuft sich der Kenia-Mann; erst nach Stunden meldet er sich zurück
und klagt, dass die Wegweiser zu klein seien. Aber er versichert auch,
im Wettkampf würde es besser gehen...
12. Februar 1998: 10 km-Langlauf der Herren. Mit Startnummer 97 geht Philip
Kimely Boit ins Rennen. Man hat den ersten Schwarzafrikaner in einem
olympischen Wintersportwettbewerb vorsorglich ans Ende des Feldes gesetzt.
Zehn Minuten nach dem Keniaten gehen die Schlussmänner auf die
Strecke, die das Ende des Wettbewerbs anzeigen und die Streckenposten
heimschicken. Sie haben das Pech, nie etwas vom Kampf um die Medaillen
mitzukriegen, ja, sie bekommen die Läufer nicht einmal zu Gesicht. Bis heute,
denn schon bald haben sie den Keniaten eingeholt. Die „Nachläufer“ haben
Mühe, ihr Tempo so zu drosseln, dass sie hinter Boit bleiben. So schreibt es
die Regel vor, um zu verhindern, dass der Läufer den Windschatten anderer
nutzen kann. So werden die Offiziellen wohl auch hin und wieder versucht
haben, den Exoten zum Aufgeben zu bewegen, vielleicht auch um ihrer
selbst willen, denn inzwischen hat es zu regnen angefangen... Der aber denkt
nicht daran, aufzugeben. Kilometer um Kilometer schlurft Boit durch den Winterwald,
er ist so schnell wie noch nie, er fühlt sich so gut wie noch nie. Und
er schafft es; als 92. hat er das Stadion verlassen, als 92. kommt er auch
wieder zurück - 20 Minuten hinter dem Sieger, 8 Minuten hinter dem Vorletzten.
Am Ziel traut Philip seinen Augen nicht - da steht Björn Daehlie, da steht
der König der Skiläufer, lächelt ihm zu und nimmt ihn in den Arm. Lohnt es
sich nicht, dafür durchgehalten zu haben?
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2002 - Salt Lake City
Frauen-Biathlon, 7,5 km: Bei guten Bedingungen steht die Entscheidung im
Zeichen der deutschen Damen. Wilhelm, mit roten Haaren, roter Mütze und
roten Socken, und Disl läuferisch absolut gleichwertig, so dass der Wettbewerb
im Schießen entschieden wird - hier macht Disl wie 1998 beim letzten
Schuss den Fehler, der sie um Gold bringt; am Ende fehlen ihr 15,6 s auf
Wilhelm, die fehlerfrei bleibt. Erneut Bronze für Forsberg (SWE), die sich auf
dem letzten Kilometer steigert und Poiree (NOR) um 3,7 s auf Rang 4 verweist.
2006 -Turin
Mit der Einführung des Boardercross haben die Snowboard-Konkurrenzen
ihren Stellenwert als spektakulärste Sportart im Programm Olympischer Winterspiele
noch weiter erhöht. Vor ausverkauftem Haus dominieren bei Volksfestatmosphäre
erwartungsgemäß die Snowboarder aus den USA und der
Schweiz, allerdings werden die olympischen Sportstätten, verglichen mit denen
der Weltcup-Wettbewerbe, zwar als erstklassig, aber auch als zu leicht
betrachtet, obwohl sie die bisher schwierigsten Anlagen bei Olympia darstellen.
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INHALTSVERZEICHNIS
SOTSCHI-TAGEBÜCHER Seite 3
KLAUS HIRCHE/KLAUS ULLRICH HUHN
OLYMPISCHE-EPISODEN 1908 – 2010 Seite 49
RUPERT KAISER
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UNSER VEREIN LÄSST SICH IN SEINER TÄTIGKEIT VON DEN
OLYMPISCHEN PRINZIPIEN LEITEN UND TRITT FÜR
HUMANITÄT UND DEMOKRATIE IM AKTUELLEN NATIONALEN
UND INTERNATIONALEN SPORTGESCHEHEN EIN: WIR UNTERSTÜTZEN
ALLE BESTREBUNGEN ZUR VERWIRKLICHUNG
DES RECHTS AUF AUSÜBUNG DES SPORTS IN DER
LEBENSGESTALTUNG DER INDIVIDUEN UND SIND DEN
DEMOKRATISCHEN WIE ALLEN FORTSCHRITTLI CHEN
TRADITIONEN DER DEUTSCHEN KÖRPERKULTUR UND DES
WELTSPORTS VERPFLICHTET. WIR SIND UNABHÄNGIG: WER
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MITGLIED WERDEN WILL SOLLTE EINEN ANTRAG STELLEN
AN:
Sport und Gesellschaft e.V.
Hasso Hettrich
Triftstr. 34
15370 Petershagen

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ZU DEN
ANFÄNGEN
UND ZUR
GRÜNDUNG
DES DTSB
SPORT UND GESELLSCHAFT e.V.
Heft 43
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VEREIN SPORT UND GESELLSCHAFT e. V.
Hasso Hettrich
Triftstr. 34 – 15370 Petershagen
(Auch Bestelladresse)
Unkostenbeitrag 3,50 €
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GESCHICHTE
ERFOLGE DES DDR-SPORTS
EINE BILANZ
Von HELMUT HORATSCHKE
Zwischen den Trümmern des Zweiten Weltkrieges, nach drei schweren Nachkriegsjahren mit überlebenden und neu hinzustoßenden Sportenthusiasten eine neue, demokratische Sportbewegung zu schaffen, war ein mutiges Unterfangen und die Ergebnisse, vor allem aber die sportlichen Leistungen nicht vorhersehbar.
Einig war man sich, dass es Sport für alle, ohne ausgrenzende finanzielle Barrieren sein soll, dass es eine Wechselwirkung zwischen Breitensport und Leistungsstreben geben muss und dass sportliches Talent Anspruch auf Förderung durch die Gesellschaft haben soll.
Am Anfang galt es zunächst Übungs- und
Trainingsmöglichkeiten wieder nutzbar zu machen oder zu schaffen, Wettkämpfe und Meisterschaften zu organisieren und die besten Sportlerinnen und Sportler in Auswahlmannschaften zusammenzufassen. Dann 1951–1953 waren
Leistungsschwerpunkte in den Betriebssportgemeinschaften mit den ersten vollbeschäftigten Trainern aufzubauen. Als nächster Schritt folgte 1954-1956 die Gründung ausschließlich leistungsorientiert arbeitender Sportclubs (SC), danach die Einrichtung von Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) mit Zuordnung zu den jeweiligen SC und schließlich - in den 60er Jahren beginnend - der Ausbau einer breiten Nachwuchsbasis in Gestalt der Trainingszentren (TZ) für Kinder und Jugendliche verbunden mit einer zunehmend wissenschaftlich fundierten Auswahl sportlicher Talente.
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Zu nennen ist außerdem der Aufbau von Strukturen zur sportwissenschaftlichen und sportmedizinischen Erforschung und Begleitung des Trainings in allen Altersstufen, kombiniert mit einer anerkannt qualifizierten Hochschulausbildung für Trainer.
Der Leistungssport der DDR wurde zudem in seiner Wirkungsweise ständig perfektioniert. Rückschauend kann man zugleich feststellen, dass jeder wesentliche Schritt in der Regel nach 8-10 Jahren einen nachweisbaren Schub an sportlichem Leistungsvermögen nach sich gezogen hat. Ebenso nachweisbar ist, dass ein leistungsfähiges System – wird es zerstört – auch noch acht bis zehn Jahre nachwirken kann. Unterstützt durch die Vorbildwirkung bekannter Sportler, vor allem unter der Jugend, gewann die Sportbewegung zunehmend an Breite, weit über die Zahl der eingetragenen Mitglieder hinaus.
Die internationale Erfolgsbilanz des DDR-Sports eröffnete 1955 der Kegelsportler Eberhard Luther. Er gewann den ersten Weltmeistertitel. Maßstäbe setzte in dieser Anfangsperiode auch die Schwimmerin Jutta Langenau.
1956 folgte die erste olympische Bronzemedaille durch Harry Glaß im Skispringen und noch im gleichen Jahr die erste olympische Goldmedaille durch Wolfgang Behrendt im Boxsport. Mit insgesamt 1 Gold-, 4 Silber- und 3 Bronzemedaillen ein achtbares Ergebnis, das in der olympischen Medaillenbilanz zu Platz 12 im Wintersport und Platz 18 im Sommersport reichte.
Eine Steigerung von 8 auf 22 Medaillen brachten die olympischen Spiele 1960 in Squaw Valley und Rom, darunter 4 Siege in Einzeldisziplinen und ein Sieg in der gemeinsamen deutschen Kanustaffel. In der Medaillenwertung waren das die Plätze 8 im Wintersport und 10 im Sommersport.
Bis 1960 wurden außerdem bereits 46 Weltmeistertitel, davon 7 in olympischen Disziplinen, für den DDR-Sport errungen. Stellvertretend für eine nun wachsende Zahl erfolgreicher Sportler dieser Periode seien genannt: Helga Haase (Eisschnelllauf), Helmut
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Recknagel (Skispringen), Ingrid Krämer (Kunst- und Turmspringen), Gustav-Adolf (Täve)
Schur (Radsport / Straße) und Hans Grodotzki (Leichtathletik). Die Olympischen Spiele 1964 in Innsbruck und Tokio erbrachten im Wesentlichen ein ähnliches Ergebnis wie 1960. 1968 begann das Zusammenwirken von Sportclub und KJS Früchte zu tragen. Insgesamt 25 Medaillen bei den Olympischen Winter- und Sommerspielen ließen den DDR-Sport – in Mexiko erstmalig mit einer selbständigen Mannschaft am Start – auf Rang 5 der Sommerspiele vorrücken.
Die volle Schubwirkung des Systems Sportclub – KJS kam 1972 bei den Olympischen Spielen in Sapporo und München zur Geltung. Mit 4 Gold-, 3 Silber- und 7 Bronzemedaillen bei den Winterspielen sowie Platz 2 in der Länderwertung und 20 Gold-, 23 Silber- und 23 Bronzemedaillen bei den Sommerspielen sowie Platz 3 in der Länderwertung wurde 1968 eine Steigerung von 30 auf 80 Medaillen erreicht. Von den erfolgreichen Sportlern dieses Zeitabschnitts sind besonders Roland Matthes (Schwimmen), die Ruderer aus dem Dresdener R4o mit Frank Forberger als Schlagmann, Karin Janz und Klaus Köste (Turnen), Renate Stecher und Ruth Fuchs (Leichtathletik) zu nennen.
Vier Jahre später, in Innsbruck und Montreal, bestimmten erstmalig die Sportler das Profil der Olympiamannschaften, die von der Talentauswahl über alle Stufen der Förderung herangewachsen waren. 7 Gold-, 5 Silber- und 7 Bronzemedaillen und Rang 2 im Wintersport sowie 40 Gold-, 25 Silber- und 25 Bronzemedaillen im Sommersport, verbunden mit einem sensationellen 2. Rang vor den USA in der Länderwertung, belegen eine qualitativ neue Stufe des langfristigen Aufbaus von sportlichen Spitzenleistungen. Dieses Niveau hatte bis zu den olympischen Spielen in Calgary und Seoul Bestand. Es wirkte auch noch in den 90er Jahren, allerdings mit deutlich fallender Tendenz.
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Trotz großer Anstrengungen und anerkennenswert hohen Leistungen gelang es dem Sport der Alt-BRD seit den Olympischen Sommerspielen in Mexiko nicht mehr, sich vor der DDR-Mannschaft zu platzieren. Seit Montreal teilte man dieses Schicksal mit den USA-Mannschaften.
Aus der großen Anzahl erfolgreicher Sportlerinnen und Sportler seien hier genannt: Ulrich Wehling und Jens Weißflog (nordischer Skisport), Meinhard Nehmer, Bernhard Germeshausen und Wolfgang Hoppe (Bobsport), Karin Enke (Eisschnelllauf), Marita Koch und Waldemar Cierpinski (Leichtathletik), Birgit Fischer und Rüdiger Helm (Kanurennsport), die Gebrüder Landvoigt (Rudern), Hans Rinn (Schlittensport), Jochen Schümann und seine Mannschaft (Segeln), Lutz Heßlich und der Straßenvierer (Radsport), Kristin Otto (Schwimmen), Frank Ullrich und Frank-Peter Roetsch (Biathlon), Katarina Witt (Eiskunstlauf).
Die einstigen DDR-Sportler dominierten bis Lillehammer und Atlanta auch die nunmehr gesamtdeutsche Medaillenbilanz.
Von 1956 bis 1988 erzielten DDR-Sportler bei 9 Winter- und 8 Sommerspielen 203 Olympiasiege, 192 Silber- und 177 Bronzemedaillen, insgesamt 572 Medaillen.
Bei Weltmeisterschaften der Jahre 1953 bis 1990 gingen 708 Titel, 616 Silber- und 592 Bronzemedaillen an die Mannschaften der DDR-Sportverbände, davon 41 Prozent aller Medaillen in nichtolympischen Sportarten und Disziplinen. Die erfolgreichsten Sportarten waren:
Rudern (33 Olympiasiege und ab 1966 bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen 25 Jahre Rang 1 in der Länderwertung), Schlittensport, Bobsport, Kanurennsport, Radsport, Biathlon. Danach folgen Schwimmen, Leichtathletik und Eisschnelllauf.
Im nichtolympischen Bereich ragen die Erfolge im Turnierangeln, Kanuslalom und Wildwasserfahren (Kanuslalom 1972 auch olympisch) und im Kegelsport besonders heraus. Dreieinhalb
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Jahrzehnte nach den ersten Schritten kennzeichnet die Bilanz für das Jahr 1987 die Entwicklung des DDR-Leistungssports:
In 1 650 Trainingszentren bereiten sich 68 000 talentierte Kinder und Jugendliche 3-4 Jahre vor. Jährlich werden 28 000 Talente neu aufgenommen. Sie werden von 1 960 Trainern und 9 000 ehrenamtlichen Übungsleitern betreut. Das ergibt ein durchschnittliches Verhältnis von einem Ausbilder für 6,2 Sportler.
Auf der nächsten Stufe trainieren in 27 Sportclubs und 11 Fußballclubs 12 500 Sportler. Sie werden von 1 985 Trainern betreut. Also auch hier ein Verhältnis 1:6,2. Sportlerinnen und Sportler im Jugendalter besuchen die jeweils zugeordnete KJS, alle anderen absolvieren eine Berufsausbildung oder ein Studium.
Sportliche Talente auf diese Art und in diesem Umfang zu fördern, erschöpft sich in seiner Wirkung bei weitem nicht im Gewinn olympischer Medaillen. Das gelingt verhältnismäßig wenig Sportlerinnen und Sportlern. Die Mehrzahl derer, die durch diese charakter- und willensbildende Schule des Leistungssports gingen, haben im beruflichen Leben einen anerkannten Platz erworben, viele von ihnen wurden Sportlehrer oder Trainer, halfen als Übungsleiter oder in ehrenamtlichen Funktionen. Auch das soll bei einer Bilanz nicht vergessen werden.
Schließlich sei hier noch vermerkt, dass für diesen Leistungssport, eingeschlossen alle Gehälter, nur jede 4. Mark von der Summe verwendet wurde, die insgesamt in die Sportförderung der DDR geflossen ist.
Eine Bilanz wäre unvollständig, berücksichtigte sie nicht die Leistungen der Trainerinnen und Trainer, die 1987 immerhin zu 65 Prozent ein Hochschuldiplom besaßen. Viele von ihnen waren und sind international bekannt und geachtet. Stellvertretend seien hier aus der Anfangsperiode genannt: Ewald Mertens (Leichtathletik), Hans Renner (nordischer Skisport) und Werner Schiffner (Radsport). Dann Marlies Grohe (Schwimmen), Hans Eckstein (Rudern), Werner Lesser (nordischer Skisport), Ellen Berger (Turnen), Jutta Müller
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(Eiskunstlauf), Inge Utecht, Karl Hellmann und Horst-Dieter Hille (Leichtathletik).
Außerhalb der deutschen Grenzen griff und greift man gerne nicht nur auf das Können der Trainer, sondern auch auf das bewährte Modell des DDR-Leistungssports zurück und man tat und tut das durchaus mit Erfolg.
Hohe sportliche Leistungen waren in der DDR zweifellos – wie in anderen Ländern auch – aus Gründen staatlicher Repräsentation erwünscht. Man sollte dabei aber nicht übersehen, dass sie in erster Linie persönlicher Anspruch aller am Leistungssport beteiligten Menschen waren. Motivierend wirkte hier nicht die Aussicht auf privaten Reichtum, sondern die Anerkennung durch die Gesellschaft. Auch insofern haben alle – auch aus heutiger Sicht – Dank und Anerkennung verdient!
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20 Jahre - Sport und Gesellschaft e.V.
Von HASSO HETTRICH
Seit 20 Jahren besteht der Verein „Sport und Gesellschaft e.V.“ und man kann ruhigen Gewissens darauf anstoßen. Er vereint Sportwissenschaftler, Sporthistoriker, Olympiasieger,
Welt- und Europameister, Sportfunktionäre und
Sportinteressierte.
Anliegen bei der Gründung vor zwanzig Jahren war, uns von den olympischen Prinzipien leiten zu lassen und für Humanismus und Demokratie im aktuellen nationalen und internationalen Sport einzutreten. Gründungsmitglieder waren: Prof. Dr. phil. Günther Wonneberger, Prof, Dr. phil. habil. Wolfhard Frost, Prof. Dr. paed. habil. Helmuth Westphal, Prof. Dr. paed. Günter Erbach, Prof. Dr. sc. paed. Gerhard Oehmigen, Dr. Klaus Huhn, Dr. sc. paed. Hans Simon und Klaus Eichler. Wir wollten – auf der Grundlage der fast ein halbes Jahrhundert gesammelten Erkenntnisse, Erfahrungen und Einsichten im Bereich Körperkultur und Sport – das Erreichte analysieren, die gut bezahlten Kampagnen zur Diffamierung des DDRSports entlarven und die Entwicklungsmöglichkeiten unter den nun grundsätzlich veränderten Bedingungen prüfen helfen. In diesem Prozess brachten viele unserer Mitglieder ihre umfangreichen Erfahrungen aus langjähriger Arbeit in den internationalen Föderationen des Sports ein. Zum Beispiel:
- Dr. h.c. Günther Heinze, Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC),
- Prof. Dr. paed. Günter Erbach, Mitglied der Exekutive des Weltrates für Sportwissenschaft und
Körpererziehung bei der UNESCO (ICSSPE / CIEPS) und
Ehrenmitglied der CIEPS,
- Prof. em. Dr. phil. Günther Wonneberger,
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Gründungsmitglied des Internationalen Komitees für Sportgeschichte (ICOSH), Präsident des ICOSH und in dieser Zeit Mitglied der Exekutive des Weltrates für Sport und Körpererziehung bei der UNESCO
(ICSSPE/CIEPS),
- Prof. em. Dr. paed. habil. Friedrich-Wilhelm (Fred) Gras, Mitglied des Präsidiums des Internationalen Komitees für Sportsoziologie (ICSS) beim Weltrat für Sport und Körpererziehung bei der UNESCO
(ICSSPE/CIEPS),
- Prof. Dr. paed. Georg Wieczisk, Mitglied des Councils der Europäischen Leichtathletik-Assoziation (EAA) und der Exekutive der Internationalen AmateurLeichtathletik-Föderation (IAAF), Ehrenmitglied der EAA und IAAF,
- Dr. paed. habil. Lothar Kalb, Mitglied einer Expertengruppe der UNESCO.
Insgesamt vertraten 236 Frauen und Männer den DDR-Sport in internationalen Komitees und Föderationen. 16 Wissenschaftler wurden zu Präsidenten bzw. zu Vizepräsidenten internationaler Komitees bzw.
Föderationen gewählt.
Viele unsere Mitglieder, die vielfach zugleich kompetente Zeitzeugen der nationalen und internationalen Sportentwicklung waren, haben die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Analysen dokumentiert, auf wissenschaftlichen Konferenzen vorgestellt und diskutiert sowie in einschlägigen Zeitschriften und Büchern veröffentlicht. Besonders zu nennen sind „Geschichte des DDR-Sports“ von Günther Wonneberger, Gerhard Oehmigen, Hans Simon, Lothar Skorning, Helmuth Westphal u.a. (…), die Veröffentlichungen zur Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, zu ihrer Entwicklung, zu den Leistungen in Forschung, Lehre und systematischer Traineraus- und -weiterbildung sowie zu ihrer Abwicklung als „Chronologie ...“ von
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Karsten Schumann u.a. (2003), „Deutsche Hochschule für Körperkultur … Entwicklung, Funktion und Arbeitsweise“ von Gerhard Lehmann u.a. (2007), der Titel „Sendboten Olympias. Die Geschichte des Ausländerstudiums an der DHfK“ (2008) von Lothar Kalb, die Autobiographie „Zwei Seiten einer Medaille“ (…) von Thomas Köhler (Rennschlittensportler, Absolvent der DHfK, langjähriger Trainer im Rennschlittensport) oder „Doping in der BRD“ (1999) von Margot Budzisch, Klaus Huhn und Heinz Wuschech. Darüber hinaus hat Prof, Dr. paed. Horst Röder auf seiner Homepage vielfältige Formen und Methoden der Nachwuchsentwicklung und des langfristigen Leistungsaufbaus von Spitzenleistungen dargelegt,
Getragen von unserem Verein erschien zudem zweimal jährlich die Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“, inzwischen mit 43 Ausgaben, in denen mehr als 100 Autoren zu Wort kamen.
Zum Vereinsleben von „Sport und Gesellschaft“ gehörten und gehören auch die Rundtischgespräche in Berlin und
Leipzig und die wissenschaftlichen Konferenzen, wie zum 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen
Sportausschusses (DS), zum 50. und 60. Jahrestag der Gründung des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) in Berlin oder zum 50. Gründungstag der DHfK in Leipzig.
Besonders zu nennen ist schließlich, die Einführung eines „Goldenen Buches des deutschen Sports“ im Ergebnis der Tatsache, dass der „Vorschlag des Landessportbundes Sachsen-Anhalt, … getragen von allen Landessportbünden“ der Bundesrepublik, „die ehemalige Radsportlegende und den heutigen Ehrenpräsidenten des Landessportbundes Gustav-Adolf Schur, genannt Täve Schur, in die Hall of Fame des Sports aufzunehmen … von der 93-köpfigen Jury mehrheitlich abgelehnt wurde.“ Infolge dieser Tatsache, einen zweifachen Weltmeister im Straßenradsport, mehrfachen Sieger der „Friedensfahrt“ (Einzel- und Mannschaftswertung), der – so Volker KLUGE – „seit
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Langem nicht zu Unrecht ostdeutscher Weltmeister der Herzen ist“, nicht in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ aufzunehmen, fasste die Mitgliederversammlung des Vereins am 16. August 2011 den Beschluss, zur Wahrung der Traditionen im deutschen Sport ein „Goldenes Buch“ einzuführen. Eingetragen werden können deutsche Bürgerinnen und Bürger, die einen herausragenden sportlichen oder/und sportwissenschaftlichen sowie moralischen Beitrag zur Entwicklung von Körperkultur und Sport geleistet haben. Im Ergebnis der ersten Umfrage wurden mehr als einhundert Vorschläge aus Ost und West unterbreitet und ständig kommen auch neue Vorschläge hinzu.
Nationale und internationale Aufmerksamkeit erreichte auch die Homepage des Vereins „Sport und Gesellschaft“. Im Jahr 2016 wurden 2.129.978 Zugriffe gezählt, selbst aus Australien oder den USA. Am meisten gelesen wurde das „Goldene Buch des deutschen Sports“ und unsere Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“. Auch die „New York Times“ hat kurz über uns berichtet.
Deshalb gilt allen Mitgliedern und Freunden unseres Vereins sowie allen Autoren und Interessenten der „Beiträge zur Sportgeschichte“ unser Gruß und unser herzlicher Dank für das bisher Geleistete.
DISKUSSION
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Leistungssport ohne Zielvorgaben?
Von THOMAS KÖHLER
Mit dem Wagnis und fest entschlossen, die körperliche Leistungsfähigkeit weiterzuentwickeln, streben Hochleistungssportler unweigerlich nach Bestleistungen, Rekorden und Medaillen. Jüngstes Beispiel dafür ist die Absicht, auf der Autorennstrecke im italienischen Monza, eine 42,195 km lange Marathonstrecke mit einem Durchschnittstempo von 21 Stundenkilometern zu laufen, um den Weltrekord unter zwei Stunden zu drücken. Um derartige Extremleistungen zu erreichen, bedarf es klar definierter Leistungsziele und ein – sowohl objektiv als auch subjektiv – optimales Bedingungsgefüge.
In diesem Zusammenhang ist unverständlich, wie im Zuge der neuen Leistungssportreform im deutschen Sport Medaillenvorgaben aus dem Fokus gerückt werden sollen, Das jedenfalls beabsichtigt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB).
Die Brisanz dieses Themas wird durch die nahezu konträren Aussagen zweier maßgeblich Verantwortlicher deutlich, Zum einen sagte der Geldgeber des Sports, der Innenminister Thomas de Maiziére, am 11.3.2015 in Vorbereitung der Sondierungsgespräche mit dem DOSB: „Trotz immer höherer Zuschüsse waren zuletzt immer weniger Erfolge herausgesprungen. Die harte Währung der Förderung sind auch Medaillen.“ Zum anderen will der Sportvorstand des DOSB Dirk Schimmelpfennig die Medaillenvorgaben einstellen und meinte am 7.2.2017, „dass man den Leistungssport nicht auf Medaillen reduzieren sollte“.
Im Mai 2017 (der Mai 2014 wäre in Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele in Pyeongchang wohl geeigneter gewesen) will laut Schimmelpfennig der DOSB über diese Problematik mit den Verbänden sprechen, um „belastbare und sinnvolle Aussagen zu treffen“. Mit der Entscheidung, dem
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Deutschen Curling Verband die Förderung zu entziehen, wurde schon mal die Richtung vorgegeben.
Mit den sogenannten Zielvorgaben wurde die Absicht bisher verfehlt. Deutlich zeigte sich das bereits in London 2012, als von 28 geplanten Siegen nur 11 erreicht wurden. Und in Sotschi 2014 errangen die Wintersportler 19 Medaillen, obwohl nahezu die doppele Anzahl anvisiert worden war. Dieser Leistungsabfall ist bereits seit 1992 erkennbar, als die deutsch/deutsche Mannschaft seit 1964 erstmals wieder gemeinsam an den Start ging. Damals wurden bei den Olympischen Spielen noch 82 Medaillen gewonnen, 2016 bei den Sommerspielen in Rio waren es nur noch 42 Medaillen.
Als eine wesentliche Ursache des kontinuierlichen Leistungsrückgangs wurde vom Präsidenten des DOSB, Alfons Hörmann, am 1.7.2016 anlässlich des „Parlamentarischen Abends des Sports“ behauptet: „25 Jahre nach der Einheit ist das aus dem Zusammenwachsen beider Sportsysteme resultierende positive Erbe aufgebraucht.“
Dieses Argument, das sportliche Erbe sei nun aufgebraucht, ist nicht nur peinlich, sondern auch falsch, Schließlich wurde das Erbe bis auf die Übernahme der Sportler, nahezu völlig zerschlagen, Denn sonst gäbe es ein Einheitliches Sichtungs- und Auswahlsystem und einen kontinuierlichen langfristigen Leistungsaufbau talentierter Sportlerinnen und Sportler vom Grundlagen-, über das Aufbau- und Anschluss- bis zum Hochleistungstraining. Auch würde der reiche
Erfahrungsschatz unzähliger hochqualifizierter ehemaliger DDR-Spitzentrainer weiter genutzt, von denen mehr als gezählte 70 seit Jahren in anderen Ländern, und zwar weltweit, Medaillen sammeln. Auch deren Ausbildungsstätte, die weltweit bekannte Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig könnte noch bestehen, wenn sie nicht aus widersinnigen politischen Gründen abgewickelt worden wäre. Selbst die Elitesportschulen, eine nur zum Teil gelungene Kopie der Kinder- und Jugendsportschulen, könnten einen bedeutend wirkungsvolleren Beitrag zum Erfolg leisten. Wären
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diese als Erbe an- und übernommen worden, könnte der deutsche Sport im internationalen Ranking heute bedeutend besser dastehen.
Auch Leistungsziele, wissenschaftlich exakt erarbeitet, gehören unbestritten zu einem wirkungsvollen Leistungssportkonzept. Allerdings müssen die Ziele, wenn es um Olympia geht, stets am Beginn des vierjährigen Olympiazyklus erstellt und alljährlich hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit überprüft werden.
In Auswertung der Wintersaison 1975, also ein Jahr vor den Olympischen Winterspielen 1976 in Innsbruck, haben wir im Trainerrat des Schlittensportverbandes festgestellt, dass andere Länder den Leistungsabstand zur DDR wesentlich verringern und die von uns ermittelte Prognoseleistung für 1976 nahezu erreichen konnten. Bei der ohnehin schon hohen Trainingsbelastung von jährlich 1100 Trainingsstunden war mir, als den verantwortlichen Verbandstrainer, und den beiden Auswahltrainern bewusst, dass wir die Sportler kaum zu einer weiteren Belastungssteigerung überzeugen werden, indem wir unsere Vorgaben einfach weiter erhöhen. Deshalb haben wir gemeinsam mit den Sportlern über die Konsequenzen für die weitere Olympiavorbereitung diskutiert und baten zunächst um ihre Vorschläge für die Erschließung weiterer Leistungsreserven. Dabei ergab sich u.a. eine Steigerung der Trainingskilometer auf dem Räderschlitten im Sommer und auf den Eisbahnen, eine höhere Anzahl von Starts auf der separaten, künstlich vereisten Kopie des Olympiastartblocks, eine Erhöhung des Athletik- und Kraftanteils. Am Ende ergab sich eine Gesamtzahl von 1200 Trainingsstunden im Olympiajahr. Infolgedessen konnten wir die Prognoseleistungen korrigieren und alle Beteiligten gingen hoch motiviert in die Olympiavorbereitung.
Diese grundsätzlich wissenschaftlich erarbeiteten Prognoseleistungen waren und sind die Voraussetzung für die Erstellung der Leistungsziele. Sie werden bei messbaren Sportarten nach Metern oder Sekunden und bei technischen Sportarten, wie
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Turnen, Eiskunstlauf, Wasserspringen, nach definierten leistungsbestimmenden Faktoren ermittelt.
Leistungsziele, die zu hoch angesetzt und unerfüllbar erscheinen, führen rasch zur Resignation. Zu niedrig angesetzte Leistungsziele verleiten zur Unterschätzung der erforderlichen Anstrengungen. Ein wirksames Leistungsziel darf nicht – so meine Erfahrungen - von vornherein als erfüllbar erscheinen. Denn im Zeitraum der Bewältigung müssen stets noch weitere, bis dahin nicht entdeckte Reserven, erschlossen werden. Das gilt sowohl für die Verbands- als auch für die individuellen Ziele.
Beeindruckt hat mich folgendes Erlebnis während eines Lehrgangs in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung der DDR-Leichtathletik-Nationalmannschaft. Ich durfte ausnahmsweise an der sogenannten „stillen Stunde“ teilnehmen, in der ausschließlich die Sportler mit ihren Trainern und dem Generalsekretär des Verbandes die Leistungserwartungen zu dem bevorstehenden Wettkampf erörterten. Jeder einzelne wurde aufgefordert, sein angestrebtes Leistungsziel realistisch darzustellen und zu begründen. Dabei fielen z.B. solche Bemerkungen wie: „Hast du auch bedacht, dass es den oder jenen Konkurrenten gibt, der derzeit stärker erscheint?“ oder „Du warst in diesem Jahr noch in keinem Wettkampf unterlegen, warum traust du dir keinen Sieg zu?“ Auch fragte einer: „Der Sieg wird wahrscheinlich nicht ohne Weltrekord weggehen, traust du dir eine weitere Steigerung zu?“ Auf diese Weise wurde mit jedem einzelnen auf der Grundlage seines aktuellen Leistungsstandes sehr offen und teilweise schonungslos debattiert. Nach einer umfassenden Diskussion zog am Ende der Aussprache der Mannschaftskapitän Bilanz und gab das Gesamtziel der Mannschaft bekannt. Diese Ziele kamen der Realität oft sehr nahe, waren sie doch auf dem gegenwärtigen Leistungsstand aufgebaut und von denen erstellt worden, die am meisten davon verstanden.
Leistungsziele waren im DDR-Leistungssport Interna. Heute scheinen sie Investigativ-Journalisten mehr zu interessieren. Den
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Vergleich von Ziel und Ergebnis sollte man den Experten überlassen, denn für die Öffentlichkeit ist es bei den oftmals differenzierten Darstellungen in den Medien schon schwierig genug, allein das Ergebnis zu bewerten.
Die Fördervereinbarungen inclusive der Bereitstellung finanzieller Mittel ausschließlich an zu erwartenden Medaillen festzumachen, ist zu kurz gegriffen. Zielführend ist letztlich ein langfristiger Leistungs- und Persönlichkeitsaufbau. Die Verantwortlichen des DDR-Wintersports haben z.B. auf die Folgen der Entscheidung des IOC zur Durchführung der Olympischen Sommerspiele und der Olympischen Winterspiele im Zweijahresrhythmus reagiert. Im Wissen, dass die Olympischen Winterspiele 1992, 1994 und 1998 innerhalb von nur sechs Jahren stattfinden, wurde für die talentierten Anschlusskader, die in diesem Zeitraum ihr optimales Leistungsvermögen erreichen können, ein spezielles langfristiges Vorbereitungskonzept erarbeitet. Diese Sportler wurden in Spitzenkaderkreise und in die zentrale Leistungsdiagnostik aufgenommen, sehr früh für die Teilnahme an Weltmeisterschaften vorgesehen, um Wettkampferfahrungen sammeln zu können, und erhielten eine vorrangige individuelle Förderung. Übrigens hat sich dieses Konzept bei den Olympischen Winterspielen 1992 mit mehr als 80 Prozent und 1994 mit 64 Prozent Medaillenanteil ehemaliger Sportler der DDR am deutschen Ergebnis ausgezahlt.
Leistungsziele zu reduzieren, in der Annahme, dass die Konkurrenz zu unerlaubten Mitteln greift, z.B. zu Dopingmitteln, ist realitätsfremd. Der Leistungssport ist festen Regeln unterworfen und Doping ist - entsprechend dem Reglement - verboten. Insofern wäre es besser, den Kampf gegen Doping verschärft und ehrlich zu führen, als davor zu resignieren. Manchmal habe ich den Eindruck, in Interviews mit Sportlern solch eine Resignation herauszuhören, wenn sie mit ihren Leistungen zufrieden sind, obwohl sie unter den ursprünglichen Leistungserwartungen blieben. Es kann m.E. nicht nur der Druck des
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Managements sein, sich trotz Niederlage als strahlende Sieger darzustellen.
Reduzierte Ziele provozieren – zweifelsfrei – reduzierte Resultate. Trotz berechtigter unterschiedlicher Standpunkte zu Leistungsvorgaben oder Leistungszielen bleibe ich insofern bei meiner als Sportler, Trainer und Funktionär gewonnenen Erfahrung, dass am Weltniveau orientierte Leistungsziele eine wesentliche Voraussetzung sind, um bewusst und motiviert hohe Trainingsbelastungen zu bewältigen und um erfolgreich in sportlichen Wettkämpfen zu bestehen.
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Wie Doping vertuscht wird
Von KLAUS HUHN
Nichts gegen ehrenwerte Kollegen, aber einige von ihnen haben sich auf das Thema Doping „spezialisiert“ und verdienen damit gutes Geld. Denn über Doping in der DDR konnte man jeden Tag schreiben und fand meist auch interessierte Abnehmer. Genug der Vorrede und hin zum jüngsten Dopingfall.
Die russische Tennisspielerin Maria Scharapowa – stellte man unlängst fest – hat sich mit Meldonium gedopt und muss demzufolge mit einer Sperre von vier Jahren rechnen. Für die Ahnungslosen unter den Lesern: Diese Maria hatte von denen, für die sie Werbung betrieb, und das war eine stattliche Schar, nach behutsamen Schätzungen jährlich um die fünf Millionen Dollar kassiert. Damit soll nun Schluss sein, aber einer von diesen Konzernen – der nämlich ihre Schläger produziert – hat angekündigt, den Vertrag mit ihr zu verlängern. Der Firmenname ist dem Unternehmen dann Werbung genug, wenn sie in Tennisstadien nur noch in der ersten Zuschauerreihe sitzt. Selbst Russlands Außenminister Lawrow, der von Konferenztisch zu Konferenztisch hetzt, hat noch Zeit genug, nebenbei für die Tenniskünstlerin zu werben.
Extrem anders liegt der Fall in Freiburg, das bekanntlich in der Bundesrepublik liegt und wo pillenschluckende Stars faktisch den Schutz der Obrigkeit genießen. Angeblich, um ihre Schuld zu ermitteln, hatte man dort eine Expertenkommission gebildet, um aufzuklären, wer in der alten Bundesrepublik und den alten Bundesländern gegen die Dopingregeln verstoßen hatte. Nun aber ist die Kommission über Nacht zurückgetreten. Eines der Mitglieder, der Professor für Zell- und Molekularbiologie am deutschen Krebszentrum Heidelberg, Werner Franke, sprach Klartext: „Die Uni hat immer ein dreckiges Spiel getrieben. Sie hat Akten versteckt in Landesarchiven, irgendwelchen Schränken oder in
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Privatwohnungen von Mitarbeitern. Da sind groteske Sachen passiert. Natürlich ist der Hintergrund, dass das volle Ausmaß der Dopingvergangenheit nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll“. Eine Sportnachrichtenagentur dazu: „Fakt ist, dass der Sumpf in Freiburg tief ist und das ganze Ausmaß auch durch die Kommissionsarbeit wohl nicht mal ansatzweise sichtbar wurde.“ Der Spiegel (3.8.2016) hatte die Süddeutsche Zeitung zitiert, die enthüllt hatte, wie mit dem „Gutachten“ umgegangen worden war. „Die Ursprünge systematischen Dopings: Gezieltes systematisches Doping in der Bundesrepublik habe seinen Ursprung im Oktober 1970 mit der Gründung des BISp genommen. Das Institut habe weitreichende Tests veranlasst – die Rede ist von mindestens 516. Getestet wurden demnach einzelne Präparate auf ihre leistungsfördernde Wirkung. Eignete sich ein Mittel zum Dopen, sei es zur Anwendung gekommen. Etwaige Nebenwirkungen sollen den Sportlern verschwiegen worden sein.
Politiker forderten offenbar den Dopingeinsatz. Die deutsche Politik soll Doping nicht nur toleriert, sondern dessen gezielten Einsatz gefordert haben: Von ihnen als Sportmediziner will ich nur eins: „Medaillen in München (Austragungsort der Olympischen Spiele 1972 – die Red.)“ Dopingkontrollen sollen gezielt umgangen worden sein: Mit unterschiedlichen Strategien sollen Institutionen wie das BISp, der Deutsche Sportbund und das Nationale Olympische Komitee verhindert haben, dass gedopte Athleten enttarnt wurden. Minderjährige sollen gedopt worden sein: „Nicht nur Spitzenathleten sollen illegale Substanzen eingenommen haben, auch Nachwuchssportlern wurden demnach Dopingmittel verabreicht. Von Förder- und Sportklassen voller Minderjähriger ist die Rede, die als Forschungsobjekte gedient haben sollen. Das Ziel: Den Einfluss des Alters auf die Wirkung von Dopingmitteln zu testen.“
Über die auf 800 Seiten zusammengetragenen Details wird man nach dem Rücktritt nun aber nichts mehr erfahren.
(UZ-Ausgabe 18.3.2016)
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ZITAT
Der vorgetäuschte Anti-Doping-Kampf
der WADA
Von Dr. sc. med. GERD MACHALETT
Es ist nur ein USA-Märchen, dass sportliche Entscheidungen nicht politisch motiviert sind. Als Beweis kann ich den Olympia-Boykott der Moskauer Spiele 1980 durch den Westen anführen. Diese Unterordnung der völkerverbindenden Mission des Sportes unter die globalen politischen und wirtschaftlichen Interessen der USA setzen sich bis in die Gegenwart fort. Diesmal wird „Staatsdoping“ in Russland erfunden, um einen unliebsamen Konkurrenten im Sportgeschäft auszuschließen und den politischen Ruf zu schädigen, also eine Sanktion im Rahmen der politischen Erpressung Russlands.
Als Instrument wird die WADA eingesetzt. Eigentlich sollte mit dieser von den internationalen Sportverbänden gegründeten Institution der Anti-Doping-Kampf für Chancengleichheit im Sport und den gesundheitlichen Schutz der Sportler geführt werden. Offensichtlich ist dieser „Kampf“ aber nur ein Witz und Täuschung der Öffentlichkeit. Die WADA wurde zweifellos vom Westen annektiert und politisch zur Erpressung anderer Länder genutzt.
Das eigentliche Ziel der Chancengleichheit wurde durch „Ausnahmegenehmigungen“, die von willfährigen Ärzten ohne Gegenkontrollen oder aus Gefälligkeit von WADA-Funktionären ausgestellt werden konnten, unterlaufen. So erhielten 583 US-Sportler, 53 britische Olympioniken sowie zahlreiche Athleten westlicher Länder die „Lizenz zum Dopen“.
Außerdem verkaufte die Funktionärsclique um Lomin Diack (bis 2015 Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes) Freibriefe für Dopingsünder in aller Welt.
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Diese Machenschaften der politischen Wegelagerer kamen nun durch einen Hacker-Angriff auf die Datenbank der WADA ans Tageslicht. Es wird nun vermutet, dass es sich um die Revanche der betrogenen Russen handeln könne, die den Mc Laren-Bericht als nicht stichhaltig und ohne belastbare Beweise entlarvte.
Blogger riefen bei der WADA den Amerikaner Travis Tygart an. Weil dieser glaubte mit dem ukrainischen Sportminister zu sprechen, bestätigte er freimütig, dass der Ausschluss Russlands ausschließlich aus politischen Gründen erfolgt sei. Die Anschuldigungen beruhen einzig auf der Aussage des früheren Chefs der russischen Anti-Doping-Agentur, Grigori Rodschenkow. So hatte man den Täter zum Kronzeugen befördert und in die USA zurückgerufen. Gegenargumente wurden überhaupt nicht angehört.
Über den verlogenen Anti-Doping-Kampf war bereits 2011 im „Spiegel“ vom Sportarzt Dr. Liesen aus Köln geschrieben worden: „Ich hielt es nicht mehr aus, wie verlogen Anti-Doping-Politik betrieben wird. Ich bekam als Mitglied der medizinischen Kommission des IOC mit, wie man vor allem Proben von Amerikanern unter den Tisch kehrte, um nicht die Fernsehgelder von US-Sendern zu riskieren.“
Die Schizophrenie dieses Systems äußert sich auch darin, dass die ertappten Dopingsünder sich noch aufregen, weil ihre Daten öffentlich gemacht werden, wo sie doch „erlaubt“ gedopt hätten.
Wer nicht ganz behämmert ist, dem muss auffallen, dass westliche Sportler offensichtlich in Massen so krank sind, dass sie zum Überleben und zum Gelderwerb nur mit Dopingmitteln allein in der Lage sind.
Kürzlich platzte zwei deutschen Radsportlern der Kragen und sie maulten, dass kranke Leute im Sportgeschäft nichts zu tun hätten und meinten damit einen englischen Tour-Sieger mit seinem Asthma. Aber auch bei den betrogenen Sportlern in Russland erheben sich Stimmen, dass kranke Sportler sich erst behandeln lassen sollten, ehe sie wieder in die Wettkämpfe eingreifen.
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Es wird offensichtlich in der amerikanischen Welt auch mit zweierlei Maß auch im Sport gemessen. Wir können das als „Wildwest-Recht“ bezeichnen. So wurde das Herzmittel Meldonium 2016 auf die Doping-Liste gesetzt. Der Wirkungsmechanismus ist nicht geklärt. Einige Biochemiker meinen jedoch, dass keine Leistungssteigerung bewiesen wurde. Deshalb wohl auch die lächerliche Begründung für das Verbot: „Es gibt Hinweise, dass das Mittel mit der Absicht zur Leistungssteigerung genutzt wird.“
Andere Pharmaka, z.B. das Carnitin (das ist das Meldonium des Westens) kamen trotz erwiesener Wirkung auf den Zellstoffwechsel nicht auf die Liste. Dafür sorgte wahrscheinlich die Lobby der Pharmafirmen aus den USA. So wird also der Anti-Doping-Kampf unverhüllt zur Vorteilsnahme und Profitvermehrung umfunktioniert.
Die Doping-Liste ist also ohne Sinn und Verstand aufgestellt worden, mutmaßt Kindermann in einem Artikel in der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin.
Ausgesprochen fies finde ich das Verhalten von verhetzten Sportlern, die laut nach einer Verurteilung Russlands riefen und selbst gedopt waren. Darunter sollen auch zwei deutsche bekannte Leichtathleten gewesen sein. Typisch für die erzeugte Stimmung war das Verhalten einer amerikanischen Schwimmerin gegenüber der Russin Julia Jefinowa, die einen Handschlag verweigerte und vom Publikum ausgepfiffen wurde, wie westliche Medien genüsslich ausbreiteten. Zur Ehrenrettung der Amerikanerin kann angeführt werden, dass sie sich entschuldigte, als sie über die Machenschaften in der US-Mannschaft aufgeklärt wurde.
Als der ägyptische Judoka El Shehoby nach seiner Niederlag gegen den Israeli Or Sasson dem Gegner den Handschlag verweigerte, wurde er vom IOC kritisiert: „Diese Form der Ausgrenzung wollen wir bei Olympia nicht sehen. Wir wollen keine Mauer bauen, sondern einreißen“. Eine solche Stellungnahme vermisste man im Falle der russischen Schwimmerin.
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Verwunderlich ist für mich das Verhalten von Sebastian Coes, des britischen Mittelstrecklers. 1980 war er führend an der Boykott-Umgehung britischer Leichtathleten an dem Spielen in Moskau beteiligt und er führte die britischen Athleten, allerdings nicht mit ihrer Landesfahne, ins Stadion. Unterlag er den Erpressungen der US-Amerikaner, weil er als Chef des Internationalen Leichtathletik-Verbandes einknickte und die russischen Sportler aus der internationalen Arena verbannte? Man nahm keine Lehren an und hievte wieder den alten korrumpierten parteilichen Amerikaner Craig Reedie auf den WADA-Chefsessel, obwohl das IOC vorgeschlagen hatte, eine unabhängigen Präsidenten zu wählen. Kaum war das passiert, kam Mc Laren mit neuen Faces.
Eigentlich soll die WADA Urinkontrollen machen. Es zeigt sich aber, dass diese Institution einen politischen Druck auf Organisationen ausübt, denen Sportpolitik eigentlich zusteht, z.B. das IOC oder internationale Sportorganisationen. Mc Laren geht es gar nicht um den Anti-Doping-Kampf, sondern um die Darstellung des „bösen Russen“, der an allem Schuld hat. Man kann also gespannt sein, ob die Moral und die sportliche Fairness siegen werden oder das US-Geld den Weltsport ruiniert.
Der Profi-Sport ist auf Rendite ausgerichtet und marktwirtschaftlich organisiert. Das bedeutet: Absprachen, Bestechung, Erpressung, Lüge und Betrug. Dabei spielt die gegenwärtige WADA das ausführende Organ zur Sicherung der westlichen Vorherrschaft auf diesem Gebiet. Über die „Ausnahmegenehmigungen“ zum Dopen will keiner mehr reden, aber mit Vorverurteilungen wird den Russen die Austragung von internationalen Wettkämpfen entzogen.
Der deutsche Trainer der russischen Biathleten berichtete, dass nach dem Mc Laren-bericht ein russischer Sportler gesperrt wurde, der im letzten Jahr 20 Mal negativ getestet wurde, davon 16 Mal im Ausland. Es scheint so zu sein, dass diese Funktionäre möglicherweise nicht käuflich aber billig sind.
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In einem Psychologie-Lehrbuch fand ich den schönen Satz: „Früher haben wir diese Leute mit ihrer (russophoben) Zwangsneurose begutachtet, heute tyrannisieren sie uns.“
Im Westen ist wohl nicht bekannt, dass die USA kein Anti-Doping-Gesetz haben, jedoch Russland. Aber das findet man in der Lügenpresse nicht.
Meinen Recherchen und Überlegungen zu diesem brisanten Thema möchte ich noch einen Gedanken anhängen: Wer hat eigentlich Interesse an diesem Anti-Doping-Theater?
Die Athleten: Sicherlich nicht. Lassen wir Lance Armstrong als Extremfall zu Wort kommen: „Mein Körper gehört mir, ich kann mit ihm machen, was ich will. Ihn schinden und alles abverlangen, das ist meine Sache.“
In einem Ärzteblatt fand ich die reißerische Überschrift: „Für eine Medaille würde ich sogar sterben“.
Das Publikum: Über 50 Prozent ist es egal wie die Leistungen im Spektakel Sport kommen. Hier also auch Fehlanzeige.
Die Veranstalter: Sie laden nur Sportler zu ihren Meetings ein, die auch schneller und länger laufen, weiter und höher springen und weiter werfen können als das Mittelmaß der Athleten. Wer also Geld verdienen will, tut alles dafür, natürlich auch dopen. Chancengleichheit und Gesundheit der Sportler wahren? Alles Quatsch, wenn man die Praktiken der WADA sieht. Bewusst werden Sportler „feindlicher“ Staaten diskriminiert und ausgeschlossen.
Es scheint also doch so zu sein, wie viele befürchten – der Antidoping-Kampf ist zum Sanktionskampf gegen unliebsame Konkurrenten degeneriert.
Interessant ist, wie das US-Sanktionssystem auch im Sport weitergeführt wird. So ist also der alte korrupte Chef wieder der Neue. Diese Typen lernen einfach nicht dazu. Jetzt werden immer mehr Fakten und Namen durch die Hackergruppe ins Netz gestellt. Athleten aus 14 Staaten haben 2015 bis 2016 von der WADA Ausnahmegenehmigungen für Doping-Medikamente erhalten (TUE-
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Therapeutic use Exemtion). Russen waren nicht dabei. Oft nahmen die Sportler bereits diese Medikamente, ehe sie die Genehmigung dafür beantragten. Der Gipfel der Dumm-Frechheit ist, dass dazu nur ein „behandelnder“ Arzt ausreichte, um die Genehmigung zum Dopen zu bekommen.
Olympiasieger sind alle krank, das ist die einzige Schlussfolgerung.
Nachdem Amphetamine auf die Dopingliste gelangten, meldeten sich plötzlich über 100 US-amerikanische Sportler mit der Diagnose ADHS. Amphetamine steigern die Aktivität, lindern Schmerzen und zögern Ermüdungen hinaus.
Dreck und Zynismus bei der WADA kann man da nur feststellen.
Ich nehme an, dass noch nicht das Ende dieses Schwindels erreicht ist.
Ich höre lieber an dieser Stelle auf, denn eine Bilanz zu ziehen, steht mir nicht zu, das sollen die geprellten Sportler und Verbände tun.
Woher mein Interesse am Dopinggeschehen auf einem Nebenschauplatz des kalten Krieges?
Ich war in meiner bisher 57-jährigen und noch andauernden ärztlichen Tätigkeit gelernter Transfusionsmediziner und angelernter Labordiagnostiker und Immunhämatologe, niemals Sportarzt. Allerdings standen Untersuchungen zur physischen und psychischen Leistungsfähigkeit von Blutspendern und die Effektivität der Bluttransfusionen auf meinem wissenschaftlichen Programm. Dabei spielte die Sauerstoffbindungskurve und das Hämoglobinmolekül eine wichtige Rolle. Nach 1990 fand ich mich überraschenderweise deshalb auf einer Liste von „Dopingsündern“ im Internet. Diese typischen Unterstellungen und Beschuldigungen waren für mich Anlass, mich mit diesem System der Diskriminierung näher zu befassen.
ZITAT - Freundeskreis der Sportsenioren (Hrsg.): Erlebte
Sportgeschichte. Einst und Heute. 3. Buch, Berlin 2017, S. 59-64
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20 Jahre „Beiträge zur Sportgeschichte“ regt auch dazu an, im Behindertensport zurück zu blicken und zu bilanzieren. Gleichzeitig gedenken wir mit Auszügen aus einem Beitrag in „Behindertensport in Sachsen“ an unseren langjährigen Autor der „Beiträge zur Sportgeschichte“ Hermann Dörwald.
Gedanken zur Nachwuchsentwicklung
Von ANNEMARIE WEIGT und HERMANN DÖRWALD
… Es stellen zum Beispiel WEGNER et al anlässlich der BISp-Arbeitstagung „Nachwuchsrekrutierung und Nachwuchsförderung im Leistungssport der Menschen mit Behinderungen (2009) fest: Im Jahr 2008 konnte der Deutsche Behindertensportverband (DBS) einen neuen Rekordhöchststand an Mitgliedern verzeichnen. Doch trotz dieser positiven Entwicklung ist ein negativer Erfolgstrend des deutschen paralympischen Sports zu erkennen: In Peking ist die deutsche Mannschaft … erstmals nicht mehr in den Top 10 der besten Nationen bei den Paralympics vertreten,“ (S. 29). Auch RADTKE geht vom „Rückgang der Medaillengewinne“ (2011, S. 48) aus und verweist auf Experten, die aufgrund einschlägiger Untersuchungen im Hochleistungssport von Menschen mit Behinderungen feststellen, dass Schwierigkeiten bestehen, Nachwuchs zu rekrutieren“. (ebd.) Obwohl auch andere Ursachen für den Leistungsrückgang in den Sommersportarten genannt werden, wie „strukturelle Nachteile hinsichtlich der Nachwuchsrekrutierung“ (S. 50), ist eine starke Orientierung auf unzureichende „Nachwuchsrekrutierung“ deutlich. Insofern drängt sich – trotz der Vielfalt weiterer Ursachen -, die genannt werden, die Frage auf, ob und inwieweit das gerechtfertigt ist. Das bestätigt u.E. das Fazit anlässlich „20 Jahre Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Sachsen-Anhalt e.V.“. In der Festschrift heißt es: „Die Entwicklung der Misere des sportlichen Nachwuchses in Deutschland beginnt in den Kindergärten und im Schulsport und setzt sich im Fehlen eines
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fundierten Konzepts zur Talenterkennung und –förderung fort. Das bewährte ‚Konzept des motorischen Lernens im Kindergarten‘ wurde abgewählt. Unserer Jugend fehlt somit ein solides Grundlagentraining. Das gilt gleichermaßen für den Behindertensport.“ (GOTTSCHALK 2010, S. 128) Damit wird u.E. hingewiesen auf
- die besondere Bedeutung von Bewegung und motorischer Entwicklung bereits in der frühen Kindheit, im Kindergarten bzw. Kindertagesstätten (Kita) und im Grundschulalter,
- den Schulsport, und zwar als Einheit von unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Sport, sowie
- die Unverzichtbarkeit des Grundlagentrainings, das den Anforderungen eines solchen Trainings gerecht wird.
Bewegung erfüllt nach HEIN (1999, S. 38 ff) grundlegende Funktionen bereits im Prozess der frühkindlichen Entwicklung. Deshalb verweist er mit Nachdruck auf die Notwendigkeit der Bewegungserziehung für die Hirnreifung – auch in deren zeitlichen Ablauf -, wofür jedes Kind ganzheitliche, d.h. sensorische, motorische, kognitive, emotionale und soziale Anregungen“ benötigt. „Sensomotorische Fähigkeiten (unzertrennliche Einheit von Wahrnehmung und Bewegung) bilden dabei die Grundlage für geistige, emotionale und soziale Entwicklungsprozesse. Bis zum Eintritt in die Schule beantworten Kinder Reize vorwiegend motorisch. Ein lückenloser und stabiler Aufbau sensorischer und motorischer Fähigkeiten ist ein wichtiges Fundament (…). (S. 43) Und HOLLMANN betont während der öffentlichen „Anhörung zur aktuellen Situation im Schulsport“ im Deutschen Bundestag (23. Februar 2000, Wortprotokoll, S. 5) „Das entscheidend Prägende im Vorschulalter, um so viel Nervenzellen wie nur möglich am Leben zu erhalten, ist die Motorik. Es gibt nichts anderes, was mit Motorik in den Auswirkungen vergleichbar ist. … Darin liegt ein neuer Gesichtspunkt der Bedeutung körperlicher Aktivität, der im dritten
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und vierten Lebensjahr ganz besonders ausgeprägt ist – also im Vorschulalter. Bis in den Schulsport reicht dieser Effekt hinein.
Allerdings bestanden in alten und neuen Bundesländern unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der Bewegungserziehung in den Kindergärten bzw. den Kindertagesstätten, so dass Bewegungserziehung in vielen Kindergärten bzw. Kitas „eine ausgesprochene Randerscheinung“ war und zudem schon bei den Erzieherinnen und Erziehern in den „Ausbildungscurricula das Fach Bewegungserziehung nur am Rande berücksichtigt (PROHL, 1999, S. 241) wurde. Infolgedessen konnten weder „entsprechende Kompetenzen oder überhaupt ein Problembewusstsein bei den Erziehungspersonen (…) vorausgesetzt werden“ (ebd.), die nicht nur akute, sondern auch Langzeitwirkungen zur Folge haben können. Für behinderte Kinder war und ist das, auch aufgrund des begrenzten Zeitfensters, generell von besonderem Nachteil.
Der Schulsport – und das eine zweite Überlegung – wird gegenwärtig auch aus der Sicht der Talentfindung und –förderung betrachtet und beispielsweise von LITZ (2004) der Schulsport in der DDR, und zwar „der Leistungsanspruch des Sportunterrichts“ (S. 69), neben der frühzeitigen Sichtung als „maßgeblich für den Erfolg“ (ebd.) erklärt. Obwohl der Autor die Rahmenlehrpläne für den Schulsport in der DDR analysiert und mit denen für die Schulen in den alten Bundesländern verglichen hat, ist ihm nicht aufgefallen, dass es zumindest weitere – wenn nicht andere – Ursachen für die immer wieder gelingende Talentfindung, die er „als eine der besten der Welt“ (S. 9) bezeichnet, gegeben haben muss. Es wurde völlig übersehen, dass bei drei bzw. zwei Unterrichtsstunden Sport pro Woche und an den Schulen für Körperbehinderte 4 Stunden davon zwei Stunden Schwimmen, auch wenn sie als Einzelstunden erteilt wurden, keinesfalls der Leistungsanspruch des Sportunterrichts allein für eine frühzeitige Talententwicklung und –erkennung einer großen Anzahl von Heranwachsenden ausreichen kann und
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ausreicht. Entscheidend war vielmehr der Schulsport als Ganzes, in seiner Einheit von unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Sport. In nahezu allen Schulen waren schon seit den 1950er Jahren, vor allem aber in den 1960er Jahren, Schulsportgemeinschaften (SSG) entstanden. Das breite Angebot an verschiedensten Möglichkeiten für den Freizeitsport der Kinder und Jugendlichen, das zudem kostenlos war, selbst Starts im Wettkampfsystem der Sportorganisation, dem DTSB, verursachten den Eltern keine Kosten in Form von Startgebühren und anfallende Reisekosten übernahm jeweils die Schule bzw. die SSG, veranlasste sehr viele Kinder und Jugendliche am Sport in den SSG teilzunehmen. Das galt selbstverständlich auch für die Sonderschulen und alle behinderten Kinder und Jugendlichen. Im Jahr 1982 waren an den „Sonderschulen mehr 15.000 Schülerinnen und Schüler in 1223 Sportgruppen vorwiegend in den Disziplinen Leichtathletik, Schwimmen, Tischtennis, Ballspiele und Schach aktiv sportlich tätig. … An über 300 Sonderschulen findet die außerunterrichtliche sportliche Betätigung der Schüler in einer Schulsportgemeinschaft statt.“ REHWALD, 1984, S. 4)
Spiele, Sport, Schwimmen und – wenn möglich – Wandern gehörten selbstverständlich auch zu den Ferienangeboten, ob den Ferienlagern oder den örtlichen ferienspielen. So auch im Rehabilitationszeltlager in Pepelow/Ostsee, in dem seit 1961 jährlich 300 behinderte Mädchen und Jungen aus der DDR und der CSSR in vier Durchgängen ihre Ferientage verleben konnten. Es war also - aus unserer Sicht – die Einheit von unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Sport entscheidend, die unzähligen Kindern und Jugendlichen ermöglichte, auch in ihrer Freizeit aktiv Sport zu treiben und die zugleich durch die Gewährleistung behindertenspezieller Angebote der SSG vielseitiges sportliches Üben in dem für die motorische Entwicklung des Einzelnen erforderlichen Umfang und der notwendigen Intensität ganzjährig sicherte. Das gilt umso mehr, da heute im institutionalisierten
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Behindertensport „in der Sicherstellung von behindertenspezifischen Angeboten ein Nachholebedarf besteht, zumal … beispielsweise Kinder und Jugendliche noch stärker unterrepräsentiert sind“. (FEDIUK 2008, S. 45)
Und schließlich erweist sich offenbar mehr und mehr das Grundlagentraining als unverzichtbar für eine gelingende Talentfindung und –förderung. Die dadurch mögliche vielseitige Ausbildung in einer Sportart, um – so BORDE 1993 – die ontogenetischen Spezifika für die Herausbildung grundlegender und sportartspezifischer Leistungsvoraussetzungen wirksam zu nutzen und die Eignung der Sportler für das weitere leistungssportliche Training zu ermitteln“. (S. 359) STARK hatte 2003 nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Struktur der 1. Förderstufe weitgehend aufgehoben ist (S. 51) und betont: „Die Talentsuche bezüglich einer sportlichen Fördereignung weist heute in der Bundesrepublik nicht den Stand auf, eine Erkennung im gleichen oder ähnlichen zwei- bis dreijährigen Training zu ersetzen, wenn überhaupt eine Erkennung in der Tätigkeit zu ersetzen.“ (S. 58) Und NORDMANN fasst 2007 zusammen: „Es wird übereinstimmend konstatiert, dass der körperlichsportliche Vorbereitungsstand der Leistungssporteinsteiger im Vergleich zu zurückliegenden Zeitpunkten immer stärker abnimmt.“ (S. 42) Auf das daraus resultierende Dilemma hatten auch Trainer ausdrücklich aufmerksam gemacht.
Der Rudertrainer Dieter ALTENBURG stellte dazu – zum Beispiel – fest: „Wir haben ein Dilemma: Einerseits wird das sportliche Ausgangsniveau der Ruderinnen und Ruderer, die bei uns im Sport anfangen immer schlechter. Andererseits beobachten wir im Spitzenbereich eine dynamische Leistungsentwicklung, die nicht absehbar ist.“ (2005, S. 24) Und er fordert aufgrund seiner Erfahrungen, den systematischen langfristigen Leistungsaufbau – das Grundlagentraining eingeschlossen – beizubehalten. (S. 25) Das verlangt natürlich auch, die tatsächlichen Aufgaben und
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Möglichkeiten eines Grundlagentrainings zu erkennen und die Bedeutung solch eines Trainings sowohl für die Talenterkennung in einem länger währenden Prozess, als auch generell für die Gesunderhaltung und einen eventuell möglichen weiteren Leistungsaufbau – auch infolge des relativ kurzen Zeitfensters – zu akzeptieren, vor allem aber solch ein Training nicht als Kinder-Leistungssport zu denunzieren, was sich insbesondere für behinderte Kinder und Jugendliche als besonders nachteilig erweisen kann und erweist. Denn – obwohl bereits in einer speziellen Sportart absolviert – wird nicht nur die notwendige Vielseitigkeit gesichert, sondern die Belastungsanforderungen werden schwerpunktmäßig auf die informationsaufnehmenden und –verarbeitenden Systeme des Organismus gerichtet. (vgl. BORDE 1993, S. 359)
LITERATUR:
ALTENBURG, D.: Im Aktivenbereich haben wir ein Riesenpotential, Leistungssport 35(2005) 6, S. 22-26
BORDE, A.: Grundlagentraining. In SCHNABEL, G./THIEß, G. (Hrsg.): Lexikon Sportwissenschaft. Leistung – Training – Wettkampf, Band 1, Berlin: Sportverlag 1993, S. 358-359
FEDIUK, F. (Hrsg.): Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam im (Schul-)Sport: Sportpädagogische Entwicklungen in Deutschland. In: FEDIUK, F. (Hrsg.): Inklusion als bewegungspädagogische Aufgabe, Baltmannsweiler 2008, S. 33-53 GOTTSCHALK, K.: 20 Jahre Behinderten- und Rehabilitations-
Sportverband Sachsen-Anhalt e.V. Festschrift, Halle (Saale) 2010
HEIN, P.: Notwendigkeit der Bewegungserziehung im
Elementarbereich aus medizinischer Sicht. In: HELMKE, C. (Red.):
Schulsportkonferenz „Zur Situation des Schulsports im Land
Brandenburg und Wege zur Erhöhung seiner Qualität 19/20 Februar 1999 in Potsdam, Dokumentation, S. 38-44
HOLLMANN, W.: Zur gesundheitlichen Bedeutung des Schulsports. Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode, 5. Ausschuss 23. Februar 2000, S. 3 ff
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LITZ, L: Talentförderung und Schulsport in der DDR und der BRD, Berlin: Weißensee Verlag 2004, 75 S.
NORDMANN, L.: Nachwuchsleistungssport auf dem Prüfstand. Bericht vom Arbeitskreis 3 „Nachwuchsförderung in ausgewählten Sportarten“ beim 22. Internationalen Workshop „Talentsuche und Talentförderung“ am 4. Und 5. Juni 2007, Leistungssport 37 (2007) 4, S. 42-44
PROHL, R.: Grundriss der Sportpädagogik, Wiebelsheim: Limpert 1999, 344 S.
STARK, G.: Anfänge der Trainingsplanung im DDR-Leistungssport und ihre Weiterentwicklung. In: SCHUMANN, K. / LEUBUSCHER, R. (Hrsg.): Theorie und Methodik des Trainings in den Bereichen der Höchstleistung. Schriftenreihe „Sport – Leistung – Persönlichkeit“ H. 3, Schkeuditz GNN-Verlag, S. 45-60
„ÜBEREINKOMMEN über die Rechte der Menschen mit
Behinderungen“ vom 13.12.2006, Bundesgesetzblatt (BGBl.) 2008 II, S. 1420-1453
WEGNER, M. / POCHSTEIN, F. / BRÜCKNER, P.: Nachwuchsgewinnung und Nachwuchsförderung im
Hochleistungssport der Menschen mit Behinderungen. In: ESKAU A. (Red.): BISp-Arbeitstagung „Nachwuchsrekrutierung und
Nachwuchsförderung im Sport der Menschen mit Behinderungen, Bonn 14./15. Mai 2002, S. 29-45
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ZITAT
Ehrung für DDR-Sportlegenden
Wenn in diesen Tagen in Berlin an die Gründung des DTSB vor 60 Jahren erinnert wird, dann gehört auch dazu, dass auf Initiative des Kulturausschusses der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Lichtenberg im Ortsteil Alt-Hohenschönhausen … einem Sextett früherer Jahre eine besondere Ehre zuteil wurde.
Sechs Straßen sind hier nach DDR-Weltklassesportlern benannt worden. ...
Allen voran Helga Haase, die Eisschnelllauf-Olympiasiegerin und Silbermedaillengewinnerin 1960 in Squaw Valley. Olympisches
Gold gewann auch die Rennschlittensportlerin Anna-Maria Müller 1972 in Sapporo. Erich Hagen aus Leipzig gewann 1960 die Friedensfahrt und im selben Jahr in Rom Olympiasilber mit der Mannschaft, der auch Täve Schur angehörte. Harry Glaß aus Klingenthal gewann 1956 in Cortina mit Bronze die erste olympische Medaille der DDR im Skispringen. Joachim Böhmer vom SC Dynamo Berlin war Ruder-Europameister, Vizeweltmeister und 1972 in München Olympiadritter im Doppelzweier. Und die erste Schwimm-Europameisterin des DDR-Sports war Jutta Langenau aus Erfurt. Sie war Freistil- und Schmetterlings-As und Olympiasechste 1956 in Melbourne über 100 m Schmetterling. Insgesamt stellte sie 53 Landesrekorde auf.
Sie alle sind inzwischen verstorben, doch ihre sportlichen Leistungen bleiben.
Dr. Karl-Heinz Otto“ (RotFuchs 20. Jg., Nr. 232, Mai 2017, S. 22)
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ZITAT
26. Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt
04.05.2017 Tagesordnungspunkt 6 - Beratung: Gustav-Adolf Schur „Täve“ in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ (AUSZÜGE)
Stefan Gebhardt: „… In den letzten Wochen wurde in Sachsen-Anhalt eine sehr emotionale Debatte darüber geführt, wer in die sogenannte Hall of Fame des Sports aufgenommen werden soll, aufgenommen werden kann und darf.
Im konkreten Fall ging es um den Vorschlag des Landessportbundes Sachsen-Anhalt, die ehemalige Radsportlegende und den heutigen Ehrenpräsidenten des Landessportbundes Gustav-Adolf Schur, genannt Täve Schur, in die Hall of Fame des Sports aufzunehmen. Dieser Vorschlag des Landessportbundes Sachsen-Anhalt wurde von allen anderen Landessportbünden der Bundesrepublik unterstützt. Konkret heißt das, sie haben diesem Vorschlag zugestimmt. Nominiert wurde dann letztlich Täve Schur für die Hall of Fame vom Deutschen Olympischen Sportbund. Nun könnte man meinen, dass eine solche Nominierung, getragen von allen Landessportbünden, auch umgesetzt wird und einem ehemaligen Spitzensportler, wie Täve Schur auch jene Ehre zuteil wird, die er verdient. Aber bekanntermaßen kam es anders.
Am letzten Freitag kam die Meldung, dass die Aufnahme von Täve Schur in die Hall of Fame des Sports von der 93-köpfigen Jury mehrheitlich abgelehnt wurde. Der Landessportbund und auch meine Fraktion wurden von dieser Entscheidung überrascht. …
Im Zentrum der öffentlichen Auseinandersetzung stand die Frage: Kommt man in die Hall of Fame des Sports aufgrund herausragender sportlicher Leistungen, oder geht es eher darum, dass man eine angenehme politische Meinung vertritt. Es ging um eine Würdigung der Leistungen von Gustav-Adolf Schur als Sportler und nicht als Politiker.
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Die Frage, ob denn die sportlichen Leistungen auch entsprechend anerkannt werden, wenn man politische Positionen vertritt, die eben nicht auf ungeteilte Zustimmung der Entscheider stoßen, ist eine spannende Frage.
Leider wurde sie – „leider“ aus unserer Sicht – am letzten Freitag wie folgt beantwortet: Eigentlich zählen die sportlichen Leistungen, aber bei Täve Schur gelten andere Maßstäbe. Jemand, der nicht bereit ist, seine eigene Vergangenheit zu leugnen, kann nicht Bestandteil der Hall of Fame des Sports sein. Damit rücken sportliche Leistungen klar in den Hintergrund.
Da wir aber der Auffassung sind, dass es sich eben um eine Hall of Fame des Sports handelt, will ich nun auf die sportlichen Erfolge von Gustav-Adolf Schur eingehen. Wie kam es dazu, dass Täve Schur zu einer Radsportlegende wurde? – Mit dem Radsport begann er mit 19 Lebensjahren hier in Magdebug bei der damaligen BSG Grün-Rot Magdeburg. Bereits im Jahr 1952 gehörte Täve Schur dem Friedensfahrtteam der DDR an, die Friedensfahrt, immerhin das größte Amateurradrennen der Welt, auch als Tour de France des Ostens bezeichnet.
Bei der Friedensfahrt ein Jahr darauf belegte er den dritten Platz in der Gesamtwertung und hatte damit großen Anteil daran, dass die damalige DDR-Mannschaft als beste Mannschaft das Rennen im Jahr 1953 abschloss.
Im gleichen Jahr wurde Täve Schur von der Bevölkerung der DDR zum Sportler des Jahres gewählt. Es war das erste Mal überhaupt, dass solch eine Umfrage gestartet wurde.
Im Jahr 1954 wurde Täve Schur zum ersten Mal DDR-Meister im Radrennen und belegte den sechsten Platz bei der Amateurweltmeisterschaft. Damit war er der bestplatzierteste deutsche Teilnehmer.
Im Jahr 1955 gewann Täve Schur als erster deutscher Radfahrer die Friedensfahrt. Dies wiederholte er 1959. Er war damit der erste
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Radfahrer überhaupt, der das weltweit bedeutendste Amateurradrennen zweimal für sich entscheiden konnte.
Im Jahr 1958 wurde Täve Schur Weltmeister. Ein Jahr darauf verteidigte er den Weltmeistertitel. Ein weiteres Jahr darauf, nämlich 1960, avancierte dann Täve Schur endgültig zum Sportidol und zur Radsportlegende, weil er es fertigbrachte, seinen Mannschaftskollegen Bernhard Eckstein vor dem Zieleinlauf den Vortritt zu lassen, statt selbst als Erster über die Ziellinie zu fahren.
Diese Entscheidung führte schließlich dazu, dass seine Mannschaft die Mannschaftswertung insgesamt gewann. Er zog es vor, der Mannschaft zum Sieg zu verhelfen und selbst auf einen dritten Titel hintereinander zu verzichten. Auch infolgedessen wurde er 1960 dann zum achten Mal in Folge Sieger der Umfrage „Sportler des Jahres“.
Bei den sportlichen Erfolgen von Täve Schur will ich nicht unterschlagen, dass er 1956 und 1960 Mitglied der damaligen gesamtdeutschen Olympiamannschaft war und auch hier einmal für das gesamtdeutsche Team Bronze in der Mannschaftswertung sowie Silber im Mannschaftszeitfahren holte. …
Jeder, der im Osten bzw. in der DDR groß geworden ist, kannte Täve Schur, und viele kennen ihn auch noch heute, was die Debatte um die Nominierung für die Hall of Fame gezeigt hat. …
Sämtliche Befragungen, Ted-Abstimmungen, Umfragen und Leserbriefe haben auch klar gezeigt, dass Gustav-Adolf Schur nach wie vor große Sympathie bei den Leuten in Sachsen-Anhalt genießt und eine klare Mehrheit der Sachsen-Anhalter und Sachsen-Anhalterinnen ihn sehr gern in der Hall of Fame gesehen hätte.
Aber wie gesagt, es kam anders.
Eigentlich war schon kurz nach der Nominierung von Täve Schur klar, dass es wieder schwer werden würde und man sich auch nicht zu schade war, mit unsachlichen und auch verletzenden Äußerungen, die Aufnahme von Täve Schur zu verhindern.
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So auch die Äußerung von Hall-of-Fame-Mitbegründer und Ex-Sporthilfe-Chef Hans-Wilhelm Gäb. Dieser erklärte zur Nominierung von Täve Schur – ich zitiere -: „Kein Mensch käme auf die Idee, einen im Sport erfolgreichen Nazi, wenn er auch heute noch die Untaten des Regimes verherrlichte, in die Hall of Fame aufzunehmen.“
Meine Damen und Herren! Diese Äußerungen weisen wir ganz entschieden zurück.
Eine solche Gleichsetzung von DDR und Nationalsozialismus ist eine ungeheuerliche Verharmlosung der Nazi-Zeit und wird von uns nicht so einfach hingenommen. Der Versuch, Täve Schur mit ehemaligen Nazis bzw. Nazi-Verherrlichern gleichzusetzen, ist schäbig, erbärmlich und schlichtweg geschichtsvergessen. …
Aber wenn Herr Gäb schon auf ehemalige Nazis zu sprechen kommt, dann schauen wir uns die Hall of Fame einmal genauer an: Mit Sepp Herberger, Willi Daume, Josef Neckermann, Rudolf Harbig und Gustav Kilian sind gleich fünf ehemalige NSDAP-Mitglieder und Repräsentanten des Nazi-Regimes vertreten, genauso wie Sportler, die nachweislich gedopt haben.
Auch ehemalige Spitzensportler, die wegen Steuerhinterziehung vorbestraft sind, haben ihren Platz in der Ruhmeshalle des Sports. Wenn für sie die gleichen Maßstäbe gegolten hätten wie für Täve Schur, dann hätten auch diese nicht aufgenommen werden dürfen. Aber dann wäre sie schnell leer oder zumindest hätte man viel Platz in der Hall of Fame. Oder anders gesagt: Bei ehemaligen NSDAP-Mitgliedern kann man ein Auge zudrücken, aber bitte nicht bei jemanden, der heute noch lobende Worte über den DDR-Sport findet. Das ist die Botschaft, die hiermit ausgesandt wurde. …“
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ZITAT
Wie gut war die „gute alte Zeit“? Perspektiven …
Von VOLKER KLUGE
„Es waren über 200 meist ältere Damen und Herren, die vor ein paar Wochen einer Einladung ins Freizeitzentrum BerlinMarzahn folgten, um den 60. Gründungstag des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der verflossenen DDR zu begehen. „Täve“ Schur hielt den Festvortrag …
Es gibt andere relativierende Sichten. Auch mangelt es nicht an extremen Urteilen, wie dem eines ehemaligen Trainers, der dem DDR-Sport das Etikett „kriminell“ anheftet. Dass Schur widerspricht, ist ihm kaum zu verdenken. … Dass daraufhin manche Medien, bei denen sich „DDR-Bashing“ stets gut verkauft, seine mögliche Aufnahme in die Hall of Fame des deutschen Sports in Frage stellen, dürfte ihn kaum erschüttern. Der inzwischen 86-Jährige ist seit Langem nicht zu Unrecht auch ein ostdeutscher „Weltmeister der Herzen“.
Eine Ruhmeshalle als moralische Anstalt? Diesen Anspruch dürfte sie kaum erfüllen, zumal die Jury sich bisher nicht gerade als Beckmesser erwies, wenn es sich bei den Kandidaten um rechtskräftig verurteilte westliche Stars handelte. Auch NS-Biografien – elf ehemalige Mitglieder der Hall of Fame gehörten der NSDAP an, fünf der SA - sieht man eher locker.
Wenn es aber „kriminell“ wird, sollte in einer fair geführten Diskussion auch die Frage erlaubt sein, wer oder was eigentlich „der“ DDR-Sport war. Und wie viel von ihm im heutigen deutschen Sport steckt, der erst kürzlich eine Leistungssportreform beschloss. Auch um der Erwartung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière nachzukommen, wonach die deutschen Sportler angesichts von Traditionen und Leistungskraft der Wirtschaft „mindestens ein Drittel mehr Medaillen“ bei Olympischen Spielen gewinnen müssten.
Unbestritten stellte der DDR-Spitzensport bis zum Ende seiner Existenz ein Schmuckstück dar – weltweit bewundert und in
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Teilbereichen kopiert. Nicht zuletzt in der Bundesrepublik, die mit ihrem Alleinvertretungsanspruch eine Herausforderung darstellte. Für Einrichtungen wie den Vorläufer des Bundesausschusses Leistungssport (gegründet 1961), die Bundesleistungszentren (1964), die Stiftung Deutsche Sporthilfe (1967), „Jugend trainiert für Olympia“ (1969), das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (1970), die Kölner Trainerakademie (1972), die ersten Sportgymnasien, sogar für den Sportausschuss des Bundestages, der aus dem Sonderausschuss für Sport und Olympische Spiele (1969) hervorging, diente auch das jeweils vorhandene DDR-Pendant als Folie.
Bei allen außenpolitischen Interessen, die die DDR-Führung mit den „Diplomaten im Trainingsanzug“ verband, so war deren Ausbildung dennoch ein schwerer Weg und keine Autobahn. Der wichtigste Schub gelang 1965 mit der Einführung der Spartakiadebewegung – einem intelligent erdachten komplexen System, in das auf Kreisebene fast eine Million Kinder und Jugendliche einbezogen waren.
Die Basis bildete der Sportunterricht, dessen Grundanliegen die allseitige körperliche Ausbildung darstellte. Kaum noch zu steigern: die Ergebnisse des Schulschwimmens. 97 Prozent der Absolventen der 10. Klassen und 99 Prozent der Abiturienten verließen die Schule als Schwimmer. Kriminell? Dabei kann man nicht behaupten, dass Sport und Volksbildung die Verwirklichung ihrer Ziele leicht gemacht wurde. Die knappen Ressourcen einer Mangelwirtschaft waren stets hart umkämpft. Dem DTSB gehörten im vorletzten Jahr seines Bestehens 3,7 Millionen in 10 700 Sportgemeinschaften an.
Der Organisationsgrad bei den 14- bis 18-Jährigen betrug Mitte der 1980er Jahre mehr als 60 Prozent. Betreut wurden sie von 265 000 Übungsleitern; 160 000 Kampf- und Schiedsrichter praktizierten Regelkunde. Dem Vereinigungstaumel von 1990 folgte aber bald die Ernüchterung. Nun galt „der“ DDR-Sport als „missratener Kuchen“, von dem man rein gar nichts übernehmen sollte – ausgenommen die
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Spitzenathleten. Mit ihren Leistungen errang das neue Deutschland in der nächsten Dekade bei Olympischen Winterspielen 60 Prozent seiner Goldmedaillen, bei Sommerspielen die Hälfte. Anschließend war dieses „biologische Erbe“ weitgehend aufgebraucht.
Heute ist der Spitzensport trotz des damaligen Zugewinns wieder dort angekommen, wo er sich 1989 in der Bundesrepublik befand. Und das, obwohl außer zahlreichen Weltklasseathleten mit dem Einigungsvertrag drei große „Kuchenstücke“ hinübergerettet wurden. Die Mehrzahl der Kinder- und Jugendsportschulen wandelte man in „Eliteschulen des Sports“ um. Das Modell wurde für die alten Bundesländer übernommen. Als erhaltenswert galten auch die Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte (FES) und das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS), das zum Institut für Angewandte Trainingswissenschaften (IAT) mutierte. Trotz aller Klagen fehlt es nicht an Geld. Über alle Ressorts verteilt, beträgt die staatliche Sportförderung rund 300 Millionen Euro. Das Sponsoring leistet ein Übriges.
Nach der in einigen Medien geführten destruktiven Debatte um die sogenannte Zielvereinbarung von 2012 setzt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) nunmehr seine Hoffnungen auf die „Leistungssportreform 2016“, die die Trendwende bringen soll. Mit ihr will man verkrustete Strukturen, veraltete Fördersysteme und überholte Trainings- und Personalkonzepte ablösen. …
Zur bitteren Wahrheit gehört aber auch, dass damals wie heute nur wenige Länder in der Lage sind, den Spitzensport in seiner ganzen Vielfalt zu fördern. Die Bundesrepublik könnte das sicherlich durch die enge Verflechtung von Sport und Wirtschaft. Die Realität sieht aber anders aus: „König“ Fußball macht alles andere platt.
Die Folge ist eine immer mehr versteppende Sportlandschaft mit schlecht bezahlten Trainern, die sich von einem Jahres- oder Zeitvertrag zum anderen hangeln und die den Kopf nicht frei haben für ein an der Weltspitze orientiertes Training. So wie diese berufliche Sicherheit verdienen, benötigen Nachwuchsathleten eine
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über einen längeren Zeitraum garantierte berufliche Perspektive, die ihnen mehr bietet als die Wahl „Bundespolizei oder Bundeswehr“. Trotz der von der Sporthilfe geförderten dualen Ausbildung gelingt viel zu wenigen der Sprung in die Erwachsenenklasse.
Das ist keine Geringschätzung von Ehrenamtlichen. Im Gegenteil. …“
Sächsische Zeitung v. 21.6.2017, S. 9
ZITAT
GRETEL BERGMANN-LAMBERT
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„Der größte Triumph blieb ihr versagt, 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin. Zwar hatten die Nazis sie extra aus England nach Deutschland zurückgeholt – die jüdische Hochspringerin sollte der Welt und vor allem den Amerikanern beweisen, dass deutsche Juden bei den Spielen antreten durften, dass Hitlers Reich weltoffener sei, als in den USA gedacht. Doch kaum hatte sich das US-Team auf den Weg nach Berlin gemacht, schlossen die Nazis die wohl beste Hochspringerin der Welt von den Spielen aus. …
Bergmann war … in Laupheim aufgewachsen, mit zehn Jahren fing sie mit der Leichtathletik an, dann wurde sie von ihrem Verein ausgeschlossen, ging nach England, wurde britische Meisterin. Die Rückkehr nach Deutschland war kurz: Bergmann reiste, so schnell es ging, in die USA, nachdem, sie aus der deutschen Mannschaft geflogen war. …
In New York schlug Bergmann sich zunächst als Putzfrau und Krankengymnastin durch. 1937 wurde sie amerikanische Meisterin im Kugelstoßen und Hochsprung, 1938 nochmal im Hochsprung, genannt ‚The German Mädel‘. Ihr Verlobter Bruno Lambert war ebenfalls in die USA geflohen und wurde dort Mediziner. Nach der Hochzeit 1938 blieben sie bis zu Lamberts Tod, der ebenfalls 103 Jahr alt wurde und 2013 starb, zusammen. …
Im Alter hat sie noch Anerkennung aus Deutschland erfahren. Ein Stadion in Laupheim wurde nach ihr benannt, ebenso ein Weg auf dem Berliner Olympiagelände.
Gretel Bergmann-Lambert starb am 25. Juli in New York. hor“
(Der Spiegel Heft 31 v. 29.7.2017, S. 135)
GEDENKEN
Erhard RICHTER
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02.12.1929 - 08.10.2017
Wir trauern um unseren Freund Erhard Richter.
Mit fast 87 Jahren fehlte ihm letztendlich die Kraft, immer für andere da zu sein und für den Sport der Kinder bis zu den Erwachsenen zu wirken. Er hat sich ein Sportlerleben lang für die gerechte Sache eines Sports für alle eingesetzt.
Erhard war stets für Fairness und Erfolg im DDR-Sport, ob als Volkskorrespondent für Sportberichte, als Bezirkssekretär der
URANIA, viele Jahre als Stellvertretender des Bezirksvorstandes des DTSB Frankfurt (O.), als Generalsekretär des DDR-Ringerverbandes und bis 1990 als BGL-Vorsitzender des Bundesvorstandes des DTSB. Und noch eines zeichnete Erhard Richter aus: Sachkundig und überzeugend verteidigte er Ansehen und Ehre des DDR-Sportes gegen Verleumdungen, Unwahrheiten,
Verunglimpfungen und Kriminalisierung. Als Herausgeber und Mitautor von Publikationen sowie in öffentlichen Veranstaltungen setzte er sich für die Bewahrung bester Traditionen und Erkenntnisse unserer Sportpolitik ein. Die Mitwirkung an der Gestaltung der Sportmuseen und der traditionellen Werner-Seelenbinder-Ehrung waren ihm Herzenssache. Am 28. Oktober 2016 würdigte der letzte Präsident des Ringerverbandes der DDR, Dr. Alfred Borde, im Kreis der trauernden Familie mit bewegenden Worten das erfolgreiche Wirken des Verstorbenen.
Unserem Erhard ist es in erster Linie zu verdanken, dass unser Freundeskreis der Sportsenioren seit 26 Jahren ein lebhafter Zusammenschluss jener Frauen und Männer ist, die wesentlichen Anteil an der erfolgreichen 40-jährigen Geschichte des DDR-Sports haben. Erhard und sein „Sprecherrat“ machten den Freundeskreis zu einem attraktiven Begegnungsort mit den unterschiedlichsten Programmangeboten. Er war unumstrittener Anführer und Inspirator, war Ratgeber und Freund, der für jeden ein offenes Ohr hatte und bereit war zu helfen, wo immer er es konnte. Erhards Anliegen war es, den Freundeskreis als eine Solidargemeinschaft zu betrachten.
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Gratulationen zu den Geburtstagen, die Betreuung der kranken und pflegebedürftigen Sportfreunde, die nicht mehr an den Veranstaltungen teilnehmen konnten und ihr Besuch in der Vorweihnachtszeit mit einem kleinen Präsent – all das war ihm wichtig.
Er stand für eine gerechte Berechnung der Renten der DTSB-Aktivisten von der Sekretärin über die Trainer bis zu den Funktionären im Bund und in den Sportverbänden.
Bei allem hatte er eine starke Hilfe an seiner Seite, seine Ehefrau Heidi. Sie wirkte im Hintergrund mit bemerkenswerter Akribie.
Der Sprecherrat wird gemeinsam mit den Angehörigen des Freundeskreises den letzten Willen Erhards verwirklichen, diese tolle Gemeinschaft auf gleichem Niveau fortbestehen zu lassen. Hans Bauer, Vorsitzender der GRH und Gustav-Adolf Schur, mit denen Erhard eine lange Freundschaft verband, fanden am Grab Worte des Dankes und des Gedenkens an einen großen Sportfunktionär.
Erhard Richter gehört postum ein außerordentliches Dankeschön.
Karl-Heinz Otto
Dr. paed. Klaus HUHN
24.02.1928 - 20.01.2017
Er bleibt in unserem Herzen
Lieber Klaus, in jedem Jahr haben wir – meine Lebensgefährtin und ich – Dir eine Geburtstagskarte geschrieben. In jedem Jahr gabst
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Du, meist unmittelbar nachdem Du sie erhalten hattest, Deiner Freude Ausdruck. In diesem Jahr blieb Deine Mail aus. Dafür fand ich im Internet das Datum Deines Todes. Ich habe einen Freund verloren. Und mehr als das.
Wie hat das eigentlich begonnen mit unserer Freundschaft? Um meine Arbeitslosigkeit zu beenden, habe ich eines Tages versucht, mich bei den verschiedenen Verlagen als Lektor oder wenigstens als Korrektor zu verdingen. Lauter große Namen, an die ich mich wandte – und ein kleiner Verlag – Deiner: Spotless. Ich hatte die schmalen Bändchen ebenso verschlungen wie viele Jahre zuvor als sportinteressierter Schuljunge Deine Artikel im Neuen Deutschland. „Kurzer Rede langer Sinn“ – Du warst der einzige Verleger, dem ich eine Antwort wert war. „Wenn Sie mit fünfzig Euro pro Buch zufrieden sind – wir könnten schon jemanden gebrauchen, der auf Punkt und Komma achtet.“ So stieg ich bei Dir ein. Dein erster Auftrag an mich: Die kleine Troika. Deine wunderbare Geschichte von der großen Freundschaft zwischen Deinem Halbbruder Werner Eberlein, dem Schauspieler Horst Drinda und Dir.
Ich weiß noch, wie ich Dir meinen ersten Korrekturen geschickt habe, mit der Bitte um Durchsicht. Aber Du sagtest nur: „Mach man, schickt gleich alles zur Druckerei.“ So groß war Dein Vertrauen in mich und meine Arbeit. So gingen viele Spotless-Bücher über meinen Schreibtisch. Ich habe Vorschläge gemacht. Du hast sie angenommen. Ich fühlte mich als Partner behandelt – gleichberechtigt. Gleich berechtigt. Es war mir eine Ehre, mit Dir zusammenzuarbeiten. Du machtest keine Kompromisse. Halbe Sachen waren Dir zuwider. Du warst unbequem und unduldsam.
Manchmal bekam ich einen Anruf von Dir. Du erzähltest mir von Deinem neuesten Projekt und hattest mich schon eingefangen. Und dann kam ein Auftrag. Zu erledigen jetzt und gleich. Aktualität ging Dir über alles. So ein Auftrag war es, der unsere Freundschaft auf den Prüfstand stellte. Es war der 9. Juli 2006. Der Tag, an dem im Berliner Olympiastadion der Fußballweltmeister zwischen Italien und
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Frankreich ausgespielt wurde. Du aber konzentriertest Dich auf ein Buch über die Olympischen Spiele, die siebzig Jahre zuvor unter der Herrschaft der Nazis im selben Stadion stattgefunden hatten. Ich sollte einige Porträtskizzen von Teilnehmern der Spiele beisteuern. Die sollten durch ein spezielles Layout im Buch besonders hervorgehoben werden. Um Mitternacht – Italien hatte den Titel längst gewonnen – gab es immer noch Kleinigkeiten, die Dir nicht zusagten. Ich sandte Dir die Nachricht, dass ich jetzt genug hätte und ins Bettgehen würde. Am nächsten Tag sagtest Du „Sie“ zu mir. Und kündigtest mir sämtliche private Beziehungen auf. Das Büchlein erschien unter dem Titel Olympische Hinterlassenschaft 1936. Du schicktest es mir. Kommentarlos. Zwischen uns herrschte Funkstille. Jedenfalls von Deiner Seite. Ein Vierteljahr war wohl ins Land gegangen, als ich wieder eine Nachricht von Dir erhielt. Die Anrede lautete: Sehr geehrter Herr Kaiser. Du fragtest, ob ich das Register für Deine Chronik des DDR-Sports machen würde. Du wüsstest sonst niemanden, der das in kurzer Zeit liefern könnte. Und natürlich gleich an den Verlag … Und Du hattest nicht vergessen zu erwähnen, dass es sich um eine rein geschäftliche Beziehung handelte. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass Du mir eine Chance geben wolltest. Natürlich habe ich das Register gemacht. Du hast es gewogen und für gut befunden. Und als ich Dich anrief, um Dir für den Auftrag zu danken, Dich selbstverständlich siezte, da fragte Herr Dr. Huhn, ob man nicht schon mal bei „Du“ gewesen wäre.
Ich freute mich riesig und vergaß nicht zu sagen, dass ich in den Wochen zuvor gelitten hätte wie ein Hund. Deine Antwort: „Ick doch ooch, mein Junge!“
Kaum jemand hat so viel Anteil an meinem Vorwärtskommen genommen wie Du. Wir ließen einander tief in unser Leben blicken. Das macht wohl eine Freundschaft aus. Und: Wir hielten es – auch da – mit Brecht: Freundschaft heißt, dem Anderen auch sagen,
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wenn er aus dem Maule stinkt. Nein wir nahmen wahrlich kein Blatt vor den Mund.
Wenn ich Dich anrief und Deine knarzige Stimme am anderen Ende der Leitung „ja bitte“ sagte, war ich froh. Immer stellte ich die Frage, woran Du schreibst. Und immer gab es eine Antwort: „Ich schreibe gerade an einer Geschichte über … Ich weiß nicht, ob das jemals erscheint. Das ist mir auch egal.“ Na, Klaus, war da doch etwas Koketterie im Spiel? Wer schreibt, will doch – und das nicht erst seit Goethe – andere erreichen! Erzähl mir nicht, dass es bei Dir anders war! Zumal als Journalist! Nein, nein! Du hast es ernst genommen, dieses Was ist Deine Pflicht? Die Forderung des Tages. (Auch Goethe).
Das Schreiben war für Dich Lebenselixier! Ich wusste, so lange Du schreibst, bekommt Dich der Sensenmann nicht!
Die Feder, die Du führtest, war mal Stilett, mal Florett, war - wenn nötig – auch Machete. Du führtest sie vielleicht nicht immer gekonnt, aber immer der Sache dienend. Unserer Sache! Nun hast Du die Feder aus der Hand gelegt. Für immer. Jedenfalls hier unten. Aber es könnte ja sein, dass es da oben weitergeht. Dann werden sich unsere Gegner warm anziehen müssen.
Noch einmal ein fester Händedruck. Du bleibst in unseren Herzen.
Dein Rupert Kaiser
HERMANN DÖRWALD
25.11.1925 – 25.2.2017
Der seit dem Zweiten Weltkrieg schwerbehinderte Ingenieur für Fernmeldetechnik Hermann Dörwald aus Dresden war mehr als 40 Jahre im Versehrtensport der DDR tätig. Er war u.a. Teilnehmer an den II. Weltspielen der Versehrten 1973 in Saint Etienne (Frankreich)
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und kehrte mit zwei Goldmedaillen zurück (4x100-m-Staffel und 4x50-m-Lagenstaffel im Schwimmen).
Er war Gründungsmitglied der Zentralen Sektion Versehrtensport der DDR am 11.7.1953 in Leipzig, von Anbeginn Mitglied des 1959 gegründeten Deutschen Verbandes für Versehrtensport (DVfV) und leitete von 1955 bis 1971 die Fachkommission Leichtathletik. Von 1959 bis 1991 – mehr als 30 Jahre – war er Vorsitzender des Bezirksfachausschusses Versehrtensport (BFA) Dresden und gehörte in dieser Zeit dem Präsidium des DVfV an.
Darüber hinaus war er von 1967 bis 1991 als Übungsleiter in Kreischa tätig.
Selbstverständlich trainierte er auch regelmäßig, nahm noch im
Seniorenalter an Wettkämpfen seiner Alters-und Schadensklasse, an Pokalturnieren, Landes- und Deutschen Meisterschaften teil.
Ein Höhepunkt seiner Arbeit als Mitglied der Abteilung Leichtathletik im Deutschen Behinderten-Sportverband (DBS) war die Organisation der Deutschen Meisterschaft für Senioren am 12./13. Juni 1996 im Dresdener Heinz-Steyer-Stadion.
Unser aufrichtiger Dank gilt Hermann Dörwald als langjährigem Autor der Zeitschrift „Beiträge zur Sportgeschichte“ und insbesondere als Autor der „Chronik des Versehrtensports der DDR“, die er 2003 vorlegte (Dresden, 198 S.). Dieses umfassende Kompendium erweist sich als überzeugender Beleg für die Vielfalt des Versehrtensports im Osten, seine ständig erweiterten Angebote, für die breite Kinder- und Jugendsportbewegung, für das Bemühen, regelmäßiges Üben und Trainieren nahezu kostenfrei zu ermöglichen und dazu die fachkundige Begleitung durch Trainer und Übungsleiter, Betreuer, Helfer und Organisatoren, Schieds- und Kampfrichter zu gewährleisten. Und diese „Chronik…“ gibt Auskunft über die Aktiven im Breiten-, Wettkampf- und Leistungssport, die der ersten, der 40er und 50er Jahre, des schweren Anfangs, und die der letzten der 80er Jahre. Und sie nennt viele, viele der großartigen Leistungen, die immer wieder Respekt abnötigen. Nachvollziehbar
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werden die vielfältigen gemeinsamen Bemühungen von Ost und West um die Entwicklung des Sports der Versehrten und Behinderten bis hin zur Bildung gemeinsamer deutscher Mannschaften, zum Beispiel für die VII. Internationalen Gehörlosen-Weltspiele 1953 in Brüssel oder den Abschluss einer „Gesamtdeutschen Vereinbarung“ zwischen den Vertretern der Sektion Versehrtensport der DDR und des Allgemeinen Deutschen Versehrtensportverbandes der BRD 1955 in Leipzig, aber auch die Konfrontationspolitik Adenauers und den „alltäglichen Grabenkrieg … um jede Sportveranstaltung, bei der ein DDR-Team auftreten wollte“ (Kilian) auch im Sport der Versehrten und Behinderten. Beispielsweise – das ist ebenfalls dieser Chronik zu entnehmen – verweigerten die dänischen Behörden 1962 der DDR-Mannschaft die Einreise zu den Weltmeisterschaften im Mannschaftsschach für Gehörlose, infolgedessen sah sich die Internationale Föderation (ICSC) nach erfolglosen Verhandlungen gezwungen, die Vorbereitungen zu diesen Weltmeisterschaften abzubrechen. Dieses und viele andere Beispiele offenbaren und belegen, dass die Entwicklung des Sports in der DDR weder von ihrem Ende her noch unabhängig von den jeweiligen Entwicklungsbedingungen, vor allem auch von den internationalen Entwicklungen, wie dem Entstehen und Wirken der internationalen Föderationen, gesehen, analysiert und dargestellt werden kann. Das ist sicher in keinem anderen Sportverband – aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen im Sport der Hör- und Sehgeschädigten, der Körperbehinderten und Querschnittsgelähmten oder der geistig Behinderten beziehungsweise der Entwicklung einzelner Sportarten – so offensichtlich. Auch wenn eine chronologische Darstellung von Geschichte ihre Grenzen hat, ist Hermann Dörwald für diese außerordentliche Arbeit und sein unermüdliches Wirken im Behindertensport zu danken.
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INHALT
Erfolge des DDR-Sports –eine Bilanz
Helmut Horatschke
20 Jahre - Sport und Gesellschaft e.V.
Hasso Hettrich
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Leistungssport ohne Zielvorgaben?
Thomas Köhler
Wie Doping vertuscht wird
Klaus Huhn
Der vorgetäuschte Anti-Doping-Kampf der WADA
Gerd Machalett
Gedanken zur Nachwuchsentwicklung
Annemarie Weigt / Hermann Dörwald
Ehrung für DDR-Sportlegenden
Karl-Heinz Otto
26. Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt …
Stefan Gebhardt
Wie gut war die gute alte Zeit? …
Volker Kluge
Gedenken: Gretel-Bergmann-Lambert, Erhard Richter,
Dr. Klaus Huhn, Hermann Dörwald
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